Innerlichkeit: Struktur- und praxistheoretische Perspektiven auf Kierkegaards Existenzdenken 9783110532036, 9783110526929

The study examines Søren Kierkegaard’s notion of inwardness in terms of its conceptual structure and implications for pr

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German Pages 617 [618] Year 2017

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
1. Einleitung
2. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken
3. Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845
4. Schluss: Definitionsversuch und Ausblick
5. Zitation, Quellen und Siglen
6. Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Innerlichkeit: Struktur- und praxistheoretische Perspektiven auf Kierkegaards Existenzdenken
 9783110532036, 9783110526929

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Matthias Engmann Innerlichkeit

Kierkegaard Studies

Edited on the behalf of Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šadja

Monograph Series 36

Edited by Heiko Schulz

Matthias Engmann

Innerlichkeit

Struktur- und praxistheoretische Perspektiven auf Kierkegaards Existenzdenken

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šajda Monograph Series Volume 36 Edited by Heiko Schulz

ISBN 978-3-11-052692-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053203-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053061-2 ISSN 1434-2952 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Untersuchung ist die für die Publikation weiträumig überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Juli 2015 am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt im Fachbereich Philosophie angenommen wurde. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Hermann Deuser. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Danken möchte ich Heinrich Niehues-Pröbsting für die frühzeitige Ermunterung ein solches Projekt in Angriff zu nehmen, Elisabeth Gräb-Schmidt für die Erstellung des Zweitgutachtens, Markus Kleinert für die vielen Gespräche „zwischen Tür und Angel“ sowie allen Kolleginnen und Kollegen am Max-WeberKolleg, die konstruktiv auf diese Arbeit eingewirkt haben. Die Verlässlichkeit meiner Freunde Frank, Eric und Jacob, das Vertrauen und die Aufrichtigkeit meiner Schwester sowie die Hilfsbereitschaft meiner Mutter, die mich in unzähligen Belangen ausdauernd und immer guten Willens unterstützt hat, können mit Worten nicht aufgewogen werden. Ihnen allen gebührt größter Dank. Nicht selbstverständlich war auch die großzügige Gewährung eines Doktorandenstipendiums der Universität Erfurt. Den Herausgebern der „Kierkegaard Studies“ bin ich für ihre Bereitschaft, diese Arbeit in die „Monograph Series“ aufzunehmen, ebenfalls zu herzlichem Dank verpflichtet.

DOI 10.1515/9783110532036-202

Inhalt  Einleitung 1 . Hinführung 1 . Rezeption der Innerlichkeit 10 .. Habitus der originalen Person: Theodor Haecker 10 24 .. Fülle der Gegenwart: Michael Theunissen .. Dialektische Bewegung: Dorothea Glöckner 30 .. Weitere Auseinandersetzungen 39 . Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung 

48

Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken 70 70 . Hinführung: Sprache und Kommunikation .. Vorbetrachtung 70 .. Philosophisches Sprechen 73 73 ... Propositionalisierung ... Kommunikationsmethode I: Un-Eindeutigkeit 76 ... Kommunikationsmethode II: Verweisen 78 95 .. Taktiken des Schriftstellers ... Gedankenführung auf der Darstellungsebene 97 ... Sprecherperspektive 99 ... Das Pseudonym als „Person“ und die Aneignung des 100 Lesers ... Aneignung und Innerlichkeit: Die „Friedhof-Szene“ 108 .. Sprache, Abstraktion, Theoretisierung und konkrete Praxis 125 . Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit 131 .. Vorbetrachtung 131 ... Ethisches Existieren 131 ... Fragestellung und Vorgehen 134 .. Sich-zu-sich-Verhalten im Vollziehen 136 ... Struktur des Sich-zu-sich-Verhaltens 136 ... Vollziehen 146 .. Ganzheit und Vergegenwärtigung 155 ... Ganzheit 155 ... Kontingenz 161 ... Zeitlichkeit 171 .. Handlung: Sich-zu-sich-Verhalten und Weltbezug 177 ... Climacus’ Handlungsbegriff 179

VIII

... ... ... .. ... ... ... .. . .. ... ... .. ... ... ... ... .. ... ... ... ... ..

Inhalt

Entscheidung und Wille 184 189 Die „Samariter-Szene“ Stellungnahme 192 Sich-Verstehen 198 Erfahrung und Erleben 198 202 Sich-Verstehen Artikulation und Innerlichkeit 207 213 Innerlichkeit als nichtreligiöse Lebenspraxis Religiöse Innerlichkeit 220 Vorbetrachtung 220 220 Systematische und philosophische Voraussetzungen Fragestellung und Vorgehen 231 Existenzielle Bewegungsstruktur 233 233 Strukturelle Vorbetrachtung Bewegungsmodelle 239 Annäherungen an die bewegungsdialektischen Strukturen 255 282 Existenziell-religiöse Anwendung Religiöse Lebensform der Nichtswerdung 310 Hinführung 310 Das Leiden entdecken 328 343 Negation und Epoché Religiöses Personsein 356 Versuch der Versöhnung 383

 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845 388 . Vorbemerkung zu den Reden 388 .. Kurze Kennzeichnung der Reden 388 .. Fragestellung und Vorgehen 393 . Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845 395 .. Hermeneutische und systematische Beobachtungen 397 ... Der Titel: „Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten“ 397 ... Bemerkungen zum Verhältnis der drei Reden zueinander 411 ... Fazit 426 .. Anlässlich einer Beichte: Bestimmung des Gottesverhältnisses 427 430 ... Konzeption der Stille ... Verwunderung und Veränderung 439 ... Struktur religiöser Existenzpraxis 446 ... Dialektik der Innerlichkeit 454

Inhalt

.. ... ... ... ... .. ... ... ... .. . .. ... ... ... .. 

Anlässlich einer Trauung: Leben im Gottesverhältnis 458 459 Bedingungen des Entschlusses Entschluss und Ernst 470 Bund und Innerlichkeit 476 Bedeutung und Innerlichkeit 485 490 An einem Grabe: Vermittlung des Gottesverhältnisses Tod und Leben 491 499 Strukturelle Religiosität Aneignung und Innerlichkeit 505 Selbstsein und Innerlichkeit in den Gelegenheitsreden 515 519 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44 Das Konzept der Geduld 523 Seine Seele erwerben in Geduld: Selbst-Werden und das Ewige im 524 Menschen Seine Seele bewahren in Geduld: Widerstand gegen die Welt und Umkehr ins Leben 532 Geduld in Erwartung: Vermittlung der Religiosität in 539 Fürsorge Geduld und Innerlichkeit 547

Schluss: Definitionsversuch und Ausblick

552

 Zitation, Quellen und Siglen 561 . Deutsche Quellenkorpora von Kierkegaards Schriften . Weitere Siglen 564 

IX

Literaturverzeichnis

565

561

1 Einleitung 1.1 Hinführung Gemessen an der in ihm impliziten, langen ideengeschichtlichen Tradition ist „Innerlichkeit“ ein vergleichsweise junger Begriff.¹ Bei Sören Kierkegaard, der nicht nur in der kontinentalen und westlich-anglophonen Rezeption als (religiöser) Philosoph der Innerlichkeit bekannt ist,² akkumuliert der Begriff das an die

 Zur historischen Genese und Verwendung des Begriffs „Innerlichkeit“: Renate von Heydebrand, „Innerlichkeit“, in HWPh, Bd. 4, S. 386 ff. Vgl. auch: Kurt Flasch, „Wert der Innerlichkeit“ in Die kulturellen Werte Europas, hg. von Hans Joas und Klaus Wiegandt, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2005, S. 219 – 236, besonders S. 221– 224. Sowie: Charles Taylor, „Inwardness and the Culture of Modernity“, in Zwischenbetrachtungen. Im Prozess der Aufklärung, hg. von Axel Honneth u. a., Frankfurt am Main 1989, S. 601– 623. Auf Taylor wird im Folgenden genauer eingegangen.  Man vergleiche beispielsweise das 1969 in Kalkutta erschienene Buch Philosophical Foundation of Bengal Vaișņavism von Sudhandra Chandra Chakravarti. Im „Chapter X – Bengal Vaișņavism and Kierkegaards Existentialism“ (ebd., S. 265 – 282) unternimmt Chakravarti einen erhellenden Vergleich zwischen dem bengalischen Vaishnavatum und dem Existenzdenken Kierkegaards, unter anderem in Bezug auf die systematische Rolle der Objektivität und Subjektivität, des ethischen und religiösen Bewusstseins und Handelns (Wahrheit), von Leiden und Schuld und eben auch der Innerlichkeit (vgl. ebd., besonders S. 266, 268, 272, 275, 279). Auch wenn Chakravarti Kierkegaard unter dem Brennglas des bengalischen Vaishnavatums liest und dabei die Innerlichkeit fälschlicherweise als eine mystische Kategorie der selbsttätigen Erbauung (ebd., S. 268) bzw. als Ausgangspunkt für eine im Leben zu erreichende „real“ oder „eternal happiness“ (ebd., S. 276; 278 f.) betrachtet, was gänzlich an der Leidensdialektik Kierkegaards vorbei geht, muss dennoch festgehalten werden, dass die meisten von Chakravartis Beobachtungen sehr genau sind. Daneben sollte diesem Kapitel in Chakravartis Buch auch deshalb besondere Beachtung geschenkt werden, weil es den – heute immer noch – mutigen Versuch unternimmt, kulturübergreifend philosophisch zu vergleichen und nicht nur auf die Unterschiede, sondern gerade auf die Gemeinsamkeiten wertlegt. Diesbezüglich sollte auf das Buch Indian Philosophy of Religion von A. Ramamurty hingewiesen werden, in dem hinduistische und buddhistische Strömungen religiösen Lebens untersucht werden und es an zentralen Stellen heißt: „One can be religious in the sense of being deeply devoted to the divine or experiencing devotion inwardly, and be philosophically skeptical about the knowledge of the divine in itself.” (Ebd., S. 4) „[R]eligion is basically a matter of inward experience in which the spirit in man communes with the universal spirit, its source and ground, and feels blessed.“ (Ebd., S. 120) „[R]eligion is primarily a human enterprise, and is concerned with the inner being or life of man and its fulfilment.” (Ebd., S. 142) Dies könnte fast genauso für Kierkegaards religiöse Ausprägung der Innerlichkeit formuliert werden, die nicht nur ein den philosophischen Zweifel und die Ungewissheit einschließendes religiöses Bewusstsein beschreibt, sondern ein konkretes Handeln und dabei (auch) eine anthropo-existenzielle Konzeption zum Verhältnis von Religiosität und conditio humana darstellt. DOI 10.1515/9783110532036-001

2

1 Einleitung

Existenzthematik gebundene, subjekt- und identitätstheoretisch³ konnotierte Denken. Allgemein bezieht sich der Begriff auf ein Innen des Individuums und stellt in diesem Sinne eine Raummetapher dar, wodurch der Eindruck entsteht, dass mit Innerlichkeit ein „innerer Ort“ im Individuum gemeint ist, an dem das „innere Leben“⁴, die eigenen Gedanken und Gefühle und die durch deren Zusammenspiel generierte „innere Erfahrung“ verortet sind.⁵ Für solch ein Innen bedarf es analytisch ein Außen. In der (europäischen) philosophischen Tradition wird das

 Identität wird in Bezug auf Kierkegaard hier und im Folgenden nicht im Sinne George Herbert Meads oder Jürgen Habermas’ verstanden, die die Ich-Identität aus rollen- und sozialtheoretischen Problemstellungen heraus thematisieren. (Dazu überblicksartig: Helmut Dubiel, „Identität, IchIdentität“ in HWPh, Bd. 4, S. 148 – 151) Es wird zunächst von einem relations- und reflexionstheoretischen Verständnis ausgegangen: Identität als die „Aufhebung der Differenz“ zweier in Beziehung stehender oder durch das Denken in Beziehung gesetzter Gegenstände. (Vgl. Otto Muck, „Identität I“ in HWPh, Bd. 4, S. 144) Subjekttheoretisch gewendet: Identität ist die Einheit des sich in der Selbstreflexion zu sich selbst verhaltenden Individuums mit sich selbst. Diese epistemische Einheit von Erkennendem und Erkanntem impliziert sowohl eine distanzierte (reflexive) Haltung der Selbstwahrnehmung als auch eine die reflexionsbedingte Distanz überwundene Unmittelbarkeit; ein in das Bewusstsein hineinverlegtes Innen-Außen-Verhältnis, das als solches nicht aufzuheben ist. Bei Kierkegaard ist dieses mit dem Begriff Selbst-Verhältnis bestimmt (eindrücklich in der Krankheit zum Tode dargelegt). Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass diese abstrakt verstandene Einheit des Individuums, seine so bestimmte Identität als „Aufhebung der Differenz“ mit sich selbst, das intendierte, identitätstheoretische Ziel der Innerlichkeitskonzeption bei Kierkegaard ist. Die Frage wird sein, wie und unter welchen Bedingungen eine so verstandene Identität erreicht und/oder nicht erreicht werden kann. Dies muss gleichfalls unter folgender theoretischen Einschränkung bzw. Erweiterung gesehen werden: Da Kierkegaards Philosophie eine Überwindung einer reinen reflexionstheoretischen Betrachtung des Menschen darstellt, sind die Bedingungen einer solchen Identität in die Spannung von reflexionstheoretischen und existenziell-anthropologischen Sachverhalten hineinverlegt. Identität ist bei Kierkegaard an die konkrete Existenz und der durch sie bestimmten Parameter von Zeit, Welt, Sozialität (etc.) gebunden. Wenn auch nicht in einem adäquat Mead’schen oder Habermas’schen Sinne, ist die identitätstheoretische Frage bei Kierkegaards dennoch eine, die die Problematik einer auf Kohärenz zielenden Aushandlung von Selbst- und Welt-Bezogenheit in den Blick nimmt. Wie sich dies bei Kierkegaard darstellt und dabei reflexions- und existenztheoretische Perspektive zusammengehen, will die vorliegende Untersuchung versuchen zu zeigen.  In Bezug auf Kierkegaard hebt Arne Grøn diesen ersten Eindruck des Begriffs Innerlichkeit hervor: vgl. ders., Angst bei Søren Kierkegaard, Eine Einführung in sein Denken, übers. von Ulrich Lincoln, Stuttgart 1999, S. 76.  Gerade an die Raummetapher ist die seit der Antike (vor allem durch Platon und später von Paulus) forcierte Vorstellung des inneren, „eigentlichen“ Menschen (im Gegensatz zum „äußeren Menschen“) gebunden. Das „Innen“ wird zum „Kern“ der Person stilisiert. Vergleiche dazu die kurzen Beiträge von Christoph Markschies, Walter Burkert und Hans Dieter Betz zum Stichwort „Innerer Mensch“ in RGG, Bd. 4, S. 154– 156.

1.1 Hinführung

3

Außen dem Innen dichotomisch gegenübergestellt, wodurch der Begriff Innerlichkeit gleichfalls zu einer Grenzmetapher wird, der keine wechselwirkende Durchlässigkeit, sondern hermetische Abgeschlossenheit suggeriert. Die kulturhistorische Leistung besteht sicher in der hochgradigen Abstraktion der für uns heute (nicht mehr) selbstverständlichen Differenz von Innen und Außen, die ideengeschichtlich weitreichende Folgen hatte. Ausgehend von Sokrates und Platon wird in der Spätantike, vor allem in der Stoa, das Innen als Ort der Unbedingtheit angesehen. In der Abkehr von den äußeren, durch Wechselhaftigkeit und Vergänglichkeit charakterisierten Bedingungen menschlichen Daseins stellt das unveränderliche Innen den Ort der Freiheit dar. Im Neinsagen zur äußeren Welt vergegenwärtigt sich das Individuum nicht als ein Ding unter anderen Dingen, sondern in seiner Eigenständigkeit und Unreduzierbarkeit – sich selbst.⁶ Dieser Sachverhalt wird – ausgehend von Plotin und dessen Hervorhebung des „Innen als den Ort der Schau der Wahrheit“⁷ – bei Augustinus (in De vera religione und den Confessiones) perpetuiert. Das Selbstsein besteht nicht nur im persönlichen Verhältnis des Individuums zu sich, sondern in Abhängigkeit zu Gott. Das Selbst ist kein durch Introspektion⁸ zu erreichendes

 Beispielsweise: Epiktet, Das Buch vom geglückten Leben, übers. von Carl Conz, bearb. und mit einem Nachwort von Bernhard Zimmermann, 6. Aufl., München 2009. Hierbei ist zu beachten, dass es in der Stoa letztlich um die Befreiung von Begierden, Gefühlen und dem Willen geht, darum, sich nicht nur von der äußeren Welt, sondern auch von dem affektiven „Innen“ frei zu machen, um durch das reine Denken Anteil an der Weltseele zu bekommen.  Norbert Fischer, „Einleitung“ in Augustinus, Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11), Latein – Deutsch, eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer, Hamburg 2000, S. XI – LXIV, hier S. XV.  Der Begriff Introspektion (Innenschau) ist etwas problematisch. Mit ihm wird die dichotomische Auffassung zwischen Innen und Außen verstärkt. Das Individuum wird als sein eigener Beobachter qualifiziert. Es steht sich selbst gegenüber und „schaut in sich hinein“; seine Intentionalität zielt auf es selbst. Die introspektive Selbstreflexion scheint dabei zunächst systematisch eine Durchlässigkeit zwischen „äußerer“ Beobachtung und den „inneren“ Gefühlen und Gedanken zu gewährleisten. Das Problem an der Metapher des (selbstreflexiven) „Nach-innen-Schauens“ ist jedoch, dass sich mit den „inneren“ Gedanken auf die „inneren“ Gedanken gerichtet wird. Indem sich das Denken auf sich selbst richtet, kann es nichts von einer „äußeren“ Position her „sehen“, sondern nur sich selbst feststellen. [Anm.: Man beachte hierbei die etwas polemischen, aber sehr ernst gemeinten Aussagen Ernst Tugendhats in ders., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Sprachanalytische Interpretation. Frankfurt am Main 1979, S. 16 f.; ebenso Hannah Arendts Bemerkungen zum „inneren Selbst“ und seiner „Erscheinung“: Dies., Vom Leben des Geistes, Das Denken. Das Wollen, hg. von Mary McCarthy, übers. von Hermann Vetter, 8. Aufl., München und Zürich 2015, S. 49.] Dies ist jedoch insofern etwas ungenau, weil hierbei nur das auf sich selbst gerichtete Medium des Denkens in den Blick genommen wird. Denn wörtlich verstanden, kann das Individuum in Introspektion durchaus „nach innen schauen“: wenn es sich in Erinnerungen oder in antizipativen Vorstellungen vergegenwärtigt. Insofern Erinnerungen und Vorstellungen ver-

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1 Einleitung

gegenwärtigte Bilder vor dem „geistigen Auge“ sind, ist jedoch gleichfalls ein Blick impliziert, der nicht nach innen geht, sondern der an das raum-zeitliche In-der-Welt-Sein geknüpft ist, in dem sich das Individuum erinnert und vorstellt als Person in der Welt. In diesem Sinne bedeutet Introspektion zwar ein Blick nach innen, der aber lediglich Äußeres vergegenwärtigt. Gleichfalls kann Introspektion nicht bedeuten, dass sich das Individuum durch Beurteilungen und Wertungen Eigenschaften zuschreibt, die es als Beobachter seiner selbst aus distanzierend-abstrahierender Perspektive von „außen“ an sich heranträgt. In diesem Sinne ist die Introspektion ein durch Mittelbarkeit gekennzeichnetes Vor-dem-Innen-Stehenbleiben. Soll Introspektion bedeuten, in das „Innen“ vorzudringen, das Innen als geistige Repräsentation zu vergegenwärtigen, ohne dass abstrakte Zuschreibungen oder konkrete vorgestellte Bilder in Erscheinung treten, kann Introspektion nur bedeuten, unmittelbares Erleben zu vergegenwärtigen. Dann aber nicht in dem Sinne, dass das Individuum solches Erleben im Moment des Erlebens auf abstrakter Ebene feststellt, dass es die und die Erfahrung hat, sondern allein in dem Sinne, dass das Individuum vom Erleben er- und umgriffen ist, aber dennoch vergegenwärtigt, dass es selbst es ist, das erlebt. Wird Introspektion so verstanden, ist sie eine auf unmittelbares Erleben gründende Selbst-Vergegenwärtigung. Kann dann noch von „Introspektion“ gesprochen werden? In Bezug auf Kierkegaard sind zwei Sachverhalte relevant: a) Die eben vorgenommene Charakterisierung der Introspektion ist von Kierkegaard her gewonnen. Bei ihm gehört das Verhältnis zwischen distanzierter Mittelbarkeit (Abstraktion; Denken) und Unmittelbarkeit zu den Grundthemen seiner Philosophie. Die Unmittelbarkeit geht der Mittelbarkeit und Reflexion grundsätzlich voraus und ist durch das Denken nicht einzuholen. Wird Introspektion als unmittelbares Erleben verstanden, so ist Introspektion bei Kierkegaard nicht möglich. (Dazu explizit: Hermann Deuser, „Existenz-Mitteilung – nicht unmittelbares Selbstbewusstsein: Kierkegaards Kritik transzendentaler Religionsbegründung“, in Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, Berlin und New York 2006 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 11), S. 197– 215, hier S. 207). b) In Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit wird der Ausdruck des Sehens (Introspektion) als eine seit Platon (vgl. unter anderem Timaios, 47d) verwendete Metapher für Erkennen durch den Ausdruck des Hörens abgelöst. [Anm.: Die Heraushebung des Hörens gegenüber dem Sehen als primärer Erkenntnissinn beginnt mit Aristoteles. Dazu: Martin Heidegger, Sein und Wahrheit, Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919 – 1944. Bd. 36/37. Hg. von Hartmut Tietjen, Frankfurt am Main 2001, S. 157 ff.]. Auf ironische Weise bringt er (bzw. das Pseudonym „Victor Eremita“) dies schon auf der ersten Seite des Vorworts von Entweder – Oder zur Sprache, wenn er schreibt: „So ist mir denn nach und nach das Gehör der liebste Sinn geworden; denn gleichwie die Stimme die Offenbarung der dem Äußeren inkommensurablen Innerlichkeit ist, so ist das Ohr das Werkzeug, mit welchem diese Innerlichkeit erfasst, das Gehör der Sinn, durch den sie angeeignet wird.“ (SKS 2, 11 / DEO, 11) Das Gehör wird in dieser auch (offensichtlich) von religiöser Metaphorik gekennzeichneten Stelle zur Bedingung der Möglichkeit für das Empfangen (Aneignung) der Innerlichkeit. Im Verlauf der vorliegenden Untersuchung wird in verschiedenen Kontexten auf das Hören Bezug genommen. [Anm.: Was die religiöse Innerlichkeit betrifft, steht Kierkegaard mit dem Hören in der Tradition Augustinus’: vgl. ders., Confessiones / Bekenntnisse, u. a. Zehntes Buch, III.3]. Aus beiden Gründen wird in der Analyse Kierkegaards auf den Begriff „Introspektion“ verzichtet, auch wenn in der Sekundärliteratur dem Innerlichkeitsverständnis bei Kierkegaard dieses Merkmal ausdrücklich zugesprochen wird: vgl. S. C. Chakravarti, Philosophical Foundation of

1.1 Hinführung

5

Innen mehr, sondern es ist innerlicher als Gedanken und innere Erfahrung. Durch diesen „ontologischen Komparativ“ ist das Selbst nur für Gott, aber nicht dem Menschen frei zugänglich;⁹ ein inner-transzendentes, im Innen verschlossenes Innen.¹⁰ Sowohl in der Stoa als auch bei Augustinus liegen dem Konzept des Sichnach-innen-Wendens drei Merkmale zugrunde: die Selbstreflexion aus der 1. Person Singular; das Bestreben nach Selbst-Kontrolle und nach Selbst-Entdeckung. (Im Hinblick auf Augustinus werden die letzten beiden Merkmale durch eine unhintergehbare Ungewissheit über die eigene Person unterlaufen, weshalb mit Michael Kühnlein ganz richtig gesagt werden kann, dass bei Augustinus eine „Umbildung des Platonischen Konzeptes der Selbstbeherrschung in ein reflexives Modell der Selbsterkundung“¹¹ vollzogen wird – ein systematisches Faktum, dass auch auf Kierkegaards Existenz- und Innerlichkeitsdenken zutrifft.). Diese drei Charakteristika klassifiziert Charles Taylor als grundlegende Merkmale auch der „modern identity“, die er unter dem Überbegriff „inwardness“ subsumiert.¹² Gegenüber den „vormodernen“ Identitätsverständnissen kommt

Bengal Vaișņavism, S. 266; Almut Furchert, Das Leiden fassen. Zur Leidensdialektik Søren Kierkegaards, Freiburg und München 2012, S. 157; David R. Law, Kierkegaard as Negative Theologian, Oxford 1993, S. 111.  Vgl. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1989, S. 667.  Vergleiche die ausführliche Einleitung Norbert Fischers zum zehnten Buch der Confessiones in: Augustinus, Suche nach dem wahren Leben (Confessiones X / Bekenntnisse 10), Latein – Deutsch, eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer, Hamburg 2006, S. XIII – XCI, besonders S. XXXIV – LIII. Ebenfalls: Die Einleitung Fischers zu: Augustinus, Was ist Zeit? S. XI – LXIV, besonders S. XXIX und XXXIX. Der mit Augustinus eingeschlagene Weg der an das Phänomen Religiosität gebundenen Innerlichkeit impliziert zwei Sachverhalte: a) das Bewusstsein von einem dem Menschen entzogenen, ihn setzenden Grund; b) der kontemplative Prozess, in dem eine Haltung der Überlassenheit an Gott praktiziert wird, um durch Gott sich selbst empfangen zu können. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass das Konzept der religiösen Innerlichkeit bei Kierkegaard u. a. auch diese augustinischen Merkmale enthält und sie gleichfalls auf ganz eigene Weise modifiziert. Den einzigen, mir bekannten, gleichfalls gewinnbringenden, systematischen Vergleich zwischen Augustinus und Kierkegaard hat Robert B. Puchniak vorgenommen, der die Krankheit zum Tode mit den Confessiones in Verbindung setzt: vgl. ders., „Kierkegaardʼs ‚Self‘ and Augustineʼs Influence“, in KSYB 2011, S. 181– 194.  Michael Kühnlein, Religion als Quelle des Selbst. Zur Vernunft- und Freiheitskritik von Charles Taylor, Tübingen 2008, S. 133.  Taylor, „Inwardness and the Culture of Modernity“, S. 606 ff. Vergleiche auch Taylors ausführliche, historisch-genetische Ausführungen zur modernen Identität und dem Verständnis von Individualität, deren entscheidendes Merkmal er als „Innerlichkeit“ fasst: Ders., Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übersetzt von Joachim Schulte, 1. Auflage,

6

1 Einleitung

eine für die „moderne Identität“ seit Descartes (beziehungsweise dem cartesischen Cogito ¹³) zum Vorschein tretende „radical reflexivity“ hinzu.¹⁴ Diese bezeichnet identitätstheoretisch die epistemische Einheit von Erkennendem und Erkanntem und – worauf Taylor besonders Wert legt – die theoretisch-analytische Umkehr zum Selbst als Selbst, womit die „radikale Reflexivität“ genauer darin

Frankfurt am Main 1994, S. 207– 369. Innerlichkeit definiert er dabei als „Empfindung“, durch die sich der Mensch als „Wesen mit innerer Tiefe, und die damit zusammenhängende Vorstellung, Wesen mit einem »Selbst« zu sein“, begreift. (Ebd., S. 8). Innerlichkeit ist bei Taylor also grundsätzlich an die selbstreflexive Wahrnehmung des Subjekts gebunden.  Ähnlich wie Taylor hält auch Hans Blumenberg fest, dass der „Vorrang … der inneren Erfahrung“ in der Philosophie der Neuzeit – Blumenberg hütet sich vor der von Taylor vorgenommenen begrifflichen Überspitzung der „inneren Erfahrung“ als „Innerlichkeit“! – einzig „auf der Evidenz des schlichten Cogito ergo sum“ beruht, fügt aber sogleich hinzu, dass die „innere Erfahrung“ als Grundlage der (Selbst‐)Erkenntnis des Subjekts durch Kant insofern zerstört wurde, als dass die innere Erfahrung a) wie jede andere Erfahrung in ihrer „Erscheinungshaftigkeit“ nicht über sich hinausweist (man also aus ihr nichts ableiten kann) und b) kein in sich abgeschlossenes, starres Ereignis ist, sondern eine Bestimmung in der Zeit, ein Fließen, das keine permanente Betrachtung als Basis von Erkenntnis zulässt. (Vgl. ders., Beschreibung des Menschen, hg. von Manfred Sommer, Frankfurt am Main 2006, S. 527 f.) Denn nach Kant ist innere Erfahrung identitäts-epistemologisch lediglich ein Vergegenwärtigen und kein allgemeingültig-resultatives Erkennen des sich selbst beobachtenden Subjekts.  Vgl. Taylor, „Inwardness and the Culture of Modernity“, S. 617. – Michael Kühnleins Referat Taylors macht deutlich, dass die „radikale Reflexivität“ als „das Bewusstsein äußerster SelbstGegenwart in der Identität von Erkennendem und Erkanntem“ (ders., Religion als Quelle des Selbst, S. 134) von Taylor maßgeblich durch dessen Auseinandersetzung mit der „Augustinische[n] Existenzialisierung des Selbstverhältnisses“ (ebd., S. 133) gewonnen wird. Zur genaueren Erörterung dieses Sachverhalts: Ebd., S. 133 – 140, besonders S. 133 – 137. Folgt man der Analyse Kühnleins, so verwundert es nicht, dass Taylor die „moderne Identität“, deren Kern die „radikale Reflexivität“ ist, als „Innerlichkeit“ bezeichnet. Dabei muss jedoch festgehalten werden, dass Taylor in seiner Beeinflussung durch Augustinus lediglich das Charakteristikum des Im-InnenLiegens eigener Identität mit dem Begriff „Innerlichkeit“ verbindet und zum Ausdruck bringen will [denn v. a. durch Augustinus gewann der Aspekt Bedeutung, dass die Identität des Individuums (und des Menschen im Allgemeinen) eine im Innen liegende durch Selbstbefragung hervortretende Übereinstimmungsstruktur zwischen Erkennendem und Erkanntem ist.]. Aber das, worum es Augustinus – v. a. in den Confessiones – mit seinem Innerlichkeitstopos wirklich geht, nämlich die Struktur des Selbstseins als eines, das in seiner Selbstbezogenheit (Reflexivität) zugleich auf seinen Grund (Gott) bezogen ist, durch den die Selbstbezogenheit erst zur strukturellen Basis für Selbsterkenntnis (Identität) wird – diese Identitäts-Struktur des Auf-einen-DrittenBezogenseins – lässt Taylor in seiner Verwendung des Begriffs „Innerlichkeit“ gänzlich außen vor. Dadurch rückt gleichfalls der Aspekt in den Hintergrund, dass die Identität bzw. das Selbstsein in Form von Innerlichkeit nicht allein auf eine reflexive Struktur zu reduzieren ist, sondern immer auch eine Haltung, eine Überzeugung (bei Augustinus: Glaube) einschließt. Das, was Taylor mit seiner Verwendung des Begriffs „Innerlichkeit“ vermissen lässt, wird in der vorliegenden Untersuchung deutlich an Kierkegaards Innerlichkeitskonzeption hervortreten.

1.1 Hinführung

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besteht, dass die Selbstreflexion der 1. Person Singular mit einer Selbstdistanzierung einhergeht: das Selbst wird zu einer objektiven Abstraktion philosophischer Reflexion.¹⁵ In diesem Sinne besitzt „moderne Identität“ die Kennzeichnung einer Objektivierung des Subjekts, indem die Freilegung der das Subjekt aus dem Innern heraus formenden, objektiven Prozesse des Fühlens und vor allem des Denkens angestrebt wird.¹⁶ Diesen nach Gewissheit bestrebten, wissenschaftlichanalytischen Umgang, durch den nicht nur die Grundlagen philosophischer Anthropologie und Transzendentalphilosophie gelegt wurden,¹⁷ sondern das Subjekt als Individuum hinter objektivierbarer Subjektivität verschwindet, kontrastiert Taylor mit einem Gegentypus „moderner Identität“. In den Essays Montaignes wird die Selbst-Entdeckung und Selbst-Reflexion an die Objektivierung der konkreten Person in der Welt gebunden.¹⁸ Durch die konkrete Rückbindung des SelbstBezugs an die konkrete Erfahrung und Ausformung in der Welt wird die Grenze zwischen Innen und Außen durchlässig. Identität unterliegt komplexen Transformationsprozessen,¹⁹ denen das Individuum ausgesetzt ist, die zum Teil forciert werden, sich aber auch der eigenen Kontrolle entziehen²⁰ können.

 Vgl. ebd., S. 615.  Vgl. ebd., S. 614. – Hannah Arendt betont dies ebenfalls als das wesentliche Merkmal neuzeitlicher Philosophie: „Der Philosoph der Neuzeit kehrt sich nicht mehr von der trügerischen, vergänglichen Sinnenwelt ab und einer anderen Welt ewiger Wahrheit zu, sondern er zieht sich von beiden Welten, bzw. von Welt und weltlich Gegebenem überhaupt, auf sein eigenes Innere zurück. Und was er in dieser Innenregion entdeckt, ist wiederum nicht irgendein Bild oder Abbild, dessen Beständigkeit es erlaubt, es zu betrachten und anzuschauen, sondern es sind im Gegenteil die in ständiger Bewegung befindlichen Sinneswahrnehmungen und Bewußtseinsreaktionen überhaupt.“ (Dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben. Ungekürzte Taschenbuchausgabe, 11. Aufl., München und Zürich 2013, S. 373 (Hervorhebung d.Vf.)) Bezüglich dieses Sachverhalts hebt Arendt kurz darauf Kierkegaard als einen der „exaktesten“ Denker der Neuzeit hervor (vgl. ebd.). Obwohl Kierkegaards Werk hier unter Arendts Blick zu einseitig auf bewusstseinsphilosophische und psychologistische Betrachtungen des Menschen verengt wird, ist der Aspekt der Bewegung eines auf Existenz bezogenen Bewusstseins für die vorliegende Untersuchung ein wesentlicher Anhaltspunkt zur Freilegung dessen, was Innerlichkeit bei Kierkegaard bedeutet. [Anm.: Friedrich Carl Fischers Untersuchung Existenz und Innerlichkeit nimmt die Innerlichkeit bei Kierkegaard lediglich in der arendtschen Perspektive einer bewusstseinsphilosophischen und vor allem psychologistischen Perspektive in den Blick. Die vorliegende Untersuchung besteht auf einen breiterem Betrachtungswinkel (vgl. Kapitel 1.3)].  Man beachte hierzu die kurzen, sehr prägnanten Ausführungen Martin Heideggers in den „Zusätzen“ seines Aufsatzes „Zeit des Weltbildes“ In: Ders., Holzwege, Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 8., unveränd. Aufl., Frankfurt am Main 2003, S. 75 – 113, hier S. 98 f.  Vgl. Taylor, „Inwardness and the Culture of Modernity“, S. 619 ff.  Für Taylor besteht das wesentliche Merkmal der Moderne in Transformationsprozessen (ebd., S. 601).  Vgl. ebd., S. 619, 622.

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1 Einleitung

Taylor versteht die Innerlichkeit als Agent und Affekt „moderner Identität“ vor allem reflexionstheoretisch; bricht diese Sichtweise über das Beispiel Montaignes aber gleichzeitig auf. Innerlichkeit wird so zu einem identitätstheoretischen Konzept, das in die Spannung von Reflexion und Erfahrung verortet wird. Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit muss in diesem Sinne als Idealtypus eines „modernen“ Identitätsverständnisses begriffen werden. Indem er die Identität (das Selbstsein) an das Existieren bindet und dabei nicht nur im platonischen Sinne auf den „Imperativ der Selbsterkenntnis“²¹, sondern auch auf die Konkretion des Existierens insistiert,²² stellt die identitätstheoretische Konzeption der Innerlichkeit eine auf Reflexion und Erfahrung beruhende Praxis existenzialisierter Subjektivität dar. Die vorliegende Untersuchung versucht diesem Sachverhalt nachzugehen, indem eine strukturanalytische wie auch praxistheoretische Perspektive in den Fokus rückt. Bevor eine inhaltliche (mit den bisherigen, kurzen Ausführungen in Verbindung stehende) wie auch methodische Differenzierung und Konkretisierung des Vorhabens der vorliegenden Untersuchung vorgenommen wird,²³ sollen verschiedene Auslegungen zur Innerlichkeit bei Kierkegaard betrachtet werden. Werden die „einfachen Nennungen“ der Innerlichkeit als Terminus technicus außen vor gelassen,²⁴ lässt sich die Innerlichkeits-Rezeption in drei Gruppen

 Ich zitiere hier Michel Foucault, der dies in Zusammenhang mit dem für die „Innerlichkeit“ wichtigen Aspekt der Selbstsorge notiert: Ders.: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82). Aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann, 1. Aufl., Frankfurt am Main 2009, S. 317.  Beispielsweise schreibt Kierkegaards Pseudonym Vigilius Haufniensis im Begriff Angst ausdrücklich, dass „die Innerlichkeit … nicht in einem abstrakten Sinne …, sondern durchaus konkret“ (SKS 4, 439/ DBA, 610 f. (Hervorhebung d.Vf.)), d. h. als praxisrelevante Kategorie und somit als existenzielle Durchführung verstanden werden muss.  Vgl. Kapitel 1.3.  Häufig wird die Innerlichkeit bei Kierkegaard als ein Begriff verwendet, bei dem von vornherein klar sei, was er meint. Dies äußert sich meist darin, dass die Innerlichkeit verschiedensten, von Kierkegaard selbst benannten Kontexten verwoben wird, aber selbst unterbestimmt bleibt. Die Zahl der Arbeiten, auf die dies zutrifft, ist sehr umfangreich, wobei selbstverständlich immer gefragt werden muss, ob es im Sinne des jeweiligen wissenschaftlichen Projekts ist, dass der Begriff der Innerlichkeit einer näheren Bestimmung unterzogen werden muss. Auffällig ist die Unterbestimmung im Kontext der Arbeit jedoch beispielsweise bei Anton Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, und Joachim Ringleben, Aneignung, bei denen es um Sachkomplexe geht, die auf das Engste mit der Thematik der Innerlichkeit verwoben sind. Zudem ist zu erwähnen, dass die für den anglophonen Raum grundlegende Monographie Kierkegaard’s Fragments and Postscript von C. Stephen Evans zwar die religiöse Philosophie des Pseudonyms Johannes Climacus ausführlich (und sehr exegetisch)

1.1 Hinführung

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einteilen: Erstens, die werkbegleitende Einbeziehung, Verortung und von Kierkegaard selbst lancierte Thematisierung.²⁵ Zweitens, die ausbaufähigen Interpretationen, die einen expliziten Versuch der genaueren Bestimmung der Innerlichkeit vornehmen.²⁶ Drittens, diejenigen mit dem Anspruch, das Konzept der Innerlichkeit konkret zu durchdringen. Um dies soll es im Folgenden gehen. Die Auswahl der folgenden Betrachtungen der Sekundärliteratur erfolgt unter zwei Prämissen: 1. Ausführlichkeit; 2. der Umstand, dass sich an den jeweiligen Betrachtungen wichtige Schwerpunkte der Innerlichkeitsthematik offenlegen lassen.²⁷ In der Besprechung werden die Ansätze der ersten und zweiten Kategorie (werkbegleitende Darstellung und ausbaufähige Interpretation) in Anmerkungen eingeflochten. Folgende Ziele werden mit der Darstellung verfolgt: a) Übersicht

analysiert, jedoch ohne eine Analyse der Innerlichkeit. Meines Erachtens wird damit bei allem, was Evans richtig analysiert, der Kern von Climacusʼ Philosophie verfehlt.  Beispielsweise: Helmuth Vetter, Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards. Wien, Freiburg und Basel 1979, S. 111– 168, besonders S. 136 – 154; Furchert, Das Leiden fassen, S. 131– 282, besonders S. 156 – 167 und S. 219 – 233. Unter anderem auch: Kristin Kaufmann, Vom Zweifel zur Verzweiflung. Grundbegriffe der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards, Würzburg 2002, S. 95 – 107. Friedrich Carl Fischer, Existenz und Innerlichkeit. Eine Einführung in die Gedankenwelt Søren Kierkegaards, München 1969.  Beispielsweise: Ulrich Lincoln, Äußerung. Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards Die Taten der Liebe, Berlin und New York 2000 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 4), S. 378 – 382; Sergio Munoz Fonnegra, Das gelingende Gutsein. Über Liebe und Anerkennung bei Kierkegaard, Berlin und New York: De Gruyter 2010 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 23), S. 155 – 165.  Es sei angemerkt, dass es besonders in Bezug auf die Innerlichkeit einen wichtigen Angelpunkt in der Diskussion gibt: Adornos Abhandlung zur „objektlosen Innerlichkeit“ in: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 38 – 98. Nur vereinzelt werde ich auf Adorno eingehen. Aus zwei Gründen: Erstens ist die Innerlichkeitsdiskussion Adornos nicht von seinem eigenen Denkgebäude zu trennen. Es bedürfte einer genauen Betrachtung von Adornos eigener Philosophie, was zu weitab führen würde. Zweitens wurde sich mit Adornos Innerlichkeitsdiskussion schon breit und kritisch auseinandergesetzt: besonders Hermann Deuser, Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Sören Kierkegaards, München und Mainz 1980. Siehe auch die Aufsätze Klaus-M. Kodalles („Kierkegaard und die kritische Theorie“) und Hermann Deusers („Kierkegaard und die kritische Theorie (Koreferat)“) in Die Rezeption Søren Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie. Vorträge des Kolloquiums am 22. und 23. März 1982, hg. von Heinrich Anz, Poul Lübcke, Friedrich Schmöe, Kopenhagen und München 1983, S. 70 – 99, sowie: Klaus M. Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn 1988, S. 196 – 200, dann auch neuerdings: Asaf Angermann, Beschädigte Ironie. Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität. Berlin und Boston 2013 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 27), und: P. Šajda, „From Objectless Inwardness to Political Irrationalism“, in Religion und Irrationalität. Historisch-systematische Perspektiven, hg. von Jochen Schmidt und Heiko Schulz, Tübingen 2013, S. 151– 158.

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1 Einleitung

über die Innerlichkeitsrezeption. b) Welche Ansätze und Deutungsrichtungen werden im Zusammenhang mit welchen Schriften Kierkegaards etabliert? c) Wo besteht Deutungsbedarf? Das methodische Vorgehen wird eine mit verhaltener Kritik durchzogene Wiedergabe der Auseinandersetzungen zur Innerlichkeit bei Kierkegaard sein. Die verhaltene Kritik ist auf den Umstand zurückzuführen, dass noch gar kein genauer Blick auf Kierkegaards Texte vorgenommen wurde. Es muss deshalb darauf hingewiesen werden, dass nicht immer klar sein wird, ob eine angemessene Interpretation Kierkegaards oder einfach die Sicht des Interpreten wiedergegeben ist. Das eröffnet jedoch einen produktiven Blick dafür, möglichst unvoreingenommen mit den präsentierten Ansätzen umzugehen. Im darauffolgenden Abschnitt 1.3 wird ein Fazit gezogen und zum Projekt der vorliegenden Untersuchung übergegangen.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit 1.2.1 Habitus der originalen Person: Theodor Haecker Theodor Haeckers Debüt Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit (PdI)²⁸ ist eine 1913 erschienene, etwa siebzigseitige Schrift,²⁹ die in fünf unterschiedlich lange Abschnitte geteilt ist.³⁰ Sie ist keine systematisch angelegte, wissenschaftliche Analyse, sondern ein essayistischer Versuch, das Denken Kierkegaards abzubilden. Wolfgang Janke hat über Haeckers Essay „Der Begriff der Wahrheit bei Sören Kierkegaard“ geschrieben, dass es „mehr Verkündung als

 Zitiert wird nach: Theodor Haecker, Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit, München 1913.  Zur Entstehungsgeschichte: Allan Janik, „Haecker, Kierkegaard and the early Brenner: a contribution to the history of the reception of Two Ages in the German-speaking world“, in Søren Kierkegaard. Critical Assessment of Leading Philosophers, Vol. IV, hg. von Daniel W. Conway, London und New York 2002, S. 123 – 147, besonders S. 126 f.  Die Abschnitte der PdI lassen sich wie folgt unterteilen: I: 5 – 11: Einführung v. a. zur Person Kierkegaard. II: 12 – 44: Hauptteil zur Innerlichkeit und die Gegenüberstellung Kierkegaards zu Kant, Descartes, Nietzsche, Dostojewskij und vor allem zu Henri Bergson und Blaise Pascal. III: 45 – 62: Verwebung Kierkegaards mit europäischer Geistesgeschichte (Ibsen, Strindberg, Tolstoi, Schopenhauer, Nietzsche, Karl Kraus, Gerhart Hauptmann). IV: 63 – 69: Betonung des christlichen Denkens Kierkegaards, unter Bezug auf Pascal und Bergson. V: 70 f.: Schlussbemerkung.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Kierkegaardforschung“³¹ sei. Ähnliches lässt sich auch über die PdI sagen, die mehr eine Form der adaptiven Anwendung Kierkegaards als Forschung zu ihm darstellt. Um einen umständlichen Vergleich zu umgehen, wobei ich mir Haeckers Anliegen der Vermittlung Kierkegaards bewusst bin, entscheide ich mich bei der Auslegung von Haeckers Text für folgendes Vorgehen: Ich werde die PdI als das Denken Haeckers darstellen und interpretieren. In den direkten Hinweisen Haeckers zu Kierkegaard verstehe ich Kierkegaard als Paten für die wichtigsten Ansichten Haeckers. Damit gehe ich zwar dem Problem des Aufzeigens von Bedeutungsverlusten und konnotativen Verschiebungen in Haeckers Verständnis der Kierkegaardschen Innerlichkeit aus dem Weg, gewinne aber dadurch eine komprimierte Fokussierung auf Haeckers eigenes Verständnis.

Wie ist Haeckers Vorgehen zu charakterisieren? Haecker beginnt indirekt, aber programmatisch: „Wollte einer im Ernst eine Darstellung der Gedanken Kierkegaards versuchen, er sähe sich, je mehr in ihm Überlegung und Konzentration wüchsen, Schritt für Schritt gezwungen, Satz für Satz der Originalschriften zu wiederholen, mit anderen Worten, er sähe sich gezwungen, dem Menschen, der Interesse hat, die Bücher Kierkegaards in die Hand zu geben und ihm zu sagen: ‚Nun lies!ʻ“³² Vordergründig verfolgt diese Textstelle zunächst einen Vermittlungsversuch Haeckers zwischen seinem Leser und Kierkegaards eigenen Schriften. Zugleich etabliert Haecker seine eigene Kommunikationsstrategie. Er tritt mit dem Leser in ein Gespräch, was am deutlichsten in dem direkten Zuruf „Nun lies!“ zum Ausdruck kommt. Diese Direktheit ist aber zugleich auch ein Spiel mit der Reproduktion Kierkegaards; ein Spiel mit mäeutischer Vermittlungsstrategie, die sich Kierkegaard von Sokrates und Haecker von Kierkegaard aneignet. In diesem Sinne spricht Haecker nicht direkt, sondern indirekt mit dem Leser, während er sich zugleich in einem ständigen Herantasten an Kierkegaards Gedanken befindet. Die eigene Auseinandersetzung Haeckers mit Kierkegaard gerät dann nicht nur zu einem Abbild des Kommunikationsverhältnisses zwischen dem Leser und Haecker, sondern stellt in sich eine Perpetuierung der sokratischen Mäeutik Kierkegaards dar. Er adaptiert Kierkegaards mäeutisches Vorgehen nicht einfach, sondern Haeckers Darstellung wird zu einer Form der Imitation Kierkegaards, in der Haecker einen eigenen emphatischen und  Wolfgang Janke, „Der Weg der Wahrheit zum Menschen. Zusätze zu Kierkegaards Satz ‚Die Wahrheit ist die Subjektivität‘“, in Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. von Friedhelm Decher und Jochem Hennigfeld, Würzburg 1991, S. 191– 213, hier S. 191 (Anm.).  PdI, S. 5.

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1 Einleitung

zugleich komisch-polemischen Stil der Übertreibung entwickelt. Haecker gelingt es dabei auf performativer Ebene zu zeigen, dass die indirekte Mitteilung nicht direkt weitergegeben werden kann und verweist dadurch gleichzeitig auf Kierkegaards eigenes mäeutische Vorgehen, weil Haecker mit seiner rhetorischen Darbietung größtenteils ein Dozieren über Kierkegaard vermeidet (was ganz im Sinne Kierkegaards ist). Haecker will auf rekonstruktiv-inhaltlicher Ebene nicht die Innerlichkeit bei Kierkegaard analysieren, sondern strebt über die performative Ebene der Reproduktion und Übertreibung des Kierkegaardschen Stils ein Vertiefen des Verständnisses von Innerlichkeit an (in diesem Sinne kann sein Sprachstil durchaus als „embodiment of … inwardness“³³ angesehen werden). Jedoch bedeutet das ebenfalls, dass es ihm nicht um eine Differenzierung von Kierkegaards Gedanken geht. Haecker beabsichtigt eine Besprechung oder vielmehr eine Darstellung Kierkegaards, die darin besteht, dass das gesamte Werk Kierkegaards präsent wird, indem die darin enthaltenen Gedanken in Verdichtung zusammengetragen werden. Die Konsequenz dessen ist: Kierkegaard kann für Haecker nur aus der Aneignung Kierkegaards heraus besprochen werden. Imitation und Reproduktion werden dabei von einem Höchstmaß an Identifikation mit Kierkegaard begleitet.³⁴ Für Haecker bedeutet die eigene Kierkegaard Janik, „Haecker, Kierkegaard and the early Brenner”, S. 136.  Volker Eid merkt etwas psychologisierend an, dass Haecker sich in einer „wesensbedingten Wahlverwandtschaft“ mit Kierkegaard verbunden fühle. (Ders., Die Kunst in christlicher Daseinsverantwortung nach Theodor Haecker. Schriften zur Religionspädagogik und Kerygmatik, hg. von Teoderich Kampmann, Bd. IV, Würzburg 1968, S. 43) Abgesehen von eventuellen biographischen Erklärungen für eine identifikatorische Haltung, ist diese vor allem auch dadurch zu erklären, dass Kierkegaard bei aller Originalität auch ein sehr autoritärer Denker ist. Die Hermetik seiner Gedanken als auch die eigenwillige, oft emotionale Rhetorik und die suggestive Darstellungsweise, kurz: die Überzeugungskraft, die von Kierkegaards Schriften ausgehen kann, erfordert viel Kraft, sich von ihm zu distanzieren und in eigenem Stil, mit eigenen Gedanken zu schreiben. (Dies gilt sicher als kritischer Maßstab für die Darstellungsweise der vorliegenden Untersuchung, die dies hoffentlich einzuholen vermag.) Gerade gegen das Kredo mäeutischer Aneignung forciert eine Rezeption von Kierkegaards Schriften mehr ein Wiederholen der Worte. Und eben diese Reproduktion, in der letztlich Theorie- und Objektsprache zusammenfallen, vermittelt den Eindruck der Identifikation. Dies hielt in der auf Haecker folgenden und durch ihn geprägten Auseinandersetzung mit Kierkegaard etwa bis in die frühen 1960er Jahre an. Zur undistanzierten Identifikation schreibt Friedrich Kienecker 1964 treffend (auch um seine eigene identifikatorische Haltung zu begründen): „Wer sich mit Kierkegaard einläßt, verhält sich niemals nur in der Distanz des Rational-Bedenkenden, sondern sehr bald auch mit Leidenschaft des Emotional-Engagierten oder -Abgestoßenen. Von seinem Werk geht eine Provokation aus, die eine Stellungnahme verlangt …“ (Ders., Erziehung zur Nachfolge. Die Bedeutung der religiösen Schriften Sören Kierkegaards für die Ausbildung der Kategorien christlicher Erziehung, Ratingen bei Düsseldorf 1964, S. 38) Hier zeigt sich gerade, dass Kierkegaard nicht allein als Theoretiker, sondern als der den (auch wissenschaftlichen) Leser selbst betreffende Schriftsteller rezipiert wird. Das Denken Kierkegaards

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Identifikation auch, diese mit Eifer und Inbrunst nach außen zu tragen. Zu Haeckers Verteidigung ist aber anzumerken, dass er (neben Christoph Schrempf) zu denjenigen gehört, die Kierkegaard entdecken, dass also hier Pionierarbeit geleistet wird. Das – wenn auch immer polemisch gebrochene – Identifikationsverhältnis entspringt dann einerseits der bei Haecker zur Schau gestellten Euphorie, philosophisches Neuland zu betreten, wobei er dabei mit gewissem Stolz auch gegen die herkömmliche Universitätsphilosophie angeht; andererseits aber auch aus dem Denken Kierkegaards selbst heraus. Das führt jedoch zu dem Umstand, den Markus Kleinert festhält: „In Haeckerʼs role as mediator of Kierkegaard it is impossible to distinguish clearly where he intends to reproduce Kierkegaard and where he interprets him, where he holds himself back and where he actively inserts his own opinions.“³⁵ Diese enge Verwobenheit von Haeckers eigenem Denken mit seiner Kierkegaard-Auseinandersetzung verweist wiederum auf die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt. Für Haecker steht im Vordergrund, dass das philosophische Denken nicht von der konkreten Erfahrung des erlebten Lebens getrennt werden kann.³⁶ Erkenntnis ist für Haecker nur unmittelbar aus dem erlebten Leben selbst zu gewinnen.³⁷ Das

gerät weniger zum Gegenstand der Forschung, sondern zu einer (wissenschaftlichen) Erfahrung, an der altes Denken neu gesichtet wird oder zu neuen Sichtweisen inspiriert. (Dazu: Hermann Deuser, Sören Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, Darmstadt 1985, S. 18 f. (Anm. 21)) Eine starke Identifikation liegt u. a. bei Alois Dempf (Kierkegaards Folgen (1935)) oder Walter Ruttenbeck (Sören Kierkegaard. Der christliche Denker und sein Werk (1929)) vor, bei denen – ebenso wie bei Haecker – die Differenz zwischen Theorie- und Objektsprache gänzlich verwischt und es im Grunde nur zu Paraphrasierungen von Kierkegaards Denken kommt. In gemäßigter Form ist Identifikation u. a. bei Liselotte Richter (Der Begriff der Subjektivität bei Sören Kierkegaard (1934)) und Anna Paulsen (Sören Kierkegaard. Deuter unserer Existenz (1955)) zu finden. Auch in der heutigen Sekundärliteratur finden sich latente identifikatorische Haltungen, wie etwa bei Michael Bjergsø (Kierkegaards deiktische Theologie (2009)). Betont sei (was eigentlich keiner Betonung bedarf), dass eine identifikatorische Haltung nichts über den wissenschaftlichen Gehalt aussagt, der immer an der jeweiligen Auseinandersetzung zu prüfen ist.  Markus Kleinert, „Theodor Haecker: The Mobilization of a Total Author“, in Kierkegaardʼs Influence on Literature, Criticism and Art, Tome I: The Germanophone World, hg. von Jon Stewart, Farnham und Burlington 2013 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Vol. 12, Tome I), S. 91– 109, hier S. 91.  „Es ist zu beachten, daß schon in jener Philosophie, die sich noch nicht mit den eigentlichen Existenzproblemen beschäftigt, der Stil der Darstellung sich hebt und ein anderer wird, wenn sie sich mehr und mehr ins Leben vertieft.“ (PdI, S. 52)  In dieser Herangehensweise unterscheidet sich Haeckers Philosophie nicht sehr von der Wilhelm Diltheys (dessen Vorlesungen Haecker in Berlin gehört hat: vgl. Janik, Haecker, Kierkegaard and the early Brenner, besonders S. 125), für die gilt, „den Menschen, ganz allgemein gesprochen, als ein im Leben befindliches Wesen und ihn aus dieser Lebensbezüglichkeit zu verstehen.“ (Franz Leider, Der Begriff der Lebendigkeit in Diltheys Menschenbild, Berlin 1940, S. 13). Es

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bedeutet für ihn gleichfalls, dass eine Philosophie, die vom Leben handelt, diesem Inhalt performativ Ausdruck zu verleihen hat. Die Thematik des Lebens muss lebendig vorgetragen werden. Haecker glaubt diesen Zusammenhang von Form und Inhalt bei Kierkegaard zu finden,³⁸ dessen Art und Weise der Existenzmitteilung Haecker zu seinem eigenen Gestaltungsprinzip umformt. Die Wahrheiten, auf die es Haeckers Meinung nach wirklich ankommt, die Existenzfragen im Sinne Kierkegaards, können nur dann adäquat besprochen werden, wenn sich derjenige, der über diese Fragen spricht, mit der Fragestellung selbst identifiziert.³⁹ Unter der Prämisse der Aneignung von Kierkegaards Denken führt dies bei Haecker zu einem hermeneutischen circulus virtuosus, in dem über Kierkegaard mit Kierkegaard und als Kierkegaardsches Subjekt (haeckerisch verstanden) gesprochen wird. Eine wissenschaftliche, zumindest distanzierte Analyse wird so der Weg versperrt, was Haecker auch ganz bewusst, wiederum im Geiste Kierkegaards, betont: „Es geht ja nicht an, die Ordnung der Existenz und der Innerlichkeit rein objektiv und wissenschaftlich darzustellen …“⁴⁰ Allein durch die eigene Emphase (des Autors) kann die Innerlichkeit und das Existieren thematisiert und dem Leser vermittelt werden.

ist im Übrigen bemerkenswert, dass Haecker, den man auch als Lebensphilosophen lesen kann, was in meiner Darstellung vernachlässigt wird, an keiner Stelle Bezug auf Dilthey nimmt. Zu Dilthey als Lebensphilosoph vergleiche besonders das Dilthey-Kapitel „Leben im Erleben“ in: Ferdinand Fellmann, Lebensphilosophie, Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 108 – 123 (im Zusammenhang mit der hier dargelegten Haecker-Interpretation sind besonders interessant: S. 109 – 113 und 119 f.). Auch bezüglich des Erkennens und des darin impliziten Zusammenhangs von Verstehen und Gefühl ergeben sich Gemeinsamkeiten zwischen Haecker und Dilthey. So schreibt Otto Friedrich Bollnow in Bezug auf Dilthey, was er auch hätte über Haecker schreiben können: „[D]as Verstehen behält zumeist einen rational nicht auflösbaren Bestandteil gefühlsmäßigen Erfassens.“ (Ders., Studien zur Hermeneutik. Bd. 1, Zur Philosophie der Geisteswissenschaften. Freiburg und München 1982, S. 78) Dazu auch: Gunther Scholtz, „Hermeneutische Philosophie“, in HWPh, Bd. 7, S. 752– 761, besonders S. 752 f. Zu einer genaueren Darstellung Diltheys: besonders Matthias Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996.  „Die Wahrheiten Kierkegaards können weder deduziert noch demonstriert werden, aber sie sind immer noch mitteilbar, nicht objektiv und systematisch …, aber künstlerisch und dialektisch nach der Methode der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift.“ (PdI, S. 42)  Volker Eid vermerkt, dass für Haecker das Ästhetische „gleichsam mit dem Ernst der menschlichen Existenz angefüllt werden [müsse].“ (Ders. Die Kunst in christlicher Daseinsverantwortung nach Theodor Haecker, S. 177).  PdI, S. 19.

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Wie geht Haecker mit der Person „Kierkegaard“ um? Mit seiner Begeisterung für die Verwebung von Form und Inhalt fasziniert Haecker zuallererst, dass Kierkegaard ein religiöser und philosophischer Schriftsteller war. Das macht ihn für Haecker und vor allem für Haecker selbst zum Vorbild. Die Vorbildfunktion liegt hierbei vor allem auf dem Aspekt „totaler Autorenschaft“⁴¹, in der die polyphone Struktur von Kierkegaards Werk, die verschiedenen Pseudonyme und Schriftentypen einem Genie zugesprochen werden,⁴² was praktisch eine Aufhebung der Polyphonie bedeutet. Dafür spricht unter anderem auch Haeckers große Affinität für die „Erbaulichen Reden“ Kierkegaards, denen er zugute hält, dass „für sie allein ja Kierkegaard die volle Verantwortung seiner ganzen Person übernahm“⁴³, weil er sie unter eigenem Namen veröffentlichte. Eben dieses implizite „Einstehen für das eigene Schaffen“ imponiert Haecker. Christian Wiebe beobachtet zudem, dass die Beurteilung des Vorbilds „nicht offen und beliebig dem Leser überlassen wird“.⁴⁴ Vor allem zu Beginn der PdI ist Haecker in der Beurteilung und Charakterisierung Kierkegaards geradezu überschwenglich.⁴⁵ So verwundert es nicht, dass er Kierkegaard als einen Menschen von „unvergleichliche[r] Genialität“⁴⁶ beschreibt, der unter anderem einen „neuen Typus“ des Christen geschaffen hätte,⁴⁷ für den „Kierkegaard ein Anfang ist, der noch nicht begonnen hat“.⁴⁸ Neben der euphorischen Charakterisierung Kierkegaards liegt in Haeckers Darstellung eine Vermischung von Biographie und der Philosophie Kierkegaards

 Dazu ausführlich: Kleinert, „Theodor Haecker: The Mobilization of a Total Author.“  „Denn ihm allein gelang ja das Unheimliche, was noch nie einem Dichter gelungen war, verschiedene produzierende Genies ihre Köpfe und ihre Herzen zu geben und sie unsterbliche Werke schaffen zu lassen.“ (PdI, S. 57 f.)  Theodor Haecker, Sören Kierkegaard. Religiöse Reden, übers. von Theodor Haecker, 2. Aufl., Leipzig 1936, S. 9.  Christian Wiebe, Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920. Heidelberg 2012, S. 87. Es sei bemerkt, dass Wiebe diese Anmerkung im Kontext der durch Kierkegaard beeinflussten Kulturkritik Haeckers (s.u., Anm.) und des daraus entspringenden Verständnisses von Kierkegaards Texten macht, sie aber ebenso gut auf den hier vorliegenden Zusammenhang zutrifft.  So schreibt er über die Schwermut Kierkegaards, dass sie die frühen Schriften „mit einer vorher nie gehörten Melodie begleitet.“ (PdI, S. 7) Solche Schwermut und ihre literarische Reproduktion gäbe es „nicht zum zweiten Mal in der Geistesgeschichte der Menschheit.“ (PdI, S. 7) Zugleich ist Kierkegaard auch der „witzigste[ ] Schriftsteller der Weltliteratur“ (PdI, S. 7). Diese Übertreibungen gleiten teilweise in einen welthistorischen Fatalismus (u. a. PdI, S. 6), manchmal auch in bloße Psychologisierung ab (u. a. PdI, S. 9).  PdI, S. 24.  PdI, S. 70.  PdI, S. 34 (Anm.).

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vor.⁴⁹ Von Haecker wird eine Korrelation zwischen persönlicher Entwicklung und dem Werk Kierkegaards angenommen;⁵⁰ dass dessen Schriften auch dessen eigene „Weiterentwicklung“ dokumentieren.⁵¹ Die Frage, die hierbei im Raum steht, ist eine alte Frage der Philosophie: Muss die Lehre eines Philosophen mit seinem gelebten Leben übereinstimmen? Haecker will Kierkegaard hierbei selbstverständlich zu jenen Philosophen zählen, deren Leben ein Beispiel für die eigene Philosophie sind. Und dafür scheint nur ein Grund plausibel zu sein: weil Haecker in dieser Übereinstimmung eine Bestätigung und Bewährung der Philosophie Kierkegaards sieht. Kierkegaards Denken hat sich sozusagen als tauglich erwiesen. Die Biographie evaluiert, kondensiert und repräsentiert das Denken. Was Haecker demnach unter Philosophie versteht, kann wie folgt beantwortet werden: Philosophie ist das Nachdenken, das aus dem Lebensvollzug entsteht und auf diesen hin nachdenken soll. In diesem Sinne erfüllt die Philosophie das (für Haecker wichtige) Kriterium der praktischen Umsetzbarkeit, weil sie direkt aus dem praktischen Vollzug her gewonnen ist.⁵² Hiervon ausgehend kann schließlich Haeckers Denken inhaltlich konkretisiert werden.

 Diese Vermischung ist später u. a. zu finden bei: Friedrich Carl Fischer, Nullpunkt der Existenz dargestellt an der Lebensform Sören Kierkegaards, München 1933; auch: ders., Existenz und Innerlichkeit. Eine Einführung in die Gedankenwelt Søren Kierkegaards, München 1969. Emanuel Hirsch, Wege zu Kierkegaard, Berlin 1968. Anna Paulsen, Sören Kierkegaard. Deuter unserer Existenz. Hamburg 1955. Zu einer kritischen Betrachtung des Verhältnisses von Philosophie und Biographie Kierkegaards (auch in dem Sinne, dass dieses Verhältnis in der „neueren Forschung“ nicht so ernst genommen wird, wie es Kierkegaards Biographie beansprucht): vgl. Joakim Garff, „,To produce was my life.‘ Problems and Perspectives within the Kierkegaardian Biography”, in Kierkegaard Revisited. Proceedings from the Conference ‚Kierkegaard and the Meaning of Meaning It‘, Copenhagen, May 5 – 9, 1996. Berlin und New York 1997 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 1), S. 75 – 93, besonders S. 83 – 85 und S. 91– 93.  Vgl. Heiko Schulz, „A Modest Head Start: The Reception of Kierkegaard in the GermanSpeaking World”, in ders., Aneignung und Reflexion. I. Studien zur Rezeption Søren Kierkegaards. Berlin und Boston 2011 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 24), S. 27– 144, hier S. 52.  „Kierkegaard wuchs durch jedes Werk, das er schuf, weil er es zurücknahm in seine Innerlichkeit, die er unter keinen Umständen dem äußeren Erfolg eines Werkes geopfert hätte.“ (PdI, 10) Diese Bemerkung zur Einkehr Kierkegaards in sich, ohne Beachtung des äußeren Erfolgs, braucht man wiederum nur flüchtig mit der folgenden Stelle aus der Unwissenschaftlichen Nachschrift zu vergleichen: „Eine in Wahrheit große ethische Individualität würde ihr Leben so verbringen: sie würde sich selbst nach äußerstem Vermögen entwickeln, dabei vielleicht große Wirkung im Äußeren hervorbringen, aber dies würde sie gar nicht beschäftigen …“ (SKS 7, 127/ DUN, 267) Von Haecker her gesehen, wäre Kierkegaard die „ethische Individualität“.  Dass Haecker mit dieser Sichtweise eine Biographisierung des Werkes Kierkegaards vornimmt, ist verständlich, aber nicht allein darauf zurückzuführen. Kierkegaard selbst lanciert Hinweise zu so einem Vorgehen. Deren Ambivalenz lässt sich beobachten, wenn eine der berühmtesten Stelle in dem Journal JJ von 1843 betrachtet wird. Kierkegaard schreibt: „Nach meinem Tod soll keiner in

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Was beinhaltet das Denken Haeckers? In der von Kierkegaard inspirierten Kulturkritik⁵³ Haeckers ist der Hauptkritikpunkt der, dass er (Haecker) in einer Zeit lebe, der es an Leidenschaft fehle: „Was heute fehlt, ist nicht die blinde, aber die sehende Leidenschaft …“⁵⁴ Damit wird zugleich auf Haeckers eigene Philosophie hingewiesen.

meinen Papieren (dies ist mein Trost) eine einzige Auskunft darüber finden, was mein Leben eigentlich ausgefüllt hat; jene Schrift in meinem Innersten finden, die alles erklärt, und die oft das, was die Welt Bagatellen nennen würde, zu ungeheuer wichtigen Ereignissen für mich macht, und was ich als unbedeutend ansehe, wenn ich die heimliche Note wegnehme, die es erklärt.“ (SKS 18, 169 f., JJ:95/ DSKE 2, 174) Vordergründig sagt Kierkegaard, dass seine Leser bitte nicht in Kierkegaards Biographie nach Äquivalenzen zu seinen Schriften suchen sollen. Doch die Doppelbödigkeit dieser Notiz ist kaum zu übersehen. Niels Jørgen Cappelørn und Joakim Garff halten dazu fest: „Mit dieser Aufzeichnung macht Kierkegaard geradezu demonstrativ etwas Fehlendes zum wahren Interpretationsschlüssel für sein Leben und das damit verbundene Werk.“ (Niels Jørgen Cappelørn und Joakim Garff, Kierkegaard. Die geheime Notiz, übers. von Krista M. Deuser, Kopenhagen 1997, S. 9) Weil beispielsweise das „eigentlich“ in der Wendung „was mein Leben eigentlich ausgefüllt hat“ hervorgehoben ist, wird eine Fährte gelegt, dass Kierkegaards gelebtes Leben das ist, wo Antworten zu finden sind. Indem Kierkegaard von einer erklärenden „geheimen Notiz“ spricht, die eben gerade nicht vorhanden ist, lockt er den Leser zur biographischen Betrachtung. „[D]as Notat über die Notiz, jene geheime, die sich entzieht und damit den Leser in ein Spiel hineinzieht, ein Spiel das einer Verführung zum Verwechseln ähnlich sieht …“ (Ebd., S. 15) Dieser Verführungskraft und dem doppelbödigen Charme erliegt Haecker.  Zur Kulturkritik ausführlich (mit vornehmlichem Bezug auf die 1914 erschienene, von Haecker übersetzte Kierkegaard-Schrift „Kritik der Gegenwart“): Wiebe, Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard, S. 63 – 110, besonders ab S. 82. In der PdI erschöpft sich die Kulturkritik Haeckers in einer echauffierend-polemischen Haltung gegenüber seinem Zeitgeschehen. Objektiv-argumentative Kritik ist kaum zu erkennen. Stellenweise nimmt diese Kritik antimodernistische Züge an (beispielsweise die Stelle zur modernen Malerei: vgl. PdI, S. 25).Wichtig für Haecker ist ein unklar bleibender Begriff von „verecundia“ (Anstand), den er als Kriterium für seine Kritik anführt (vgl. PdI, S. 26 (Anm.)). Der nörgelnde Gestus bei all seiner Kulturkritik, dass beispielsweise die Geisteswissenschaft („Regionen des Geistes“ (PdI, S. 12)) ein „Narrenhaus“ (PdI, S. 12) sei, folgt dem üblichen kulturkritischen Muster, dass alle anderen (Masse) an dem, was wesentlich ist, vorbeisehen. Dennoch muss dieser Kritik an Haeckers Gestus zugleich hinzugefügt werden, dass besonders das Moment der Polemik in Haeckers Ausführungen wichtig ist, um zu verstehen, warum Haecker keine Sachkritik vorbringt. Einerseits will er sich mit satirischer Übertreibung destruktiv gegen die eigene Zeit richten; andererseits steckt in aller Polemik Haeckers auch immer die Euphorie des Aufbruchs. Die dialektische Verwebung von Übertreibung und Vernichtung des Bestehenden will den Leser wachrütteln und mäeutisch zum eigenen Nachdenken bringen. In dieser Zweideutigkeit des Gesagten bewegt sich Haecker beständig. In diesem Sinne ist die PdI selbst eine zur Auseinandersetzung angelegte „Streitschrift“. – Ich danke Markus Kleinert für die wichtigen Hinweise.  PdI, S. 20. Dass das Heute, die „Gegenwart“, eine leidenschaftslose Zeit (der bloßen „Reflexion“) sei, nimmt Kierkegaard in Eine literarische Anzeige als Ausgangspunkt, um seine gesellschaftskritischen Betrachtungen zu formulieren: vgl. SKS 8, S. 66 – 106/ LA, S. 72– 120. Dass

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Abgesehen davon, dass mit der Leidenschaft ein genuin Kierkegaardscher Aspekt der Existenzbetrachtung angesprochen ist, ist zunächst zu fragen, was Haecker unter Leidenschaft versteht. Soweit ich sehe, gibt Haecker keine genaue Erläuterung dazu, außer wenn er von der Leidenschaft des Glaubens spricht, die er als „Raserei des reifen Mannes“⁵⁵ bezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass Haecker Leidenschaft als emphatisches Gefühl versteht, bei dem die ganze Persönlichkeit von diesem Gefühl eingenommen ist. Sprachkritisch muss hierbei Ernst Tugendhats Kommentar zum Begriff „emphatisch“ genannt sein: Das „Wort »emphatisch« ist gewiß verdächtig. Man benutzt es,wenn man sich in Wirklichkeit seiner Sache nicht sicher ist.“⁵⁶ Tugendhats Beobachtung ist für den vorliegenden Fall insofern zutreffend, als dass ich, auch vorher schon, versucht habe, die Uneindeutigkeit Haeckers auf einen Begriff zu bringen, der sowohl die Uneindeutigkeit spiegelt als auch, konkreter als Haecker es tut, benennt,was Haecker meint: das Durchdrungensein der Person von einem unmittelbaren Gefühlserlebnis. Mit der im obigen Zitat vorgenommenen Betonung der sehenden Leidenschaft bedient Haecker einen spätestens seit Platons Timaios vorhandenes Topos: Sehen und Philosophie gehören zusammen.⁵⁷ Haecker betont aber nicht die Philosophie und damit das Denken, sondern die Leidenschaft und damit das Gefühl als diejenige menschliche Eigenschaft, die den Mensch „sehend“ macht. Daraus könnte leicht abgeleitet werden, dass Haecker dem Gefühl und insbesondere der Lei-

Kierkegaard dabei aber niemals proklamiert, die Leidenschaft gegen die Reflexion und somit auch gegen das kritische Denken auszuspielen: vgl. István Czakó, Geist und Unsterblichkeit, Grundprobleme der Religionsphilosophie und Eschatologie im Denken Søren Kierkegaards, Berlin, München und Boston: De Gruyter 2015 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 29), S. 61 ff. Zu Haeckers Rezeption, Aufarbeitung, Anwendung und Adaption von Eine literarische Anzeige: Allan Janik, „Haecker, Kierkegaard and the early Brenner: a contribution to the history of the reception of Two Ages in the German-speaking world“, in Søren Kierkegaard. Critical Assessment of Leading Philosophers, Volume IV, Social and Political Philosophy: Kierkegaard and the „Present Age“, hg. von Daniel W. Conway und K. E. Gover, London and New York 2002, S. 123 – 147.  PdI, S. 64.  Ernst Tugendhat, Über den Tod, Frankfurt am Main 2006, S. 29.  Vgl. Platon, Timaios, 47a – b. – Zur Bedeutung des Sehens bei den Griechen: vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 854. Zum Sehen als „Leitphänomen“ und „Ermöglichung“ des Verstehens bei Platon: vgl. Martin Heideggers (neukantianische) Platondeutung (mit Bezug auf die Politeia) in: Ders., Vom Wesen der Wahrheit, Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet. Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923 – 1944, Bd. 34, hg. von Hermann Mörchen, Frankfurt am Main 1988, § 13, S. 100 – 106, besonders S. 101 ff. Zu Heideggers problematischer Platon-Deutung auch und vor allem bezüglich dessen Rekonstruktion von Sehen, Erkennen und Idee: Heinrich Niehues-Pröbsting, „Platonverlesungen: Die Wahrheit kommt unter das Joch der Idee“, in Wahrheit in Wissenschaft und Ethik. Festschrift zu Ehren von Winfried Franzen, hg. von Jan-Hendrik Heinrichs, Paderborn 2008, S. 135– 154.

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denschaft Erkenntnisvermögen zuspricht. Florian Mayr hält hingegen in Bezug auf Haeckers nachgelassene Schrift „Metaphysik des Fühlens“ fest, dass bei Haecker das Gefühl einzig dem Denken zugrunde liegt (und kein eigenes Erkenntnisvermögen zugesprochen wird).⁵⁸ Dennoch ist es v. a. in der PdI entscheidend, dass Erkenntnis gefühlt werden muss; Erkenntnis geradezu im Gefühl liegt, was sich daran zeigt, dass Haecker nur dann von Erkenntnis spricht, wenn diese sich als „lebendige Erkenntnis“⁵⁹ charakterisieren lässt. Solche Erkenntnis ist bei Haecker durch zwei Seiten charakterisiert, dass sie a) erlebt wird und dass sie b) gelebt werden muss. a) In Anbetracht der von Haecker betonten Leidenschaft ist die „lebendige Erkenntnis“ als eine Erkenntnis zu verstehen, die in der Unmittelbarkeit und Intensität des emphatischen Gefühl gewonnen wird. Haecker nennt in diesem Sinne auch die „Erfahrung als Quelle der Erkenntnis“⁶⁰, wobei Erfahrung hier nicht im Sinne von Lebenserfahrung verstanden wird, sondern von innerer Erfahrung, die wiederum genauer das vom Individuum konkret erfahrene Gefühlserlebnis bezeichnet. Erlebnis verstehe ich hierbei im Sinne Konrad Cramers Darstellung, der zwischen Erleben und Erlebnis unterscheidet: „Zum E[rlebnis] wird ein Erlebtes, sofern es nicht nur schlicht erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung sichert. Im E[rlebnis] ist der Erlebende … auf das Ganze seines Daseins bezogen. Was als E[rlebnis] gewertet wird, ist durch die Bedeutsamkeit zur Einheit des Sinnganzen zusammengeschlossen, das die Unmittelbarkeit bloßen Erlebens … übersteigt …“⁶¹ Dem Erlebnis ist aber – so Cramers weitere Ausführung –, sofern es aus dem unmittelbar erlebten Fluss des Erlebens entspringt, selbst eine unhintergehbare Unmittelbarkeit zuzusprechen, die keine „vollends rationale Vermittlung“ zulässt.⁶² Das Erlebnis ist Verdichtung des Erlebens als das unvertretbar und unvermittelbar Selbsterlebte, in dem das Individuum ein Sich-Vergegenwärtigen erfährt. b) „Lebendig“ ist die Erkenntnis für Haecker andererseits nur dann, wenn das Erkannte in den Lebensvollzug übersetzt wird. Etwas gilt als erkannt und verstanden, wenn es im gelebten Leben praktisch zum Ausdruck kommt. Hierin liegt Haeckers Sicht des Philosophen begründet und gleichfalls sein an Kierkegaard gestellter Anspruch, als Beispiel seiner eigenen Philosophie zu fungieren.

 Vgl. Florian Mayr, Theodor Haecker. Eine Einführung in sein Werk, Paderborn, München, Wien und Zürich 1994, S. 62.  PdI, S. 29.  PdI, S. 20.  Konrad Cramer, „Erleben, Erlebnis“, in HWPh, Bd. 2, S. 702– 711, hier S. 703 f., Hervorhebung d. Vf.  Vgl. ebd., S. 704.

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Den hinter diesem Anspruch stehenden Gedanken zum Ausdruck bringend, schreibt er an exponierter Stelle, nämlich im letzten Satz der PdI: „[E]s bleibt doch die Aufgabe des philosophischen Menschen, und sein Stolz und sein Glück, ein lebendiges Sein in ein lebendiges Wissen zu heben und dort zu sichern.“⁶³ Dieser Satz Haeckers ist entscheidend: Statt von lebendiger Erkenntnis spricht Haecker hier von lebendigem Sein und lebendigem Wissen, in deren Zusammenspiel das Sein zum Wissen werden soll („ein lebendiges Sein in ein lebendiges Wissen zu heben und dort zu sichern“). „Lebendiges Sein“ meint m. E. das von einem selbst gelebte Leben; „lebendiges Wissen“ bedeutet, sich selbst als denjenigen zu verstehen, der man ist, in dem von einem selbst gelebten Leben. Das schließt zwei Aspekte ein. Erstens bedeutet solches Sich-Verstehen, dass man sich von seinem gelebten Leben her versteht und zweitens, dass man dieses Verstehen wieder in den Lebensvollzug übersetzen muss. Bindet man diesen Doppelaspekt des erlebenden Verstehens und verstehenden Gelebtwerdens an die für Haecker wichtige Leidenschaft zurück, ergibt sich folgendes Bild: In der durch das leidenschaftliche Gefühlserlebnis konstituierten Erkenntnis wird das eigene unmittelbare Lebendigsein als emphatisches Bei-sich-selbst-Sein gewahr. Das Individuum versteht sich dabei in seiner umfassenden Persönlichkeit, der es im Vollzug des zu lebenden Lebens Ausdruck verleihen soll. Hierbei lassen sich zwei Folgerungen anschließen. Erstens ist bei Haecker das persönlich gelebte Leben durch eine elementar eigene Lebensbezüglichkeit geprägt. Leben und Sich-Verstehen gehören bei Haecker zusammen.⁶⁴ Zweitens liegt der Gedanke vor: Aus dem Erleben des als leidenschaftlich erfahrenen Lebens erkennt und versteht sich das Individuum als leidenschaftlich erlebendes Subjekt. Das Individuum erkennt sich selbst als das, das es ist, dadurch, wie es ist. Die Art und Weise der Erkenntnis wird zum Erkenntnisgehalt. Hiermit kann nun Haeckers Verständnis der Innerlichkeit erklärt werden. Einerseits sagt er: „Begeisterung und Innerlichkeit sind … Voraussetzungen der Erkenntnis.“⁶⁵ Haecker nennt hierbei die Innerlichkeit im direkten Zusammenhang mit der Begeisterung (ein ebenfalls Kierkegaardscher Begriff), die mit leidenschaftlicher persönlicher Anteilnahme übersetzt werden kann. Innerlichkeit wird also mit Leidenschaft und je eigener Lebensbezüglichkeit in Verbindung gebracht. Zum anderen schreibt Haecker: „Geht es um Erkenntnis, so gilt: In PdI, S. 71.  Zur Verdeutlichung dessen gebraucht Haecker erneut Kierkegaard: „Die Philosophie Kierkegaards in der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift ist die größtmögliche Annäherung des Denkens an das Leben, … an den einzelnen konkreten Menschen.“ (PdI, S. 19)  PdI, S. 52.

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nerlichkeit wird nur von Innerlichkeit erkannt …“⁶⁶ Haecker intendiert den empedokletischen Satz, dass Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann. Innerlichkeit ist die Voraussetzung für die Erkenntnis der Innerlichkeit.⁶⁷ Dieser Zirkelschluss bedeutet, dass die Innerlichkeit die leidenschaftliche Teilnahme am persönlich gelebten Leben darstellt, die nur dadurch erkannt und gewusst werden kann, indem sie erfahren wird und als anhaltendes Erlebnis gelebt wird. Innerlichkeit ist für Haecker somit nichts anderes als „ein lebendiges Sein in ein lebendiges Wissen zu heben und dort zu sichern.“⁶⁸ Daraus folgt erstens, dass in der Innerlichkeit das Wie des Erlebens zum Erkenntnisgehalt wird. Weil das Was des Erkennens und Verstehens einzig durch das Wie erkannt wird, gibt es für die Innerlichkeit als persönlichen Erlebnisakt kein äußeres Maß, keine Möglichkeit der äußeren Vermittlung.⁶⁹ Haecker betont dies, wenn er sagt, dass die „Explikation einer Innerlichkeit“ ein „Widerspruch“⁷⁰ sei. In dieser Unveräußerlichkeit der Innerlichkeit zeigt sich deutlich, dass Innerlichkeit von Haecker als jene Bestimmung des Menschen verstanden wird, bei der der Mensch unvertretbar bei sich selbst ist, weil nur er sich in seiner eigenen Innerlichkeit erlebend verstehen kann.⁷¹ Zweitens folgt aus dem Umstand, dass die Innerlichkeit das „lebendige Sein“ als „lebendiges Wissen“ ist, dass sie nicht einfach ein passives Erleben von Leidenschaft und emphatischer Selbstvergegenwärtigung ist, sondern Innerlichkeit bedeutet, sich aktiv in der Vergegenwärtigung seiner selbst als unvertretbare Person zu halten. Die Innerlichkeit als Bei-sich-selbst-Sein des Individuums ist kein Zustand, der ohne weiteres vorhanden ist. Haecker betont, dass die Innerlichkeit „im Menschen nie absolut  PdI, S. 26.  In der Unwissenschaftlichen Nachschrift schreibt das Pseudonym Johannes Climacus: „In bezug auf alles Erkennen, bei dem es gilt, dass der Gegenstand des Erkennens die Innerlichkeit … ist, gilt es, dass der Erkennende in diesem Zustand sein muss.“ (SKS 7, 57/ DUN, 183 (Hervorhebung d. Vf.))  In diesem Sinne trifft Allan Janiks exakt den Punkt Haeckers: „Inwardness is the recognition in practice …“ (Janik, „Haecker, Kierkegaard and the early Brenner“, S. 130).  Vgl. Eid, Die Kunst in christlicher Daseinsverantwortung nach Theodor Haecker, S. 105; sowie: Janik, „Haecker, Kierkegaard and the early Brenner“, S. 123 – 147, besonders S. 132. Ironischerweise ist die Performanz von Haeckers Text das Gegenteil des Inhalts. Er versucht die leidenschaftliche Innerlichkeit erfahrbar zu machen. Haecker betont jedoch: „Je tiefer die Innerlichkeit ist, desto zweideutiger sind ihre äußeren Anzeichen.“ (PdI, S. 27) In diesem dialektischen Sinne ist die emphatische Darbietung von Haeckers Text nur der Verweis auf etwas, was nicht gezeigt werden kann, weil das, was gezeigt werden will, einzig das Erleben des eigenen Erlebens ist.  PdI, S. 26.  So hält Allan Janik in Bezug auf Haecker fest: „So intense is the inward man’s commitment to his beliefs that they can neither be understood nor evaluated apart from his personality.“ (Janik, „Haecker, Kierkegaard and the early Brenner“, S. 130).

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gesichert, niemals ganz durchsichtig“⁷² sei. Sie ist für Haecker der elementare Kern, von dem her und auf den hin sich der Mensch bei Haecker verstehen muss, um eine originale Persönlichkeit zu sein. Denn: „[J]e innerlicher ein Mensch lebt, je unvergleichlicher seine Individualität, also je originaler und subjektiver sein Denken“⁷³, desto wirklicher (authentischer) ist dieser Mensch. Zum einen ist Innerlichkeit für Haecker dabei das Selbstsein, das man ist, d. h. schon ist und entdecken muss, um sich von dort her zu verstehen. Zugleich versteht Haecker die Innerlichkeit als Vollzug des Selbstverstehens, der nicht einfach unmittelbar vorhanden ist, sondern einzig dadurch ist, dass er bewusst und aktiv gelebt wird. Das Verstehen des Selbstseins, das man schon ist, muss immer auch und noch erarbeitet werden. Das zeigt sich deutlich an der von Haecker geforderten Erhaltung der Innerlichkeit („ein lebendiges Sein in ein lebendiges Wissen zu heben und dort zu sichern“), dass sie eben erst dann ist, wenn ein permanentes Sich-zu-sich-Verhalten praktiziert wird.⁷⁴

Zusammenfassung Durch ihre Merkmale der Leidenschaft, Permanenz, Aktivität, des Bei-sich-selbstSeins, des Sich-Verstehens (etc.) ist die Innerlichkeit am ehesten als ein Habitus zu beschreiben, von dem die ganze Persönlichkeit emphatisch ergriffen wird und nach außen getragen wird (was Haecker anhand der Performanz seines Textes zur Schau stellt). Innerlichkeit ist die sinngebende Vereinzelung, denn auf den Einzelnen komme es an, weil die Kategorie des Einzelnen „für Kierkegaard allein den Sinn der Welt und des Lebens [rettet].“⁷⁵ Von Haeckers Kierkegaard-Verständnis her gilt deshalb für Haeckers Denken selbst, dass der innerliche Einzelne derjenige ist, der nur „aus sich selber heraus seinen Sinn“⁷⁶ findet. Kierkegaard wird dabei unter Haeckers Hand zu einem Denker, von dem her die Innerlichkeit als leidenschaftliche Einstellung zum eigenen Leben verstanden wird; als eine Art der Lebensgestaltung, in der es um das Sich-Verstehen und Sich-Behaupten geht und dadurch die Grundlage für einen Habitus der Eigentlichkeit bereitstellt. In

 PdI, S. 27.  PdI, S. 53.  Innerlichkeit ist demnach keine Selbstvergegenwärtigung im Sinne eines kontemplativen Zustands. Mit Bezug auf Kierkegaard betont er genau das, wenn er die Innerlichkeit als eine ständige Bewegung des Geistes beschreibt (vgl. PdI, S. 56), die nicht mit einer Form von Mystik zu verwechseln sei, in der sich in Weltabgewandtheit „mit einem temporären ekstatischen Zustand begnügt“ (PdI, S. 44) würde.  PdI, S. 63.  PdI, S. 64.

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diesem Sinne ist dem, was Haecker als innerliche Persönlichkeit vorschwebt, ein gewisser Heroismus (des Für-sich-selbst-Einstehens) sicher nicht abzusprechen, weshalb Heiko Schulz treffend schreibt, dass Kierkegaard selbst für Haecker „a world-historically significant ‚hero of inwardness‘“⁷⁷ sei. Haeckers Darstellung der Innerlichkeit als „lebendiges Sein“ impliziert, dass die Innerlichkeit bei Kierkegaard als eine Existenzontologie zu verstehen ist (wobei anzumerken ist, dass Haecker keine Ontologie ausarbeitet). Das genügt nicht nur nicht der Kierkegaardschen Auseinandersetzung mit der Innerlichkeit, sondern hatte auch weitreichende Folgen, etwa, wenn Adorno, der sich von Haecker beeinflusst zeigt, in seinem Kierkegaard-Buch (1933) das Kapitel zur „objektlosen Innerlichkeit“ damit beginnt, dass die Ursprungsintention von Kierkegaards philosophischer Frage die Ontologie und somit auch die Innerlichkeit eine ontologische Kategorie sei.⁷⁸ Hinzu kommt, dass Hackers Philosophie der Innerlichkeit immer auch als eine Philosophie des Glaubens zu verstehen ist.⁷⁹ Sowohl Existenzontologie als auch Glaube werden zusammengebracht, wenn Haecker über Kierkegaard sagt: „Sein Existentialsatz lautet: credo, ergo sum.“⁸⁰ Erst unter der Bedingung des Glaubens könne von Sein, Selbstsein, gesprochen werden. Schließlich dient Kierkegaard als der Philosoph der Leidenschaft, der gegen eine, von Haecker angeklagte Philosophie des Reduktionismus des konkreten Menschen herhält.⁸¹ Mit der Betonung der Leidenschaft wird aber ein Bild evoziert, das Kierkegaard im Wesentlichen als einen Denker des Gefühls herausstellt.⁸² Jedoch ist Haecker nicht der erste, der das Gefühl bei Kierkegaard als zentrales Moment heraushebt. Elf Jahre vor dem Erscheinen von Haeckers PdI schreibt Harald Höffding, auf den sich Haecker auch bezieht,⁸³ dass es bei allem wahren

 Schulz, „A Modest Head Start: The Reception of Kierkegaard in the German-Speaking World“, S. 51.  Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 38. Es versteht sich, dass Adorno mit seiner kritischen Haltung zur Innerlichkeit und Ontologie auch gegen Heidegger und dessen 1927 erschienenen Sein und Zeit angehen will. Zur ontologisierenden Sicht auf Kierkegaard vergleiche auch: Theodor W. Adorno, „Kierkegaard noch einmal“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, hg.von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt am Main 1979, S. 557– 575, hier S. 562 f.  Vergleiche unter anderem PdI, S. 63 – 71.  PdI, S. 67.  Vgl. Wiebe, Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard, S. 84.  Das ist von Haecker wohl vor allem für ihn selbst beabsichtigt. Haecker wird seine, wesentlich für sein eigenes Denken nutzbare These von Kierkegaard als Philosoph des Gefühls später in seinem Buch „Metaphysik des Fühlens“ untermauern. Vgl. ders., Metaphysik des Fühlens. Eine nachgelassene Schrift. 1. Aufl., München 1950, S. 20 ff. und 26 f.  Vgl. PdI, S. 35 f.

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Existieren auf die „persönliche Innerlichkeit und Energie“, das „persönliche[] Fühlen und Streben“ ankomme.⁸⁴ Man kann Haeckers PdI als Ausbuchstabierung dieser Bemerkungen Höffdings lesen. Zumindest aber wird dadurch verständlich, dass für die anfängliche deutsche Kierkegaard-Interpretation zwei wichtige Bücher ein Rezeptionsklima schufen, die Kierkegaard als einen Philosophen des Gefühls und des Wollens etablierten.

1.2.2 Fülle der Gegenwart: Michael Theunissen Michael Theunissens 1958 erschienene, in zwei große Teile untergliederte Dissertation Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard (BE)⁸⁵ gehört zur Frühphase der sich nach dem zweiten Weltkrieg herausbildenden, an der Sache orientierten Rezeption Kierkegaards, bei der die Identifikation mit Kierkegaard stark in den Hintergrund rückt. Zuerst soll sich dem für die Innerlichkeit produktiveren ersten Teil von Theunissens Buch – „Der Gegenstand des Ernstes“⁸⁶ – zugewendet werden. Die darin enthaltene Innerlichkeitsauslegung muss vor dem Hintergrund von Theunissens eigenem Interesse gesehen werden. Zu Beginn der Einleitung von BE betont Theunissen, dass es Kierkegaard mit dem „Ernst“ um ein Verständnis von Wirklichkeit geht.⁸⁷ Theunissen versteht seine Aufgabe dementsprechend darin, zu verstehen, was Wirklichkeit bei Kierkegaard bedeutet und das im Hinblick auf das, was Kierkegaard unter „Ernst“ begreift. Theunissen geht es von Anbeginn um zwei ineinander verwobene Sachkomplexe, welche er mit sprachlicher Sorgfalt und direkten Hinweisen auf Kierkegaards eigene Philosophie einführt, wenn er schreibt: „Was ‚im Ernst‘ ist, das ist ‚in Wirklichkeit‘ und ‚in Wahrheit‘ und ‚in der Tat‘.“⁸⁸ Hierbei sind besonders die Aspekte der Wirklichkeit und der Tat hervorzuheben, weil Theunissen an ihnen systematisch die Innerlichkeit ausmacht.

 Harald Höffding, Sören Kierkegaard als Philosoph, übers. von A. Dorner und Chr. Schrempf, 2. durchges. Aufl., Stuttgart 1902, S. 74.  Zitiert wird nach: Michael Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard. Freiburg und München 1958.  BE, S. 1– 92.  Vgl. BE, S. IX.  BE, S. IX.

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Innerlichkeit als Wirklichkeit und Handlung Ist die Innerlichkeit die Wirklichkeit, wird das Innen und nicht das Außen betont, womit ein Wirklichkeitsverständnis im Sinne empirischer Wirklichkeit nicht greift. „Wirklichkeit im empirischen Sinne“ – schreibt Hermann Deuser – „ist nicht das, was wir unmittelbar haben; auch nicht das, was wir als etwas vorstellen; sondern das Wirkliche drängt sich uns unwiderstehlich von außen auf und wird als Gegenüber bestimmbar.“⁸⁹ Die empirische Wirklichkeit ist das, was dem Menschen entgegentritt, oder anders gesagt, mit dem sich der Mensch konkret konfrontiert sehen muss. Diese sich aufdrängende, uns konfrontierende Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit, um die es Theunissen (in Anbetracht Kierkegaards) geht: „Das Sein als innerliche Wirklichkeit ist erst da, wo das, was äußerlich vorliegt, in lebendigem Bezug zum Individuum steht und dort in seiner Bedeutsamkeit aufstrahlt. Das Gegebene muß, um wahrhafte Wirklichkeit zu erlangen, gleichsam nochmals vom Menschen verwirklicht, muß aufgefangen, wiedergegeben und zurückgespiegelt werden.“⁹⁰ Wirklichkeit ist in diesem Sinne nur, wenn das empirische Außen in einem „lebendigen Bezug zum Individuum“ steht. Das,was als Welt angetroffen wird und mit dem man sich konfrontiert sehen muss, ist erst dann als Wirklichkeit zu bezeichnen, wenn das Außen für einen selbst wichtig wird. Erst wenn sich das Individuum selbst einbringt und die äußere Wirklichkeit durch sich katalysiert, wird äußere Wirklichkeit zur inneren, innerlichen Wirklichkeit. Theunissen spitzt diese Auffassung von Wirklichkeit zu, wenn er sie mit dem Substantiv „Innerlichkeit“ benennt: Ungeachtet dessen, was andere Menschen, was Climacus in den ‚Philosophischen Brocken‘ und bisweilen auch er selbst die Wirklichkeit nennen, bezeichnet Kierkegaard die Innerlichkeit als ‚die Wirklichkeit‘, vor der all das, was sich im gewöhnlichen Reden als einzig Wirkliche aufdrängt, nahezu unwirklich wird. Die Innerlichkeit ist nicht nur der Gegensatz zur Äußerlichkeit, sondern ebensosehr der Gegensatz zum Seinsschwachen und zu dem in seiner Unbezüglichkeit Gleichgültigen. Als die wahre Wirklichkeit ist sie Seinsmächtigkeit, Eigentlichkeit, Kraft und Fülle. Das dänische Wort ‚Inderlighed‘ heißt vorzüglich: ‚Innigkeit‘ oder ‚Inbrunst‘, also Stärke der Teilnahme und des Bezogenseins.⁹¹

Die Radikalisierung der „innerlichen Wirklichkeit“ zur „Innerlichkeit“ besteht in dem Aspekt des Sich-zu-sich-Verhaltens (Selbst-Verhältnis) und dies wiederum in

 Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin und New York 2009, S. 35. Ich greife auf diese Definition der Wirklichkeit zurück, weil sie nicht allein erkenntnistheoretische, sondern auch existenzphilosophische Aspekte einschließt.  BE, S. 33 (Hervorhebung d. Vf.).  BE, S. 34.

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zwei Richtungen: dem Bezogensein und der Teilnahme. Das, was Kierkegaard (nach Theunissen) unter Wirklichkeit versteht, ist Innerlichkeit im Sinne des Sichzu-sich-Verhaltens in höchster Intensität. ⁹² Genauer bedeutet das: a) Mit der Innerlichkeit liegt eine Isolationstendenz des Individuums vor, sofern das, was als äußere Wirklichkeit bezeichnet wird, zum Gleichgültigen und Unwirklichen degradiert ist. Die Innerlichkeit ist demnach nicht im Objektiven und Äußerlich-Erkennbaren angesiedelt und entzieht sich so auch der Sprache.⁹³ b) Der Mensch besitzt in der Innerlichkeit – und hier bleibt Theunissen metaphorisch – „Seinsmächtigkeit, Eigentlichkeit, Kraft und Fülle“. Schon im vorhergehenden Zitat hieß es anfangs: „Sein als innerliche Wirklichkeit“. Theunissen versteht Innerlichkeit innerhalb einer Existenzontologie⁹⁴, was sich zweifelsfrei aus der Bestimmung der Innerlichkeit als Wirklichkeit ergibt. Denn Wirklichkeit hat immer mit dem zu tun, was ist. Das Individuum ist, wenn es innerlich ist, emphatisch es selbst, und als diese Emphase („Kraft und Fülle“) bei sich. Das, was Theunissen hier unter Innerlichkeit versteht, ist eine habituelle Haltung (wenn auch nicht im Sinne Theodor Haeckers). c) Die Innerlichkeit ist als habituelle Haltung ein Zustand – wie Theunissen betont – der Sich-Bezogenheit, also ein Zustand der Ego-Zentrizität, was bedeutet, dass der einzelne Mensch mit höchster Aufmerksamkeit an sich selbst interessiert ist.⁹⁵ Der Begriff des Interesses ist hier bewusst gewählt, weil er, vor allem für das in der vorliegenden Untersuchung zu besprechende Werk, die Unwissenschaftliche Nachschrift, des Pseudonyms Johannes Climacus zentral ist. Der Begriff bedeutet, sich mit Engagement einer Sache zu widmen,⁹⁶ oder – mit Wolfgang Janke gesprochen – „etwas zu seinem Anliegen machen …“⁹⁷ Und Theunissen

 Nicht umsonst gibt Theunissen dieses Verständnis der Innerlichkeit im Kapitel „Wirklichkeit als Ewigkeit und Intensität“.  Dazu: Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, Eine Studie zu seinem Freiheitsproblem, Berlin und New York 1998 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 3), S. 177 (besonders Anm. 179, wo Bezug auf Theunissen genommen wird).  Zu Theunissens Verständnis von Ontologie, das im Verhältnis zur Existenz gewonnen wird: N. Eriksen, „Kierkegaardʼs Cobcept [sic] of Motion“, in KSYB 1998, S. 292– 301, hier S. 293 (Anm. 2).  Dies wird von Robert C. Roberts geteilt: „‚Inwardness‘ is a metaphor for centrality to the self.“ (Ders., „Existence, Emotion and Virtue“, in Søren Kierkegaard. Critical Assessments of Leading Philosophers, Vol. IV, hg. von Daniel W. Conway, London und New York 2002, S. 268 – 292, hier S. 271.  Vgl. Heinrich Schmidinger, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards, Freiburg und München 1983, S. 250 ff.  Wolfgang Janke, Wiedereinführung in die Philosophie. Platonismus – Nihilismus – Eksistenzontologie. Würzburg 2013, S. 192. Janke bezieht sich hierbei auf Kierkegaard.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

27

selbst sagt auch: „Das ‚Ernstgemeinte‘ ist uns ein wahres Anliegen …“⁹⁸ Dieses Sprachspiel könnte gleichfalls lauten: Das, was uns ernst ist, ist uns wichtig. Oder: Wir sind an dem, was uns ernst ist, interessiert. Sowohl im Ernst als auch in der Innerlichkeit werden von Theunissen der Aspekt des Auf-etwas-Bezogenseins und damit der Aspekt der Intentionalität des Individuums hervorgehoben. Während aber der Ernst eine voluntative Konnotation hat – „Was wir ‚ernstlich‘ wollen, wollen wir ‚wirklich‘ …“⁹⁹ –, besitzt die Innerlichkeit die Konnotation des Involviertseins. Dieses konkretisiert Theunissen mit dem Begriff der Handlung¹⁰⁰: Handlung ist erst da, wo das Tunwollen in der Verbindung von Tun und Denken vollends die Oberhand gewinnt und die Abstraktheit, Interesselosigkeit und Unwirklichkeit der Denkmöglichkeit verdrängt, indem das Individuum die unbezogene Fremdheit des Gedachten aufhebt, jeden Unterschied zwischen sich und diesem beseitigt und es sich im existierenden Vorgriff zu eigen macht. Dies ist nicht die Äußerlichkeit des Gehandelten, das als eine Begebenheit vorliegt, sondern die Entscheidung* der inneren Tat.¹⁰¹

Das Handeln wird unter den Termini „Tunwollen“, „Entscheidung“ und „innere Tat“ subsumiert. Mit dem Tunwollen wird der Vollzug betont, mit der Entscheidung die Ausgerichtetheit der Handlung und mit innerer Tat das Sich-zu-sich-Verhalten. Handeln ist Innerlichkeit, in der die Antizipation des Handlungsziels, die Identifikation mit demselben und der Vollzug der Handlung zusammenfallen. Demzufolge ist das, was im Handeln entsteht und auf das hin das Handeln ausgerichtet ist, die eigene Persönlichkeit des Individuums (Selbstsein). „Ich selbst in meinem Sein bin das ‚vorgstellte‘ Woraufhin des ernsten Entschlusses.“¹⁰² Dieses ausstehende und entstehende Selbstsein ist die existenzdialektische Wirklichkeit, in  BE, S. IX.  Ebd.  Ernst Tugendhat unterscheidet Tat bzw. Tun von Handeln. (Vgl. ders., Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, S. 211 f.) Tun und Handeln sind im Gegensatz zum bloßen Geschehenlassen durch eine Absicht motiviert. Das Tun umfasst hierbei den willentlichen Vollzug, während das Handeln einen teleologischen, zielgerichteten Charakter besitzt. Während es im Tun um den Prozess des Handelns geht, geht es im Handlungsbegriff um das Erreichen des Handlungsziels. Handlung und Tat bedingen sich dabei gegenseitig. Das Handlungsziel kann nur durch den Vollzug des Tuns erreicht werden; das Tun wird dagegen nur zu einem Vollzug, weil zielgerichtet gehandelt wird. – Bei Theunissen liegt diese Trennschärfe zwischen den Begriffen Handlung und Tun nicht in dieser Klarheit vor.  BE, S. 47. Dass es Theunissen mit der „inneren Tat“ um die Innerlichkeit geht, wird daran deutlich, dass er danach die bekannte UN-Stelle zitiert: „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern eine Innerlichkeit, in welcher das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Dies ist Handlung.“ (SKS 7, 310/ DUN, 505)  BE, S. 139.

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1 Einleitung

der Denken und Sein nicht voneinander getrennt sind, sondern in der das Denken in die Handlungswirklichkeit integriert ist.¹⁰³ Der, der ich bin, bin ich immer in dem von mir gelebten Leben. Sich-zu-sich-Verhalten und Lebensvollzug gehören unmittelbar zusammen; das aber wiederum in spezieller Hinsicht, die weniger phänomenologisch, sondern mehr existenzialontologisch zu verstehen ist. „[Z]ur Konstitution des Entschlusses [gehört] eine wirkliche Vorstellung vom ‚Leben‘. … Das ‚Leben‘ ist hier das Ganze dessen, was mir, dem sich Entschließenden, bevorsteht. … Der Begriff des ‚Lebens‘ … meint … nicht die Begebenheiten, die von außen auf mich zutreten, sondern die Gesamtheit der mir wesentlich zukommenden Seinsmöglichkeiten. Indem ich mich also auf das Leben richte, gehe ich auf mein eigenes Sein, auf mich selbst zu.“¹⁰⁴ Leben und Selbst spiegeln sich. Und das Selbstsein wird so zu einem abstrakten Universalismus, zu einer Selbsttranszendenz im Sinne einer gänzlich unkonkreten Ganzheit¹⁰⁵ des eigenen Seinkönnens, die es anzustreben gilt. Zu handeln heißt demnach in einem an sich selbst als Person interessierten Vollzug der Selbst-Emanzipation zu sein und kann daher als ein, wie Wolfgang Janke es nennt, „An-der-Existenz-Gelegensein“¹⁰⁶ genannt werden. Handlung ist Sich-Bezogenheit als Lebensbezüglichkeit.

Innerlichkeit als Fülle der Gegenwart Während es also im ersten Teil des Buches vornehmlich um eine Innerlichkeitsauslegung in Bezug auf die Unwissenschaftliche Nachschrift geht, behandelt nun der zweite Teil die Innerlichkeit im Begriff Angst. Im Abschnitt „Die phänomenale Konkretion der Lebensganzheit“ und genauer im Kapitel „Der Ernst als Wiederholung und Innerlichkeit“¹⁰⁷ geht Theunissen auf das Phänomen der Lebensganzheit ein. Lebensganzheit bedeutet hierbei einerseits, wie Theunissen anhand der „Wiederholung“ herausstellt, „Lebenskontinuität“¹⁰⁸ und andererseits eine „Vorwegnahme des Lebens“.¹⁰⁹ Die Wiederholung ist die Kontinuität, die sich der Mensch im aktiven Vollzug seines zu lebenden Lebens verleiht. Dabei hängt die

 Zur Existenzdialektik kurz und prägnant: Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. VII.  BE, S. 138 f.  Der Begriff der „Ganzheit“ wird von Theunissen nicht geklärt. Zur Ganzheit: Kapitel 2.2.3.  Wolfgang Janke, Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin und New York 1977, S. 377.  BE, S. 131– 137.  BE, S. 131.  BE, S. 132.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Kontinuität von der Antizipation des zukünftigen Handlungsziels ab und zugleich von der gegenwärtigen Durchführung. Letzterer Aspekt wird von der Innerlichkeit benannt: „Wie die Wiederholung hat die Innerlichkeit mit dem ‚Leben‘ zu tun. Aber während jener Begriff den Vorausblick akzentuiert, umreißt dieser das Leben in seiner intensiven Fülle der Gegenwart. … Wird dort das Ganze der individuellen Zukunft ins Auge gefasst, so hier zunächst das ins Jetzt versammelte Gewicht der Existenz.“¹¹⁰ Das Handlungsziel der Innerlichkeit ist das Selbstsein, sofern dieses „das Ganze der individuellen Zukunft“ und deshalb all die mir zukommenden Möglichkeiten meines Seinkönnens impliziert. Die Innerlichkeit ist in diesem Sinne eine Glaubensbewegung, weil der Mensch in ihr die „Zeitlichkeit und Endlichkeit auf die Ewigkeit hin überschreitet …“¹¹¹ Der Mensch wird sich nur im Glauben in seiner Ganzheit bewusst. Der Vollzug dieser Transzendenzbewegung geschieht in der Innerlichkeit, mit höchster Intensität („Fülle“), in der der eigene Bezug auf das zukünftige Selbstsein das Individuum in ein es durchdringendes Verhältnis zu ihm selbst bringt. Diese emphatische Selbstvergegenwärtigung wird von Theunissen mit konkretem Bezug auf Kierkegaard betont, der im Begriff Angst die Selbstvergegenwärtigung durch das „Gemüt“ und „Gefühl“ heraushebt.¹¹²

Zusammenfassung Innerlichkeit ist als Wirklichkeit und Handlung die „Fülle der Gegenwart“, die Intensität, mit der sich das Individuum aktiv, im Hier und Jetzt sich selbst zuwendet, unter Voraussetzung der Beibehaltung dieser Haltung zu sich selbst. Das Denken (Verstehen) fällt dabei ebenso mit dem praktischen Lebensvollzug wie mit dem emphatischen Gefühl zusammen. Der von Theunissen in die Innerlichkeit implizierte Habitus der Eigentlichkeit ist die Selbstvergegenwärtigung der eigenen Person in seiner (transzendenten) Ganzheit. Die Innerlichkeit ist dabei, vor allem, was den Zusammenhang von Denken und Lebensvollzug betrifft, auf die Konzeption des Ernstes zurückzuführen, der Ausdruck dieser existenzdialektischen Verbindung ist. Denn „der Ernst ist die Ganzheitsstruktur des Selbstseins.“¹¹³

   

BE, S. 134 f. BE, S. 133. Vgl. BE, S. 135. BE, S. 135.

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1 Einleitung

1.2.3 Dialektische Bewegung: Dorothea Glöckner Dorothea Glöckners 1998 erschienene Dissertation Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis (BW)¹¹⁴ enthält die breiteste und gründlichste Auseinandersetzung zur Innerlichkeit innerhalb der deutschsprachigen Kierkegaard-Forschung. Die Studie wird von Glöckner als eine Untersuchung zu „Kierkegaards Anthropologie“¹¹⁵ verstanden. Der thematische Schwerpunkt ist die Freiheitsproblematik des Menschen im Hinblick auf den Wiederholungsbegriff und dessen immanente Konzeption des Existenzvollzugs. Die Wiederholung wird hierbei selbst als Akt der Freiheit aufgefasst,¹¹⁶ in dem es darum geht, sich zu sich zu verhalten im Hinblick auf die Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber. Es geht Glöckner darum, was es bedeutet, sich „auf seine eigene Wirklichkeit zu verpflichten“.¹¹⁷ Und als Bedingung der Freiheit wird dabei das Verhältnis zu Gott identifiziert, durch das allein eine Wiederholung und in eins Freiheit möglich wird.¹¹⁸ Damit unterscheidet sich Glöckners Untersuchung schon im Ansatz stark von der Studie Michael Theunissens, der zwar auch auf den Zusammenhang von Wiederholung, Glaube und Ewigkeit eingeht,¹¹⁹ aber vornehmlich eine, auch durch Heidegger inspirierte existenzialontologische Anthropologie verfolgt.

Die Aufgabe: der Zusammenhang des Lebens Was Theunissens und Glöckners Studien miteinander verbindet, ist die Problematik der Identität (Selbstsein), die sich im Hinblick auf die Wiederholung, bei beiden Interpreten ganz im Sinne Kierkegaards als existenzielle Kategorie – und zwar als Vollziehen – darstellt. „Die Freiheit der Wiederholung, die Kierkegaard beschreibt als ein Werden dessen, was man ist, bedeutet, identisch mit sich selbst zu werden.“¹²⁰ Daran lassen sich zwei Sachverhalte aufzeigen: a) Mit sich selbst identisch werden zu müssen, d. h. eine epistemische Einheit von Erkennendem und Erkanntem generieren zu müssen, setzt voraus, dass man zuvor nicht-identisch mit sich ist, beziehungsweise in einem „Abstand“ von sich lebt und erst in ein Verhältnis zu sich treten muss. Selbstsein ist demnach ein Mit-

      

Zitiert wird nach: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. BW, S. 128 (Anm. 126). Vgl. BW, S. 4. BW, S. 1. Vgl. BW, 3S. 7. Vgl. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 132 ff., 136 f. BW, S. 10.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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sich-und-bei-sich-Sein, wodurch das Individuum im Verhältnis zu sich immer auch auf Abstand zu sich bleibt. Das Individuum ist niemals sein Selbst. b) Zugleich sagt Glöckner, dass das Sich-zu-sich-Verhalten ein Prozess (Werden) ist. Dieser wird von Glöckner anhand einer „Papierer“-Aufzeichnung als ein „radikal dynamischer Prozess“¹²¹ herausgestellt, der im Wesentlichen durch ein Merkmal gekennzeichnet ist: Im Feststellen dessen, wer ich bin, anhand dessen, wie ich das Leben lebe, komme ich mir selbst näher. Dies geschieht aber unter der Einschränkung, dass das Selbst-Verständnis, ebenso wie die persönliche Entwicklung einer ständigen Veränderung unterworfen ist. Sich selbst näherzukommen (Identischwerden) heißt dann, sich gegenüber offen zu bleiben und sich nicht auf ein Verständnis seiner eigenen Persönlichkeit festzulegen, sondern die persönliche Entwicklung auch im Geist mitzugehen. Dadurch entsteht aber das Problem, dass das sich-zu-sich-verhaltende Individuum keinen „Standort“ sich gegenüber einnehmen kann und vor sich selbst „zersplittert“. Das Individuum „steht damit vor der Aufgabe, der Zersplitterung der eigenen Individualität entgegen zu wirken.“¹²² In Glöckners Interpretation besteht die Aufgabe des Menschen darin, die Trennung zwischen Person und Selbst überwinden zu wollen, indem sich das Individuum in seiner persönlichen Entwicklung zu verstehen versucht, dabei aber zu keinem Stillstand seines Selbst-Verständnisses gelangt. Im Individuum besteht demnach die „Spannung zwischen Veränderung und konstantem Selbstbezug.“¹²³ Das Individuum versteht sich zwar, aber niemals ganz. Glöckners Auslegung orientiert sich damit auf zwei Probleme für das Selbst-Verstehen des Menschen bei Kierkegaard. Erstens, dass der Mensch sich niemals aus seiner persönlichen Entwicklung heraus vollständig verständlich werden kann; zweitens, dass das Selbst als ein Unverfügbares außerhalb des Individuums liegt (transzendent ist). Vor dem Hintergrund des zersplitterten Verstehens und der Transzendenz des Selbst liegt die Aufgabe des Individuums darin, „das eigene Leben in einem Zusammenhang zu begreifen, es von einem umfassenden Sinn her zu verstehen …“¹²⁴ Hierbei werden der „Zusammenhang des Lebens“ und der „umfassende Sinne“ von Glöckner als zusammengehörig verstanden. Denn der Zusammenhang ist die „Kontinuität des eigenen Lebens“¹²⁵, die dadurch erreicht wird, dass ein

    

BW, S. 42. BW, S. 42. BW, S. 44. BW, S. 47. BW, S. 48.

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1 Einleitung

„ganzheitliches Verstehen des eigenen Lebens“¹²⁶ einsetzt. Solches ganzheitliche¹²⁷ Verstehen kann im Leben selbst nur näherungsweise erreicht werden. Der umfassende, sinnstiftende Zusammenhang des eigenen Lebens liegt außerhalb desselben.¹²⁸ Die Existenz muss daher in einer religiösen Bewegung überschritten werden,¹²⁹ damit das Individuum in dieser Transzendierung¹³⁰, die ein GottesVerhältnis ist, sich selbst in seiner Einheit (Identität, Selbst) zu verstehen vermag.¹³¹ Die Frage nach der einheitlichen Identität wird bei Kierkegaard, in Anbetracht der Wiederholung, zu einem grundlegend religiösen Anliegen,¹³² bei dem es darum geht, jenen von Constantin Constantiusʼ (der pseudonyme Verfasser der Wiederholung) verlangten „archimedischen Punkt“ (Selbst) außerhalb der Existenz ausfindig zu machen, von dem aus der Zusammenhang und damit der Sinn des eigenen Daseins zu stiften ist.¹³³

Innerlichkeit als dialektische Bewegung Die Aufgabe des Individuums, dem eigenen Leben einen Zusammenhang (Kontinuität) zu geben und das eigene Leben aus einem übergeordenten Zusammenhang zu begreifen, sieht Glöckner im Vollzug der Innerlichkeit gegeben. Hierbei folgt sie den in der Unwissenschaftlichen Nachschrift von Johannes Climacus gemachten Ausführungen zur Innerlichkeit als kontinuierliche Bewegung.¹³⁴ „Sein Vorschlag, die Kontinuität des menschlichen Lebens in der eigenen Innerlichkeit anzunehmen, soll zugleich der Wirklichkeit der Brüche innerhalb der individuellen Entwicklung als auch der Forderung nach einem übergreifenden Zusammenhang gerecht werden.“¹³⁵ Der Ausgangspunkt für das Problem der Sinnstiftung und des Zusammenhangs des Lebens liegt bei Climacus nicht wie bei Constantin Constantius in der

 Ebd.  Der von Glöckner verwendete Begriff des „Ganzheitlichen“ bleibt, wie bei Theunissen, unterbestimmt.  Vgl. BW, S. 48.  Vgl. ebd.  Dazu auch: Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 132 ff.  Vgl. BW, S. 66.  Vgl. BW, S. 10.  Vgl. BW, S. 49.  Innerlichkeit wird im Zusammenhang mit Bewegung u. a. auch genannt bei Anton Hügli (Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 214) und Christa Kühnhold (Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine Einführung in Kierkegaard, Berlin und New York 1975, S. 88).  BW, S. 164.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Frage nach dem „archimedischen Punkt“, dem transzendenten Selbst, sondern in der Frage nach der „ewigen Seligkeit“, weil diese es ist, die „dem eigenen Leben Sinn und Inhalt zu verleihen vermag …“¹³⁶ Entsprechend des Programms der Unwissenschaftlichen Nachschrift, dem Christ-Werden, ist die ewige Seligkeit der übergeordnete Zusammenhang, von dem her dem eigenen Leben ein Zusammenhang gegeben werden kann.¹³⁷ Es geht bei Climacus darum, dass das Individuum ein stabiles Verhältnis zum Ewigen eingeht. Die Darstellung dieses Verhältnisses zum Ewigen findet sich an einer der abstraktesten Stellen im Oeuvre Kierkegaards: Der Definition der Bewegung im Paragraph 1 des Wirklichkeitskapitels der Unwissenschaftlichen Nachschrift. Glöckner bezieht sich auf diese Stelle und fokussiert sich dabei wesentlich auf zwei Punkte: a) die Bestimmung der Bewegung und b) die dialektische Übereinkunft von Vollzug und Ziel der Bewegung. a) Weil die Bewegung auf das außerhalb der Zeit liegende Ewige abzielt, liegt die Aufgabe im Überschreiten der Zeit. Glöckner gebraucht hierbei eine sehr bildliche, aus Climacusʼ Darstellung des Werdens im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken entlehnte Terminologie: Ziel der innerlichen Bewegung des Geistes ist ein „Verbleiben im Übergang“.¹³⁸ Einerseits ist dies als ein Überschreiten der Existenz zu verstehen; gleichfalls legt sich ein Widerspruch innerhalb der Bewegung offen,¹³⁹ weil eine Bewegung nur dann als solche zu bezeichnen ist, wenn eine (relationale) Positionsveränderung stattfindet, also kein Stehen (Verbleiben) ist. Die innerliche Bewegung sei jedoch nur als dieser Widerspruch zu denken, als punktuelle Ausdehnung, als Bewegung auf der Stelle beziehungsweise als ein „Festhalten am Übergang“.¹⁴⁰ b) Indem die Bewegung zugleich Unterwegssein bedeutet als auch ein Überschreiten, liegt im Vollzug das Ziel der Bewegung vor. Das Ineinanderfallen von Ziel und Vollzug wird von Glöckner in einer doppelten Richtung herausgestellt: 1. Präsent wird das Ewige, das Ziel der Bewegung, im Überschreiten der Existenz. Das Überschreiten geschieht durch Leidenschaft.¹⁴¹ Die Präsenz des Ewigen zeigt sich aber in spezieller Weise. Es ist zugegen, indem es entzogen

 BW, S. 165.  Aufgrund des religiöses Motivs der Innerlichkeit (in der Unwissenschaftlichen Nachschrift), spricht David Law der Innerlichkeit eine „apophatic nature“ (ders., Kierkegaard as Negative Theologian, S. 112) zu.  BW, S. 165.  Vgl. BW, S. 167.  Vgl. ebd.  Vgl. BW, S. 190.

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1 Einleitung

bleiben muss. Es muss entzogen bleiben, weil es für den Menschen, der in der Zeit ist und somit von der Ewigkeit ausgeschlossen ist, nicht erreicht werden kann.¹⁴² Die darin enthaltene Dialektik von Entzogenheit und Präsenz bedeutet, dass die Bewegung nicht zum Stillstand gerät und zugleich ein Überschreiten darstellt, in dem das Ziel präsent wird. Damit „ist die zeitliche Ausdehnung der Bewegung deren momentaner ganzheitlicher Erfassung äquivalent. Die zwiefache Bestimmung der Kontinuität, zeitlicher Verlauf und Ziel der Bewegung zu sein, ist folglich in der Innerlichkeit erfüllt und bildet in dieser die dialektische Einheit.“¹⁴³ 2. Das Ziel der Bewegung liegt nicht darin, ein konkretes Ziel (in der Zeit) beziehungsweise einen Endpunkt, ein Ergebnis oder Resultat zu erreichen, sondern sich selbst als Bewegung zu erhalten; nur dann ist die Bewegung auch eine kontinuierliche, stetige Bewegung.¹⁴⁴ Ziel der Bewegung ist die Bewegung selbst. Die Bedeutung für das Individuum dieser „ständig aufrechtzuerhaltende[n] Bewegung“¹⁴⁵ liegt darin, in einen selbst-fokussierten, innerlichen Umgang mit sich zu treten.¹⁴⁶ Nicht in der Zerfaserung, sondern in der einheitlich verliehenen Form des gelebten Lebens liegt der Sinn verbürgt.¹⁴⁷

 Glöckner formuliert dies in Bezug auf die Leidenschaft (Überschreiten): „Die das Verständnis der Innerlichkeit prägende Dialektik … besteht darin“, dass im „Maximum der Leidenschaft, in dem der Gegenstand derselben ergriffen wird, … gerade dadurch erreicht [wird], daß dieser Gegenstand unendlich weit entzogen ist.“ (BW, S. 178) Diese Dialektik von Entzogenheit und Präsenz wird vor Glöckner schon von Liselotte Richter formuliert: vgl. dies., Der Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard. Ein Beitrag zur christlichen Existenzdarstellung, Würzburg 1934, S. 34.  BW, S. 178. Diese dialektische Einheit von Ziel und Vollzug, Präsenz und Entzogenheit wird nach Glöckner am deutlichsten im „ekstatischen Moment“ des „Augenblicks“ (BW, 172), in dem ein Zugleich von Ziel und Vollzug realisiert wird. Im „Augenblick“, besonders betont bezüglich der Innerlichkeitsabhandlung im Begriff Angst (vgl. BW, S. 185), findet die innerliche, kontinuierliche Bewegung ihren wahren Ausdruck als sich selbst überschreitende Gegenwart, in der die Zeit von der Ewigkeit durchdrungen wird (vgl. BW, besonders S. 190 ff.).  Vgl. BW, S. 165.  BW, S. 164.  Das bedeutet auch, sich von äußeren Maßstäben der Lebensgestaltung loszusagen und sich allein auf sich zu konzentrieren (vgl. BW, S. 174). Weil dieser emanzipatorische Selbstwerdungsprozess bedeutet, aktiv dem eigenen Leben eine Kontinuität zu verleihen, indem sich zum Ewigen verhalten wird, kann Glöckner im Sinne Climacusʼ sagen: „Sich selbst konkret zu verstehen bedeutet, sich in seiner Ganzheit zu begreifen, d. h. … vom Ewigen her.“ (BW, S. 190) Sofern im Ewigen (ewige Seligkeit) der Sinn verbürgt liegt, trägt die Kontinuität, die im Verhältnis zu dieser sinnstiftenden Ewigkeit erzeugt wird, selbst „ganzheitlichen Sinn“ (BW, S. 170) in sich.  Die Sinnstiftung ist selbstverständlich (auch) religiös zu verstehen. Andreas Krichbaum, dem es nicht wesentlich um Innerlichkeit geht, weil diese v. a. ein funktionaler Begriff sei (vgl. ders., Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff, Berlin und New York 2008 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 18), S. 211), versteht die Innerlichkeit einzig als religiöse Kategorie. (Zu beachten ist hierbei das Schema auf S. 371, wo Inner-

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

35

Innerlichkeit als Gefühl, Verneinung und Ewigkeit im Menschen Innerlichkeit stellt für Glöckner sodann (auch) – phänomenologisch (müsste man sagen) –, und zwar aufgrund der betonten Leidenschaft, eine „Willens- und Gefühlsbestimmung“¹⁴⁸ dar. Im Aufgreifen der Wahrheitsproblematik der Unwissenschaftlichen Nachschrift, dass die Subjektivität die Wahrheit sei,¹⁴⁹ macht Glöckner deutlich, dass

lichkeit als „Realisation des Unbedingten“ bezüglich der „Religiosität A“ erscheint.) Er gibt in seinen rudimentären Andeutungen eine Sichtweise auf die Innerlichkeit, die der von Glöckner gemachten Interpretation eine alternative, rein religiöse Deutung gegenüberstellt. In Bezug auf eine „Papierer“-Aufzeichnung Kierkegaards wird die Innerlichkeit als Ergriffenheit, als religiöses Gefühl betrachtet (vgl. ebd., S. 380). Innerlich ist man, wenn man erstens ergriffen wird, womit das eigene religiöse Gefühl, die Innerlichkeit selbst als unverfügbar gekennzeichnet ist, und zweitens in diesem religiösen Gefühl die „unmittelbare Selbstgegenwart der ganzen Person“ (ebd.) erfährt. Vor dem von ihm genannten Zusammenhang der Innerlichkeit mit dem Interesse für die ewige Seligkeit (vgl. ebd., S. 216) bedeutet dies: Innerlichkeit ist, sich vom Ewigen her einen Zusammenhang (ganze Person) geben zu lassen. Gegenüber Glöckner wird nicht nur die Aktivität, sondern auch die Passivität des Existierens betont.  BW, S. 177.  Vgl. BW, S. 175 ff. Bezogen auf das Wahrheitsproblem der Subjektivität kommt es in der Sekundärliteratur mehrfach zur (kurzen) Auseinandersetzung mit der Innerlichkeit. Bei David Law etwa: „Inwardness … describes the nature of the subjective ʼhowʼ that is required on the part of the existing individual in his relationship to the truth.“ (Ders., Kierkegaard as Negative Theologian, S. 111) In Bezug auf die Wahrheit komme es auf das Verhältnis („how“, Wie) an. Climacusʼ These von der Wahrheit der Subjektivität führe dann zu der Konsequenz: „Consequently, like subjectivity, inwardness becomes truth* … the individual comes to acquire a form which truly corresponds to the truth as such can itself be said to be the truth.“ (ebd., S. 112) Ähnlich hält auch Joachim Ringleben fest: „Die Wendung … ‚Wahrheit als Innerlichkeitʻ besagt …, daß Wahrheit w i r k l i c h e Wahrheit nur ist als innerlich angeeignete, d. h. da, wo sie in den eigenen Existenzvollzug relevant eingreift.“ (Ders., Aneignung, S. 35) Innerlichkeit ist hier eine existenzdialektische Kategorie, der Existenzvollzug selbst, durch den die Wahrheit wirklich wird, indem sie angeeignet wird. „Was wirklich von mir angeeignet ist, gehört wahrhaft mir; es ist in unauflöslicher Weise in mein individuelles Selbst eingegangen.“ (Ebd., S. 109) In der Aneignung findet eine Korrelation zwischen dem Individuum und der Wahrheit statt. Auch Wolfgang Janke bringt dies zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Innerlichkeit nennt den Habitus des existierenden Subjekts in der Einheit der drei Momente Interesse, Leidenschaft und Entschiedenheit. Nehme ich an etwas Interesse, so eigne ich es mir als solches an, das mich betrifft. … Eine so mit unendlicher Leidenschaft angeeignete Wahrheit bleibt nicht folgenlos. Sie zwingt zur Stellungnahme und stellt vor Entscheidungen …, die das Leben ändern.“ (Ders., „Der Weg der Wahrheit zum Menschen“, S. 207; die Formulierung zum Habitus der Innerlichkeit findet sich ebenfalls in: Ders., „Staunen – Zweifel – Misstrauen: Wie der Gott der Philosophie zur Chimäre wurde“, in Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. Festschrift für Hermann Deuser zum 60. Geburtstag, hg. von Gesche Linde, Richard Purkarthofer, Heiko Schulz und Peter Steinacker, Marburg 2006, S. 415 – 427, hier S. 422.) Innerlichkeit ist die mich vollständig einnehmende, habituelle Entschlossenheit, verstanden als „Wahrsein“. Gegen Ringleben, Law und Janke hält aber beispielsweise Gerolf

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die Wahrheit in einem von Leidenschaft bestimmten „Mit-sich-selbst-Wissen“¹⁵⁰ liegt, das objektiv nicht verständlich gemacht werden kann. Das innerliche Selbstverstehen könnte dann als Intuitionswissen bezeichnet werden, was Glöckner daran deutlich macht, dass „Selbst-Durchsichtigkeit“ als „vorsprachliches Erfassen der Wahrheit zu verstehen ist.“¹⁵¹ Und Glöckner bindet Durchsicht im Sinne von Verstehen deshalb an die Sprache, weil erst dann etwas als verstanden gelte, wenn es auch sprachlich eindeutig vermittelt werden kann.¹⁵² Sofern Innerlichkeit die Intuition eines vorsprachlichen Erfassens sei, versteht sich das Individuum nicht im klärenden Sinne, sondern es „spürt“ sich. Konkreter wird Glöckner, wenn sie schreibt: „Innerlichkeit, im Sinne eines Konzentrierens aller Empfindungen, bringt der Mensch in besonderem Maße auf im Warten, im Sehnen, in der Angst vor und der Freude auf etwas. In dieser Konzentration auf das Entzogene arbeitet die Innerlichkeit dem Zukünftigen entgegen.“¹⁵³ Die als Gefühl bestimmte Innerlichkeit ist hiernach nicht nur wesentlich für die Bindung an das entzogene Ziel verantwortlich, sondern als „Konzentrieren allen Empfindens“ auch als Emphase verstanden. Innerlichkeit ist die vorsprachliche Emphase, in der sich das Individuum an das Ziel der Bewegung (das Ewige) bindet, um sich von diesem her zu verstehen, ohne sich wirklich

Schultzky zu Innerlichkeit und Wahrheit fest: Innerlichkeit ist als Subjektivität die Lebensform, in der der Existierende nach der Wahrheit seines eigenen Lebens fragt, d. h. „nach sich selbst fragt“. Dass das Individuum allein in ein verbindliches Verhältnis zur Wahrheit treten kann, bedeutet, dass die Wahrheit selbst nicht als eine habituelle Haltung angesehen werden kann. Nicht ich bin die Wahrheit, sondern Wahrheit ist etwas Anzustrebendes (vgl. ders., Die Wahrnehmung des Menschen bei Søren Kierkegaard. Zur Wahrheitsproblematik der theologischen Anthropologie. Göttingen 1977, S. 110; vgl. auch ebd., S. 111 (Anm. 216)). Bei Arne Grøn liest sich der gleiche Sachverhalt so: „Die Subjektivität, die Wahrheit ist, ist Innerlichkeit, Aneignung oder Leidenschaft. Damit ist eher die Art und Weise angesprochen, in der man sich zu dem verhält, was als Wahrheit gelten soll. Etwas ist erst Wahrheit, wenn es Wahrheit für mich ist. Das bedeutet, daß der einzelne selbst in diesem Verhältnis verändert wird. Die Wahrheit, von der die Rede ist, ist die, in der man,wie Climacus sagt ‚ruht‘ und im Verhältnis zu der man selber beurteilt wird. Sich für die Wahrheit zu entscheiden bedeutet zugleich, selbst bestimmt werden.“ (Ders., Angst bei Sören Kierkegaard, S. 73 f.) Bei Michael Theunissen und Wilfried Greve wird im Zusammenhang von Wahrheit und Innerlichkeit einzig auf das sokratische Existieren hingewiesen. (Vgl. dies., Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 36)  BW, S. 177.  Ebd.  Vgl. ebd. Auf Durchsicht und Vorsprachlichkeit wird auch bei Kurt Weisshaupt hingewiesen: Ders., Die Zeitlichkeit der Wahrheit. Eine Untersuchung zum Wahrheitsbegriff Sören Kierkegaards, München und Freiburg 1973, S. 70. Weisshaupt versteht die Innerlichkeit dabei als einen sich der Sprache entziehenden existenzdialektischen Handlungsvollzug des Menschen.  BW, S. 178.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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verstehen zu können. Daher bleibt unverständlich, wenn Glöckner schreibt: „Dargestellt wurde, daß das Individuum im Prozess der Verinnerlichung zu sich selbst wird, daß es sich Schritt für Schritt selbst einholt, bis es sich ganzheitlich gewonnen … hat.“¹⁵⁴ Glöckner widmet sich sodann Climacusʼ These, dass die Subjektivität die Wahrheit ist. Diese wird bekanntlich damit kontrastiert, dass der innerlichste Ausdruck dieses Sachverhalts darin besteht, dass die Subjektivität die Unwahrheit ist.¹⁵⁵ Ist die Subjektivität die Wahrheit (d. h. für Glöckner: die Innerlichkeit ist die Wahrheit)¹⁵⁶ so bedeutet das für das Individuum, dass eine unmittelbare Selbstbejahung stattfindet. Indem Climacus dieser Selbstbejahung die Unwahrheit attestiert, beginnt das Selbstsein des Individuums erst dort, wo es erkennt, daß es „damit beginnen muß, die Unwahrheit zu sein. Der Beginn des Selbst-Seins besteht darin, daß das Verneinen gelernt wird.“¹⁵⁷ Dass dem so ist, liegt am christlichen Grundgedanken des Sündenbewusstseins. In dessen Sinne ist der Mensch gegenüber Gott immer erst die Verneinung und nicht die Bejahung.¹⁵⁸ Innerlichkeit ist ein Lernprozess der eigenen Fehlbarkeit. Auf die lebenspraktische Realisierung angewandt, bedeutet das Sich-Verneinen, dass ein „unbedarft optimistisches Draufgängertum, ein Vorwärtsdrängen in z. B. familiärer, beruflicher und politischer Hinsicht … suspendiert [werden] …“¹⁵⁹ Die gelebte Individualität gewinnt erst dort ihr volles Potenzial, wo die eigenen Lebensentwürfe infrage gestellt werden.¹⁶⁰ Erst in der Distanz zu sich selbst gewinnt das Individuum einen klaren Blick und ein Verständnis von sich (Glöckner spricht von „Mündigkeit“¹⁶¹). So ist die Innerlichkeit als stetige Bewe BW, S. 181. Bleibt man hingegen in dieser Uneindeutigkeit, ist der Sachverhalt, dass sich das Individuum ganzheitlich „gewinnt“, trotzdem es um eine permanent zu praktizierende Bewegung geht, durchaus verständlich. Das liegt in der inneren Dialektik der Bewegung begründet, die dadurch eine ganzheitliche Bewegung ist, weil sie stetig ist. Im Werden selbst liegt das Sein des Individuums. Dann aber ist der Begriff des „Einholens“ unklar, weil er impliziert, dass es ein festes Selbst gäbe, dass es zu erreichen gibt (es muss betont werden, dass sich Glöckner hierbei auf das Pseudonym Johannes Climacus bezieht und nicht auf Constantin Constantius).  Dazu: BW, S. 179 – 184. Eine sehr gut verständliche Erläuterung dieser These Climacusʼ findet sich bei: Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, S. 73 ff.; ebenfalls: Ders., „Subjektivität und UnWahrheit“, in Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, Berlin und New York 2006 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 11), S. 13 – 28.  Vgl. BW, S. 177.  BW, S. 181.  Dazu unter anderem BW, S. 124.  BW, S. 180.  Vgl. BW, S. 182.  Vgl. BW, S. 184.

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1 Einleitung

gung ein ethisches Bestreben, wobei die Innerlichkeit als Einsicht in die Verneinung der eigenen Person aber für Glöckner ein Entgegenwirken an der Freude am Leben beinhaltet.¹⁶² Als Gegenentwurf zur Innerlichkeit als Sich-Verneinen liest Glöckner die Konzeption des Mutes in Furcht und Zittern von Johannes de Silentio.¹⁶³ Schließlich unternimmt Glöckner noch die Betrachtung der Innerlichkeitsdiskussion im Begriff Angst,¹⁶⁴ Kierkegaards Hauptwerk zum „Ernst“. Dort wird, mehr noch als bei Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, die „Bedingung der Innerlichkeit“ entfaltet, die nach Glöckners Analyse der „Augenblick“¹⁶⁵ sei. Weil im Augenblick das Ewige (in seiner Entzogenheit) präsent wird,¹⁶⁶ kann Vigilius Haufniensis (der pseudonyme Autor des Begriff Angst) sagen, dass die Innerlichkeit die Ewigkeit im Menschen ist.¹⁶⁷ Augenblick und Innerlichkeit fallen in diesem Sinne zusammen, weil in beiden das Ewige konkret verstanden wird und zwar als das, was unbestimmt bleiben muss.¹⁶⁸ Dies stellt Glöckner in Beziehung zur Innerlichkeit als das Selbst-Verstehen des Individuums, das sich vom Ewigen her versteht.¹⁶⁹ Ist das Ewige das Unbestimmte, ist ein Verstehen der eigenen Person ebenso unmöglich.¹⁷⁰ Selbst-Verstehen heißt zu lernen, mit sich selbst als dem Ungewissen umzugehen. Darin liegt der Ernst, weil dieser keine Verbissenheit bedeutet,¹⁷¹ sondern auch den Humor einschließt, der die Distanz des Individuums zu sich selbst und dadurch das Problem der SelbstUngewissheit einbezieht. Erst wenn das Individuum innerhalb dieser humorvollen Distanz sich selbst zur Frage wird, versteht es „sich selbst, indem ihm die eigene Unverständlichkeit bewußt wird.“¹⁷²  Vgl. BW, S. 180.  Vgl. BW, S. 266 f.  BW, S. 185 – 189.  BW, S. 185 und 195.  Vgl. besonders BW, S. 190 – 195.  Vgl. BW, S. 185.  Vgl. besonders BW, S. 185 ff. Helmuth Vetter geht ebenfalls auf die Innerlichkeit im Begriff Angst, besonders auf die von Vigilius herausgestellte These ein, dass die Innerlichkeit die Gewissheit sei (daneben stehen bei Vigilius: die Innerlichkeit ist der Ernst und die von Glöckner betonte These, dass Innerlichkeit die Bestimmung des Ewigen im Menschen ist). Vetter stellt ähnlich wie Glöckner heraus, dass die Innerlichkeit (als Gewissheit) „negativ formuliert, Gewißheit eines Nicht-Endlichen“ ist (Ders., Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards. Wien, Freiburg und Basel 1979, S. 141), also ein „Festhalten“, ein Überzeugtsein eines dem Verstehen Entzogenen darstellt.  Vgl. BW, S. 188 und 190.  Vgl. BW, S. 192.  Vgl. BW, S. 188 (Anm. 190).  BW, S. 193.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Zusammenfassung Innerlichkeit ist das durch Gefühl bestimmte Bestreben des Individuums, sich selbst verstehen zu wollen und das in drei hervorgehobenen Perspektiven. Erstens ist die Innerlichkeit das Bestreben, dem eigenen Leben einen Zusammenhang zu verleihen, weil darin die Geschlossenheit des Lebens als Sinneinheit erkannt wird. Zweitens ist die Innerlichkeit das ethische Bestreben, sich stetig weiterzuentwickeln (Sich-Verneinen). Drittens ist die Innerlichkeit der Prozess, in dem gelernt wird, die eigene Unverstehbarkeit zu akzeptieren. Demzufolge ist die Innerlichkeit das kontinuierliche Hinterfragen der eigenen Persönlichkeit und dadurch die Akzeptanz der eigenen Ungewissheit. Fasst man Glöckners Ausführungen zusammen, ergibt sich: Die existenziell erreichbare Kohärenz der eigenen Person liegt im permanenten In-Frage-Stehen, also in einer negativen Einheit.

1.2.4 Weitere Auseinandersetzungen¹⁷³ Stephen Dunning Dunnings 1988 veröffentlichte Studie Kierkegaardʼs Dialectic of Inwardness (KDI)¹⁷⁴ ist eine Übersicht zu allen Kierkegaard-Schriften von 1841 bis 1849 (nicht zu den „Reden“). Der inhaltliche Schwerpunkt bildet die Herausarbeitung der dialektischen Struktur von Kierkegaards Denken.¹⁷⁵ Diese Struktur wird auf drei Grundsätzen hin expliziert:¹⁷⁶ 1. die Dialektik von Innen und Außen (inner/outer); 2. die Dialektik von Selbst und Anderen (self/other); 3. die von Kierkegaard selbst etablierte Stadientheorie, deren Dreischritt – ästhetisch, ethisch, religiös – Dun-

 Neben den von mir gewählten Abhandlungen wäre im Wesentlichen noch die von Frederick Sontag (ders., „Inwardness“, in Bibliotheca Kierkegaardiana Vol. 2, The Sources and Depths of Faith in Kierkegaard, hg. von Marie Mikulová Thulstrup, Kopenhagen 1978, S. 105 – 113) zu nennen. Auf dessen Darstellung wird trotz der dort vorliegenden Fokussierung auf das Problem der Kommunikation der Innerlichkeit verzichtet. Abgesehen von der Vermischung zwischen der Biographie Kierkegaards und seinem Werk ist die Darstellung Sontags zu überblicksartig; sie streift die Innerlichkeit dabei in fast allen pseudonymen Werken, arbeitet aber nicht ihre Eigenart als philosophisches Konzept heraus. Jedoch ist der von Sontag hervorgehobene Aspekt der Kommunikation der Innerlichkeit insofern gewinnbringend, als er das Kommunikationsproblem der nicht kommunizierbaren, weil dem Außen inkommensurablen Innerlichkeit als eine bis in das Spätwerk hineinreichende Grundfrage von Kierkegaards Denken darstellt.  Zitiert wird nach: Stephen N. Dunning, Kierkegaardʼs Dialectic of Inwardness. A structural Analysis of the Theory of Stages. Princeton, New Jersey 1988.  Die analytisch strukturelle Betrachtung von Kierkegaards Denken ist ein Schwerpunkt in der angelsächsischen Kierkegaard-Rezeption. Dazu: Law, Kierkegaard as Negative Theologian, S. 4– 8.  KDI, S. 3 f. und S. 242.

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1 Einleitung

ning als „Hegelian structure[]“¹⁷⁷ versteht.¹⁷⁸ Die Dialektik von Innen und Außen fällt dabei mit der Dialektik von Selbst und Anderem zusammen (Innen = Selbst; Außen = Anderes). Dunnings Bestreben, eine hegelsche Struktur in Kierkegaards Denken zu entdecken, lässt ihn folgende drei hegelschen Kategorien einführen: An-sich (in-itself), Für-sich (for-itself), An-und-Für-sich (in-and-for-itself). Besonders zu beachten ist dabei der Strukturierungsversuch der Unwissenschaftlichen Nachschrift,¹⁷⁹ weil mit diesem, dem Inhalt der Schrift entsprechend, die Innerlichkeit am deutlichsten hervortritt. Dunning versteht die Innerlichkeit hier als religiöse Bewegung, weshalb er einzig von „Religious Inwardness“ spricht.¹⁸⁰ Das An-sich bildet die These Climacusʼ: die Subjektivität ist die Wahrheit,¹⁸¹ wobei Dunning Subjektivität mit Innerlichkeit gleichsetzt. Das Für-sich ist die „Religiosität A“, bei der es Dunning vor allem um die verborgene Innerlichkeit geht.¹⁸² Das An-und-Für-sich ist die christliche „Religiosität B“ und das in ihr herausgestellte Zusammenfallen von Außen und Innen (Selbst und Anderem) im Paradox.¹⁸³ Bei allem Versuch Dunnings, Kierkegaards Denken eine einheitliche Struktur zu geben, muss doch betont werden, dass solche Strukturierung im Sinne Hegels an Kierkegaards eigenem Denken vorbeiführt, weil man ihm sowohl systematisch als auch inhaltlich nicht gerecht wird. Kierkegaards hochgradig eigenständige Philosophie wird in den Schatten Hegels gestellt, den Kierkegaard mehr als negative Folie gebraucht, als mit ihm eine eigene Systemphilosophie zu entwickeln. Dabei geht gleichfalls Kierkegaards wirkliches, philosophisches Anliegen, nämlich auf das Existieren hinzuweisen, verloren. Das Problem bei einer bloß strukturierenden Analyse ist, dass die nuancierten phänomenologischen und psychologischen Beobachtungen, an denen Kierkegaard seine abstrakten Gedanken vorführt, gar nicht zur Sprache kommen und damit eine Seite von Kierkegaards Denken gänzlich ausgeschlossen wird. Obwohl Dunning damit dem Phänomen „Innerlichkeit“ nicht gerecht wird, weist er doch auf den Fakt hin, dass

 KDI, S. 4.  Vgl. KDI, S. 250. Zum Dialektikverständnis bei Dunning: Vergleiche auch die Zusammenfassung von David Law, Kierkegaard as Negative Theologian, S. 36. Zu einer genaueren Erörterung der an den Stadien orientierten Dialektik Dunnings: vgl. Peder Jothen, Kierkegaard, Aesthetics and Selfhood. The Art of Subjectivity, Farnham und Burlington 2014, S. 19 ff.  Als Übersicht: KDI, S. 213; in Worten: ebd., S. 245 f.  KDI, S. 181– 213.  KDI, S. 183 – 189.  KDI, S. 189 – 203.  KDI, S. 203 – 212.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Innerlichkeit bei Kierkegaard ein philosophisches, in sich komplex strukturiertes Konzept ist, bei dem es um das Verhältnis von Selbst und Welt geht.

Rainer Bast Bast legt in seinem 1997 veröffentlichten Aufsatz (IbK)¹⁸⁴ zur Innerlichkeit zunächst die Betonung auf den Aspekt, dass es sich bei der Innerlichkeit um einen konkret zu lebenden Vollzug handelt. Er beginnt seine Ausführungen damit, dass bei Kierkegaard Existenz, Innerlichkeit und Glaube korrelative Begriffe sind, die jeweils den philosophischen, anthropologischen und religiösen Aspekt von Kierkegaards Denken betonen.¹⁸⁵ Die anthropologische Perspektive habe dabei methodologischen Vorrang, weil es Kierkegaard um den einzelnen, konkreten Menschen und dessen Existenz-Innerlichkeit gehe.¹⁸⁶ Denn: „Die ‚Lehre‘, auf die Kierkegaard hinauswill, ist keine ‚philosophische Lehre, die (nur) begriffen und spekulativ verstanden werden will‘, sondern ‚eine Lehre, die in der Existenz realisiert werden will‘.“¹⁸⁷ Bast führt weiter aus: „Gefordert ist die ‚Existenzialisierung‘ des Denkens … durch die Umsetzung des Inhalts des Denkens in den Existenzvollzug.“¹⁸⁸ Kierkegaards Betonung der Innerlichkeit bedeutet hiernach vor allem, dass das Individuum versteht, was es heißt, ein konkret existierender Mensch zu sein.¹⁸⁹ Bast nimmt dabei Bezug auf den in der Unwissenschaftlichen Nachschrift konzipierten subjektiven Denker, der nicht nur als ein konkret existierender Mensch entworfen ist, sondern zugleich die Existenzphänomene in ihrem Erscheinungsbild betrachtet (ihrem Wie und nicht in ihrem Was).¹⁹⁰ Erst durch diese Betrachtungsweise der Existenzphänomene wird deutlich, dass sämtliche Existenzkategorien wie Schuld, Liebe (etc.) konkrete, von einem selbst zu lebende Bestimmungen sind.¹⁹¹ Die höchste Existenzkategorie ist die Innerlichkeit,¹⁹² die „weder idealistische Subjektivität, noch ein (transzendentales, metaphysisches) Ich oder eine substantivische Gefühligkeit [ist]. Innerlichkeit

 Zitiert wird nach: Rainer Bast, „‚Innerlichkeit‘ bei Kierkegaard“, in Rationalität und Innerlichkeit, hg.von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz u. a., Hildesheim, Zürich und New York 1997, S. 121– 138.  Vgl. IbK, S. 121.  Vgl. IbK, S. 130.  IbK, S. 134.  IbK, S. 136.  Vgl. IbK, S. 126.  Vgl. IbK, S. 127.  Vgl. ebd.  Vgl. ebd.

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1 Einleitung

heißt Ausdruck in Existenz und wesentlich zu existieren.“¹⁹³ Bast legt die Innerlichkeit also als die Metakategorie der Existenzkategorien aus. Und ihr Sinn liegt im konkreten Selbst-Verstehen.¹⁹⁴ „Innerlichkeit entsteht, wenn das Selbst sich leidenschaftlich durchsichtig macht und in dieser Konkretisierung zu sich selbst kommt. Innerlichkeit ist der nie abgeschlossene ontisch-ontologische Sinn des konkreten Menschen …“¹⁹⁵ Bast geht demnach, ähnlich wie Adorno oder Theunissen,von einer existenzontologischen Konzeption aus, dessen anthropologische Konnotation in der Bestimmung des Menschen als einzelnem Menschen liegt, dem es um sein Sein gehe.¹⁹⁶ Diese Ontologisierung der Innerlichkeit wird von Bast kurz darauf zugespitzt, wenn er schreibt, dass die Innerlichkeit das „‚Seins-Wesen‘ des einzelnen Menschen“¹⁹⁷ ist, dessen stärkster Ausdruck der Glaube sei.¹⁹⁸ Innerlichkeit sei daher „letztlich die Gründung in Gott“.¹⁹⁹

 IbK, S. 137. Raymond Anderson fasst hingegen die Innerlichkeit als Ausformung der Subjektivität, genauer als transzendentale Erfahrungskategorie ethischen Lebens: „[D]as Richten der Aufmerksamkeit auf die Qualität des eigenen Verhältnisses zu[m] … Ideal.“ (Ders., „Kierkegaards Theorie der Mitteilung“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 437– 462, hier S. 440 (Hervorhebung d.Vf.)).  IbK, S. 129.  IbK, S: 137.  Es sei darauf hingewiesen, dass der Band „Rationalität und Innerlichkeit“, in dem Basts Aufsatz vorliegt, von der Intention getragen ist, Ontologie und Innerlichkeit zusammenzudenken: Dazu v. a. die Einleitung von Nikolaus Lobkowicz: „Zur Einleitung: Gibt es eine Ontologie der Innerlichkeit?“ Im Gegensatz zu Bast spricht jedoch der in dem Band enthaltene Beitrag von Armando Rigobello, Kierkegaards Innerlichkeit keine ontologische Dimension zu: „Die Innerlichkeit, von der Kierkegaard spricht, hat weder eine gnoseologische, noch eine ontologische Dimension, sondern ist eine beschreibbare und analysierbare Erfahrung. Sie zu erleben in erster Person, ist die unentbehrliche Bedingung, um sie zu verstehen.“ Ungeachtet der hier vorliegenden Unterbestimmung von subjektivem Erleben und objektivierbarer Analysierbarkeit der Innerlichkeit liegt diese Beschreibung sehr nah an dem, was Haecker unter Innerlichkeit versteht. Dementsprechend schreibt Rigobello: „Sie liegt in den Tiefen des religiösen Gefühls.“ (Ders., „Die Innerlichkeit im christlich-philosophischen Denken. Ontologische Verfassung und existenzielle Analyse“, in Rationalität und Innerlichkeit, S. 45 – 53, hier S. 49)  IbK, S. 138.  Vgl. ebd. Erinnert sei hier an Haeckers ontologisierende Behauptung, dass der Existenzialsatz Kierkegaards „credo, ergo sum“ laute (ders., Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit, S. 67).  Ebd.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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Eberhard Harbsmeier Harbsmeier veröffentlichte 1999 zwei Aufsätze zur Innerlichkeit.²⁰⁰ Nach Harbsmeier ist Innerlichkeit „Ausdruck für echte, authentische Existenz, für wahren Glauben“.²⁰¹ Nicht das Außen, sondern die Innerlichkeit bezeichnet die „wesentliche Dimension des Menschseins“.²⁰² Er macht drei Tiefendimensionen der Innerlichkeit aus: „Erstens Innerlichkeit im psychologisch-strukturellen Sinne im Gegensatz zum Äußeren, zweitens Innerlichkeit im ethischen Sinne als Intensität des Selbstverstehens und drittens Innerlichkeit als Selbstverhältnis im Lichte des Gottesverhältnisses …“²⁰³ Diese drei Perspektiven werden von ihm genauer entfaltet. a) Innerhalb der strukturellen Perspektive geht es um die Dialektik zwischen Innen und Außen²⁰⁴ (die sich unter anderem an der indirekten Mitteilungsstrategie zeige²⁰⁵). Die Innerlichkeit sei die „verborgene Tiefe“, die nur Gott kenne.²⁰⁶ Die Aufgabe des Menschen bestehe darin, diese Verborgenheit zu durchbrechen und zum Ausdruck zu bringen.²⁰⁷ Zur Erörterung wendet sich Harbsmeier den

 Eberhard Harbsmeier, „Der Begriff der Innerlichkeit bei Kierkegaard“, in Kierkegaardiana 20, hg. von Joakim Garff u. a., Kopenhagen 1999, S. 31– 50. Ders., „Innerlichkeit. Pädagogische Aspekte in den pseudonymen und erbaulichen Schriften Søren Kierkegaards“, in Erfahrungsräume, hg. von Anna-Katharina Szagun, Münster 1999, S. 197– 203. Der zweite, kürzere Aufsatz ist eine Kurzfassung des ersten. Zitiert werden beide Aufsätze; der erste, längere Aufsatz mit römisch I, der kürzere mit römisch II.  I, S. 44.  II, S. 197.  I, S. 40.  Hierbei geht es wesentlich um die Inkommensurabilität von Innen und Außen. David Law nennt dies als ein wesentliches Merkmal der Innerlichkeit (vgl. ders., Kierkegaard as Negative Theologian, S. 112). Philipp Schwab handelt das Problem anhand der Innerlichkeit in Entweder – Oder ab (u. a.: Ders., Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung, Berlin und New York 2012 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 25), S. 502– 506).  I, S. 32 f. Zum Zusammenhang von Innerlichkeit und indirekter Mitteilung: Theunissen / Greve, Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 119. Ausführlicher: Schultzky, Die Wahrnehmung des Menschen bei Søren Kierkegaard, S. 132– 134, hier S. 137 und S. 205 – 210. Umfassend: Schwab, Der Rückstoß der Methode.  I, S. 31; vergleiche diesbezüglich die Ausführungen zu Augustinus der vorliegenden Untersuchung in Kapitel 1.1.  Vgl. I, S. 31. Ähnliches hält auch Ulrich Lincoln bezüglich der „Expressivität der Innerlichkeit“ (ders., Äußerung, S. 378 – 382) fest, wenn er die Innerlichkeit an die Sprechhandlung bindet, in der es erstens um das Nach-außen-Geben geht und es dabei auf die Art und Weise des Austauschens von Innerlichkeit ankomme (ebd., S. 378 f.). „Kommunikation von Innerlichkeit kann nur als eine Kommunikation gedacht werden, in der die Handelnden ihr gegenseitiges Liebenkönnen symbolisch-expressiv mitteilen und damit austauschen.“ (Ebd., S. 380) Innerlichkeit ist in

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1 Einleitung

frühen, pseudonymen (d. h. bis 1846 veröffentlichten) Schriften Kierkegaards zu, bei denen es wesentlich darum gehe, vom Außen wegzukommen, um sich dem Inneren zuzuwenden.²⁰⁸ Diese Hinwendung ist von Leidenschaft begleitet, bedeute aber keinen „Rückzug in die Gefühlswelt“.²⁰⁹ Die Innerlichkeit sei von Kierkegaard weniger an das romantische Erbe angelehnt, als vielmehr in Bezug auf Hegel entwickelt.²¹⁰ b) In der ethischen Perspektive gehe es weniger um die Innerlichkeit als strukturelles Phänomen, sondern um dieselbe als Ausdruck der „Qualität des Lebens“.²¹¹ Besondere Betonung findet die Innerlichkeit als Bildungsprojekt,²¹² in dem das Selbstwerden als kognitive Aufgabe aufgefasst wird.²¹³ Im Selbstwerden gehe es um die „Rückbesinnung auf das Ursprüngliche, das, was man je schon ist.“²¹⁴ „Wenn man erst das werden soll, was man ist, setzt das voraus, dass man unmittelbar nicht der ist, der man ist, sondern erst werden muß. Innerlichkeit ist sowohl etwas Gegebenes als auch eine Aufgabe.“²¹⁵ In diesem Sinne soll, im Gegensatz zu Glöckners Interpretation, die eigene Fremdheit einem selbst gegenüber abgelegt werden,²¹⁶ indem zum Gegebenen vorgedrungen wird. Es gelte dabei erstens aus der eigenen Erfahrung zu lernen,²¹⁷ was Harbsmeier in die Nähe Haeckers bringt, und zweitens, sich stets aus einem Verhältnis zum anderen heraus zu verstehen.²¹⁸ Nicht in der Isolation und individualistischen Verhärtung, sondern in der stetigen Veränderung liege das Selbstsein.²¹⁹ Wie die Betonung der Veränderung mit dem essentialistischen Gedanken des Gegebenseins zusammengehen soll, bleibt in Harbsmeiers Ausführungen unklar. c) In der religiösen Perspektive betont Harbsmeier erstens das Verhältnis der Innerlichkeit zum christlichen Paradox;²²⁰ zweitens den Bezug von Kierkegaards die Intersubjektivität eingebettet. Zur Nach-außen-Gerichtetheit der Innerlichkeit: s.u. J. Boldt (und in Anm.: S. M. Fonnegra).  I, S. 31 f. / II, S. 197.  I, S. 33/ II, S. 199.  I, S. 34 / II, S. 198. Damit hebt Harbsmeier sicher einen wichtigen und richtigen systematischen Punkt hervor. Vergleiche die ausführliche Hegel-Anmerkung in Kapitel 1.3.  I, S. 36.  I, S. 37/ II, S. 200.  I, S. 36/ II, S. 199.  I, S. 38.  II, S. 199.  I, S. 39.  I, S. 38.  II, S. 203.  II, S. 203.  I, S. 41 f. Zum Zusammenhang von Innerlichkeit und Paradox u. a.: Law, Kierkegaard as Negative Theologian, S. 155 – 161. Deuser, Dialektische Theologie, S. 129 – 156, besonders S. 136 – 145.

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Auffassung der Innerlichkeit zu Luthers Glaubensbegriff,²²¹ was durchaus, v. a. für die frühen, von Harbsmeier beachteten Schriften, bezweifelt werden kann²²²; und drittens Kierkegaards Verbindung zu Schleiermacher,²²³ weil es bei Kierkegaard um das Wie, die Art und Weise, und nicht um das Was des Glaubens gehe.²²⁴

Joachim Boldt Boldts 2006 erschienene Dissertation (KE)²²⁵ verfolgt das Anliegen, „Subjektivität und Glaube als eine Haltung zu verteidigen, die Orientierung an einem Wahrheitsbegriff beinhaltet, der Konsequenzen im Lebensvollzug haben kann, und der es ermöglicht, Willkür im Handeln zu vermeiden.“²²⁶ Boldt richtet sich damit nicht nur gegen den an Kierkegaards Philosophie gerichteten Irrationalismus- und Subjektivismusvorwurf (weil Kierkegaard die Subjektivität gegen die Objektivität ausspiele, wodurch keine Kriterien für Wahrheit gegeben würden²²⁷),²²⁸ sondern es geht ihm auch um die Diskussion der Ethik bei Kierkegaard, die Boldt aus handlungstheoretischer und epistemologischer Perspektive betrachtet.²²⁹ Wichtig für die Innerlichkeitsdiskussion²³⁰ wird dabei die Thematisierung des subjektiven Erkennens in Bezug auf die in der Unwissenschaftlichen Nachschrift entfaltete

 I, S. 42 ff.  Zum Verhältnis von Kierkegaards frühen Schriften und Luther: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 168 (Anm. 168); sowie: Gerhard Schreiber, Apriorische Gewissheit. Das Glaubensverständnis des jungen Kierkegaard und seine philosophisch-theologischen Voraussetzungen, Berlin und Boston 2014 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 30), S. 429 ff.  I, S. 44.  I, S. 41 / II, S. 200. Gegen diese Verbindung von Kierkegaard und Schleiermacher bezüglich der Innerlichkeit: vgl.Vetter, Stadien der Existenz, S. 140. Zur Bestätigung: Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 322.  Zitiert wird nach: Joachim Boldt, Kierkegaards „Furcht und Zittern“ als Bild seines ethischen Erkenntnisbegriffs. Berlin und New York 2006 (Kierkegaards Studies, Monograph Series, Bd. 13).  KE, S. 2.  Vgl. KE, S. 70 f.  Eine prägnante Übersicht zum Subjektivismusvorwurf findet sich bei: Schmidinger, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards, S. 255 ff. Vgl. auch Kapitel 2.3.2.4.1.  Boldt verfolgt vor dem Hintergrund der Trennung von Erkennen und Handeln (S. 6 – 20) eine Ethik der Angewiesenheit, der ein von Einsicht geleitetes Handlungsmodell unterliegt (besonders S. 34– 39 und S. 71 f.), mit dem die Trennung von Erkennen und Handeln wiederum überwunden werden will.  Boldts Betrachtung der Innerlichkeit findet wesentlich in Bezug auf die Unwissenschaftliche Nachschrift statt. Bezüglich Furcht und Zittern wird die Innerlichkeit nur kurz in Verbindung zum Schweigen (S. 153) und zum Glauben (S. 163) gebracht.

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1 Einleitung

Frage nach Wahrheit.²³¹ Dieses Erkennen ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: 1. dauerhaftes Streben; 2. die Gewissheit des Erkennens liegt in der Ungewissheit; 3. die Unabgeschlossenheit des Erkennens.²³² Das erste Merkmal, das dauerhafte Streben, bedeutet, dass das „Erkennen als eine Tätigkeit“²³³ aufgefasst wird, dass „Existieren und Erkennen keinen Gegensatz bedeuten“.²³⁴ Nicht das unbeteiligte, objektive Erkennen von Wirklichkeit ist wichtig, sondern dass sich der Forderung der ethischen Wahrheit²³⁵ in der ständigen Beschäftigung mit ihr angenähert wird.²³⁶ Das zweite und dritte Merkmal, die Einsicht in die Ungewissheit und die Unabgeschlossenheit des Erkennens, hängen mit dem ersten Merkmal, dem Streben zusammen: In Climacusʼ Terminologie ist das Streben auch eine „kontinuierliche Bewegung“ oder ein Werden, das als Bewegung beibehalten werden muss.²³⁷ Boldt sieht in dieser permanenten Bewegung die Innerlichkeit, die er systematisch und kategorial dem Begriff der Subjektivität unterordnet und als ein „Merkmal“ der Subjektivität bestimmt.²³⁸ Innerlichkeit ist die Praktizierung des permanenten Strebens,²³⁹ weil sie unter der Voraussetzung der „Zurückweisung, endlicher, eindeutig in der Wirklichkeit identifizierbarer Ziele“²⁴⁰ von Climacus eingeführt wird. Boldt geht hierbei der Frage nach, ob der Rückzug aus Wirklichkeit mit einer Ethik, in der es um andere geht, vereinbar ist. Er stellt sogleich fest, was Climacus selbst nicht müde wird zu betonen: Innerlichkeit ist kein erscheinender Rückzug,²⁴¹ kein Klosterleben oder weltabgewandte Askese, aber, so Boldt, auch keine strikte Gleichgültigkeit gegenüber dem Äußeren, indem man „zwar noch am Geschehen der Wirklichkeit teilnimmt, aber nicht mehr mit vollem Herzen dabei ist.“²⁴² Vielmehr ist die Innerlichkeit „ein Festhalten am Motor des Engagements, das sich nie am Ziel sieht, sondern das Leben immer als Aufgabe begreift, ohne Etappen abzuhaken oder Resultate anzugeben, auf denen man sich ausruhen oder

 Vgl. KE, S. 60 – 79.  Vgl. KE, S. 62.  KE, S. 63.  KE, S. 70.  Die Frage nach der Forderung der Wahrheit wird anhand der Philosophischen Brocken ausgeführt: besonders S. 50 – 59.  Vgl. KE, S. 63.  Vgl. KE, S. 62.  Vgl. KE, S. 65.  Vgl. KE, S. 66  KE, S. 65.  Vgl. KE, S. 66 f.  KE, S. 66.

1.2 Rezeption der Innerlichkeit

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an denen man verzweifeln kann.“²⁴³ Von daher ist sie „der beständig sich selbst in Frage stellende und insofern innerliche Versuch, einer Forderung zu entsprechen, die nie ganz verstanden und ganz umgesetzt ist.“²⁴⁴ Diese Betrachtung der Innerlichkeit führt zurück zu den Merkmalen zwei und drei des subjektiven Erkennens. Im Eingeständnis der Ungewissheit (Merkmal 2) wird sich das Individuum selbst, als auch der Gegenüber zur Frage. Dadurch wird bei Boldt eine Ethik der Urteilsenthaltung etabliert. Die Unabgeschlossenheit des Erkennens (Merkmal 3), aufgrund der immerwährenden Ungewissheit zu keinem Erkenntnisresultat kommen zu können, zieht eine „immer neue und sich vertiefende[] Beschäftigung“²⁴⁵ nach sich, in der die „Aufforderung, das eigene Tun zu überdenken“²⁴⁶ liegt. Somit wird durch die Innerlichkeit eine Ethik des Fragens nach dem rechten Handeln im interpersonellen Umgang²⁴⁷ eingefordert.²⁴⁸  KE, S. 67.  KE, S. 67. Auch: „Das innerliche, subjektive Streben nach Erkenntnis besteht wie das Ethische darin, sich anderen zuzugestehen, auf dem richtigen Weg sein zu können, und nicht endgültig zu urteilen, sondern seine Eindrücke und Meinungen als Anfrage zu verstehen, in denen es darum geht, endgültige Festlegungen zu unterminieren.“ (KE, S. 68)  KE, S. 194.  KE, S. 77.  Boldt übersieht jedoch, v. a. im Hinblick auf die Unwissenschaftliche Nachschrift und vor dem Hintergrund des Unverständlichbleibens des Gegenübers, die Möglichkeit der gegenseitigen Entfremdung. Zur Entfremdung: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 230.  Diese Ethik ist die von Boldt herausgearbeitete Ethik der Angewiesenheit. „Im Modell der Angewiesenheit geht es … um Erkennen, wobei die Erkenntnishaltung in diesem Modell das offene … Fragen ist, ob jemand in seinem Handeln bemüht ist, eben diese Offenheit zu praktizieren, und wie ihr seiner Meinung nach am besten Ausdruck verliehen werden kann.“ (S. 72) Das eigene Handeln gegenüber dem anderen liegt in meiner Einstellung zu ihm, die durch den anderen gespeist wird (da ich auf ihn angewiesen bin). Da Boldt erstens den Fokus auf das eigene Handeln gegenüber dem anderen legt, zweitens das Ausdruckverleihen hervorhebt und drittens die Intersubjektivität der Innerlichkeit (S. 79) betont, ließe sich hieran sehr gut mit der Innerlichkeitsdiskussion von Sergio Munoz Fonnegra bezüglich Kierkegaards Der Liebe Tun anschließen (vgl. das Kapitel „Innerlichkeit und Intersubjektivität“, in: Ders., Das gelingende Gutsein, S. 155 – 165). Bei Fonnegra ist Innerlichkeit die sorgende Innerlichkeit, die auf den anderen zielt, ohne etwas zurückhaben zu wollen. Es geht in Bezug auf den Liebesbegriff um die innere Handlung, die sowohl nach innen als auch nach außen, zum anderen Menschen hin gerichtet ist (ebd., S. 155). (Diese Dopplung des Innens, das nach außen getragen werden soll, findet sich auch bei Haecker, Harbsmeier und Lincoln (s.o. Anm.).) Fonnegra legt dabei den Fokus, Der Liebe Tun entsprechend, auf das Helfen, dass der andere zu Gott findet. Das Helfen impliziert hierbei ein Liebe-Geben, ohne dabei sich selbst als Ziel der Liebe des anderen zu verstehen, da das Ziel Gott ist. Sofern beide Menschen sich gegenseitig helfen, geben sie Liebe und stehen doch frei nebeneinander (ebd., S. 156). Die Forderung, die Kierkegaard erhebt, dem anderen zu helfen, ist „als ein Korrektiv gegen die negative Form der Gegenseitigkeit in der zwischenmenschlichen Beziehung zu verstehen …“

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1 Einleitung

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung Abschließend sieben thesenartige Zusammenfassungen: a) Innerlichkeit ist der Habitus des Selbstseins, der produktiv nach außen getragen wird. (Haecker) b) Innerlichkeit ist die Intensität, im Hier und Jetzt sich zu sich selbst zu verhalten, mit dem existenzialontologischen Ziel der Ganzheit. (Theunissen) c) Innerlichkeit ist die sinnstiftende Kontinuität permanenter Bewegung, in der ein ethisches Konzept der Selbsthinterfragung liegt. (Glöckner) d) Innerlichkeit ist eine strukturelle Konzeption des dialektischen Selbst-Verhältnisses. (Dunning) e) Innerlichkeit ist funktional die Meta-Existenz-Kategorie, deren existenzieller Sinn im konkreten Existenzvollzug liegt. (Bast) f) Innerlichkeit ist das Selbstsein, das man immer schon ist, aber erst im Bezug zum menschlichen oder göttlichen Gegenüber gewonnen wird. (Harbsmeier) g) Innerlichkeit ist eine interpersonale Lebenshaltung, deren ethischer Sinn in der Anerkennung objektiver Ungewissheit über die eigene Person und die des Gegenübers liegt. (Boldt) In der Zusammenführung der besprochenen Ansätze mit den in der Hinführung (Kapitel 1.1) vorgenommenen ideengeschichtlichen und systematischen Anmerkungen lassen sich die folgenden, für die Eingrenzung der Fragestellung dieser Untersuchung wichtigen Punkte festhalten:

(ebd., S. 157) „Innerlichkeit [heißt] die bedingungslose Einbeziehung des anderen durch Selbstverleugnung, durch den Verzicht auf die übliche Gegenleistung …“ (ebd., S. 164) Dieses sich nach außen richtende, auf den anderen zielende Handeln ist, sofern Innerlichkeit sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet ist, von einem Sich-zu-sich-Verhalten (Selbst-Verhältnis) begleitet. Das Selbst-Verhältnis wird dabei in Abhängigkeit zum anderen gestellt: „Die Innerlichkeit ist … immer eine Bewegung nach innen und nach außen, so dass das Selbstsein als Selbstwerden nur durch die Einbeziehung des anderen in die eigene Selbsttätigkeit möglich macht.“ (ebd., S. 159) Sich selbst zu verstehen, heißt sich mit und durch den anderen verstehen. Man selbst ist auf den anderen angewiesen. Dementsprechend ist die „Sorge um die Existenz des anderen“ (ebd., S. 160) das primäre Anliegen des innerlichen Menschen. In Bezug auf Der Liebe Tun gibt auch Ulrich Lincoln eine Bestimmung der Innerlichkeit, die im Gegensatz zu Fonnegra wesentlich, Lincolns Arbeit entsprechend, handlungstheoretischer angelegt ist: „[M]it dem Begriff der Innerlichkeit [ist] eine fundamentale Positivität oder Bestimmtheit verbunden, und zwar hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Erfahrbarkeit dieses innerlichen Handelnkönnens.“ (Ders., Äußerung, S. 380) „Innerlichkeit bezeichnet die affektive Erfahrungsform, in der das elementare Handelnkönnen wahrgenommen wird.“ (Ebd.) Innerlichkeit ist also das konkrete Bewusstwerden der Möglichkeit eigenen Handelns, indem ich von dieser Möglichkeit affektiv-emotional ergriffen bin (vgl. dazu die Kierkegaard-Zitationen bei Lincoln) und ich selbst zum konkreten Handeln bewegt werde. Es wäre sicher lohnend, diese Bestimmung der Innerlichkeit als handlungstheoretischen Ausgangspunkt für Fonnegras Abhandlung zu lesen.

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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Selbstsein Der thematische Schwerpunkt in der Innerlichkeitsdiskussion bei Kierkegaard ist, dem Begriff der Innerlichkeit folgend, ein identitätstheoretischer. Es geht vor allem um das „Wirklichsein“, „Selbstsein“ (etc.), das wesentlich durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: a) das Sich-zu-sich-Verhalten (teilweise durch ein Sich-zu-anderen-Verhalten) und b) das Im-Vollzug-Sein (Prozesshaftigkeit des Sich-zu-sich-Verhaltens). Entweder besteht das Selbstsein in der Entwicklung und Differenzierung des Bewusstseins des Individuums von sich selbst; oder das Selbstsein besteht darin, dass es gelebt wird (dass das Selbst-Verstehen existenzdialektisch ins Handeln übersetzt wird). Somit liegen zwei Perspektiven vor: a) eine bewusstseinstheoretische; b) eine praxistheoretische.Wie genau gehen die bewusstseins- und die praxistheoretischen Perspektiven zusammen? Hier bleiben die einzelnen vorgestellten Betrachtungen uneindeutig. Hingegen zeigen sich deutlich zwei der in Kapitel 1.1 vorgenommen Bestimmung von Identität: die Bestimmung der Selbst-Reflexion (Sich-zu-sich-Verhalten) und die Bestimmung der Selbst-Entdeckung (die Prozesshaftigkeit des Sich-zu-sich-Verhaltens). Was aber bedeutet Selbst-Entdeckung bei Kierkegaard genau? Wie steht es mit dem in Kapitel 1.1 erwähnten Aspekt der Selbst-Kontrolle? Und wie ist das Verhältnis von Identität und an Welt-Erfahrung gebundene Transformation von Identität bei Kierkegaard gefasst? Wird Identität bei Kierkegaard letztlich als reine Stabilität eines auf Existenz bezogenen Selbst-Bezugs verstanden oder ist Identität (auch) die Veränderung des Selbst-Verhältnisses? Diese Fragen können nur vor dem Hintergrund beantwortet werden, dass Innerlichkeit bei Kierkegaard sowohl nichtreligiös als auch religiös begriffen wird; sowohl an den eigenen Lebensvollzug in der Welt wie auch an das eigene Existieren vor dem Ewigen (Idealbezug; religiös: Gott) gebunden ist. Wie verhalten sich die nichtreligiösen und religiösen Aspekte der Innerlichkeitskonzeption zueinander? Sind sie zwei aufeinander bezogene, aber systematisch voneinander getrennte Betrachtungsperspektiven auf das Problem der Identitätsausbildung?

Innen und Außen Die Differenz zwischen Innen und Außen wurde in den einzelnen Besprechungen der Sekundärliteratur unterschiedlich beantwortet. Die dominanteste, auf Ideengeschichte beruhende und an die gängigen Interpretationsmuster der Innerlichkeit bei Kierkegaard heranreichende Darlegung findet sich bei Michael Theunissen und Eberhard Harbsmeier: Das Außen, die Welt, wird zugunsten der

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innerlichen Haltung des Individuums nivelliert.²⁴⁹ Besonders für die religiöse, vom dänischen Pietismus beeinflusste Ausprägung der Innerlichkeit wird solche Nivellierung des Außen immer wieder angeführt. Renate von Heydebrand schreibt in ihrem Artikel zur Innerlichkeit, dass in Kierkegaards Konzeption religiöser Innerlichkeit „das Äußere in die Gleichgültigkeit abgedrängt“²⁵⁰ wird, zugunsten eines subjektiven Glaubens-Verhältnisses zu Gott, das schon bei Meister Eckhart als Innerlichkeit der „Abgeschiedenheit“ und Nivellierung äußerer Tätigkeit begriffen wird.²⁵¹ Der dahinterstehende, exegetisch-systematische Aspekt ist der, dass Kierkegaard selbst immer wieder von der „Verborgenheit der Innerlichkeit“ spricht; einer Verborgenheit, die so verborgen ist, dass sie, wie Sartre sagt, als „geheime Realität“ nur „[ge]ahn[t] oder vermute[t]“ werden könne, weil sie unter der „Oberflächenhaut“ des Außen liege und als „wahre Natur“ (Wesen) dementsprechend nicht zum Ausdruck gebracht werden könne.²⁵² Bedeutet das, dass es sich bei Kierkegaards religiöser Innerlichkeit – wie Helmut Fahrenbach festhält – um eine „abstrakte Innerlichkeit eines weltlosen (‚stoischen‘, ‚mystischen‘) Selbst“²⁵³ handelt? Ist die Verborgenheit augustinisch zu verstehen: dass das Selbst ein im Innen verschlossenes, nur Gott zugängliches Innen ist? Oder ist mit der Verborgenheit eine stoische Konzentration auf ein essentialisiertes Innen impliziert? Wird die Innerlichkeit dann, wie Hegel in seiner Gymnasialrede schreibt,²⁵⁴ die „Mutter von Fassung, von Besonnenheit, von Gegenwart und

 Eine sehr klare Analyse dieses Verhältnisses von Innen und Außen (mit dezidiertem Bezug auf Johannes Climacus): Evans, Kierkegaard’s Fragments and Postscript, S. 281– 287.  Heydebrand, „Innerlichkeit“, in HWPh, Bd. 4, S. 386 ff, 387.  Zu Eckhart: Rodrigo Guerizoli, Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts. Leiden und Boston 2006, besonders S. 8 f.  Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. von Traugott König, deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, 13. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2007, S. 9. Sartre wehrt sich in Anbetracht seiner Phänomenologie selbstverständlich gegen eine solche Essentialisierung des Innen. Denn seine Phänomenologie ist ja gerade der Versuch der Überwindung des Dualismus von Innen und Außen, Wahrheit und Erscheinung. Dass das Innen in Kierkegaards Denken der Innerlichkeit gerade nicht zum Ausdruck gebracht werden könne, hebt auch Arne Grøn hervor: vgl. ders., Angst bei Søren Kierkegaard, S. 76.  Helmut Fahrenbach, „Kierkegaard und die gegenwärtige Philosophie“, in Kierkegaard und die deutsche Philosophie seiner Zeit. Vorträge des Kolloquiums am 5. und 6. November 1979, hg. von Heinrich Anz, Peter Kamp und Friedrich Schmöe, Kopenhagen und München 1980, S. 149 – 169, hier S. 166.  Zu Hegels Innerlichkeitsverständnis (allgemein): Heydebrand, „Innerlichkeit“, in HWPh, Bd. 4., S. 386 ff. Ebenso: Schulz, „Innerlichkeit“, in RGG, Bd. 4, S. 157 f. Vergleiche ebenfalls die folgende Anmerkung zu Hegels Verständnis der Innerlichkeit in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes.

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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Wache des Geistes“²⁵⁵; die Bedingung der Möglichkeit eines konzentrierten Umgangs mit sich, der bei Kierkegaard aber lediglich in unvermittelbarer Selbstwahrnehmung geschieht, so dass – mit Hans Blumenberg gesprochen – „Innerlichkeit als d[ie] strickte[] Unzugänglichkeit für andere“²⁵⁶ aufzufassen ist? Ist die Innerlichkeit dann, wie Hegel in seiner Ästhetik zur romantischen Kunst festhält, der „Mangel an Äußerung und Entfaltung“²⁵⁷, dem keine „Tatkraft“²⁵⁸ zukommt?²⁵⁹ Trifft es dann wiederum zu, was Adorno zu Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit festhält und wofür er den Begriff „Intérieur“ prägt, dass das Innen zur „Zuflucht des Subjekts“²⁶⁰ wird, wenn es sich von dem Äußeren übermannt sieht; dass der Innerlichkeit eine quietistische Isolationstendenz und ein in die Subjektivität verlagerter, biedermeierischer Konservatismus innewohnt, bei dem sich das Subjekt in die „Privatsphäre“²⁶¹ der „Häuslichkeit“²⁶² zurückzieht, in die Geborgenheit eines geschützten Raumes, was Hans Blumenberg (vermutlich von Adorno beeinflusst) einmal so formuliert, dass die „Innerlichkeit … die Fluchtburg von Ansprüchen und Verantwortung“²⁶³ sei?²⁶⁴

 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845, neu edierte Ausgabe, Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, Bd. 4, S. 319.  Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 726.  Hegel, Werke 14, S. 204.  Ebd., S. 208: am Beispiel Hamlets.  Zur Darstellung der verschiedenen Erscheinungsweisen und zu den verschiedenen Kontexten der Innerlichkeit in Hegels Ästhetik: vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart und Weimar 2003, S. 433 – 445.  Adorno, Kierkegaard, S. 57.  Ebd., S. 70.  Ebd., S. 69.  Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 665.  Diese von Adorno und Blumenberg vertretene Ansicht zur Innerlichkeit wird auch von Hannah Arendt geteilt, die bezüglich ihrer politischen Prämisse, dem Handeln, schreibt, dass ein Rückzug in das Innen lediglich ein Ausweichen in die Reflexion wäre, bei der aber weder gehandelt, noch etwas geändert werden kann (vgl. dies., Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, 5. Aufl., Berlin und Zürich 2015, S. 26). Das Innen ist lediglich der Ort kontemplativ-quietistischer Passivität, die sich in der „Verborgenheit“ der Privatsphäre beheimatet und gänzlich apolitisch agiert (was Arendt auch christlich-ideengeschichtlicher Perspektive versucht zu rekonstruieren: vgl. dies., Was ist Politik?, S. 60 – 66. Zu Arendts Abweisung der Innerlichkeit (vor allem im Kontext „bürgerlicher“ Flucht ins Selbst): Rahel Jaeggi, Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts, Berlin 1997, S. 78 – 86). Ohne Zweifel folgt Arendt damit auch der damals schon gängigen Ablehnung der Innerlichkeit, die auf der Prämisse beruht, dass Innerlichkeit den Verlust politischen Bewusstseins bedeutet und damit auf dem Verlust der Verantwortung für Welt und Gesellschaft beruht.Vor allem der Rückzug ins Private (Biedermeier) und auf das Gefühl (Romantik) sowie die Sehnsucht nach Heimat und

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Die vorliegende Untersuchung stellt eine systematisch-philosophische und im Einzelnen eine identitätstheoretische, existenziell-religiöse wie auch ethischexistenzielle Korrektur zu einer solchen, inzwischen zum Klischee geronnenen Betrachtungsperspektive auf die Innerlichkeit bei Kierkegaard dar.²⁶⁵ Obwohl Kierkegaard systematisch von der traditionellen Unterscheidung zwischen Innen und Außen ausgeht, muss dennoch gefragt werden: In welchem Verhältnis stehen beide Kategorien zueinander? Wenn es mit der Innerlichkeit um einen subjektund identitätstheoretischen Vollzug geht, bei dem das Innen als die eigene Selbstwahrnehmung betont wird, wie gestaltet sich dann das Verhältnis des Individuums zum Außen, zur Welt, zu anderen Menschen? Ist es lediglich nivellierend, indem ein „Bruch“ und „Umschlag“ vom Außen ins Innen erfolgt? Oder ist es eine Bewegung, in der das Innen und das Außen komplex miteinander verflochten sind?²⁶⁶ Wie gestaltet sich das Verhältnis von Innen und Außen vor allem in der religiösen Innerlichkeit, bei der es auf das persönliche, „verborgene“ Verhältnis zu Gott ankommt? Wie ist der Begriff „Verborgenheit“ aus systematischer Perspektive überhaupt zu verstehen? Und wie ist gleichfalls das Verhältnis von Innerlichkeit und Sprache als Medium der Expressivierung und des Verstehens zu fassen? Ist eine Äußerung und Objektivierung eigener Innerlichkeit gänzlich ausgeschlossen?

Heimlichkeit („Deutsche Innerlichkeit“; s.u.) galten dabei als Ausgangspunkt für einen nicht rational gestützten Urteilsbezug zu der Welt außerhalb des Privaten. Innerlichkeit trat demnach in Verruf lediglich ein Identitätsbewusstsein zu exponieren, das ohne den oder das andere auskommt – und damit grundsätzlich das Potential für eine Außenperspektive und für Kritik ausschließt. Ob dieses apolitische Verständnis der Innerlichkeit auf Kierkegaard zutrifft, kann schon aufgrund seines Kirchenangriffs angezweifelt werden, mit dem in den letzten beiden Lebensjahren ein öffentlich-politisches Handeln einsetzte, in dem eine „explosive Öffnung der Innerlichkeit“ (Hermann Deuser, Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, München 1974, S. 86) stattfand. Das kritisch-aggressive und gesellschaftsumschaffende Handeln Kierkegaards reduzierte sich dabei aber niemals bloß auf eine politisch-weltliche Ebene, sondern blieb für ihn an die religiösinnerliche Erfahrung und Lebensgestaltung des Einzelnen gebunden. Bei allem politischen Aktivismus und dem Heraustreten aus der „Verborgenheit“ der Innerlichkeit fand keine Nivellierung derselben statt, sondern sie blieb stets dialektisch erhalten (vgl. Deuser, Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, Kap. III).  Bezüglich des Aspekts der Korrektur des Innerlichkeitsverständnisses beachte man die auf das Spätwerk Kierkegaards bezogenen Ausführungen von: Deuser, Dialektische Theologie, S. 136 – 145.  Hier gibt Joachim Boldts (und auch Sergio Munoz Fonnegra) Darstellung schon einen, auf ethischer Ebene angesiedelten Ansatz (vgl. Kapitel 1.2.4). Aber auch Theodor Haeckers Aneignung Kierkegaards (vgl. Kapitel 1.2.1) zeigt eine Differenzierung der Innen-Außen-Problematik, wobei dessen emphatisiertes, nach außen zu tragendes Innen eine zu undialektische Bestimmung ist.

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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Gefühl In der Sekundärliteratur wird vorrangig davon ausgegangen, dass die „Innerlichkeit nicht nur ‚eine‘ Seite des Menschen bezeichnet“ – wie Helmut Vetter festhält – „sondern … seine[] ganze[], ungeteilte[] Einheit.“²⁶⁷ Die innerliche Einheit der Person manifestiert sich in den vorgenommenen Betrachtungen vor allem im Gefühl.²⁶⁸ Kierkegaard selbst (beziehungsweise Vigilius Haufniensis)

 Vetter, Stadien der Existenz, S. 141.Vergleiche auch die Charakterisierung der Innerlichkeit (in Bezug auf den Begriff Angst) bei: Darió González, „Religious Truth as Earnestness. Kierkegaard and Faith as a Process of Education“, in Religion und Irrationalität, S. 199 – 209, hier S. 202.  Gegen diese Deutung der Innerlichkeit regt sich nicht nur bei Eberhardt Harbsmeier Kritik (vgl. Kapitel 1.2.4). Christa Kühnhold vermerkt, dass Innerlichkeit keine bloße „Gemütserfahrung“ sei (Dies., Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens, S. 48; vgl. ebd., S. 128). Kurt Weisshaupt: „Innerlichkeit ist weder Wissen noch Gefühl allein.“ (Ders., Die Zeitlichkeit der Wahrheit, S. 70) Anton Hügli versteht Innerlichkeit als „reine[n] Gedanke[n]“. (Ders., Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 113). Und zu der vor allem von Haecker evozierten „Emphase“ vermerkt Liselotte Richter, dass Kierkegaards Philosophie keine Philosophie des „Rausches“ sei. (Dies., Der Begriff der Subjektivität bei Sören Kierkegaard, S. 52) Und dennoch: Dass das Gefühl für Kierkegaard ein wichtiger philosophischer Topos gewesen ist, kann ideengeschichtlich dadurch zur Geltung gebracht werden, wenn gesehen wird, dass sein Werk einerseits im Nachgang der Aufklärung steht und andererseits einen nicht wegdiskutierbaren Anteil pietistischen Erbes in sich trägt. Die Denker der Aufklärung – allen voran Kant – bis hin zu Goethe haben dem Gefühl – in teils systematisch-affirmierender, teils systematisch-kritischer Betrachtung – einen hohen anthropologischen Stellenwert zugesprochen, indem sie dasselbe als ein wesentliches Organ des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der Welt betrachteten. (Vgl. H. Emmel / S. Rückner, „Gefühl II“, in HWPh, Bd. 3, S. 89 – 93, besonders S. 89 – 91) Auch wenn bei J. G. Fichte, Schelling und schließlich in der forciertesten Ausprägung bei Hegel das Gefühl als ein eingeschränktes Vermögen oder gar als unterste Stufe des Geistes (vgl. ebd., besonders S. 92 f.; ebenfalls: Rainer Piepmeier, „Empfindung I“, in HWPh, Bd. 2, S. 456 – 464, hier S. 462 f.) angesehen wurden, blieb das Gefühl doch immer ein systematischer Teil der transzendentalen und anthropologischen Betrachtungen dieser Philosophen. [Anm.: Besonders erwähnenswert scheint mir hierbei, wie das Problem der „Empfindung“ bei Immanuel Hermann Fichte diskutiert wird. Dieser fasst die Empfindung als „Innewerden unwillkürlichen Gebundenseins durch einen unmittelbar sich aufdrängenden Inhalt“ auf (zitiert nach: Piepmeier, „Empfindung I“, in HWPh, Bd. 2, S. 456 – 464, hier S. 463). Nimmt man Kierkegaards existenziell-religiöse Kategorie des „Augenblicks“ in den Blick, so ist dieser eben das Ergriffenwerden des Individuums durch Gott als Erkenntnis unhintergehbaren Verwiesenseins (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1 und 2.3.3.3.3 ). Dass Kierkegaard sich intensiv mit I. H. Fichte auseinandergesetzt hat, zeigt Gerhard Schreibers Aufsatz „Die philosophische Verflüchtigung des Glaubensbegriffs“, in KSYB 2013, S. 345 – 376; sowie: ders., Apriorische Gewissheit, S. 139 – 162.]. – Zugleich ist es der Pietismus gewesen, der einerseits die Vorstellung etablierte, dass das Gefühl eine „entscheidende Grundkraft des Menschen“ ist (vgl. Emmel / Rückner, „Gefühl II“, in HWPh, Bd. 3, S. 89 – 93, hier S. 89) und andererseits – in der Abwendung von der vernunftmäßigen Erkenntnis Gottes – dasjenige Organ des Menschen ist, durch das das Absolute (Gott) – ohne Begriffe – erkannt wird (vgl. Piepmeier, „Empfindung I“, in

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stellt im Begriff Angst die Innerlichkeit in ein enges Verhältnis zum Gefühl (vgl. die Ausführungen zu Michael Theunissen und Dorothea Glöckner). Doch ist eine Subsumierung der Innerlichkeit unter dem Begriff des Gefühls nicht nur systematisch unzureichend, sondern impliziert auch ideengeschichtliche Zusammenhänge, die entweder nicht hinreichend oder auch einfach unzutreffend sind. Wird von der religiösen Innerlichkeit ausgegangen, so scheint sich ein enger Zusammenhang zu Friedrich Schleiermachers transzendentaler Gefühlstheologie zu

HWPh, Bd. 2, S. 456 – 464, hier S. 461), was selbstverständlich in der durch Friedrich Schleiermachers „Gefühlstheologie“ etablierten „Gefühlsreligion“ (vgl. Hans-Joachim Birkner, „Gefühlstheologie“, in HWPh, Bd. 3, S. 100 f.; ders., „Gefühlsreligion“, ebd., S. 99 f.) systematisch auf die Spitze getrieben wird. Sowohl die langanhaltende Diskussion des Gefühls in der Aufklärung (bis hinein in den Spätidealismus) wie auch die anthropologische und religiöse Bedeutung des Gefühls im Pietismus hatten Anteil an dem philosophischen Klima, in dem Kierkegaard sozialisiert wurde. Letztlich reicht hierbei – neben der Terminologie des „Gemüts“ (bei dem Pseudonym Vigilius Haufniensis) und der „Begeisterung“ (bei dem Pseudonym Frater Taciturnus) – ein oberflächlicher Blick auf Kierkegaards (Johannes Climacusʼ) zentrale Terminologie: der „Leidenschaft“, die in der philosophischen Diskussion seit der Neuzeit (bis über die Aufklärung hinaus) als eine Gefühlsbestimmung gehandhabt wird. (Dazu: Ursula Franke / Günter Oesterle, „Gefühl I“, in HWPh, Bd. 3., S. 82– 89, hier S. 82) Denn es ist die Leidenschaft, die Kierkegaard (Climacus) als existenziellanthropologisches wie auch existenziell-religiöses Grundmerkmal menschlichen Daseins bestimmt. Zu fragen ist jedoch, ob die von Kierkegaard lancierten Gefühlsbestimmungen – eben Gemüt, Begeisterung, Leidenschaft – wirklich kategoriale Gefühlsbestimmungen sind (vgl. die Diskussion der Leidenschaft: Kapitel 2.2.2.2), selbst wenn in der Sekundärliteratur der Leidenschaft das Charakteristikum der Emotion, wenn auch nicht im ästhetisch-unbeständigen, sondern im existenziellen Sinne einer als ethisch-beständiges Gefühl aufgefassten Emotion, zugesprochen wird. (Vgl. Milan Petkanič, „Passion as Will to Existence in Kierkegaard”, in KSYB 2013, S. 325 – 341, S. 331) Und zweitens muss gefragt werden, ob es diese Gefühlsbestimmungen sind, die – wie im Haupttext erwähnt – die einheitsstiftende Seite menschlichen Daseins ausmachen. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die Innerlichkeit eine identitätstheoretische Ganzheitsbestimmung darstellt (dazu: Kapitel 2.2.3), muss – etwas rhetorisch – gefragt werden, ob die Innerlichkeit allein auf das Gefühl (die Leidenschaft) zu reduzieren ist (und ob eben dann das Gefühl allein als einheitsstiftend betrachtet werden kann). [Anm.: Dies ist auch vor dem Hintergrund von Kierkegaards Gesamtwerk gefragt, bei dessen Betrachtung es mehr als auffällig ist, dass die zentrale Existenzkategorie des Interesses niemals dem bloßen Gefühl gilt, sondern immer den reflexionsphilosophischen Affektionen wie Langeweile, Angst, Verzweiflung (etc.). Dieser Fakt, dass es Kierkegaard in seinem Existenzdenken um das Zusammenspiel von Reflexion/Denken und Affektion/Gefühl/Empfindung geht, zeigt wiederum, dass er – philosophisch gesehen – weniger dem Pietismus, sondern mehr dem Denken der Aufklärung zugeneigt war. Denn besonders die Aufklärung war es, die das Verhältnis von Denken und Gefühl zu bestimmen suchte. (Dazu: Emmel / Rückner, „Gefühl II“, in HWPh, Bd. 3, S. 89 – 93, hier S. 90 f.; Piepmeier, „Empfindung I“, in HWPh, Bd. 2, S. 456 – 464, hier S. 461 f.)].

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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ergeben, deren Differenz zu Kierkegaards existenzdialektischer Religiosität von Andreas Krichbaum ausführlich herausgestellt wurde.²⁶⁹ Andererseits – und das hat sicher maßgeblich zur öffentlichen und wissenschaftlichen Desavouierung des Begriffs „Innerlichkeit“ beigetragen – scheint eine enge Verwandtschaft zu der seit 1831 aufkommenden,²⁷⁰ von der Romantik und durch die Verklärung mittelalterlichen Denkens charakterisierten „Deutschen Innerlichkeit“ zu bestehen.²⁷¹

 Vgl. Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Vergleiche ebenfalls den von Niels Jørgen Cappelørn herausgegebenen Sammelband Schleiermacher und Kierkegaard sowie Gerhard Schreibers Dissertation zum Glaubensbegriff des frühen Kierkegaard, in der Kierkegaards Auffassung von Schleiermacher dargelegt wird: Apriorische Gewissheit, S. 82– 88.  Vgl. Heydebrand, „Innerlichkeit“, in HWPh, Bd. 4., S. 386 ff., hier S. 388.  Zur Desavouierung der Innerlichkeit als solche hat die „deutsche Innerlichkeit“ vor allem durch ihren nationalistischen Zug beigetragen. Ulrich Christoffel spricht schon im Vorwort seines Buches Deutsche Innerlichkeit von der „deutsche[n] Empfindung“ (ebd., 11), wobei politisch erschwerend hinzukommt, dass sein Buch 1940, also mitten in der NS-Zeit veröffentlicht wurde. [Anm.: Die dort erwähnte „Hülle der Unnahbarkeit“ (ebd., 125) des innerlichen Individuums bekommt dann allzu leicht die Konnotation, dass das „deutsche Volk“ als „Herrenrasse“ sich absetzend („Hülle“) über („unnahbar“) allen „anderen Völkern“ stehe.]. Bezüglich der NS-Zeit ist dann auch ein Beitrag aus dem PJdG von historischer Relevanz. In dessen Ausgabe von 1933 ist der von Herma Piesch geschriebene Aufsatz zu Germanischer Subjektivität und deutsche[r] Mystik enthalten (in: PJdG 1933, S. 76 – 89), in dem vom „Germanentum“ und dessen „Drang zur ‚Formlosigkeit und Innerlichkeit‘“ (ebd., S. 77) und „gefühlsbestimmten Leidenschaft“ (ebd., S. 88) gesprochen wird, wobei nicht die Romantik, sondern Meister Eckhart für die rassische Essentialisierung des Gefühls Pate steht (vgl. ebd., S. 81– 87). [Anm.: Bei Meister Eckhart besteht das Topos Innerlichkeit weder allein im inneren Empfinden noch in einer Isolationstendenz, was an seiner Predigt 86 deutlich hervortritt, in der die Innerlichkeit als eine auf das Außen zielende Haltung des Handelns (vita activa) bestimmt ist: vgl. Flasch, „Wert der Innerlichkeit“, S. 219 – 236, besonders S. 229 – 233.]. Es verwundert kaum, dass spätestens nach der NS-Zeit eine kritische Distanzierung und Abwendung von dem (auch) völkisch konnotierten Begriff Innerlichkeit stattgefunden hat. Vor dem Hintergrund der „deutsche Innerlichkeit“ und ihrer Stellung im deutschen Faschismus muss zudem darauf hingewiesen werden, dass Emanuel Hirsch, selbst Nationalsozialist, in kämpferischer Rhetorik dem Hauptwerk Kierkegaards zur Innerlichkeit, der Unwissenschaftlichen Nachschrift, 1933 eine besondere Bedeutung für das deutsche Volk zuspricht. (Vgl. Emanuel Hirsch, Kierkegaard-Studien III. Der Denker. Zweite und dritte Studie: Das Werk des Denkers, Gütersloh 1933, S. 5) Als maßgeblicher Übersetzer und Kommentator der bis heute einzigen deutschsprachigen Gesamtausgabe von Kierkegaards Werk (GW) ist das natürlich hochproblematisch, vor allem was die Übersetzung der erbaulichen Reden betrifft. Im Vorwort der 1843/44er Reden Kierkegaards (GW 5) betont Hirsch die Innerlichkeit als das besondere Merkmal dieser Reden, was im Zuge von Hirschs faschistischer Prägung eine politische Doppeldeutigkeit bekommt, die dazu zwingt, eine von Hirschs Darlegung losgelöste Deutung und auch Übersetzung vorzunehmen. Und dennoch hält Hirsch, nach wie vor einer der besten Sachkenner Kierkegaards, für dessen Frühwerk – trotz politischem Vorbehalt – sachlich kaum widerlegbar fest: Die Innerlichkeit ist das Zentrum von Kierkegaards Existenzdenken (vgl. ders., Kierkegaard-Studien III, S. 9)

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Auf diese treffen nicht nur Hegels Bestimmungen der romantischen Innerlichkeit als „Verschlossenheit“ im „Gemüt“²⁷² und der „subjektive[n] Totalität“²⁷³ zu, sondern die emphatische „Empfindung“ wird zur Grundlage einer antirationalen Erkenntnisgewinnung und Lebenshaltung des Individuums.²⁷⁴ Kierkegaards Konzept der Innerlichkeit ist nicht in diesem Sinne zu lesen. Weder schließt die Innerlichkeit Reflexion und Rationalität aus, noch ist sie eine – wenn auch eine auf Gefühl bezogene Konzeption – sich in Verklärung verlierende Lebenshaltung. Die Frage muss daher lauten: Wie ist das Verhältnis von Denken und Gefühl bezüglich der Innerlichkeit zu bestimmen? Von sachlichem Interesse ist hierbei von vornherein der dänische Begriff Inderlighed (Innerlichkeit). Michael Theunissen macht darauf aufmerksam, dass Inderlighed so viel wie „Innigkeit“ bedeutet, womit die Intensität der eigenen Erfahrung betont wird.²⁷⁵ Gleichfalls verwendet Kierkegaard, wenn auch seltener, einen weiteren Begriff für Innerlichkeit, vor allem in ihrer religiösen Ausprägung. Indvorteshed bedeutet „Inwendigkeit“. Dieser aus dem pietistischen Erbe stammende Begriff ²⁷⁶ bedeutet so viel wie das Zu-eigen-Sein beziehungsweise die Implementierung des Ewigen ins Bewusstsein; ist eine Bestimmung religiösen Gefühls²⁷⁷. Jedoch geben erst Innigkeit und Inwendigkeit, Intensität und Zu-eigenSein, eine (erste) an das Gefühl gebundene Bestimmung der Innerlichkeit als

– abgesehen vielleicht von der Existenzkategorie der „Wiederholung“ (vgl. Theunissen / Hühn, „Wiederholung“, in HWPh, Bd. 12, S. 738 – 746, besonders S. 741 f.).  Hegel, Werke 14, S. 204.  Ebd., S. 199.  „Das Eigentümliche der Empfindung liegt im Einziehen der äußeren Welt in das Innere der Seele, die bereit ist, jeden äußeren Eindruck als ein schöneres Bild zurückzustrahlen und damit die Wirklichkeit zu übergießen.“ (Christoffel, Deutsche Innerlichkeit, S. 8) Das Erkennen aus Empfindung ist eine in reine Ästhetisierung übergehende Emphatisierung der Welt. Weil die „Außenwelt“ nur ein „Schatten“ (ebd., 109) ist, der dem Gefühl der „Unendlichkeit“ (ebd., 11) entgegengestellt wird, liegt die Verwirklichung der Innerlichkeit in der „Einsamkeit“ des „Versinkens“ des Individuums in sich selbst, wodurch der innerliche Mensch „umschlossen [ist] von einer Hülle der Unnahbarkeit“. (Vgl. ebd., 109 – 131) Hieran zeigt sich einerseits, dass Haeckers Darstellung der Innerlichkeit bei Kierkegaard möglicherweise von impliziten Voraussetzungen der „deutschen Innerlichkeit“ (Emphase) beeinflusst ist; andererseits, dass Adornos Kritik des quietistisch-biedermeierlichen Rückzugs in die Subjektivität und Verschlossenheit der Privatsphäre ebenfalls von Implikationen ausgeht, die der deutschen Innerlichkeit entsprechen und auf Kierkegaard, trotz Adornos systematischer Reflexion, übertragen werden.  Vgl. Kapitel 1.2.2.  Vgl. Piepmeier, „Innigkeit II“, in HWPh, Bd. 4, S. 389 ff.  Vergleiche die gegebenen Beispiele ebd., S. 389. (Dabei wird nicht auf Kierkegaard eingegangen!).

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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konzeptueller Begriff. Die Innerlichkeit stellt dann auf den ersten Blick weniger eine Raum- oder Grenzmetapher dar,²⁷⁸ sondern eine Schwangerschaftsmetapher. ²⁷⁹ Ob das tatsächlich eine zutreffende Kennzeichnung ist und wie dabei die Reflexion (Denken) einbezogen werden muss, wird im Verlauf dieser Untersuchung geklärt werden. Hinzu kommt schließlich, dass ein Gefühl immer leiblich ist (womit gleichfalls das Problem von Innen und Außen in den Blick gerät). Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass die Leiblichkeit in verschiedener – beispielsweise handlungstheoretischer, erfahrungstheoretischer, sozial-ethischer – Hinsicht einen wichtigen Aspekt für die Diskussion der Innerlichkeit darstellt. Es gilt also nicht nur Reflexion und Gefühl ins Verhältnis zu setzen, sondern zu diesen auch die Leiblichkeit, um eine vollständige Bestimmung der Innerlichkeit als eine auf Konkretion des Existierens zielende, identitätstheoretische Konzeption zu erhalten.

Auswahl der Texte und methodisches Vorgehen Die vorliegende Untersuchung ist keine erschöpfende Auseinandersetzung zur Thematik der Innerlichkeit in Kierkegaards Werk. Sie zielt in ihrem exegetischen Vorgehen auf eine systematisierende Betrachtung der Innerlichkeit. Ich konzentriere mich auf die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (1846) und auf ausgewählte Reden von 1843 bis 1845. Zu diesem Vorgehen ist Folgendes anzumerken: Die Unwissenschaftliche Nachschrift wird ausführlich diskutiert, weil sich in ihr Kierkegaards philosophisches Grundmodell der Innerlichkeit findet. Obwohl dieses Werk bezüglich der Innerlichkeit am meisten rezipiert wurde, ist die Innerlichkeitskonzeption in der Unwissenschaftlichen Nachschrift bisher nicht tiefgehend genug erfasst worden. Es wird demnach ein Ziel dieser Arbeit sein, das grundlegende Modell der Innerlichkeitskonzeption in der Unwissenschaftlichen Nachschrift herauszulesen. Das zweite große Werk zur Innerlichkeit, Der Begriff Angst, wird, zumeist in den Fußnoten, zur Differenzierung herangezogen. Dieses Vorgehen hat sachliche Gründe. Der Begriff Angst ist von einem anderen Pseudonym geschrieben worden (Vigilius Haufniensis). Da in dieser Untersuchung die polyphone Struktur von Kierkegaards Werk ernst genommen wird, was bedeutet, dass die einzelnen Stimmen Kierkegaards unterschiedliche Perspektiven auf das

 Vgl. Kapitel 1.1.  Johannes Climacus verwendet selbst das Bild der „Schwangerschaft“. (Vgl. SKS 7, 452 / DUN, 691) Zur Diskussion dieser Metapher: Kapitel 2.3.3.4.1.

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(religiöse) Existieren haben, werden im Folgenden nicht nur die Pseudonyme als Autoren und Urheber der jeweiligen Aussagen angesehen, sondern auch in ihrer je eigenen Hermetik der Existenzperspektive ernst genommen. (Es darf daher im Folgenden nicht verwundern, wenn an manchen Stellen Kierkegaard – als Autor, zum Beispiel der „Erbaulichen Reden“ – mit einem seiner Pseudonyme verglichen oder gar kontrastiv gegenübergestellt wird.) Über die Innerlichkeit im Begriff Angst zu schreiben, bedeutet dann, den Begriff Angst als Ganzes in den Blick nehmen zu müssen, um die subtilen Nuancierungen gegenüber Johannes Climacus (Unwissenschaftliche Nachschrift) herauskristallisieren zu können. Da dies den Rahmen sprengen würde, wird sich auf das Hauptwerk zur Innerlichkeit, die Unwissenschaftliche Nachschrift, konzentriert.²⁸⁰ Warum die Reden von 1843 bis 1845 in den Blick genommen werden,²⁸¹ liegt nicht daran, dass die Reden in der Sekundärliteratur einer geringen Betrachtung unterzogen werden, sondern an dem Sachverhalt, dass die Reden in Bezug auf die Innerlichkeit bisher nicht genau genug untersucht wurden. Ihnen wird zwar einhellig unterstellt, dass die Innerlichkeit deren grundlegende, thematische Absicht ist, aber dies ist bisher systematisch nicht aufgearbeitet worden. Und das obwohl gerade die Reden Kierkegaards die Formen existenzieller Realisierung (und nicht nur das Konzept) der Innerlichkeit zur Sache erheben (auch dann,wenn der Begriff „Innerlichkeit“ selten vorkommt). Unterscheidet sich das Innerlichkeitskonzept der Reden von dem, das die Pseudonyme bereitstellen? Wenn ja, worin bestehen die Unterschiede; worin die Gemeinsamkeiten? Lässt sich im Gebrauch des Begriffs Innerlichkeit eine Entwicklung zwischen 1843 und 1846 feststellen? Die Arbeit wird diese Fragen zu beantworten suchen, indem sie achronologisch vorgeht; ausgehend und in direktem Vergleich von der stärksten Theoretisierung der Innerlichkeit in Kierkegaards Werk hin zu den den Begriff der Innerlichkeit wenig gebrauchenden und ein Konzept der Innerlichkeit nur subtil andeutenden Reden. Auf die hermeneutischen Probleme dieses Vorgehens wird zu Beginn des Reden-Teils (Kapitel 3.1) eingegangen. Geht man von den Reden aus, so wird dort das Problem der Innerlichkeit thematisiert, ohne den Begriff inflationär zu gebrauchen. Das damit angedeutete Problem, wie Innerstes überhaupt (durch Sprache) geäußert werden kann, fordert daher von Anbeginn eine methodische Reflexion in Bezug auf Kierkegaards Werk:

 Angemerkt sei, dass die in der Arbeit verwendeten Journale, Notizbücher und NB-Aufzeichnungen Kierkegaards auf eine ihnen nicht gerecht werdende Weise als Ergänzungsmaterial hinzugezogen wurden; und nur den Zeitraum betreffend, der in dieser Arbeit diskutiert wird (1843 – 1846).  Die Auswahl der in dieser Untersuchung herangezogenen Gedulds- und Gelegenheitsreden wird an gegebener Stelle begründet.

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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dem Problem von Form und Inhalt (Sprache und Existenzpraxis), der (literarischen) Darstellung und der Autorstrategie. Darin liegt die methodische Herausforderung einer jeden und auch der vorliegenden Untersuchung zu Kierkegaard, was mit den Kapiteln 2.1 und 3.1 ausführlich zur Sprache gebracht wird. Davon ausgehend gilt es methodisch für die in dieser Arbeit zu untersuchenden Textgattungen (Pseudonyme und Reden) genau auf die Textgestaltung zu achten. Die Unwissenschaftliche Nachschrift ist ein zwischen philosophisch-systematischer Sachlichkeit und existenziell-lebensorientierender Narrativik verortetes Werk. Die Reden sind hingegen vornehmlich phänomenologisch beschreibende Schriften, die anhand von Situationsdarstellungen ihre philosophischen Pointen mit dem movens der existenziellen Realisierung entfalten. Für das Vorgehen hat das die Konsequenz, dass darauf geachtet werden muss, in welchen Kontexten, Argumentationszusammenhängen und sprachlichen Variationen die Innerlichkeit genannt wird (also dass auch auf das Wie und nicht nur auf das Was, auf Form und Inhalt des Gesagten geachtet wird) und was die jeweilige Kontextualisierung über die systematische Konzeptualisierung aussagt. Das schließt eine permanente Doppelperspektive ein. Es geht einerseits darum, in welchem Zusammenhang der Begriff der Innerlichkeit genannt wird und was sich durch dessen Gebrauch für die Konzeption der Innerlichkeit ableiten lässt. Das gilt vor allem für die Reden, aber auch in weiten Teilen für die Diskussion der Unwissenschaftlichen Nachschrift. Das schließt ein, dass die Verschränkung von Begriff, Konzeption und Kontextualisierung am jeweiligen Text selbst detailliert nachvollzogen wird. Die Analyse nimmt daher aus dem Kontextprinzip heraus in weiten Teilen die Form einer Rekonstruktion an.²⁸² Die systematische Vorselektion der Kontexte (es sei auf die Vorbemerkungen zu jedem großen Teilkapitel verwiesen) dient nicht dem Zweck, einen starren Rahmen setzen zu wollen, sondern lediglich einen Leitfaden vorzugeben, durch den am Ende eine Systematisierung angestrebt wird, die es aus dem (zum Teil elliptisch-nuancierenden) Gang durch die Texte zu entwickeln gilt (eine Ausnahme bildet hierbei zum Großteil das Kapitel 2.1, in dem auf metatextueller Ebene gearbeitet wird). Dieses Vorgehen ermöglicht es, die Subtilität von Kierkegaards komplexem, dialektischem Denken sukzessive herauszuarbeiten, ohne durch zu schnelle Pointierungen den Sachgehalt zu verkürzen. Dieses rekonstruierende Vorgehen birgt die Gefahr in sich, dass durch zu weites Offenhalten der Betrachtungsperspektive eine „Verzettelung“ stattfindet. Obwohl größtmögliche Offenheit für die Erfassung der Innerlichkeit gewahrt  In diesem Sinne schließt die vorliegende Untersuchung methodisch an die Untersuchung Ulrich Lincolns an: Ders., Äußerung, S. 33. Zu einer kurzen Zusammenfassung von Lincolns Arbeit (auch in methodischer Hinsicht): Dorothea Glöckner, Das Versprechen. Studien zur Verbindlichkeit menschlichen Sagens in Søren Kierkegaards Werk Die Taten der Liebe. Mohr Siebeck 2009, S. 13 f.

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werden will, wird dennoch eine die angestrebte Systematisierung der Innerlichkeit unterstützende Perspektive eingenommen. Sofern Philosophie (seit Platon) immer auch Begriffsarbeit ist, wird ab dem Kapitel 2.2 bis zum Ende auch eine begrifflich-strukturelle Position bezogen, durch die die begriffliche Architektur des Innerlichkeitskonzepts herausgearbeitet werden kann. (Struktur wird hierbei allgemein als Ordnung der zu einem Ganzen gehörenden Teile verstanden.) Dies ermöglicht subtile Bedeutungsverschiebungen sowie die begriffliche Konzeption der Innerlichkeit zu erfassen. Dass dieses Vorgehen nicht im Konflikt zur Rekonstruktion steht, ergibt sich, wie sich an vielen Stellen zeigen wird, daraus, dass die begriffliche Struktur durch die Kontexte geprägt wird. Gleichfalls beinhaltet eine Konzentration auf die begriffliche Struktur, dass dieselbe unter der von Kierkegaard intendierten existenzdialektischen Prämisse betrachtet wird. Eben deshalb muss es (vor allem für die Climacus-Schrift) Aufgabe sein, das Verhältnis von Theoretisierung (– Theoriebildung) und existenzieller Konkretion (– Praxisorientierung) herauszuarbeiten.²⁸³ Das ermöglicht es nicht nur von der Kontextualisierung der Innerlichkeit her, sondern auch von deren begrifflicher Struktur her praxisrelevante Sachverhalte zu erschließen. Die Untersuchung nimmt dadurch nicht nur eine rekonstruierende, sondern auch eine strukturell-ableitende Perspektive ein, so dass ab dem Kapitel 2.2 sowohl auf begrifflicher als auch auf kontextualisierender Ebene die Innerlichkeit als eine Konzeption zwischen Theorie und Praxis herausgearbeitet werden kann. Über das leitende Interesse der vorliegenden Arbeit kann das methodische Vorgehen komplettiert werden. Die Untersuchung versteht sich in ihrer Interpretation der Innerlichkeit nicht nur als ein Beitrag zum Verständnis der Unwissenschaftlichen Nachschrift und der Reden, sondern vor allem als ein zwischen identitätstheoretischer und praxistheoretischer Perspektive verorteter Versuch, die Innerlichkeit als einen über Kierkegaard hinausreichenden philosophischen Schlüsselbegriff für (religiöse) Individuierung fruchtbar zu machen. Die Stoßrichtung ist, dass die Texte dazu genutzt werden sollen, das Verhältnis zwischen Lebensvollzug und Religiosität²⁸⁴ zu klären.Was die vorliegende Untersuchung im Vergleich zu bisherigen Arbeiten zum Existenz- und Handlungsbegriff ²⁸⁵ bei Kierkegaard zu leisten sucht, besteht in der Aufgabe, die Innerlichkeit, neben dem

 Vgl. Kapitel 2.1.  Zum Phänomen Religiosität: Deuser, Religionsphilosophie, S. 15 (besonders mit der davor vorgenommenen Bestimmung zur „Unbedingtheit“: Ebd., S. 12 f.), sowie: Ebd., S. 40. Zum philosophischen Begriff und zur theologischen Einführung der Religiosität: Ders., Kleine Einführung in die systematische Theologie, Stuttgart 1999, S. 20 ff.  Beispielsweise Ulrich Lincolns Untersuchung Äußerung, die „das Verhältnis von Handlung und Religiosität“ (in Der Liebe Tun) zu klären versucht (ebd., 35).

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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Problem der Individuation (s.u.), als existenzielles Phänomen und nicht nur als theoretischen Entwurf ernst zu nehmen;²⁸⁶ es also gerade die Existenzdialektik ist, worum es gehen soll und muss. Inwieweit dies gelingen kann, hängt auch davon ab, ob und wie sich auf Kierkegaards philosophisch-systematisches Grundgerüst eingelassen wird. Nicht nur beinhaltet dies, dass auf die anthropo-ontologischen Prämissen²⁸⁷ in Kierkegaards (Climacus’) Denken eingegangen werden wird, sondern auch, inwiefern diese Prämissen strukturtheoretisch und existenz-, d. h. bewusstseins- und praxisphänomenologisch²⁸⁸ gewendet und angewendet wer-

 In gewissem Sinne trägt damit die vorliegende Untersuchung methodologisch Adornos Auseinandersetzung zur „objektlosen Innerlichkeit“ (Ders., Kierkegaard, S. 38 – 98) Rechnung, rückt die Innerlichkeit aber gleichfalls in ein von Adorno zu unterscheidendes, neues Licht.  Nach wie vor bleibt Klaus Schäfers Dissertation Hermeneutische Ontologie, der 1967 ein ideengeschichtlich orientierter Aufsatz vorausgeht (ders., „Hermeneutische Ontologie bei Sören Kierkegaard?“ In Sören Kierkegaard. Wege der Forschung, Bd. CLXXIX, hg. von Heinz-Horst Schrey, Darmstadt 1971, S. 428 – 450.), das Standardwerk für das anthropo-ontologische Denken in den Climacus-Schriften. Zu einer kurzen Würdigung und Einschätzung: Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 3 (Anm. 1). Zu einer kurzen Auseinandersetzung mit dem Denken Schäfers: Zizhen Liu, Augenblick und Angst. Kierkegaards Zeit- und Existenzauffassung in Der Begriff Angst und in den Climacus-Schriften, Frankfurt am Main 2013, S. 26 ff.  Hierbei muss in Anbetracht der Analyse der Unwissenschaftlichen Nachschrift gesagt werden: Obwohl die Unwissenschaftliche Nachschrift Kierkegaards Hauptwerk gegen den hegelschen Idealismus ist, verfolgt sein Pseudonym Johannes Climacus selbst eine Phänomenologie des Bewusstseins. Hierfür ist zu betonen, dass Climacus den Begriff Phänomenologie nicht verwendet. „Phänomenologisch“ ist die Unwissenschaftliche Nachschrift nicht im Sinne der hegelschen Phänomenologie. Climacus geht es weder um die Bewegung des Geistes hin zum Begriff (Aufstieg ins reine Denken) noch um die Erfahrungen, die das Bewusstsein im dialektischen Fortschreiten zum reinen Denken macht (vgl. die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes). Im Gegensatz zu Hegels Programm einer absoluten Objektivität fordert Climacus die Subjektivität ein. Ihm geht es nicht um das Bewusstsein als An-und-für-sich, als reines Denken und absoluten Geist, sondern um den Menschen, der sich im Bewusstsein konkret zu sich selbst verhält. Climacus thematisiert dabei nicht nur das Sich-zu-sich-Verhalten in seinen verschiedenen (phänomenologischen) Erscheinungsformen (Handeln, Entscheiden, Verstehen etc.), sondern nimmt zugleich immer auch die existenziellen Konsequenzen des Sich-zu-sich-Verhaltens in Betracht. Genauer heißt das, dass es ihm nicht nur um das Verhältnis des Individuums zu sich selbst geht, sondern dass es ihm auch darum geht, wie das Individuum mit dem Verhältnis zu sich Stellungen und Haltungen sich selbst und der Welt gegenüber einnimmt. Der wesentliche Kern des existenziell-phänomenologischen und auf anthropo-ontologische Prämissen bezogenen Denkens Climacusʼ liegt darin, dass das Individuum einen bestimmten Umgang mit dem eigenen Leben und der eigenen Person eingeht. Arne Grøn hat dies für Kierkegaards Denken so formuliert: „So wie Søren Kierkegaard darauf Wert legte, daß er einst in den Straßen Kopenhagens spazierenging [sic.] und mit allen möglichen Menschen redete, dreht sich sein Denken um Bewegungen, Stellungen und Gestalten. Es handelt sich um Bewegungen, die ein Existierender macht, um Stellungen, die ein Existierender durch die Bewegung, die er vollzieht, einnimmt. Der, der die Bewegung vollzieht und die Stellungen ein-

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den. Es wird demnach auch darum gehen müssen, die Bedingungen und Ausformungen von existenzieller und existenziell-religiöser Individuierung offen zu legen. Hierbei wird ein methodisches Problem relevant, das jeder KierkegaardInterpret erfahren haben dürfte: dass sich jede Frage und jede Problemstellung mit anderen Fragen und Problemen nicht nur als ineinander verwoben zeigt, sondern dass sie sich palimpsestierend überlagern und eine Isolierung einzelner Gedankengänge kaum möglich scheint. Das zwingt an manchen Stellen auch dazu, etwas holzschnittartig einzelne Punkte herauszugreifen und auseinanderzuhalten, um sie in ihrer Relevanz abwägen zu können. Die vorliegende Untersuchung bewegt sich demnach auf einem schmalen Grat zwischen einer kontextuell-rekonstruierenden, strukturell-begrifflichen und theoretisch-systematisierenden Vorgehensweise. Von diesem Herangehen verspreche ich mir, dass die Komplexität der Antworten auf die Frage, was die Konzeption der Innerlichkeit sachlich beinhaltet, nicht nur an der Komplexität der Ausführungen Kierkegaards gemessen werden kann, sondern diesen auch gerecht zu werden vermag. Schließlich kann mit dieser Erläuterung des Vorgehens auch begründet werden, warum sich die vorliegende Untersuchung auf den Zeitraum von 1843 bis 1846 beschränkt. Der polyphone Aspekt in Kierkegaards Werk macht es schwierig, eine einheitliche Konzeption eines Begriffs, und gerade eines solch zentralen Begriffs, herauszustellen. Die Hermetik der Existenzperspektive der einzelnen Pseudonyme,wie auch die Entwicklung der Reden im Spätwerk hin zu forcierterem christlichen Denken werfen andere Betrachtungswinkel und andere Schwerpunkte auf den Begriffsgebrauch. Das methodische Vorgehen dieser Arbeit, vor allem der Aspekt der kontextuellen Rekonstruktion erfordert viel Detailarbeit und Genauigkeit, auch um das vermeintlich Selbstverständliche wiederholt in Frage zu stellen. Da sich vor allem auf die Unwissenschaftliche Nachschrift und die Gelegenheitsreden konzentriert wird, die beide einen Übergang von der ästhetischerbaulichen zur christlich-religiösen Existenztheoretisierung und Existenzbeschreibung darstellen, wird aus der von Kierkegaard eigenen Öffnung für verschiedene Formen des Phänomens Religiosität erwartet, dass sich die Innerlich-

nimmt, bildet eine Gestalt, die wahrgenommen werden kann und die sich zu erkennen gibt.“ (Arne Grøn, „Kierkegaards Phänomenologie?“, in KSYB 1996, S. 91– 116, hier S. 91) Die Innerlichkeit bietet sowohl in Bezug auf die Bewegung als auch in Bezug auf Stellungen und Einstellungen, Gestalt und Gestaltung das grundlegende phänomenologische Fundament in Kierkegaards Philosophie. [Anm.: Angesichts des in der vorliegenden Untersuchung wichtigen Begriffs „Bewegung“ schließt die Untersuchung an Dorothea Glöckners Arbeit zum Wiederholungsbegriff an (vgl. Kapitel 1.2.3), wird dabei aber gleichzeitig den Versuch unternehmen, das Verhältnis der abstrakten Bewegungsphänomenologie zur existenziellen, praxisphänomenologischen Ausprägung der Innerlichkeit auszuloten.].

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keit an dieser Schnittstelle in Kierkegaards Werk als besonders reichhaltige Konzeption der (religiösen) Individuation erweist. Die vermeintliche Engführung auf die bei Kierkegaard von der christlichen Religiosität unterschiedene erbauliche Religiosität wird an gegebener Stelle begründet. Frei nach Kierkegaards Motto: „[J]e konkreter die Aufgabe desto schwieriger.“²⁸⁹ lässt sich nun die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung wie folgt zuspitzen: Welche strukturellen und praxisorientierten Perspektiven eröffnet das Konzept der Innerlichkeit für das Problem der (religiösen) Individuierung? Hierfür muss abschließend noch der Begriff Individuation geklärt werden.²⁹⁰ Ausgehend von der Scholastik über Leibniz, Hegel bis Nietzsche hat der Begriff zwei für diese Arbeit wichtige ideengeschichtliche Bedeutungen erhalten. Die erste liegt in der im Kontext leibnizscher Monadologie gewonnenen Bestimmung Hegels, der das Individuationsprinzip als „Reflexion in sich“ versteht.²⁹¹ Climacus gibt in der Unwissenschaftlichen Nachschrift neben anderen Merkmalen zur Bestimmung der Innerlichkeit eben diese von Hegel auf das Individuationsprinzip angewandte: Innerlichkeit ist die vom Individuum vorgenommene „Reflexion in sich selbst“.²⁹² Die zweite, wichtige Bedeutung für die vorliegende Untersuchung

 SKS 18, 275, JJ:404/ DSKE 2, 285.  Ich beziehe mich auf: J. Hüllen, „Individuation, Individuationsprinzip“, in HWPh, Bd. 4, S. 295– 299.  Vgl. ebd., S. 298.  SKS 7, 397/ DUN, 618. In Anbetracht dieser begrifflichen Korrelation zwischen Kierkegaards (Johannes Climacusʼ) reflexionsphilosophischer Bestimmung der Innerlichkeit und Hegels reflexionsphilosophischer Bestimmung des Individuationsprinzips ist es notwendig, auf die hegelsche Auffassung der Innerlichkeit in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (Hegel, Werke 3, S. 11– 67) einzugehen. (Zu Funktion und Inhalt der Vorrede: Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 181– 184) Erstens liegt das dort entfaltete Innerlichkeitsverständnis – im Gegensatz zu Hegels Bemerkungen zur romantischen Innerlichkeit in der Ästhetik – strukturell nahe an dem, was Kierkegaard (Climacus) unter Innerlichkeit versteht, weil Hegel dieselbe in der Vorrede nicht, wie sonst bei ihm üblich, als negativ konnotierte, nicht vollziehbare Vermittlung von Innen und Außen (Subjektivität und Allgemeinem) versteht (dazu: Heydebrand, „Innerlichkeit“, in HWPh, Bd. 4, S. 386 ff., 387), sondern als Bewegungsprinzip der Vermittlung selbst (s.u.). Und zweitens lässt sich daran schon im Vorfeld kurz zeigen, worin das gegenhegelsche Innovationspotenzial von Kierkegaards (Climacusʼ) Innerlichkeitsverständnis liegt. Um die Innerlichkeit bei Hegel charakterisieren zu können, muss zunächst daran erinnert werden, dass es Hegel um die Vermittlung dialektischer Gegensätze geht. Diese Vermittlung kennzeichnet Hegel als „Reflexion in sich selbst“ (ders., Werke 3, S. 25), genauer noch: als die „wiederherstellende Gleichheit“ der „ursprüngliche[n] Einheit“ (dialektischer Gegensätze) in Form der „Reflexion im Anderssein in sich selbst“. (Ebd., S. 23) Hegel verfolgt dabei das Identitätsprinzip als Synthesebewegung, die er als „Werden“ bezeichnet, das in einem „Zurückgegangensein in die Einfachheit“ (ebd., 25) besteht; in einer „Sichselbstgleichheit“ (ebd., S. 53), in der die „Ungleichheit“ der dialektischen Gegensätze aufgelöst wird. (Vgl. ebd.) Im hegelschen Werden

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(Synthesebewegung) sind dann sowohl Resultat (Sichselbstgleichheit) als auch die Bewegung zum Resultat (das Auflösen der Ungleichheit) einbegriffen, wie Hegel selbst betont (vgl. ebd., S. 13). Im formalen Zusammenschluss von Resultat und Bewegung (zum Resultat) liegt die Bestimmung der Innerlichkeit. Die Innerlichkeit ist die Auflösung der Ungleichheit (vgl. ebd., S. 53), d. h. die Vermittlung im Werden: ein Neuwerden des Schon-Seins als ein „sich-Hingeben an den absoluten Unterschied“ (zitiert nach: Jean Hyppolite, „Anmerkungen zur Vorrede der Phänomenologie des Geistes und zum Thema: das Absolute ist Subjekt“, in Materialen zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, S. 45 – 53, hier S. 49). So sagt Hegel eindeutig, dass die Innerlichkeit „die reine Selbstgleichheit im Anderssein“ (vgl. ebd., S. 53) ist, was er an anderer Stelle als das „Sichanderswerden[] mit sich selbst“ (ebd., 23) bestimmt. Innerlichkeit ist demnach eine durch sich selbst in sich selbst vertiefende Bewegung, die sowohl Identität als auch Veränderung zusammenführt (Hegel fasst dies auch als „Wahrheit“ bzw. „Ganzheit“: vgl. ebd., S. 24). Als dieses Identitäts-Bewegungsprinzip stellt die Innerlichkeit den – in Bewegung begriffenen (vgl. ebd., S. 37, 57, 65) – „reine[n] Begriff“ (ebd., S. 54) bzw. „die Abstraktion seiner von sich selbst“ („das immanente Selbst des Inhalts“: ebd., S. 53) und zwar als „sich auf sich beziehende Gleichheit und Einfachheit“ (ebd., S. 26) dar. Und das bedeutet nichts anders, als dass die Innerlichkeit die Freilegung des Wesens bzw. des Absoluten ist. (Zur Bedeutung des Begriffs „Wesen“ als Ziel und Basis der Reflexionsbewegung: Charles Taylor, Hegel, übers.von Gerhard Fehn, Frankfurt am Main 1983, S. 338 – 358.). Fasst man dies zusammen, so ergibt sich letztlich eine bei aller begrifflichen Komplexität doch recht einfache systematische Bestimmung der Innerlichkeit: Die Innerlichkeit ist die sich in sich selbst vertiefende Bewegung des Denkens (= „Reflexion in sich selbst“), in der sich das Denken durch sich selbst (= „reine Abstraktion“) transzendiert (= „Ganzheit“) und in seiner (fluiden) Bedeutung freilegt (= „Wahrheit“). So ist Innerlichkeit als „Reflexion in sich selbst“ letztlich die Identität von Erkennendem und Erkanntem; das Erkannte erkennt sich dabei durch sich selbst, ist also seine eigene Voraussetzung und Folge (was Hegel formal als Kreis-Bewegung bestimmt: vgl. ebd., S. 23) Worin bestehen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Hegels und Kierkegaards (Climacusʼ) Innerlichkeitsverständnis? Dies zu beantworten gestaltet sich insofern als schwierig, weil die Innerlichkeit als „Reflexion in sich selbst“ bei Kierkegaard (Climacus) nicht im hegelschen Sinne als Abstraktion des reinen Begriffs, sondern existenzdialektisch, d. h. als eine in den Lebensvollzug implementierte Selbstreflexion des Individuums verstanden wird; es bei Kierkegaard (Climacus) also gerade nicht um eine reine Reflexionsbewegung, sondern um eine von konkreter Wirklichkeitserfahrung gespeiste und auf konkrete Wirklichkeitserfahrung zielende Reflexion geht. Hegel und Kierkegaard (Climacus) haben also grundsätzlich unterschiedliche Voraussetzungen, vor deren Hintergrund die Innerlichkeit als „Reflexion in sich selbst“ thematisiert wird. Die sich dann anhand der formal-strukturellen Merkmale hegelscher Innerlichkeit ausmachenden Korrelationen zur Kierkegaardschen (climacischen) Innerlichkeit können demnach nur als Gemeinsamkeiten bei gleichzeitiger systematischer Differenz bestimmt werden. 1. Auch bei Kierkegaard ist die Innerlichkeit eine als in sich selbst vertiefende Bewegung, was vor allem anhand der „Wiederholung“ (Kapitel 2.3.2.2.2) der „Stille“ (Kapitel 3.2.2.1) und der „Geduld“ (Kapitel 3.3) herausgestellt wird. Als diese bewusstseinsphänomenologischen Bewegungen, die, reflexionsphilosophisch, Ausdruck der Innerlichkeit als „Reflexion in sich selbst“ (SKS 7, 397/ DUN, 618) sind, wird die Bewegung – existenzdialektisch – an das Gelebtwerden des Lebens zurückgebunden.

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

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2. In Kierkegaards existenzdialektischem Denken stellt die Innerlichkeit keine Selbsttranszendierung dar. Das Individuum kann nicht durch sich selbst über sich hinaus gelangen. Dennoch vermag es sich „zusammenzufassen“, einen „gebündelten“ Blick auf sich zu erreichen. Dies geschieht in der Selbst-Gegenwart, in der eine existenz-epistemologische „Ganzheit“ als Offenheit erreicht wird (Kapitel 2.2.3.2). In religiöser Hinsicht wird „Ganzheit“ – stark vereinfacht – in der Epoché der Erbauung erreicht, jedoch in unhintergehbarer Abhängigkeit zum Grund des Daseins (Kapitel 2.3.3.3.3). 3. Bedeutung freizulegen bedeutet bei Kierkegaard nicht, zu einer Abstraktion vorzudringen. Bedeutung liegt nicht im Denken und kann nicht durch Sprache vermittelt werden (Kapitel 2.1.2) – im Gegensatz zu Hegel, der den „Satz“ als „ausgesprochene[] Innerlichkeit“ (ders., Werke 3, S. 61) begreift. Bedeutungsentfaltung im Sinne eines persönlichen Selbst-Verstehens liegt lediglich in einem begleitenden Interpretationsvollzug des durch äußere Gegebenheiten bestimmten und in gesteigerte Erfahrung zu bringenden Lebensvollzugs (Kapitel 2.2.5). Bedeutung im Form der existenziellen SinnFrage kann bei Kierkegaard nur im Gelebtwerden des an einen Idealbezug gebundenen Lebens entfaltet bzw. entdeckt werden – und zwar nur durch die in Erfahrung zu bringende Selbsttätigkeit eines Aneignungsprozesses: „Die Bedeutung liegt in der Aneignung.“ (SKS 5, 389/ DRG, 113) Wird Bedeutung schließlich an den Aspekt der Wahrheit geknüpft, so ist das wahre Existieren bei Kierkegaard die Innerlichkeit als Glaubensvollzug, d. h. ein ständiges von der Kontingenz der Verwirklichung und des Scheiterns bestimmtes Ausbalancieren von Denken und Erfahrung, Ewigkeitsbezug und existenziellem Vollzug (Kapitel 2.3.2.4.1). Wahres Existieren bleibt dabei lediglich die Freilegung der Möglichkeit von Bedeutung im Sinne eines bedeutungsvollen Lebens. 4. Die bei Hegel in die Abstraktion verlagerte und durch das Denken selbst erreichte Identität von Erkennendem und Erkanntem wird bei Kierkegaard grundsätzlich relationsstrukturell verstanden. Identität liegt im existenziellen Selbst-Verhältnis. Identität im Sinne einer vollständigen Selbst-Durchsichtigkeit (= epistemische Einheit von Erkennendem und Erkanntem) wird bei Kierkegaard systematisch verhindert, weil eine solche Selbst-Durchsichtigkeit immer in Abhängigkeit zum kontingenten, vom Individuum nicht zu beeinflussenden Weltgeschehen steht (Kapitel 2.2). In existenziell-religiöser Hinsicht kann jedoch strukturell eine näherungsweise absolute Identität erreicht werden: in der Epoché der Erbauung (Kapitel 2.3.3.3.3). Jedoch ist diese absolute Identität eine negative Identität, weil das Selbstsein über Gott erreicht wird und durch dessen Nicht-Verstehbarkeit selbst in einem Nicht-Verstehenkönnen liegt. 5. Auch bei Kierkegaard stellt die Innerlichkeit die Einheit von Voraussetzung und Folge ihrer selbst dar, was vor allem anhand der bewegungsphänomenologischen Struktur der „Wiederholung“ zum Ausdruck kommt. Im Kontext des existenzdialektischen Lebensvollzugs stellt die Innerlichkeit dann sowohl Aufgabe als auch Ergebnis, Durchführung und Ganzheit, Bewegung und Resultat dar (Kapitel 2.3.3.1.1), was formal den Bestimmungen des hegelschen Werdens entspricht. Existenziell geht es in der Innerlichkeit dann darum, dass das Individuum das wird, was es ist. Folge und Voraussetzung (Selbstsein) fallen im Prozess (Vollzug der Innerlichkeit) zusammen. Dabei muss jedoch betont werden, dass sich das Selbst nicht wie bei Hegel durch sich selbst setzt, sondern gesetzt wird (durch Gott/Grund), d. h. es steht in unhintergehbarer Abhängigkeit (Kapitel 2.3.1). 6. Die Freilegung des Wesens wird bei Kierkegaard im Rahmen der existenziellen Religiosität thematisiert. Dies gipfelt begrifflich in der Erbauung und der Stille als „Versinken“ in Gott als entdeckter Grund des Daseins. Der Begriff „Wesen“ wird von Kierkegaard schließlich explizit in der Grabrede (Kapitel 3.2.4.3) erwähnt. Kierkegaard spricht dort vom „innersten Wesen“ (SKS 5, 464/ DRG, 200), das das Selbst als ein in Abhängigkeit zur Ewigkeit stehendes, jedoch nicht als

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1 Einleitung

feste, ruhende Substanz (Transzendenz), sondern als ein durch Möglichkeit geprägter, fluider Kern der Persönlichkeit bezeichnet (Kapitel 3.2.4.3). Weil Kierkegaard von „innerstem Wesen“ spricht, ergibt sich dennoch eine Korrelation zur hegelschen Innerlichkeit, deren als Bewegung aufgefasste, substanzialisierende Bestimmung des „immanente[n] Selbst[s] des Inhalts“ (ders., Werke 3, S. 53) durchaus auf Kierkegaard übertragen werden kann. Bevor kurz auf das innovative Potenzial von Kierkegaards Innerlichkeitsverständnis gegenüber Hegel Bezug genommen werden kann, ist es wichtig, auf das Verständnis der Erbauung bei Hegel einzugehen.Während nämlich Hegel – zumindest in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes – Innerlichkeit und Erbauung als systematisch unvereinbar herausstellt, ist bei Kierkegaard die Erbauung die höchste existenziell-religiös zu erreichende Form der Innerlichkeit. Erbauung versteht Hegel als das Vordringen zum Wesen (vgl. ders., Werke 3, S. 15 f.), jedoch nicht durch den Begriff und die Einsicht (vgl. ebd., S. 16) und somit nicht im Sinne der (hegelschen) Innerlichkeit, sondern durch Gefühl, Ekstase und Begeisterung (vgl. ebd., S. 15 f.). Erbauung ist in diesem Sinne kein Erkennen, sondern lediglich Anschauung (vgl. ebd., S. 15), bei der sich der Mensch „in der Ansehung des Grundes … überwältigt fühlt[]“ (ebd., S. 20). Hegel qualifiziert solche Anschauung als Selbstsuggestion ab: „Wer nur Erbauung sucht, wer die irdische Mannigfaltigkeit seines* Daseins und des Gedankens in Nebel einzuhüllen und nach dem bestimmten Genusse d[]er unbestimmten Göttlichkeit verlangt, mag zusehen, wo er dies findet; er wird leicht selbst sich etwas vorzuschwärmen und damit sich aufzuspreizen die Mittel finden.“ (Ebd., S. 17) An anderer Stelle bezeichnet Hegel die Erbauung auch als „Fadheit“, weil sie nicht „de[n] Ernst, de[n] Schmerz, die Geduld und Arbeit“ (ebd., S. 24), „die Anstrengung des Begriffs“ (ebd., S. 56) als „lang … hindurchzuarbeiten[den] [Weg]“ (ebd., S. 31) der dialektischen Denkanstrengung kenne, sondern eben nur die Anschauung, in der das „ruhende[ ] Subjekt“ (das Absolute) lediglich kontemplativ und nicht im Werden der Vermittlung freigelegt wird (vgl. ebd., S. 62). [Anm.: Zum Begriff der Erbauung selbst ist anzumerken, dass Hegel sowohl von dem seit dem 17. Jahrhundert auftretenden Bedeutungswandel des Begriffs Erbauung beeinflusst ist, dessen Bedeutung – als (religiöses) Gefühl im Genießen (Gottes) – aber gleichzeitig mitprägt. (Vgl. H.-H. Kummbacher, „Erbauung“, in HWPh, Bd. 2, S. 601– 604, besonders S. 603) Dass Hegel die Erbauung in den Bereich bloßen Gefühls stellt, bringt dieselbe in die Nähe der romantischen Innerlichkeit, zu der Hegel in der Ästhetik schreibt, dass sie „subjektive Totalität“ (ders., Werke 14, S. 199) im „Gemüt“ (ebd., S. 204) sei und der es dabei an „Tatkraft“ (ebd., S. 208) fehle, womit die romantische Innerlichkeit gerade das Gegenteil der Innerlichkeit in der Phänomenologie des Geistes ist, die den reflexionsphilosophischen Ausdruck der dialektischen Denkanstrengung darstellt.]. Bei Kierkegaard werden nun, ebenso wie bei der Innerlichkeit, formale Eigenschaften der hegelschen Erbauung aufgenommen, aber auf ganz eigene Weise in das existenzdialektische Denken transformiert. Die erbauliche Innerlichkeit ist ausgehend von der „Wiederholung“ (Kapitel 2.3.2.2.2) eine auf Ekstasis zielendes und durch Leidenschaftserfahrung geprägtes Streben/Wollen/Verhalten zum Ewigen, die jedoch nicht mit einer auf gefühlsmäßiger Anschauung beruhenden Gottesnähe (oder gar als Streben zur unio mystica) verwechselt werden darf. [Anm.: Zwar wird der von Hegel angemerkte Aspekt der Selbstsuggestion auch von Climacus (in der „Friedhof-Szene“: Kapitel 2.1.3.4) angesprochen (und er gebraucht dabei ebenso wie Hegel die Metapher des Nebels (vgl. SKS 7, 214 / DUN, 382)), doch innerhalb einer impliziten Kritik der ästhetisierenden, romantischen Innerlichkeit abgewendet.] Zwar ist die erbauliche Innerlichkeit bei Kierkegaard, wie Hegel sagt, durch Begeisterung geprägt (eine Terminologie, die besonders vom Pseudonym Frater Taciturnus in den Stadien auf des Lebens Weg verwendet

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

67

wird), jedoch muss Leidenschaft vor allem als Signum für die von Kierkegaard vorgenommene Implementierung konkreter Wirklichkeitserfahrung in den Aspekt der Religiosität gesehen werden (Kapitel 2.3.2.2.2). Leidenschaft meint also in keinem Fall bloßes Gefühl oder Euphorie (ekstatische Begeisterung), sondern Interesse, d. h. von Selbstreflexion und -erfahrung ausgehende, auf Konkretion zielende Praxis. Die durch Leidenschaft getragene erbauliche Innerlichkeit bedeutet dann die Unverstehbarkeit des Nichtverstehbaren in der Verzweiflung (Kapitel 2.3.2.4.1) und im Leiden (Kapitel 2.3.3.2) auszuhalten und nicht vom Verhältnis zum Ewigen abzulassen, sondern sich in die permanente Anstrengung eines beständigen, auf objektiver Ungewissheit gründenden Verhältnisses zu begeben. Erbauliche Innerlichkeit ist bei Kierkegaard also gerade nie Hegels Bestimmung vom (kontemplativen) „Genusse d[]er unbestimmten Göttlichkeit“ (ders., Werke 3, S. 17 (Hervorhebung d. Vf.)). Werden die vorgenommen Bemerkungen zur Innerlichkeit und Erbauung zusammengeführt, so liegt das gegenhegelsche Innovationspotenzial von Kierkegaards Innerlichkeitsverständnis – als „das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott, seine Reflexion in sich selbst …“ (SKS 7, 397/ DUN, 618) – zunächst darin, dass die von Hegel systematisch geschiedenen Bestimmungen der Erbauung und Innerlichkeit zusammengeführt und als ein existenzdialektischer, sowohl Wirklichkeitserfahrung als auch Reflexion einbeziehender Vollzug identitätsgenerierender Religiosität betrachtet werden. Innerlichkeit geht dabei weder in der reinen Reflexion (hegelsche Innerlichkeit) noch in der reinen Gefühligkeit (hegelsche Erbauung) auf. Vielmehr ist die existenzdialektische Innerlichkeit gerade die im Verhältnis zum Wesen (Ewigkeit) stehende und durch dieses Verhältnis getragene Lebensgestaltung, in der sowohl Aktivität und Passivität, Anstrengung und Offenheit, Krisis und Katharsis liegen. Kierkegaards (religiöse) Philosophie der Innerlichkeit zeigt sich dabei als Ambivalenzen aufzeigendes und Einseitigkeit vermeidendes Denken. Besonders hervorheben möchte ich diesbezüglich, dass Hegel die Innerlichkeit eben als Identität des durch sich selbst erkennenden Erkannten versteht, weshalb sich das, was erkannt wird in „seine[r] Bestimmtheit nicht von einem anderen empfangen und aufgeheftet zeigt …“ (Ders., Werke 3, S: 52) Bei Kierkegaard hingegen ist die erbauliche Innerlichkeit maßgeblich durch ein Konzept des Empfangens geprägt (vgl. besonders Kapitel 2.3.2.3.3). Die identitätstheoretische Konsequenz dessen ist, dass Kierkegaard in seiner antihegelschen, nicht-abstrakten Betrachtung des Menschen denselben als unreduzierbar abhängig versteht – und zwar grundsätzlich, sei es im nicht-religiösen oder religiösen Sinne. Absolute Identität (hegelsche Innerlichkeit) bleibt bei Kierkegaard verwehrt, womit vor allem Kierkegaards Blick auf den Menschen Rechnung getragen wird: der Mensch wird immer als komplexes, niemals auf ein einziges (umfassendes) Schema zu reduzierendes Wesen betrachtet. Das bedeutet, dass der zu werden, der man ist (Selbstsein; Identität) überhaupt das Schwierigste ist, was sich denken und tun lässt und nicht durch abstrakte Theorie (Hegel) entstehen oder auch beschrieben werden kann. [Anm.: Letzteres verhindert Kierkegaards sprachkritische Haltung (Kapitel 2.1); im Gegensatz zu Hegel, der in der „Darstellung“ des dialektischen Denkens der Vermittlung/Identität die Kunst des Philosophierens sieht (vgl. ders., Werke 3, S. 13).]. Kierkegaards Innerlichkeitsverständnis ist somit nicht das Vordringen zu einer die Heterogenität stimmig machenden „Einheit … als eine Harmonie“ (Hegel, Werke 3, S. 59; dazu: Ulrich Ruschig, „Randglossen zur ‚Bewegung des Begriffs‘“, in Hegels Aktualität. Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit, hg. von Johann Kreuzer, München 2010, S. 67– 81, hier S. 74), sondern das Vordringen zum sowohl philosophisch-systematischen (theo-

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1 Einleitung

liegt im existenziell-analogen Verständnis der Individuation durch Schopenhauer und Nietzsche. Beide sehen das „principium individuationis“ als Ursache des Leidens,²⁹³ weshalb speziell Schopenhauer in seiner Ethik fordert, die durch den Willen verursachte Ich-Fixierung und Ego-Zentrizität zu überwinden, um sich durch Askese und Resignation aus dem Leiden zu befreien.²⁹⁴ Bei Climacus (und Kierkegaard) sind die Fragen des Willens, der Erfahrung des Leidens, der EgoZentrizität und der Überwindung derselben in die Konzeption der Innerlichkeit als zentrale Merkmale eingelassen. Sowohl die reflexionstheoretische Bestimmung der Innerlichkeit als auch die ethischen und erfahrungstheoretischen Implikationen verorten die Innerlichkeit in den ideengeschichtlichen Kontext des Begriffs Individuation und zeigen gleichfalls, wenn auch lose, auf den Anfang dieser Einleitung (Kapitel 1.1): dass die Innerlichkeit ein auf Reflexion und Erfahrung beruhendes Konzept der Identitätsausbildung ist. Hiervon ausgehend und in Anbetracht der zugespitzten Fragestellung ist der folgende Sachverhalt als der diese Untersuchung vor allem ab Kapitel 2.2 immer begleitende Gedanke zu verstehen: Was bedeutet es, die existenzielle Konkretion der Innerlichkeit zu leben? Dass diese Frage nicht unangebracht, sondern für das Verständnis von Kierkegaards Denken geradezu erforderlich ist, wird deutlich, wenn man in die Ironieschrift blickt, in der es auf der ersten Seite der Einleitung heißt: „Wiewohl der Betrachter … den Begriff mitbringt, kommt es doch darauf an, dass die Erscheinung [Phaenomenet] nicht gekrängt wird, und dass der Begriff als aus der Erscheinung entstehend gesehen wird.“²⁹⁵ Die vorliegende Untersuchung will in ihrer Analyse genau dies zeigen und leisten wollen: strukturelle Begriffssystematik (Konzeption) und praxisbasierte Phänomenologie als aufeinander bezogen und auseinander hervorgehend zu betrachten. Damit kann nicht nur über die theoretische Konzeption die Struktur des Phänomens gezeigt werden, sondern über das erfahr-/wahrnehmbare (und

retischen) als auch existenziell-konkreten (praktischen) Umgang mit der Schwierigkeit von unreduzierbaren Uneindeutigkeiten – und zwar dermaßen, dass keine systematisch-theoretisierende Glättung oder reduzierende Klärung vorgenommen werden kann.  Vgl. Hüllen, „Individuation, Individuationsprinzip“, in HWPh, Bd. 4, S. 295 – 299, hier S. 298.  Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweiter Teilband, Züricher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Bd. II, Zürich 1977, besonders §§ 68 – 71. Zur Erläuterung Schopenhauers Willensverneinung bei gleichzeitigem Vergleich und Bezug auf Kierkegaard, besonders unter dem Aspekt der Resignation: vgl. Jochem Hennigfeld, „Resignation“, in Schopenhauer – Kierkegaard. Von der Metaphysik des Willens zur Philosophie der Existenz, Berlin und Boston 2012 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 26), S. 35 – 46.  SKS 1, 71/ BI, 7.

1.3 Aufgabe und Vorgehen der vorliegenden Untersuchung

69

deshalb beschreibbare)²⁹⁶ Phänomen²⁹⁷ auch die Konzeption in ihrer auf das Phänomen hin basierten Struktur dargestellt werden. Es ist demnach nicht nur Zweck der Untersuchung die Existenzdialektik (die dialektische Reziprozität von Theorie und Praxis) als praxisorientierten Theorieentwurf ernst zu nehmen, sondern gleichfalls die Theoriebildung durch Existenzdialektik zu betrachten.

 Vgl. Pia Søltoft, „Kierkegaard and the Sheer Phenomenon of Love”, in KSYB 2013, S. 289 – 306, hier S. 290. Dazu genauer Kapitel 2.1.2.3.1.  Dass das Phänomen Innerlichkeit sich, wie Kierkegaard lanciert, gerade nicht im Äußeren darstelle, sondern in der „Verborgenheit“ verbleibt, und sich damit der Wahrnehmung entziehe, gilt – rein analytisch – lediglich für die Außenbetrachtung durch andere. Folgt man Kierkegaard, so ist die Innerlichkeit als subjektives Phänomen nur für das erlebende Subjekt wahrnehmbar. Jedoch wird dies durch die vorliegende Untersuchung korrigiert, da sich auch die „verborgene“ Haltung (Innerlichkeit) im äußeren Handeln manifestiert, also gerade für andere wahrnehmbar wird (u. a. Kapitel 2.3.3.4 und 3.2.3/5).

2 Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken 2.1 Hinführung: ¹ Sprache und Kommunikation 2.1.1 Vorbetrachtung In Absetzung zum abstrakten wissenschaftlichen Systemdenken des Idealismus‘ betont Kierkegaards Pseudonym Johannes Climacus, dass vergessen wurde, „was Existieren ist und was Innerlichkeit zu bedeuten hat.“² Die Hervorhebung von „Existieren“ und „Innerlichkeit“ zeigt deutlich, dass Climacus sie nicht nur als unmittelbar zusammengehörig, sondern als Einheit versteht: Existieren ist Innerlichkeit. Und sein erklärtes Ziel ist es, auf das Existieren / die Innerlichkeit aufmerksam zu machen. Notwendig muss dies bei einem Schriftsteller und Philosophen durch Sprache geschehen. Wie gestaltet sich das Verhältnis von Innerlichkeit und Sprache und Kommunikation? Dieser Frage liegt das Problem zugrunde, das sich ergibt, wenn Climacus notiert: „Existenz-Wirklichkeit lässt sich nicht mitteilen …“³ Dies heißt eben, dass sich die Existenz, also die Innerlichkeit, die innerhalb der durch das Individuum nur singulär erfahrbaren („verborgenen“) Wirklichkeit reflexiver Selbstbezüglichkeit (Subjektivität) verankert ist, der sprachlichen Objektivierung entzieht. Und der daraus ersichtliche Hiatus zwischen Existenz und Sprache, Erfahrung und Abstraktion,⁴ zwingt eben zu der  Eine allgemeine Einführung zur Unwissenschaftlichen Nachschrift wird ausgespart. Zur Entstehungsgeschichte: Kim Ravn, „The Genesis of the Concluding Unscientific Postscript“, in KSYB 2005, S. 1– 23. Ebenfalls: Garff, Kierkegaard, S. 426 ff. Zur Rezeptionsgeschichte: Heiko Schulz, „Rezeptionsgeschichtliche Nachschrift oder die Nachschrift in der deutschen Rezeption“, in KSYB 2005, S. 351– 399. Zur subtilen Beobachtung vieler hermeneutischer Sachverhalte wie Textgestaltung, Titel, Aufbau etc.: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 29 – 54. Eine sehr empfehlenswerte und überblicksartige Zusammenfassung des Inhalts findet sich bei: Michael Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, Paderborn, München, Wien und Zürich 1994, S. 302– 319.  SKS 7, 220/ DUN, 390; gleicher Wortlaut: SKS 7, 226/ DUN, 398.  SKS 7, 327/ DUN, 526.  Zwischen Existieren (dem praktischen Vollzug) und Sprache gibt es kein Spiegel- bzw. Abbildverhältnis, weil Sprache das „Abstrakte[]“ ist, „das keiner … ist.“ (SKS 7, 462 / DUN, 703 (Hervorhebung d.Vf.)) Eine Korrektur dieses von Kierkegaard lancierten Hiatus zwischen Sprache/ Objektivität und Existieren/Subjektivität wird im Verlauf des vorliegenden Kapitels 2.1 und dem im nächsten Kapitel folgenden Unterpunkt 2.2.5.3 vorgenommen. Dennoch: In dem von Kierkegaard lancierten Sinne ist auch Philipp Schwabs, einzig in Andeutungen vorhandenes, in Bezug auf die Sprache angewandtes Innerlichkeitsverständnis zu charakterisieren (in: Ders., Der Rückstoß der DOI 10.1515/9783110532036-002

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

71

Frage: Wie wird einem Gegenstand, der der Sprache entzogen ist, mit Sprache begegnet? Wie kann über die Innerlichkeit gesprochen werden? Zumal Kierkegaard (Climacus) hunderte von Seiten darauf verwendet, darüber zu sprechen und somit das im Innen „Verborgene“ äußert. Zu beachten ist hierbei, dass Kierkegaard sowohl ein in die Sprache verliebter⁵ Philosoph⁶ als auch ein „ins Denken verliebter Schriftsteller“⁷ ist.⁸ Das Verhältnis

Methode): 1. Innerlichkeit lässt sich nicht zum Ausdruck bringen (ebd., S. 26 f., 104, vgl. auch die Ausführungen zur „Doppelreflexion“: ebd., S. 103); sie entzieht sich der direkten Mitteilung (ebd., S. 119); ist dem Außen absolut inkommensurabel (ebd., S. 502– 506). 2. Sie wird als „Re-flexion“, als „Selbstverhältnis“ (ebd., S. 93) bezeichnet, das genauer ein „unausschöpflich“ in sich selbst reflektiertes Verhältnis des Individuums zu sich beschreibt (ebd., S. 116). 3. Innerlichkeit kommt nur dem Einzelnen zu (ebd., S. 105, 110, 140) und steht im Gegensatz zum Allgemeinen (ebd., S. 110). Allein das Allgemeine kann in der Sprache ausgedrückt werden (S. 95 ff.). Somit kann Innerlichkeit nur vom Individuum persönlich verstanden werden (wobei Schwab nicht klärt, wie hierbei der Begriff des Verstehens aufzufassen ist). – Demnach ist das Innerlichkeitsverständnis bei Schwab wie folgt zu bestimmen: Sie ist eine Reflexion des Individuums auf sich (Sich-zu-sichVerhalten); das allein durch das Individuum zu begreifende Verstehen seiner selbst. Trotzdem ist sie kein Denken,weil dieses allein das Allgemeine erfasst. Dabei bleibt bei Schwab unklar,welches Verhältnis zwischen Reflexion und Denken besteht,womit ebenfalls das Innerlichkeitsverständnis unklar bleibt.  Zum Sachverhalt, dass Kierkegaard ein Sprachliebhaber war: besonders (mit vielen Beispielen belegt) Katrin Dieckow, Gespräche zwischen Gott und Mensch. Studien zur Sprache bei Kierkegaard, Göttingen 2009, S. 13 – 31. Ebenfalls: Hirsch, Wege zu Kierkegaard, S. 54– 64. Dass Kierkegaard in seinem extrem bewussten Sprachgebrauch zum Perfektionismus, sogar zur Pedanterie neigte, zeigen seine NB-Aufzeichnungen zur Interpunktion: SKS 20, 98 – 101, NB:146 – 150/ DSKE 4, 109 – 112.  Dass Kierkegaard Philosoph ist, ist – zumindest außerhalb der Kierkegaard-Forschung – keine Selbstverständlichkeit. Kierkegaard trifft der Umstand, dem sich jeder eigenständige Denker ausgesetzt sehen muss und den Hans Blumenberg einmal so formulierte: „Wer große Erkenntnisse zu haben oder auch nur haben zu können vorgibt, gerät in das Feld heftiger Affinitäten wie Aversionen, Anhänger- wie Gegnerschaft.“ (Ders., Höhlenausgänge, S. 188). Die Affinität kommt bei all jenen Rezipienten zum Ausdruck, deren Auseinandersetzungen mit Kierkegaard von Bewunderung und Identifikation begleitet und geprägt sind (dazu: Kapitel 1.2.1). Die Aversion zeigt sich hingegen nicht einfach nur in kritischen oder polemischen Angriffen gegen Kierkegaards Denken, sondern auch darin, keinen Bezug auf ihn zu nehmen. Bezüglich der Ignorierung Kierkegaards ist besonders der Artikel „Philosophie“ im HWPh, Bd. 7, interessant. In folgenden, zur Einordnung Kierkegaards relevanten Abschnitten findet sich keine Notiz zu ihm: IV.F. Die Einteilung der Philosophie von Kant bis zum Beginn des 20. Jh., S. 731– 742 (von Ulrich Dierse); IV.G. Phänomenologie, Existenzphilosophie und Seinsdenken, S. 742– 752 (von Bernhard Waldenfels); VI Literarische Formen der Philosophie, S. 848 – 858 (von Pierre Hadot). Interessant ist zudem, dass im seit 1888 erscheinenden PJdG erst 1939 der erste Kierkegaard-Artikel – Elisabeth Niessen, „Der anthropologische Geistbegriff bei Sören Kierkegaard“, in PJdG 1939, S. 59 – 84 und S. 181– 201 – erscheint, was im Verhältnis zur theologischen Rezeption Kierkegaards, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt, sehr spät ist.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

zwischen Philosophie und Schriftstellertum zieht die Konsequenz nach sich, dass man aus Kierkegaards Schriften und ganz besonders der Unwissenschaftlichen Nachschrift die philosophischen Aspekte am ehesten herauskonstruieren kann, um sie (die Aspekte) so für die Wissenschaft verfügbar zu machen. Vollständig einholen wird man Kierkegaard damit aber nicht: er entgleitet bei genauerem Hinsehen immer wieder und entzieht sich einer festlegenden Analyse, durch die filigrane Gestaltung seiner Texte und deren Mehrdeutigkeiten sowie der Vielschichtigkeit seiner Herangehensweise an das Thema „Existenz“. Eine Untersuchung der Innerlichkeit muss diese Hybridität zwischen Philosophie und Schriftstellertum berücksichtigen. Daher soll mit den folgenden Ausführungen auch klar gemacht werden, wie Kierkegaard (Climacus) sein Denken präsentiert und mit welcher komplizierten Schrift es der Leser hier eigentlich zu tun hat. Verbunden mit der oben gestellten Frage nach der Versprachlichung der Innerlichkeit führt dies zu folgendem Leitthema der nachfolgenden Diskussion: In welcher Art und Weise (Wie) spricht Climacus über die Innerlichkeit/ Existieren (Was)? Hierfür wird Kierkegaard der Analyse wegen in Philosoph und Schriftsteller geteilt. Zuerst wird das philosophische Sprechen und die darin liegenden Kommunikations- und Versprachlichungsstrategien der Innerlichkeit offen gelegt. Danach folgen, mit gleicher Absicht, die in der Unwissenschaftlichen Nachschrift angewandten Taktiken Kierkegaards als Schriftsteller. Da es bei aller Kommunikationsabsicht und dem Verhältnis von Sprache und Existenz auf die Problematik der Aneignung, indirekten Mitteilung und Mäeutik ankommt (durch die die existenzielle Praxis als Ausgangs- und Endpunkt aller Mitteilung bei Kierkegaard bestimmt ist), bleibt die Diskussion auf diese Themengebiete zurückgebunden. Anzumerken ist aber, dass deren komplexes Analysefeld vorausgesetzt und in die hier zu führende Diskussion integriert wird.⁹

 Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 1.  Zum Zusammenhang von Philosophie und Schriftstellertum besonders: Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers. Auch: Elisabeth Gräb-Schmidts Ausführungen zu Kierkegaards Schriftstellertum, das es ihm ermöglicht, eine Stellung zwischen theologischer Theorie, praktischer Philosophie und faktischer Wirklichkeitsbezogenheit einzunehmen: Dies., „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie“, in KSYB 2007, S. 22– 45.  Zur Aneignung besonders: Ringleben, Aneignung, besonders S. 97– 156. Zur indirekten Mitteilung (in der Unwissenschaftlichen Nachschrift), sowie zur umfassenden Angabe von Sekundärliteratur besonders: Schwab, Der Rückstoß der Methode, S. 80 – 147.; zur Übersicht der deutschsprachigen Sekundärliteratur bezüglich der Mitteilung in der Unwissenschaftlichen Nachschrift: Schulz, „Rezeptionsgeschichtliche Nachschrift oder die Nachschrift in der deutschen Rezeption“, besonders S. 388 – 396. Hervorzuheben sind m. E.: Anderson, „Kierkegaards Theorie der Mitteilung“; Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 150 ff.; Evans, Kierkegaard’s Fragments and Postscript, S. 1– 16 und S: 95 – 114; Hirsch, Kierkegaard-Studien III, S. 127– 145; Madeleine Kim, Der

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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2.1.2 Philosophisches Sprechen Philosophisches Sprechen kennzeichnet sich durch Verbalisierung konsistenten Denkens in Form von hermetischer Diktion. Philosophie ist darum bemüht, mit eindeutigen Begriffen Mehrdeutigkeit zu vermeiden. Um Klarheit zu erreichen, bedient sich philosophisches Sprechen der Propositionalisierung.¹⁰

2.1.2.1 Propositionalisierung Mit der Propositionalisierung wird durch Sprache, die immer eine Form der Objektivierung ist, Wissen in Aussagen (in sinnvollen Sätzen) präsentiert. Dieses Wissen ist objektiviertes Wissen über einen Wissensgegenstand, das zum philosophischen Analyseobjekt gerät.Wolfgang Wieland hält hierzu prägnant fest: „Die Propositionalisierung bezeichnet ohne Zweifel ein universal anwendbares Methodenkonzept der Philosophie. Denn kein Gegenstand ist zu abgelegen oder zu verborgen, als dass man nicht doch irgendeine mitteilbare Aussage in bezug auf ihn formulieren könnte, die sich zum Gegenstand einer propositionalen Analyse und damit zugleich zum Primärobjekt der philosophischen Reflexion machen ließe.“¹¹ Das Gegenteil behauptet Climacus jedoch in Bezug auf die Innerlichkeit. Denn die Verfügbarmachung des Wissensgegenstandes durch Propositionalisierung ist bei dem „Gegenstand“ der Existenz / der Innerlichkeit von vornherein begrenzt. Climacus hält programmatisch fest: „Existieren ist etwas ganz anderes als Wissen.“¹² Der Begriff des Existierens setzt bei Climacus den Aspekt der Subjektivität voraus; der hier von Climacus verwendete Begriff des Wissens zielt auf proposi-

Einzelne und das Allgemeine. Zur Selbstverwirklichung bei Sören Kierkegaard, Wien und München 1980, S. 59 – 74; Marius Timmann Mjaaland, „Giving Birth, or Kierkegaard’s Socratic Maieutics“, in Kierkegaard and the Greek World, Tome I, Socrates and Plato, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Farnham und Burlington 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2), S. 115 – 146, besonders S. 137– 143; Purkarthofer, Kierkegaard, S. 56 – 71; Schultzky, Die Wahrnehmung des Menschen bei Søren Kierkegaard, S. 122 – 138; Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 73 – 83; Tilo Wesche, Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2003, besonders S. 167– 174.  Zur Propositionalisierung: Gabriel Nuchelmans, „Proposition“, in HWPh, Bd. 7, S. 1508 – 1525. Wichtig für die folgende Betrachtung ist: Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, § 13, S. 224– 237, besonders S. 226 – 229. Wieland diskutiert das Problem der Propositionalisierung vor dem Hintergrund der sokratischen Mäeutik und Platons Schriftkritik, analysiert aber allgemeingültige Merkmale dieser wissenschaftlichen Methode.  Wieland, Platon und die Formen des Wissens, S. 226.  SKS 7, 271 / DUN, 456.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

tionale Objektivität. Würde dieser Wissensbegriff auf das subjektive Existieren angewendet, würde dies bedeuten, dass das Existieren als „Objekt von mentalen oder verbalen Einstellungen des Fürwahrhaltens“¹³ angesehen wird, man also (lediglich) einen operationalisierbaren Begriff des Existierens besitzt. Doch Climacus geht es nicht um sprachliche Vergegenständlichung (Propositionalisierung), durch die das Wissen nicht an den Träger des Wissens gebunden ist, sondern um die eigene Person als lebendige Vergegenwärtigung¹⁴.¹⁵ Davon ausgehend sieht Climacus das grundsätzliche Problem, dass alle sich auf Objektivität stützende Umgangsweise mit dem eigenen Leben, eine Distanz zwischen dem Menschen und dem von ihm zu lebenden Leben bedeutet: einen operationalisierbaren Begriff des Existierens zu haben, bedeutet dann, das, was ins Dasein gesetzt, was erlebt werden soll, mit Distanz zu betrachten. So hält er fest, dass zwar alles Mögliche über das Leben gewusst werden kann (auf Distanz gehalten wird), dass aber nicht gelebt wird: „[D]ie Wissenschaft wendet sich immer mehr von den ursprünglichen Eindrücken [primitive Indtryk] der Existenz ab, es gibt nichts mehr zu erleben, nichts zu erfahren, alles ist fertig …; man liebt nicht, glaubt nicht, handelt nicht, aber man weiß, was Liebe, was Glaube ist.“¹⁶ Mit dieser idealismuskritischen Perspektive bestimmt Climacus zugleich sein eigenes Verständnis des Verhältnisses von Wissen und Existenz. Existenzwissen wird als konkret zu erlebendes Vollzugswissen gekennzeichnet: „In bezug auf alles Erkennen, bei dem es gilt, dass der Gegenstand des Erkennens die Innerlichkeit der Subjektivität selbst ist, gilt es, dass der Erkennende in diesem Zustand sein muss.“¹⁷ Climacus sagt damit zwei Dinge: Erstens, dass der persönliche Er Nuchelmans, „Proposition“, in HWPh, Bd. 7, S. 1508 – 1525, hier S. 1509.  Zur Vergegenwärtigung: vgl. Kapitel 2.2.3.  Aus diesem Grundsatz heraus ist auch Kierkegaards (Climacus’) berühmtes Postulat zu verstehen, dass sich eines überhaupt nicht als ein An-Sich (also als ein rein propositionalisierbarer Gegenstand des Wissens) denken ließe: das Existieren (vgl. SKS 7, 300/ DUN, 492 f.), zu dem Hans Blumenberg vermerkt: „Damit ist doch die Bestreitung der Möglichkeit gemeint, die Reflexion könne das Ich denken, während sie es gerade bezüglich dessen zerstört, was ihm ‚wesentlich‘ sei: sein Existieren.“ (Ders., Beschreibung des Menschen, S. 254) Anders gesagt: Das Ich, oder das Selbst, wie es bei Kierkegaard heißt, kann nicht als ein abstraktes, sondern nur als ein lebendiges, im Erfahrungsvollzug seiendes gedacht werden, wobei die Terminologie des „Gedachtwerdens“ schon wieder an der philosophischen Prämisse Kierkegaards vorbeigeht, die eben darin besteht, dass sich das Individuum nicht denkend auf sein zu lebendes Leben konzentriert und fokussiert, sondern dasselbe in Erfahrung bringt und sich aus der Erfahrung heraus nachträglich verstehen lernt. Der Reflexion liegt die Erfahrung zugrunde. Eben deshalb, weil die Erfahrung (die Wirklichkeit) der Reflexion (dem Denken) vorausgeht, kann das Existieren nicht als ein An-Sich gedacht werden.  SKS 7, 314 f. / DUN, 511.  SKS 7, 57/ DUN, 183 (Hervorhebung d.Vf.).

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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lebnisvollzug (Existenz), also die in die eigene Subjektivität hineinverlegte Wahrnehmung, kein letztgültig propositionalisierbarer Gegenstand wissenschaftlicher Objektivität ist, über den aus der Perspektive der dritten Person adäquat gesprochen werden kann.¹⁸ Und zweitens: Beim Existieren geht es nicht darum, zu wissen, dass man existiert, sondern darum, zu existieren. Es geht um den eigenen, singulär erlebten Vollzug. Existieren ist eine Form nicht-propositionalen Wissens,¹⁹ das durchaus objektiviert in Sprache gefasst, aber nicht in seiner Umfassendheit (der Komplexität eigener Erfahrung und all ihrer Nuanciertheit) durch das Denken eingeholt oder durch Sprache abgebildet werden kann.²⁰ Mit dem sachsprachlichen Gegenstand der Existenz ist sodann die auf das konkrete Leben zielende Unmittelbarkeit der Erkenntnis benannt: die das bisherige Leben und den Umgang mit Realität bereichernde Erkenntnis durch Erfahrung. Wenn sich nun aber das Existieren / die Innerlichkeit als Erleben der Sprache entzieht, wie kann sie dann vermittelt werden? Vermittlung heißt ja, dass ein kommunikatives Verhältnis zu einer gegenüberstehenden Person eingegangen wird. Für Climacus gibt es zwei modellartige Kommunikationsmethoden. Die erste und unzureichende ist eine Methode, die auf Propositionalisierung beruht und durch eine innere Ambivalenz von Un-Eindeutigkeit gekennzeichnet ist. Die zweite ist eine Methode des Verweisens, durch die die Unzulänglichkeit der ersten Methode produktiv Verwendung findet, indem sie die Aneignung ermöglicht.

 Dass Existieren in diesem Sinne etwas anderes als Wissen sei, behandelt Climacus ausführlich im ersten Teil der Unwissenschaftlichen Nachschrift, wenn er alle objektiv-wissenschaftliche Herangehensweise an das Christentum und das religiöse Existieren destruiert. (Dazu genauer u. a.: Wolfdietrich von Kloeden, Kierkegaard und Sokrates. Sören Kierkegaards Sokratesrezeption, Bochum 1991, S. 31 f.; sowie: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 30 – 44.) Einerseits handelt er dies anhand des historischen Sach- und Fachwissens ab, andererseits unterminiert er alles objektive Wissen anhand seiner Kritik der systemischen Spekulation des Idealismus und seines metaphysischen Rationalismus. Bezüglich des historischen Wissens erlangt der Mensch einzig Wissen in Form von Meinung. Im idealistischen Denken hingegen ist der Mensch durch metaphysischabsolutes Wissen gekennzeichnet. Der erste Fall ist eine unzureichende, der zweite eine zu abstrakte Bestimmung des Menschen für Climacus.  Zur genaueren Kennzeichnung des nicht-propositionalen Wissens unter Rückbindung der Ausführungen an das Problem der Erfahrung: vgl. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, § 13, S. 224– 237, besonders S. 230 – 234. Vgl. auch Kapitel 2.2.5.3.  Eben dies wäre nur im Umgang mit einem Gegenstand propositionalen Wissens möglich, dann aber zu dem (existenziellen) Preis, dass „[j]eder Akt der Propositionalisierung … zum Verzicht auf ein Stück Unmittelbarkeit [zwingt], die sich als solche durch keine Reflexion … wieder einholen läßt.“ (Wieland, Platon und die Formen des Wissens, S. 227).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.1.2.2 Kommunikationsmethode I: Un-Eindeutigkeit Eine Methode, die die Verfügbarkeit von Wissen (Propositionalisierung) gewährleistet und zugleich den Anspruch der Philosophie nach Klarheit einzulösen verspricht, ist die Definition. „Was ist eine Definition?“ fragt Hans Blumenberg und antwortet: „Sprachlich tritt sie auf als Ersetzung eines Ausdrucks durch einen anderen. Logisch wird dies beschrieben als Äquivalenzverhältnis des einen Ausdrucks zu dem anderen. Die Definition ist die Regel, nach der ein Ausdruck äquivalent durch einen anderen ersetzt werden kann.“²¹ Zugleich wird in der Definition ein (philosophischer) Begriff näher bestimmt (umgrenzt) und in seinen Merkmalen prädiziert.²² Nochmal mit Blumenberg gesprochen: „Der Begriff ist der Komplex der Merkmale, nach denen wir Vorstellungen als zugehörig oder unzugehörig zu einem Gegenstand ein- oder aussortieren können.“²³ Hierbei muss gefragt werden: Ist es möglich, mithilfe der Ersetzungsfähigkeit durch Definitionen als auch durch die Bestimmung des Begriffs mithilfe seiner Merkmale zur Eindeutigkeit eines Begriffs zu gelangen? Gottfried Wilhelm Leibniz hat darin ein grundlegendes Problem nicht nur des philosophisch-wissenschaftlichen Sprechens erkannt.²⁴ Nach Leibniz gibt es kein adäquates Beispiel für Eindeutigkeit, denn etwas vollständig zu verdeutlichen bedeutet im Fall einer Definition, dass alle definierten Begriffe selbst wieder durch Definitionen gestützt werden.²⁵ Der dabei entstehende infinite Regress von Definitionen wird jedoch praktisch irgendwann

 H. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, 34.  Dazu auch: G. Gabriel, Definition. In: HWPh, Bd. 2, 31– 42, 31 f. Auch Hans Blumenberg hält fest: „Eine Definition ist vor allem eine Differenzbestimmung. Sie soll sicherstellen, dass eine Sache nicht mit einer anderen verwechselt werden kann.“ (Ders., Beschreibung des Menschen, 504) Diese Bestimmung der Definition wird gewissermaßen aus einem konträren Blickwinkel zur oben (von Blumenberg) zitierten Definition der Definition gegeben. Definition bedeutet immer eine Grenzziehung bzw. Eingrenzung von Bedeutungsgehalt. Als äquivalentes Ersetzungsverhältnis (oben) ist die Definition innerhalb der Grenzen der durch sie angezeigten Bedeutung bestimmt. Als Differenzverhältnis (hier) erscheint sie außerhalb des durch sie gezogenen Bedeutungsfeldes.  Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlaß hg.von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2007, S. 108.  Bei der folgenden Darstellung beziehe ich mich auf den erhellenden Artikel von Josef Simon, „Verlieren und Finden der Sprache“, in PJdG 1984, S. 238 – 249, besonders S. 238 – 243. Zur Erläuterung des Problems der Uneindeutigkeit der Sprache müsste sich nicht zwingend auf Leibniz bezogen werden. Es könnte ebenso mit Hegel oder Wittgenstein (etc.) gearbeitet werden. Dazu der Artikel von Stephan Körner, „Exaktheit“, in HWPh, Bd. 2, S. 848 f. Ich bleibe aber auf Leibniz bezogen, weil dieser sich exzellent zur Analyse Climacus’ eignet – wie sich im Folgenden gleich zeigt.  Zu Leibniz’ Definitionsverständnis auch: Gottfried Gabriel, „Definition“, HWPh, Bd. 2, S. 31– 42, hier S. 33 f.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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abgebrochen. Dadurch bleibt alles Definieren auf Undefiniertes angewiesen. Es wird somit also nicht gewusst, ob sich in dem Verlassen auf das Unbestimmte nicht letztlich Widersprüche innerhalb der schon vorgenommenen Definitionen befinden. Da aber endloses Definieren praktisch unmöglich ist, muss man „es bei dem Anschein bewenden lassen, der dadurch entsteht, dass die Rede als hinreichend artikuliert akzeptiert ist, bevor sich ein Widerspruch gezeigt hat.“²⁶ Selbst in der Philosophie entsteht Deutlichkeit einzig dadurch, dass der Verdeutlichungsprozess nur so weit geht,wie es in dem fraglichen Zusammenhang als notwendig erscheint. Das hat aber zur Folge, dass weder eindeutige Widerspruchsfreiheit noch endgültige Einsicht über die zu besprechende Sache erlangt wird. Für die Kommunikation bedeutet das, dass sich über einen „Gegenstand“ niemals so unterhalten werden kann, dass die Gesprächspartner dasselbe über den „Gegenstand“ verstehen. „Das wäre definitiv nur zu entscheiden, wenn in der fraglichen Rede ‚etwas‘ in einer von der jeweiligen subjektiven Befindlichkeit abgelösten, absoluten Weise oder als die Sache selbst adäquat verdeutlicht wäre.“²⁷ Und selbst wenn nicht von dem leibnizschen Ideal einer vollkommen eindeutigen Sprache ausgegangen wird, bleibt nicht nur im wissenschaftlich, sondern auch und vor allem im alltäglich Gesprochenen immer ein Rest von Unklarheit zurück, der akzeptiert werden muss, um überhaupt kommunizieren zu können. Hier kann nun mit Climacus eingesetzt werden. Die gewöhnliche Kommunikation zwischen Mensch und Mensch ist völlig unmittelbar, weil die Menschen im allgemeinen unmittelbar existieren. Wenn der Eine etwas vorträgt und der Andere dasselbe wörtlich anerkennt, so nimmt man an, dass sie einig sind und einander verstehen.²⁸

Zuerst macht Climacus deutlich, dass Kommunikation und Existieren zusammengehören,²⁹ was unter der Prämisse gedacht werden muss, dass es Climacus um die Vermittlung des Existierens, des Sich-Aneignens des Existierens geht. Climacus spricht hierbei jedoch von der unmittelbaren Kommunikation. „Unmittelbarkeit“ wird von Climacus immer als die an der gegenständlichen, äußeren

 Simon, „Verlieren und Finden der Sprache“, in PJdG 1984, S. 238 – 249, hier S. 239.  Ebd., S. 246.  SKS 7, 74/ DUN, 201.  Auf den Zusammenhang von Kommunikation und Existenz macht Kierkegaard (Climacus) schon in Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est aufmerksam. Dazu: Glöckner, „Das Versprechen: Überlegungen zu Kierkegaards theologischer Grundlegung der Sprache ausgehend von dessen Wiederholungsschrift“, in KSYB 2002, S. 36 – 51, hier S. 47 ff.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

und propositionalisierbaren Welt orientierte Einstellung begriffen.³⁰ Spricht jemand unmittelbar mit jemandem, so versteht der Gegenüber die gesprochenen Worte, als gäbe es keine Unklarheit in der durch sie vermittelten Bedeutung. Der zweite Satz des Zitats sagt dann nichts anderes, als dass sich an Worten und deren resultativen und vermeintlich eindeutigen Aussage festgehalten wird; dass also das Gesprochene nicht in Frage steht. Wie durch die im nächsten Abschnitt dargelegte Kommunikationsmethode gezeigt werden wird, verwirft Climacus diese Art von Kommunikation aus mehreren Gründen. Daher kann schon jetzt festgehalten werden, dass Climacus gegenüber dem unmittelbaren Sprechen eine sprachkritische Haltung einnimmt, die der Sprache als Medium vermeintlicher Eindeutigkeit, ebenso wie Leibniz, nichts abgewinnen kann.³¹ Die Folge dieser Sprachkritik ist, dass mit der nicht hintergehbaren Un-Eindeutigkeit umgegangen werden muss. Climacus unternimmt dies, indem sich sein sachliches Sprechen über die Innerlichkeit durch eine notwendige Offenheit und Uneindeutigkeit auszeichnet, die zugleich so konkret ist, dass die Sache erhellt und Orientierung zur Verständigung gegeben wird. Climacus macht sich die Un-Eindeutigkeit allen Sprechens zunutze und überführt dies in ein für die Aneignung geeignetes, konstruktives Kommunikationsprinzip.

2.1.2.3 Kommunikationsmethode II: Verweisen Alles mitteilende Sprechen zielt auf einen mehr oder minder kommunikablen Sachverhalt, der an den Hörer/Leser herangetragen werden will. Mit Hilfe der Semiotik Charles Sanders Peirce’ kann dieser Kommunikationsprozess in seiner Dreigliedrigkeit wie folgt dargestellt werden:³² Es gibt erstens ein signifikantes Zeichen, mit dem zweitens auf ein – gleichgültig, ob anwesendes oder abwesendes – signifikates Objekt verwiesen wird, wobei das Verweisen drittens einem Interpretationsprozess des Interpreten unterworfen ist, der den Bezug zwischen Zeichen und Objekt herstellt und für sich anwendbar macht (Interpretationsresultat beziehungsweise Interpretant³³). Für

 Zum Begriff Unmittelbarkeit, sehr aufschlussreich: Gerhard Schreiber, „Glaube und ‚Unmittelbarkeit‘ bei Kierkegaard“, in KSYB 2010, S. 391– 425, hier S. 392– 396.  Kierkegaards Kritik an der vermeintlichen Eindeutigkeit der Sprache bringt er zudem sowohl in Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est als auch in der Wiederholung zum Ausdruck. Zu De omnibus dubitandum est: Dieckow, Gespräche zwischen Gott und Mensch, S. 14. Zur Wiederholung: Glöckner, „Das Versprechen“, S. 45.  Dazu: Hermann Deuser, „Semiotik“, in TRE, Bd. 31, S. 108 – 116.  „Der Interpretant ist … die intellektuelle Bezugnahme auf eine Zeichen-Objekt-Konstellation, und zwar so, dass diese in gewisser (d. h. auch: ganz unterschiedlicher) Weise durch den Inter-

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Climacus wird diese Systematisierung dienlich, indem gesagt werden kann: Climacus nutzt die Sprache (Zeichen), um auf das Existieren (Objekt) zu verweisen, und der Leser das Verhältnis von Sprache und Existieren so interpretiert, dass er das Gesagte für sein eigenes Existieren zur Anwendung bringt. Dieser Kommunikationsprozess zwischen Climacus und Leser beschreibt das Problem der Aneignung, die von mäeutischem, den Empfänger berücksichtigendem Sprechen bedingt wird.³⁴ Alles mitteilende Sprechen ist bei Climacus dieser Perspektive der Aneignung unterworfen.³⁵ Um die Aneignung beim Leser zu initiieren³⁶ und ihn auf sein eigenes Existieren zu stoßen, benutzt Kierkegaard die indirekte Mitteilung. Indirekt ist die Mitteilung dann, wenn der Autor hinter dem Gesagten verschwindet und das bedeutet bei aller Existenzmitteilung, dass nur der Interpretant in den Vordergrund rückt; das Gesagte also vom Leser hermeneutisch so aufgearbeitet wird, dass es zur Selbstanwendung gerät.³⁷ pretanten vollzogen, eröffnet, beantwortet, gedacht (etc.) wird – kurz: mit genau bestimmbarem Verhalten (habit) verbunden wird, letzten Endes einem Verhalten, das eintreten würde.“ (Hermann Deuser, „Pragmatische oder pragmatizistische Religionsphilosophie?“, in ders., Religion: Kosmologie und Evolution. Sieben religionsphilosophische Essays, Tübingen 2014, S. 149 – 172, hier S. 167)  Vgl. Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 62.  Was die Sprache als Träger semantischer Bedeutung nicht durch Benennung abbilden kann (den Gehalt dessen, was es bedeutet zu existieren), muss auf komplexere Weise, durch die mäeutisch-mitteilungstheoretische Methode versucht werden (in der die Sprache nur Mittel zum Zweck, nur Träger und Bestandteil einer umfassenderen Vermittlung ist). Dieser Versuch von Wirklichkeit gespeister und auf Wirklichkeit zielender Vermittlung bezeichnet die – hier auf mitteilungstheoretischer Ebene – Existenzdialektik; die Übersetzung einer in Abstraktion (Sprache) kanalisierten Wirklichkeit in konkrete Existenzrealisation (dazu Kapitel 2.1.4).  Es muss darauf hingewiesen werden, dass vor allem der Aspekt der mäeutischen Initiierung des persönlichen Existenzvollzugs darauf hinweist, dass die Mitteilungs- und Aneignungsproblematik bei Kierkegaard auch unter dem Aspekt der sozialen Erfahrung gesehen werden muss. Denn erstens ist Aneignung an die das Individuum konfrontierende, äußere Wirklichkeitserfahrung gebunden (konkret: haptisch ein Buch eines in soziale, historische Wirklichkeit verwickelten Autors in der Hand zu halten). Und zweitens ist Aneignung nur durch das Verwiesensein an äußere Wirklichkeit möglich (konkret: Vermittlung der Aneignung als auch dessen, was angeeignet werden soll, durch das Buch, den Autor). In Kierkegaards Existenzdenken geht es auch und wesentlich um äußere Wirklichkeitserfahrung und das Verwiesensein an äußere Wirklichkeit (vgl. die Diskussion ab Kapitel 2.2).  Kierkegaard bringt dies nuanciert in Das Buch über Adler zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Die Idee des Schweigens, die ganze Anschauung vom Schweigen als Innerlichkeit, ist der Weg der Verinnerlichung zum Höchsten im Menschen …; diese Anschauung hat einen hinlänglichen Ausdruck in den Schriften der Pseudonyme gefunden …“ (SKS 15, 228/ DBÜA, 449) Nicht nur wird hier das Schweigen als verborgene Innerlichkeit angesprochen und damit in jenem Sinne, wie sie für die Unwissenschaftliche Nachschrift bezüglich des religiösen Existierens relevant wird (Kapitel 2.3.3.4.1), sondern das Schweigen wird hier implizit auch als Verschweigen des Autors hinter

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Im Zusammenhang des bisher Gesagten heißt das: Trotz vieler gültiger Aussagen, die über die Existenz getroffen werden können, stößt die über die Existenz sprechende Person an die Grenze des Mitteilbaren; nicht nur im Sinne der sprachlichen Uneinholbarkeit (semantisch nicht abbildbare Komplexität der Erfahrung) des Existierens, sondern auch in dem Sinne, dass Existenz (und ihre Erfahrungsnuancen) nur dadurch be- und gewusst werden kann, indem sie vollzogen (erlebt) wird.Wenn Kierkegaard also zu verstehen gibt, dass sprachliche Propositionalisierung nicht das Existieren ersetzt, sondern die Sprache nur semiotische, paradigmatische, verweisende Bedeutung und Funktion hat, heißt das: Es geht nicht um das Wort, sondern um die in Erfahrung zu bringende Tat, auf die durch das Wort lediglich verwiesen wird.³⁸ Es ist offensichtlich, dass gerade für die Aneignung, bei der es darum geht, dem Leser „Existenzwirklichkeit zu eröffnen, einen Zugang zum Selbstwerden freizugeben“³⁹, die verweisende Funktion des Sprechens von Belang ist. Welche Techniken tragen zum Gelingen der verweisenden Kommunikationsmethode und gleichfalls zur gelingenden Aneignung bei? Dazu möchte ich drei Sachverhalte im Umgang Climacus’ mit philosophischer Begrifflichkeit und Sprachlichkeit hervorheben: a) die Begriffsoffenheit; b) die Doppelreflexion; c) die direkte Mitteilung (und nicht – wie üblicherweise – die indirekte Mitteilung).

seinen Pseudonymen angesprochen, als jene mäeutische Praxis, die zur Anschauung bringt, was der Leser für seine Innerlichkeit existenziell anwenden soll. Das gegebene Zitat ist somit auch Ausdruck für die Verschränkung von Methode und Inhalt in Kierkegaards Denken.  Angemerkt sei, dass Kierkegaard damit ein Topos bedient, das auch in anderen (philosophischen und religiösen) Formen der Lebensführung gilt; dass es nicht auf die theoretische Auseinandersetzung, sondern auf das Gelebtwerden ankommt. So vermerkt beispielsweise der Sinologe Wilhelm Gundert in einer seiner Erläuterungen zur Urschrift des Zen-Buddhismus: „Diese Sache selbst“ – u. a. meditatives Vordringen zum reinen Geist, Auslöschung des Ichs, Sorge um das Wohl der Mitmenschen – „… ist etwas völlig anderes als Worte. Um ihretwillen wird man zwar in einer Welt, die über alles Worte macht, gut daran tun, sich auf die Worte dieses Buches einzulassen. Aber wehe, wenn es dabei sein Bewenden haben sollte. Am Ende gilt es, alle diese Worte wieder zu vergessen – eben um der Sache willen.“ (Ders., Bi-Yän-Lu, Bd. 1, S. 51) Hier wird genau dieselbe Struktur, wie bei Kierkegaards Aneignungsbewegung beschrieben: Das Wort leitet zur Tat an, die realisiert werden soll. Es gilt die Sprache zugunsten des existenziellen Anliegens zu überwinden (vgl. Kapitel 2.2.5.3). Die Sprache / das Gesagte dient zwar als Orientierung für das, worum es geht (Existieren), aber es darf nicht am Gesagten festgehalten werden (vgl. Kapitel 2.1.4).  Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 82.

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2.1.2.3.1 Begriffsoffenheit Climacus geht es bei aller Beschreibung von existenziellen (und religiösen) Phänomenen⁴⁰ – wenn auch nicht nur, so doch wesentlich – um die vom Leser zu

 Die Bedingung zur Beschreibung von Phänomenen ist ihre faktische Wahrnehmbarkeit. (Vgl. Søltoft, „Kierkegaard and the Sheer Phenomenon of Love“, S. 290) Kierkegaard ist ein Meister in der Beschreibung subjektiver (und deshalb nicht minder wahrnehmbarer) Phänomene. Subjektive Phänomene zu beschreiben kann auf zwei Weisen gelingen. Einerseits durch Selbstbeobachtung von leiblich-emotionalen, befindlich-reflexiven Vorgängen. Zweitens dadurch, dass sich ein subjektives Phänomen auch über die Leiblichkeit im Äußeren zeigen, also auch von Dritten beschrieben werden kann, die von der Äußerung des Phänomens und dessen situativen Kontextualisierung (etc.) auf das innere Befinden, wenn auch nicht hinreichend begründet, schließen können. Beide Ausgangssituationen dienen Kierkegaard an vielen Stellen seines Werkes dazu, Phänomene zu beschreiben und aus diesen Beschreibungen heraus Strukturen und Bedingungen menschlichen Daseins herauszustellen (z. B. Bedingungen der conditio humana: vgl. Kapitel 2.1.2.3.3). Im streng philosophischen Sinne ist Kierkegaard dann sowohl ein deskriptiver Philosoph als auch kein deskriptiver Philosoph. Denn die Bedingungen für die philosophische Methode der Deskription sind (wesentlich) erstens, den Fokus auf das Verhältnis von Sprache und Erfahrung zu legen (vgl. Krishna Jain, Description in Philosophy. With a particular reference to Wittgenstein and Husserl. New Delhi 1994, S. 8); zweitens, die elementaren (objektiven) Daten gegebener Wirklichkeit und deren Verhältnis zur Wahrnehmung zu analysieren, also den Fokus darauf zu richten, wie das Phänomen erscheint und nicht, ob es existiert (vgl. ebd., 14); drittens, die Beschreibung ohne systemische (vgl. ebd., 14), ontologische, metaphysische, religiöse oder epistemologische Vorannahmen durchzuführen (vgl. ebd., 21). Im Hinblick auf die erste Bedingung ist Kierkegaard ohne Zweifel ein deskriptiver Philosoph (das vorliegende Kapitel 2.1 behandelt ja unter anderem das Verhältnis von Sprache und Erfahrung). Im Hinblick auf die zweite Bedingung ist Kierkegaard ebenfalls ein deskriptiver Philosoph (man vergleiche die Phänomenologie der Verzweiflung in der Krankheit zum Tode, wo verschiedene Erscheinungsformen (das Wie) des Phänomens beschrieben und analysiert werden). Im Hinblick auf die dritte Bedingung ist Kierkegaard kein deskriptiver Philosoph, weil er eben (auch) Bedingungen menschlichen Daseins (die conditio humana) herauszustellen sucht, also notwendig eine Ontologie inkludiert (und in seinen religiösen Analysen und Beschreibungen ebenfalls eine Metaphysik), vor deren Hintergrund (beispielsweise die Verzweiflung) eben nicht nur beschrieben, sondern auch gedeutet wird. Kierkegaard ist in diesem Sinne nicht allein auf der Suche nach Strukturen menschlichen Bewusstseins (wie beispielsweise Edmund Husserl; vgl. Jain, Description in Philosophy, Kapitel 4, S. 83 – 109), sondern auch nach deren Bedeutung. Schließlich kommt hinzu – und das ist vielleicht der wichtigste Punkt –, dass Kierkegaard deshalb und wesentlich kein eigentlich deskriptiver Philosoph ist, weil es ihm letztlich um das Erleben innerer Erfahrung geht (das aneignungstheoretische Ziel). Das führt dazu, dass er wie spätere Existenzphilosophen (prominent: Sartre, Camus) auch folgende (Form von) „Beschreibung“ wählt: „The inner experiences are expressed in a ‘confessional’ tone. An existentialist is interested in ‘witnessing to’ his individual experience. His expression of individual experience, however, does not result always in clear and distinct perceptions by any means but in distinct intimations and recollections …* The existentialist prefers an indirect mode of expression – fiction

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vollziehende Selbstanwendung. Das Gesagte soll der Leser im Sinne der sokratischen Mäeutik an sich selbst entdecken, also aus seiner eigenen Person heraus und durch seine eigene Person so artikulieren, dass der Ausdruck des Gesagten keine einfache Wiederholung von Vorgegebenem ist, sondern einen praktischen Nachvollzug darstellt, der mit Imitatio nichts gemein hat.⁴¹ Der durch den Mäeutiker einzuleitende Erfahrungsprozess solcher gegen-autoritativen An-Eignung beruht dann auf dem Prinzip, dass Noch-nicht-Eigenes in Eigenes transformiert wird, was jedoch so verstanden werden muss, dass das „Fremde“ (Nochnicht-Sein) schon da sein muss, um es überhaupt an sich selbst entdecken zu können. Aneignung muss so als ein Prozess begriffen werden, in dem das, was schon ist, in gesteigerter Aktualität vergegenwärtigt wird (weshalb die Aneignung strukturell gesehen nichts anderes darstellt, als die Einheit von Voraussetzung

presented in the form of novel or drama, private journals and other forms of writing in which are to be found echoes of the personal life. The existentialist is not satisfied with the return to things themselves …“ (Jain, Description in Philosophy, S. 31 f.) Auch wenn Jains Betrachtung des existenziellen Denkens den Anschein einer rein subjektivistischen (weil von Bekenntnis – „Confession“ – getragenen) Philosophie erweckt, was in weiten Teilen an dem, was Kierkegaards Denken beinhaltet, vorbeigeht, so trifft Jain doch den wesentlichen Punkt, dass die Beschreibungen im Existenz-Denken (auch) im Modus und in Formen der Indirektheit präsentiert werden (Kierkegaards eigenes Werk ist das Paradebeispiel dafür: Journale, Tagebücher, erbauliche Reden, philosophische Schriften, theologische Traktate, literarische Szenen (etc.); auf die von Jain genannte Methode fiktionalen Sprechens wird später noch genauer eingegangen: Kapitel 2.1.3). Eben diese Indirektheit (die bei Kierkegaard – zumindest in seinen philosophischen Werken – weniger Ausdruck persönlicher Erfahrung ist) ist der methodologische Zug aller ExistenzBeschreibung: das Erleben aus der Beschreibung folgen zu lassen (Aneignung des Lesers). Es geht Kierkegaard in seiner Beschreibung von Phänomenen nicht nur um die (genuin deskriptionsphilosophische) Analyse von Wahrnehmung und Wirklichkeit, sondern um Lebenssituierung. Deshalb ist die Beschreibung von Phänomenen bei Kierkegaard nicht nur eine (deskriptionsphilosophisch nicht ganz hinreichende) Methode, sondern vor allem ein Mittel zum Zweck der Veranschaulichung dessen, was es heißt im Leben zu stehen, also das je eigene, persönliche Verhältnis zur Wirklichkeit offen zu legen. Und das heißt auf systematischer Ebene: Zwischen Beschreibung und Konzeption, Phänomen und Theorie, Struktur und Bedeutung der Existenz besteht ein reziprok-verweisendes, (existenz‐)dialektisches Verhältnis.  „Kennzeichen für untrügliche Aneignung des Gesagten ist immer, daß es in der eigenen Sprache derer, die lesen, zum Ausdruck kommt: daß es – wie man sagt – in ihnen und durch sie selbst zu Wort kommt und nicht nur die Wörter eines anderen Menschen wiederholt werden.“ (Flemming Harrits, „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, in KSYB 2001, S. 245 – 267, hier S. 249.)

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und Folge). Kurz: Aneignung ist die existenzielle Transformation des Schon-Seins in ein Anders-und-Neusein desselben⁴².⁴³ Als derjenige, der das für die An-Eignung notwendige Existenzwissen an den Leser heranträgt,⁴⁴ ist Climacus ein Außenstehender (der teils von Erfahrungen – literarisch – berichtet, teils wissenschaftlich analysiert), dem es aufgrund der Jemeinigkeit des Existenzwissens und der Unabbildbarkeit des Existierens durch Sprache nicht möglich ist, dem anderen ein umfängliches Verständnis seiner selbst zu vermitteln (zumal Climacus nicht zu einer bestimmten Person spricht, sondern zu all jenen, die ihn lesen). Will er also das Gesagte zur Selbstanwendung freigeben (Mäeutik) und dabei das (für jeden gültige) Schon-Sein bereitstellen, ist Climacus in eine Allgemeinheit des Sprechens gezwungen, die es ihm verbietet, in Form von Definitionen zu reden. Denn jede Definition erzeugt ein (vermeintlich) festes Korsett an Bedeutung und Unmissverständlichkeit, so dass alle definierte Existenz-Begrifflichkeit, die das eigens zu vollziehende Existieren genau qualifiziert, einem Resultat gleichkommt, das definiert, wie das Existieren sein soll. Bei aller resultativ-definierenden Mitteilung würde also Wissen vermittelt werden, das

 Diese Formulierung ist von Joachim Ringleben – und dessen Ausführungen zur „Wiederholung“ – entlehnt: vgl. ders., „Kierkegaards Begriff der Wiederholung“, in KSYB 1998, S. 318 – 344, hier S. 329. Zu Wiederholung und Aneignung: vgl. Kapitel 2.3.2.3.1 und 2.3.2.4.  Dementsprechend heißt es in der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „[J]ene Entscheidung [ist] die schwierigste, wo der Entscheidende nicht von der Entscheidung entfernt ist …, sondern wo es ist, als wäre er bereits entschieden.“ (SKS 7, 332 / DUN, 534) Es geht darum, der zu werden, der man ist; sich selbst wieder-zu-holen, eben: das Schon-Sein in gesteigerte Aktualität eines Anders-undNeuseins Desselben zu überführen. Und weil es bei dieser Struktur der Aneignung für den Mäeutiker (Kierkegaard) darum gehen muss, das Immer-schon-Vorhandene (eines jeden Lesers) zu thematisieren, kann das sachliche Thema aller Existenzmitteilung nichts anderes als die conditio humana sein (vgl. Kapitel 2.1.2.3.3). Gleichfalls muss in Anbetracht existenzieller Lebenswirklichkeit darauf hingewiesen werden, dass die so verstandene Aneignung zwar essentialistische Züge aufweist, jedoch in sich als fluid verstanden werden muss. Es gilt zwar existenziell das Selbst und somit die eigene Person in ihrer grundlegenden Eigenart zu vergegenwärtigen, aber dieser Vergegenwärtigungsprozess ist an komplexe Prozesse eines reziproken Person-Welt-Ewigkeits-Verhältnisses gebunden, das durch den Einfluss von Kontingenzen und gegenseitigen Wechselwirkungen bestimmt ist (vgl. besonders Kapitel 2.2.3.2 und 2.3.2.4.3). Das bedeutet, dass nicht nur der Prozess zum Selbstsein (die Aneignung), sondern auch das Selbst durch eine grundlegende Verhältnishaftigkeit bestimmt ist (zum Selbst als Verhältnis: vgl. Kapitel 2.2.2.1) und niemals ohne äußere Beeinflussung gedacht werden kann. Somit ist der Prozess der Aneignung zwar teleologisch, aber in sich diskontinuierlich und zwar auf ein Ziel hin, das in sich selbst als nicht starr begriffen wird.  Zum Verhältnis von Herantragen und Eignung: vgl. Ringleben, Aneignung, besonders S. 101– 108. Auch: Tilo Wesche, „Glauben und Wissen. Versuch über den Wahrheitsbegriff der Religionsphilosophie im Anschluss an Kierkegaard und Schopenhauer“, in Schopenhauer – Kierkegaard, S. 291– 328, hier S. 313 f.

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existenziell betrachtet einem an den Leser (dem „Nichtwissenden“) herangetragenen normativen Diktat gleichkäme, so und nicht anders existieren (leben) zu müssen.⁴⁵ Resultativität ist in diesem Sinne die Negation der Freiheit und damit gerade die Negation der Innerlichkeit als derjenige Prozess des Existierens, durch den sich Freiheit (der zu sein und zu werden, der man ist) realisiert. Für die Mäeutik des Geschriebenen ist deshalb wichtig, dass Climacus methodologisch der Prämisse folgt, undefinitorisch vorzugehen.⁴⁶ Aus wissenschaftlich-exegetischer Perspektive ist das Problem dann aber, dass Kierkegaard die nicht definierten Existenzbegriffe so verwendet, als wäre vollkommen klar, was mit ihnen gemeint sei. Er belässt sie also gerade in einer signifikanten UnBestimmtheit und Offenheit.⁴⁷ Dies verlangt aber gerade das (spezifische) Problem

 Im Begriff Angst schreibt der pseudonyme Autor Vigilius Haufniensis (im Abschnitt zur Innerlichkeit) dementsprechend, dass „es in Beziehung auf Existenzbegriffe immer einen sicheren Takt verrät, sich der Definition zu enthalten; denn es kann einen unmöglich danach gelüsten, das, was wesentlich anders verstanden werden muss, das, was man selbst anders verstanden hat, … in der Form der Definition aufzufassen, durch die es so leicht etwas anderes und einem fremd wird.“ (SKS 4, 447/ DBA, 621) Mit gleichem movens notiert auch Climacus: „Aber das Ausbleiben des Resultates ist gerade eine Bestimmung der Innerlichkeit, denn Resultat ist etwas Äußerliches und Mitteilung von Resultaten ein äußerliches Verhältnis zwischen einem Wissenden und einem Nichtwissenden.“ (SKS 7, 264 / DUN, 447)  Dies sei exemplarisch verdeutlicht: „Innerlichkeit ist Subjektivität, Subjektivität ist in ihrem Wesentlichen Leidenschaft …“ (SKS 7, 39/ DUN, 160) „Sobald man die Subjektivität fortnimmt und von der Subjektivität die Leidenschaft und von der Leidenschaft das unendliche Interesse, dann gibt es überhaupt keine Entscheidung …“ (SKS 7, 39/ DUN, 160 f.) „Glaube ist ja die höchste Leidenschaft der Subjektivität …“ (SKS 7, 124 / DUN, 264) Wichtig für die hier zu führende Diskussion ist, dass die hier genannten Begriffe ein dichtes, in sich verzahntes Netz bilden. So kann in Anbetracht der Zitate gesagt und für die vorliegende Untersuchung festgehalten werden: Innerlichkeit ist Subjektivität, ist Leidenschaft, ist Interesse, ist Entscheidung, ist Glaube (die hier genannten Begriffe wären systematisch, strukturell und funktional noch durch andere zu ergänzen). Bedenkt man hierbei, was oben hervorgehoben wurde, dass durch die Definition sowohl ein Äquivalenz- und Ersetzungsverhältnis zwischen den Begriffen bestimmt wird, muss in Anbetracht der Innerlichkeit gesagt werden, dass gerade nicht von ersetzenden Äquivalenzverhältnissen gesprochen werden kann. Vielmehr steht jeder der (eben angeführten) Begriffe in Beziehung zum anderen und ist in sich so konnotiert, dass er den anderen nicht vollständig ersetzen kann, jedoch je nach Kombination mit einem der anderen Begriffe die Konnotation des Verständnisses des anderen Begriffs indikativ anzeigt. Es liegt also ein kompliziertes Netz von Uneindeutigkeiten vor. Daran wird ersichtlich, dass die Erfassung der Innerlichkeit ein hohes Maß an hermeneutischer Deutungsarbeit verlangt, ohne dabei zu einer endgültigen Definition kommen zu können.  In Entsprechung macht Heiko Schulz bezüglich des Existenzbegriffs „Subjektivität“ darauf aufmerksam: „Nicht nur der Kierkegaard-hermeneutische Novize, sondern auch der Wiederholungstäter wird immer wieder jene frustrierende Lektüreerfahrung machen, die bereits Frederik Christian Sibbern, Kierkegaards philosophischer Lehrer an der Kopenhagener Universität, mit

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der Aneignung. Denn nicht das Resultat, die fest umgrenzte Bedeutung (oder das Feststellen von Vorhandenem⁴⁸), sondern die Offenheit, die Möglichkeit, das je eigene, von Climacus nicht erfassbare Existieren, muss vermittelt werden: „Eine Darstellung in Form der Möglichkeit legt es dem Empfänger so nah, wie es zwischen Mensch und Mensch möglich ist, in dem Mitgeteilten zu existieren.“⁴⁹ Die Offenheit der Begriffe (Möglichkeit) gewährleistet eine eigene Ausfüllung der Begriffe durch das eigene Existieren. Dies betont Climacus entweder indirekt, wenn er sagt, dass es ihm um die „Selbsttätigkeit des Sich-Aneignens“⁵⁰ geht, oder ganz direkt, wenn er vermerkt, dass das „eigentümliche Verfahren des Verfassers“ nicht dazu dienen soll, „den Anderen aufzuhalten“ oder „ihn veranlassen zu wollen, denselben Weg zu gehen, sondern ihn gerade anzuspornen, seinen Weg zu gehen“.⁵¹ Mitteilungstheoretisch wird dies bekanntermaßen damit gefasst, wenn Climacus sagt: „Objektiv wird akzentuiert: was gesagt wird; subjektiv: wie es gesagt wird.“⁵² Die Art und Weise (das Wie) ist das Entscheidende bei allem mäeutischen Sprechen, eben, dass nicht direkt und resultativ gesprochen wird (indem beispielsweise von existenziellen Erfahrungen aus dem Leben berichtet

dem Ausspruch ‚In vielen Worten wenig Klarheit’* ebenso lakonisch wie zutreffend kommentierte. Das gilt auch und im besonderen Maße für den im Kierkegaardschen Oeuvre nachgerade omnipräsenten Begriff der Subjektivität.“ (Heiko Schulz, „‚Gott selbst ist ja dies: welcherart man sich mit ihm einlässt.‘ Subjektivität und Objektivität dogmatischer Reflexion bei Søren Kierkegaard“, in Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik, hg. von Hermann Deuser und Saskia Wendel, Tübingen 2012., S. 65 – 84, hier S. 67) Der (schon häufig gestellten) Frage Heiko Schulz’ (man vergleiche beispielsweise Christoph Schrempfs Nachwort zum Begriff Angst, wo er mit Nachdruck die begriffliche Unschärfe des Existenz-Begriffs bemängelt: Ders, „Nachwort des Übersetzers“, in Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst, Jena 1924, S. 164– 173, hier S. 167), warum Kierkegaard die für sein Denken so wichtigen Existenzbegriffe der Subjektivität und mithin Innerlichkeit offen lässt bzw. warum er sie nicht definiert, liegt auch im Problem des Begriffs selbst verankert. Denn der Begriff ist das Nicht-durch-sich-selbst-Verständliche; eine Benennung (Signifikant), die die Frage provoziert, was das Benannte (Signifikat) genau ist, weshalb der Begriff als die Antwort auf diese von ihm selbst provozierte Frage grundsätzlich die Situation der Bestimmtheit in Unbestimmtheit generiert (was analog zur oben diskutierten UnEindeutigkeit der Kommunikation zu verstehen ist): vgl. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 32.  Dazu: Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 70.  SKS 7, 327/ DUN, 527.  SKS 7, 220/ DUN, 390 (Hervorhebung d.Vf.).  SKS 7, 251 / DUN, 431 f. Dass Climacus-Kierkegaard hier eine uralte Praxis philosophischer Lebensführung und Weisheit benennt, zeigt sich, wenn man beispielsweise in die Sutren Buddhas schaut, wo betont wird, dass er selbst dem Lehrling nur den Weg zeigen, ihm aber nicht helfen kann, seinen eigenen Weg zur Erleuchtung zu gehen. Vergleiche das Vorwort von Angraj Chaudhary in: V.V.S. Saibaba, Discourses in Buddhist Classics, New Delhi 2006, S. vi – vii.  SKS 7, 185/ DUN, 343 (im Original kursiv).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

wird, wodurch der Leser eine Ahnung einer solchen Erfahrung erlangt oder entdeckt, dass er solch eine Erfahrung schon hatte; der Bericht also den Nachvollzug begünstigt). An anderer Stelle betont Climacus dementsprechend auch die Form (eben die Art und Weise) der Mitteilung, „denn die Form ist ja die Innerlichkeit.“⁵³ Die Innerlichkeit erhält hierbei eine mitteilungstheoretische Funktion. Innerlichkeit bezeichnet innerhalb der Existenzmitteilung das theoretische Konstrukt, das darin besteht, dass alle Mitteilung ein Sich-zu-sich-Verhalten⁵⁴ beim Adressaten initiieren soll. Um dies via Mäeutik zu gewährleisten, muss die Mitteilung indirekt sein, d. h. sie muss die Bedeutung des Gesagten im Unkonkreten, im „Verborgenen“ (dem von Kierkegaard lancierten Charakteristikum der Innerlichkeit) belassen; den Leser also nicht direkt, gar imperativisch, mit resultativen Aussagen auf eine bestimmte Lebensweise zwingen. Die innerliche Form der Mitteilung bedeutet demnach, in offenen Begriffen, mit der Absicht der Aneignung zu sprechen, um deren Bedeutung im Verborgenen, im Innern des Individuums konkret (existenzrelevant) werden zu lassen. Innerlichkeit ist in diesem Sinne nicht als ein existenzieller Akt aufzufassen, sondern als eine das Existenzielle forcierende Methode. In Anbetracht der systematischen Struktur der Aneignung – die existenzielle Transformation des Schon-Seins als Anders-und-Neusein desselben (s.o.) – besagt die innerliche Methode der Mitteilung: über die verbergende Mitteilung das im Individuum Verborgene freilegen. Die Mitteilungs- und Kommunikationsmethode (innerliche Form) weist auf die Innerlichkeit als Existenzvollzug, die wiederum als Existenzweise die der Mäeutik dienliche innerliche Form der Mitteilung verlangt. Eben dies ist die reziproke Struktur der mitteilungsstrategisch forcierten Aneignung unter existenzdialektisch-methodischem Gesichtspunkt. Dabei intendiert Climacus aufgrund seiner Aneignungsthematik und dem Hinleiten zum religiösen Existieren wesentlich einen Existenzvollzug und Selbstwerdungsprozess, der vom Leser noch nicht praktiziert wird und damit auf ein Erfahren von Existenz, das noch aussteht. Der Innerlichkeits- und Subjektivitätsbegriff geben dann allein eine Orientierung dorthin, was vor aller Erfahrung nicht gewusst werden kann (was allein durch Erfahrung zur Anschauung gebracht wird). Sprachliche Vermittlung dient also der Möglichkeit der Bewusstwerdung von Erfahrung.⁵⁵ Die Existenzbegriffe sind demnach in ihrem Bedeutungsumfang sprachliche Positionen, in die die Möglichkeit existenzieller Negation einge-

 SKS 7, 226/ DUN, 398.  Vgl. Kapitel 2.2.  Dazu Kapitel 2.2.5.

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schlossen ist; sie erlauben dem Leser zu erkennen, was es für ihn noch nicht gibt und sich somit der Lücken im eigenen Erfahrungshaushalt bewusst zu werden. Zwar kann sich der Leser eine Vorstellung davon machen, was es bedeutet, im climacischen Sinne zu existieren, aber keine Vorstellung kann die Unmittelbarkeit der Erfahrung umfänglich einholen. Der Leser ist so einer geahnten Existenz ausgesetzt und es wird von ihm verlangt, sich in das Unbekannte eigener SelbstEntdeckung vorzuwagen, im wörtlichen Sinne etwas zu riskieren. So verstanden zeigen die Existenzbegriffe ihren verweisenden Charakter. Die Offenheit der Existenzbegriffe ist zugleich die Potenzialität ihrer praktischen Vielfalt (jede Existenz ist je eigen), indem sie auf das zeigen, was sich dem begrifflichen Zugriff entzieht; was der Leser nur durch sich selbst wissen kann. Die Existenzbegriffe sind in ihrer Offenheit keine Objektivität im Sinne der Vergegenständlichung von Wissen (Propositionalisierung), sondern vielmehr eine Ent-Gegenständlichung zur Aneignung.⁵⁶ Die dahinterstehende philosophische Absicht ist, dass Climacus keine Antwort gibt, sondern in der Frage verbleibt, um den Leser anzuhalten, in das Unbekannte vorzudringen.⁵⁷ Und das bedeutet zugleich – sofern Philosophie ein in sich konsistentes Denken bezeichnet, das auf Verstehen und somit auf die Beantwortung von Fragen aus ist (selbst wenn die Antwort in einer weiteren Frage besteht) –, dass Climacus ein philosophisches Denken vollzieht, dessen Antworten nicht einfach im Präsentieren von Ergebnissen bestehen noch im reinen Nachdenken des Lesers über das von Climacus’ Gesagte liegen, sondern zugleich und vor allem im praktischen, konkreten Lebensvollzug.⁵⁸

 Hermann Deuser macht darauf aufmerksam, dass die „Begriffsbildungen an den Grenzen des Begreifbaren … die extreme Leidenschaft des Denkens wach [halten].“ (Ders., Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 63) Durch die Allgemeinheit (Offenheit) der Begriffe kommt es immer zu Reibungsprozessen zwischen dem Verstehen des Gelesenen und dem eigenen Sich-Verstehen. Diese Reibung bzw. Widersprüchlichkeit zwischen dem Allgemeinem und dem konkreten SelbstVerstehen ist deshalb von Bedeutung, weil dadurch das sich im Aneignungsprozess befindende Individuum nicht aufhört, eine Selbst-Deutung vorzunehmen. Die Stetigkeit und Permanenz des Sich-Verstehens bleibt damit an die Existenz gebunden und steht in Kongruenz zu ihr, da sie selbst ein un(ab)geschlossener Prozess ist. In diesem Sinne vermerkt Climacus auch, dass die Aneignung ein Vollzug ist, der als „Selbsttätigkeit … ein Resultat verhindert.“ (SKS 7, 220/ DUN, 390); „[D]ie Schnelligkeit hat in bezug auf das Verstehen, wo die Innerlichkeit das Verstehen ist, gar keinen Wert.“ (SKS 7, 252 / DUN, 433)  Dass Kierkegaard eine Philosophie des fortlaufenden Fragens betreibt, zeigt sich u. a. auch in Der Liebe Tun. Dazu: Lincoln, Äußerung, besonders S. 167– 180.  Vgl. auch: Pat Bigelow, „The Brokenness of Philosophic Desire“, in Kierkegaard Revisited, S. 310 – 338, hier S. 322.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Die Betonung des Konkreten, Praktischen, des Untheoretischen, des Selbstverstehens und des Auf-die-Existenz-Bezogenseins gibt den Grundzug von Climacus’ (und Kierkegaards im Allgemeinen) philosophischem Denken: es geht ihm um die „Kunst der Selbstverwirklichung“⁵⁹, um Lebensorientierung und -gestaltung, darum, dass „das Insistieren auf den Lebensvollzug, worauf alle Begriffsbildung letztlich hinaus will, in den Vordergrund der Aufmerksamkeit und des Interesses rückt.“⁶⁰ Climacus betreibt ein Denken mit unmittelbarer Ausrichtung  Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 64.  Hermann Deuser, „Die Dialektik menschlichen Existierens“, in Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, S. 139 – 151, hier S. 147 f. – Zu Climacus’ methodischer Begriffsverwendung ist hierbei anzumerken, dass der Gegensatz von abstrahierender Sprache und praktischer Existenz, von dem her die Begriffsoffenheit motiviert ist, durch den Begriff der „Existenz-Kategorie“ abgedeckt wird. (Zur Existenz-Kategorie ausführlich: Hermann Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, Zollikon-Zürich 1950, S. 28 – 34) In der Thematisierung der Existenz, so Climacus, komme es auf das „Verhältnis der Existenz-Kategorien zueinander“ an (SKS 7, 326/ DUN, 526). Das Verhältnis der Kategorien zueinander ist das vorhergehend beschriebene Verzahntsein der in sich offenen Begriffe. Die Existenz-Kategorie selbst bezeichnet den offenen Begriff, der in sich den „Widerspruch von Begriffsbildung und existenzieller Konkretion zum ureigensten Thema“ (Deuser, „Die Dialektik menschlichen Existierens“, S. 148) hat. Dieser Widerspruch ist die in der Existenz-Kategorie zutage tretende Existenzdialektik, die immer in der Spannung zwischen „analytischer Begriffsbildung“ und „der in ihr thematischen Wirklichkeit des Menschen“ (Ebd., S. 148) besteht. Die Existenz-Kategorien „entziehen sich – insofern es darum geht, ein Selbst zu werden – der theoretisch-begrifflichen Verwaltung“ und „behalten sich bewußt die konkrete Realisierung zu einem bestimmten Lebenszusammenhang vor.“ (Ebd., S. 147) Nicht in der theoretischen Konzeption, sondern in der praktischen Bewährung liegt der Sinn der Existenz-Kategorien. Im Journal JJ heißt es dementsprechend an einer Stelle: „Die Hauptsache im Verhältnis zu jedem existenziellen Problem ist dessen Bedeutung für mich, danach kann ich zusehen, ob ich dazu tauge, es gelehrt abzuhandeln.“ (SKS 18, 288, JJ:441/ DSKE 2, 299) Diese, die Problematik der Existenz-Kategorie einfassende Aussage macht den Kategoriebegriff bei Climacus sehr interessant, weil er weder von einem logisch-ontologischen Kategoriebegriff im Sinne Aristoteles’ ausgeht noch einen transzendental-logischen Kategoriebegriff im Sinne Kants anwendet. (Zu deren Kategorieverständnis: Hans Michael Baumgartner u. a., „Kategorie“, in HWPh, Bd. 4, S. 714– 776) Bei Climacus wird Kategorie als eine Rückwendung der Reflexion des Individuums auf sich verstanden. Dem Existieren ist eine faktische, leibliche, weltverwobene Wirklichkeit vorausgesetzt, die durch Sprache lediglich aufgezeigt werden kann. Die Kategorie bleibt demnach immer auf die Wirklichkeit bezogen. [Anm.: Hieran zeigt sich, dass Climacus keine Ontologisierung der Sprache vornimmt. (Zur Charakterisierung einer Ontologie der Sprache: Theo Kobusch, Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache. Leiden, New York, Kopenhagen und Köln 1987, S. 4 ff.) Das würde bedeuten: Der sprachliche Begriff verdeutlicht den Gegenstand vollkommen, indem letzterer durch den Begriff ersetzt wird. Bei Climacus tritt aber gerade der umgekehrte Fall ein: Nicht der Begriff ist der Wirklichkeit vorausgesetzt, sondern die Wirklichkeit dem Begriff. Kierkegaard betont die Voraussetzung der Wirklichkeit vor allem Sprechen schon in Entweder – Oder und in Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. Dazu: Deuser, „Existenz-Mitteilung“, S. 206 – 209. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung zum Verhältnis

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auf praktische Anwendung – oder wenigstens ein Denken, das bestrebt ist, eine auf diese Anwendung zielende Wirkung zu etablieren.⁶¹

2.1.2.3.2 Doppelt reflektierte Mäeutik Im Folgenden soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, welcher theoretische Hintergrund zur Gewährleistung der Aneignung von Climacus selbst gegeben wird. Denn das in der innerlichen Form der Mitteilung gegebene Verhältnis von Aneignungsgewährleistung durch die Offenheit der Existenzbegriffe wird von Climacus in Bezug auf die Mäeutik, genauer noch anhand des in der Unwissenschaftlichen Nachschrift entworfenen „subjektiven Denkers“⁶², der (auch) die philosophische Konzeption eines Existenzmäeutikers ist, konkretisiert, betont und methodisch präzisiert. Der subjektive Denker ist derjenige, der die Subjektivon Wirklichkeit und dem begrifflichen Erfassen derselben: besonders Elisabeth Gräb-Schmidt, „Leben aus der Vergangenheit – zur Kritik Kierkegaards an einer begrifflichen Erfassung der Wirklichkeit“, in Schleiermacher und Kierkegaard, S. 687– 707. Zudem ist anzumerken, dass dieses Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit wesentlich auf den Existenzialismus im 20. Jahrhundert, besonders auf Albert Camus’ Philosophie des Absurden abgestrahlt hat. Dazu: Winfried Weier, „Die existenzielle Verwandlung des Nichts in den Sinn“, in Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd.VI, S. 59 – 90, besonders S. 62 ff.] Der climacische Kategoriebegriff nimmt sowohl Sprache und Denken als auch das Sein in den Blick und präzisiert und verdichtet deren Verhältnis. [Anm.: Dass Kierkegaard auf die (existenzielle) Verdichtung besonders Wert legt, zeigt sich anhand einer Notizbuch-Aufzeichnung: „Was ist eine Kategorie? Soviel ich weiß, haben die Neueren keine Definition davon gegeben, Hegel jedenfalls nicht; mit Hilfe seines inversen Ganges überlässt er es immer der Virtuosität des Lesers, das Schwierigste zu tun, das Mannigfaltige in die Energie eines einzigen Gedankens zu sammeln.“ (SKS 19, 406, Not13:41 / DSKE 3, 444)].  So betont beispielsweise Alistair Hannay, dass Kierkegaards philosophisches Anliegen darin besteht, das Verhältnis des einzelnen Menschen zu seinem Leben offenzulegen, und damit das eigens zu lebende Leben selbst näherzubringen. (Vgl. ders., „Why should Anyone Call Kierkegaard a Philosopher?“, in Kierkegaard Revisited, S. 238 – 253, hier S. 252 f.) Und eben dies ist der Grund, weshalb Climacus – und Kierkegaard – immer wieder betont(en), dass der Autor des Gesagten vergessen werden soll. Denn die existenzdialektische Aneignung (des Gesagten) bedeutet, sich nicht affirmativ zur präsentierten Theoretisierung – oder zum Autor selbst – zu verhalten, sondern die Theoretisierung als Angebot, als Möglichkeit der Verständigung aufzufassen. Erkannt werden soll, dass die wesentliche Funktion des Gesagten darin besteht, es als Information zu behandeln und in den eigenen Lebensvollzug zu integrieren; dass das Gesagte als eine den Lebensvollzug begleitende Bedeutungsebene behandelt und behalten wird. Dabei kommt es nicht auf die theoretische Bedeutung, sondern auf die Übersetzung in das Gelebtwerden an. Denn das ist das existenzielle Moment der Philosophie.  Neben der hier vorgenommenen Analyse muss auf das Kapitel 2.2.5.3 verwiesen werden, wo einige der hier angesprochenen, existenziellen Aspekte des „subjektiven Denkers“ eingehend beleuchtet werden. Zu einer genauen Betrachtung des subjektiven Denkers: Ph. Schwab, Der Rückstoss der Methode, 92– 95.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

vität (sprachlich) vermitteln will. Jedoch kann die Subjektivität und mithin die Innerlichkeit (als Existenzvollzug) nur vom Individuum singulär verstanden werden, während das Denken und Sprechen im Allgemeinen operiert. Die Vermittlung des Gesagten hat durch die theoretische Trennung von Denken und Sein, von Sprache und Existieren also selbst eine Grenze: den einzelnen, konkreten Menschen. Die Trennung zwischen beiden Sphären, zwischen Denken und Sein, überwindet der Mensch dadurch, dass er ganzheitlich verstanden wird. Er existiert zwischen Denken und Sein und vereint zugleich beides.⁶³ Auf diese doppelte Perspektive des Menschen soll der subjektive Denker aufmerksam sein. Der subjektive Denker ist dadurch als ein „doppelt-reflektierter“ Mäeutiker bestimmt,⁶⁴ der mit der Sprache auf das Existieren aufmerksam macht, weshalb Climacus ausdrücklich betont, dass es in der Existenz-Mitteilung darum geht, „in Richtung auf Existenz zu weisen“.⁶⁵ Der Leser soll also mit der Sprache darauf gestoßen werden einzusehen, dass alle Aneignung nur dann gelingen

 Dazu Kapitel 2.2.  Zur „Doppelreflexion“: Unwissenschaftliche Nachschrift, Zweiter Teil, Erster Abschnitt, Kapitel II, S. 199 – 259 (SKS 7, 73 – 120).  SKS 7, 327/ DUN, 527. Sprachtheoretisch muss anhand dieses Verweisungscharakters allen mäeutischen Sprechens (auf die Lebenswirklichkeit) festgehalten werden, dass der Begriff „Doppelreflexion“ (auch) die reflexive Wendung des Sprechenden auf seine Sprache bedeutet,was in Anbetracht des Aneignungsprimats heißt: Die „Doppelreflexion“ ist die höherstufige Betrachtung des durch sprachliche Zeichen ausgedrückten Inhalts als ein durch Sprache ausgedrückter Inhalt. „Doppelreflexion“ bedeutet – sowohl für den Sprechenden als auch den Aneignenden – die reflexive Bewusstwerdung, in der Sprache verwurzelt zu sein. Die durch Mäeutik/ Sprache vermittelte Existenzerfahrung setzt immer dieses Bewusstsein der Sprachvermittlung voraus, ist also reflexiv. Die „Doppelreflexion“ ist so die Reflexion der Reflexion (die doppelte Reflexion) der Erfahrung als vermittelte Wirklichkeit. Die Reflexion ist dann – mit Kant gesprochen – die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung; die Erfahrung selbst ist dann – mit Pierce formuliert – der Interpretant der Wirklichkeit. Für den Aneignenden (den Leser) gilt somit, sich über die Sprache zur Erfahrung leiten zu lassen (durch Reflexion/Vermittlung zur Erfahrung zu gelangen); und für den Mäeutiker (Kierkegaard/Climacus) gilt, durch Sprache die Reflexion zur Erfahrung bereitzustellen. Für den Erfahrungsbegriff ist dies natürlich hoch spannend, weil Erfahrung (in Kierkegaards Denken) dann niemals vor- oder präreflexiv sein kann, sondern immer nur vermittelte, gefilterte, katalysierte Erfahrung ist. Es bedarf zum Erfahrungmachen ein Bewusstsein der Möglichkeit der Erfahrung, um eine erfahrene Erfahrung als Erfahrung qualifizieren zu können. Und eben dieses Bewusstsein der Möglichkeit zu schaffen, das ist die Aufgabe des Existenz-Mäeutikers oder, wie Climacus ihn nennt, des „subjektiven Denkers“. Der „subjektive Denker“ ist dann – überspitzt gesagt – eine semiotisch präsentierte und gleichfalls als lebendig-gegenüberstehend aufgefasste (vgl. Kapitel 2.1.3.3), transzendentale, in die Kommunikation hineingefaltete Bedingung der Möglichkeit von Existenzerfahrung. Oder anders gesagt: Die Existenzerfahrung des Lesers ist nur durch Induktion möglich.

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kann, wenn er auf sich selbst als in der Welt Existierender aufmerksam ist. Indem der subjektiv-denkende Mäeutiker dies im Blick hat, weiß er zugleich, dass er selbst den anderen nicht in seiner eigenen Wirklichkeit, seinem Existieren gänzlich erfassen kann. So gilt für alle mäeutische Mitteilung: Die gewöhnliche Mitteilung, das objektive Denken, hat keine Geheimnisse, erst das doppeltreflektierte subjektive Denken hat Geheimnisse, das heißt: sein ganzer wesentlicher Inhalt ist wesentlich Geheimnis, weil er sich nicht direkt mitteilen läßt. Das ist die Bedeutung des Geheimnisses. Dass die Erkenntnis sich nicht direkt aussagen läßt, weil das wesentliche an der Erkenntnis gerade die Aneignung ist, bewirkt, dass sie für jeden ein Geheimnis bleibt, der nicht wesentlich doppelt-reflektiert ist …⁶⁶

Das „Geheimnis“, das nicht direkt mitgeteilt werden kann, das „verborgen“ ist, ist nichts anderes als die in der Un-Eindeutigkeit verbleibende, eigene Subjektivität und Innerlichkeit, die allein durch den Erfahrungsvollzug des eigenen Existierens (Aneignung) erkannt und gewusst werden können. Aber nur wenn der Leser ebenso doppelt-reflektiert ist und die Divergenz zwischen Denken und Sein versteht,⁶⁷ ist er zu Aneignung fähig und eröffnet sich so die Möglichkeit, das „Geheimnis“ durch sich selbst zu entdecken. Aneignung bedeutet dann, das durch das Denken und Verstehen erfasste Gelesene im eigenen Existenzvollzug auszuformen und so sich selbst zu verstehen. Das Gelesene soll vom Leser als Möglichkeit verstanden und in seiner Offenheit so begriffen werden, dass es in den eigenen Existenzvollzug übersetzt werden kann, wodurch der Leser die Existenzbegriffe durch sich selbst zur Anschauung bringt und damit die sprachliche Anwesenheit (der Innerlichkeit) in eine existenzielle überträgt, also die existenzielle Abwesenheit (der Innerlichkeit) aufhebt. Diese Übersetzung – oder auch Integration des Denkens in die Handlungswirklichkeit – ist das Moment der Eignung aller An-eignung.

2.1.2.3.3 Direkte Objektivität Philipp Schwab vermerkt zur doppelt-reflektierten Methode bei Climacus: „Noch bis in die letzten Zeilen … hält … die Nachschrift die doppeltreflektierte Form fest; jedes unmittelbare Verstehen wird unmöglich gemacht … In ihrer Durchführung darf die Nachschrift als konsequentes Exempel indirekter Mitteilung gelten.“⁶⁸ Dies würde nicht nur konsequenterweise dazu führen, dass man Climacus nicht  SKS 7, 79/ DUN, 207.  Dass der Leser die Kommunikationsmethode verstehen muss,wird auch explizit von C. Stephen Evans betont. Vgl. ders., Kierkegaard’s Fragments and Postscript, S. 111 f.  Schwab, Der Rückstoß der Methode, S. 146.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

mehr beim Wort nehmen kann, sondern auch bedeuten, dass Climacus das, was er zu sagen hat, so stark ironisiert und verklausuliert, dass jede Aneignung versperrt wäre. Das ist der Grund, weshalb Climacus (auch) auf direktes Sprechen angewiesen ist, um die Innerlichkeit vermitteln zu können. Anders gesagt: Mit der Sprache gegen die Sprache vorzugehen, bedeutet auf die Sprache zurückgezwungen zu werden. Gerade weil er dann aber die Subjektivität und Innerlichkeit sprachlich thematisieren muss, befindet er sich ständig in dem Zwiespalt von der Inadäquatheit der Form in Bezug auf den Inhalt; der direkten, objektiven Vermittlung von subjektivem Wissen.⁶⁹ So findet eine Propositionalisierung des Existierens als Wissensgegenstand statt,⁷⁰ bei dem er schwerlich umhin kommt, direkte Aussagen zu vermeiden (auch wenn er betont, dass alles von ihm mitgeteilte Wissen unter der Prämisse der Indirektheit steht).⁷¹ In den langen Passagen zu Wahrheit, Wirklichkeit, Leiden, Schuld (etc.) wird in theoretisch geführten Auseinandersetzungen an keiner Stelle ein streng analytischer Diskurs vorgenommen. Dennoch ist es unumgänglich, dass Climacus auf propositionalisiertes Wissen zurückgreift und anhand dessen als auch in Abgrenzung zu diesem eigenes propositionales Wissen und damit Objektivität generiert, die direkt mitgeteilt, stellenweise sogar apodiktisch vorgetragen wird. Und doch verbleibt selbst das Apodiktische konsequent in der begrifflichen Offenheit. Bei Climacus kommt dann eine für die Vermittlung der Subjektivität relevante Objektivität ins Spiel, die weder Faktenwissen noch Selbstmitteilung des Autors ist

 Vgl. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 80. Das Besondere an der Vorgehensweise Climacus’ ist, dass er sich diesem Widerspruch bewusst aussetzt und mit der so konsequent durchgeführten Un-Eindeutigkeit die Beschäftigung des Lesers provoziert. Der Leser wird durch die Art der Vermittlung selbst in Widersprüche des Verstehens und An-sich-Nachvollziehens verwickelt und dazu angetrieben, sich dem Widersprüchlichen zu stellen und so immer wieder vor das (Sich-selbst-Be‐)Fragen und eben nicht vor die Antwort gebracht.  Climacus sagt – mehr als einmal – klar und deutlich, dass sich die Subjektivität einem objektivierenden Sprechen entzieht. Und doch muss er die Subjektivität zur Sache erheben: „Objektiv redet man beständig nur von der Sache, subjektiv redet man vom Subjekt und der Subjektivität: und siehe da, gerade die Subjektivität ist die Sache. Es muss beständig festgehalten werden, dass das subjektive Problem nicht etwas ist, was zur Sache gehört, sondern die Sache ist die Subjektivität selbst.“ (SKS 7, 121 / DUN, 260)  „[D]as Geheimnis der Mitteilung [besteht] gerade darin …, den anderen freizumachen, und gerade deshalb darf er sich nicht direkt mitteilen …“ (SKS 7, 74 f. / DUN, 202 (Hervorhebung d.Vf.)) An diesem Zitat zeigt sich das der indirekten Methode widersprechende Problem. Die Methode selbst wird direkt mitgeteilt. Das ist ihre innere Grenze. Sie ist auf ihre eigene Unmissverständlichkeit angewiesen. (Auf diesen Widerspruch zwischen direkter und indirekter Mitteilung in Bezug auf die Methode geht Philipp Schwab ausführlich ein: Ders., Der Rückstoß der Methode, S. 100 ff.) Diese Spannung kann nicht nur auf die Darlegung der indirekten Methode, sondern auf weite Teile der Unwissenschaftlichen Nachschrift übertragen werden.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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und so allgemein wie möglich gehalten werden muss (um eine Vermittlung für den anderen sein zu können). Climacus realisiert dies, indem er die conditio humana thematisiert, um so einen universellen Verstehenshorizont zu schaffen, durch den die eigene Selbst-Entdeckung gewährleistet wird (beziehungsweise das SchonEigene zur Aneignung freigegeben wird⁷²). Die theoretisch-allgemeine Ebene spiegelt dann zugleich das ganz Persönliche und Individuelle wieder. Die Aufdeckung der konkreten Gemeinsamkeiten aller Menschen ist die Gewähr dafür, dass das Individuum (der Leser) sich auf sich selbst bezieht, indem es aus der Allgemeinheit des existenziell Menschlichen sich selbst in seinen eigenen Grundstrukturen erkennen kann und somit diejenigen ontologischen, anthropologischen, phänomenalen Strukturen und Bedingungen erkennt, zu denen jeder Mensch sich verhalten muss (zum Beispiel Tod, Leib, Um- und Mitwelt, Zeitlichkeit, Sprache etc.). Climacus spricht in seiner Un-Eindeutigkeit vom eigenen Individuellen als etwas, das als das „Konkret-Allgemeine[]“⁷³ thematisiert wird. Wenn es bei Hegel heißt – „Erst was vollkommen bestimmt [in Allgemeinheit bestimmt, d.Vf.] ist, ist zugleich exoterisch, begreiflich und fähig, gelernt und das Eigentum aller zu sein.“⁷⁴ –, so entspricht dies auch der aneignungsstrategischen Mitteilung bei Kierkegaard: über das Mittelbare, die conditio humana zum Individuellen, dem „Eigentum“, dem Existieren zu gelangen, also über das Allgemeine das Konkrete herauszuheben.⁷⁵ Doch gleichfalls umgekehrt: das Konkrete soll als Basis des Allgemeinen begriffen werden. Denn Climacus’ anthropologisches und daseins-hermeneutisches Programm ist es, den Menschen aus dem Leben heraus zu verstehen (was bekanntermaßen der Grund dafür ist, dass sich Kierkegaard gegen Hegels Dialektik wendet⁷⁶). Nur auf der objektiven, gewissermaßen universellen Basis allgemeiner und propositionalisierbarer Strukturen und Bedingungen menschlicher Existenz kann eine Vermittlung der in ihrem Gehalt nichtpropositionalen Subjektivität und Innerlichkeit möglich gemacht werden.

 Vgl. Kapitel 2.1.2.3.1.  Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 34.  Hegel, Werke 3, S. 20.  Wird dies aus der praktischen Perspektive, der lesenden Aneignung (von Kierkegaards Schriften) gesehen, so kann mit Martin Heidegger gesagt werden: „Das eigentliche Lesen ist die Sammlung auf das, was ohne unser Wissen einst schon unser Wesen in Anspruch genommen hat …“ (Ders., „Was heißt Lesen?“, in ders., Denkerfahrungen. 1910 – 1976, Frankfurt am Main 1983, S. 61) Auf Kierkegaard gewendet: Das eigentliche Lesen ist die Konzentration auf das,was einen als Mensch immer schon bedingt und ausmacht (conditio humana), um sich von diesem Verstehen her selbst zu verstehen und in Erfahrung zu bringen, also über das Abstrakte (Verstehen des Gelesenen) zum Konkreten (Selbst-Erfahrung) zu gelangen.  Vgl. Lennart Pinomaa, „Dialektik V“, in HWPh, Bd. 2, S. 224 ff., hier S. 224.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Die strikte Trennung Climacus’ von nur indirekt mitteilbarer Subjektivität und direkter Objektivität ist für eine aneignungstheoretische Betrachtung unhaltbar, wenn Climacus’ Denken nicht als bloß subjektivistisch-doxatische Philosophie abgetan werden soll. Über die subjektive Existenz kann nicht einfach nichts gesagt werden, weil sie in der eigenen Erfahrung des Menschen liegt, sondern weil das subjektive Existieren an universelle Bedingungen des Menschseins geknüpft ist und Climacus das subjektive Existieren von der Analyse der allgemeinen, anthropologischen Bedingungen des menschlichen Existierens her betrachtet,⁷⁷ gewinnt das Sprechen über die Subjektivität und Innerlichkeit seine Berechtigung.⁷⁸ Die Mäeutik, wie auch das Ziel derselben, die Aneignung, können allein auf dem Grund von objektivem Wissen gelingen.⁷⁹ Dadurch kann gewährleistet werden, dass der Leser versteht und zur Übersetzung des Gesagten in die eigene Existenz befähigt wird.⁸⁰ Und eben darin besteht die Pointe an Climacus’ existenztheoretischer Analyseebene. Mit der Existenztheoretisierung schafft Climacus eine intersubjektive Basis des Verstehens; dass für das Subjekt die Erkenntnisfä-

 In dieser Kopplung von anzueignender Erfahrung und theoretisierbarer conditio humana liegt die komplexe Verzahnung von Theorie und Praxis in Kierkegaards Denken verborgen, auf die im Kapitel 2.1.4 genauer eingegangen wird.  Und doch muss gefragt werden: Sind die allgemeinen und propositionalisierbaren Strukturen menschlichen Daseins, gerade auch die, die in das Psychologische verlagert sind (wie beispielsweise das Inter-esse: vgl. Kapitel 2.2.2) nicht nur Resultat einer subjektiven Selbstbetrachtung des Autors? (Vgl. etwa Hans Blumenbergs Anmerkungen zu Freuds „Selbstanalyse“: Ders., Beschreibung des Menschen, S. 542 f.) Für den Anspruch auf wissenschaftlich-objektive Gültigkeit von Kierkegaards Erkenntnissen ist diese Frage sicher von Interesse. Und die Antwort liegt darin, dass die Merkmale der Subjektivität in das individuelle Dasein verlagerte Objektivität sind, nämlich: allgemeine Strukturen des Bewusstseins persönlichen Selbst-und-Welt-Verhältnisses. Erst im Anspruch auf diese Objektivität subjektiven Daseins kann überhaupt der Anspruch auf philosophische Relevanz erhoben werden (gegen die sich Climacus zwar permanent wehrt, aber unbezweifelbar beabsichtigt).  Vgl. Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 230 – 233. Ebenso: Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, besonders S. 70 – 74; Deuser, „Die Dialektik menschlichen Existierens“; Gräb-Schmidt: „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie“, S. 36 f.  Das Gesagte unterliegt dann aber immer noch, trotz aller direkten Mitteilung, der indirekten Mitteilung, womit eine Übersetzung kein bloßes Imitieren, sondern das Selbst-Entdecken ist. Allein in diesem für die Aneignung dienlichen Sinne der (indirekt gebrochenen) direkten Mitteilung ist m. E. die Betonung Philipp Schwabs zu bejahen, dass durch die in der Unwissenschaftlichen Nachschrift omnipräsente indirekte Methode, jedes unmittelbare Verstehen unmöglich gemacht wird: vgl. ders., Der Rückstoß der Methode, S. 146. Indem Climacus eine Existenztheoretisierung vornimmt, kann und muss die Unwissenschaftliche Nachschrift auch als philosophisches und nicht bloß existenz-schriftstellerisches Werk gelesen werden, zumal – wie gezeigt – das Philosophische der Aneignung dient.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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higkeit des anderen (hier: der Autor) als Möglichkeit der Objektivierung eigener Erfahrung in die eigene Erkenntnisfähigkeit eingeht;⁸¹ was vermittlungs- und aneignungstheoretisch sogar soweit interpretiert werden kann, dass der andere (hier: der Autor) als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von eigener Existenzerfahrung gesehen werden muss.⁸²

2.1.3 Taktiken des Schriftstellers Kierkegaards Methode, mit der Sprache gegen die Sprache vorzugehen, unternimmt er vor allem als Existenzschriftsteller. Neben der Textgestaltung, der Sprecherperspektive und der pseudonymen Methode muss zur Erörterung die für das Thema „Innerlichkeit“ wichtige „Friedhof-Szene“ in den Blick rücken. Letztere wird einer ausführlichen Interpretation unterzogen. Zum einen, weil sich die Szene gut eignet, um die Innerlichkeit in komplexer Form einzuführen; zum zweiten, weil anhand der Szene die Bedeutung des Fiktionalen bei aller ExistenzMitteilung hervorgehoben werden kann.⁸³

 Zur Intersubjektivität in genau diesem Sinne: Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 786.  Angesichts dessen steht die Aneignung dann unter zwei objektiven Bedingungen bezüglich des Innen-Außen-Verhältnisses aller mitteilungstheoretischen Vermittlung: Der Thematisierung der Tiefenstruktur eines jeden Menschen (das Immer-schon-Vorhandene; die conditio humana) und der von außen herangetragenen Vermittlung (was im Folgenden genauer betrachtet wird: Kapitel 2.1.3.3).  Dieter Henrich hat einige erhellende Bemerkungen zur Funktion von Fiktionalität vorgenommen. An deren kurzen Wiedergabe lässt sich gleichfalls die Bedeutung der Fiktionalität (ab Kapitel 2.1.3.4) für die hier vorliegende Diskussion (Sprache, Kommunikation, Aneignung) vorab pointieren. Henrich notiert: Fiktion ist eine „Erkenntnis- und Lebenskraft fördernde Leistung“. (Ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, S. 139) Die grundlegenden Bedingungen, damit die Fiktion diese Leistung erbringen kann, sind: 1. Das Wissen um die Irrealität (vgl. ebd., S. 144 und 148), die durch die Fiktion als ein Fingieren von Wirklichkeit erzeugt wird. [Anm.: Schon diese Bedingung lässt sich mitteilungstheoretisch auf Kierkegaard anwenden. Das Wissen um die Irrealität der Fiktion bedeutet, dass sowohl beim Rezipienten als auch Produzenten der Fiktion eine höherstufige Reflexion (Vgl. ebd., S. 139 f.) eingefordert wird, die die Fiktion als solche erkennt. Für den Produzenten (Kierkegaard) ist die Fiktion die reflexiv angewandte Sprache gegen die das Existieren nicht einholbare Sprache; die Durchführung der „Doppelreflexion“ (vgl. Kapitel 2.1.2.3.2) als Versuch, die Sprache an die Wirklichkeit heranzuführen. Für den Rezipienten gilt es dann – im Bewusstsein der „Doppelreflexion“ – die Fiktion auf die eigene Lebenswirklichkeit anzuwenden.]. 2. Fiktion steht immer in einem Gebrauchszusammenhang, jedoch erschöpft sich die Bedeutung der Fiktion nicht durch diesen (vgl. ebd., S. 144 f.). Vor diesem Hintergrund benennt Henrich drei wesentliche Funktionen der Fiktion (die gleichfalls auf Kierkegaard angewendet

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Als Schriftsteller, der das Subjektive des Menschen und einzelnen Lesers freilegen will, ist für Kierkegaard die Fiktionalität selbst und die durch sie mögliche Variation, existenzrelevante Sachverhalte zum Ausdruck zu bringen, jene Modulation des Sprechens, die der Aneignung der Innerlichkeit am stärksten entgegenkommt. Die Fiktionalität erlaubt ihm durch literarische Konstruktionen und stilistische Gestaltung, das Subjektive auf verschiedenste Weise und mit Hilfe einer expressiven Sprache an den Leser zu bringen. Dabei wird zwar die Sprache in ihrer durch Climacus lancierten Charakteristik der wirklichkeitsentfremdenden Abstraktion nicht aufgehoben, aber doch in eine Verwendung überführt, durch die die Abstraktion reduziert und der Sachverhalt ästhetisch zur Anschauung gebracht wird. Zugleich erlaubt die fiktionale Form auf subtile Weise, philosophische Akzente zu setzen, ohne distanzierte Theoretisierung, um dem Leser die Aneignung über sprachliche Veranschaulichung vor philosophischem Hintergrund zu erleichtern.

werden können): a) Die Funktion der Fiktion wird nicht durch eine rein zweckorientierte Deutung derselben erfasst. Denn ihre wesentliche Funktion liegt in der „Selbstverständigung“ (dem SelbstInteresse des Individuums; vgl. ebd., S. 146 f.). – Eben dies ist die existenzielle, ontogenetische Funktion der sich der Fiktion bedienenden Mäeutik bei Kierkegaard: Generierung des SelbstVerhältnisses. b) Fiktionalität ist nicht einfach eine Abstraktion neben der faktischen Wirklichkeit, sondern von dieser her gewonnen als auch auf dieselbe (durch Verfremdung) zielend (vgl. ebd., besonders S. 147 ff.) – „[I]hr Medium [ist] das Leben in seiner puren Faktizität.“ (Ebd., S. 145) Angesichts der wesentlichen Funktion der Fiktion, der „Selbstverständigung“, geht es bei der Fiktionalität um die Stellungnahme des Individuums zum eigenen Leben (vgl. ebd., S. 150). – Eben dies ist die Funktion des Sprechens aus der 1. Person Singular eines fingierten, pseudonymen Autors bei Kierkegaard: die eigene Existenzaufmerksamkeit. c) Durch die Fiktion wird die Ganzheit eigenen Daseins klar und diffus zusammengeführt. Sie bildet das Nicht-Erfahrbare (Ganzheit) als auch das begrifflich nicht Erfassbare ab. Im Betroffensein durch Fiktion findet eine „Umwendung“ statt, „die mich meine Lebenstendenz aus der Wirklichkeit, auf die ich zudachte, zurückgewinnen läßt und in der ich die unaufgebbaren Möglichkeiten meines Lebens als berechtigt begreifen kann …“ (Ebd., S. 147) – Eben diese Funktion der Fiktionalität, die Förderung der Konzentration auf die Potenzialität eigener Lebenswirklichkeit ist das Aneignungsziel von Kierkegaards Mitteilungsstrategien. Die Fiktionalität dient – in Henrichs Sinne – in ihrer Ambivalenz zwischen Realität und Irrealität und der sich von dort her speisenden Funktion (auf Wirklichkeit zu verweisen und diese sogleich umgreifen zu können) der Fokussierung auf die eigene Lebenswirklichkeit als Möglichkeitsraum eigener Selbstverwirklichung. Eben dies ist es, was die Fiktionalität in Kierkegaards Gebrauch funktional erfüllen soll: ein mitteilungsstrategisches Medium mäeutisch forcierter Aneignung je eigener Existenzwirklichkeit zu sein.

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2.1.3.1 Gedankenführung auf der Darstellungsebene Climacus/Kierkegaard geht es um Aneignung als prozesshafte Erfahrung der Überzeugungsbildung in prozesshafter Wirklichkeit⁸⁴.⁸⁵ Es geht um das (je eigene, subjektive) Existieren als Werden, als Bewegung, sowohl im ontogenetischen, existenziellen, handlungstheoretischen, bewusstseinsphänomenologischen (etc.) Sinne. Aneignungstheoretisch ist es Climacus’ Absicht, den je eigenen Existenzvollzug des Lesers freizulegen.⁸⁶ Die Schwierigkeit besteht darin, mit Hegel gesprochen, „die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen“⁸⁷ und diese Fluidität des Bewusstseins so abzubilden, dass sie vom Leser existenzdialektisch in einen Lebensvollzug übersetzt wird. Für die Umsetzung dessen ist es einerseits – auf semantisch-mitteilungsstrategischer Ebene – wichtig (wie in Kapitel 2.1.2 ausführlich thematisiert), dass die Existenz-Mitteilung unresultativ ist, also offen, inhaltlich unabgeschlossen, undefinitorisch bleibt. So kreist das von Climacus präsentierte Denken immer um das Ziel aller mäeutischen Vermittlung: das je persönliche Existieren. In der inhaltlichen Kreisbewegung spiegelt sich das Existieren als Bewegung. Andererseits – auf performativ-mitteilungsstrategischer Ebene – ist es wichtig, dass das betonte Werden allen Existierens auf der Darstellungsebene der Gedankenführung so vorgeführt wird, dass der zur Innerlichkeit angehaltene Leser selbst in einen Gedankenstrom versetzt wird. Wie gelingt Climacus auf der Darstellungsebene, dass das Existieren als Bewegung gespiegelt wird? Climacus präsentiert sein Denken in Schlaufen. Seine Darstellung ähnelt einem „stream of consciousness“. Der „Bewusstseinsstrom“ als eine in der Literaturwissenschaft gängige Charakterisierung für einen literarisch präsentierten inneren Monolog stammt als Begriff ursprünglich von William James, der in der XI. Vorlesung seiner „Psychologie“ vermerkt: „Das Bewußtsein … fließt. Ein ‚Fluß‘, ein ‚Strom‘, das sind die Metaphern, durch welche es am natürlichsten verbildlicht

 Vgl. Kapitel 2.2.  In diesem Sinne geht es Kierkegaard in seinem methodisch-mäeutischen Vorgehen um dieselbe pragmatische Maxime des Pragmatizismus Charles Sanders Pierce’, der – hingegen auf semiotischer Ebene – das Verhältnis von Lebensführung und (religiösem) Glauben von unreduzierbarer Prozess-Realität umschlossen sieht. Vgl. Deuser, „Pragmatische oder pragmatizistische Religionsphilosophie?“, S. 157 f.  Im Journal JJ hält Kierkegaard entsprechend fest: „Die Zeit wird schon noch kommen, wo man es ebenso abgeschmackt finden wird, Resultate mitzuteilen (was die Zeit jetzt fordert und wonach sie schreit), wie einst, eine Nutzanwendung für moralische Erzählungen zu schreiben. Derjenige, der nicht mittels des Wegs das Resultat zu finden vermag, bekommt es ohnehin nicht, er bildet es sich bloß ein.“ (SKS 18, 300, JJ:483/ DSKE 2, 311 (Hervorhebung d.Vf.)).  Hegel, Werke 3, S. 37.

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wird. Wir wollen es also, wenn wir von nun an davon sprechen, den Strom des Denkens, des Bewußtseins oder des subjektiven Lebens nennen.“⁸⁸ Die James’sche Definition des Bewusstseins als ein kontinuierliches, immer zusammenhängendes Ganzes ist deshalb für die Analyse Climacus’ interessant, weil er auf formaler Ebene, bei aller Differenzierung der Gedankengänge, immer einen ganzheitlichen Blick bewahrt, durch den jedes Detail seiner Darlegung in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt wird. Jede Thematisierung eines Sachverhalts steht immer unter der Absicht, sie später wieder aufzugreifen und weiter zu differenzieren. Das Ende der Ausführungen kann nicht vom Anfang getrennt werden und umgekehrt. In Entsprechung hält Emanuel Hirsch fest, dass Kierkegaard zu jenen Schriftstellern zähle, „die in stets lebendigem Akte das Ganze, um das es ihnen geht, immer wieder von neuem in seiner Ganzheit greifen.“⁸⁹ Climacus’ mäandernde Darstellung kreist in diesem Sinne permanent – inhaltlich und stilistisch! – um die mit Sprache nicht einholbare Problematik subjektiven Existierens. Nicht umsonst lautet der erste Satz des Mottos der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „Aber Sokrates, was soll doch dies alles sein? Das sind ja nur Brokken [sic.] und Schnitzel von Reden, wie ich schon vorher sagte, ganz ins kleine zerpflückt.“⁹⁰ Nur stückchenweise und immer wieder von neuem greift Climacus dieselben Aspekte des Existierens in immer neuer Modifizierung auf,⁹¹ bis sich schließlich alles auf den wesentlichen Punkt, das religiöse Existieren, verengt.⁹²

 W. James, Psychologie, übers. von Dr. Marie Dürr, mit Anmerkungen von Prof. Dr. E. Dürr, Leipzig 1909, S. 157 (Kursivsetzung im Original gesperrt).  Hirsch, Kierkegaard-Studien III, S. 4.  Aus: Platon, Hippias major, 304a. Zitiert nach der Anmerkung zur Seite 132 in der von mir verwendeten Ausgabe: DUN, 929. Zu einer genaueren Deutung des Mottos: Smail Rapic, „Lichtenberg’s Aphoristic Thought and Kierkegaard’s Concept of the ‚Subjective Existing Thinker‘“, in Kierkegaard and his German Contemporaries, Tome I, hg.von Jon Stewart, Farnham und Burlington 2007 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6), S. 211– 226, hier S. 221.  Climacus geht es also gerade darum, wie er im Vorwort der Unwissenschaftlichen Nachschrift notiert, in immer neuen Anläufen „die Gedanken zu kneten“ (SKS 7, 10/ DUN, 134). Neben den erbaulichen Reden ist die Unwissenschaftliche Nachschrift das Paradebeispiel für das Gelingen eines sich immer im Prozess befindlichen Denkens, eines immer neuen Ansetzens im Erfassen dessen, was es bedeutet zu existieren, eines fortlaufenden Schreibens, das dem Leser ein Angebot der Aneignung gibt, eines niemals ruhenden Nachdenkens über das Existieren und seiner Phänomene. Aussagen werden getroffen, widerrufen, korrigiert, elliptisch präsentiert. Vor allem im Moment der elliptischen Präsentation (der Präsentation des Denkens in Schlaufen) liegt die Aufweisung eines fortlaufenden Flusses des Denkens. Den formalen Aspekt der ständigen Bewegung soll der Leser im Sinne der Innerlichkeit nachvollziehen. Die Darstellung, Durchführung und Vorführung des Denkens in der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird so zu einer (symbolisch-semiotischen) Verdopplung (Spiegelung) der Innerlichkeit.

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2.1.3.2 Sprecherperspektive Geht es um die Vermittlung zur Aneignung des eigenen Existierens und der Innerlichkeit, gilt es für Kierkegaard (als Autor) zu beachten: Erstens, dass das eigene Existieren an die 1. Person Singular gebunden ist;⁹³ zweitens, dass er selbst eine Sprecherposition einnehmen muss, die der ersten Person Singular entspricht oder ihr zumindest dient. Interessant ist, dass Kierkegaards Sprechen an den meisten Stellen zwischen einer der Subjektivität dienenden Perspektive und einer objektivierenden Perspektive der dritten Person changiert. Wenn man sich beispielsweise die schon verwendeten Zitate anschaut – „Existieren ist etwas ganz anderes als Wissen“⁹⁴; „Glaube ist ja die höchste Leidenschaft der Subjektivität …“⁹⁵ –, sind dies objektive, als Definition gefasste Aussagen, womit die theoretisch geführte Abweisung eines definitorischen Sprechens zumindest auf performativer Ebene unterlaufen wird. Doch darin liegt gleichfalls das ständige Verschwimmen und

 Climacus’ Gedankenführung kann daher auch als vertikal gedachte Spirale gesehen werden. Die Spiralbewegung zeigt sich wie folgt: Der Leser wird an die Hand genommen und durch mehrere, sich verengende Kreise des Verstehens geführt, bis er am eigentlichen Kern der Schrift ankommt: dem Christsein. Die Spiralbewegung zeichnet vorab den Weg, der vom Leser gegangen werden muss, wenn er Christ werden will, d. h. letzten Endes Christ zu sein im Sinne Climacus’, was bedeutet, sich mit aller eigenen Energie und höchster Intensität religiöser Verbundenheit Jesus Christus zu verschreiben. Der theoretisch entfaltete Weg des Christwerdens ist immer daran gekoppelt, dass alle Ausführungen Climacus’ – seien sie zur Anthropologie, Ontologie, Religion (etc.) – immer vom existenziellen Ziel der Unwissenschaftlichen Nachschrift – das eigene Verhältnis zur eigenen ewigen Seligkeit – her verstanden werden müssen. Die Verstehenskreise können grob wie folgt angegeben werden: I. Einleitung: Der Leser muss verstehen, dass das vorliegende Buch an all jene gerichtet ist, denen es um Erlösung – christlich-religiös gesprochen: um die ewige Seligkeit – geht. II. Erster Teil: Der Leser muss verstehen, dass alle objektive Begründung – sei sie empirisch oder systemphilosophisch – dem Glauben inkommensurabel ist. Der Leser muss sich selbst gegenüber – als ein Mensch im Umgang mit religiöser Weltverortung, genauer: mit einem Interesse für die eigene ewige Seligkeit – aus einem objektiven Zugang gegenüber dem Glauben herausarbeiten. III. Zweiter Teil, erster Abschnitt: Es findet die Haupterörterung der Mitteilungsthematik statt. Für den Leser gilt es zu verstehen, dass er sich ganz auf sich konzentrieren muss und nur in eigens vollzogener Arbeit an sich selbst zum Glauben gelangen kann. IV. Zweiter Teil, zweiter Abschnitt: Der Weg der (religiösen) Verinnerlichung wird vertiefend dargestellt, das Religiöse stärker forciert und die Wirklichkeit als Innerlichkeit herausgearbeitet. Schließlich, auf den letzten 250 Seiten, wird einzig das religiöse Verhältnis des Menschen behandelt. Hier gilt es für den Leser zu verstehen, die Erbauung zu überwinden, denn das christliche Verhältnis wendet sich von der reinen Verinnerlichung ab, um sich auf das Paradox einer göttlichen Person in der Welt zu konzentrieren.  Vgl. Hermann Deuser, „Warum immer wieder Kierkegaard?“, in KSYB 2010, S. 3 – 20, hier S. 9.  SKS 7, 271 / DUN, 456.  SKS 7, 124/ DUN, 264.

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Changierende der Sprecherperspektive; die Un-Eindeutigkeit Kierkegaards. Er spricht definierend aus der dritten Person über das Existieren, propositionalisiert es, ist allein schon durch die Sprache dazu gezwungen, das Existieren zu objektivieren und zu abstrahieren, bleibt aber durch die Allgemeinheit der Aussage seiner Prämisse der Subjektivität treu. Denn, dass der Glaube Leidenschaft ist, ohne genau zu bestimmen, was denn Leidenschaft bedeutet, offenbart die Offenheit seines mäeutischen, aber doch theoretischen Sprechens. Solches Sprechen dient der Unablösbarkeit des eigenen Existierens von der 1. Person Singular; dass die Aussagen nur dann adäquat verstanden werden, wenn sie durch das Individuum in der Existenz selbst zur Anschauung gebracht werden. Die Vermischung der Sprecherperspektiven gewährleistet eine Ent-Fremdung von der Objektivität und damit einer Überführung in die Subjektivität.

2.1.3.3 Das Pseudonym als „Person“ und die Aneignung des Lesers „Eigentlich bin ich keine religiöse Individualität, ich bin lediglich eine tüchtige und vollständig angelegte Möglichkeit zu einer solchen.“⁹⁶

In einer NB-Aufzeichnung vermerkt Kierkegaard: „Jeder, der auf die M[en]sch[en] einwirken soll, muss mit zwei Gefahren vertraut sein: 1) dass die M[en]schen lau und träge sind, schwer in Bewegung zu setzen 2) dass sie, wenn sie erst in Bewegung gekommen sind, zu nichts so sehr neigen wie zum Nachäffen.“⁹⁷ Kierkegaard geht es dennoch darum, „die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen“⁹⁸, was vor existenzdialektischem Hintergrund bedeutet, dass es bei aller Mäeutik darum geht, den Leser zum aktiven Selbstdenken und -existieren zu bringen, weshalb von Kierkegaard für alle Aneignung das Sich-Entfernen vom mäeutischen Lehrer betont wird.⁹⁹ Mithilfe des Pseudonyms „Johannes Climacus“ will dieser Selbstvollzug des Lesers erreicht werden, was im Folgenden gezeigt werden soll. Kierkegaard schreibt im Journal JJ: Die Unwissenschaftliche Nachschrift ist „von Johannes Climacus – und es gilt ja auch hier, was hinten im Buch steht, dass das Pseudonym nicht ich bin …“¹⁰⁰ Dennoch: Obwohl das Pseudonym¹⁰¹ Johannes

 SKS 6, 240/ SLW, 271.  SKS 20, 123 f., NB:213/ DSKE 4, 138.  Hegel, Werke 3, S. 37.  Vgl. SKS 7, 220/ DUN, 390.  SKS 18, 285, JJ:435/ DSKE 2, 296.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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Climacus innerhalb der indirekten Methode als eigenständiger Verfasser zu sehen ist, bleibt er eine fiktional entworfene „Person“ Kierkegaards.¹⁰² Diese der indirekten Methode dienliche Stellung des vor die Person Kierkegaard geschobenen Pseudonyms soll die vom Leser zu vollziehende Aneignung des Gelesenen gewährleisten,¹⁰³ weil „[sich] [d]er Mitteilende … in der Mitteilung selbst zunichte machen [muß], damit er dem anderen nicht im Wege steht.“¹⁰⁴

 Zur Pseudonymität der Unwissenschaftlichen Nachschrift: Ravn, „The Genesis of the Concluding Unscientific Postscript“, S. 21 ff. Zum Pseudonym „Johannes Climacus“: Hirsch, Kierkegaard-Studien III, S. 145 – 149. Obwohl Hirsch „Climacus“ als biographische Figur Kierkegaards behandelt, bleiben die von ihm gemachten Beobachtungen sehr erhellend. Ebenfalls: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, besonders S. 39. Zu Climacus als sokratisches „Mittel“ der Aneignung: Paul Muench, „Understanding Kierkegaardʼs Johannes Climacus in the Postscript“, in KSYB 2007, S. 424– 440, besonders S. 435 – 440; sowie, jedoch mit stärkerem Blick auf die ebenfalls von Climacus geschriebenen Philosophischen Brocken und das Fragment Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est: Johann Tzavaras, Bewegung bei Kierkegaard, Frankfurt am Main, Bern und Las Vegas 1978, S. 15 f.  Für die Rolle Kierkegaards in Bezug auf die Unwissenschaftliche Nachschrift ist anzumerken: Kierkegaard fungiert als Herausgeber derselben und das Pseudonym Johannes Climacus ist als Autor genannt. Das Pseudonym ist – innerhalb der indirekten Methode – als eigenständiger Verfasser für den Inhalt verantwortlich, während Kierkegaard als Herausgeber keinen direkten Einfluss auf den Inhalt hat. Jedoch rückt sich Kierkegaard mit der eigenen Nennung zugleich in den Vordergrund,wenn auch nicht vordergründig. Das ist bei aller indirekten Mitteilung, selbst bis in die ungelenke und sich selbst ironisierende „erste und letzte Erklärung“, in der Kierkegaard sich schließlich als Verfasser voll und ganz zurücknimmt, nicht hintergehbar. Als Herausgeber steht Kierkegaard – innerhalb seiner indirekten Methode – zwar nicht in Beziehung zum verfassten Text, setzt sich aber doch in Beziehung zum Buch, das der Leser in der Hand hält. Das ist nicht unwesentlich, denn Kierkegaard ist es, der das Buch veröffentlicht, es unter die Menschen bringt und die Verbreitung der Botschaft Climacus’ ermöglicht. [Anm.: Dies könnte auch transzendental gelesen werden: Dass das Buch (Pseudonym) überhaupt da ist, wird durch Kierkegaard bedingt. Kierkegaard ist die Bedingung der Möglichkeit der durch das Buch/Pseudonym vermittelten Möglichkeit von existenzieller Wirklichkeit. Kierkegaard wäre so der transzendentale Grund des Buches/Pseudonyms als transzendentaler Grund der anzueignenden Existenzwirklichkeit.]  Hierzu vermerkt Hermann Deuser, die Analyselage der Pseudonymität und indirekten Mitteilung zusammenfassend: „Die konsequente Selbstanwendung der Forderung, ‚sich selbst in Existenz verstehen’ (UN II, 55), hätte Kierkegaard zur Heuchelei oder zu einem Leben in Kopie der eigenen Literatur gezwungen – wäre da nicht die Zwischenstellung der Pseudonyme gewesen. Sie vermeiden falsche Identifikation und Rücksichtnahme, und sie hält zugleich für den eigentlichen Autor dieselbe Forderung in Kraft, die das Pseudonym in fiktiver Person experimentierend aufzustellen vermag. Pseudonymität und indirekte Kommunikation* sind die sachlich nötigen Formen der Existenzmitteilung, denn ohne Selbstdistanzierung wäre der Ausstieg aus der unbegriffenen Selbst-Unmittelbarkeit, der noch nicht ergriffenen Selbst-Werdung gar nicht zu bewerkstelligen. Direkte Kommunikation muß aufgegeben werden, um die vorliegende Situation, d. h. die Umstände des Existierens, dem Selbstverhältnis nachgehend sachangemessen ins Bild

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Wesentlich für die hier zu führende Diskussion ist: Durch die Pseudonymisierung ist eine Dialogizität¹⁰⁵ zwischen dem Leser und dem Pseudonym etabliert.

setzen zu können; denn die Sache ist hier die Person!“ (Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 150). Das Pseudonym verhindert eine falsche Identifizierung des Gelesenen als Selbstmitteilung Kierkegaards. Indem er die Pseudonyme zwischen sich und den Leser schiebt, löst sich alles autoritäre Dozieren, alles Belehren Kierkegaards auf. Und das sogar soweit, dass Kierkegaard selbst, neben dem Leser, als reale Person zu verstehen ist, der das Existieren anhand der vorliegenden Bücher ebenso als anzueignende Aufgabe betrachten muss, so dass sowohl Autor als auch Adressat angehalten sind, die Theorie in die Praxis zu überführen. Im Journal JJ vermerkt Kierkegaard dazu: „Im Verhältnis dazu, zu existieren, gibt es nur Lernende, denn derjenige, der sich einbildet, dass er derart fertig sei, dass er andere belehren kann und darüber selbst zu existieren und zu lernen vergisst: der ist ein Tor. Im Verhältnis dazu, zu existieren, gibt es für alle Existierenden einen einzigen Lehrmeister: die Existenz selber.“ (SKS 18, 277, JJ:411 / DSKE 2, 287) Und doch gilt bei aller pseudonymen Methode Kierkegaards, was Joakim Garff festhält: „Kierkegaard [hat sich] genau dadurch, dass er seine Schriften pseudonym herausgab, … erlauben können, außerordentlich privat zu schreiben. … Kierkegaard hat sich unerhört nahe an sich herangeschrieben und dadurch sich selbst herausgeschrieben.“ (Ders., Kierkegaard, S. 428) Kierkegaard hat sich so nah an sich herangeschrieben, dass er zu den allgemeinen Strukturen menschlichen Existierens vorgedrungen ist (vgl. Kapitel 2.1.2.3.3), womit das Geschriebene wiederum gänzlich unpersönlich ist. Zugleich aber kommt er dem nahe, was er als Pseudonym Climacus festhält: dass nämlich ein existierender Denker, „indem er seinen Gedanken vorträgt, zugleich sich selbst schildert.“ (SKS 7, 326/ DUN, 526) Diese Spannung zwischen unpersönlicher und persönlicher Produktion gibt Kierkegaard selbst zu, wenn er in einer NB-Aufzeichnung schreibt: „Mein Schaffen ist mäeutisch gewesen, meine Existenz ist dadurch unterstützend gewesen, dass sie der Stein des Anstoßes war.“ (SKS 20, 24, NB:13/ DSKE 4, 23)  Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 229.  „Obwohl Kierkegaard nicht in der Dialogform schreibt, bewegt sich doch alles, was er seine Pseudonyme sagen läßt, innerhalb der zweigleisigen sokratischen Dialektik. Eigentlich hat er die Dialogform gar nicht aufgegeben, sondern aus dem ganzen Werk der Pseudonyme einen einzigen großen Dialog gemacht. An die Stelle des unmittelbaren Gesprächspartners tritt der Leser.“ (Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 38). Kierkegaards dialogisches Vorgehen hat philosophisch Methode: Erst mit Hilfe des Gegenüber kann Erkenntnis erlangt werden oder anders gesagt: keine eigene Weiterentwicklung ohne Hilfe (vgl. auch Kapitel 2.1.2.3.3). Die sokratische Gesprächsdialektik hat dies zum Inhalt. Ernst Tugendhat hat in diesem Sinne einmal vermerkt: „Philosophieren geschieht nicht in dritter Person, in der wir über etwas … beschreibend und erklärend reden, sondern in erster und zweiter Person, in der wir miteinander“ über etwas sprechen. (Ders., Über den Tod, S. 56) Dass Climacus dennoch bei allem vermittelnden, mäeutischen Sprechen im Grunde in keinen wirklichen Dialog mit dem Leser treten kann, liegt in der Natur der Präsentation. Ulrich Lincoln hält in diesem Sinne fest, dass Climacus als sprechendes Gegenüber wesentlich agierend, weniger reagierend bleibt (vgl. ders., Äußerung, S. 114 f.). Es könnte andererseits jedoch ebenso gut gesagt werden, dass Climacus reagierend agiert, indem er in seinen vor allem philosophischen Ausführungen wesentlich allgemein und theoretisch bleibt und so einen Rezeptionsrahmen kreiert, durch den sich der Leser vielfältig wiederfinden kann. Die

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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Dieser Dialog muss in zwei Blickrichtungen betrachtet werden: Zum einen, dass das Pseudonym als „Person“ zum Leser spricht. Zum anderen, dass der Leser sich am anderen, dem faktisch nicht existenten Pseudonym, spiegelnd mit sich selbst spricht. Exemplarisch kann dies an folgender Stelle der Unwissenschaftlichen Nachschrift gezeigt werden: Ich, Johannes Climacus, bin weder mehr noch weniger als ein Mensch; ich nehme an, dass der, mit dem ich zu sprechen die Ehre habe, auch ein Mensch sei.¹⁰⁶

Das ist eine der wenigen Stellen, wo Climacus tatsächlich aus der Ich-Perspektive schreibt und damit die 1. Person Singular realisiert, an die das je eigene Existieren gebunden ist. Climacus ist von Kierkegaard als fiktionaler Verfasser gleichzeitig als wirklich existierender Mensch entworfen. Als dieser teilt er sein faktisches (auch leibliches) Existentsein direkt mit. Dass Climacus direkt spricht, zeigt zugleich, dass es ihm mit der Aussage, er sei ein Mensch, ernst ist. Geht es ihm sachlich um das Existieren, geht es aneignungstheoretisch darum, dass sich das Individuum (der Leser) als Mensch wahrnimmt, der faktisch da ist und mit seinem Leben umgehen muss. Die Ich-Perspektive evoziert gerade Existenz- und SelbstInteresse (Sorge). Zugleich ist Climacus aber faktisch nicht existent. Das hat für die Dialogizität der Unwissenschaftlichen Nachschrift zur Folge, dass der Leser sich an Climacus spiegelt, d. h. in Climacus auf sich selbst zurückgeworfen wird: dass er selbst leiblich-konkret und nicht negierbar ein Mensch ist. Climacus’ faktische Nicht-Existenz wird so zu einer Verdopplung des Lesers, womit die „theoretische Gestalt gerade auf die lebendige Konsequenz einer subjektiven Existenz aus ist.“¹⁰⁷ Das Pseudonym Johannes Climacus ist demnach erstens innerhalb der indirekten Methode als eine existente Person aufzufassen, die direkt, aus der IchPerspektive, mitteilt. Zweitens aber gilt zugleich, dass seine durch die unhintergehbare Fiktionalität gebrochene Faktizität im selben Moment die direkte Mitteilung bricht, wodurch der Leser abgestoßen auf sich selbst zurückgeworfen wird. Diese doppelte Funktion der Ich-Perspektive bei Climacus beziehungsweise das Changieren zwischen direkter und indirekter Aussage (was in Entsprechung zur Vermischung der Sprecherperspektive des theoretischen Sprechens steht¹⁰⁸) zieht

Unwissenschaftliche Nachschrift wird erst durch den Leser ein aktiv wirkendes Werk. Climacus manövriert sich dann selbst aus seiner aktiven Position als Autor in eine reagierende hinein (was wiederum der sokratischen Mäeutik entspricht).  SKS 7, 105/ DUN, 241.  Deuser, Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, S. 55.  Vgl. Kapitel 2.1.3.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

sich durch alle Stellen der Unwissenschaftlichen Nachschrift, wo Climacus sich selbst als „Person“ hervorhebt. Die in der Ich-Perspektive liegende philosophische Funktion hat Ernst Tugendhat einmal damit herausgehoben, dass etwas genau dann aus der Perspektive der 1. Person behandelt wird, „wenn die Frage leitend ist, was es für uns bedeuten kann …, diesen Weg oder einen vergleichbaren selbst zu beschreiten.“¹⁰⁹ Wird dies für Climacus ernst genommen, heißt das: Es geht ihm im Herantreten an den Leser um Lebensgestaltung, die er für den Leser vorführen und freigeben will.¹¹⁰ Wenn es in der Unwissenschaftlichen Nachschrift um das religiöse Existieren geht, ist zu fragen: Wird Climacus dann als religiöse Persönlichkeit entworfen (um das Religiöse für den Leser freizugeben)? Dies kann sofort verneint werden, wenn sich Climacus’ eigentliche Selbstcharakterisierung angeschaut wird: [I]ch [bin] doch weder ein religiöser Redner noch ein Religiöser …, sondern bloß ein humoristisch experimentierender Psychologe.¹¹¹

Dass er sich als Psychologe bezeichnet, bedeutet, dass er allein an der Art und Weise der Erscheinung von Bewusstseinsphänomenen interessiert ist, nicht aber an der Erklärung des Entstehens des religiösen Bewusstseins.¹¹² Erstens heißt das: Climacus ist wesentlich beobachtender Phänomenologe. Daraus aber folgt bei

 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München 2003, S. 115.  Genauer noch: Es wird immer ein wesentlicher Aspekt für das in der Unwissenschaftlichen Nachschrift dargelegte Denken durch die Ich-Perspektive unterstrichen und somit für den Leser vorgeführt, zugleich aber indirekt zurückgenommen, wodurch der Leser zum eigenen Denken angehalten ist. Von Climacus wird – mit Magnus Schlette gesprochen – „eine Situation der persönlichen Anrede [fingiert], die den Adressaten in seinem individuellen Sosein betreffen soll.“ (Ders., Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus, Göttingen 2005, S. 110) Die durch das Pseudonym etablierte Außenperspektive wird zur Innenperspektive des Lesers (vgl. dazu: Hermann Deuser, „Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz“, in ders., Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus. Gesammelte Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie, hg.von Niels Jørgen Cappelørn und Markus Kleinert, Berlin und New York 2011, S. 90 – 105, hier S. 92 f.) Innen und Außen sind über die indirekte Methode miteinander verschränkt.  SKS 7, 438/ DUN, 672. Zu einer mehr exegetischen Auseinandersetzung dieser Selbstcharakterisierung Climacusʼ: Evans, Kierkegaard’s Fragments and Postscript, S. 21– 24.  Vergleiche zur Charakterisierung der Psychologie die Einleitung des Begriffs Angst, wo Vigilius die Psychologie als „Lehre vom subjektiven Geist“ (SKS 4, 331 / DBA, 465) bezeichnet und die genannten Charakteristika benennt: vgl. SKS 4, 329 – 331 / DBA, 463 – 466. Die dort charakterisierte Psychologie entspricht dem Verständnis von Psychologie im 19. Jahrhundert als Erfahrungswissenschaft von Bewusstseinserlebnissen. Zu dieser: Hans Meyer, „Ein Wort zur modernen Psychologie und Anthropologie“, in PJdG 1960, S. 269 – 278, hier S. 269.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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aller mäeutischen Absicht zweitens: Climacus steht als psychologischer Beobachter nicht nur für sich, sondern ist mit den anderen verbunden. Er muss an sich selbst das nachbilden, was er am Anderen erwecken will (womit die Funktion der Ich-Perspektive angesprochen ist).¹¹³ Ob Climacus jedoch tatsächlich keine Genese existenziellen und religiösen Bewusstseins verfolgt, wird sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit zeigen müssen. Ebenso wichtig ist, dass sich Climacus als Humorist kennzeichnet. Damit ist weniger eine durch Witz gekennzeichnete Haltung benannt, obwohl Climacus auch in diesem Sinne stellenweise sehr humorvoll ist, sondern eine existenzielle Haltung.¹¹⁴ Innerhalb der in der Unwissenschaftlichen Nachschrift dargelegten Stufenfolge der Existenzstadien¹¹⁵ steht der Humor als Übergangsstadium zwischen dem ethischen und dem religiösen Stadium. Climacus ist sich als Humorist des Religiösen bewusst, ohne es sich aber für die eigene Lebensgestaltung anzunehmen; er bleibt vor der Möglichkeit stehen, ein Leben im Dienst christlicher Erlösung zu leben.¹¹⁶ Er steht mehr in distanzierter Sympathie zum (christlich) Religiösen. Dennoch oder gerade deshalb ist der Humor als philosophische Lebenseinstellung zu identifizieren, bei der vor religiösem Hintergrund die conditio humana in den Blick gerät, die bei Climacus als Leiden identifiziert wird: „Das Tiefsinnige ist, dass er [der Humorist, d. Vf.] das Leiden zusammen mit dem Existieren fasst, und dass darum alle Menschen leiden, solange sie existieren; denn der Humorist versteht unter Leiden nicht Unglücksfälle …“¹¹⁷ In diesem Sinne ist der humoristische Blick auf das Leben von Mit-Leid (von Sym-pathie) geprägt. Climacus weiß um das Leiden, will es aufzeigen und zum Umgang mit diesem verhelfen. Dennoch – und das betont Climacus – hat der Humorist (Climacus selbst) nur intellektuellen Zugang zum Leiden; er wendet sich vom Leiden als die wesentliche

 Zur psychologischen Beobachtersituation: Arne Grøn, „Phänomenologie der Subjektivität. Überlegungen zu Kierkegaards Abhandlung über die menschliche Freiheit“, in Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken, S. 487– 498, hier S. 489 ff.  Zum Humor in der Unwissenschaftlichen Nachschrift: besonders Pierre Bühler, „Warum braucht das Pathetische den Humor?“ in KSYB 2005, S. 153 – 174, besonders S. 169 – 174; Evans, Kierkegaard’s Fragments and Postscript, S. 185 – 206; sowie: Kateřina Marková, „Inexactness? Yes, but yet Masterfully Defined: The Role of the Humorous Comic in Concluding Unscientific Postscript“, in KSYB 2012, S. 119 – 143, besonders S. 134– 143.  Zur Stufenfolge der Stadien: SKS 7, 452– 477/ DUN, 691– 723, besonders: SKS 7, 455/ DUN, 694 und SKS 7, 483 (Anm. 1) / DUN, 731 (Anm. 2).  Dass das Pseudonym „Climacus“ von Kierkegaard später (1851) selbst als ein dem erbaulichen und christlichen Existieren „niedriger“ gestelltes Pseudonym gekennzeichnet wird: vgl. SKS 13, 12 (Anm. 1) / WS, 4 (Anm.); vgl. ebenfalls: SKS 13, 14 (Anm. 2) / WS, 6 (Anm. 3).  SKS 7, 407/ DUN, 631.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Grunderfahrung des Existierens ab.¹¹⁸ Damit unterläuft sich Climacus selbst als mäeutisierende Person, weil er den Leser zu etwas hinleiten will, von dem er selbst nicht weiß, was es in der konkreten Erfahrung bedeutet. Dies entlarvt Climacus in seiner Funktion als „Hebamme“, von der der Leser zunächst getragen wird, dann aber gezwungen ist, sich abzuwenden, um nicht nur auf eigenen „Füßen“ stehen zu können, sondern dies auch zu müssen (für ein religiöses Existieren). – Für die Vermittlung des Existierens besteht positive Kehrseite dessen in der folgenden Eigenschaft Climacus’: Dass Climacus nämlich hervorhebt, dass er kein religiöser Mensch und damit auch kein Christ¹¹⁹ ist, hat wesentliche Auswirkung auf die Dialogizität der Schrift. Er tritt bei aller Thematisierung des religiösen Existierens nicht als Prediger auf. Er will auf Augenhöhe mit dem Leser sprechen. Gleichzeitig aber möchte er dem Leser auch ein Stück voraus sein. Denn die Climacus-Schriften richten sich (auch) an Leser, denen das Religiöse – trotz christlicher Konfession – aus den Augen geglitten ist. Als Humorist hat er das Religiöse im Blick, ohne von oben herab, von einem religiösen Standpunkt aus mit dem Leser zu sprechen, sondern auf einer nichtreligiösen Stufe mit ihm ins Gespräch zu kommen, ihn abzuholen und ihm dabei gleichzeitig auf das Religiöse hinzuweisen. Weil er dies in dieser unhierarchischen Art und Weise realisiert und in seiner Stilistik den Leser nicht überfährt, wird er in seinem religiösen Anliegen glaubwürdig.¹²⁰ Schließlich betont Climacus, dass er experimentierend vorgeht. Dies geschieht, indem er seinem Dialogpartner (dem Leser) davon berichtet (wie nicht anders möglich bei persönlichen Erfahrungen),¹²¹ was vom Leser (subjektiv) in Erfahrung gebracht und nachvollzogen werden soll. Das „experimentierende“ Moment ist: Climacus verwendet sich dabei an verschiedenen Stellen stellvertretend für den Leser, zur Aneignung des Lesers. Diese experimentierende Haltung Climacus’ in Bezug auf die Verwendung seiner eigenen „Person“ im Dienst der Aneignung und Dialogizität wird an folgender Stelle deutlich: »Ich, Johannes Climacus, geboren und aufgewachsen in dieser Stadt, jetzt dreißig Jahre alt, ein Mensch recht und schlecht, so wie die meisten, nehme an, dass für mich ebensogut wie für ein Dienstmädchen und einen Professor ein höchstes Gut, das eine ewige Seligkeit ge-

 Vgl. SKS 7, 407 f. / DUN, 630 – 632.  Dass Climacus kein Christ ist, dazu u. a.: Gisela Dischner, Es wagen, ein Einzelner zu sein. Versuch über Kierkegaard, Bodenheim 1997, S. 42; Liu, Augenblick und Angst, S. 16 f.; Mjaaland, „Giving Birth, or Kierkegaard’s Socratic Maieutics“, S. 115 – 146, hier S. 134 f.  Zur nicht-autoritären Gesprächssituation: vgl. Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 51 und 81.  Zu Dialogizität und (religiöser) Erfahrung: vgl. Hans Wißmann, „Erfahrung I“, in TRE, Bd. 10, S. 83 – 89, hier S. 84 ff.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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nannt wird, zu erwarten steht; ich habe gehört, dass das Christentum einem dieses Gut bedingt: nun frage ich, wie komme ich in ein Verhältnis zu dieser Lehre.«¹²²

Climacus gebraucht sich selbst, um den Leser klar werden zu lassen, dass es in der Unwissenschaftlichen Nachschrift um das religiöse Existieren geht und somit ein durch das Individuum praktiziertes Gott-Verhältnis mit dem Ziel der eigenen Erlösung einzugehen. Dass Climacus selbst kein religiöser Mensch ist, verdeutlicht, dass er sich allein zum Zweck der Aneignung für den Leser gebraucht (beziehungsweise von Kierkegaard gebraucht wird) und dem Leser das Aneignungsziel mimisch ¹²³ vorführt. Exemplarisch sei dazu folgende Stelle betrachtet: So habe ich mich selbst zu verstehen versucht: ist das Verständnis auch ärmlich und seine Ausbeute auch gering, so habe ich mich, um dem abzuhelfen, entschlossen, mit meiner ganzen Leidenschaft kraft des Verstandes zu handeln; vielleicht ist es doch auch zuguterletzt eine gesündere Diät, nur ein wenig zu verstehen, aber dies Wenige in der unendlichen Zuverlässigkeit der Leidenschaft in der Einfassung der Unendlichkeit zu besitzen, als viel zu wissen und nichts zu besitzen …¹²⁴

Im Gegensatz zum vorhergehenden Zitat tritt hinzu, dass diese Stelle zugleich eine inhaltliche Wiedergabe des existenziell-religiösen Zustands und somit das Aneignungsziel ist, wodurch der Leser in einem über Climacus’ eigene Position hinausgehenden Sinne gespiegelt wird. Climacus gebraucht sich selbst in einem hyperbolischen Sinne, weist dorthin, wohin der Leser Climacus überholen muss (denn Climacus ist eben nicht religiös). Climacus verfolgt durch seine Ich-Perspektive methodisch also auch eine einladende Absicht der Suggestion. Nur wenn es dem Leser möglich ist, sich auf die Darstellung der Unwissenschaftlichen Nachschrift einzulassen und den Inhalt mit affirmativer Bereitschaft in sich ein-zu-lassen,¹²⁵ versteht er die Dringlichkeit dessen, was Climacus antreibt: am Sinn des eigenen Lebens mit allem Ernst interessiert zu sein. Wenn Climacus am Ende des Vorwortes der Unwissenschaftlichen Nachschrift schreibt, dass er sich selbst als Vorübergehenden betrachtet, als

 SKS 7, 25/ DUN, 144.  Das Mimische steht in Entsprechung zum Untertitel der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „Mimisch-pathetisch-dialektische Sammelschrift, existenzieller Beitrag“.  SKS 7, 168/ DUN, 321 f. (Hervorhebung d.Vf.). Zur genaueren Deutung dieser Stelle: Kapitel 2.3.2.4.3.  Flemming Harrits sagt dementsprechend ganz richtig, dass es zur Aneignung des Gesagten unabdingbar gehört, dass der Leser die rechte „mentale Einstellung“ mitbringt als auch die (systematisch gesetzten) „Voraussetzungen des Autors“ teilt. (Ders., „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, in KSYB 2001, S. 245 – 267, hier S. 248)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

einen, der einem begegnet, ohne dass er Spuren hinterlässt, ist das zwar eine nicht nur mäßige Untertreibung, aber eine notwendige Finte, um den Leser in sein Denken hineinzuleiten. Trotz der experimentierenden Haltung für den Leser (die direkte Selbstbeschreibung Climacus’ zeigt als semiotische Veranschaulichung auf den Leser) schafft eine Selbstbeschreibung aus der Ich-Perspektive von vornherein auch eine Distanz zwischen Climacus und dem Leser. Diese Distanz muss in zwei Blickrichtungen gesehen werden: 1. Die für die Aneignung gewollte Distanz zeigt, dass der mäeutische Prozess ein intersubjektiver ist. Ohne das Herantragen des zu vermittelnden Sachverhalts von außen kann keine eigene Einsicht im Leser entstehen (Dialogizität). Die Erkenntnisfähigkeit des (äußeren) anderen (Autor) wird – intersubjektiv – in den eigenen Erfahrungshaushalt (Leser) implementiert;¹²⁶ Aneignung hat Umwegcharakter. 2. Da die Aufgabe der Mäeutik nicht darin besteht, Anhänger oder imitierenden Nachfolger zu generieren, ist die entstehende Distanz zwischen Climacus und dem Leser der Versuch, an den Menschen selbst heranzutreten, der durch die Aneignung selbst zur Einsicht gelangen muss. Die Leser sollen abgestoßen werden, um dann aus sich selbst, für sich selbst, zu sich selbst zurückzukommen. Der hiermit entstehende Widerspruch zum vorhergehenden Punkt (Umwegcharakter durch äußeres Herantragen) kann entweder transzendental gelöst werden (Kierkegaard ist die Bedingung der Möglichkeit eigener Existenzerfahrung) oder mitteilungstheoretisch (Mäeutik als das Hineintäuschen in das „eigene“ Denken) oder gar nicht als strenger Widerspruch aufgefasst werden, sondern als strukturelle Ambivalenz jedes Erkenntnisprozesses: dass Einsicht (in etwas) auf basal-epistemologischer Ebene immer bedeutet, auf gegebenes Denken zu reagieren.

2.1.3.4 Aneignung und Innerlichkeit: Die „Friedhof-Szene“ Neben der über weite Strecken der Unwissenschaftlichen Nachschrift vorzufindenden direkten Existenzbeschreibung und -theoretisierung gibt es in den Text eingeflochtene fiktionale Szenen, die etwas befremdlich und zugleich herausgehoben und monolithisch im Gesamtgefüge der Unwissenschaftlichen Nachschrift erscheinen. Die, neben anderen, auffälligsten dieser Art sind zwei Szenen. Zum einen die „Café-Szene“¹²⁷, in der Climacus sich als gutbürgerlichen Zeitgenossen näher beschreibt, dabei die Gewöhnlichkeit seiner „Person“ aber so

 Vgl. Kapitel 2.1.2.3.3.  Vgl. SKS 7, 170 – 173/ DUN, 324– 328.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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übertreibt, dass er zum Klischee und Abziehbild seiner Mitmenschen wird. Die für die vorliegende Untersuchung wichtigere Szene ist die „Friedhof-Szene“.¹²⁸ In ihr wird eine Situationsbeschreibung gegeben, durch die die Innerlichkeit innerhalb eines fiktionalen Rahmens zur Aneignung freigegeben wird. Dabei werden die verschiedenen bisher erörterten Punkte der Versprachlichung miteinander verwoben. Climacus führt sich als „Person“ vor, ist zugleich eine Folie zur Spiegelung des Lesers, flechtet philosophische Theoretisierungen ein, bleibt in der Begrifflichkeit offen, überträgt diese Offenheit durch die Literarizität der Szene in einen allgemeingültigen hermeneutischen Kontext des Existierens und macht die Szene durch diese Faktoren zu einem komplexen, der Aneignung und damit der Existenz-Kommunikation dienlichen Moment. Für die Analyse der Innerlichkeit ist eine genaue Interpretation der Szene unumgänglich, zumal – oder gerade weil – die Szene zugleich als hermeneutische Einführung in den komplexen Gehalt des climacischen Begriffs der Innerlichkeit zu verstehen ist. Climacus beginnt damit, dass er zum wiederholten Mal an einem Sonntag unterwegs sei.¹²⁹ Zum wiederholten Mal deshalb, weil auch die von Climacus zuvor geschilderte „Café-Szene“ an einem Sonntag spielt. Dass es wieder Sonntag ist, ist von Interesse, weil jeder Leser sofort versteht, dass dies der christliche Ruhetag ist, an dem jeder gutbürgerliche Mensch sich Zeit nehmen kann und die Möglichkeit hat, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihn persönlich angehen. Sowohl das Motiv des christlichen Ruhetags als auch des Zeit-Nehmens als auch des Um-sichselbst-Kümmerns sind wichtige Charakteristika der Innerlichkeit. Climacus’ groß angelegtes Programm der Unwissenschaftlichen Nachschrift ist das Christ-Werden, das erst dann erfüllt ist, wenn man sich das ganze Leben dafür Zeit nimmt, es permanent in Innerlichkeit vollzieht, die ein Selbst-Verhältnis des Menschen vor Gott darstellt. – Die Szene wird sodann eingeleitet mit einer abendlichen Naturstimmung.

Naturstimmung Es war etwas später, es ging gegen Abend. Und der Abschied des Abends von dem Tag und von demjenigen, der den Tag erlebte, ist eine geheimnisvolle Sprache; seine Mahnung ist, wie wenn eine sorgsame Mutter ihr Kind daran erinnert, zur rechten Zeit nach Hause zu gehen, seine Einladung aber, selbst wenn der Abschied keine Schuld daran hat, dass er so missverstanden wird, ist ein unerklärliches Winken, als wäre die Ruhe nur durch das Verweilen draußen bei der nächtlichen Begegnung zu finden, nicht mit einem Weibe, sondern weiblich mit dem Unendlichen von dem nächtlichen Wind überredet, wenn er sich selbst einförmig

 Vgl. SKS 7, 213 – 220/ DUN, 381– 390.  SKS 7, 213 f. / DUN, 381.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

wiederholt, wenn er Wald und Wiesen durchsucht und seufzt, als suche er etwas, überredet vom fernen Widerhallen der Stille in sich selbst, als ahne er etwas, überredet von der erhabenen Ruhe des Himmels, als sei es gefunden, überredet von der hörbaren Lautlosigkeit des Taus, als sei dies die Erklärung und Erquickung der Unendlichkeit, gleich der Fruchtbarkeit einer stillen Nacht, nur halb verstanden wie die halbe Durchsichtigkeit des nächtlichen Nebels.¹³⁰

Die durch expressive Sprache erzeugte Stimmung überführt das Gesagte durch das Wie der Form in die affektive Wahrnehmung für den Leser. Die Natur wird verklärt und symbolisch für die innere Stimmung überhöht.¹³¹ So weist der Abend als Abschied des Tages nicht nur in einer für die Romantik typischen Metaphorik auf die kommende Szenerie des Friedhofs und auf den Tod hin, sondern dient zugleich als Einladung: Denn der Abend als Übergang von Tag zu Nacht, von Helle zu Dunkelheit, von Arbeit zu Ruhe wird zum Bild der Selbsteinkehr, „der Stille in sich selbst“ (und die „erhabene Ruhe des Himmels“ gibt den kontemplativen Bezugsrahmen). Damit wird gleichfalls schon im Eingang der Szene die erst nach der Friedhof-Szene dezidiert zur Sprache gebrachte Aneignungsthematik herausgestellt, für die es gilt, dass „der Lernende sich das Gelehrte durch sich selbst aneignet, … er sich in sich selbst kehrt“ und dieses In-sich-selbst-Kehren „gerade die Innerlichkeit“ ist.¹³² Die zur Aneignung führende Mäeutik wird durch die viermalige Verwendung des Verbs „überreden“ hervorgehoben. Dabei muss von Interesse sein, dass das Individuum von Naturerscheinungen überredet wird. Das Individuum bedarf für die Innerlichkeit eines äußeren Anstoßes, um in sie hineinzugelangen. Daran zeigt sich ein grundsätzlicher Sachverhalt innerlichen Existierens: dass es sowohl durch aktives Bezogensein als auch von der Passivität des Verwiesenseins an Nicht-Eigenes bestimmt wird; Innerlichkeit ist als konkreter Vollzug nur mittelbar zugänglich; es bedarf helfender Initiation. Interessant ist dann, durch welche Naturerscheinungen die „Überredung“ stattfindet: von den Phänomenen des „einförmigen Windes“, der „Stille des Waldes“, der „Ruhe des Himmels“ und der „Lautlosigkeit des Taus“. Climacus macht geradezu das Nichthörbare hörbar.¹³³ Nicht nur kommt es bei der religiösen Innerlichkeit auf das Hinhören, die Stille, das Schweigen, die Erfahrung der Aufmerksamkeit auf Gott an, sondern dass das Individuum in sich „versinkt“¹³⁴.

 SKS 7, 214/ DUN, 381 f.  Zur „Verklärung“ in der Friedhof-Szene wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung eingegangen, deren Pointe für die Bedeutung der Innerlichkeitskonzeption aber erst ganz am Ende des Abschnitts zu Climacus verständlich gemacht werden kann: vgl. Kapitel 2.3.3.3.3.  SKS 7, 220/ DUN, 390.  Zur Bedeutung des „Hörens“ bei Kierkegaard: vgl. Kapitel 1.1.  Das „Versinken“ ist ein systematischer Begriff: vgl. Kapitel 2.3.3.3.3 und 3.2.2.1.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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Die ästhetische Erfahrung oder „die ästhetische Freude am Schönen“ – wie Schopenhauer sagt – leitet zu einem „Zustand der reinen Kontemplation“, in der sich das Individuum „für den Augenblick allem Wollen, d. h. allem Wünschen und Sorgen, enthoben, gleichsam [sich] selbst los w[ird] …“¹³⁵ In eben diesem Sinne sind die von Climacus gewählten Naturerscheinungen der Spiegel eines kontemplativen Schwebezustands¹³⁶ des Individuums,¹³⁷ wobei sich folgende Dialektik offenbart: die Natur ist durch die Wahrnehmung und Stimmung des Individuums gefiltert und erscheint als die zur Einkehr anleitenden Phänomene. Die Natur ist dabei nicht nur als Projektionsfläche des Ahnens und Einfühlens bestimmt (passive Tätigkeiten präreflexiver Anschauung, die der objektivierenden Aktivität des Denkens und Handelns vorausgehen)¹³⁸, sondern ebenfalls als Ort subjektiver Wechselwirkung zwischen der empfangenden Affizierung des Individuums (durch die Natur) und dem Hineinspiegeln¹³⁹ des Individuums in die

 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweiter Teilband, S. 482.  Ernst Bloch benennt die eben zitierte Stelle der Nachschrift als das philosophisch präzise Beispiel für einen „Zustand der metaphysischen Schwebung“ (ders., Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen.Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1985, Kapitel 43 – 55, S. 1579 (im Original kursiv)), in der sich sowohl kontemplative Sehnsucht nach „Heimat“ (im von Unendlichkeit durchdrungenen Endlichen) als auch der Schwebezustand des Nicht-Verstehenkönnens durchdringen, womit die bloße „Inwendigkeit d[]es Sich-Befindens“ (ebd., S. 1580) aufgesprengt und das Welthafte der Welt, also das Objektive ergriffen wird. Innerlichkeit schlägt nicht dialektisch ins Außen um, durchdringt dieses aber massiv und löst so implizit die Relation zwischen Innen-Außen, SubjektObjekt auf (vgl. ebd., S. 1580 f.).  An späterer Stelle beschreibt Climacus, wie er sich auf einer Bank niederlässt, den Sonnenuntergang beobachtet, der einen „Schein der Verklärung über die ganze Umgebung warf“, was für ihn zum „Sinnbild des Ewigen“ wird, indem der „unendliche Horizont“ zum Bild des „Ausruhen[s] für die Seele“ wird (SKS 7, 215/ DUN, 383). Diese kontemplative Wirkung der Natur auf den Menschen hebt Kierkegaard auch an einer Stelle im Journal JJ hervor, wenn er schreibt: „Jedes Naturphänomen beruhigt, und umso mehr, je länger man auf es sieht od. hört. … Das Sausen des Windes …, und der Wechselgang der Woge, und das Wispern des Grases u.s.w. gewinnt mit jeden 5 Minuten, in denen man es hört.“ (SKS 18, 307, JJ:501 / DSKE 2, 318) Dass Kierkegaard die Natur immer wieder verwendet, um sowohl die Existenz als auch die darin liegenden theoretischen Sach- und Sprachprobleme zu erörtern, wird von Dorothea Glöckners Analyse der Wiederholung konkretisiert: Dies., „Das Versprechen“, S. 38 f.  Die präreflexive Anschauung der Natur (im bestimmten Sinne der „Natur des Ganzen“, des „Universums“) ist bekanntermaßen die rezeptive Zugangsform (im weitesten Sinn als Gefühl bestimmt) des Menschen zum Universellen bei Friedrich Schleiermacher. Dazu: Deuser, Religionsphilosophie, besonders S. 283 ff.  Das Außen wird zum Spiegel inneren Befindens, worin zunächst eine Äquivalenz zur „deutschen Innerlichkeit“ (vgl. Kapitel 1.3) besteht, jedoch im weiteren Verlauf der Szene als unexistenzielle Innerlichkeit herausgestellt wird.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Natur. Diese Wechselwirkung lässt die Natur als mit Ewigkeit angefüllte Zeit erscheinen. Die von Climacus gewählten Naturerscheinungen dienen somit als verstehbare Metaphern, die indirekt das Neue und Unbekannte zugänglich machen (können).¹⁴⁰ So ist auch zu beachten, dass der Wind als eine ständige Bewegung, sich einförmig wiederholend, als ein ständig Suchender personifiziert wird. Bewegung, Wiederholung und Suche sind Merkmale des innerlichen Existierens als ein ständiges Streben und niemals Ankommen-Können bei Gott. Der Nebel als alles nur halb durchsichtig preisgebendes Geschehen, wird zum Symbol religiöser und existenzieller Erkenntnis. Denn weder Gott noch die eigene Existenz im Ganzen können erkannt werden.¹⁴¹ So ist der Mensch bei Climacus als einer charakterisiert, der ständig mit dem Unbekannten und Ungewissen umgehen muss (und in seinem religiösen Bestreben immer auch – d. h. nicht nur – durch die selbstsuggestive, leidenschaftliche Verklärung in das Unendliche charakterisiert ist). Was sich neben der Symbolik zeigt, ist, dass die Natur von einem hoch aufmerksamen Beobachter beschrieben wird. Die Aufmerksamkeit der Natur gegenüber ist durch die romantische Symbolisierung zugleich eine Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Climacus wird hier schon klar zum Spiegel des Lesers, der bei aller Aneignung aufmerksam auf sich selbst werden soll. Die Intensität der Gefühlsqualität dieser Beschreibung zeigt, worauf es schließlich bei aller Innerlichkeit und Selbstaufmerksamkeit ankommt: die Existenz (Innerlichkeit) als leidenschaftlichen, in Erfahrung zu bringenden Vollzug zu praktizieren. Von Interesse muss auch die Suggestionskraft der Beschreibung sein. Nicht nur die zitierte Stelle, sondern die gesamte Friedhof-Szene lässt den Leser sich in der Beschreibung verlieren, spätestens bis zu dem Punkt (nach der FriedhofSzene), an dem wieder nüchtern über die Existenz gesprochen wird. Wenn der Leser dann „aufwacht“, wird er irritiert und vor die Frage gestellt, was das eben Gelesene für einen Zweck hatte, zumal die gesamte Szene in einen sehr theoretisierenden Diskurs zu existenzieller Wahrheit eingebettet ist. Weil die Szene in einem formalen Widerspruch zum Rest des Wahrheits-Kapitels steht und der Leser so zum Nachdenken und Herantasten an die Bedeutung der Szene angehalten ist, wird aller reflexiver Umgang des Lesers mit der Szene selbst schon zum Teil des Aneignungsprozesses. Nachdem Climacus den Leser also durch die Naturbeschreibung „abgeholt“ hat, begibt er sich mit ihm zusammen auf den Friedhof. Sich der vor dem Tod

 Zu dieser Funktion der Metapher: Deuser, „Pragmatische oder pragmatizistische Religionsphilosophie?“, S. 165.  Vgl. Kapitel 2.2.5 und 2.3.2.4.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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fliehenden, gewöhnlichen Haltung des Menschen bewusst, sagt Climacus, dass er sich „gegen seine Gewohnheit“ im „Garten der Toten“ wiederfindet.¹⁴² Er nimmt gewissermaßen Rücksicht auf den Leser, der sich noch nicht die für Climacus so wichtige Bewusstheit des Todes zu eigen gemacht hat.¹⁴³ Die durch die Naturbeschreibung evozierte Einsamkeit überträgt Climacus auf den Ort des Friedhofs, auf dem „eine schöne Übereinkunft zwischen den Besuchern [herrscht], dass man nicht hingeht, um zu sehen und gesehen zu werden, sondern der eine Besucher meidet den anderen.“¹⁴⁴ Das Alleinsein des Menschen mit sich selbst ist wesentliches Merkmal der Aneignung und Innerlichkeit, wie Climacus an späterer Stelle formuliert: „[D]aß der Lernende wesentlich mit sich selbst zu tun habe und dass die Innerlichkeit der Wahrheit nicht die kameradschaftliche Innerlichkeit ist, mit der zwei Busenfreunde Arm in Arm gehen, sondern die Innerlichkeit der Trennung, in der jeder für sich selbst im Wahren existierend ist.“¹⁴⁵

Tod und Innerlichkeit Die Einsamkeit des Ortes und das Alleinsein mit sich selbst lässt Climacus einen inneren Monolog beginnen, in dem er über das Verhältnis zwischen Tod und Innerlichkeit nachdenkt, wobei er eine Grabinschrift als Anlass der Reflexion wahrnimmt: „»Wir sehen uns wieder«“.¹⁴⁶ Zum einen wird damit darauf hingewiesen, dass Existenz bei Climacus niemals ohne den gewissen, unvermeidlichen Tod gedacht werden kann.¹⁴⁷ Zum anderen ist es spannend zu sehen, dass Climacus anhand der Grabinschrift kein stoisches memento mori in den Blick nimmt, sondern das Totsein widersprüchlich als Seinszustand identifiziert und so auf eine meditatio mortis ¹⁴⁸ aus ist, die er mit dem innerlichen Existieren verwebt. Von der Textoberfläche her liegt sein Hauptaugenmerk auf dem für die Aneignung wichtigen Verhältnis von Innen und Außen, von Existieren und Sprache.

 SKS 7, 214/ DUN, 382 (Hervorhebung d.Vf.).  Vgl. Kapitel 2.3.4.  SKS 7, 214/ DUN, 382.  SKS 7, 226/ DUN, 398.  SKS 214/ DUN, 382.  Vergleiche die längeren Ausführungen Climacus’ zum Tod: SKS 7, 153 – 158/ DUN, 302– 308. Dazu: Kapitel 2.3.4.  Zur meditatio mortis sehr prägnant: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 581– 584. Unter ideengeschichtlicher, vor allem stoischer Kontextualisierung stellt Foucault die Einübung des „Gedankens an den Tod“ (vgl. die Grabrede Kierkegaards; Kapitel 3.2.4) als Essentialisierung des Lebens, der Handlung und der (biographischen) Vergangenheit heraus. Climacus’ und Kierkegaards existenzielle Thanatologie unterscheidet sich von der traditionellen meditatio mortis vor allem in Bezug auf die Essentialisierung der Vergangenheit: vgl. die Kapitel 2.3.4 und 3.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Alles gegen sich, keinen, keinen direkten Ausdruck für seine Innerlichkeit haben und doch zu seinem Wort stehen, das ist wahre Innerlichkeit, und die Innerlichkeit in demselben Grade unwahr wie der Ausdruck im Äußeren, in Angesicht und Miene, in Worten und Beteuerungen sofort zur Hand ist, nicht gerade weil der Ausdruck selbst unwahr ist, sondern, weil es die Unwahrheit ist, dass die Innerlichkeit nur ein Moment sei.“ Und kurz darauf: „Gepriesen sei der Lebende, der sich im Äußeren zu seiner Innerlichkeit wie ein Verstorbener verhält …, … als das Ewige, das durch den Tod gewonnen ist.¹⁴⁹

Das Kongruenzverhältnis zwischen Totsein und Innerlichkeit besteht zunächst darin, dass ein Toter allein dadurch Ausdruck gewinnt, indem er nicht da ist (seine äußere Abwesenheit ist seine Anwesenheit) und die Innerlichkeit nur dann wahr beziehungsweise gültig ist, wenn sie nicht zum Ausdruck gebracht wird (ihre äußere Abwesenheit ist Zeichen ihrer Anwesenheit)¹⁵⁰. Hierbei werden zwei wichtige Aspekte zur Charakterisierung der Innerlichkeit zusammengeführt: a) Das Motiv der Isolation oder wie Climacus es bezüglich der religiösen Innerlichkeit nennt, der „Verborgenheit“ der Innerlichkeit. Die Verborgenheit wird dabei an die subjektive Selbstwahrnehmung gebunden. Allein für den, der in Innerlichkeit existiert, ist die Innerlichkeit auch. Dennoch wird die Verschlossenheit, Isolation und Verborgenheit des innerlichen Individuums über die Todessymbolik von Climacus zur Sprache gebracht. Die Innerlichkeit muss zum Zweck der Aneignung an den Leser mittelbar herangetragen werden, um ihn zur Innerlichkeit, wie Climacus sie versteht, hinzuführen. b) Die Abwesenheit des Toten ist eine Abwesenheit in der Zeit. Der Tod ist (für den Toten) ein „Zustand“ der Unzeitlichkeit; ein Außerhalb-der-Zeit-Sein (selbstverständlich ist das Totsein, subjektiv betrachtet, kein bewusster Zustand). Dies verknüpft Climacus strukturell mit der Ewigkeit, die bei Climacus ontologisch ebenfalls von der Zeit unterschieden ist und ein Außerhalb-der-Zeit-Sein darstellt. Strukturell entspricht dann das Verhältnis zum Tod dem Verhältnis zum Ewigen (was Climacus im letzten Satz hervorhebt). Und zwar in einem doppelten Sinne: Erstens ist das Ewige, ebenso, wie ein verstorbener Mensch, durch die Abwesenheit in der Zeit gekennzeichnet; das Ewige ist das für den Menschen Entzogene, zu dem es sich dennoch zu verhalten gilt (sofern die Unwissenschaftliche Nachschrift vor dem Hintergrund des Christ-Werdens und dem persönlichen Verhältnis zur „ewigen Seligkeit“ gelesen wird). Zugleich wird das Ewige, ebenso wie der Tod, durch das Verhältnis zu demselben, wenn auch nur mittelbar, in die Zeit geholt. In der Innerlichkeit trägt der Mensch das Ewige in sich. (Das verweist auf die anfängliche beschriebene Natur, in der zeitlich-weltliche Phänomene von

 SKS 7, 214 f. / DUN, 383.  Zur Diskussion dieser Charakterisierung der Innerlichkeit: Kapitel 2.3.3.4.1.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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Ewigkeit geschwängert sind.) Das in Innerlichkeit gelebte Leben ist ein von Ewigkeit durchdrungenes; es wird also vor dem Hintergrund des Ewigkeitsbezugs gelebt. Zweitens wird durch die Verknüpfung von Tod und Innerlichkeit eine Lebenseinstellung der Abgeschiedenheit betont, bei der die innere Haltung darin besteht, dass alles Vergängliche relativiert wird.¹⁵¹ Ist die Innerlichkeit das Verhältnis zur Ewigkeit, ist die Ewigkeit das Maß zur Betrachtung des Lebens. Somit ist das Individuum aber selbst als ein „Zwischen“ gekennzeichnet: zwischen Zeit und Ewigkeit; Endlichkeit und Unendlichkeit, Vergänglichkeit (Tod) und Unsterblichkeit. Climacus bezeichnet dies in seiner theoretisierenden Sachsprache als „Inter-esse“.¹⁵² Schließlich weist das obige Zitat auch auf eine andere Eigenschaft der Innerlichkeit: die Beständigkeit, sofern „es die Unwahrheit ist, dass die Innerlichkeit nur ein Moment sei.“ Für Climacus gilt an obiger Stelle: So wie der Tote durch das ewige Nichtsein im Tod immer derselbe bleibt und sich nie verändert, so ist auch die Innerlichkeit durch Beständigkeit und Unveränderlichkeit gekennzeichnet, indem sie Ausdruck eines beständigen Verhältnisses zur Ewigkeit ist. Innerlichkeit ist keine Verklärung des bloßen Augenblicks, sondern sie ist von Ausdauer, Permanenz und großer Anstrengung geprägt. Damit wird die Naturbeschreibung zu Beginn der Friedhof-Szene in ihrer Momenthaftigkeit der Wahrnehmungsintensität unterlaufen; die Ästhetik durch das Existenzielle überholt. Climacus macht mit der Innerlichkeit-Totsein-Reflexion deutlich, dass allein die ästhetische, am Außen orientierte Wahrnehmung und Verklärung noch keine ernsthafte Innerlichkeit darstellt. Auch wenn die Naturbeschreibung viele Elemente des innerlichen Existierens beinhaltet, bleibt sie doch bloß Einstimmung auf das, was es wirklich anzueignen und zu verstehen gilt: ein konsequenter Existenzvollzug. Das aber bedeutet bezüglich der „Person“ Climacus nicht, dass er sich als widersprüchliche Person entlarvt. Climacus ist und bleibt Humorist.¹⁵³ Zu Beginn der Friedhof-Szene verklärt er sich in die Natur und ist zugleich dem Religiösen gegenüber aufmerksam. Der kurze theoretische Diskurs zu Tod und Innerlichkeit ist hingegen eine Sprecher-Verschiebung, in der die theoretische Stimme über die „Person“ Climacus Oberhand gewinnt, aber zugleich auch die „Person“ Climacus näher beschreibt, sofern die Innerlichkeit (von der Textoberfläche her gedeutet)¹⁵⁴

 Vgl. Kapitel 2.3.3.  Dazu ab Kapitel 2.2.2.  Vgl. Kapitel 2.1.3.3.  Dass der Tod bei Kierkegaard eigentlich eine existenziell-religiöse Bedeutung besitzt: vgl. Kapitel 3.2.4.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

zum Tod und nicht zu Gott in Beziehung gesetzt wird (und damit die dem Humor entsprechende Distanz zum Religiösen aufweist).

Das Gespräch Nach der Ausführung zur Konvergenz von Tod und Innerlichkeit beginnt der Kern der Friedhof-Szene: ein Gespräch zwischen einem Greis und einem Knaben, das von Climacus belauscht wird. Bevor Climacus jedoch zum Gespräch zwischen Greis und Knabe gelangt, vermerkt er, dass er von Bäumen verdeckt wird und von den beiden Gesprächspartnern nicht gesehen werden kann. Die Verborgenheit Climacus’ ist ohne Frage als Verbildlichung des mäeutischen Prinzips Kierkegaards zu verstehen, der sich durch seine Pseudonymisierung vor dem Leser verbirgt. Bei dem Gespräch selbst wird sofort deutlich, dass der Knabe bis auf seinen Großvater (der Greis) seine ganze Familie verloren hat. Es ist der literarischen Könnerschaft Kierkegaards zuzuschreiben, wie das Motiv der Einsamkeit anhand des Halbwaisen zugespitzt wird und er hierbei zugleich das innerliche Existieren näher bestimmt. Die literarische Diffizilität, mit der Kierkegaard hierbei vorgeht, zeigt sich in zwei Perspektiven. Zum einen, wie die Einsamkeit im bisherigen Verlauf der Friedhof-Szene in ihrer Räumlichkeit zugespitzt wird: von der Natur über den Ort des Friedhofs auf die Situation des Gesprächs und schließlich auf den Knaben selbst. Zum anderen in der qualitativen Intensität: von der harmonischromantischen Verklärung der Natur über die abstrakte Dimension des Todes auf die existenzielle Situation einer ganzen Lebenssituation. Der Knabe wird in seiner existenziellen Einsamkeit und seinem völligen Auf-sich-selbst-gestellt-Sein zum Bild desjenigen, der sich um sich selbst kümmern muss, im innerlichen Existieren vor Gott. Der Knabe ist das Bild für das, worauf sich der Leser einlässt, wenn er im climacischen Sinne Christ werden will – eine habituelle, innere (nicht äußere¹⁵⁵) Distanz (und dadurch Isolation) gegenüber allem Weltlichen einzugehen, um sich einzig auf sich selbst vor Gott zu konzentrieren. Sich der Einsamkeit des Knaben bewusst, betont der Greis, dass es bei aller Verlorenheit doch Erlösung und mithin Geborgenheit gäbe: im Glauben an Jesus Christus. Da erhob er sich und führte das Kind zum Grabe hin, und mit einer Stimme, deren Eindruck ich niemals vergessen werde, sagte er: »Armer Junge, du bist nur ein Kind und stehst doch bald allein in der Welt, versprichst du mir nun beim Andenken an deinen verstorbenen Vater, der, wenn er jetzt zu dir sprechen könnte, so sprechen würde und durch meine Stimme

 Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1 und 2.3.3.4.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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spricht: gelobst du beim Anblick meines Alters und meiner grauen Haare, gelobst du bei der Feierlichkeit dieser geheiligten Stätte, bei dem Gott, dessen Name du doch hast anrufen lernen, beim Namen Jesu Christi, in dem allein Erlösung ist: versprichst du mir, dass du an diesem Glauben in Leben und Tod festhalten willst, dass du dich von keinem Blendwerk, wie sich auch die Gestalt der Welt verändern würde, betrügen lassen willst, versprichst du mir das?« Überwältigt von dem Eindruck warf sich der Kleine auf die Knie, der Alte aber richtete ihn auf und drückte ihn an seine Brust.¹⁵⁶

Auf geradezu plakative Weise wird hier ein Prozess der Überredung vollzogen und durch die Szene vorgeführt. Der Greis trägt an den Knaben das Christentum heran. Kierkegaard nutzt die Situation des Halbwaisen dramaturgisch aus, um auf unsubtile Weise ein suggestives Plädoyer für das Christentum an den Leser zu bringen. Jedoch ist das Plädoyer mehrfach mitteilungstheoretisch gebrochen, indem es zum einen aus dem Mund des Greises kommt, der von Climacus nur gehört und das Gehörte wiederum aus der Erinnerung nacherzählt wird und Climacus selbst ja nur literarische Konstruktion ist. Es ist also keine direkte Mitteilung. Diese Stelle ist jedoch ein gutes Beispiel zu fragen, ab wann eine Mitteilung nicht mehr direkt ist, oder anders gefragt, ob nicht in der Fiktionalität die Indirektheit aufgehoben wird.¹⁵⁷ Zwar ist die Passage durch die Sprecherperspektive indirekt, besitzt aber doch hinter dem Mantel der Fiktionalität unbestreitbar eine direkte Suggestivität der Wiedergabe und konkrete Mitteilung (aber genau darin zeigt sich die Ambivalenz der Fiktionalität: verfremdete und abstrahierte Wirklichkeit abzubilden und gleichfalls auf faktische Existenz zu weisen¹⁵⁸) Diese wird dadurch verstärkt, dass Climacus sich im Anschluss an diese Ansprache als „tief ergriffen“¹⁵⁹ bezeichnet, was freilich der Aneignung durch den Lesers dienlich sein soll. – Damit wird bezüglich der Mitteilungstheorie Kierkegaards eines nochmal sehr deutlich: mäeutisch forcierte Aneignung ist (auch) eine soziale Erfahrung des Vermitteltwerdens durch ein konkreten „Gegenüber“ (hier: der Greis; allgemein: Kierkegaard selbst). Aus existenziellem Blickwinkel muss hervorgehoben werden, dass die vorgeführte Überredung aus einer existenziellen Krisis heraus vollzogen wird. Der Knabe ist der Einsamkeit als Halbwaise unabwendbar ausgesetzt und soll sich aus dieser Krisis heraus dem Christentum als seinem Trostpotenzial verschreiben. Derjenige Leser jedoch, den Climacus im Blick hat, ist ein Mensch, der gutbür-

 SKS 7, 217/ DUN, 385 f.  Hermann Deuser macht in Bezug auf die Pseudonymisierung in Entweder – Oder auf diese Problemlage aufmerksam: vgl. ders., Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, S. 60.  Vgl. bes. Anmerkung 83.  SKS 7, 217/ DUN, 387.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

gerlich situiert ist, gewohnheitsmäßig sonntags in die Kirche geht und das Christentum nicht recht ernst nimmt, ein Mensch, der weniger einer existenziellen Krisis ausgesetzt ist, als vielmehr in alltäglichen Routinen eingespannt lebt (was auch bedeutet, dass der von Climacus anvisierte, mäeutisch wachzurüttelnde Leser schon im Christentum ist, das jedoch nicht in gesteigerter Aktualität in die je eigene Lebensführung eingreift)¹⁶⁰. Bei solch einem Leser ist die Überredung wesentlich schwieriger, weil er sich in selbstgewählte Isolation vom Gewohnten, der aktiven Innerlichkeit zu Gott, begeben muss. Somit ist die Szene zwischen Greis und Knabe ein vereinfachtes Abbild der mäeutischen Überredung zwischen Kierkegaard und Leser. Zugleich legt die Szene in ihrem Krisis-Aspekt eine jeden Menschen betreffende existenzielle Situation offen dar. Hierbei muss jedoch betont werden, dass sich der Mensch durch Zerstreuung (etc.) des Todes und seiner Unabdingbarkeit (die Szene spielt nicht umsonst auf dem Friedhof) im Alltag nur selten bewusst ist (beziehungsweise sich dies nur selten bewusst macht). Und nur in weniger häufigen Fällen wird dem Individuum der Tod in solch hartem Maße zuteil, wie es dem Knaben geschieht. Die Szene dient demnach bei allem Pathos auch dazu zu verdeutlichen, was es bedeutet, vor die Endgültigkeit des Todes gestellt zu sein. Zugleich zeigt sie, vor welche Entscheidung der Mensch gestellt ist, wenn die Endgültigkeit so offen vor Augen steht: Was will mit dem eigenen Leben angefangen werden? Was ist im eigenen Leben das Wichtigste? Zum anderen, und damit an die weiteren Ausführungen der Szene anschließend, wird das Einverständnis des Jungen, zumindest in der verklärten Wiedergabe Climacus’, im Pathos der Situation vollzogen. Jedoch allein solche Zustimmung aus rein emotionaler Ergriffenheit trägt nicht für ein wirkliches innerliches Existieren, wie es bei Climacus’ philosophischer Absicht vorliegt. Climacus betont vielmehr (und hier nimmt er zugleich wieder seine philosophische Stimme an) die Entschiedenheit: Indessen fühlte ich kein Bedürfnis, hervorzustürzen, um dem alten Mann gerührt meine Anteilnahme zu bezeugen, ihm mit Tränen und bebender Stimme beteuernd, dass ich diese Szene niemals vergessen würde, oder ihn wohl sogar dazu auffordernd, auch mich zu vereidigen, denn nur übereilte Menschen, unfruchtbare Wolken und eilende Schauer haben nichts so eilig, als ein Gelöbnis abzulegen; weil sie nämlich nicht vermögen es zu halten, deshalb müssen sie es beständig ablegen. Meiner Meinung nach ist das »niemals diesen Eindruck vergessen wollen« etwas anderes als einmal in einem feierlichen Augenblick sagen: »Das werde ich niemals vergessen«: das erst ist die Innerlichkeit, das zweite vielleicht nur die augenblickliche Innerlichkeit. Und wenn man es nie vergißt, dann ist nicht einzusehen, dass

 Dies entspricht der Struktur der Aneignung: das Schon-Eigene zum Eigensten werden zu lassen: vgl. Kapitel 2.1.2.3.1.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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die Feierlichkeit, womit man es gesagt hat, so wichtig ist, weil die fortwährende Feierlichkeit, mit welcher man sich täglich am Vergessen hindert, eine wahre Feierlichkeit ist.¹⁶¹

Climacus beansprucht ein Handeln aus Bekenntnis, womit zugleich die erbauliche Intention der Szene in den Blick rückt. Wahre Innerlichkeit, solche, die von Climacus für das religiöse Existieren intendiert wird, ist nicht die „augenblickliche Innerlichkeit“, ist nicht Sentimentalität beziehungsweise alles bekundete emotionale Bewegtsein („Gelöbnis“), sondern eine Entschiedenheit, die mit Leidenschaft („fortwährende Feierlichkeit“) durchgehalten wird, ein unbedingtes Vollziehen, das nicht beständig von neuem belebt werden muss, sondern mit strenger Konsequenz besteht. ¹⁶² Diese Konsequentheit ist die Leidenschaft des Geistes, die neben hoher Intensität der Gefühlsqualität durch voluntative Ausdauer geprägt  SKS 7, 217 f. / DUN, 387.  Die Entschiedenheit, die der Leser erreichen soll, ist in der Passage zugleich an das „NiemalsVergessen“ und somit an Erinnerung geknüpft. Dies hat verschiedene philosophische Relevanz in Climacus’ Denken: a) Climacus hebt die Erinnerung an ein wesentliches Merkmal zur Stabilisierung des SelbstVerhältnisses heraus. Denn das Selbst-Verhältnis des Individuums ist immer ein weltverwobenes, das an die eigene (biographische) Geschichte geknüpft ist. Um ein Selbst-Verhältnis einzugehen, bedarf es (auch) des Verhältnisses zur Vergangenheit. Dazu: Kapitel 2.2.3. b) Von systematisch-ideengeschichtlicher Relevanz ist, dass Climacus’ philosophisches Denken von einer sokratischen Weise des Existierens ausgeht, indem sich zum Ewigen durch Erinnerung (platonische Anamnese) verhalten wird, dies aber zugunsten des Christentums destruiert. Im christlichen Denken wird sich nur dann adäquat zum Ewigen verhalten, wenn sich das Individuum an der kommenden, zukünftigen Ewigkeit der Seligkeit orientiert und festhält (unter der Voraussetzung, dass sich durch den rückwärtsgewandten Glauben zur Geschichte, zum historischen Faktum Jesus Christus verhalten wird). Indem Climacus in der vorliegenden Passage Entschiedenheit und Erinnerung zusammenbringt, ist wesentlich ein sokratisches Existieren impliziert, das aber durch das Moment der Entschiedenheit, die sich als vorwärts gerichteter Vollzug durch Zukunftsorientierung auszeichnet, zugleich korrigiert wird. c) Zudem ist hervorzuheben, dass Climacus in dieser Passage die Erinnerung an einen sinnlichen Eindruck knüpft. Dies könnte zu der Vermutung führen, dass Innerlichkeit darin besteht, das von außen auf das Individuum einströmende Erleben dauerhaft festzuhalten; Innerlichkeit darin besteht, sich in ästhetisch Wahrgenommenem erinnernd zu verlieren und so eine Heiligung der Vergangenheit zu vollziehen; durch ein erinnerndes Hinübertragen der Vergangenheit als dauerhafte Begleitung der Gegenwart. Jedoch ist die Innerlichkeit bei Climacus – im religiösen Sinne – wesentlich das Gegenteil davon. Zwar findet im Glauben eine Heiligung historischer Vergangenheit statt (im Glauben an Jesus Christus), doch gilt für den eigenen zu realisierenden Innerlichkeitsvollzug vordergründig die Prämisse der unbedingten Fokussierung auf die Zukunft. Religiöse Innerlichkeit hat bei Climacus nichts mit Rückschau auf das bisher gelebte Leben zu tun, sondern ist von radikaler Vorwärtsgewandtheit geprägt; von der Aufgabe für das Individuum, das eigene Leben in seinen noch ausstehenden Momenten so zu gestalten, dass die zukünftige ewige Seligkeit als Möglichkeit erscheint. Dazu: Kapitel 2.3.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ist. (Hierin liegt ein erster Hinweis darauf, dass der existenzielle Vollzug der Innerlichkeit nicht reines Gefühl ist, sondern durch Wille und durch selbst-reflexive Fokussierung teleologischen Denkens und Handelns bestimmt ist.) Mit dieser Konkretion der Innerlichkeit weist Climacus zugleich darauf hin, dass die – oben zitierte – Überredungs-Ansprache des Alten an den Knaben nur ein Bild von emotionalem Überschwang ist und dass der Leser sich nicht von der Szene hinreißen lassen soll. Der Leser kann einzig dann wirklich Christ werden, wenn er sich dazu entschließt und sich mit sich selbst berät, um nicht voreilig etwas zu beginnen, was nicht durchgehalten werden wird (und Climacus’ gibt diesem zu führenden Selbstgespräch des Lesers Gestalt, indem in der vollen Umfänglichkeit der Unwissenschaftlichen Nachschrift das religiöse Existieren von verschiedenen Seiten beleuchtet wird). Somit ist die Ansprache des Alten an den Knaben wiederum als ambivalent gekennzeichnet: sie ist ohne Zweifel emotional gestaltet, um den Leser in die Szene hineinzuziehen und so der Aneignung dienlich zu sein; andererseits repräsentiert sie nicht den intellektuellen Gehalt dessen, was sich der Leser tatsächlich aneignen soll.

Zusammenführung und Climacusʼ Kritik Nachdem Climacus die Innerlichkeit als Entschiedenheit konkretisiert hat, kommt die Szene zu ihrem Ende, indem Climacus auf einen Gesprächsteil verweist, der in der bisherigen Erörterung der Szene noch nicht zur Sprache kam: dass der Greis darüber verzweifelt, dass sein verstorbener Sohn, der Vater des Knaben, keinen Glauben hatte, sondern Gewissheit im metaphysischen Rationalismus des idealistischen Denkens suchte.Von dem Greis wird eine alles objektivierende Lehre als die Religion marginalisierender Religionsersatz angeklagt, während er selbst die Gewissheit nicht in philosophischer Versicherung, sondern in der Ungewissheit des Glaubens sucht. Climacus ist von dieser Anklage des Greises (wieder einmal) „tief gerührt“ [rørte mig dybt]¹⁶³ und entschließt sich, das Verhältnis von Spekulation und Christentum unter Berücksichtigung seiner früheren Studien, von denen er in der „Café-Szene“ erzählt, näher zu untersuchen: Und ich dachte da ungefähr so: du bist der Zerstreuung des Lebens jetzt doch überdrüssig, überdrüssig der Mädchen, die du doch nur im Vorbeigehen liebst, du mußt etwas haben, was dir deine Zeit ganz ausfüllen kann; hier ist es: herauszufinden, wo das Mißverständnis zwischen der Spekulation und dem Christentum liegt. So war dies dann mein Entschluß. Ich habe wahrhaftig nie zu einem Menschen davon geredet, und ich bin sicher, dass meine Wirtin

 Vgl. SKS 7, 219/ DUN, 389.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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weder an demselben Abend noch am folgenden Tag eine Veränderung an mir bemerkt hat.¹⁶⁴ Und Climacus beschließt die Szene, indem er für den Leser festhält: [S]chließlich wurde es mir klar, dass die Irreführung der Spekulation und ihr darauf begründetes vermeintliches Recht, den Glauben zu einem Moment herabzusetzen, nichts Zufälliges sein könnte,viel tiefer in der Richtung des ganzen Zeitalters liegen müßte und wohl daran läge, dass man überhaupt bei dem vielen Wissen vergessen habe, was Existieren ist und was Innerlichkeit zu bedeuten hat.¹⁶⁵

Im ersten Teil der Schlusspassage führt Climacus die in dem vorhergehenden Verlauf der Szene herausgehobenen Merkmale der Innerlichkeit zusammenfassend vor. Zum einen die innere Abwendung vom Weltlichen (er wendet sich ab von der Zerstreuung), zum anderen die Entschiedenheit (mit der er das Missverhältnis von Spekulation und Christentum ergründen will) und zum dritten die Verborgenheit der Innerlichkeit (indem seine Wirtin am gleichen Abend und darauffolgenden Tag keine Veränderung an ihm gemerkt habe). Er spiegelt auch hiermit wieder den Leser, der sich diese Eigenschaften aneignen soll. Hierbei ist zu beachten, dass Climacus sich als Humorist treu bleibt, der all seine Entschiedenheit zugunsten einer intellektuellen Anstrengung aufwendet und die Verborgenheit durch den Bezug auf die Wirtin ironisch-humoristisch expliziert. Der Leser hingegen soll diese Eigenschaften der Innerlichkeit – von der Friedhof-Szene her gesehen – allein auf das religiöse Existieren konzentrieren. Im zweiten Teil der Schlusspassage klagt Climacus dann, dem Greis entsprechend, die alles objektivierende Systematisierung des Idealismus an, in der der Glaube als vorausgesetztes Moment des Systems nicht mehr praktiziert zu werden braucht, sofern der Mensch als ein im System gefasstes Wesen den Glauben immer schon besitzt.¹⁶⁶ Es wird das Existieren übersehen und dadurch die Anstrengung und Entscheidung und damit auch die Bedeutung dessen, was es heißt, konsequent zu existieren. Mit dem Schlusssatz ist schließlich der Bogen zum Beginn des vorliegenden Kapitels (2.1) geschlagen, dass Existieren als Innerlichkeit zu verstehen ist. Allein aufgrund des Schlussplädoyers gegen den hegelschen Idealismus, die gesamte Friedhof-Szene als eine allein auf diese Aussage konstruierte Zuspitzung von Climacus’ Abweisung des Systemdenkens zu sehen, wie Anna Paulsen herausstellt,¹⁶⁷ ist verkürzt, weil sie nicht nur den Krisis-Aspekt des Existierens anschaulich darstellt, sondern auch die religiöse Innerlichkeit subtil vorbereitet. Bei aller Wendung der Friedhof-Szene hin zu Climacus’ Kritik am Idealismus wirkt    

SKS 7, 219/ DUN, 389. SKS 7, 220/ DUN, 389 f. Vgl. SKS 7, 24/ DUN, 143. Vgl. Paulsen, Sören Kierkegaard. Deuter unserer Existenz, S. 238 ff.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

diese Pointe doch recht aufgesetzt und scheint ein etwas verkrampftes Einbetten der Szene in den idealismuskritischen Diskurs des Wahrheits-Kapitels gewährleisten zu wollen.¹⁶⁸ Schließlich zeigen beide Passagen des Schlusses eine offensichtliche Kritik am vorherrschenden Zeitgeist, nicht nur am wissenschaftlich-idealistischen Denken, sondern auch am bürgerlichen Leben. Nicht Zerstreuung und Vermassung, sondern Individuation fordert Climacus, was dadurch bestärkt wird, dass er den Greis als „berechtigte Individualität“ [berettiget Individualitet]¹⁶⁹ bezeichnet, „in deren ganzem Dasein“ – mit Hegel gesprochen – „eine Bestimmtheit herrschend ist“¹⁷⁰; die sich der Selbstaufmerksamkeit bei allem Existieren und zumal religiösem Existieren bewusst ist; die nicht bloß auf Objektivität und Wissen aus ist, sondern auf den Aspekt, um das eigene Leben besorgt zu sein. Die antibürgerlichen Tendenzen seines Denkens teilt Climacus mit allen anderen Pseudonymen Kierkegaards ebenso wie das Bestreben, durch alle Kritik hindurch philosophische Traditionen und gesellschaftliche Verfestigungen des Individuums einem immer neuen Hinterfragen zu unterziehen.

Schlussfolgerungen Die Friedhof-Szene führt dem Leser anhand der Szenerie des Friedhofs und Climacus’ eigener Wahrnehmung mimisch eine ganz bestimmte Stimmung des Alleinseins vor, das nichts Bedrohliches hat, sondern so geschildert wird, dass sich mit solcher Art des Alleinseins durchaus arrangiert werden kann. Es ist besinnliche Sammlung, die evoziert werden will, womit eine bestimmte Art von Lesern angesprochen ist; solche, die affirmativ zu diesen Stimmungslagen stehen und sich über die ausgefeilte Rhetorik und ihrer dabei zutage tretenden Funktion der Seelsorge (beispielsweise ein bewusstes Verhältnis zum Tod einzugehen) auch in diese Stimmungslage versetzen lassen wollen. Zugleich bleibt die ästhetische Erfahrung der besinnlichen Stimmung für die philosophisch-existenzielle Kon Dennoch ist festzuhalten, dass die Unwissenschaftliche Nachschrift Kierkegaards Hauptwerk gegen den Idealismus ist und dieser als theoretische Voraussetzung beansprucht wird. In diesem Sinne ist die durch existenziellen Humor gekennzeichnete „Friedhof-Szene“ auch Ausdruck für die Absetzung von idealistischem Denken, indem die Mediation von Zeit und Ewigkeit in die ästhetische Wahrnehmung der Natur verlagert wird (vgl. den Beginn der vorliegenden Interpretation der „Friedhof-Szene“). Die Brechung besteht darin, dass die existenzielle Innerlichkeit als Verhältnis zur (entzogenen) Ewigkeit weder über die Ästhetik gewonnen werden kann (Aneignung), noch durch ästhetische Veräußerung charakterisiert ist (Verborgenheit), noch durch eine solche adäquat beschrieben werden kann (Unsprachlichkeit).  SKS 7, 219/ DUN, 388.  Hegel, Werke 3, S. 32.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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zeption der Innerlichkeit unzureichend, womit demnach nur verweisend auf das gezeigt wird, was es wirklich (existenziell) anzueignen gilt. Entscheidend ist dabei, dass Climacus auf zwei Formen der Innerlichkeit verweist: Einerseits eine solche, auf die lediglich verwiesen werden kann, weil sie das Nicht-Selbstverständliche, das Nicht-Alltägliche ist, das in der Verschlossenheit des eigenen nicht-expressivierbaren Erlebens besteht und dessen sich vergewissert werden muss¹⁷¹; andererseits eine solche, die vermittelt und durch Sprache vorgeführt werden kann. Die Innerlichkeit, die sich nicht mitteilen lässt, hängt in Anbetracht aller Mäeutik, von der Innerlichkeit, die sich mitteilen lässt, ab. Letztere ist eine über ästhetische Anschauung evozierte Wirklichkeit, durch die hindurchgegangen, die erlebt werden muss, um sich von dieser absetzen zu können, indem begriffen wird, dass die ästhetische Innerlichkeit lediglich die Eigenschaft von momentaner Kontemplation und nicht von dauerhafter Lebensgestaltung in sich trägt. Es gilt für den Leser – angesichts der Aneignung – von der ästhetischen zur existenziellen Innerlichkeit zu gelangen. Climacus greift diesen Sachverhalt direkt nach der Friedhof-Szene auf, wenn er auf das Pathos zu sprechen kommt, das als rhetorisches Mittel bei Climacus eine existenzielle Umdeutung erfährt (denn Pathos ist innerhalb des religiösen Existierens diejenige Form der Leidenschaft, mit der sich in Innerlichkeit zu Gott verhalten wird¹⁷²). Sowohl das rhetorische als auch das existenzielle Pathos bringt Climacus zur Sprache, wenn er vermerkt: „Pathos ist wohl Innerlichkeit, aber unmittelbare Innerlichkeit, darum wird sie zum Ausdruck gebracht [gives den ud]¹⁷³, aber Pathos in Form des Gegensatzes [Hervorhebung d.Vf.] ist Innerlichkeit, die bei dem Mitteilenden bleibt, obgleich sie zum Ausdruck gebracht wird [den gives ud], und sie kann nicht unmittelbar zugeeignet werden, sondern nur durch die Selbstwirksamkeit des anderen.“¹⁷⁴ Das unmittelbare Pathos ist das durch die

 Man kann hierbei durchaus sagen, dass die Innerlichkeit zwar genuin existenziell konzipiert ist, aber durchaus die Merkmale eines dem modern-säkularisierten Alltag fremden Zustands religiösen Durchdrungenseins beinhaltet, die den Leser als einen Zuschauer seiner eigenen (fremden) Innerlichkeit qualifizieren. Nicht von ungefähr betont Climacus ja immer wieder die „Verborgenheit“ der Innerlichkeit und wird dabei nicht müde hervorzuheben, dass die Ambivalenz der Innerlichkeit gerade darin besteht, dass man sich ihrer vergewissern soll (vgl. auch: Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 95 f.), sie aber gleichfalls im Status der Nicht-Objektivierbarkeit gehalten werden soll, um eine Verflachung der Innerlichkeit zur bloßen Pose zu vermeiden. Selbst im Zustand vollständig angeeigneter Innerlichkeit bleibt sie das auf Distanz Gehaltene.  Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Kierkegaard trennt hier aus rhythmischen Gründen das Verb „udgive“ (ausgeben). Ich danke Hermann Deuser für den Hinweis zur Modifizierung der Übersetzung.  SKS 7, 220/ DUN, 390 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

aristotelische Rhetorik verstandene Mittel der Erzeugung von Stimmung zum Zweck der Suggestion.¹⁷⁵ Dieses ästhetische Pathos, das in der Friedhof-Szene intensiv eingesetzt wird, muss vom Leser in das existenzielle Pathos des „Gegensatzes“ übersetzt werden, indem eine Umkehrung von sprachlicher Anwesenheit und existenzieller Abwesenheit (der Innerlichkeit) vorgenommen wird. Der „Gegensatz“ des existenziellen Pathos besteht darin, dass Versprachlichung und Existenzvollzug in einem Gegensatz zueinander stehen. Das existenzielle Pathos der Innerlichkeit kann lediglich als rhetorisches und mithin unzulängliches Pathos äußerlich-sprachlich (ästhetisch) abgebildet werden. Die expressive Sprache ist demnach nur die imaginative Vorwegnahme und Simulation des existenziellen Vollzugs, der durch verwirklichte Einstellung / Haltung,¹⁷⁶ emotionale Erfahrung / Leidenschaft und permanente Reflexion / Vergegenwärtigung des Undenkbaren (Unendlichkeit)¹⁷⁷ stabilisiert wird. Das Gesagte verweist eben nur auf das, was es anzueignen gilt. Das gleiche Verhältnis von Ausdruck und Verweisen zeigt sich auf inhaltlicher Ebene, anhand des geschilderten Gesprächs (zwischen Greis und Knabe) und dem in diesem Gespräch vorgeführten Überredungsprozess. Auch hier wird eine existenziell-dramatische Situation geschildert, die ebenso wie die Stimmung der Szene und das rhetorische Pathos in ihrem Gehalt einzig vereinfachtes Symbol des climacischen Denkens bleibt. In der Friedhof-Szene als ein in das theoretisch verhandelnde Wahrheits-Kapitel eingeschobenes Stück Fiktion kondensiert sich weder das Denken Climacus’ in seiner Gesamtheit, noch weist die Szene über sein Denken hinaus. Es wird sich einzig an den Gehalt des climacischen Denkens herangetastet, wodurch die Fiktion aber auch Zeichen der Verdopplung des philosophischen Gehalts ist. Indem die Szene in ihren theoretischen Betrachtungen stellenweise ihre eigene fiktionale Form selbst korrigiert, gewinnt sie zugleich eine mitteilungstheoretische Spannung, die nicht nur dem Hineinleiten des Lesers in die Aneignung der Innerlichkeit dient, sondern gleichzeitig wichtige Merkmale für das religiöse Existieren vorwegnimmt. Dass Climacus die Innerlichkeit dabei nicht dezidiert in den religiösen Kontext setzt, sondern in die Stimmung des Friedhofs einbettet, zeigt das begrifflich-offene Verfahren, das Climacus für die Aneignung und deren Kommunikation an-

 Vgl. Aristot., rhet., 1, 2 (5); 2, 1 (3), 5 (15), 10 (11). Eine sehr genaue Auseinandersetzung zum Verhältnis von Aristoteles’ Rhetorik und Kierkegaard findet sich bei Heiko Schulz, „Eloquence, Faith and Probability“, in Kierkegaard and the Greek World. Aristotle and Other Greek Authors, Tome II, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Farnham und Burlington 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2), S. 81– 98.  Vgl. Kapitel 2.2.  Vgl. Kapitel 2.3.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

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wendet. Zwar kann die Innerlichkeit bei Climacus nicht von einem (religiösen) Umgang mit dem Leben abgelöst werden (und das Gespräch zwischen Greis und Knabe ist der Hinweis Climacus’ auf diesen Sachverhalt), doch ist die hier vollzogene Verwendung der Innerlichkeit ein Verweisen auf zwei grundlegende aneignungstheoretische Ebenen. Zum einen wird dem Leser eine Ahnung davon vermittelt, was Innerlichkeit durch das fiktive und mithin lebendige Vorführen ihrer Merkmale anhand der Beschreibungen, des Gesprächs und der „Person“ Climacus bedeutet. Zum anderen wird die Innerlichkeit in der Friedhof-Szene an den Erfahrungskontext des Erlebens der Stimmung gebunden, wodurch darauf hingewiesen wird, dass wirkliche, existenzielle Innerlichkeit nur durch das eigene Erleben und Vollziehen ist. Innerlichkeit wird als für das Individuum nur selbst wahrnehmbare (leibliche) Erfahrbarkeit gezeichnet und am Ende der Szene zugleich als die in dieser Erfahrbarkeit verortete Entschiedenheit vorgezeichnet. Dennoch verdeutlicht die Friedhof-Szene auch, dass die durch die Fiktionalität veranschaulichte Innerlichkeit an dem vorbeigeht, was ihren philosophischen Was-Gehalt kennzeichnet.¹⁷⁸ Gerade deshalb ist sie als ein komplexes Beispiel für Kierkegaards Anwendung seines sprachlich-vermittelnden Vorgehens in Form von Un-Eindeutigkeit und Verweisen zu verstehen.¹⁷⁹

2.1.4 Sprache, Abstraktion, Theoretisierung und konkrete Praxis Anhand des philosophischen Sprechens wurde Kierkegaards Kommunikationsmethode des Verweisens erörtert. Im darauffolgenden zweiten Teil zum Schriftstellertum hat sich, bei allem sprach- und kommunikationstaktischen Aufwand

 Dennoch muss gleichfalls betont werden, dass diesem defizitären Verhältnis von ästhetischer Veranschaulichung und (religiöser) Erfahrung auch ein Spiegelverhältnis innewohnt. Denn obwohl Climacus philosophisch-systematisch festhält, dass der Innerlichkeit und deren Erfahrung das Charakteristikum der „Sozialität“ (SKS 7, 74 (Anm.) / DUN, 200 (Anm.)) abgeht und somit gerade nicht vermittelbar scheint, ist die Innerlichkeit dennoch eine in der conditio humana (vgl. Kapitel 2.1.2.3.3) angelegte Erfahrung und genau deshalb beschreib- und vermittelbar (wenn auch in einer philosophisch-systematisch unzureichenden, jedoch der Mäeutik dienlichen, fiktionalästhetischen Form). Das Spiegelverhältnis zwischen Ästhetik und Philosophie besteht dann genauer darin, dass in den „erbaulichen“ Szenen der Unwissenschaftlichen Nachschrift die Religion mit der Ästhetik zusammenfällt (und nicht nur zwei unterschiedliche theoretische Ebenen darstellen). Das in der Aneignung in Erfahrung zu bringende Neue und Unbekannte (die anzueignende Religiosität) wird für den Leser über die ästhetische Erfahrung aufgeschlossen, zugänglich gemacht. Die (fiktionale) Ästhetisierung ist demnach das mitteilungstheoretische Prinzip der indirekten Vermittlung von (religiöser) Erfahrung.  Vgl. Kapitel 2.1.2.2/3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

(Pseudonym, Fiktion etc.), die zuvor herausgehobene Methode des Verweisens ebenfalls als leitend erwiesen. Abschließend möchte ich kurz auf Climacus’ Sprachverständnis, den sich daraus ergebenden Topoi von Abstraktion und Theorie und deren Verhältnis zur konkreten Praxis eingehen. Einerseits ist die Sprache ein semiotisches System, dessen Zeichen auf Objekte verweisen. Indem Climacus die Sprache als das „Abstrakte[]“ versteht, „das keiner … ist“¹⁸⁰, wird sie als vom Existieren, dem konkreten Leben abgelöst verstanden. Andererseits wird mit der Sprache auf semantischer Ebene Bedeutung transportiert. Indem Climacus eine offene Begriffsverwendung zum Zweck der Aneignung vornimmt, ist die Bedeutung der Existenzbegriffe immer in einer semantischen Allgemeinheit und damit in einer unumgänglichen Abstraktheit verortet. Der dadurch entstehende Verweisungscharakter des Sprechens hat zur Folge, dass in der Semantik die semiotische Ebene verdoppelt wird. Die Funktion des Zeichens wird zur Funktion der vermittelten Bedeutung des Sprechens. Die Sprache wird in ihrer Funktion des Verweisens genutzt, um den Leser durch Sprache zum Selbst-Verstehen zu bringen. Als ganzheitliches Wesen ist der Leser zur Übersetzung und zur Selbstanwendung des von Climacusʼ Gesagten fähig; zur Inklusion des mitgeteilten Wissens und gleichfalls zur Exklusion des von Climacusʼ Gesagten zugunsten des Selbst-Verstehens. Durch diesen dialektischen Übersetzungsprozess wird Gedachtes ins Sein transformiert. Einerseits wird dann die Trennung von Denken und Sein im persönlichen, existenziellen Verstehensprozess der Aneignung unterlaufen, andererseits aber bleibt die Trennung bestehen. Sich selbst in Existenz zu verstehen, bedeutet demnach, dass der Leser sich sowohl distanziert als auch affirmativ zum Gesprochenen verhalten muss. Dabei treten sowohl im fiktionalen wie auch im philosophischen Sprechen über die Innerlichkeit zwei Sachverhalte zutage: 1. Der Leser kommt mit einer durch Sprache erzeugten Wirklichkeit von Innerlichkeit in Berührung. Denn obwohl mit der Sprache zwar nur auf die existenzielle Wirklichkeit verwiesen werden kann, bildet sich im Verweisen selbst eine vom Leser individuell ausgeprägte und vorgestellte Vorform der Wirklichkeit aus. 2. Im Wirkenlassen der bewusst gestalteten Schrift als auch im Nachvollziehen des Gelesenen bestehen erste Akte des Hineingleitens in die Innerlichkeit.¹⁸¹ Weil der Leser sich zugunsten des konkreten Existenzvollzuges von dem von Climacus Artikulierten entfernen soll, entstehen in der Auseinandersetzung mit dem Text  SKS 7, 462 / DUN, 703 (Hervorhebung d.Vf.).  Man beachte hierbei Kierkegaards eigene Aussage, dass die Unwissenschaftliche Nachschrift „mit Innerlichkeit“, d. h. eingehend, langsam und ganz bewusst gelesen werden soll. Vgl. ders., „Zur Rezeption der Nachschrift“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 140 – 147, besonders S. 141 f.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

127

Reibungsprozesse zwischen einem Hineingleiten in den Text und einem gleichzeitigen Abgestoßenwerden von ihm. Das Gesprochene wird so zur notwendigen Negativfolie der Praxis und weist damit gleichfalls auf ein Sprachverständnis, das nicht von sozialer, leiblicher, geschichtlicher, sprachlicher und psychologischer Verwicklung des Menschen, kurz: nicht von konkreter Weltverwobenheit und Erfahrungskontexten abgelöst werden kann.¹⁸² Besonders deutlich zeigt sich dies an den Existenz-Kategorien.¹⁸³ Zum Beispiel können mit den Begriffen „Subjektivität“ oder „Innerlichkeit“ komplexe hermeneutische Strukturen offengelegt werden, sie sind aber lediglich mäeutische, zum lebendigen Existieren verhelfende Hilfsbegriffe ¹⁸⁴. Hilfsbegriffe deshalb, weil sie Existenzweise offenbaren, zu der der Aneigner (Leser) erst noch gelangen muss. Die Existenzbegriffe vermitteln eine Existenzweise als Möglichkeit, die durch die Begriffe in das Bewusstsein des Lesers eingeführt wird. Der für die vorliegende Untersuchung zentrale Begriff der Innerlichkeit bleibt immer auf die Praxis der Innerlichkeit bezogen, die dem Begriff vorgelagert und auf die hin der Begriff konstruiert ist. Die innere Spannung der Existenzbegriffe liegt dann in einer dreifachen Struktur. Erstens sollen sie zum Entdecken des (je eigenen) So-Seins verhelfen (zum „wie man ist“)¹⁸⁵, weshalb sie nicht resultativ oder definitorisch zu verstehen sind. Zweitens sollen sie eine solche Selbst-Erfahrung durch ihre Orientierung gebende Allgemeinheit und Offenheit freigeben, womit bei Kierkegaard jeder Mensch dazu befähigt ist, Erfahrung im von Climacus intendierten Sinne zu machen: Existenz-Erfahrung also gerade nicht vom „wie man ist“ abhängt

 Dass dem bei Kierkegaard so ist, zeigt sich u. a. in der Ironieschrift (vgl. SKS 1, 286/ BI, 251), wenn er Sprache als Einheit von Wesen und Erscheinung (in der Welt), Bedeutung und Phänomen, Denken und Wort, Innen und Außen, Inhalt und Form auffasst und dabei die Erscheinung der Sprache (Wort, Rede) an den durch Weltverwobenheit kontextualisierten, intendierten Sinn der Rede (des Sprechers) bindet.  Vgl. Kapitel 2.1.2.3.1.  Ich übernehme diese Terminologie von Hans Blumenberg, der den „Hilfsbegriff“ als einen nicht notwendigen Operator zur Generierung von Verständnis begreift. Der „Hilfsbegriff“ eröffnet lediglich die Möglichkeit von Verständnis (vgl. ders., Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 42), weist also auch auf Lücken der Theoretisierbarkeit. Und eben in diesem funktionalen Sinne werden die Existenz-Kategorien bei Kierkegaard zum Zweck der Aneignung verwendet.  Hier und im Folgenden verstehe ich das So-Sein im Sinne Jaspersʼ (vgl. Ulrich Wienbruch, „Sosein“ in HWPh, Bd. 9, S. 1100 – 1102, hier S. 1102): als das „relativ Beständige[] dessen, als was ich mir [undurchschaut] gegeben bin“, das als vorauszusetzender „Grund meiner Erscheinung“ fungiert, „sofern ich mich erkenne“. In der Selbsterkenntnis wird das Sosein dann zum „fixierten Bestand“ des „Nun-einmal-Soseins“, das – ganz im Sinne von Kierkegaards ethischem Existieren (vgl. Kapitel 2.2) – frei gewollt und mit Verantwortung übernommen wird.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

(besonders deutlich an der systematischen Thematisierung der conditio humana zu erkennen). Und doch nimmt Kierkegaard drittens das Faktum in den Blick, dass nicht jeder Mensch jede Erfahrung machen kann, denn die von den Existenzbegriffen anvisierte Existenz-Erfahrung hängt schließlich doch vom „wie man ist“ ab, weil in der Einleitung der Unwissenschaftlichen Nachschrift das Interesse und die Sorge als „conditio sine qua non“¹⁸⁶ für das von Climacus intendierte (ethisch-religiöse) Existieren hervorgehoben werden¹⁸⁷ (das Interesse als Bedingung des Existierens wurde bisher im Aspekt des affirmativen Lesens deutlich). Die (je eigene) Erfahrung des (je eigenen) So-Seins ist demnach Ziel und Bedingung für die existenzielle Realisation der Existenzbegriffe (auch wenn diese auf sachsprachlicher Ebene die Bedingung des So-Seins absorbieren). Vor dem Hintergrund aneignungstheoretischer Konkretion changieren die Existenzbegriffe demnach in sich zwischen bloßer Benennung und komplexer Bedeutung; Signifikat und interpretantabhängigem Signifikant; sachsprachlicher Allgemeinheit und der durch den Leser bedingten Konkretion. Damit kann und muss einem gängigen Vorurteil gegenüber der Existenzphilosophie begegnet werden: dass deren Methodik davon geprägt sei, über das Konkrete (das Phänomen) zum Abstrakten (den Begriff), über das Partikulare und Singuläre zum Generellen und Allgemeinen zu gelangen.¹⁸⁸ Dies ist – vor dem Hintergrund der, besonders für Kierkegaards Denken wichtigen, aneignungstheoretischen Auseinandersetzung – ungenau. Denn die existenzdialektische Konzeption der Aneignung besteht nicht darin, dass von der Beschreibung existenzieller Zustände und Phänomene (dem Konkreten) eine strikte Theoriebildung (eine Abstraktion, ein Begriff) ausgeht und/oder als Resultat anvisiert wird (indem beispielsweise bei den Einsichten zur conditio humana stehen geblieben wird), sondern dass über die Beschreibung und Theoretisierung zurück auf das Phänomen selbst gekommen werden soll (durch die vom Leser vorgenommene Übersetzung des Gelesenen in den Existenzvollzug). Es wird also nicht einfach vom Konkreten zum Abstrakten vorgedrungen und stehen geblieben, sondern es wird vom Konkreten zum Abstrakten und über das Abstrakte (zurück) zum Konkreten vorgedrungen. Eben diese (Umweg‐)Struktur beschreibt die aneignungstheoretische Dimension der Existenzdialektik, vor deren Hintergrund die Thematisierung der Innerlichkeit als theoretisier- und beschreibbares Phänomen beständig zwischen Abstraktion und Konkretem, zwischen Theorie und Praxis (–

 SKS 7, 25/ DUN, 145.  Vgl. dazu genauer: Kapitel 2.3.2.3.1.  Vgl. Jain, Description in Philosophy, S. 33.

2.1 Hinführung: Sprache und Kommunikation

129

oder existenzontologisch ausgedrückt: zwischen Denken und Sein¹⁸⁹) changiert.¹⁹⁰ Angesichts dessen müssen jedoch innerhalb der eben herausgestellten existenzdialektischen Struktur der Aneignung präziserweise zwei Verhältnisse zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen Praxis und Theorie unterschieden werden. Zum einen das Verhältnis, vom Konkreten zum Abstrakten zu gelangen, und zweitens, über das Abstrakte zum Konkreten zu gelangen. Das erste Verhältnis bezeichnet die systematisch-existenztheoretische Ebene (die der Existenzmäeutiker, der Autor, bereitstellen muss); das zweite Verhältnis die aneignungstheoretische Ebene (die der Leser vollziehen muss). Während auf systematischer Ebene eine analytische Trennung von Theorie (Abstraktem) und Praxis (Konkretem) vorliegt, weil die Theorie nicht an die Praxis heranreicht beziehungsweise die Praxis nicht in der Theorie aufgeht, liegt auf der Aneignungsebene eine dialektische Einheit von Theorie und Praxis vor, weil die semantische Bedeutungsübertragung (durch die philosophische Theoretisierung des Phänomens) einerseits das Phänomen (das Konkrete) vermittelt, aber andererseits die Erlebnisqualität nicht einholt. Werden nun, was das analytisch Relevante ist, beide Verhältnisse als zu einer einheitlichen Struktur gehörig gesehen, dann zeigt sich, dass zwischen der ersten, systematisch-existenztheoretischen Ebene (vom Konkreten zum Abstrakten zu gelangen) und der zweiten, aneignungstheoretischen Ebene (über das Abstrakte (zurück) zum Konkreten zu gelangen) ein durch Verweisen und Rückbezüglichkeit charakterisiertes Spiegelverhältnis besteht. Im Abstrakten (der Theorie) ist das Konkrete (die Praxis) einbezogen (denn das Abstrakte ist vom Konkreten gespeist und zielt in seinen Aussagen auf das Konkrete, was das verweisende Verhältnis der ersten, systematischen Ebene auf die zweite, aneignungstheoretische Ebene anzeigt) und gleichfalls ist im existenziell-realisierten (dem angeeigneten) Konkreten das enthalten, was durch das Abstrakte gesagt wird (was das rückbezügliche Verhältnis der aneignungstheoretischen Ebene zur systematischen Ebene anzeigt). Die konkrete, vom Leser vorzunehmende aneignungsphänomenologische Übersetzung der Theorie (der Abstraktion) in die Praxis (das Konkrete) ist dann aber nicht einfach nur eine theoriegeleitete Praxis. Denn dies wäre nichts anderes als das bloße Adaptieren (die Imitatio) einer vor-gestellten (von einem Autor präsentierten) Lebensweise, was Kierkegaard ja gerade verhindern will. Vielmehr  Vgl. Kapitel 2.2.2.  Zu einer schlüssigen, kritischen Betrachtung des Theorie-Praxis-Verhältnisses in Kierkegaards Existenzdenken sei vor allem auf Adorno verwiesen: ders. Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 111 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ist die Übersetzung des Lesers ein – wenn man so sagen kann – orientiertes Loslassen. Denn einerseits ist die Übersetzung der Theorie in die Praxis durch die Theoretisierung geleitet (die Praxis ist also durch die Theorie orientiert; hierbei kann man durchaus von existenzieller Induktion sprechen), zugleich muss der Leser aber auch die Theorie überwinden und damit auch das Gesagte (das Festhalten an Sprache) loslassen, um – der sokratischen Methode entsprechend – zum eigenen Existenzvollzug zu gelangen. Denn dies ist die Aneignung: von der theoretischen und theoretisierbaren Existenzmöglichkeit zur eigenen Wirklichkeit vorzudringen;¹⁹¹ vom bisherigen Sein und über das Denken das transformierte Sein zu erschließen. Der Leser gelangt dann, unter dem Einfluss der Existenztheoretisierung (bei gleichzeitiger Selbstanwendung des Gesagten), zum Neuen beziehungsweise zu einer Umgestaltung seines bisherigen Lebens, vollzieht also – wie in Kapitel 2.2.2.3.1 betont – eine Transformation des Schon-Seins als Andersund-Neusein desselben (und vollzieht damit den für ihn relevanten Teil der existenzdialektischen Struktur der Aneignung: über das Abstrakte zum Konkreten zu gelangen). Die existenzielle Pointe liegt darin, dass die Übersetzung der Theorie in die Praxis (des Abstrakten ins Konkrete) ein Zurückkommen auf die Wirklichkeit ist, in der das Individuum immer schon verortet ist. Es geht darum, dass das Individuum einen neuen Blick auf sich selbst gewinnt, indem es die vorgeführten Reflexionen nachvollzieht und die immer schon erlebte Wirklichkeit durch die Reflexionen hindurch katalysiert und neu bewertet. Diese Umkehr der Blickrichtung (die Transformation des Schon-Seins) ist letztlich eine Entscheidung des Individuums, wie es das Was der begegnenden Welt und seiner eigenen Person betrachten will; zugleich eine Entscheidung, die der Aneignung vorausgehen muss; eine Entscheidung zur Bereitschaft, Abstand von sich zu nehmen und Veränderung zuzulassen. Vor dem Hintergrund dieses aus und in Freiheit geschehenden, existenziellen Umgeformtwerdens (des Lesers durch die an ihn von außen herangetragene und Orientierung gebende Existenztheoretisierung) – was schon die bestimmende systematische Struktur des Existenzvollzugs anzeigt (zwischen Aktivität/Ent-

 Dieses komplexe, existenzdialektische Übersetzungsverhältnis wird bei Climacus mit dem Begriff des „Sprungs“ abgedeckt, der „den spezifischen Übergang theoretischer Ableitung … in existenzielle Verhältnisse [bezeichnet] …“ (Deuser, Religionsphilosophie, S. 301 (Anm. 36)) Damit ein solcher Sprung gelingen kann, muss sich der Leser bewusst sein, dass die Sprache nur ein Hilfsmittel ist; muss sich aber gleichzeitig von dem Gesagten leiten lassen, um gesprungen zu werden. Der aktive Existenzvollzug ist durch ein unreduzierbares Ausgesetztsein von passivem Bestimmtwerden gekennzeichnet. (Das ist eine der grundlegenden, im Folgenden dazulegenden, systematischen Prämissen von Kierkegaards Existenz-Denken.).

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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scheidung und Passivität/Verwiesensein zu liegen) – ist es in Climacus’ Interesse, auf methodischer Ebene phänomenale Strukturen des Menschseins (in der Welt) aufzuzeigen und den Leser in die vorgeführten Reflexionen hineingleiten zu lassen, um den Möglichkeitsraum zu eröffnen, dass der Leser aus diesen Reflexionen verändert herauskommt.¹⁹² Die folgenden zwei Kapitel – 2.2 und 2.3 – werden die für die Innerlichkeit relevanten phänomenologischen Strukturen und Reflexionen in der Unwissenschaftlichen Nachschrift nachzeichnen und sie auf ihre existenzpragmatische Bedeutung hin analysieren.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit 2.2.1 Vorbetrachtung 2.2.1.1 Ethisches Existieren Von den existenziellen „Möglichkeitsräumen“, die Kierkegaard in seinem Werk dem Leser als Existenzstadien eröffnet, thematisiert Climacus das ethische und religiöse Stadium, wobei letzteres wiederum in Religiosität A (heidnische Religiosität) und Religiosität B (christliche Religiosität) unterschieden wird. Sowohl dem ethischen als auch dem religiösen Existieren liegt bei Climacus das „Subjektivwerden“ zugrunde.

 Mit diesem Punkt kann die in diesem Abschnitt vorgenommene Darlegung zur Aneignung und deren innersystematischen Verhältnissen zwischen Konkretion und Abstraktion, Praxis und Theorie, Reflexion (Denken) und Sein kurz mit folgender Tabelle übersichtsartig dargestellt werden: Durch Mäeutiker auf Aneig- Durch Rezipient unternommenung zielende Existenztheo- ner aneignungspragmatischer retisierung Vollzug Existenz-Bedingung

(theoretisierbare) Konkretion/ Praxis

Schon-Sein

Katalyse

(auf Konkretion rück-und-vor- (existenztheoretisch geleitete) verweisende) Abstraktion/ Reflexion, die Möglichkeit(en) von Theorie Konkretion/Praxis eröffnet

aneignungstheoretisches Resultat

(von Reflexion des Rezipien- (Reflexion einschließendes) ten abhängige) MöglichNeusein des Schon-Seins keit(en) von Konkretion/Praxis

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Das Individuum soll sich auf sich selbst fokussieren und sich mit Bestimmtheit zu sich verhalten. Indem dabei von einem Subjektivwerden gesprochen wird, ist kein momentanes Sich-zu-sich-Verhalten impliziert, sondern, dass das Individuum ein dauerhaftes Verhältnis zu sich eingeht. In diesem Sinne ist die Subjektivität¹⁹³ die theoretisch nicht mehr hintergehbare Voraussetzung der Individualität, des Person- und Selbstseins, wenn das Individuum sein Leben in ein lebendiges Verhältnis zu sich bringt. Zugleich ist mit der Subjektivität Climacus’ Gegenpol zum Objektiven, genauer zum objektiven Denken thematisch. Climacus geht es darum, dass ein objektiver Umgang mit sich kein Existieren bedeutet, weil das Individuum in einem distanzierten Abstand zu sich bliebe.¹⁹⁴ Es betrachte sich nur, stellt fest, kommt zu Resultaten, aber nicht zum eigenen Existieren. Subjektivwerden bedeutet deshalb auch, sich loszulösen von einem objektiven Umgang mit sich und in eine aktiv vollzogene Existenzweise überzusetzen, die durch das Sich-zu-sich-Verhalten bestimmt ist, das wiederum dem konkreten Handeln (an sich selbst und in der Welt) zugrunde liegt. Das Sich-zu-sich-Verhalten wird von Climacus wesentlich anhand des ethischen Existierens ¹⁹⁵ ausgeführt,¹⁹⁶ das die grundlegende, auch für das religiöse Existieren grundlegende Lebensanschauung ¹⁹⁷ benennt, in der das Individuum so mit sich selbst umgeht, dass ein Bewusstsein dafür eintritt, sich nicht an den Schein vermeintlicher Konventionen und deren Versprechungen nach Lebenserfüllung zu binden, sondern das Individuum das eigene Leben als Pflicht erfasst; dass es sich selbst gegenüber schuldig ist, das Leben auch zu leben. Leben bedeutet (bei Climacus) Lebensvollzug, und dass es im ethischen Existieren zuallererst einmal darum geht, dass das Individuum in eine mentale Haltung gerät, in

 Eine sehr hilfreiche systematische Betrachtung des Begriffs der Subjektivität findet sich bei: Schulz, „Subjektivität und Objektivität dogmatischer Reflexion bei Søren Kierkegaard“, besonders S. 67 ff.  Vgl. Kapitel 2.1.2.1.  Zum ethischen Existieren ausführlich: Helmut Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main 1968.  Das Sich-zu-sich-Verhalten ist nicht nur auf das ethische Existieren zu reduzieren. Nicht nur liegt (auch) dem religiösen Existieren das Sich-zu-sich-Verhalten zugrunde, sondern auch das ästhetische Existieren ist von diesem, wenn auch in defizitärer Weise, bestimmt. Dies wird u. a. an der Darstellung der Langeweile in Entweder – Oder deutlich.  Dazu ausführlich (unter Bezugnahme auf Entweder – Oder): Heiko Schulz, Eschatologische Identität. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Sören Kierkegaard, Berlin und New York 1994, S. 251– 267. Zum Begriff der Lebensanschauung bei Kierkegaard (unter Verweis auf weiterführende Literatur): Furchert, Das Leiden fassen, S. 239 (Anm.).

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

133

der es sich zu sich selbst verhält (Subjektivität),¹⁹⁸ indem es sich als vereinzeltes vergegenwärtigt.¹⁹⁹ Das Vereinzelungsprimat des ethischen Existierens hängt damit zusammen, dass das Sich-zu-sich-Verhalten nicht delegiert werden kann. Das Individuum ist, sofern es um es selbst und sein eigenes zu lebendes Leben geht, bei Kierkegaard (zunächst!) allein auf sich verwiesen.²⁰⁰ Das eigene Leben zu übernehmen, sich für das, was mit einem im Leben geschieht zu verantworten, bedeutet, dass das Individuum sich zur Aufgabe wird und dass die Aufgabe als eine permanente verstanden wird. In Entweder – Oder schreibt Gerichtsrat Wilhelm: „Wer ethisch sich selbst wählt, der hat sich selbst als Aufgabe … Ethisch kann er sich nur wählen, wenn er sich in Kontinuität wählt, und er hat somit sich selbst als eine vielfältig bestimmte Aufgabe. Diese Vielfalt sucht er nicht auszulöschen oder zu verflüchtigen …“²⁰¹ Sowohl Wilhelm als auch Climacus verbinden mit der Kontinuität, mit der sich das Individuum zu sich verhalten soll, dass es sich selbst „durchsichtig“²⁰² wird und sich dadurch versteht, dass es sein zu lebendes Leben aktiv gestaltet. „[D]as ethische Individuum [ist] sich selbst durchsichtig … und [lebt] nicht ins Blaue hinein [ins Blaue hinein] …“²⁰³ „Überall wo das Ethische mit dabei ist, ist

 In Entsprechung vermerkt Arne Grøn: „Was durch den Begriff Existenz hervorgehoben wird, ist die Verbindung von Leben und Subjektivität.“ (Ders., „Ein Leben zu führen. Kierkegaard und der Begriff des Lebens“, in Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 2, hg. von Stephan Schaede, Gerald Hartung und Tom Kleffmann, Tübingen 2012, S. 81– 106, hier S. 104) Zu der sich daraus ergebenden Charakteristik des ethischen Existierens als Handeln unter permanentem Selbstbezug: ders., „Phänomenologie der Subjektivität“, S. 491 f.  „[U]m das Ethische zu studieren, ist jeder Mensch auf sich selbst angewiesen. Er selbst ist sich in dieser Hinsicht mehr als genug, ja, er ist der einzige Ort, wo er es mit Sicherheit studieren kann.“ (SKS 7, 132 / DUN, 274) „[E]s gibt nur eine ethische Betrachtung: die Selbstbetrachtung. … Das Ethische hat mit den einzelnen Menschen zu tun, und wohlbemerkt mit jedem einzelnen.“ (SKS 7, 292 / DUN, 482) Ethisches Existieren heißt: „zu lernen, dass der einzelne Mensch allein steht.“ (SKS 7, 295/ DUN, 486) In den Gegensatz setzt Kierkegaard die Menge, Masse (etc.) Das, was Heidegger später als das Man bezeichnet, arbeitet Kierkegaard schon sehr nuanciert heraus. Dazu: Michael Theunissen, Der Begriff der Verzweiflung. Korrektur an Kierkegaard, Frankfurt am Main 1993, S. 47– 51. Das bei beiden Philosophen vorherrschende Vereinzelungsprimat des wirklichen Existierens drückt Kierkegaard in einer NB-Aufzeichnung in gegenteiliger (und verächtlicher) Weise aus: „Den meisten wird es ganz angst und bange, wenn die Reihe an sie kommt, jeder für sich der Einzelne zu sein.“ (SKS 20, 88, NB:123/ DSKE 4, 98)  In der Besprechung des religiösen Existierens wird systematisch zu diesem Auf-sich-Verwiesensein ein komplexes Verständnis von Abhängigkeit hinzutreten. Besonders ab Kapitel 2.3.2.3.  SKS 3, 245 f. / DEO, 824.  Zum Begriff der „Durchsichtigkeit“ und dessen hermeneutischen Verwendungsbereichs innerhalb von Kierkegaards Werk: Fahrenbach, Kierkegaards Ethik, S. 113.  SKS 3, 246/ DEO, 825.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

alle Aufmerksamkeit auf das Individuum selbst und auf das Handeln zurückgerufen.“²⁰⁴ Ethisches Existieren ist systematisch gesehen das in die Praxis (die Konkretion) des Lebens integrierte und sich in der Lebenspraxis ausformende Selbstsein (Selbst-Verhältnis). Dieses dialektisch-reziproke Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Individuum (das als Wirklichkeit in die Wirklichkeit eingebettet ist), zwischen äußerer Gegebenheit und innerem Verhältnis zum Gegebenen, gilt es – vor dem Hintergrund der Innerlichkeitsthematik – genauer zu untersuchen.

2.2.1.2 Fragestellung und Vorgehen Diese kurze Einleitung in das ethische Existieren gibt den Rahmen für die folgende Betrachtung vor, in der die Innerlichkeit aus der Darstellung Climacus’ heraus entwickelt und hermeneutisch abgeleitet werden will. Wie am Anfang von Teil 2.1 gesagt wurde, versteht Climacus unter Existieren die Innerlichkeit: wesentliches Existieren heißt innerliches Existieren.²⁰⁵ Es wurde auch festgestellt, dass Innerlichkeit ein aktiver, voluntativer, zu erlebender und bewusster Vollzug eigenen, inneren Handelns bedeutet. Dies soll im vorliegenden Kapitel näher bestimmt werden. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Innerlichkeit von Climacus zunächst unter dem Aspekt des ethischen Existierens betrachtet wird (weshalb auch das ethische Existieren kurz eingeführt wurde). Dieses ist zwar immer schon in seiner strukturellen Konzeption auf das religiöse Existieren hin orientiert, aber das Religiöse ist systematisch noch nicht vordergründig thematisch. Dementsprechend ist die folgende Analyse ohne religiöse Implikationen geführt. Im Grunde ist eine solche Betrachtungsweise, gerade für die Innerlichkeit, ein verkürzter Blick auf das Problem, lässt aber die innere, konzeptionelle Struktur der Innerlichkeit deutlich hervortreten. Mir geht es hierbei um zwei Fragen: 1. Wie ist die Innerlichkeit strukturell, anhand der Existenzbegriffe zu erfassen? 2. Welche Art und Weise der Lebensführung geht damit einher? Diese zweite Frage ist zu konkretisieren. Mir geht es nicht darum, die Innerlichkeit auf das ethische Existieren zurückzubeugen. Mir soll es darum gehen, dass Innerlichkeit – so viel sei vorweggenommen – als Vollzug und Existenzweise bedeutet, dass das Individuum sich selbst in Erfahrung bringt. Für die Innerlichkeit bei Climacus gilt gewissermaßen Hegels Satz aus der

 SKS 7, 356/ DUN, 563.  Dass wesentliches Existieren Innerlichkeit ist, wird auch von Almut Furchert hervorgehoben: dies., Das Leiden fassen, S. 227.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“²⁰⁶ Obwohl der Mensch ständig mit sich selbst konfrontiert ist,weiß er – so Climacus’ Prämisse – wenig von sich; er muss sich erst vergegenwärtigen (kein von Climacus gebrauchter Begriff), sich bewusst werden als der, der er ist. ²⁰⁷ Davon ausgehend, ist bei Climacus die Identität des Individuums nichts, was sich von selbst versteht, d. h. nicht nur nicht selbstverständlich ist, sondern auch nicht a priori besteht. Denn Identität ist (für Climacus) zu entdeckende und zu erarbeitende Reflexion der eigenen Person unter ständigem Rückbezug auf den persönlichen Erfahrungshaushalt. Das gesamte Kapitel handelt demnach vom Problem der Individuierung. In der Thematisierung dessen soll es genauer darum gehen, wie das Individuum zu einer Person ²⁰⁸ wird; wie es sich in seiner Persönlichkeit bestimmt und wie sich darin die existenzielle Wirklichkeit ausdrückt. Dies bleibt zugleich auf die Frage bezogen, was es bedeutet, im innerlichen Sinne zu existieren; welchen Umgang die Person mit sich pflegt und zugleich, wie und was sie von sich verstehen kann. Dies soll auf der Grundlage der climacischen Struktur des Sich-zusich-Verhaltens herausgearbeitet werden. Hierbei ist zum Vorgehen zunächst zu sagen, dass sich Schritt für Schritt in die komplexe Struktur der Innerlichkeit hineingearbeitet wird. Auf das Problem des Ethischen, in dessen Kontext besonders die Ausführungen in Kapitel 2.2.4 stehen, wird nicht in expliziter Weise eingegangen. Mir geht es vor allem um die basale existenziell-phänomenologische Struktur des innerlichen Existierens. Zuerst soll in Kapitel 2.2.2 die Grundstruktur des Sich-zu-sich-Verhaltens bei Climacus rekonstruiert werden. Dabei wird die Innerlichkeit in ihrer Reflexionsstruktur dargestellt. Zugleich wird sich dabei ein differenziertes Bild der Auffassung von Existenz und Existieren ergeben. Die gewonnene Struktur der Innerlichkeit soll danach in eine Anwendung auf den Existenzvollzug übergehen. Dies wird in drei Punkten vorgenommen. Kapitel 2.2.3: Es wird in rekonstruierender Weise gezeigt, wie sich das Individuum seiner Persönlichkeit als lebendige Ganzheit anzunähern vermag. Dabei werden besonders das Problem der Geschichtlichkeit, der Kontingenz und der Umgang mit der Zeitlichkeit in den Blick rücken. Kapitel 2.2.4: Es wird das Existieren in seinem Handlungs- und Tätigkeitsaspekt näher betrachtet. Dabei wird der climacische Handlungsbegriff zeigen, dass  Hegel, Werke 3, 35. Dass Hegel hierbei von einem Identitäts-Verhältnis zwischen Außen und Innen spricht, wird für die vorliegende Betrachtung von Interesse sein,wenn es darum gehen wird, wie sich das Individuum zu seiner eigenen Geschichte verhält: vgl. Kapitel 2.2.3.  Vgl. die Struktur der Existenzdialektik in Kapitel 2.1.4.  Zum Begriff der Person (mit Bezug auf Kierkegaard): Deuser, Religionsphilosophie, S. 479 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ihm ein doppeltes Verständnis innewohnt, von dem her die in Kapitel 2.2.3 gewonnenen Ausführungen zum Personsein weiter differenziert werden können. Kapitel 2.2.5: Es wird der climacische Begriff des Erlebens und Erfahrens näher charakterisiert und in das Problem des Sich-Verstehens überführt. Von dort her soll – im Anschluss an Kapitel 2.1 – ein Versuch unternommen werden, in Bezug auf die Innerlichkeit das Verhältnis von Sprache und Sich-Verstehen auszuloten. Mit den in diesen Kapiteln entstehenden Diskussionen werden nicht nur die elementaren Grundzüge eines innerlichen Existenzvollzugs und gleichfalls eines auf Innerlichkeit orientierten Lebens herausgehoben, sondern die Innerlichkeit in ihrer existenziellen Erscheinungsweise für das religiöse Existieren (Kapitel 2.3) strukturell vorbereitet. Zum Schluss kann in Kapitel 2.2.6 das Verhältnis von Innerlichkeit, Leben und Personsein zu einem vorläufigen Ergebnis geführt werden.

2.2.2 Sich-zu-sich-Verhalten im Vollziehen 2.2.2.1 Struktur des Sich-zu-sich-Verhaltens Der Begriff Existenz [dän. Existents] ist eine Bestimmung von Sein, mit dem traditionell Daßsein, existentia, Vorhandensein, „es gibt“ oder, wie Climacus in der „Spinoza-Anmerkung“ der Philosophischen Brocken sagt, „faktisches Sein“ [faktiske Væren]²⁰⁹ benannt wird.²¹⁰ Da es Climacus aber mit der Existenz im existenziellen Sinne um keinen leblosen Gegenstand, sondern um den Menschen geht (der der Mittelpunkt seiner Philosophie ist²¹¹), ist Existenz nicht einfach auf das ontologische Faktum zu reduzieren. Um das Verständnis des Begriffs präzise zu umreißen, was am Ende des vorliegenden Teilkapitels geschieht, müssen zu-

 SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 53 (Anm.).  Zum historisch verwendeten Begriff „Existenz“: Robert Spaemann, „Über die Bedeutung des Wortes ‚ist’, ‚existieren’ und ‚es gibt’“, PJdG 2010, S. 5 – 19; Pierre Hadot, „Existenz, existentia“, in HWPh, Bd. 2, S. 854 ff.; Martin Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides. Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919 – 1944, Bd. 35, hg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2012, S. 82; Ernst Tugendhat, „Die Seinsfrage und ihre sprachliche Grundlage“, in ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, S. 90 – 107, hier S. 93 – 98; ders., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 174 ff.; Wolfgang Janke, Die Sinnkrisis des gegenwärtigen Zeitalters. Weg und Wahrheit, Welt und Gott, Würzburg 2011, S. 79.  Dazu: Bast, „‚Innerlichkeit‘ bei Kierkegaard“, S. 121. Ebenso: Robert Perkins, „Kierkegaards erkenntnistheoretische Präferenz“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 385 – 407, hier S. 404. Und: Janke, Historische Dialektik, S. 380. – Außerdem: Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie, S. 84, – wo Heidegger seine „Gemeinsamkeit mit Kierkegaard“ dadurch charakterisiert, dass der „Gebrauch des Existenzbegriffs … ausschließlich auf den Menschen“ bezogen ist.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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nächst die dem Existenz-Begriff impliziten Existenz-Kategorien betrachtet werden: Inter-esse; Interesse; Selbst; konkretes Denken.

Inter-esse Die Unwissenschaftliche Nachschrift ist Kierkegaards korrektives Hauptwerk gegen den vor allem hegelschen Idealismus.²¹² Die Abweisung umfasst mehrere Sachverhalte.²¹³ Wichtig für die vorliegende Betrachtung ist, dass im Idealismus „unter Sein nichts anderes als Denken verstanden“ wird.²¹⁴ Indem dabei – so Climacus – das Sein und somit auch das zu lebende Leben als daseinslose Abstraktion begriffen werden, wird „das wirkliche Leben eine Schatten-Existenz [Skygge-Existents].“²¹⁵ Vor diesem Hintergrund unternimmt Climacus die für seine Philosophie wichtige Trennung von Denken und Sein: „Existenz scheidet Denken und

 Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass Kierkegaard nicht Hegel, sondern die dänischen Hegelianer gelesen hat. Dazu: Curtis Thompson, „A Speculative Theologian Determining the Agenda of the Day“, in Kierkegaard and his Danish Contemporaries, Tome II: Theology, hg. von Jon Stewart, Farnham und Burlington 2009 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 7), S. 229 – 266, besonders S. 245 f. Zur Auseinandersetzung Kierkegaards mit dem dänischen Hegelianismus: Schreiber, Apriorische Gewissheit, S. 118 – 130.  Die Schwerpunkte seiner Kritik liegen auf dem systemischen Programm des Idealismus und dem abstrakten Denken, das mit seinem Anspruch auf Objektivität allein im Bereich des Allgemeinen und Begrifflichen bleibt, ohne Interesse für den konkreten, faktischen Menschen. Die Sekundärliteratur, die sich mit den von Climacus (Kierkegaard) herausgestellten Sachverhalten des hegelschen Denkens beschäftigt, ist so umfangreich, dass hier nur auf einige wenige Literatur verwiesen werden kann. Zum abstrakten Denken als auch zum Systemdenken und Kierkegaards Kritik daran: Paul Cruysberghs, „Hegel Has No Ethics“, in KSYB 2005, S. 175 – 191; Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, S. 13 – 28; Jann Holl, Kierkegaards Konzeption des Selbst. Eine Untersuchung über die Voraussetzungen und Formen seines Denkens, Meisenheim am Glan 1972, S. 13 – 58; Lore Hühn, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs, Tübingen 2009, S. 84– 204; Janke, Historische Dialektik, 295 – 443. – Dass Kierkegaards Abwendung vom Systemdenken auf die Existenzphilosophie des 20. Jhs. abfärbte, zeigt sich vor allem an Karl Jaspers’ Philosophie. Zu diesem: Gerd Wolandt, „Philosophie und Erfahrungswissenschaft bei Karl Jaspers“, PJdG 1985, S. 255 – 265, hier S. 255 f.  SKS 7, 300/ DUN, 493. Vgl. unter anderem Hegel, Werke 3, S. 53.  SKS 7, 315/ DUN, 512. Frater Taciturnus schreibt gegen den metaphysischen Rationalismus des Idealismus: „Das Metaphysische ist die Abstraktion, und es gibt keinen Menschen, der metaphysisch existiert.“ (SKS 6, 439/ SLW, 507) Climacus scheut nicht – fast wie in einem Anschluss daran –, die Existenzvergessenheit des reinen, abstrakten Denkens in überspitzter Metaphorik als „Selbstmord“ des Menschen zu bezeichnen, weil das konkrete, faktische Gebundensein an das zu lebende Leben im abstrakten Denken vergessen („getötet“) wird: „Selbstmord ist die einzige Existenz-Konsequenz des reinen Denkens …“ (SKS 7, 280 f. / DUN, 468; auch: SKS 7, 317/ DUN, 514)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Sein …“²¹⁶ Die climacische Existenzphilosophie ist keine Philosophie hegelianischer Mediation, der Vermittlung; keine Philosophie des Identitätsprinzips, sondern des Kontradiktionsprinzips.²¹⁷ Die theoretisch-ontologische Trennung (Kontradiktion) von Denken und Sein ist aber nur eine Seite der Existenzstruktur. Denn obwohl diese Trennung zwischen Denken und Sein als „ungeheurer Widerspruch“²¹⁸ in der Existenz bestehen bleibt, hat der Mensch im „Medium“ des Existierens²¹⁹ Anteil an beidem. Der Mensch steht – ganz im Sinne des lateinischen Mediums (Mitte) – in einer Zwischenposition; in der Mitte zwischen Denken und Sein; ist deren Mittler. Das Zwischen-Sein zwischen Denken und ²²⁰ Sein nennt Climacus das Inter-esse, die anthropologische Grundstruktur (conditio humana) des Menschen.²²¹ So sagt Climacus, in seiner Abweisung des Idealismus, dass der Mensch ein „inter-esse zwischen der hypothetischen Einheit der Abstraktion von Denken und Sein“²²² ist;²²³ dass er ein „Zwischenwesen“ [Mellemvæsen] im „Zwischenzustand“ [Mellemtilstand]²²⁴ ist. Das Inter-esse ist hierbei systematisch ein Zugleich von Trennung und Vereinung von Denken und Sein. Die anthropologische Einheit (der ontologisch geschiedenen Elemente) des Menschen besteht darin, dass er denkend und seiend ist, dass er sowohl die Faktizität des Daseins und das begriffliche

 SKS 7, 303/ DUN, 496.  Climacus betont dies in Gegenüberstellung zum Identitätsprinzip: SKS 7, 383 f. / DUN, 599. Der Entwurf Kierkegaards zu diesen Ausführungen findet sich im Journal JJ (SKS 18, 223, JJ:261 / DSKE 2, 230), wo die UN-Stelle fast wortwörtlich wiedergegeben ist. Das Kontradiktionsprinzip wird auch in den Philosophischen Brocken angesprochen: SKS 4, 304 f. / DPB, 128.  SKS 7, 320/ DUN, 517.  Vgl. SKS 7, 318/ DUN, 515.  Das „und“ ist hier sowohl als ausschließende wie auch einbeziehende Konjunktion zu verstehen.  Das Inter-esse ist hier und im Folgenden zunächst als reines Strukturelement menschlicher Daseinserfassung betrachtet, wird aber im Laufe der Untersuchung in seine existenzielle (und existenziell-religiöse) und existenzdialektische Bedeutungsdimension überführt werden.  SKS 7, 286/ DUN, 476.  Das Inter-esse wird bei Climacus in dreifacher Ausformung formuliert: 1. als Inter-esse zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit (= zwischen Zeit und Ewigkeit); 2. zwischen faktischem und ideellem Sein; 3. zwischen Denken und Sein. Auf die erste Bestimmung wird anhand des religiösen Existierens eingegangen (Kapitel 2.3.2.1). Die zweite Bestimmung betrifft wesentlich das ethische Existieren. Die dritte Bestimmung wird vorliegend diskutiert. Gelungene Ausführungen zum Inter-esse finden sich u. a. in: Fahrenbach, Kierkegaards Ethik, S. 14– 22; Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 78 – 99; Alexander Gantschow, Das herausgeforderte Selbst. Zur Lebensführung in der Moderne, Würzburg 2012, S. 104– 114; Janke, Historische Dialektik, S. 376 f.; Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 29 – 41.  SKS 7, 301 / DUN, 494 f.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Denken umfasst. ²²⁵ – So ist der Mensch bei Climacus als Inter-esse ein existenzdialektisches Bewusst-Sein.²²⁶

Interesse Der climacische Begriff des Interesses bezeichnet ein Sich-zu-etwas-Verhalten und zwar im Sinne des Engagements,²²⁷ d. h. sich „etwas zu seinem Anliegen machen“²²⁸. Das Interesse setzt das Individuum ins Verhältnis zum Gegenstand des Interesses. Das Anliegen benennt Climacus dabei klar und deutlich: „[D]er Existierende ist unendlich interessiert am Existieren.“²²⁹ „Für den Existierenden ist das Existieren sein höchstes Interesse …“²³⁰ In Bezug auf die Aufmerksamkeit am Existieren gibt es bei Climacus kein Entweder-Oder (beziehungsweise: die unbedingte Aufmerksamkeit auf das Existieren entspringt einem Entweder-Oder):²³¹ Es gilt, dass der Mensch „seine ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, dass er existierend ist …“²³² Im Interesse richtet sich die Intentionalität des Individuums auf es selbst. Hierbei ist in der Thematisierung des Interesses Folgendes zu beachten:

 Das Inter-esse ist für Climacus dann „das dialektische Moment in einer Trilogie“ (SKS 7, 287/ DUN, 476). Anton Hügli betont dementsprechend, dass der Mensch als Existierender weder bloßes Dasein ist, das gedankenlos ist, noch reines Denken wäre, das daseinslos ist, bei welchem es nur um die – im idealistischen Sinne – Realität des Denkens geht. Beide Extreme wären je für sich eine Form von Existenzlosigkeit.Vgl. ders., Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 100.  Zum Bewusst-Sein als phänomenologischer Grundbegriff: vgl. Kapitel 2.3.2.1.  Vgl. Schmidinger, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards, S. 250 ff. auch: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 200 ff.  Janke, Wiedereinführung in die Philosophie, S. 192.  SKS 7, 275/ DUN, 461.  SKS 7, 286/ DUN, 476.  Climacus schreibt: „Für einen Existierenden gibt es nun überhaupt zwei Wege; er kann entweder alles tun, um zu vergessen, dass er existierend ist …; oder er kann seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, dass er existierend ist.“ (SKS 7, 116/ DUN, 254) Die vermeintlich zur Disposition stehende Wahl, ob sich das Individuum für oder gegen das Existieren entscheidet, ist bei Climacus rein rhetorisch zu verstehen. Sich vom Existieren abzuwenden, keine Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, führt letztlich zu den durch die anderen Pseudonyme Kierkegaards herausgestellten negativen Existenzphänomen – Langeweile (Entweder – Oder), Angst (Der Begriff Angst), Verzweiflung (Krankheit zum Tode) –, denen wiederum mit einem, von Climacus her verstandenen, anzunehmenden Ewigkeitsbezug (Innerlichkeit; vgl. Kapitel 2.3.2.4) begegnet werden kann.  SKS 7, 116/ DUN, 255.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Das Interesse ist erstens sprachlich unabbildbar. Es kann zwar benannt werden, aber es ist eine jener existenzdialektischen „Existenz-Kategorien“, die sich durch ihre ambivalente Offenheit auszeichnen.²³³ Es kann nicht begrifflich abgeleitet werden und zielt auf die eigene, konkrete, untheoretische, praktische Existenzwirklichkeit, die allem Denken vorausgeht.²³⁴ Das Interesse ist demnach (zunächst) eine durch Erfahrung charakterisierte Existenzbestimmung. Zweitens ist mit dem Interesse strukturell die grundlegende Volitionalität des Menschen benannt (Climacus spricht vom Interesse als „conditio sine qua non“²³⁵ des Existierens). Es liegt existenziell vor aller Theoretisierung. Deshalb sagt Climacus: „[D]ie Schwierigkeit der Existenz ist das Interesse des Existierenden …“²³⁶ Die aneignungstheoretische, existenzielle Schwierigkeit liegt darin, dass das Individuum für sich selbst das Interesse an der Existenz freilegen beziehungsweise entwickeln muss; sich in Interesse versetzen muss. Es geht um die Erfahrung, das Erleben des Interesses; um ein die Person umschließendes, durch Intensität (Innigkeit)²³⁷ gekennzeichnets Involviertsein. ²³⁸ Das Interesse ist somit systematisch als Einheit von intentionaler Reflexion und konkretem Lebensvollzug (und zwar als Intentionalität auf den Lebensvollzug) zu verstehen: Existieren ist Interessiertsein (als Interesse am Existieren).²³⁹ Mit der Rückbezüglichkeit des interessiert-existierenden Menschen auf sich selbst rückt dann nicht nur die Selbstsorge als „unvertretbare Betroffenheitsperspektive der ersten Person“²⁴⁰ in den Blick, sondern auch das Interesse als systematisch gefasste Ego-Zentrizität im Sinne des Sich-zu-sich-Verhaltens in den Mittelpunkt der Betrachtung.

 Vgl. Kapitel 2.1.2.3.1.  In Abwendung von Descartes sagt Climacus beispielsweise: „[W]eil ich da bin und denkend bin, daher denke ich, dass ich da bin.“ (SKS 7, 301 / DUN, 494) Nicht vom Denken her wird auf das Dasein geschlossen, sondern allein, weil der Mensch ein Inter-esse ist, ist er auf sein Dasein im Denken aufmerksam. Faktische Wirklichkeit geht dem Denken voraus. Und eben dies hat philosophische Folgen. Denn von diesem Grundsatz ausgehend, ist Kierkegaards (Climacus’) berühmtes Postulat zu verstehen, dass sich eines überhaupt nicht als ein An-Sich denken ließe: das Existieren (vgl. SKS 7, 300/ DUN, 492 f.).  SKS 7, 25/ DUN, 145.  SKS 7, 275/ DUN, 461.  Vgl. Kapitel 1.3.  Dazu Kapitel 2.2.4.1.  „[E]s gibt nur ein Interesse, das Existieren …“ (SKS 7, 290/ DUN, 480)  Wesche, Kierkegaard, S. 22.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Selbst Aus dem nicht zufälligen Sprachspiel von Interesse und Inter-esse lässt sich ableiten: Sich mit Interesse der Existenz zuzuwenden bedeutet – strukturell gesehen –, sich mit Interesse dem Inter-esse zuzuwenden (denn das Interesse ist verhältnissetzend; s.o.). Das Individuum geht mit dem Interesse ein Verhältnis zum (vom Individuum verkörperten) Verhältnis von Denken und Sein ein. Dieses bei Climacus einzig implizit thematisierte Verhältnis zum Verhältnis, nimmt in vereinfachter Weise die Selbst-Struktur aus der Krankheit zum Tode vorweg. AntiClimacus sagt: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält …“²⁴¹ Ohne näher auf die komplexe Struktur des „Selbst“ in der Krankheit zum Tode eingehen zu müssen,²⁴² kann im Hinblick auf Climacus festgehalten werden: Das Selbst ist das existenzielle Sich-zu-sich-Verhalten als strukturell-existenzdialektische Verwebung von Reflexion (Denken) und leiblich-faktischer Erfahrung (Sein²⁴³).²⁴⁴ Als Interesse zum Inter-esse ist das Selbst ein Involviertsein (Interesse) als Mittig(‐zwischen-Denken-und-Erfahrung‐)Sein (Inter-esse).²⁴⁵

 SKS 11, 129/ DKT, 31.  Dazu m. E. besonders: Deuser, Religionsphilosophie, S. 480 ff. Sowie: Joachim Ringleben, Die Krankheit zum Tode. Erklärung und Kommentar, Göttingen 1995, S. 50 – 68, besonders S. 54– 60.  Auf die dabei implizite Weltverwobenheit allen existenziellen Sich-zu-sich-Verhaltens wird in Kapitel 2.2.3 eingegangen.  Mit der Bestimmung des Selbstseins als Verhältnis zum Inter-esse kann auf die Bestimmung des Menschen in dem, vom Pseudonym Johannes Climacus geschriebenen, aber nur Fragment gebliebenen und zu Lebzeiten Kierkegaards unveröffentlichten Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est verwiesen werden, wo es heißt: „Das Bewußtsein … ist … eine Doppelheit, welche vollständig mit dem prägnanten Doppelsinn [Tvetydighed = Mehrdeutigkeit] ausgedrückt ist in dem Wort Interesse (interesse).“ (SKS 15, 57/ JC, 157) Die „Doppelheit“, d. h. die doppelte Bestimmung des Bewusstseins als Interesse bedeutet, wie Climacus in Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est deutlich macht (vgl. SKS 15, 55 – 59/ JC, 154– 159), dass das Bewusstsein ein sich zu sich verhaltendes Bewusst-Sein ist; ein Inter-esse zwischen Denken und Sein darstellt, das sich denkend für das eigene Sein interessiert (d. h. in Erfahrung bringen will). In Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est (1842/43) wird die existenz-anthropologische Bestimmung des Menschen der Unwissenschaftlichen Nachschrift (1846) vorweggenommen.  Dies ist von Martin Heidegger entlehnt, der schreibt: „Inter-esse heißt: unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben.“ (Ders., Was heißt Denken?, S. 5) Nicht nur erwähnt Heidegger das von Climacus intendierte und ebenso gemeinte „Zwischensein“, sondern konnotiert das Inter-esse als Mitten-drin-Sein-und-Bleiben, eine existenzielle relationsund prozessstrukturelle Konnotation, die von Climacus selbst in die Philosophie eingeführt wird (dazu: Arne Grøn, „Religion und Subjektivität – in existenzieller und pragmatischer Perspektive“, in Instinkt Redlichkeit Glaube. Zum Verhältnis von Subjektivität und Religion, hg. von Heiko Schulz, Frankfurt am Main 2011, S. 89 – 107, hier S. 96). Vor dem strukturellen Hintergrund des Inter-esse geht es Climacus nämlich um das „Darin-Existieren“ (Handeln; vgl. Kapitel 2.2.4) als eine beständige (durch Interesse und Leidenschaft bestimmte) Haltung des verwirklichten Bezugs zur

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Als Verhältnis zum Inter-esse ist das Selbstsein das Verhältnis des Individuums zu sich als Person. Der Mensch wird sich als ein mit Bewusstsein ausgestattetes leibliches Wesen bewusst.²⁴⁶ Das Selbst bezeichnet dann genauer kein als Substanz aufgefasstes Sein, sondern eine re-flexive Relation. Das heißt erstens, dass sich bei Climacus allein in diesem re-flexiven Verhältnis die Identität des Individuums ausbilden kann.²⁴⁷ Zweitens zeigt es das Selbst als Verhältnis (Relation) an. Das Selbstsein kann kein unmittelbares Bei-sich-Sein bedeuten, sondern impliziert immer einen re-flexiven, rück-bezüglichen Abstand des Individuums zu sich.²⁴⁸

Konkretes Denken Das Sich-zu-sich-Verhalten im Interesse ist das Eingehen eines bewussten Verhältnisses zu sich. Dieses bewusste Verhältnis bezeichnet Climacus als konkretes Denken. „Was ist konkretes Denken? Es ist das Denken, bei dem es einen Denkenden gibt, und ein bestimmtes Etwas …, das gedacht wird, bei dem die Existenz dem existierenden Denker den Gedanken, Zeit und Raum gibt.“²⁴⁹

Welt (Existenz) und zum (ethischen) Idealbezug (religiös: Gott); um ein gleichermaßen durch Denken und Erfahrung getragenes Involviertsein am und ins Existieren. Das von Climacus existenziell intendierte Inter-esse meint dann genau das,was Heidegger sagt: ein Mitten-im-VerhältnisExistieren (was systematisch besonders und deutlicher noch anhand des religiösen Existierens hervortritt: vgl. Kapitel 2.3.2). Ob Heidegger sich diese existenzielle Formalisierung des strukturellen Inter-esses von Kierkegaard angeeignet hat, ist durchaus denkbar. Was heißt Denken? wurde 1951 verfasst; der erste Kontakt Heideggers mit der Unwissenschaftlichen Nachschrift war 1941, wie Gerhard Thonhauser nachweist: Ders., Ein rätselhaftes Zeichen. Zum Verhältnis von Martin Heidegger und Søren Kierkegaard. Kierkegaard Studies, Monograph Series 33, hg. von Heiko Schulz, Berlin und Boston 2016, besonders S. 414 ff.  Bei Kierkegaard wird immer der ganze Mensch, der Leib und Geist hat, thematisiert. Dazu: Deuser, „Die Dialektik menschlichen Existierens“, S. 144; vgl. auch Vetter, Stadien der Existenz, S. 141.  Vgl. Grøn, „Ein Leben zu führen“, S. 89.  Das bedeutet, phänomenologisch gewendet, dass Selbsterkenntnis durch Selbst-Reflexion immer eine (abständige) Beobachterposition des Subjekts zu sich selbst impliziert. Sich zu erkennen heißt, jemanden zu suchen, der anders ist als der, der man gewesen wäre, ohne ihn zu suchen. Die Beobachterposition stört das Ergebnis. Es greift das Unschärfeprinzip. – Dieser Gedanke ist entlehnt von: Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, hg. von Manfred Sommer, Frankfurt am Main 2007, S. 329 f.  SKS 7, 303/ DUN, 497. Dies formuliert Climacus in Abweisung des hegelschen Idealismus und dem in ihm praktizierten abstrakten Denken: „Was ist abstraktes Denken? Es ist das Denken, bei dem es keinen Denkenden gibt. Er sieht von allem andern als dem Gedanken ab.“ (SKS 7, 303/ DUN, 496 f.) „[D]er abstrakte Denker [hat] die Aufgabe …, das Konkrete abstrakt zu verstehen … Der abstrakte Denker sieht weg von den konkreten Menschen auf den reinen Menschen

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Climacus sagt, dass das Konkrete der Denkende ist, der der Inhalt („das bestimmte Etwas“) des (konkreten) Denkens ist. Das Individuum ist im konkreten Denken auf sich selbst aufmerksam. Es begegnet sich mit Interesse. Zugleich wird auch gesagt, dass der Gedanke „Zeit und Raum“ gibt: das Individuum bezieht sich auf sich selbst als faktisch-leiblichen Menschen in der Welt.²⁵⁰ (Von hierher ist das Postulat, das die Existenz als ein An-sich nicht gedacht werden kann, zu verstehen.²⁵¹). Für Climacus gilt daher das Gleiche wie für den jungen Ludwig Feuerbach: „Individuum bist du nur der sinnlichen Existenz nach, d. h. nur als räumlich und zeitlich daseiendes.“²⁵² Konkret zu denken heißt, sich selbst als faktisches Lebewesen zu bedenken, das in faktischer, d. h. physischer, geschichtlicher, sozialer, sprachlicher (etc.) Wirklichkeit situiert und eingebettet ist und mit dieser konhin.“ (SKS 7, 322 / DUN, 520) Im Journal JJ heißt es ganz ähnlich: „[D]as objektive Denken schert sich überhaupt nicht um den Denkenden …“ (SKS 18, 253, JJ:344 / DSKE 2, 261) Obwohl Climacus eine genaue Unterscheidung zwischen konkretem und abstraktem Denken schuldig bleibt, liegt der Unterschied wohl am ehesten darin, dass das abstrakte Denken als rein objektives, das Existieren nicht einbeziehendes Denken gekennzeichnet wird, während das konkrete Denken das Denken der Konkretion (Existieren) ist, also Abstraktion (Denken) und Konkretion (Existenz) zusammenführt, wodurch es sich durch die dialektische Verwebung von Abstraktion und Konkretion auszeichnet (zu dieser Kapitel 2.1.4).Was diese Verwebung existenziell genau bedeutet: vergleiche den letzten Abschnitt dieses Teilkapitels. Außerdem: Zum Verhältnis von abstraktem und konkretem Denken: Deuser, „Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz“, S. 91.  Der Unterschied des (von Climacus abgewiesenen) objektiven Denkens vom konkreten Denken liegt nicht darin, was gedacht wird, sondern in der Art und Weise der Reflexion des jeweiligen Denkens. Das heißt, dass im objektiven und für Climacus zugleich abstrakten Denken einzig Ergebnisse in den Blick geraten; im konkreten Denken findet hingegen eine zusätzliche Reflexion auf das Denken statt (dies ist systematisch analog zur „Doppelreflexion“ als Bewusstsein der Sprache als Sprache zu verstehen: vgl. Kapitel 2.1.2.3.2). Im konkreten Denken wird in dem, was gedacht wird, immer auch zugleich mitgedacht, dass der Inhalt des Gedachten nicht als Ergebnis stehen bleiben kann, weil das Individuum im Werden ist. Das konkrete Denken ist dann immer durch eine immanente Reflexion der Reflexion gekennzeichnet (eine doppelte Reflexion). Bedenkt sich das Individuum konkret, weiß es um sein existenzielles Unfertigsein. Deshalb ist das konkrete Denken an das Sich-zu-sich-Verhalten und die eigene Lebenswirklichkeit, die Umsetzung des Denkens gebunden, während das objektive Denken abstrakt neben der Wirklichkeit steht. Dies wird auch daran deutlich, dass Climacus dem objektiven Denken die Möglichkeit und dem konkreten Denken die Wirklichkeit zuordnet und der Unterschied zwischen beiden allein im Verhältnis des Individuums zu sich besteht, weshalb er sagen kann: „[Z]wischen Möglichkeit und Wirklichkeit ist vielleicht inhaltlich gar kein Unterschied …“ (SKS 7, 311 / DUN, 507 (Hervorhebung d.Vf.)) Nicht der Was-Gehalt, sondern das, was einbezogen (Existieren) und worauf sich bezogen (Existieren) wird, unterscheidet das objektive vom konkreten Denken.  Vgl. Kapitel 2.1.2.1.  Ludwig Feuerbach, „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“, in Werke in sechs Bänden 1. Frühe Schriften (1828 – 1830), hg. von Erich Thies, Frankfurt am Main 1975, S. 77– 349, hier S. 137.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

frontiert wird. Der Inhalt und der Bezugspunkt des konkreten Denkens bleibt aber das Individuum selbst. So sagt Vigilius Haufniensis, dessen Schrift, Der Begriff Angst, eng mit den Climacus-Schriften zusammenhängt²⁵³: „Der konkreteste Inhalt, den das Bewusstsein haben kann, ist das Bewusstsein über sich selbst als Individuum [er Bevidstheden om sig selv, om Individet selv], nicht das reine Selbstbewusstsein, sondern das Selbst-Bewusstsein [Selv-Bevidsthed] …“²⁵⁴ Dass Vigilius hier von einem (mit Bindestrich geschriebenen) „Selbst-Bewusstsein“ spricht, liegt an der anthropologischen Grundstruktur des Menschen, die bei Vigilius als Synthese von Leib und Seele²⁵⁵ und bei Climacus weniger theologisch als Inter-esse benannt ist. Das Selbst-Bewusstsein ist das im konkreten Denken vorgenommene Bezugnehmen des Individuums auf sich selbst als leibliche Person mit konkreter Persönlichkeit – und das bedeutet genauer: das Selbst-Bewusstsein ist eine auf Selbst-Reflexion und -Erfahrung gründende und auf konkrete Praxis zielende Existenzbestimmung.

Der Existenzbegriff Die Struktur des Sich-zu-sich-Verhaltens (Selbst-Bewusstsein) kann nun wie folgt gefasst werden: Im konkreten Denken und mit Interesse bezieht sich das Individuum auf sich selbst als Inter-esse, das Denken und Sein, Reflexion und Erfahrung umfasst. Diese Struktur bezeichnet das Selbst-Bewusstsein beziehungsweise das Sich-zu-sich-Verhalten des konkreten, faktisch-leiblichen Menschen. Für die theoretische Thematisierung der Existenz bei Climacus muss somit auf folgenden Sachverhalt hingewiesen werden. Der Begriff Existenz steht unter zwei Prämissen: a) Dem Individuum geht es um es selbst; es verhält sich zu sich selbst; b) das Individuum muss sich als ein in einem Leben verankerten Menschen verstehen, der auf die faktische, konkrete, erfahrbare, es konfrontierende Wirklichkeit zurückgebunden bleibt. Als Sich-zu-sich-Verhalten ist Existieren eine Bewusstseinsbestimmung, ein Verhältnis, das der Mensch zu sich selbst eingeht. Zugleich bezeichnet Existenz auch das faktische, zeitliche, leibliche Lebendigsein, das Verortetsein in der Welt. Diese Dopplung im Verständnis von Existenz ist immer zu berücksichtigen.²⁵⁶

 Zum Zusammenhang von Vigilius und Climacus: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 48 – 68.  SKS 4, 443/ DBA, 616.  Vgl. SKS 4, 394 / DBA, 550.  In diesem Sinne sind sowohl das Bewusst(‐)sein (De omnibus dubitandum est), das Inter-esse (Nachschrift) und das Selbst-Bewusstsein (Begriff Angst) als Ausdruck dieses doppelten Verständnisses von Existenz zu begreifen. Sie umfassen sowohl das Denken (Bewusstsein) als auch

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Philosophisch relevant wird damit ein Sachverhalt, der auf eine alte Diskussion zielt. Die Terminologie der „Existenz“ kann als Kierkegaards Versuch gesehen werden, den seit Descartes prominent diskutierten Dualismus von Körper und Geist – beziehungsweise zeitgemäßer: das „Bewußtsein-Körper-Problem“²⁵⁷ – zu überwinden, indem der Begriff der Existenz gerade beide Dimensionen des Menschen ineinanderfaltet. Dies zeigt sich systematisch ganz konkret, wenn Climacus die Bedingung des Cogito ergo sum nicht im Denken, sondern in der dem Begriff Existenz zugrunde liegenden anthropologischen Struktur des Inter-esses, dem gleichzeitigen Verwiesensein des Menschen an Denken und Sein, sieht.²⁵⁸ Wesentlich dabei ist, dass der Begriff der Existenz den Begriff des Inter-esses als lebendige Einheit beschreibt. Unter dem Selbst-Bezug des Individuums und in Anbetracht des Eingebettetseins in der Welt werden Denken und Sein, Abstraktion und Konkretion – was für die folgenden Betrachtungen in diesem Kapitel 2.2 entscheidend ist – zu einer dialektischen Einheit geführt. So wird erstens nicht nur das Sein durch das Denken, sondern auch das Denken durch das Sein bestimmt (Überzeugungen, Haltungen, Einstellungen); zweitens ist dann nicht nur das Sein Ausdruck des Denkens, sondern auch das Denken Ausdruck des Seins (überzeugungsgeleitetes Handeln; bewusste Lebensgestaltung); drittens sind dann nicht nur Haltungen über Handlungen vermittelt, sondern Handlungen auch vermittelte Haltung; und das bedeutet viertens: Innen und Außen sind miteinander verschränkt.²⁵⁹ Durch den Aspekt der Einbettung in der Welt wird diese Verschränkung von Innen und Außen, Denken und Sein, Haltung und Handlung noch komplexer bestimmt. Denn das Individuum befindet sich in einem ständigen Verbundensein und einem ständigen Austausch mit der Welt; es reagiert und agiert (Haltungen und Handlungen sind Reaktionen und Aktionen), wird beein-

das Sein (Leiblichkeit; Verortung in der Welt), sind also niemals als isolierte Verhältnisse des Individuums zu sich selbst zu verstehen.  Harry G. Frankfurt, „Identifikation und ungeteilter Wille“, in ders., Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg.von Monika Betzler und Barbara Guckes, Berlin 2001, S. 116 – 137, hier S. 116.  Vgl. SKS 7, 301 / DUN, 494. Climacusʼ Bemerkungen zu Descartes scheinen der Vorannahme zu unterliegen, dass Descartes aus einem mangelhaft reflektierten Weltverhältnis heraus, durch das Denken, dieses Weltverhältnis konstituieren will – oder in Climacusʼ Terminologie: dass das Sein aus dem Denken abgeleitet werden will, wobei Descartes der (angebliche) Fehlschluss unterläuft, dass das, was das Denken beweisen will (das Sein) implizit schon vorausgesetzt ist. Jedoch scheint mir, dass dies nicht in diesem Maße zu bejahen ist. Denn das Cogito ergo sum ist das aus einem alles bestimmenden Weltverhältnis gewonnene Resultat eines Denkens, das sich in sich zurück zum Weltverhältnis wendet. (Dazu: Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, S. 331 f.)  Man beachte beispielsweise auch den Titel des Buches des Pseudonyms „Johannes de Silentio“: Furcht und Zittern. Innen und Außen, Geist und Leib gehen Hand in Hand.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

flusst und wirkt (Haltungen und Handlungen sind beeinflusst und beeinflussend), ist passiv und aktiv bestimmt (Haltungen und Handlungen sind abhängig und frei). Der Begriff der Existenz benennt demnach ebenso über Leiblichkeit, in der Welt vermitteltes Denken, wie er durch Leiblichkeit und Welt bestimmtes Denken impliziert.

2.2.2.2 Vollziehen Climacus versteht das eben dargelegte Strukturgeflecht menschlichen Sich-zusich-Verhaltens nicht als starres Konstrukt, sondern als in sich fluide Verflechtung, eingebettet in prozessualer Wirklichkeit. So ist das, was Climacus unter Existieren versteht, erst dann recht erfasst, wenn das Problem der Bewegung in den Blick rückt.²⁶⁰ Neben dem Sich-zu-sich-Verhalten muss also auch das Vollziehen als das zweite wesentliche Charakteristikum des Existierens bestimmt werden. Folgende Begriffe sind dafür relevant: Werden; Wirklichkeit; Tätigkeit; Leidenschaft.

Werden Climacus unterscheidet zwei Formen des Werdens: das passive und das aktive Werden. Vom passiven Werden ist schon im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken die Rede, wo er vom „Werden der Natur“²⁶¹ spricht.²⁶² Mit diesem ist ein objektives anthropo-ontologisches Faktum festgehalten, dass das Leben selbst ein ständiges Entstehen und Vergehen ist. Auf den Menschen übertragen bedeutet das, dass er – wie in der Unwissenschaftlichen Nachschrift in Anlehnung an Pascal²⁶³ festgehalten wird – „als Existierender beständig im Werden ist, was ja jeder Mensch ist …“²⁶⁴ Der Mensch ist in der Zeit verortet. Die zweite Form des Werdens, das aktive Werden, bezeichnet kein objektives Werden, sondern ein subjektives Werden, das Climacus als „Werden[] innerhalb seines eigenen Wer-

 Einen historischen und systematischen Überblick zu Kierkegaards Prozessphilosophie mit besonderer Berücksichtigung der Krankheit zum Tode geben Sverre Rafnsøe, Matias Møl Dalsgaard, and Marius Gudmand-Høyer in ihrem Beitrag „Sören Kierkegaard“ im Oxford Handbook of Process Philosophy and Organization Studies, hg. von Jenny Helin, Tor Hernes, Daniel Hjorth und Robin Holt, Oxford 2014, S. 111– 128.  Vgl. SKS 4, 275 f. / DPB, 90.  Dazu ausführlich: Tzavaras, Bewegung bei Kierkegaard, S. 16 – 20.  Vgl. Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, hg. von Jean-Robert Armogathe, übers. von Ulrich Kunzmann, Stuttgart 2005, S. 371 (Fragment: 641/129) und 329 (Fragment: 520/375).  SKS 7, 73/ DUN, 200.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

147

dens“²⁶⁵ benennt. Der Mensch hat die Möglichkeit, einen selbsteingeschlagenen Weg zu gehen. Climacus betont dies, wenn er sagt, dass „der Weg anzupreisen [ist], der das Existieren“ – und damit das Sich-zu-sich-Verhalten – „besonders akzentuiert.“²⁶⁶ Die systematische Grundlage dafür findet sich im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken. Für die Diskussion muss sich auf eine komplexe und abstrakte Darstellung eingelassen werden, in der das Verhältnis von Werden und Wirklichkeit herausgestellt wird.²⁶⁷

Wirklichkeit (Rückbezüglichkeit und Innerlichkeit) Im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken unterscheidet Climacus zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Ihr ontologisches Ausschlusskriterium ist das Dasein.²⁶⁸ Während die Möglichkeit potenzielle, noch ausstehende Wirklichkeit ist, ist Wirklichkeit das Ergebnis einer Möglichkeit. Zugleich vermerkt Climacus: „[D]ie Veränderung des Werdens ist der Übergang der Möglichkeit zur Wirklichkeit.“²⁶⁹ Es ergibt sich demnach eine Dreigliedrigkeit: Möglichkeit – Werden – Wirklichkeit. Das Werden liegt zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Es ist als Übergang die Transformation der Möglichkeit in die Wirklichkeit beziehungsweise ein Prozess, in dem eine qualitative Veränderung vollzogen wird: „Die[] Veränderung ist … im Sein, und ist eine solche von nicht da sein zu da sein.“²⁷⁰ Während das Nichtsein modal-onto-logisch die Möglichkeit ist, ist das Dasein die Wirklichkeit. Das Werden besitzt als Transformationsbewegung ein konkretes Ziel, die Wirklichkeit. Das Werden als Übergang ist somit eine teleologische Bewegung. Das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit lässt sich innerhalb der teleologischen Transformationsbewegung genauer wie folgt fassen: Die Wirklichkeit liegt der Möglichkeit zugrunde, denn ohne potenzielle Wirklichkeit keine Möglichkeit, die in Wirklichkeit überführt werden könnte. Daraus folgt aber eine Dopplung des Ziels während der Transformationsbewegung. Das eigentliche Ziel  SKS 4, 276/ DPB, 90.  SKS 7, 177/ DUN, 333.  Eine zu der folgenden Interpretation alternative, für das religiöse Existieren relevante Deutung des „Zwischenspiels“ wird im Kapitel 2.3.2.2.1 vorgenommen. Gelungene Auseinandersetzungen zum „Zwischenspiel“ finden sich m. E. bei: Stephen C. Evans, Passionate Reason. Making Sense of Kierkegaard’s Philosophical Fragments, Bloomington und Indianapolis 1992, S. 119 – 124; Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 217– 226; Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 24– 32.  Vgl. SKS 4, 274/ DPB, 88.  SKS 4, 274 / DPB, 88.  SKS 4, 273/ DPB, 87 (Hervorhebung d.Vf.).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

des Übergangs (Werden) ist die Wirklichkeit, das Ins-Dasein-Bringen (Ergebnis) einer Möglichkeit. Gleichzeitig muss die Wirklichkeit als Noch-nicht-Wirklichkeit, als Möglichkeit während der Bewegung zugegen sein. Indem modal-onto-logisch gilt, dass, solange Möglichkeit ist, keine Wirklichkeit ist, ergibt sich begriffslogisch folgender Schluss: Die Möglichkeit ist alleiniges Ziel während der Übergangsbewegung, denn nur solange es die Möglichkeit einer Wirklichkeit (die Möglichkeit als das Abstraktum der Wirklichkeit gibt), gibt es eine teleologische Bewegung (Werden) zu einer Wirklichkeit, die noch aussteht. Wird Wirklichkeit und somit ein Ergebnis erreicht, kommt es zum Stillstand und Ende der Transformationsbewegung, des Werdens, des Übergangs. Die sich aus dieser Ableitung ergebenden Charakteristika sind: a) Das Werden ist ein Übergang zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. b) Das Werden ist eine teleologische Bewegung. c) Das Werden ist nur, solange eine Möglichkeit besteht.

Im Eingehen auf die einzelnen Punkte lässt sich schließlich die Bewegungsstruktur der Existenz herausarbeiten. Dass das Werden als Übergang zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht (a), ist auf die Existenz zu übertragen, die – wie im Punkt zum Inter-esse ausgeführt²⁷¹ – als Inter-esse zwischen Denken und Sein steht. Da für Climacus gilt, dass im Denken Möglichkeiten erfasst werden können (s.u.), bedeutet das Inter-esse zugleich, dass der existierende Mensch ein Inter-esse zwischen Möglichkeit (Denken) und Wirklichkeit (Sein) ist. Konsequenterweise würde das bedeuten, dass der Mensch Möglichkeiten (Lebensentwürfe ²⁷²) in den Blick nehmen kann und diese durch aktive Lebensgestaltung (Werden als Übergang) in Wirklichkeit (Ergebnisse) überführt. Dass Climacus jedoch kein zweck- und ergebnisorientiertes Verständnis der Existenz intendiert, lässt sich an folgendem Verständnis von Wirklichkeit herausstellen: „Die Veränderung des Werdens ist die Wirklichkeit …“²⁷³ Hiermit etabliert Climacus ein doppeltes Verständnis von Wirklichkeit: einerseits ist sie das Er-

 Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Der Begriff „Entwurf“ ist hierbei nicht von Heidegger entlehnt und bedeutet: Auf ein So-oderso-Sein hin zu leben. Bei Heidegger hingegen ist der „Entwurf“ durch ein genuines Offensein charakterisiert: als „die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeit als Möglichkeit ist.“ (Ders., Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen 2001, S. 145) Bei Heidegger hat der „Entwurf“ nichts mit einem konkreten So-oder-so-Sein zu tun. Dass bei Climacus letztlich ebenfalls ein solches „Offensein“ für das in der Zukunft liegende Geschehen eigener Lebenshaltung intendiert ist, zeigt sich im folgenden Teilkapitel 2.2.3.  SKS 4, 275/ DPB, 89.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

149

gebnis des Werdens; zum anderen (hier) das Werden selbst. Beachtet man hierfür die eben genannte Charakteristik, dass das Werden eine teleologische Bewegung (b) ist, ergibt sich folgendes Bild: Teleologisch ist die Bewegung einzig dann, wenn sie als eine Bewegung zu einem Telos, zur Wirklichkeit (Ergebnis) charakterisiert ist. Indem aber die Wirklichkeit nicht nur als Ergebnis, sondern zugleich als Werden aufgefasst wird, liegt das Telos der Bewegung im Werden selbst. Die Wirklichkeit ist als teleologische Bewegung das Ergebnis als Bewegung zum Ergebnis. Wirklichkeit ist – strukturell – eine Bewegung zu sich selbst. Das ist für die Bestimmung von Existenz relevant. Indem die Existenz das Werden ist, das die Wirklichkeit ist, ist Existenz eine auf sich selbst ausgerichtete Bewegung. Existenz ist ein ständiges Werden und permanenter Prozess, der zugleich teleologisch ist und unabgeschlossen bleibt. Deshalb ist auch die Möglichkeit des Ziels im Werden (Existenz). Denn die Gleichzeitigkeit von Teleologie und Unabgeschlossenheit zeigt sich gerade darin, dass Werden ist, wenn Möglichkeiten bestehen (c), also keine Wirklichkeit als Ergebnis erreicht wird. Indem die Existenz die Wirklichkeit ist, die ein Werden ist, das sich selbst zum Ziel hat, hat die Existenz in ihrer teleologischen Unabgeschlossenheit kein Ergebnis zum Ziel. Die Existenz ist als Bewegung zu sich selbst ihre eigene Möglichkeit. Damit lässt sich die Struktur der Existenz wie folgt zusammenfassen: Die Existenz ist die Wirklichkeit im Werden, die auf die Möglichkeit ihrer selbst ausgerichtet ist; eine Bewegung, in der Ergebnis und Ausführung, Resultat und Werden zusammenfallen und erst als solche Bewegung formal die „wirkliche Ganzheit“ (Hegel) der Struktur der Existenz ausmacht.²⁷⁴ Ist die Existenz eine auf sich selbst ausgerichtete (rückbezügliche) Bewegung, ist das selbstverständlich abstrakt gesprochen. Nicht die Existenz ist der Akteur, sondern der existierende Mensch. Wenn die Existenz sich (abstrakt gesprochen) auf sich selbst richtet, ist damit das Individuum gemeint, das ein Sich-zu-sichVerhalten praktiziert, indem es sich im Bewusstsein selbst in den Blick nimmt.²⁷⁵

 Dies ist in Anlehnung an Hegels dialektische Bewegung gefasst. Ein Vergleich zwischen hegelscher und climacischer Bewegung findet sich in Kapitel 2.3.2.2.2.  Climacus verfolgt hierbei ein altes Motiv der Philosophie: Die Selbstzugewandtheit in der Sorge um sich selbst. Die Bewegung, die das Subjekt dabei vollzieht, vergleicht Foucault mit einem Kreisel und schreibt: „Im Vergleich zu dieser Kreiselbewegung besteht die Weisheit darin, sich niemals durch Antrieb oder Einwirkung von außen in eine unfreiwillige Bewegung hineinziehen zu lassen; vielmehr gilt es, im Zentrum seiner selbst den Fixpunkt zu suchen, in bezug auf den man bewegungslos verharrt. Zu sich selbst, zum Zentrum seiner selbst gewandt und im Zentrum seiner selbst hat man sein Ziel einzurichten.“ (Ders., Hermeneutik des Subjekts, S. 261) Mit Hinblick auf Climacus kann eindeutig gesagt werden, dass es auch ihm um die Zentrierung des Individuums und dessen Fokussierung auf sich geht; aber: Die Aspekte der bewegungslosen Verharrung und der Abschottung von außen treffen weder Climacus’ modal-ontologische Grundprämisse (allen

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Die Bewegung (Werden), von der Climacus spricht, ist als eine Bewusstseinsbewegung zu verstehen, im Sinne eines bewussten Sich-richten-auf-Etwas. In dieser intentionalen Bewusstseinsbewegung als Sich-zu-sich-Verhalten besteht die Wirklichkeit des Menschen.²⁷⁶ Die Wirklichkeit bezeichnet also ein Verhältnis und mithin das Selbst-Bewusstsein als Existieren des Individuums als auf sich selbst bezogenes Sein. Hinzu kommt: Die Wirklichkeit ist als Sich-zu-sich-Verhalten (Bewusstseinsbewegung) eine ständige Bewegung.²⁷⁷ Der abstrakten Bewegungsanalyse zufolge ist das Sich-zu-sich-Verhalten als teleologische Bewegung charakterisiert: Das Individuum richtet sich auf sich selbst (Telos). Das wird mit dem Begriff des Interesses abgedeckt. So vermerkt Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „Sobald ich anfange, mein Denken … teleologisch zu machen, ist das Interesse mit im Spiel.“²⁷⁸ Das teleologische Moment des Interesses kann²⁷⁹ als Intentionalität gefasst werden, mit der sich das Individuum auf sich selbst bezieht.²⁸⁰ Da es in diesem Sich-Beziehen auf sich um eine Realisation des Sich-zu-sich-Verhaltens

Existierens) noch die strukturelle Konzeption des Existierens als lebendiges Inter-esse (Kapitel 2.2.2.1). Dass die permanente Zentrierungs-Bewegung und die Nicht-Abschottung gegen die Welt als elementare Bestimmungen des Existierens mitgedacht werden müssen: vgl. Kapitel 2.2.3.  Das kann durchaus mit Hegel, wenn auch nicht in Hegels Sinne, ausgedrückt werden: „[D]as daseiende Wirkliche ist Bewegung und entfaltetes Werden*; eben diese Unruhe aber ist das Selbst …“ (Ders., Werke 3, S. 26) Bei Hegel ist dies selbstverständlich reflexionsphänomenologisch verstanden. Bei Kierkegaard wird dies existenzdialektisch aufgefasst: Selbstsein als Bewegung wird systematisch durch Reflexion und konkrete Erfahrung (Leidenschaft; s.u.) bestimmt.  Die ständige Bewegung ergibt sich daraus, dass das Individuum sich auf sich selbst als Möglichkeit richtet. Das hat wichtige strukturelle und existenzielle Konsequenzen, die im folgenden Kapitel 2.2.3 besprochen werden.  SKS 7, 290/ DUN, 481.  Das Zitat steht im Zusammenhang mit dem ethischen Existieren als dasjenige, bei welchem sich das Individuum seinen Blick auf die Idee, das Gute, das Schöne (etc.) fokussiert. In diesem Sinne wird das Denken teleologisch, wobei die Teleologie nicht nur in der Hinbewegung besteht, sondern auch im Bewegtwerden durch das Ziel. Die Denk-Bewegung zum Ideal soll im ethischen Existieren existenzialisiert werden, d. h. das Ethische ist eine vom Idealbezug gespeiste, konkrete Lebensweise. Diese kennzeichnet sich (zusätzlich) grundlegend dadurch, dass ein voll bewusstes Sich-zu-sich-Verhalten praktiziert werden soll. – Die von mir vorgelegte Interpretation verfremdet die zitierte UN-Stelle in dem Sinne, dass sie nur auf den grundlegenden Aspekt des Sich-zu-sichVerhaltens bezogen wird. Das im climacischen Sinne Teleologische wird anhand des religiösen Existierens eingehend betrachtet: Kapitel 2.3.2.  Sofern das gegebene Zitat in ethisch-existenziellem Kontext steht, ist mit der Teleologie des Interesses auch und vor allem das Sich-Ausrichten auf Ideale (im religiösen Existieren: auf Gott) gemeint. Dies bringt den climacischen Begriff „Interesse“ in die Nähe Kants, bei dem dieser Begriff u. a. die Ausrichtung der Vernunft auf die höchsten Zwecke und Ziele bezeichnet. Dazu: Gerhardt, „Interesse II“, in HWPh, Bd. 4, S. 485 – 494, hier S. 488.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

151

als beständige Bewegung geht, liegt im Interesse die existenzielle Wirklichkeit (Werden) verankert. „[D]as Interessiertsein am Existieren [ist] die Wirklichkeit.“²⁸¹ Oder wie Vigilius (unter Berufung auf Constantin Constantius) sagt: „»Interesse« … Erst mit diesem Begriff kommt die eigentliche Wirklichkeit zum Vorschein.“²⁸² Interesse ist Prozess oder: Das kontinuierliche Interesse des Menschen an sich selbst ist die Wirklichkeit. Wirklichkeit ist also – begrifflich – das permanent vollzogene rückbezügliche Verhältnis des Individuums zu sich selbst. Die systematische Pointe für die vorliegende Untersuchung ist: „Die Wirklichkeit ist die Innerlichkeit, die unendlich am Existieren interessiert ist, die das … Individuum selbst ist.“²⁸³ Die Innerlichkeit ist die existenziell-prozessuale Wirklichkeit als lebendiges Interessiertsein, das rückbezügliche Selbst-Verhältnis als permanenter Vollzug,²⁸⁴ die konkrete Verwirklichung des Sich-zu-sich-Verhalten, das Darin-Existieren²⁸⁵ im Selbst-Bewusstsein und somit die existenzdialektische Einheit²⁸⁶ von Reflexion und Erfahrung, Denken und Sein, also: das „Individuum selbst“ in seiner Strukturganzheit. Innerlichkeit ist die konkrete Prozesswirklichkeit des Sich-zu-sich-Verhaltens.

Tätigkeit Als Prozesswirklichkeit bedeutet Innerlichkeit Aktivität. Die Innerlichkeit ist eine Tätigkeit. Nicht umsonst entfaltet Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift eine Konzeption der Handlung als Innerlichkeit. Bevor es um diese in Kapitel 2.2.4 gehen soll, liegt der Fokus zunächst darauf, dass die Bewusstseinsbewegung des Sich-zu-sich-Verhaltens erst einmal genauer als Tätigkeit gekennzeichnet wird.

 SKS 7, 286/ DUN, 476.  SKS 4, 305 (Anm. 1) / DBA, 463 (Anm. 2).  SKS 7, 296/ DUN, 488 (Hervorhebung d.Vf.).  Bezüglich der Prozessualität existenzieller Wirklichkeit gerät folgende Bemerkung Climacus’ zum Bild für die innerliche Existenz: „Falls ein Plan, indem er wird, sich in sich selbst verändert, so ist es nicht dieser Plan, der wird …“ (SKS 4, 273/ DPB, 87) Indem Climacus von „Plan“ spricht, ist zum einen die Bewegungscharakteristik in ihrer intentionalen Teleologie (Interesse) aufgegriffen, zum anderen aber auch, dass ein Plan nur dann dieser Plan ist, wenn mit ihm das angestrebte Ziel kontinuierlich verfolgt wird. Weil im Existieren das Ziel, das kontinuierlich verfolgt wird, das kontinuierliche Verfolgen des Ziels ist, ist Innerlichkeit bei Climacus das ständige Beschreiten eines Weges. Für den Existierenden bedeutet das, dass das Ziel aller Innerlichkeit (des Existierens; des Selbstseins) die Innerlichkeit (Existieren; Selbstsein) selbst ist. Dazu auch: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 171 f. und 199.  Vgl. Kapitel 2.2.4.  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Tätigkeit ist die Abfolge von Handlungen beziehungsweise allgemeiner: „jede reflektierte, planmäßige und zielstrebige Aktivität“²⁸⁷; Handlung hingegen ist die Umsetzung eines gewollten Zwecks.²⁸⁸ Während es im Tun um den Prozess des Handelns geht, geht es im Handeln um das zielgerichtete Erreichen des Handlungsziels. Im Tun wird die Aktivität betont, im Handeln die Umsetzung beziehungsweise die Überführung des Handlungsziels in Wirklichkeit. Dabei zeigt sich eine gegenseitige Bedingtheit von Handeln und Tun: Das Handlungsziel kann nur durch den Vollzug des Tuns erreicht werden; das Tun wird dagegen nur zu einem Vollzug, weil zielgerichtet gehandelt wird. Wendet man die Unterscheidung von Tun und Handeln auf die bisherige Darstellung des Sich-zu-sich-Verhaltens als Bewusstseinsbewegung (Innerlichkeit) an, so zeigt sich, dass bei Climacus eine Überlagerung der Begriffe Handlung und Tätigkeit stattfindet: Ausgehend von der strukturellen Analyseebene des „Zwischenspiels“ ist das Existieren eine Handlung, die zielgerichtet darauf ausgerichtet ist, sich selbst als Wirklichkeit (im Werden/Vollzug) zu realisieren: als permanente Tätigkeit. Die Handlung des Existierenden besteht in der Tätigkeit des Existierens. Da dies jedoch nur eine Umschreibung für das Verhältnis ist, das das Individuum zu sich eingeht, kann gesagt werden: Im Sich-zu-sich-Verhalten richtet sich das Individuum auf sich selbst (Interesse, Handlung) und dies als beständige Bewusstseinsbewegung (Tätigkeit, Vollzug). Die Handlung ist die Tätigkeit des Sich-zu-sich-Verhaltens. Das Sich-zu-sich-Verhalten als permanente Tätigkeit (Innerlichkeit) ist ein Vollzug eines verwirklichten Bezugs und nicht bloß ein Bezug, der kein Vollzug ist. Analog zu den oben gemachten Bemerkungen zur Innerlichkeit kann von Innerlichkeit also nur dann gesprochen werden, wenn nicht bloß die Absicht, sondern die praktische Umsetzung des ständigen Sich-zu-sich-Verhaltens besteht. Dies wird wiederum funktional von dem Begriff „Interesse“ abgedeckt. Denn interessiert zu sein ist eine auf praktischen Vollzug orientierte Intention, die darauf aus ist, sich nicht einfach mit der bloßen Absicht, etwas zu tun, zu begnügen, sondern sich der Sache auch zu widmen und zuzuwenden. Das Interessiertsein als Vollzug des Existierens benennt Climacus mit einem eigenen Namen: die Leidenschaft.

 Joseph Derbolav, „Handeln, Handlung, Tat, Tätigkeit“, in HWPh, Bd. 3, S. 992 ff., hier S. 992.  Vgl. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 211 f.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

153

Leidenschaft Die Leidenschaft ist das Vollzugskorrelat des Interesses, bedeutet also eine durch Selbstreflexion und -erfahrung gespeiste, auf Konkretion zielende und in Konkretion praktizirte Existenz-Bewegung. Climacus betont: „Existieren, wenn dieses nicht im landläufigen Sinne verstanden werden soll [naar dette ikke skal forstaaes om saadan at existere]²⁸⁹, läßt sich nicht ohne Leidenschaft tun.“²⁹⁰ Die Existenz im „landläufigen Sinne“ („einfach so“) ist das Dahinleben, ohne existenzielles Interesse für die eigene Person. Erst wenn das eigene Leben und die Wirklichkeit im existenziellen Sinne des Sich-zu-sich-Verhaltens des Individuums in den Blick rücken, kann von Existieren gesprochen werden, bei dem sich mit leidenschaftlichem Interesse der eigenen Person zugewendet und diese Zuwendung permanent praktiziert und in Erfahrung gebracht wird.²⁹¹ Die Leidenschaft ist nicht nur das Vollzugskorrelat zum Interesse, sondern auch das Wollenskorrelat zur Intentionalität des Interesses und so durch Intensität (Innigkeit)²⁹² als Involviertsein bestimmt. Sie ist strukturell das basale erfahrungstheoretische Moment des innerlichen Existierens. Als sublimierte Aktivität ist sie der modus operandi der Innerlichkeit. Der systematische Unterschied von Leidenschaft und Innerlichkeit liegt darin, dass die Leidenschaft allein die Aktivität, das Beibehalten des Sich-zusich-Verhaltens (Innerlichkeit) gewährleistet, während die Innerlichkeit das konkrete Bewusstsein des Individuums von sich selbst bedeutet.²⁹³ In der Innerlichkeit wird es sich wirklich. ²⁹⁴

 Treffender als die Wendung „im landläufigen Sinne“ wäre hier zu übertragen: „…, wenn dieses nicht als ein Einfach-so-Existieren verstanden werden soll, …“ Hans Martin Junghans’ Übersetzung ist dem Original hier näher: AUN II, 12.  SKS 7, 283/ DUN, 472 (Hervorhebung d.Vf.).  In diesem Sinne ist auch die Bemerkung im Journal JJ zu verstehen: „All meine Reden von Pathos und Leidenschaft möge niemand so missverstehen, als ob ich jede unbeschnittene Unmittelbarkeit, jede unrasierte Leidenschaft zu legitimieren beabsichtige.“ (SKS 18, 217, JJ:237/ DSKE 2, 224) Leidenschaft ist nur dann existenziell verstandene Leidenschaft, wenn sie dem Sich-Realisieren im Existenzvollzug dient und sie nicht irgendeinem Gegenstand entgegengebracht wird, sondern allein dem Sich-zu-sich-Verhalten.  Vgl. Kapitel 1.3.  Diesbezüglich ist folgende Bemerkung Climacus interessant: „Existenz, wenn man sich ihrer bewusst wird [naar man bliver sig den bevidst], gibt Leidenschaft.“ (SKS 7, 321/ DUN, 518 (Hervorhebung d.Vf.).) Das Konditionale (die Bedingung) des „wenn … bewusst“ bedeutet: Leidenschaft ist einzig dann,wenn das Selbst-Bewusstsein (Innerlichkeit) des Individuums vorhanden ist. Dieses wird aber nur durch die Leidenschaft respektive Interesse erzeugt. Das heißt: Die Leidenschaft hängt vom Selbst-Bewusstsein und das Selbst-Bewusstsein von der Leidenschaft ab. Dieser Zirkel gründet strukturell darin, dass beide als dialektisch-reziproke Einheit gedacht werden müssen.  Vergleiche die Diskussion ab Kapitel 2.2.3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Tätigkeit, Leidenschaft und Innerlichkeit werden an folgender Stelle des Begriffs Angst vereint. Vigilius Haufniensis schreibt (im Abschnitt zur Innerlichkeit): „D[a]s Selbstbewusstsein ist nicht Kontemplation; wer das glaubt, hat sich selbst nicht verstanden, da er ja doch sehen sollte, daß er selbst zu gleicher Zeit im Werden ist und nicht für die Kontemplation Abgeschlossenes sein kann. Das Selbstbewusstsein ist darum Tun, und dieses Tun ist wiederum die Innerlichkeit …“²⁹⁵ Dies gilt auch für Climacus. Das „Selbstbewusstsein“ (Selbst-Bewusstsein²⁹⁶) ist ein bewusster Vollzug (Tun; Innerlichkeit), der in Leidenschaft vollzogen und in Erfahrung gebracht wird und als ständige Bewegung unabgeschlossen bleibt.²⁹⁷ Geht man hierbei mit einer traditionellen Unterscheidung an Climacus (und Vigilius) heran, bezeichnet das innerliche Existieren – wie Vigilius betont – nicht die vita contemplativa, sondern die vita activa; nicht die Versenkung, Ruhe und Anschauung, sondern die stetige Arbeit²⁹⁸ – auch wenn Climacus zeitweilig die Metapher der „Vertiefung“ (in die Existenz oder des Individuums in sich = „Verinnerlichung“)²⁹⁹ gebraucht und diese besonders für das religiöse Existieren von Interesse sein wird. Climacus geht es demnach darum, dass das

 SKS 4, 443/ DBA, 616.  Vigilius sagt zuvor – wie oben schon angeführt –: „Der konkreteste Inhalt, den das Bewusstsein haben kann, ist das Bewusstsein seiner selbst als Individuum, nicht das reine Selbstbewusstsein, sondern das Selbst-Bewusstsein …“ (SKS 4, 443/ DBA, 616)  Auch in der Krankheit zum Tode ist das Selbstsein allein als ein Vollzug zu verstehen. Dazu: Ringleben, Die Krankheit zum Tode, S. 61 ff., besonders S. 63. Ebenfalls: Romano Guardini, „Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards“, in Sören Kierkegaard. Wege der Forschung, Bd. CLXXIX, hg. von Heinz-Horst Schrey, Darmstadt 1971, S. 52– 80, hier S. 55 f.  Vergleiche auch die Deutung der „Friedhof-Szene“ (Kapitel 2.1.3.4). Gegen Vigilius’ Ablehnung der Kontemplation wäre einzuwenden, dass das innerliche Existieren, weil es eine permanente Bewegung ist, doch eine Form meditativer Lebenspraxis bedeutet. Oder, rein formal betrachtet, könnte mit Blaise Pascal gesagt werden: „Die unendliche Bewegung, der Punkt, der alles erfüllt, der Augenblick der Ruhe.“ (Ders., Gedanken, S. 380, Fragment 682/232) – Jedoch ist zugleich zu sehen, dass Vigilius die Kontemplation mit dem Merkmal der Abgeschlossenheit und somit mit Stillstand und Verfestigung gleichsetzt, was dem innerlichen Existieren als Bewegung und der dadurch implizit gegebenen Charakteristik der Fluidität widerspricht. Auf Fluidität und vita contemplativa wird in Kapitel 2.3 ausführlich eingegangen. [Anm.: Dass Vigilius die Kontemplation mit Abgeschlossenheit gleichsetzt, geht auf Kierkegaards Mystik-Rezeption zurück: vgl. Kapitel 2.3.3.3.3. Zudem sei auf die Verwendung des Begriffs „Kontemplation“ in der Ironieschrift hingewiesen, zu dem Emanuel Hirsch vermerkt, dass Kierkegaard diesen als Ausdruck für „geschichtliche Betrachtung“ und in eins als Gegenbegriff zum abstrakten Denken (Spekulation) verwendet (vgl. BI, 362, Anm. 310). Kontemplation ist also – zumindest beim frühen Kierkegaard – als erfahrungsgebundener Begriff aufgefasst, ebenso wie die Innerlichkeit – bei Climacus und Vigilius – an die dem Denken vorausgelagerte Wirklichkeit gebunden ist.].  SKS 7, 180/ DUN, 337 und öfter.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

155

Individuum sich als Existierender auf ein permanentes Verhältnis zu sich selbst verpflichtet. Eben dies ist die Prämisse des ethischen Existierens.³⁰⁰

2.2.3 Ganzheit und Vergegenwärtigung Das bewusste Existieren ist als Innerlichkeit ein im Vollzug begriffenes Sich-zusich-Verhalten. Mit der Bewegungsanalyse des „Zwischenspiels“ hat sich ergeben, dass die Wirklichkeit des Existierens für das Individuum darin besteht, zu sich selbst ein permanentes Verhältnis einzugehen, in dem es sich selbst bewusst wird und sich selbst als Möglichkeit versteht. Dies zu diskutieren, ist Absicht des vorliegenden Teilkapitels.

2.2.3.1 Ganzheit Wird von der Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ausgegangen, so gilt bei Climacus (vergleiche das „Zwischenspiel“): dem Denken wird die Möglichkeit, dem Sein die Wirklichkeit zugesprochen. Auf das existierende Individuum übertragen heißt das: Der Mensch steht als Inter-esse zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Das Individuum, das existenzdialektisch zwischen Denken und Sein verortet ist³⁰¹ und dabei Denken und Sein umfasst, kann im Denken intentional Möglichkeiten in den Blick nehmen, um sie in die Wirklichkeit zu überführen, d. h. sein Denken auf das Sein zurückbeugen und auf diese Weise Gedachtes in Sein transformieren.³⁰² Als Inter-esse ist der Mensch dazu fähig, sein Leben (durch Leiblichkeit geprägte Wirklichkeit) von Lebensentwürfen (Denken, Möglichkeit) her zu gestalten. Dies könnte bedeuten, dass es bei Climacus darum geht, dass das Individuum aus einem Spielraum an Möglichkeiten einige bestimmte auswählt, um auf diese hin das Leben zu gestalten. Insofern wären die verfolgten Möglichkeiten ein Sich-verorten-Wollen in dem vom Individuum selbst zu lebenden Leben. Obwohl dies auch zutrifft, ist die Sachlage bei Climacus komplizierter. Ihm geht es nicht um eine bestimmte zweckorientierte Möglichkeit (beziehungsweise mehrere zweckorientierte Möglichkeiten), sondern um die eine Möglichkeit des eigenen Personseins. Es geht ihm um die existenzielle Möglichkeit, die das Potenzial der Selbst-Realisation ist und zwar im Sinne eines inneren Vergegenwär-

 Vgl. Kapitel 2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.2.4.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

tigens. Die Metapher der Vergegenwärtigung schließt zwei Sachverhalte ein. Zum einen bedeutet ein Vergegenwärtigen, dass sich der Mensch einer Sache bewusst wird, zum Beispiel dadurch, dass er sich an etwas erinnert. Zum anderen schließt sie auch ein, dass eine Sache gegenwärtig bewusst wird, weil es hier und jetzt von Bedeutung ist. Sowohl die Bewusstwerdung als auch die Verortung in der Gegenwart sind die existenziellen Leitpunkte der Vergegenwärtigung, die bei Climacus stark hervortreten. Um dies zu diskutieren, wird auf den von der Sekundärliteratur kaum beachteten Paragraph 3 des Wirklichkeitskapitels der Unwissenschaftlichen Nachschrift Bezug genommen, in dem Climacus vermerkt, dass „die Aufgabe eines jeden Menschen“ darin besteht, „ein ganzer Mensch [heelt Menneske = vollständiger Mensch] zu werden …“³⁰³ Der Begriff „Ganzheit“ ist eine „umfangslogische Konzeptualisierung [ein]es Zusammenhangs“³⁰⁴ und kann sowohl als Einheit von etwas oder als Vollständigkeit von etwas verstanden werden. Ein ganzer Mensch zu sein wird von Climacus in diesem doppelten Sinne begriffen. Das Sich-zu-sich-Verhalten ist ein Verhältnis des Individuums, in dem es sich im konkreten Denken und mit Leidenschaft zu sich selbst in einem permanenten Verhältnis hält. Erst wenn Leidenschaft und Denken vom Individuum in einer Einheit für das Sich-zu-sich-Verhalten zusammengeführt werden, kann von einem existenziellen Sich-zu-sich-Verhalten gesprochen werden. Dementsprechend sagt Climacus: „In Existenz geht es darum, dass alle Momente auf einmal da sind. In Richtung auf Existenz ist Denken gar nicht höher als Phantasie³⁰⁵ und Gefühl,  SKS 7, 316/ DUN, 513.  Ich übernehme diese allgemeine Bestimmung der Ganzheit von Magnus Schlette: vgl. ders., „Selbstverwirklichung und Religion“, in Dialektik der Freiheit, S. 31– 48, hier S. 41.  Auf den Begriff der Phantasie wird im Folgenden nicht genauer eingegangen. Es sei aber betont, dass er von Climacus ambivalent gebraucht wird. a) Zum einen benutzt er Phantasie im Sinne von falscher Transzendenz, wenn sich das Individuum aus dem zu lebenden Leben durch das Denken (und im Verbleiben des Denkens) entfernt. In diesem Sinne benutzt Climacus „Phantasie“ einerseits zur kritischen Kennzeichnung des abstrakten und transzendentalen Denkens des Idealismus (dazu: Knud Ejler Lögstrup, Auseinandersetzung mit Kierkegaard. Kontroverse um Kierkegaard und Grundvig. Bd. 2, hg. von Knud Ejler Lögstrup und Götz Harbsmeier, München 1968, S. 186 – 199), andererseits auch im existenziellen Sinne, sich das Leben nicht nur auszudenken und damit lediglich in der Absicht von Möglichkeiten zu bleiben (so betont er in Bezug auf die Innerlichkeit, dass sie keine „PhantasieInnerlichkeit“, sondern „Existenz-Innerlichkeit“ (SKS 7, 231 / DUN, 405) bedeutet). Jedoch betont Wolfgang Janke (vgl. ders., Historische Dialektik, S. 411) m. E. zurecht, dass die Phantasie (Vorstellungskraft) einen wichtigen Teil dazu beiträgt, auf Möglichkeiten hin zu existieren, was einschließt, die Möglichkeiten vorher auch zu erkennen und sich ihrer gewahr zu werden. Nicht das Versperren vor den eigenen Potenzialen, sondern der Gebrauch der eigenen Phantasie für das, was

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sondern ist ihnen gleichgestellt.“³⁰⁶ Zu existieren heißt, dass diese struktur-anthropologische Einheit (Ganzheit) vom Individuum bewusst wird.³⁰⁷ Und in dieser Struktureinheit von Denken und Leidenschaft vergegenwärtigt sich der Mensch als Inter-esse. Ein ganzer Mensch zu werden bedeutet auch, sich als konkreter Mensch in seiner Persönlichkeit [Personlighed]³⁰⁸ bewusst zu werden und diese in ihrer Einheit zu verstehen. Und das bedeutet, dass das Individuum seine Sorge um sich auf das gesamte Leben ausdehnt.³⁰⁹ So hält Arne Grøn – mit Blick auf Climacus – fest, dass der Mensch „situiert [ist], mitten im Leben, in einer Geschichte, die noch

möglich erscheint, soll und muss für das Existieren geweckt werden, was bei Kierkegaard den Existierenden vom Spießbürger unterscheidet (und Kierkegaards eigenes Vorgehen, Bücher zu schreiben und Existenzangebote zu eröffnen, gehört zum Erkennen der eigenen Potenziale, zumindest für den Leser Kierkegaards, dazu). b) Zum anderen aber ist für ihn die Phantasie auch der „höchste“ Modus des Existierens, in dem – in Verbindung mit Leidenschaft – das Selbstsein seinen höchsten Grad erreicht. Sowohl die kritische Abwendung von der bloßen Abstraktheit der Phantasie als auch die Phantasie als Modus höchsten Selbstseins treten in unmittelbarer Gegenüberstellung hervor in: SKS 7, 181/ DUN, 338. Sehr hilfreich zum Begriff der Phantasie (mit Verweisen zu weiterer Literatur) ist: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 193 (Anm.).  SKS 7, 317/ DUN, 514. In ähnlicher Weise hält Kierkegaard im Journal JJ fest: „[G]ehört denn etwa Gefühl und Phantasie nicht ebenso wesentlich dem Menschen an, wie der Verstand?“ (SKS 18, 208, JJ:213/ DSKE 2, 215)  Wenn Climacus nicht müde wird zu betonen, dass dem bloßen Denken die Objektivität und in eins distanzierte Interesselosigkeit zuzuschreiben ist (u. a.: SKS 7, 121, 275, 290, 291, 309/ DUN, 260, 461, 480, 482, 504), so ist dies nicht nur in der Abweisung des Idealismus und mithin des abstrakten Denkens formuliert, sondern wird von Climacus auch in einem existenziellen Sinne aufgefasst: das Denken wird allein dann existenziell relevant, wenn es gemeinsam mit der Leidenschaft dem eigenen Existieren dient.  Der Begriff Persönlichkeit ist ein genuiner Begriff Kierkegaards. In Entweder – Oder legt das Pseudonym „Gerichtsrat Wilhelm“ die Auffassung von der ethischen Persönlichkeit breit dar: SKS 3, 153– 314 / DEO, 704– 915. Dass das dabei forcierte Konzept der Selbstwahl ebenfalls auf eine Ganzheit zielt, zeigt sich vor allem an drei Sachverhalten: a) die Wahl des Selbst ist eine Wahl des absoluten Selbst und steht in Bezug zur Ewigkeit; b) die Wahl des Selbst ist eine Harmonisierung des biographischen Seins (bes. SKS 3, 249 f. / DEO, 829 f.); c) beide Seiten der Selbstwahl zielen wiederum auf eine Erschaffung des Selbst in stringenter Kontinuität, deren bewusste Vergegenwärtigung als „Innerlichkeit“ [Indvorteshed] bezeichnet wird und sich in einer beständigen Haltung der Freiheit, Selbst-Verantwortung und Souveränität manifestiert. In sublimierter Zusammenfassung bringt Kierkegaard alle drei Aspekte in SKS 3, 239 f. / DEO, 816 f. zur Sprache.  Zu diesem, seit Platon vorherrschenden Motiv philosophischer Praxis: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, u. a. S. 117 ff.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nicht abgeschlossen ist.“³¹⁰ Das Individuum besitzt Vergangenheit, ist in der Gegenwart und vor die offene Zukunft gestellt. Dabei bedeutet für Climacus ein ganzer Mensch zu werden zunächst ein Verhältnis zur Vergangenheit einzugehen; eine Kontinuität des bisher gelebten Lebens (als leibliche, geschichtliche, soziale Wirklichkeit) und der darin bestimmten und zum Ausdruck kommenden Persönlichkeit zu stiften: „Jung gewesen, dann älter geworden zu sein und dann schließlich zu sterben, ist eine mäßige Existenz, denn dieses Verdienst hat auch das Tier. Aber die Momente des Lebens in Gleichzeitigkeit zu vereinen, das ist gerade die Aufgabe.“ Und weiter schreibt er, dass es eine „dürftig[e] … Existenz“ sei, „wenn der Mensch jede Kommunikation mit der Kindheit weggeschnitten hat“ und so bloß ein „fragmentarisch[er] Mann“ sei.³¹¹

Sich seines eigenen gelebten und zu lebenden Lebens in seiner Einheit und Vollständigkeit bewusst zu werden, heißt, ein ganzer Mensch zu sein. Dabei ist wichtig: Nicht das Vergessen, sondern die ständige Erinnerung liegt der Ganzheit zugrunde. Die Bedingung ist demnach das „Gedächtnis für [das eigene] Leben“,³¹² wie Gerichtrat Wilhelm in Entweder – Oder sagt. Sich selbst zu bestimmen fängt daher nicht mit nichts an, sondern mit etwas: Selbst-Verstehen ist, wie Sartre sagt, nicht ohne den Blick auf die Vergangenheit möglich.³¹³ So betont Climacus auch, dass das „Subjekt-Werden“, d. h. eine sich-bewusste Persönlichkeit zu werden, darin besteht, „das zu sein, was man dadurch ist, dass man es geworden [være vordet] ist“³¹⁴, also darauf beruht, sich nicht von der Vergangenheit abzuschneiden, sondern dieselbe – und mithin die durch Vergangenheit geprägte Persönlichkeit – durch Erinnerung zu stabilisieren (was schon anhand der „FriedhofSzene“ deutlich wurde, wo Climacus das „niemals vergessen“ als Stabilisierung des Selbst-Verhältnisses bestimmt³¹⁵).³¹⁶ In diesem Sinne verfolgt Climacus nicht nur einen hegelschen Gedanken, dass sich Ganzheit immer durch das Aufbe-

 Grøn, „Religion und Subjektivität – in existenzieller und pragmatischer Perspektive“, S. 89 – 107, hier S. 96.  SKS 7, 318/ DUN, 515 f.  SKS 3, 220/ DEO, 791.  Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 857.  SKS 7, 123/ DUN, 262.  Vgl. Kapitel 2.1.3.4.  In diesem Sinne gilt für die Erinnerung bei Climacus Augustinus’ Bemerkung über das Gedächtnis, denn: „Dort begegne ich auch mir selbst …“ (Ders., Bekenntnisse, Zehntes Buch, VII.14 (Hervorhebung d.Vf.)) Zudem ist das von Arne Grøn thematisierte Verhältnis von Kindheit und Persönlichkeit (unter Rückbindung auf den Begriff Angst) interessant: ders., „Phänomenologie der Subjektivität“, S. 498.

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wahren des Vergangenen kennzeichnet,³¹⁷ sondern auch einen Gedanken, den Blumenberg später formuliert, dass Erinnerung die Notwendigkeit zur Wahrung von einmal ergriffener Identität ist.³¹⁸ Zugleich ist aber nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft relevant. Das wird daran ersichtlich, dass es im Existieren darum geht, dass das Individuum ein Verhältnis zu sich selbst als Möglichkeit eingeht.³¹⁹ Möglichkeit bedeutet immer ein Noch-nicht von Wirklichkeit. Sich zu sich selbst als Möglichkeit zu verhalten heißt, sich zu sich selbst in seiner Zukünftigkeit zu verhalten. Daher heißt ein ganzer Mensch zu sein, sowohl sich selbst aus der Vergangenheit her bewusst zu werden, als auch die offene Möglichkeit (Zukunft) der eigenen Person mit einzubeziehen. So gilt Constantin Constantius’ zentraler Satz auch für Climacus: „Wer das Leben nicht umschifft hat, ehe er zu leben begann, der wird nie leben.“³²⁰ Auf Climacus übertragen: Das eigene Leben zu leben heißt, sich selbst umfassend zu vergegenwärtigen, so es bei Climacus darum geht, dass „in Hinsicht auf die verschiedenen Lebensalter, wo sich das Sukzessive so deutlich zeigt, … es um die Gleichzeitigkeit als Aufgabe [geht].“³²¹ In der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft, die in der Gegenwart vergegenwärtigt werden sollen, liegt die Einheit (Ganzheit) der Person als eine im Leben und der Zeit ausgedehnten Persönlichkeit.³²² Das Ziel aller Vergegenwärtigung ist also die in der Selbstwahrnehmung zu vollziehende gesteigerte Aktualität des Schon-undNochnichtseins.³²³ Die „Aufgabe ein ganzer Mensch [heelt Menneske] zu werden“ ist also schließlich in einem doppelten Sinne zu verstehen: Sich in der Einheit der existenziell-anthropologischen Strukturelemente als Persönlichkeit so in den Blick zu bekommen, dass das Ziel die Vergegenwärtigung als vollständiger Mensch („heelt Menneske“) ist. Diese doppelt verstandene Ganzheit wird von Climacus weiter charakterisiert: „[D]ie Aufgabe ist die Gleichmäßigkeit, die Gleichzeitigkeit, und das Medium, in dem sie vereinigt werden, ist im Existieren.“³²⁴ Was mit „Gleichzeitigkeit“ gemeint  Hegel, Werke 3, 46 f.  Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 583.  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  SKS 4, 10/ DW, 331.  SKS 7, 318/ DUN, 515.  Diese Idee findet sich schon bei Augustinus: vgl. Fischer, „Einleitung“, in Augustinus, Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11), XI – LXIV, LXIV. Interessanterweise zitiert Fischer hierbei auch die oben abgesetzte Climacus-Stelle.  Vgl. Kapitel 2.1.4. Deshalb auch: „[I]m Individuum geht es darum, das Sukzessive in der Gleichzeitigkeit zu veredeln.“ (SKS 7, 318/ DUN, 515 (Hervorhebung d.Vf.)).  SKS 7, 318/ DUN, 515.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ist, wurde in ihrem doppelten Verständnis schon gesagt (Vergegenwärtigung der Persönlichkeit und die Einheit von Denken und Leidenschaft³²⁵). Mit der „Gleichmäßigkeit“ ist ebenfalls ein doppeltes Verständnis impliziert. Zum einen bedeutet sie, dass erst in dem gleichwertigen Nebeneinander von Leidenschaft (Gefühl) und Denken von Existieren gesprochen werden kann. Zum anderen bedeutet „Gleichmäßigkeit“ auch, dass die Vergegenwärtigung der eigenen Persönlichkeit ständig beibehalten werden soll, womit eine Kontinuität als ganzer Mensch in den Blick rückt. Die anthropologisch-existenzielle Struktureinheit soll einer existenziellen Einheit der Persönlichkeit dienen und dies eben in dem Maße, dass eine ständige Vergegenwärtigung vollzogen wird.³²⁶ Denn Kontinuität ist nichts anderes als das temporale Äquivalent zur existenziellen Qualität der Vollständigkeit, nämlich die die Zeit ausfüllende Permanenz, also die temporale Ganzheit der existenziellen Ganzheit und in diesem Sinne eine auf Dauer gesetzte gesteigerte Aktualität der eigenen Person.³²⁷ So kann mit Robert Spaemann gesagt werden: „Kontinuität bedeutet, daß alles, was wir sind, Teil des Lebens bleibt.“³²⁸

 Die eben zitierte Stelle steht wesentlich im Kontext der Einheit von Denken und Leidenschaft.  In einer NB-Aufzeichnung formuliert Kierkegaard: „Verstand, Gefühl und Wille [sind] wesentliche Bestimmungen in einem M[en]sch … Die große Individualität wird gerade dadurch groß sein, dass sie das alles auf einmal hat. … Die große Individualität ist daher nicht dadurch vom unbedeutenden verschieden, dass es etwas wesentlich anderes hat, od. dass es dies in einer anderen Form hat …, sondern dadurch, dass es alles in einem höheren Grade hat.“ (SKS 19, 414, Not13:49/ DSKE 3, 452) Mit Blick auf die Ausführung zur anthropologischen und existenziellen Einheit kann gesagt werden: Der Mensch ist erst dann wirklich Mensch (ein eigenständiges Individuum), wenn er Mensch in „höherem Grade“ ist; wenn er in anthropologischer und existenzieller Einheit sich selbst vergegenwärtigt. Die sich hierin subtil andeutende religiöse Implikation eines ekstatischen Sich-Vergegenwärtigens weist schon auf die kommende, im Punkt 2.3 zu führende Diskussion.  Damit ist die im Kapitel 2.2.2 ausgeführte Strukturanalyse eingeholt. Existieren (sich in seiner Ganzheit zu vergegenwärtigen) bedeutet ein permanentes Sich-zu-sich-Verhalten.  Robert Spaemann, „Person und Versprechen“, in Kontinuität der Person. Zum Versprechen und Vertrauen, hg. von Richard Schenk, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Collegium Philosophicum, Bd. 2), S. 3 – 6, hier S. 6.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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2.2.3.2 Kontingenz „[S]ich selbst bekennen, wie man sich wandelt – man ist ja nicht, man wird durchschnitten von Lebenslinien, ist ausgeteilt an Fremdes viel mehr als an Eigenes, spürt immer mehr, daß es das Ich als Konstante nicht gibt …“³²⁹

Das Problem der Ganzheit (Bewusstwerdung) soll nun vertieft werden. Dazu ist es notwendig, auf das Problem der Kontingenz einzugehen, weil die Ausformung der eigenen Persönlichkeit maßgeblich durch diese geprägt ist. Hierfür muss das „Zwischenspiel“³³⁰ kurz in den Blick genommen werden. Das „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken ist eine modallogische Abhandlung über existenzielle Wirklichkeit.³³¹ Indem Wirklichkeit nicht notwendig ist, ist sie eine Möglichkeit, die auch anders sein könnte. Wirklichkeit ist kontingent. ³³² Indem Climacus im „Zwischenspiel“ das Werden (Bewegung) betont, wird die Möglichkeit von Wirklichkeit an die Geschichtlichkeit gebunden. Wirklichkeit hätte auch anders sein können und wird auch zukünftig kontingent bleiben.³³³ In der Unwissenschaftlichen Nachschrift drückt Climacus dies kurz dadurch aus, dass er sagt: „Das unaufhörliche Werden ist die Ungewissheit des irdischen Lebens …“³³⁴; von einer platonisch-ontologischen Prämisse ausgehend, ist die Welt der Ort des Unsteten, Vergänglichen und Veränderlichen.³³⁵

 Eva Strittmatter, Mai in Piešt’any, Berlin und Weimar 1986, S. 69.  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  Zur ausführlichen Diskussion der modallogischen Aspekte sowie deren metaphysischen Implikationen und Probleme im „Zwischenspiel“: R. Zachary Manis, „Johannes Climacus on Coming into Existence: The Problem of Modality in Kierkegaardʼs Fragments and Postscript“, in KSYB 2013, S. 107– 129, besonders S. 113 – 121. Ebenfalls: Poul Lübcke, „A Comparative and Critical Appraisal of Climacusʼ Theory of Modalities in the ,Interlude‘“, in KSYB 2004, S. 161– 183.  Dazu ausführlich: Hans Poser, „Kontingenz I.“, in TRE, Bd. 19, S. 544– 551.  Hierzu besonders: Deuser, „Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz“, S. 93 – 96; ebenfalls: ders., „Kontingenz II.“, in TRE, Bd. 19, S. 551– 559, hier S. 554.  SKS 7, 85/ DUN, 215.  Wenn Climacus von der „Ungewissheit des irdischen Lebens“ spricht, fasst er nicht nur eine modallogische Auffassung von Kontingenz (Andersseinkönnen) in den Blick, sondern auch ein ontologisches Verständnis von Kontingenz: dass überhaupt da- bzw. vorhanden zu sein eine „Nichtselbstverständlichkeit“ (Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 634) ist, was Martin Heidegger bekanntermaßen mit dem Begriff „Geworfenheit“ (ders., Sein und Zeit, besonders § 29) zum Ausdruck bringt. Die Kontingenz besteht dabei genauer darin, dass für das eigene Dasein keine letztgültige Begründung gefunden werden kann und es gerade deswegen das Nichtselbstverständliche ist. Es geht dabei um die Kontingenz nackter Existenz, wie sie eindringlich von Kierkegaards Pseudonym „Constantin Constantius“ im (berühmten) „Brief vom 11. Oktober“ der Wiederholung zur Sprache gebracht wird (vgl. SKS 4, 69 f. / DW, 410 f.). Insofern es in der vorlie-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Von der Bewegungsanalyse her gilt: Die Existenzwirklichkeit (Innerlichkeit) ist das bewusste Existieren des Individuums als rückbezügliches Verhältnis zu sich selbst, in dem der Existierende ein Verhältnis zu sich selbst als Möglichkeit eingeht. Dabei nimmt er sich als kontingentes Wesen in den Blick und zwar in einer doppelten Blickrichtung: 1. Indem der Mensch vor die Offenheit der Zukunft gestellt ist, ist er vor die Möglichkeit gestellt so oder so zu sein. Die Zukunft entzieht sich der Kontrolle eigener Lebensgestaltung und macht in ihrer Ungewissheit jede Möglichkeit zu einer risikobehafteten Möglichkeit für das Individuum,³³⁶ auch anders sein zu können, als es gewollt wird oder auch vorgestellt werden kann. 2. Indem Wirklichkeit als Werden bestimmt ist, entzieht sie sich nicht nur als Zukünftigkeit der Kontrolle, sondern auch als Vergangenheit, denn auch diese ist im gleichen Maße kontingent gewesen, wie die Zukunft, die vor einem liegt. Dieser Sachverhalt unterscheidet das Denken Climacusʼ von der traditionellen Vorstellung einer „höheren“ Notwendigkeit der Natur (wie beispielsweise bei Kant). Er verfällt nicht, wie Hannah Arendt sagt, auf die „existenzielle Illusion“, die darin besteht, dass das in der gegenwärtigen Wirklichkeit verankerte Individuum „aus der Perspektive der Rückschau“ zu dem Ergebnis kommt, dass „[a]lles, was schließlich wirklich geschieht, … alle anderen, einer gegebenen Situation ursprünglich inhärenten Möglichkeiten aus der Welt [schafft]“, so dass „man … sich nun nicht einmal mehr vorstellen [kann], daß es auch hätte anders kommen können.“³³⁷ Gerade auf diese modallogische Kontingenz des Es-hätte-anderskommen-Können kommt es Climacus an – trotz der optischen Illusion, die entsteht, wenn die Vergangenheit als das, was geschehen ist, unabänderlich und in diesem Sinne in sich geschlossen erscheint. Dieses grundlegende Andersseinkönnen eigener Geschichte ist durch bestimmte Bedingungen (zum Beispiel Eltern, soziales Milieu etc.) fundiert, durch die sie geformt wurde und wird. Die sozialen Bedingungen des Individuums können aber nicht für sich allein betrachtet werden, sondern – und das ist das existenzielle Moment – nur im Zusammenhang mit dem Verhältnis des Indivi-

genden Untersuchung um die Weltverortung und die Lebensgestaltung (durch und als Innerlichkeit) geht, rückt die ontologische Kontingenz menschlichen Daseins gegenüber dem Andersseinkönnen thematisch in den Hintergrund, was jedoch nicht bedeutet, dass die ontologische Kontingenz nicht auch – in Bezug auf das religiöse Existieren – angesprochen werden muss: vgl. unter anderem Kapitel 2.3.2.1.  Zum Risiko und der Ungewissheit: Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, S. 306; Wesche, Kierkegaard, S. 147 ff.  Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, 3. Aufl., München und Zürich 2015, S. 345.

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duums zu diesen Bedingungen. Denn die eigene Person und Persönlichkeit ist nur dadurch, dass ich mich zu meiner Geschichte als meine Geschichte verhalte³³⁸ (also keine gewollte Imitatio der Lebensgeschichte eines andern Menschen lebe). Diese bewusste Stabilisierung eigener Geschichte schließt jedoch auf systemtischmodallogischer Ebene gerade den Aspekt ein, dass das Wie, also die Ausformung des eigenen Lebens aus den mir gegebenen Bedingungen deshalb kontingent ist, weil mit den Geschehnissen, die aus dem komplexen Geflecht der Bedingungen entstehen, unterschiedlich umgegangen werden kann. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass jeder Umgang mit eigener Geschichte, der durch (eigene oder erzählte) Erinnerung geschieht, unter der Bedingung steht, dass Erinnerung lückenhaft und fragmentarisch ist, und dass also die aus der fragmentarischen Erinnerung geschehende Konstruktion der eigenen Person immer nur unter der Bedingung bestimmter Wertungen und Interessen vorgenommen wird. Die Kontingenz der eigenen Geschichte und Persönlichkeit entspringt so also nicht nur der modallogischen Kontingenz der Vergangenheit, sondern auch aus der präformierten Deutung eigener Vergangenheit. Beide Aspekte machen die aus der Vergangenheit gewonnene Gegenwart zur bloßen Möglichkeit. Aus dieser Blickrichtung ist die eigene Existenz zunächst eine Existenz im Konjunktiv. Sich als existenzielle Möglichkeit zu vergegenwärtigen, bedeutet, dass die gesamte Person in Frage steht. Denn gerade durch und aufgrund der Kontingenz wird sich das Individuum zum Thema. Wie ist mit diesem In-Frage-Stehen existenziell umzugehen?

Sich-offen-Halten und Sich-Annehmen Indem es im Existieren darum geht, sich mit Interesse auf das Existieren, die eigene Person und das eigene Leben zu richten, bedeutet dies, sich durch das Interesse der Kontingenz bewusst auszusetzen.³³⁹ Interesse bedeutet demnach, sich gegenüber der kontingenten Zukunft und damit auch sich selbst gegenüber offen zu halten; sich ganz bewusst mit einer stetigen Ambivalenz des zukünftigen Gelingens oder Misslingens der eigenen Person zu konfrontieren.³⁴⁰ Weil im Exis-

 Vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 769.  Dazu: Gräb-Schmidt, „Leben aus der Vergangenheit“, besonders S. 699 und 702 f.  Geht der Existierende ein Verhältnis zu sich selbst als Möglichkeit ein, bedeutet das, dass er dies aus seiner Geschichte (Vergangenheit) heraus macht. Der Existierende kann von daher nur vor die kontingente Möglichkeit des eigenen zukünftigen Gelingens und Misslingens gestellt sein, indem er sich vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte und den sich aus ihr ergebenden Zusammenhängen der eigenen Persönlichkeit betrachtet. Kontingenz wird dann erfahren, wenn vom Individuum eine Trennung zwischen einem Ist-Zustand und der Möglichkeit eines Anders-

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tieren das eigene Leben und die eigene Person daher ständig in einem riskanten, nicht überschaubaren Vollzug zu halten sind, ist das Existieren selbst durch keine Reflexion oder rationales Denken einzuholen. Existieren bedeutet daher ein Sichoffen-Halten im Erleben.³⁴¹ Die Aufgabe des Existierenden liegt dann darin, Möglichkeit zu bleiben. Es geht im Existieren darum, dass das Individuum sich selbst als sich immer weiter zu differenzierende Person aufgegeben ist. Dieses Sich-Aufgegebensein bedeutet aber, sofern die Aufgabe des Individuums darin besteht, ein „ganzer Mensch“ zu werden und damit eine existenzielle Einheit und Kontinuität zu formen, sich aus der eigenen (kontingenten) Vergangenheit zu verstehen und sich aus dieser offen als Möglichkeit permanenter Weiterentwicklung zu betrachten. Die zu stiftende existenzielle Kontinuität und Einheit eigener Persönlichkeit ist demnach immer auf Unbestimmbares ange-

seinkönnens und somit ein Vergleich aufgrund einer Vorstellung des Andersseinkönnens vorgenommen wird. Da das Individuum aus seiner Geschichte (Vergangenheit) nicht entfliehen kann und sich als die Person, die es aus der (kontingenten) Geschichte ist, immer ausgesetzt bleibt, ist die Erfahrung der eigenen Vergangenheit eminent für die eigene Zukunftsvorstellung und damit für die Kontingenzerfahrung des Ge- oder Misslingens. Zudem scheint mir entscheidend zu sein, was Hans Blumenberg schreibt: dass der Mensch nicht nur ein Wesen ist, dass (sich) misslingen kann, sondern sich auch als misslungen empfinden kann. (Vgl. ders., Beschreibung des Menschen, S. 550 und 633) Nicht allein die Möglichkeit des Andersseinkönnens, sondern vor allem das Gefühl des Andersseinkönnens trägt zum Bewusstsein eigener Kontingenz bei. Wesentlich aus dem Misslungensein (angesichts der eigenen Geschichte) entsteht die auf das Andersseinkönnen folgende Reaktion des Andersseinwollens (vgl. ebd., 681). Dass auch für Kierkegaards Denken die emotionale Instabilität aufgrund der Vergegenwärtigung kontingenten Andersseinkönnens eine wichtige Rolle für das Andersseinwollen spielt, ließe sich u. a. an der Schwermut und der Langeweile in Entweder – Oder, der Verzweiflung in der Krankheit zum Tode und der Angst (v. a. anhand der „Angst vor dem Guten“) im Begriff Angst zeigen. Zum Ge- und Misslingen (unter Berücksichtigung von Kierkegaards Angstanalyse): Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, besonders S. 24– 28; ders., „Subjektivität und Un-Wahrheit“, besonders S. 16 f.  Mit diesen Bestimmungen des Existierens als Interesse und Sich-Offenhalten wird der Begriff der Leidenschaft interessant. Sie ist das Vollzugskorrelat zum Interesse (vgl. Kapitel 2.2.2.2). Zu beachten ist die von Ernst Tugendhat unternommene Unterscheidung zwischen Affekt und Stimmung. (Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 204 ff.) Während ein Affekt ein momentanes, intentionales Gefühl mit einem konkreten Gegenstand bezeichnet, hat die Stimmung „zwar auch ein[en] Gegenstandsbezug“, der „aber ein offener, unbestimmter“ ist. (Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 206.) Indem es beim climacischen Existieren darauf ankommt, sich der Offenheit und Ungewissheit und Unbestimmtheit – der Kontingenz – auszusetzen, sich zu ihr zu verhalten, indem man sich zu sich selbst als Ungewissheit leidenschaftlich verhält, ist die Leidenschaft eine existenzielle Grundstimmung.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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wiesen, das bewusst einbezogen bleiben muss.³⁴² Deshalb kann existenzielle Selbstverwirklichung niemals das Auffinden von erwartetem So-Sein sein. Denn als Person ist das Individuum zu keinem Zeitpunkt fertig und kann demnach niemals zu einem in sich geschlossenen Gesamtbild seiner selbst gelangen. So vermerkt Climacus eindeutig, dass das Existieren ein „fortwährende[s] Lernen“ darstellt, das „Ausdruck der ständigen Realisation“ ist, „die in keinem Augenblick fertig ist, solange das Subjekt existierend ist …“³⁴³ Anders gesagt: Selbstbestimmung kann durch das Faktum der Kontingenz nicht mit Berechenbarkeit und Planbarkeit korrelieren, sondern ist vielmehr durch eine unhintergehbare Fluidität und Unbestimmtheit charakterisiert – durch ein ständiges Überschreiten dessen, was gegeben scheint (= sich aus der gegebenen Vergangenheit in die offene Zukunft hinein entwickeln). Die im Werden verfasste Existenzwirklichkeit (Innerlichkeit) wird demnach als eine charakterisiert, die immer auch auf die Negativität des Noch-nicht-Seins angewiesen bleibt. Dadurch besteht in der aufrecht zu erhaltenden Offenheit sich selbst gegenüber die Aufgabe eines aktiven Beibehalten-Wollens der Offenheit. Somit ist die Innerlichkeit eine Haltung ³⁴⁴, die jeglicher Verfestigung der eigenen Persönlichkeit und des Exis-

 Hierin unterscheidet sich Climacusʼ Denken von dem Denken Wilhelms in Entweder – Oder. Während Wilhelm in Bezug auf das konkrete, biographische Sein eine Glättung und Harmonisierung des inneren und äußeren Seins und damit der sozial bedingten und freiheitlich bestimmten Persönlichkeitsstruktur einfordert (SKS 3, 249 f. / DEO, 829 f.), will Climacus auf die Brüche und Uneinheitlichkeit der konkreten Persönlichkeit aufmerksam machen. Durch die Kategorie der Kontingenz zeigt sich so die diverse Auffassung von Ganzheit bei beiden Pseudonymen.  SKS 7, 117/ DUN, 256. Climacus’ Insistieren darauf, dass Existieren eine Kunst sei (vgl. SKS 7, 321 / DUN, 519), die durch ein „fortwährende[s] Lernen“ bestimmt ist, bringt ihn durchaus in die Nähe Hegels, der zur Kunst der dialektischen Philosophie sagt: „Von allen Wissenschaften, Künsten, Geschicklichkeiten, Handwerken gilt die Überzeugung, daß, um sie zu besitzen, eine vielfache Bemühung des Erlernens und Übens derselben nötig ist.“ (Ders., Werke 3, S. 62 f.) Was bei Hegel lediglich auf die Denkleistung bezogen ist, wird von Climacus existenzialisiert und findet seinen systematischen Ausdruck im existenziellen Aneignungsprimat (Kapitel 2.1).  Zum Begriff Haltung, der vor allem in der Lebensphilosophie und Existenzphilosophie Karl Jaspers’ ausgearbeitet wurde: Gerhard Funke, „Haltung“, in HWPh, Bd. 3, S. 990 f. Besonders relevant für die vorliegende Diskussion ist die Auffassung Jaspers’, bei dem die Haltung als Einstellung zur Existenz verstanden wird, in der „keine endgültige Form des Daseins abgegeben“ wird und durch die Haltung jeglicher „Verfestigung“ der Existenz als Möglichkeitsraum entgegengewirkt wird (ebd., S. 991). Dies korrespondiert mit Jaspersʼ Verständnis des Selbstseins, das nur dann ins Dasein tritt, wenn „es sich öffnet für Welt und Transzendenz“ (Wolfgang H. Schrader, „Selbst II.“, in HWPh, Bd. 9, S. 293 – 305, hier S. 301) und dabei in eine „existenzielle Kommunikation des Sichoffenbarwerden mit einem anderen“ (Ulrich Wienbruch, „Sosein“, in HWPh, Bd. 9, S. 1100 – 1102, hier S. 1102) tritt. Das so verstandene Selbstsein bei Jaspers stellt eine elementare Aneignung von Kierkegaards Selbst-Begriff dar, dessen implizites Sichoffenbarwerdens („Durchsichtigkeit“) durch Welt-Offenheit hier, in diesem Teil 2.2, und durch Transzendenz-Of-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

tenzvollzugs entgegenwirkt. Die Aufgabe, ein „ganzer Mensch“ zu werden und die damit in eins gestellte Aufgabe, sich selbst als vollständige Person zu vergegenwärtigen, muss dann darin liegen, dass die Offenheit zu einem konstitutiven Bestandteil der eigenen Kontinuität wird. Das ist weiter zu differenzieren. Weil der existenzielle Umgang darin besteht, dass sich das Individuum offen als das Ungewisse zu sich selbst verhält (sich als Möglichsein vergegenwärtigt), werden folgende Sachverhalte relevant: 1. Das Existieren bleibt als Sich-zu-sich-Verhalten immer an die faktische Wirklichkeit gebunden. Das In-der-Zeit-Sein ist zugleich ein In-der-Welt-Sein. Sich gegenüber sich selbst offen zu halten heißt, sich gegenüber dem, was geschieht, offen zu halten. Erst im aktiven Sich-offen-Halten ist es dem Individuum möglich, sich in der Zeit und der Welt zu entdecken. Um sich an dem, was geschieht, entdecken zu können, darf das Geschehen nicht auf Distanz gehalten werden, sondern es muss angenommen werden, ohne sich von ihm einnehmen zu lassen, da Offenheit beibehalten werden soll.³⁴⁵ Es gilt in eine bewusste Haltung aktiver Passivität gegenüber den Geschehnissen in der Zeit und der Welt zu gelangen (was auch eine elementare Voraussetzung und Bestimmung des religiösen Existierens ist). 2. Das Annehmen gilt nicht nur gegenüber dem, was geschehen kann (Zukunft), sondern notwendig auch für die eigene (kontingente) Vergangenheit. Indem sich von dieser nicht abgegrenzt werden soll, sondern durch die Erinnerung eine Kontinuität (Geschichtlichkeit) zu stiften ist, bedeutet das Annehmen auch, sich selbst akzeptieren zu lernen in dem, was man ist, durch das, was war; die eigene Identität aus dem zu schöpfen, was passiert ist und damit auch die Bedingungen (Eltern, soziales Milieu etc.) anzunehmen und nicht als irrelevant auszugrenzen. Diesen Aspekt des Selbstseins hebt Gerichtsrat Wilhelm hervor, wenn er über das „Selbst“ schreibt, dass es zwar in seiner Freiheit „eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich birgt“, doch ebenfalls „eine Geschichte hat, eine Geschichte, in welcher er [der Mensch, d.Vf.] sich zu der Identität mit sich bekennt. Diese Geschichte ist von verschiedener Art, denn in dieser Geschichte steht er in

fenheit in nächsten Teil 2.3 zum religiösen Existieren diskutiert wird. Zu Jaspers (systematischem) Selbst-Verständnis und der darin liegenden Adaption Kierkegaards: vgl. auch Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie, § 14b. Zu Heidegger wiederum: Thonhauser, Ein rätselhaftes Zeichen, S. 287 ff. und 406 f.  Es geht in diesem Sinne um ein Erreichen von Unmittelbarkeit als Offenheit für begegnende Wirklichkeit und die Hingabe an diese, wobei anzumerken ist, dass diese Unmittelbarkeit immer an die eigene reflexive Durchdringung des eigenen Verhaltens zur Wirklichkeit gebunden bleibt. Unmittelbarkeit ist immer mittelbare Unmittelbarkeit; eine Distanzierung von bloßer Hingabe.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Beziehung zu anderen Individuen des Geschlechts und … er [ist] der, der er ist, nur durch diese Geschichte.“³⁴⁶ Erstens wird gesagt, dass trotz der (oben betonten) modallogischen Kontingenz eigener Vergangenheit und der Möglichkeit unterschiedlichen Umgangs mit den gegebenen Bedingungen eigener Geschichte, dieselbe – selbstverständlich in einem gewissen Variationsbereich – nicht beliebig anders vorgestellt oder beliebig anders gewichtet werden kann, ohne zu einer anderen Jetzt-Person zu werden.³⁴⁷ Die Person, die man ist, ist man eben nur, wenn man die eigene (kontingente) Geschichte annimmt (sich „bekennt“). Oder frei nach Sartre: Der, der ich nicht mehr bin, habe ich zu sein.³⁴⁸ Zweitens wird eminent hervorgehoben: Obwohl der eigene Lebensvollzug vorwärts, auf die Zukunft hin abläuft, besteht dessen Einheit durch erinnernde Vergegenwärtigung und der dabei zutage tretenden Erkenntnis, dass man selbst vielmehr gemacht als durch sich selbst entstanden ist.³⁴⁹ Eigene Geschichte und die durch sie zum Ausdruck kommende Passivität und auch Ausgesetztheit an Kontingenz sind konstitutiv für die Genese eigener Identität. Und obwohl sich das Individuum durch Erinnerung Kontinuität verleihen kann und so Brüche und Kontingenz der eigenen Person zu glätten vermag, fußt die erinnernde Vergegenwärtigung doch immer bloß auf einer bestimmten Auswahl bestimmter Situationen, ist also niemals an die Ganzheit/Umfassendheit eigener Geschichte gebunden. Eben darin zeigt sich deutlich, dass in die Kontinuität systematisch immer Offenheit einbezogen bleibt. Und schon der Aspekt, dass sich – wie Wilhelm betont (s.o.) – zur eigenen Biographie bekannt werden soll, zeigt das Bewusstsein und den Einbezug von ungesicherter Faktizität, eben dem Fakt, dass fehlende Selbstverfügbarkeit und Passivität zur biographisch geleiteten Identitätsbildung dazugehören. Dies führt schließlich drittens zu der nicht nur existenziell-, sondern auch systematisch-grundlegenden Einsicht: Geht man in sich und vergegenwärtigt sich aus seiner Geschichte heraus, erkennt man sich als sozial konstituiert. Das Individuum ist eben immer „Produkt einer bestimmten Umwelt“,³⁵⁰ „das in leben-

 SKS 3, 207/ DEO, 774 (Hervorhebung d.Vf.).  Vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 820.  Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 869.  Wie auf die vorliegende Diskussion zugeschnitten, schreibt Hans Blumenberg: „Die[] Undurchsichtigkeit des Menschen für sich selbst, seine immer erst nachholende Vergegenwärtigung dessen, was er da gedacht und getan hat“ trägt das „leichte Erstaunen“ in sich, dass sich der Mensch „als das Resultat seiner Geschichte eher vorfindet als gemacht hat …“ (Ders., Beschreibung des Menschen, S. 882)  SKS 3, 239/ DEO, 816.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

diger Wechselwirkung steht mit diesen bestimmten Umgebungen, diesen Lebensverhältnissen, dieser Ordnung der Dinge.“³⁵¹ Wie später George Herbert Mead unterläuft Kierkegaard die aristotelische Entelechie-Vorstellung des Individuierungsprozesses.³⁵² Das Innen, die Selbst-Sicht ist immer durch das Außen mitbestimmt. Und das bedeutet nicht nur, dass das Innen und Außen verflochten sind,³⁵³ sondern dass es im Sich-Annehmen (aus der Akzeptanz der eigenen Geschichte heraus) nicht nur darum geht, die äußeren Bedingungen der eigenen Person zu akzeptieren, sondern auch die durch das Äußere bedingten inneren Bedingungen der eigenen Person: also Wünsche, Einstellungen, Haltungen, Denken, Gefühle (etc.). Es geht also im wortwörtlichen Sinne um ein Sich-Bekennen, um das Identischsein mit sich selbst, darum, dass zwischen Erkennendem und Erkanntem kein Unterschied besteht,³⁵⁴ um Identität im logischen Sinne, also um die Aufhebung von Dissonanz und Spaltung – sowohl zwischen dem, der man ist, und dem, der man sein will (Aufhebung der Dissonanz zwischen Wollen und Sein), als auch zwischen dem, was einen bewegt, wie auch dem, was man frei bestimmen will (Aufhebung der Spaltung zwischen inneren Kräften und dem durch sie bestimmten Personsein). In der Übereinstimmung mit seinem inneren Sein (Einstellungen etc.) akzeptiert die Person die je eigenen Bedingungen des eigenen Daseins und so sich selbst als die Person, die sie ist. ³⁵⁵ Ausgehend vom Aspekt des Annehmens kann daher grundsätzlich gesagt werden: Climacus geht es (ebenso wie Gerichtsrat Wilhelm) um eine Einübung der Zustimmung zum eigenen Dasein; darum, bei aller existenziellen Vergegenwärtigung der eigenen Person auf die Wirklichkeit zurückzukommen, in der man

 SKS 3, 250/ DEO, 830.  Vgl. Schlette, Die Idee der Selbstverwirklichung, S. 294.  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Vgl. Kapitel 1.1.  Dies ist ein Aspekt, den Harry G. Frankfurts existenzanaloges Denken (unter Bezug auf Spinoza) für den Umgang mit dem eigenen Leben dezidiert heraushebt: Das „Einverständnis mit dem eigenen Selbst besteht – also darin, daß man damit einverstanden ist, die Person zu sein, die man ist, und daß man, wenn auch vielleicht nicht enthusiastisch, aber doch willentlich die Motive und Dispositionen akzeptiert, die uns dazu bewegen, zu tun, was wir tun.“ (Ders., Sich selbst ernst nehmen, hg. von Debra Satz, übers. von Eva Engels, Frankfurt am Main 2007, S. 32) Frankfurt sieht die Bedingung zum Einverständnis mit dem eigenen Dasein in der Akzeptanz der eigenen Person und zwar in ihren „Einstellungen, Gedanken oder Gefühlen“ (Ebd., S. 22). Es geht um das Identischsein mit sich; dass das passive Bewegtwerden durch die eigenen Wünsche, Motivationen, Einstellungen, Gedanken (etc.) nicht als abzulehnende Passivität, sondern als der Person integrale Aktivität gesehen wird; als ein aktives Sich-Bewegen durch das,was einen bewegt (vgl. ebd., S. 22); dass also das, was einen bewegt, nicht abgespalten von der eigenen Person betrachtet wird, sondern als Grund der Identifikation mit der eigenen Person (vgl. ebd., S. 33).

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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immer schon ist.³⁵⁶ Bezüglich des Aspekts des Sich-offen-Haltens gilt zudem (was in gleichem Maße für das Annehmen gilt), dass es um keine persönliche „Verbesserung“ und Selbst-Korrektur³⁵⁷ der eigenen Person geht (beispielsweise durch an die Zukunft gestellte Erwartungen). Aus der Kontingenz des Andersseinkönnens entspringt kein forciertes Andersseinwollen.Vielmehr gilt: Weil die Offenheit der Zukunft angenommen werden soll, soll sich von allen Erwartungen befreit werden.³⁵⁸ Der, den man dann in der Addition von Annehmen und Offenhalten an sich selbst antrifft, kann niemals der sein, der man erwartet zu sein (oder gar verlangt zu sein). Damit geht es grundsätzlich um eine Haltung einzuübender Vorbehaltlosigkeit sich selbst gegenüber (ohne dass dies aber eine Willkürlichkeit im Umgang mit sich selbst impliziert). Denn eigene Geschichtlichkeit und Ganzheit zu gründen heißt bei Climacus, sich in dem zu akzeptieren, was war, und sich an dem zu entdecken, was kommt. Einerseits ist das Existieren dann ein Vollzug, der von der Reflexion bestimmt ist, dass das permanente Durcharbeiten der Möglichkeiten, auf denen die eigene Existenz gründet, das eigene Leben zu einem nicht zu bewältigenden machen würde (das Annehmen ist die Reaktion auf die Unaushaltbarkeit permanenten Kontingenzbewusstseins); andererseits ist das Existieren gerade eine ständige Bewusstmachung des Ausgesetztseins an die Kontingenz von Zukünftigem und Vergangenem und der begegnenden Wirklichkeit (Welt). Aus dieser Ambivalenz heraus bedeutet zu existieren aktiv in eine zulassende Passivität zu gelangen; es beschreibt einen Zustand, der gleichzeitig aktiv und passiv ist. Und das bedeutet: Es gibt keinen wahren und einzigen Weg zu sich als ganze Persönlichkeit, sondern nur das persönliche Suchen und Entdecken. ³⁵⁹ (Wie bei Augustinus wird also das Primat der Selbst-Korrektur durch das Primat des Selbst-Entdeckens abgelöst³⁶⁰). In Anbetracht dessen wird eine Bemerkung Arne Grøns wichtig: „Wir können den Weg nicht beliebig wählen, indem wir ihn mit uns zu gehen haben.“³⁶¹ Dies wird durch Climacus selbst unterstrichen, wenn er mit Bezug auf Virgils Bucolica sagt: „Non omnes omnia possumus³⁶² gilt überall im Leben …“³⁶³ Indem das In Vgl. Kapitel 2.1.4.  Vgl. Kapitel 1.1.  Dass hierbei ein stoischer Grundsatz impliziert ist, zeigt sich anhand einer Notiz Epiktets: „Verlange nicht, daß die Dinge gehen,wie du sie wünschst, sondern wünsche sie so,wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig verlaufen.“ (Ders., Das Buch vom geglückten Leben, VIII, S. 17) Bei Climacus muss diese Art und Weise der Lebensführung jedoch widersprüchlicher gedacht werden: vgl. Kapitel 2.2.6.  Dazu: Fischer, Existenz und Innerlichkeit, S. 207 f.  Vgl. Kapitel 1.1.  Grøn, „Ein Leben zu führen“, S. 90 (Hervorhebung d.Vf.).  „Wir können nicht alle alles machen.“

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

dividuum der Vergangenheit ausgesetzt ist, zugleich auch der Welt und der Geschehnisse darin und zudem unhintergehbar sich selbst ausgesetzt ist als dasjenige, das sich an dem Erfahrenen ausformt, ist die zu stiftende Kontinuität eigener Persönlichkeit keine Beliebigkeit, keine freie Wahl, sondern ein Annehmen, das aber in sich das Potenzial für Neues einbezieht, und zwar dann, wenn das Individuum sich selbst als das Ungewisse akzeptiert.³⁶⁴ Damit kann zum Ausgangspunkt dieses Teilkapitels 2.2.3 zurückgekommen werden. Indem es sich aus seiner kontingenten Vergangenheit (Möglichkeit), aus seiner kontingenten Zukunft (Möglichkeit) und aus dem kontingenten Geschehen der es umgebenden Welt (Möglichkeit) heraus versteht, versteht sich das Individuum im Hier und Jetzt als eine durch Vergangenheit bestimmte und in Zukunft hineingeratende Möglichkeit, die durch das Sich-offen-Halten Möglichkeit bleibt. Die Ganzheit der Persönlichkeit, lässt sich sodann mit folgendem Schema veranschaulichen, wobei die obere Achse die existenzielle Verhaltensweise zu sich in der Zeit darstellt und die untere Achse die Zeitlinie. Die in der Mitte liegende Schnittmenge ist die Ganzheit der vergegenwärtigten, offenen Persönlichkeit (deren umfangslogischer Zusammenhang von Einheit und Vollständigkeit durch das geschlossene Oval angedeutet wird).³⁶⁵

 SKS 7, 319/ DUN, 516.  Die systematischen Parameter des Ausgesetztseins an die eigene Ungewissheit, des passiven Bestimmtwerdens durch äußere Gegebenheiten und des Entdeckens von Neuem werden von Climacus im religiösen Existieren aufgegriffen und in ein systematisches Verhältnis zum das Selbst setzenden Grund gebracht: vgl. Kapitel 2.3.2.4 und 2.3.3.3.3.  Anzumerken ist in Anbetracht der folgenden, schematischen Zuspitzung des existenziellen Selbst-Verhältnisses, dass die Möglichkeit des Selbstseins und damit die „Ganzheit“ des Individuums durch das Annehmen (Vergangenheit), die Vergegenwärtigung (Gegenwart) und das Sichoffen-Halten (Zukunft) letztlich eine transzendente Ganzheit beschreibt. Denn sich in all dem, was war, ist und sein wird zu vergegenwärtigen, kann niemals in vollständiger Durchsicht, sondern immer nur in Abschattungen (Husserl) geschehen (vgl. Kapitel 2.2.5). Dem Einzigen, dem diese ganzheitliche Durchsicht bei Climacus möglich ist, ist Gott (vgl. Kapitel 2.3.2.4.3). Hinzu kommt: Indem die Ganzheit durch eine dreifache Fokussierung der Person auf die Zeitekstasen bestimmt ist, muss angemerkt werden: Je mehr sich auf eine Zeitekstase konzentriert wird, umso mehr werden die jeweils anderen aus dem unmittelbaren Bewusstsein gedrängt. Ganzheit kann demnach immer nur der defizitäre Vorgriff auf eine niemals vollständig repräsentierte Umfänglichkeit der eigenen in die Zeit gedehnten Persönlichkeit sein. Will demnach sinnvoll von Ganzheit gesprochen werden, kann dies nur in einem transzendenten Sinne geschehen.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Mit der vorangegangenen Darstellung stellt sich nun aber die Frage: Wenn es bei allem Existieren um eine existenzielle Haltung der Akzeptanz und Offenheit geht, wie kann dann von Kontingenzerfahrung beziehungsweise von einem Gelingen oder Misslingen gesprochen werden? Nur unter dem Aspekt der Kontingenz als objektives Faktum ist dies möglich; aus subjektiver Perspektive gilt hingegen: Kontingenzerfahrung geschieht allein dann, wenn die Kontingenz von Vergangenheit und Zukunft nicht akzeptiert wird, wenn sich das Individuum in seiner Einstellung zu sich von der Trennung des eigenen Seins zu einem Andersseinkönnen und dem daraus entspringenden Andersseinwollen leiten lässt.³⁶⁶ In der subjektiven Perspektive des Existierens als Annehmen der Vergangenheit und der zukünftigen Ungewissheit liegt hingegen die Aufhebung der Kontingenzerfahrung, ohne – und das ist das Ambivalente – dass die Kontingenz als objektives Faktum negiert würde. Denn die der Kontingenz unterliegende Gedankenfigur, dass Wirklichkeit auch anders sein kann, ist das Ziel des Existierens: sich selbst als Individuum mit einer Geschichte zu akzeptieren und sich für die Zukunft konsequent als un(ab)geschlossen zu betrachten.

2.2.3.3 Zeitlichkeit Im Zusammenhang mit der Ganzheit und Kontingenz musste schon das Problem der Zeitlichkeit in den Blick rücken. Der Mensch ist notwendig in der Zeit verankert und ihr passiv ausgesetzt. Indem der Mensch erinnern und antizipieren kann, – mit Husserl gesprochen – retentional und protentional in die Zeit ausgedehnt ist,³⁶⁷ vermag er sich eine Geschichtlichkeit zu verleihen, indem er im Jetzt sowohl

 Nur dann kann von einem Ge- oder Misslingen der eigenen Person gesprochen werden, wenn die Wirklichkeit von einem imaginierten Bild abweicht und keine Deckungsgleichheit herrscht zwischen dem, der man ist und dem, der man sein könnte/will (aufgrund einer anderen Vergangenheit) oder dem, der man sich für die Zukunft vorstellt zu sein.  Vgl. Edmund Husserl, Vorlesung zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. von Martin Heidegger, 3. Aufl., unveränd. Nachdruck der 1. Aufl. von 1928, Tübingen 2000, besonders §§ 11 und 24.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Vergangenheit als auch Zukunft zusammenhält und sich dadurch als kohärente (und/oder brüchige) Persönlichkeit zu erfassen vermag. Existenziell ist das Verhältnis von Existenz und Zeit genau dann, wenn es als ein aktives Annehmen der passiven Zeiterfahrung bestimmt ist, indem das passive Ausgeliefertsein an die Zeit in einen zu keinem Zeitpunkt stillstehenden aktiven Entwicklungsprozess übersetzt wird. Gilt es für den Existierenden, sich im Interesse und der Offenheit zu halten, dann bedeutet dies, sich vollständig in der Gegenwart zu verorten. Ein aktives, bewusstes Vollziehen des Interesses und der Innerlichkeit, in denen sich auf das Existieren konzentriert wird, heißt, dies in gegenwärtiger Konkretion auch zu tun.³⁶⁸ Hierbei ist folgende Überlegung wichtig: Gilt es sich in der Gegenwart zu halten, indem man ganz auf das Existieren konzentriert ist, könnte sich folgendes Bild des Existierens ergeben: Sich in der Gegenwart zu halten bedeutet, in eine Form der Zeitlosigkeit zu geraten, in eine Ewigkeit des permanenten Jetzt, die vom dem mittelalterlichen Denken her als „nunc stans“³⁶⁹ (stehendes Jetzt) oder wie bei Ludwig Wittgenstein als „Unzeitlichkeit“³⁷⁰ bestimmt wird. Existieren bedeutet dann, auf dem ständig fortschreitenden Nullpunkt, dem Zusammenstoßen zwischen Nicht-Mehr (Vergangenheit) und Noch-Nicht (Zukunft) zu verharren.³⁷¹ Da aber diese „ewige“ Gegenwart für einen Existierenden kaum zutreffen kann, weil es darum geht, sich nicht von der Vergangenheit zu isolieren und auch nicht von der Zukunft abzuschneiden, muss die existenzielle Gegenwärtigkeit des Existierens in folgender Bestimmung aufgefasst werden: Existieren ist permanente Gegenwärtigkeit, in der sich das Individuum ständig in die Gegenwart zurückholen muss. Um diese Bestimmung existenzieller Gegenwärtigkeit genau zu verstehen, muss auf die darin immanent liegende rückbezügliche Struktur eingegangen werden:

 Dies wird sowohl von Michael Theunissen (vgl. Kapitel 1.2.2) als auch von Dorothea Glöckner betont (dies., Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 169).  Vgl. Heidegger, Was heißt Denken?, S. 63.  Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 2003, Satz 6.4311.  Vgl. Georg Simmel, „Lebensanschauung“, in ders., Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 209 – 425, hier S. 218. Simmel bestimmt dort die Gegenwart als ein reines Zusammenstoßen von Vergangenheit und Zukunft: als „Unzeitlichkeit“. Eine Gegenbestimmung des Jetzt als „Unzeitlichkeit“ gibt Manfred Sommer, der sich gegen die geometrische Metapher des Jetztpunktes wendet und das Jetzt als Teil der zeitlichen Kontinuität begreift; also nicht als Unterbrechung von Vergangenheit und Zukunft, sondern als deren Verbindung (vgl. ders., Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt am Main 1996, S. 110). Diese von Sommer vorgenommene Charakterisierung des Jetzt ist entscheidend für die Bestimmung des „Augenblicks“ (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1).

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Die Rückbezüglichkeit ist Ausdruck des Sich-zu-sich-Verhaltens. Das Problem derselben ist, dass der Existierende niemals in einem vollkommenen Bei-sich-Sein ankommen kann. Ein Sich-Verhalten impliziert, dass man sich zu etwas verhält, sich im Abstand dazu befindet. Dieser Abstand zu sich selbst ist analog auf das gegenwärtige Existieren zu übertragen. Der Existierende ist niemals nur in der Gegenwart, sondern erstens auch in der Vergangenheit (an die er sich erinnern soll), zweitens auch in der Zukunft (auf die hin der Existierende in seinem Möglichsein orientiert ist), und zudem drittens beständig nur in einem Verhältnis, einem Interesse zum Existieren. Er ist der absoluten Gegenwärtigkeit, der Unzeitlichkeit, wie Wittgenstein sagt, niemals kommensurabel. Deshalb muss er sich in der Gegenwart auf die Gegenwart zurückrufen. In diesem Sinne ist das Existieren ein ständig bewusst vollzogenes Sich-verorten-Wollen (Interesse) in der Gegenwart.³⁷² Wirkliche, existenzielle Gegenwärtigkeit bedeutet, ein bewusstes und kontinuierliches Verhältnis zur Gegenwart einzugehen. Existieren muss – in Anbetracht der vorhergehenden Ausführungen – permanent erarbeitet werden. Das Interesse (und in eins das Sich-offen-Halten) ist nichts, was einmal da ist und nicht wieder vergehen kann. Der Existierende ist selbst ein Sich-kontingent-Sein. Das Individuum muss sich aktiv im Interesse und damit im Werden und der Existenzwirklichkeit, der Innerlichkeit halten. Die bewusste Haltung, die der Mensch zu sich selbst im Interesse eingeht, ist die Innerlichkeit. Climacus betont, dass „das Leben und das Dasein als ein mühseliger Gang [en møisommelig Gang] akzentuiert werden“³⁷³, und „daß man das Leben unendlich schwer nimmt … in Form von Ausdauer in Innerlichkeit [Udholdenhed i Inderlighed].“³⁷⁴ In Innerlichkeit zur Person zu werden, ist ein aktives, gegenwärtiges Werden, das mit Ausdauer und somit von einem zu erarbeitenden Sich-darinHalten bestimmt ist. Das Individuum ist aber nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in die Zukunft (das Ungewisse) und in die Vergangenheit (die Geschichte) ausgedehnt. Beide sollen in Anbetracht der Ganzheit und Kontinuität vergegenwärtigt werden. Existieren muss demnach sowohl als in der Zeit ausgedehntes als auch als zeitlichpunktuelles Existieren verstanden werden. Zur genauen Bestimmung dieses

 Hier würde sich Climacus’ Philosophie fruchtbar an die Pascals anschließen lassen, der vermerkt: „Wir halten uns nie an die Gegenwart. Wir rufen uns in die Vergangenheit zurück; wir greifen der Zukunft vor, als käme sie zu langsam und als wollten wir ihr Eintreten beschleunigen, oder wir rufen uns in die Vergangenheit zurück, als wollten wir sie festhalten, da sie zu schnell vorübereilte, wir sind so unklug, daß wir in Zeiten umherirren, die nicht die unsrigen sind, und nicht an die einzige denken, die uns gehört …“ (Ders., Gedanken, Fragment 47/172, S. 54)  SKS 7, 245/ DUN, 423.  SKS 7, 242 / DUN, 418.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Verhältnisses von Ausdehnung und Punktualität muss auf folgende Stellen aufmerksam gemacht werden: a) Vigilius Haufniensis sagt im Begriff Angst: „Die Zeit ist die unendliche Sukzession, das Leben …“³⁷⁵ b) Climacus vermerkt (wie auch oben schon zitiert): „[D]as Sukzessive [ist] in der Gleichzeitigkeit zu veredeln.“³⁷⁶ c) Außerdem notiert Climacus: „[W]o die Zeit selbst die Aufgabe ist, da ist es ja ein Fehler, vor der Zeit fertig zu werden.“³⁷⁷

Welche impliziten Bestimmungen liegen vor? 1. Die „Sukzession“ / das „Sukzessive“ ist sowohl als Leben als auch als Zeit zu verstehen. Leben ist als das Sukzessive an das stetige Vergehen der Zeit gebunden. 2. Ist das Leben und die Zeit stetiges Vergehen, eine permanente (sukzessive) Bewegung, sind zwei Auffassungen zur Gegenwärtigkeit möglich: a) Es gibt keine Gegenwart, weil es keinen Stillstand, keinen Jetzt-Punkt gibt. b) Es gibt permanente Gegenwart und zwar als Nullpunkt, als Unzeitlichkeit, wodurch aber Vergangenheit und Zukunft negiert würden. Da von der Ganzheitsdiskussion her letzterer Fall nicht zutreffen kann, neigt Climacus eindeutig zu erster Auffassung, was durch das Zitat b deutlich wird. Dort wird die punktuelle Gegenwart betont (s.u.).³⁷⁸ 3. Im Zitat c wird das Verhältnis von Zeit und Leben wiederholt und zugleich neu konnotiert. Indem die Zeit die Aufgabe ist, steht dies aus dem Textzusammenhang heraus in Korrelation dazu, dass „das Leben die Aufgabe“³⁷⁹ ist. Damit ist der zweite Teil des obigen Zitats bestimmt. Das Leben zu leben, soll nicht vor dem Ende der Zeit, dem Tod, beendet werden. Dies ergibt nur Sinn, wenn damit ein aktiv vollzogenes Leben gemeint ist; ein Existieren im innerlichen Sinne (denn passiv ist man dem Leben ausgesetzt und muss es leben, solange das Leben dauert).

 SKS 4, 390/ DBA, 544.  SKS 7, 318/ DUN, 515.  SKS 7, 152 / DUN, 301.  Dass Climacus zu einer gegenwartslosen Auffassung von Zeit tendiert, ist demnach nur indirekt ableitbar. Im Gegensatz dazu vermerkt Vigilius Haufniensis eindeutig, dass die Zeit als unendliche Sukzession keine Gegenwart in sich trägt (vgl. SKS 4, 390/ DBA, 544). Auf die Diskussion von Vigilius’ Aussage muss hier nicht näher eingegangen werden. Dies würde implizieren, dass der „Augenblick“ als ein in der Zeit (Sukzession) ausgedehntes Jetzt (kein Nullpunkt) besprochen werden muss, das wiederum in Verbindung zum Verhältnis von Zeit und Ewigkeit steht. Dazu: Deuser, Religionsphilosophie, S. 296 – 302, besonders S. 298 ff.  SKS 7, 152 / DUN, 301.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Indem die Zeit als Aufgabe (Zitat c) herausgehoben wird, gilt es, die Zeit (ebenso wie das Leben) bewusst zu realisieren.Was heißt es, die Zeit zu realisieren? Hierbei muss auf das Doppelverhältnis von Existieren und Zeit aufmerksam gemacht werden: a) Das permanent zu vollziehende Existieren (Innerlichkeit) ist Ausdruck der Zeit als ständige Sukzession. Das innerliche Existieren ist im Sinne der Zeit als ständige Sukzession zu vollziehen, als beständige Bewegung. Im Existieren soll die Zeit verdoppelt, wiederholt werden. b) Umgekehrt gilt: In der Kontinuität des Existierens wird erst die wirkliche Kontinuität der Zeit gestiftet. Existiert der Mensch nicht in der von Climacus intendierten bewussten, innerlichen Art und Weise, zerfällt die Zeit einfach in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erst indem sich im Vergegenwärtigen mit bewusstem Bezug zur Vergangenheit (Geschichte), Zukunft (Ungewissheit) und Gegenwart (Aktualität des Existierens) verhalten wird, kann eine umfassende Kontinuität der eigenen Persönlichkeit und damit auch eine existenzielle Einheit der Zeit gestiftet werden. Mit dieser Dialektik – die Zeit liegt dem Akt des Existierens als Sukzession zugrunde; Existieren stiftet die Einheit der Zeit – kann auf das Verhältnis von Ausdehnung und Punktualität zurückgekommen werden. Als innerlich Existierender ist der Mensch auf die gesamte Zeit ausgedehnt und bündelt sie als Einheit zugleich in der Gegenwart; die diachronen Zeit-Modi werden synchronisiert, ohne deren Diachronizität aufzulösen.³⁸⁰ Der Existierende ist mit sich selbst „gleichzeitig“ und realisiert das im Zitat b Gesagte: „das Sukzessive [ist] in der Gleichzeitigkeit zu veredeln.“³⁸¹ Dass Climacus hierbei von „veredeln“ [forædle] spricht, zeigt deutlich die herausgehobene Stellung der Gegenwart. Das Existieren als bewusster, gegenwärtiger Akt ist die Sublimierung der Zeit³⁸² – beziehungsweise die gesteigerte Aktualität der ganzen Person.

 Alois Hahn attestiert, dass eines der Merkmale moderner Gesellschaft im „Verfall diachronischer Identität“ besteht, wodurch keine auf Dauer gestellte, auf Zukünftigkeit zielende, in der Gegenwart vollzogene Stabilität eigener Identität entstehen könne. (Ders., Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft. Frankfurt und New York 1974, S. 113) Erst die Synchronisierung diachroner Zeitlichkeit, der zeitlich voneinander getrennten Erfahrungen macht es möglich, „daß die unterschiedlichen Lebensphasen als Moment einer sinnstiftenden Einheit der Biographie aufgefaßt werden können.“ (Ebd., S. 116) Eben dies ist ja Climacusʼ identitätsexistenzielle Intention.  SKS 7, 318/ DUN, 515.  Dies entspricht systematisch weitestgehend der existenziellen Kategorie des „Augenblicks“. Jedoch wird bei diesem die Zukünftigkeit strukturell stärker gewichtet als die Vergangenheit. Dazu genauer Kapitel 2.3.2.3.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Gerade der Aspekt bewusst gehaltener Aktualität schließt auch folgenden Sachverhalt ein: Indem das Existieren niemals allein in der Gegenwart verharrt, sondern ein Voranschreiten in die Zukunft ist, wird neue Zeit generiert. Diesem Gedanken liegt folgende Überlegung zugrunde: Die Zukunft, in die das Individuum permanent hineingerät, und der die Möglichkeit des Abfallens vom bewussten, innerlichen Existieren innewohnt, ist in bewusste Gegenwart zu retten. Es soll sich im Interesse und der Innerlichkeit gehalten werden; die noch ausstehende Zukunft in bewusstes, innerliches Existieren, in existenzielle Gegenwärtigkeit, eben in gesteigerte Aktualität überführt werden. (Das Gleiche gilt für die Vergangenheit, die durch ständige Erinnerung ebenfalls lebendig gehalten und somit vergegenwärtigt werden soll.) Indem dies (bezüglich der Zukunft) vollzogen wird, wird neue, bewusste Zeit erschaffen (generiert) und das in permanentem Fortlauf.³⁸³ Das aber bedeutet, dass die durch das Existieren gestiftete existenzielle Einheit der Zeit eine offene Einheit ist, die auf noch un-bestimmte und un-aktuale Zeit angewiesen bleibt. In diesem Sinne ist das Stiften der Einheit von Zeit durch das Generieren neuer Zeit analog zum Stiften der Einheit und Kontinuität eigener Persönlichkeit zu verstehen, das ebenfalls immer auf das Unbestimmte, noch zukünftige Sein angewiesen bleiben muss. Existieren, Persönlichkeit, Ganzheit und Zeit bilden eine untrennbare Einheit. Das aber bedeutet weiter: Indem in der Innerlichkeit ein bewusstes Verhältnis zur Zeit eingegangen wird, wird Zeit zur bewussten Zeit. Erst als bewusste Zeit ist Zeit wirkliche, existenzielle Zeit und als Wirklichkeit zu verstehen. Innerlichkeit ist als Existenz-Wirklichkeit sowohl Sukzession (Bewegung; Vollzug), Ausdehnung (auf die drei Zeitmodi) und punktuelle Verdichtung (Vergegenwärtigung) der Zeit. Damit ist die folgende Stelle der Unwissenschaftlichen Nachschrift für alles in-

 Das darf nicht im Sinne der Gedankenfigur der „Wiederholung“ verstanden werden, zu der Joachim Ringleben sagt, dass es in dieser um das „ins Sein Kommen“ oder „Anders und Neu-Sein Desselben“ geht. (Ders., „Kierkegaards Begriff der Wiederholung“, S. 329 f.; vgl. auch Niels Nymann Eriksen, Kierkegaard’s Category of Repetition. A Reconstruction, Berlin und New York 2000 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 5), S. 128) Die Wiederholung ist eine Gedankenfigur, die immer an das Ewige gebunden bleibt, das im sokratischen Sinn vergangen ist, womit es in der Wiederholung erstens um die Erinnerung geht, zugleich aber zweitens davon handelt, das vergangene Ewige zukünftig neu ins Sein kommen zu lassen. Deshalb bezeichnet Kierkegaard (Constantin Constantius) die Wiederholung als „Erinnerung in Richtung nach vorn“. (SKS 4, 9/ DW, 329) Jedoch lässt sich zum vorliegenden Sachverhalt des Existierens insofern eine Parallele zur Wiederholung ziehen, als dass es in ihr auch darum geht, die Gegenwart als existenziellen Moment des aktiven Vollziehens herauszuheben: „das Dasein, das gewesen ist, entsteht jetzt.“ (SKS 4, 25/ DW, 352) Während aber die Wiederholung wesentlich von dem permanenten Überführen des Vergangenen in eine qualitativ gesteigerte Aktualität handelt, ist das innerliche Existieren eine Sublimierung von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart (s.u.).

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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nerliche Existieren erneut wichtig: „[D]ie Aufgabe ist die Gleichmäßigkeit, die Gleichzeitigkeit, und das Medium, in dem sie vereinigt werden, ist im Existieren.“³⁸⁴ Die „Gleichmäßigkeit“ ist die Sukzession, die „Gleichzeitigkeit“ die existenzielle Einheit der Zeit, und beides geht zusammen im innerlichen Existieren. Darin liegt die komplexe Realisation der Zeit als Existenz.³⁸⁵ Es kann daher – in der Terminologie Heideggers – gesagt werden, dass sich das Individuum als innerlich-existierendes zeitigt, indem es sich in der Zeit so zur Zeit verhält, dass die Zeit zur eigenen, subjektiven Zeit wird.

2.2.4 Handlung: Sich-zu-sich-Verhalten und Weltbezug Um den Handlungsbegriff bei Climacus genau erfassen zu können, sollen zunächst die Ergebnisse des vorhergehenden Punktes in die Terminologie des Handelns und der Tätigkeit überführt werden. Zu der Unterscheidung zwischen Handlung als intentionale Tätigkeit und Tätigkeit als Vollzug (wobei sich beide Begriffe gegenseitig durchdringen³⁸⁶) ist für die Diskussion folgende Konnotation des Handlungsbegriffs festzuhalten: Im Handeln ist eine Relationalität des Handelnden zum Handlungsziel impliziert. Relation bedeutet hierbei sowohl, dass ein intentionales Verhältnis, eine Bezogenheit des Handelnden zum zu erreichenden Ergebnis besteht, als auch, dass der Handelnde noch vom Ergebnis entfernt ist. Wird diese Konnotation nicht eingeführt, ließe sich im Zuge der Ausführungen von Kapitel 2.2.2 sagen, dass das Existieren einfach als Tätigkeit (Vollzug) zu bezeichnen ist, denn die Handlung des Existierenden besteht in der Tätigkeit des Existierens. Das hieße, dass der Begriff der Handlung eigentlich nicht gebraucht würde, um das Existieren zu beschreiben. Dies ließe sich beispielsweise schon durch den Begriffsgebrauch Climacus’

 SKS 7, 318/ DUN, 515.  Auf einer abstrakteren Überlegungsebene könnte sich dann die Konsequenz ergeben: Innerliches Existieren ist nicht nur einfach ein Akt in der Zeit, sondern so stark mit der Zeit selbst verwoben, dass gilt: innerliches Existieren ist Zeit. Diese fundamentalontologische Deutung lehne ich aber aufgrund ihrer strukturellen Glättung und undifferenzierten Überspitzung ab. Im Zug seiner Fundamentalontologie vermerkt Martin Heidegger in seinem Vortrag Der Begriff der Zeit: „Das Dasein, begriffen in seiner äußersten Seinsmöglichkeit, ist die Zeit selbst, nicht in der Zeit.“ (Ebd., in Gesamtausgabe, Bd. 64, S. 105 – 125, hier S. 118) Um zu verstehen, was Heidegger meint, müsste eine genaue Strukturanalyse der Zeitlichkeit in Sein und Zeit vorgenommen werden bezüglich der Stichworte: „Sorge“, „ekstatische Einheit“ und „Wiederholung“. – Zur Diskussion einer möglichen Fundamentalontologie Climacus’: vgl. Eriksen, „Kierkegaard’s Cobcept [sic.] of Motion“, besonders S. 299 ff.  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ableiten, wenn er an vielen Stellen von existieren spricht, denn mit dem Gebrauch des Verbs ist klar, dass eine Tätigkeit (Vollzug) benannt ist. Dass das Existieren aber nicht einfach als eine permanente Tätigkeit (aktiver Prozess, Vollzug) übersetzt werden kann, sondern der Handlungsbegriff für eine adäquate Beschreibung benötigt wird, zeigt sich daran, dass es im Existieren um das Verhältnis zum Existieren geht. Es geht darum, dass das Individuum ein Verhältnis zu sich selbst eingeht (Sich-zu-sich-Verhalten). Es steht in einer Relation zu sich selbst, in der es sich sowohl intentional auf sich selbst richtet (Interesse), aber im Eingehen des intentionalen Verhältnisses kein unmittelbares Beisich-Sein realisieren kann. Indem dies aber angestrebt wird, ist das Sich-zu-sichVerhalten eine bewusste Aktivität permanenter und fokussierter Intentionalität. Deshalb spricht Climacus auch von den Aufgaben der Gleichzeitigkeit (Vergegenwärtigung), der Zeit und des Lebens.³⁸⁷ Die Verwobenheit von Handlung und Tätigkeit lässt sich bei Climacus dann wie folgt fassen: Die Aufgabe (Handlung) des Existierenden ist das Existieren (Tätigkeit), wobei sich die Aufgabe (Handlung) und das Existieren (Tätigkeit) gegenseitig in dem Maß bedingen, wie sie ineinander fallen. Wird vor diesem Hintergrund die in Kapitel 2.2.3.2 geführte Diskussion zur Ganzheit, der Vergegenwärtigung, dem Sich-offen-Halten (etc.) in den Blick genommen, so ist Innerlichkeit als handelnde Tätigkeit existenziell wie folgt zu bestimmen: Innerlichkeit ist ein Sich-zu-sich-Verhalten als Selbst-Bewusstsein im bewussten Vollzug der handelnden Tätigkeit; dies zu sein und zu bleiben und dadurch eine offene Einheit eigener Persönlichkeit zu stiften im aktualen Hineinentwickeln in die Zukunft und stetiger Erinnerung an das Vergangene. Die Handlungsdimension ist hierbei das (intentionale) Stiften der (in der Vergegenwärtigung vollzogenen) Einheit eigener Persönlichkeit. Die Handlung besteht im konkreten Sich-zu-sich-Verhalten. Die Tätigkeitsdimension umfasst hingegen das Sich-offen-Halten und damit die beizubehaltende Haltung, sich weiter zu differenzieren in seiner Persönlichkeit. Erst in der Verbindung von Handlung und Tätigkeit, von Einheit der Persönlichkeit und dem Sich-offenHalten gegenüber der eigenen Persönlichkeit wird die existenzielle Kontinuität des Selbst-Bewusstseins ermöglicht und ist das Existieren als Tätigkeit voll bestimmt. Im Folgenden soll das Problem der Handlung vor dem Hintergrund des in Kapitel 2.2.2.1 herausgearbeiteten Existenzbegriffs betrachtet werden, d. h. vor dem Hintergrund des Sich-zu-sich-Verhaltens in der Welt. Hierbei sind die Abschnitte 2.2.4.1 und 2.2.4.2 eine Diskussion dessen, wie das Verhältnis von Handlung und Sich-zu-sich-Verhalten zu bestimmen ist, während die Abschnitte

 Vgl. Kapitel 2.2.3.2.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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2.2.4.3 und 2.2.4.4 dieses Verhältnis vor dem Hintergrund des Weltbezugs beleuchten.

2.2.4.1 Climacus’ Handlungsbegriff Weil das Handeln eng mit dem Denken verbunden ist, verwendet Climacus einige Mühe, um deren Verhältnis deutlich zu machen.³⁸⁸ Letztlich zeichnet sich dabei

 Dazu sind drei wichtige Stellen anzuführen: 1. „Wenn ich etwas denke, was ich tun will, aber noch nicht getan habe, so ist das Gedachte, wie genau es auch sei, wenn man es auch noch so sehr eine gedachte Wirklichkeit nennen kann, eine Möglichkeit.“ (SKS 7, 292 / DUN, 483) Etwas zu denken heißt hier, eine Wirklichkeit in ihrer Abstraktion zu erfassen, als Möglichkeit. Weil Climacus hierbei objektives Denken (nicht konkretes Denkens) in den Blick nimmt, ist die „gedachte Wirklichkeit“ das Stehenbleiben vor der existenziellen Verwirklichung der Möglichkeit, indem das Individuum vor einem antizipierten Ergebnis verharrt. Handeln bedeutet nicht, sich etwas auszudenken („gedachte Wirklichkeit“). 2. „Soll es überhaupt einen Unterschied zwischen Denken und Handeln geben, dann läßt sich dieser nur dadurch festhalten, daß dem Denken die Möglichkeit, die Interesselosigkeit, die Objektivität zugewiesen werden – der Handlung die Subjektivität.“ (SKS 7, 309 f. / DUN, 504) Der Unterscheid zwischen Denken und Handeln wird hier am Charakteristikum des Interesses markiert. Hierbei ist daran zu erinnern, dass Climacus betont, dass im Existieren als Inter-esse eine theoretische Trennung von Denken und Sein vorliegt. Wenn das Individuum objektiv über das Existieren nachdenkt (worum es Climacus in diesem Zitat geht), dann befindet es sich im Abstand zum konkreten Existieren. (In diesem Sinne ist auch das Zitat 1 als eine Verbalisierung des Im-Abstand-Bleibens zum Existieren zu betrachten.). Demgegenüber ist die Handlung durch Subjektivität, durch Interesse und Sich-zu-sich-Verhalten charakterisiert. Dies bedeutet aber, dass Handlung keine Tätigkeit im Äußeren bezeichnet, sondern eine Bewusstseinshandlung. So betont Climacus, dass im „eminenten Sinne“ zu handeln bedeutet, „nicht in Richtung auf die Tat, sondern in Richtung auf die Innerlichkeit“ zu handeln. (SKS 7, 277/ DUN, 463) Damit wird das Zitat 3 bedeutend. 3. „Zwischen der gedachten und der wirklichen Handlung, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ist vielleicht inhaltlich gar kein Unterschied, in der Form ist er immer wesentlich. Die Wirklichkeit ist die Interessiertheit, um darin zu existieren.“ (SKS 7, 311/ DUN, 507) Hier betont Climacus, dass zwischen einer gedachten und einer wirklichen Handlung der Unterschied darin besteht, dass der Existierende ein Interesse am Existieren hat. Das wurde oben nicht nur als Wirklichkeit, sondern als Vollzug herausgestellt. Handeln ist demnach der Vollzug innerlichen Existierens (des Interesses) bzw. die Existenzwirklichkeit, die ein vollständiges Involviertsein (Interesse; Intensität; Innigkeit) in das, was getan wird, impliziert (vgl. Kapitel 2.2.2). In diesem Sinne und hierbei die Zitate (1) und (3) zusammenführend, schreibt Climacus: „Überhaupt ist das Verhältnis zwischen der gedachten Handlung und der wirklichen (innerlich verstanden) daran kenntlich, dass während jede weitere Betrachtung und Überlegung in bezug auf die erstere für willkommen angesehen werden muss, sie in bezug auf die letztere als Anfechtung zu betrachten ist …; in dem Augenblick, indem ich (innerlich verstanden) gehandelt habe, ist die Verwandlung die, dass es die Aufgabe ist, mich gegen weitere Überlegungen zu wehren …“ (SKS 7, 311 f. (Anm.) / DUN, 506 f. (Anm.)) Das innerliche Handeln wird hier als strenger Gegensatz zum objektiven Nachdenken bestimmt. Bei jeder innerlichen Handlung ist ein objek-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

folgendes Bild: Handlung ist das durch Interesse an der Existenz gekennzeichnete Denken, also kein Verbleiben in der Abstraktion (objektives Nachdenken über etwas), sondern konkretes Denken, d. h. sich zu sich selbst als faktisches Lebewesen zu verhalten. Indem dies durch den Handlungsbegriff auf Vollzug gesetzt wird, ist dieses konkrete Denken als Bewusstseinbewegung zu verstehen, womit das Denken genau dann Handlung ist, wenn mit Handlung ein konkreter Vollzug der Reflexion gemeint ist. Dass Climacus solch eine reflexionsphänomenologische Bestimmung von Handlung im Blick hat, kann mit der wohl wichtigsten Stelle zur Bestimmung des Handlungsbegriffs konkretisiert werden. Er schreibt: Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern eine Innerlichkeit, in welcher das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Dies ist Handlung.³⁸⁹

1. Handelndes Existieren (Innerlichkeit) heißt, ein in Erfahrung zu bringendes Verhältnis zum Inhalt des Denkens einzugehen. Die Handlung ist bei Climacus eben eine existenzielle Haltung, die das Individuum eingeht. Der Inhalt des Denkens, zu dem es sich in dieser Haltung verhält, ist das Individuum selbst.³⁹⁰ Die Handlung ist Haltung als ein Vollzug eines verwirklichten Bezugs (beständiges Sich-zu-sich-Verhalten; Bewusstseinsbewegung). 2. Handlung besteht darin, dass sich mit dem Gedachten identifiziert wird, um darin zu existieren. ³⁹¹ Die Identifikation bezeichnet zunächst die Bewertung des Inhalts des Gedachten im Sinne des akzeptierenden Für-sich-Annehmens. Dieses Annehmen ist – gut begründbar – möglich, wenn sich um den Gegenstand, auf den hin gedacht wird, gesorgt wird. Die Identifikation aus Sorge zieht sogleich den Aspekt nach sich, sich dem zu widmen, womit sich identifiziert wird.³⁹² Identifikation bedeutet: zum Gegenstand strebende Anteilnahme und Verbundenheit (was ein elementarer Punkt für das religiöse Existieren ist). Identifikation drückt

tives Nachdenken („Überlegen“) eine Verzögerung des Handelns. Handlung heißt, das innerliche Existieren in Kontinuität zu vollziehen.  SKS 7, 310/ DUN, 505.  Man müsste die zitierte Stelle eigentlich im Sinne des ethischen Existierens auslegen. Zumindest ist sie von Climacus auf das Ethische hin geschrieben. Zur Deutung dieser Stelle bezüglich des Ethischen: W. Janke, Existenzphilosophie, 39 f. Da es im vorliegenden Kapitel um die anthropologische und phänomenologische Betrachtung der Existenz-Struktur ohne normativen Betrachtungswinkel geht, ist die vorliegende Deutung sicher ungewöhnlich, aber nicht minder durch die vorherigen Ableitungen begründbar.  Vgl. dazu: Lincoln, Äußerung, S. 112 f.  Vgl. auch Harry G. Frankfurt, „Über die Bedeutsamkeit des Sich-Sorgens“, in ders., Freiheit und Selbstbewusstsein, S. 98 – 115, hier S. 101.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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also Interesse aus und somit das Verhältnis zum Gegenstand des Interesses (der Inhalt des Denkens) und die Intentionalität³⁹³ und damit die Handlungsabsicht. Das Darin-Existieren bezeichnet die Verwirklichung der Absicht, des Interesses und zwar als Erfahrungsgehalt des Involviertseins (Leidenschaft; Intensität; Innigkeit), was bedeutet, dass sich dem Inhalt des Denkens tatsächlich angenommen wird. Das Darin-Existieren ist die Tätigkeit der Identifikation (das leidenschaftlichkonkrete Verhältnis zum Gegenstand des Interesses; die Bewusstwerdung des Reflexionsvollzugs). Indem Handlung dann sowohl Absicht als auch Verwirklichung bedeutet, ist sie handlungstheoretisch als Einheit beider zu verstehen, indem sie sowohl Intention als auch Vollzug vereint und somit – unter den anfangs aufgeführten Kategorien – als handelnde Tätigkeit zu bestimmen ist.Wird dies auf das innerliche Existieren als Bewusstseinshandlung übertragen, ist Handlung die Einheit des Vollzugs von Denken und Leidenschaft (Interesse) und somit als existenzdialektische Verwebung von Reflexion und Erfahrung, Denken und Sein zu verstehen. 3. Als Einheit von Denken und Leidenschaft ist das Darin-Existieren als eine Form des Durchdrungenseins (Haltung; Identifikation; Überzeugung) zu beschreiben.³⁹⁴ (Das Durchdrungensein ist auch eine grundlegende existenzielle Bestimmung des religiösen Existierens). Durchdrungen von Leidenschaft für einen Gegenstand des Interesses, wird das Denken durch die Leidenschaft getragen; ebenso, wie die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Interesses die Leidenschaft beeinflusst (vergleiche den oben erörterten Aspekt der Bewertung). Dieses dialektische Verhältnis von Denken und Leidenschaft kennzeichnet das Darin-Existieren als eine Form des Erlebens bei gleichzeitiger reflexiver Bezogenheit; als erlebnisgebundenes Denken und reflexives Erleben.³⁹⁵ Demnach bezeichnet das Darin-Existieren sowohl ein Affiziertsein von etwas, das das Individuum angeht (Interesse), als auch ein Denken und Bedenken dessen, wie mit dem, was das Individuum angeht, konkret umgegangen wird; es bezeichnet Erleben und den Umgang mit dem Erleben. Die systematische Grundlage dessen ist das Inter-esse, die theoretische Basis des existenzdialektischen Aufeinanderbezogenseins von Denken und Sein.³⁹⁶ So ist es für den Handlungsbegriff entscheidend, wenn Climacus vermerkt: „[I]ch

 Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Bei Hegel wird solche Durchdringung des Seins und Tuns – was für die climacische Terminologie nicht uninteressant ist – mit dem Begriff des Interesses abgedeckt, das Gründe für das eigene Handeln gibt, also verhältnissetzend gegenüber dem Gegenstand des Interesses ist. Dazu: Gerhardt, „Interesse II.“, in HWPh, Bd. 4, S. 485 – 494, hier S. 491.  Vergleiche auch die Ausführungen zum Erleben in Kapitel 2.2.5.1.  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

muss existieren, um denken zu können, und ich muss denken können, um darin zu existieren.“³⁹⁷ Konkreter: Der Mensch muss da sein, um denken zu können und er muss denken können, um darin zu existieren. Einerseits geht dem Denken anthropologisch das Sein voraus, andererseits geht existenziell dem Sein das leidenschaftliche Denken voraus. Auf die existenzielle Dimension kommt es in Bezug auf das Handeln an. Es geht um Übersetzung. Das, was Handlung dann kennzeichnet, ist die dialektische Vereinigung der theoretisch sich unterscheidenden Seiten des Menschen.³⁹⁸ Climacus geht es also im existenzdialektischen Sinne darum, das zu leben, was gedacht wird und das zu denken, was gelebt wird, also einerseits das Denken als handlungsleitende Instanz anzuerkennen (vom Denken zum Sein zu gelangen) und andererseits, aus dem Handeln Maßstäbe des Denkens zu gewinnen (vom Sein zum Denken zu gelangen; weil „das Gedachte wirklich durch dessen Verwirklichung“ gedacht wird³⁹⁹). Indem Handlung also bedeutet, dass sowohl das Denken Einfluss auf das Sein (Realisierung) als auch das Sein Einfluss auf das Denken hat, ist Handlung sowohl transzendental als auch pragmatistisch aufzufassen. Und das bedeutet: Handlungswirklichkeit ist immer als (je eigene) Lebenswirklichkeit zu verstehen,⁴⁰⁰ die eine Wechselbeziehung und -wirkung von Denken und Konkretion darstellt. (Eben dies entspricht nicht nur dem Existenzbegriff, sondern auch dem konkreten Denken.)⁴⁰¹ Handlung besteht dann nicht nur darin, Existenzwirklichkeit (die existenzielle Haltung des Sich-zu-sich-Verhaltens als innerlichen Vollzug) zu praktizieren (vom Denken zum Sein zu gelangen), sondern auch, sich durch den Vollzug dieser Haltung existenzielle Wirklichkeit bewusst zu werden (vom Sein zum Denken zu gelangen). Im Vollzug der Existenz-Wirklichkeit wird sich das Individuum selbst zur Wirklichkeit (es wird sich konkret). Das ist nicht nur das Geschehen der Bewusstseinsbewegung, sondern dies wurde in Kapitel 2.2.2.2 als Innerlichkeit herausgestellt, denn: „Die Wirklichkeit ist die Innerlichkeit, die unendlich am

 SKS 7, 301 / DUN, 494.  Handlung in diesem Sinne wird von Heiko Schulz als Aneignung herausgestellt (was von mir in Kapitel 2.1.4 anhand der Ausführungen zum Verhältnis von Konkretion und Abstraktion, Praxis und Theorie in ähnlicher Weise bestimmt wurde): vgl. ders., „Subjektivität und Objektivität dogmatischer Reflexion bei Søren Kierkegaard“, besonders S. 72.  SKS 7, 156/ DUN, 306.  Vgl. Hermann Deuser, „Bekenntnis und Handlung – nach Søren Kierkegaard“, in ders., Was ist Wahrheit anderes als das Leben für eine Idee?, S. 25 – 39, hier S. 29.Vorbild dieser Auffassung ist für Climacus das „griechische Prinzip“ des „griechischen Philosophen“ (Sokrates), d. h. „existierend ausdrücken, existierend sich in das vertiefen woll[en], was er seine Lebensanschauung nenn[t] …“ (SKS 7, 322 / DUN, 520)  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Existieren interessiert ist, die das … Individuum selbst ist.“⁴⁰² Dieses Sich-wirklich‐Werden ist konvergent zum Sich-Vergegenwärtigen zu verstehen;⁴⁰³ hier und jetzt da zu sein, innerlich zu sein; sich als Persönlichkeit konkret zu erfassen. Zusammenfassend lassen sich wesentlich zwei grundlegende Merkmale des Handlungsbegriffs benennen: Handlung ist einerseits eine fortlaufend dialektischreziproke Bewegung vom Denken zum Sein (die existenzdialektische Einheit von Absicht und Verwirklichung). Zum zweiten ist Handlung das eigene Involviertsein (Darin-Existieren; Durchdrungensein) in das, was getan wird. Diese zwei Bestimmungen zusammengenommen bedeuten: der im Sein freigelegte Maßstab des Denkens ist gleichfalls der im Denken freigelegte Maßstab des Seins: das SelbstVerhältnis. Sofern es das Vordringen zum Selbst-Verhältnis ist, was die existenzielle Aufgabe ausmacht, geht es mit dem climacischen Handlungsbegriff um die – vorher schon in Kapitel 2.2.3.2 ausführlich herausgestellte – Identifikation des Individuums mit sich selbst, eben um die aktive Bewusstseinsbewegung des Sich-zu-sich-Verhaltens, in der sich das Individuum selbst bewusst wird, was als systematische Einheit der Bewegung (zwischen Denken und Sein) und des Involviertseins verstanden werden muss. Climacus drückt diese komplexe Struktur auch so aus: Handlung besteht darin, dass die „eigene Existenz durch einen selbst handelnd durch[ge]arbeitet“ wird.⁴⁰⁴ Handlung ist das Durchdringen und das Entdecken und die Vergegenwärtigung des eigenen Existierens im Denken und Tun („Geistes-Entwicklung ist Selbst-Wirksamkeit …“⁴⁰⁵) und somit nichts anderes als das Werden zu dem, der man ist. So ist das Selbstsein Grund und Bestimmung der Handlung. Handlung ist also dann wesentliche Handlung, wenn das Individuum durch sie zu sich selbst gelangt, sie also gerade Ausdruck dessen ist, der man ist. Und das ist genau dann der Fall, wenn existenziell die Realisierung mit der Identifikation korreliert, also der Selbst-Bezug (Verhältnis; Denken) durch den Selbst-Vollzug (Erleben; Sein) und gleichfalls der Vollzug durch den Bezug bestimmt wird. Somit ist Handlung bei Climacus das Ernstnehmen der eigenen Person als Gegenstand der Realisierung, wodurch dem Handlungsbegriff die systematisch vorgelagerte Überzeugung vorausgeht, dass Handlung nur dann Handlung ist, wenn sich das Individuum mit dem, was es tut, identifiziert. Es geht um Handlung als Überzeugungsvollzug, in dem sich das Individuum zu sich selbst bekennt (denn ein grundlegendes Charakteristikum von Überzeugung ist die Identifikation mit dem Getanen).    

SKS 7, 296/ DUN, 488 (Hervorhebung d.Vf.). Vgl. Kapitel 2.2.3. SKS 7, 156/ DUN, 306. SKS 7, 316/ DUN, 512.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.2.4.2 Entscheidung und Wille In einer NB-Aufzeichnung vermerkt Kierkegaard: „Von einem aber kann man wahrlich sagen, dass die M[en]schen heute davon keine Vorstellung haben: Handeln und Denken und denkend konsequent bis zum Äußersten Handeln.“⁴⁰⁶ Bis zum „Äußersten Handeln“ bedeutet das Gedachte konsequent zu verwirklichen und über die Verwirklichung sich selbst zu erfassen; es geht um den innerlichen Existenzvollzug wie auch um das Sich-Bewusstwerden in der Selbst-Verwirklichung-und-Vergegenwärtigung. Der existenzielle Modus solch konsequenten, entschiedenen Handelns ist die Leidenschaft.⁴⁰⁷ Sie bezeichnet gewissermaßen das Entschieden-Bleiben oder wie Climacus (über das Ethische) sagt: „[E]ntschlossen das Beschlossene auszuführen …“⁴⁰⁸ Was Climacus mit Leidenschaft und Entschiedenheit intendiert, ist, sich auf eine Lebensführung zu verpflichten.⁴⁰⁹ Und zwar Verpflichtung aus (Selbst‐) Sorge, denn – so Harry G. Frankfurt: „Wenn wir uns … um eine Sache sorgen, wollen wir sie nicht einfach nur. Wir wollen sie weiterhin wollen …“⁴¹⁰ Leidenschaftliches, kontinuierliches Handeln ist bei Climacus die konsequente Reaktion auf die Sorge um sich selbst; es ist die Umsetzung des Ernstnehmens⁴¹¹ der eigenen Person. Genau darum geht es, wenn Climacus über das Entscheiden schreibt: „Sobald man die Subjektivität fortnimmt und von der Subjektivität die Leidenschaft und von der Leidenschaft das … Interesse, dann gibt es überhaupt keine Entscheidung …“⁴¹² Entscheidung hängt vom Bezugnehmen der Person zu sich (Sich-zu-

 SKS 20, 30, NB:21 / DSKE 4, 30.  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  SKS 7, 450/ DUN, 688. Man beachte hierfür auch die Anmerkungen von Gerichtsrat Wilhelm zum „Wählen“ in Entweder – Oder, in denen er vermerkt, dass es beim Wählen (Entscheiden) auf „die Energie, den Ernst und das Pathos“, also auf die Leidenschaft ankomme (SKS 3, 164 / DEO, 716).  Beispielhaft an folgender Stelle: „Nehmen wir eine religiöse Handlung. An Gott glauben, heißt das, darüber nachdenken, wie herrlich es sein müsse, zu glauben, darüber nachdenken, welchen Frieden und welche Geborgenheit der Glaube schenken könnte? Keineswegs. Selbst das Wünschen, bei dem doch das Interesse, das Interesse des Subjekts weit deutlicher ist, ist kein Glauben, kein Handeln. Das Verhältnis des Individuums zu der gedachten Handlung ist doch immer noch nur eine Möglichkeit, von der es sich zurückziehen kann.“ (SKS 7, 311/ DUN, 506) Und wenn er an anderer Stelle vermerkt: „Glaube ist ja die höchste Leidenschaft der Subjektivität“ (SKS 7, 124 / DUN, 264), bedeutet Glauben eine konsequent zu vollziehende religiöse Praxis, ein innerlicher Vollzug, der an Gott festhält: vgl. Kapitel 2.3.2.4.  Frankfurt, „Sich selbst ernst nehmen“, S. 34. Vgl. auch ders., „Vom Sorgen oder: Woran uns liegt“, in ders., Freiheit und Selbstbewusstsein, S. 201– 231, besonders 209 f.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  SKS 7, 39/ DUN, 160 f.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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sich-Verhalten) ab. Entscheidung ist also diejenige Existenz-Kategorie, „die das Verhältnis zur Wirklichkeit, zur «Existenz», angibt“⁴¹³ und somit davon bedingt ist, dass Interesse da ist und damit ein Sich-zu-sich-Verhalten nicht nur intendiert, sondern auch vollzogen werden will (Leidenschaft). Entscheidung ist demnach grundsätzlich ein „Zur-Wirkung-gelangen-Lassen“⁴¹⁴ im strikt existenziellen Sinne, in dem es dem Individuum um sich selbst als Person geht; Entscheidung also systematisch gleichwohl ein Entscheiden-für-etwas wie ein Sich-Entscheiden darstellt,⁴¹⁵ dass also das Gewählte der Wählende selbst ist (womit Entscheidung bei Climacus unzweideutig ein Identitätsprinzip benennt: die Aufhebung der Spaltung zwischen dem, der man ist, und dem, der man sein will, d. h. die Aufhebung der Möglichkeit(en), anders sein zu wollen⁴¹⁶). Die Leidenschaft ist dann sowohl Motivation (Fokussierung auf die eigene Person aus Sorge) als auch Durchführung der Entschiedenheit (konsequentes Handeln; Innerlichkeit), wobei dies auch hier – wie beim Handeln schon herausgestellt – als dialektisch-reziproke Bewegung verstanden werden muss: die Motivation leitet zur Durchführung, die Durchführung leitet zur Motivation (Handlung ist immer die dialektische Verkopplung von Denken und Sein, Absicht und Verwirklichung) und in dieser Verwebung wird Entscheidung zur Entschiedenheit, zu einer permanenten Haltung,⁴¹⁷ in der das Individuum aktiv darum bemüht ist, sich selbst nicht zu vernachlässigen oder aus dem Blick zu verlieren.⁴¹⁸ Dementsprechend konkretisiert Climacus die existenzielle Entscheidung wie folgt: „Durch Entscheidung in der Existenz ist ein Existierender näher bestimmt zu dem geworden, was er ist [det han er]; weist er sie von sich ab, dann hat nicht er etwas verloren, dann hat er nicht sich selbst und hat etwas verloren, dann hat er vielmehr sich selbst verloren und muss von vorn anfangen.“⁴¹⁹ Hier fallen mehrere Sachzusammenhänge ineinander: 1. Climacus betont, dass ohne Entscheidung das Selbstsein verloren geht und „von vorne angefangen“ werden muss. Indem Entscheidung in diesem Sinne als permanentes Entschiedensein akzentuiert wird, begibt sich das Individuum in die

 Claus von Bormann (unter Bezug auf Kierkegaard), „Entscheidung“, in HWPh, Bd. 2, S. 541– 544, hier S. 541.  Zu dieser grundsätzlichen Bestimmung von Entscheidung: Eilert Herms, „Entscheidung“, in TRE, Bd. 9, S. 690 – 705, hier S. 690.  Zu dieser systematischen Unterscheidung: Herms, „Entscheidung“, in TRE, Bd. 9, S. 691.  Vgl. dazu Kapitel 2.2.3.2.  Die Prozesshaftigkeit aller Entscheidung wird auch von Klaus Schäfer betont: ders., Hermeneutische Ontologie, S. 202.  Vergleiche die Ausführungen zur Identifikation in Kapitel 2.2.4.1.  SKS 7, 443/ DUN, 679.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

permanente Krisis⁴²⁰ des Sich-kontingent-Seins.⁴²¹ Denn Entschiedensein heißt auch, sich permanent zu überwinden, die Entschiedenheit beizubehalten; sich immer wieder von neuem, iterativ für die Entschiedenheit zu entscheiden. Hierbei ist von einer doppelstufigen, in sich getrennten Entscheidung zu sprechen,⁴²² deren Ziel letztlich die kontinuierliche Entschiedenheit als einheitliche Existenzweise ist. 2. In der Entscheidung ist das Individuum „näher bestimmt“. Es wird sich in der Entscheidung selbst konkret (Sich-wirklich-Werden des Individuums⁴²³).⁴²⁴ Das impliziert bei Climacus zugleich, dass Entscheidung die Steigerung und Transformation des Bewusstseins bedeutet, durch die der Blick einem selbst gegenüber verändert wird. Entscheidung heißt Veränderung, um Kontinuität zu stiften. „[I]n dem Augenblick, indem ich (innerlich verstanden) gehandelt habe, ist die Verwandlung die, dass es die Aufgabe ist, mich gegen weitere Überlegungen zu wehren …“⁴²⁵ Das Individuum verhält sich in Kontinuität konkret zu sich (es denkt nicht nur darüber nach und distanziert sich so von sich), weshalb es durch die Entscheidung „dasselbe und doch verändert und doch dasselbe“ ist.⁴²⁶ Das Individuum vollzieht eine Transformation des Schon-Seins (Anders-und-Neusein desselben⁴²⁷), indem es ein bewusstes Verhältnis zu sich eingeht. Es gewinnt ein neues Verhältnis zu sich, bleibt aber das, was es ist – es ist verändert und doch dasselbe.⁴²⁸

 An anderer Stelle spricht Climacus explizit vom „Schmerz und [der] Krisis [Smerte og Crise] der Entscheidung“ (SKS 7, 121 / DUN, 260).  Vgl. Kapitel 2.2.3.3.  Zu dieser doppelstufigen Entscheidung, die in Entweder – Oder als „Wählen der Wahl“ thematisiert wird: Schulz, Eschatologische Identität, S. 258 ff.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Gerichtsrat Wilhelm formuliert diesen Sachverhalt einmal so: „Die Wahl selbst ist entscheidend für den Inhalt der Persönlichkeit; durch die Wahl sinkt sie in das Gewählte hinab, und wenn sie nicht wählt, welkt sie in Auszehrung dahin.“ (SKS 3, 160/ DEO, 711) Das, was in der Wahl (= Entscheidung) geschieht, ist das,was bei Climacus mit dem Begriff des Konkreten abgedeckt ist: „In das Gewählte hinabzusinken“ bedeutet, dass der Gegenstand der Wahl mit dem Wählenden übereinstimmt; dass sich das Individuum bestimmt zu sich selbst verhält und sich darin als Persönlichkeit annimmt. Dies gilt für die obige UN-Stelle in gleichem Maß.  SKS 7, 311 f. (Anm.) / DUN, 506 f. (Anm.).  SKS 7, 261/ DUN, 443.  Vgl. Kapitel 2.1.4.  Die Bemerkung kann auch auf das Werden übertragen werden. Das Existieren beschreibt dann ein Zwischensein zwischen Beständigkeit und Veränderung. Nimmt man eine externe Perspektive zum Existieren als Werden ein, so wird das Existieren als das immer gleiche Werden, d. h. in seiner objektiven „Flussform“, seiner beständigen Bewegung, seiner einheitlichen Gleichmäßigkeit betrachtet. Es ist beständig dasselbe. Betrachtet man hingegen das Existieren aus einer

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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3. Schließlich wird gesagt, dass das Selbstsein kein Ding ist, kein Etwas. Entscheidung ist das Eingehen eines Verhältnisses und das dadurch generierte Selbstsein ist ein Sich-Verhalten, eine Haltung im Vollzug. Existenzielle Entscheidung ist eine existenzielle Handlung und somit Innerlichkeit;⁴²⁹ ein in Erfahrung (in Leidenschaft) zu bringender Selbst-Vollzug. Indem dabei eben nicht im Zweck (Erreichen eines Ziels), sondern im Vollzug einer ständigen Bewegung das wirkliche (innerliche) Existieren liegt, ist es durch das Leidenschaftsprimat grundsätzlich als eine voluntative Bewegung bestimmt. Besonders zu beachten ist eine NB-Bemerkung Kierkegaards: „[I]ch, der ich nur einen einzigen Gedanken liebe: was doch ein M[en]sch sein kann, wenn er es [sein] will …“⁴³⁰ Dieses Zitat steht im Kontext einer Abweisung des eigenen Gelenktwerdens im Leben durch äußere Einflüsse. Es steht damit im Kontext eines unhintergehbaren Autonomieanspruchs an das Individuum bei Kierkegaard. Und es wird deutlich, dass der Wille die Bedingung des Seinkönnens (der existenziellen Möglichkeit der

dem Werden immanenten Perspektive, dann ist das Existieren eine stetige Veränderung, weil es keinen Stillstand gibt. Nicht umsonst spricht Climacus im „Zwischenspiel“ von der Wirklichkeit als der „Veränderung des Werdens“ (SKS 4, 275/ DPB, 89 (Hervorhebung d.Vf.)). Das, was im Werden, im bewussten innerlichen Existieren verändert wird, ist das Individuum selbst. Dieser Aspekt der Veränderung im Vollzug wird in der vorliegenden Untersuchung immer wieder Anknüpfungspunkte finden.  Damit ist auch zu verstehen, welche Handlungen (Entscheidungen) Climacus ablehnt: „Die Entscheidung im Äußeren ist ein Scherz, aber je indolenter ein Mensch lebt, desto mehr wird das Äußere die einzige Entscheidung, die er kennt.Von der ewigen Entscheidung des Individuums mit sich selbst hat man keine Vorstellung und deshalb glaubt man, erst wenn eine Entscheidung auf gestempeltem Papier stehe, sei etwas entschieden, eher nicht.“ (SKS 7, 312 (Anm.) / DUN, 507 (Anm.) (Hervorhebung d.Vf.)) Dass die Entscheidung eine ewige sein soll, kann zwar erst anhand des religiösen Existierens erklärt werden, was damit aber gemeint ist, ist die konsequente Beständigkeit der Entscheidung, die Entschiedenheit. Nicht auf das äußere Zurschaustellen der eigene Entschiedenheit, sondern auf die eigene Haltung kommt es an: „Die Menge der Menschen lebt umgekehrt; sie sind eifrig damit beschäftigt, etwas zu sein, wenn jemand sie ansieht; sie sind so weit möglich in ihren eigenen Augen etwas, sobald andre sie ansehen, aber in ihrem Innersten, wo die absolute Forderung sie ansieht, da haben sie keinen Geschmack für die Akzentuierung des eigenen Ich.“ (SKS 7, 456 f. / DUN, 696 f.) Auch diese Stelle steht vor religiösem Hintergrund. Aber der Gegensatz zwischen der Orientierung am Außen und dem inneren Bekenntnis, dass der Mensch mit sich bei allem auf Kontinuität und Konsequenz ausgelegten innerlichen Existieren einzugehen hat, tritt hier deutlich hervor. So betont Climacus eigens: „Der Unmittelbare ist nicht wesentlich ein Existierender …“ (SKS 7, 412 / DUN, 638) Der am Äußeren und von sich selbst wegorientierte Mensch ist kein Existierender im wesentlichen, innerlichen Sinne. Der „Unmittelbare“ ist nur einer, der vor sich hin lebt und eine Lebensform verfolgt, die durch – wie Climacus sich ausdrückt – relative Ziele (vgl. besonders DUN, Zweiter Teil, zweiter Abschnitt, Sectio II, A, § 1) geprägt und eine zweckorientierte Lebensgestaltung bestimmt ist.  SKS 20, 26, NB:14/ DSKE 4, 25.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

eigenen Person) ist.⁴³¹ Das Wollen wird also zu einer grundlegenden Kategorie des Existierens erhoben und zwar so, dass es als ein permanentes aufgefasst wird: „[W]as heißt Willen zu haben, ohne dass man ihn über alle Maßen hat, zumal der, welcher ihn nicht über alle Maßen hat, sondern nur in einem gewissen Grad, ihn gar nicht hat.“⁴³² Auf dem Willen in entschiedener Permanenz liegt das Gewicht des Existierens. Existieren heißt, sich willentlich im (innerlichen) Existieren zu halten. Ein Loskommenkönnen vom Wollen wird dadurch unmöglich gemacht. Der Existierende ist gewissermaßen im Wollen gefangen. Dass dies jedoch kein defizitäres Wollen als „Trotz“ im Sinne der Krankheit zum Tode impliziert, also dass das Individuum darauf beharrt, es selbst sein zu wollen,⁴³³ zeigt der Aspekt des Sich-offen-Haltens.⁴³⁴ Nicht die Verhärtung des Selbstseins, sondern das ständige In-FrageStehen des eigenen Selbstseins macht das Selbst-Verhältnis des Individuums in der Unwissenschaftlichen Nachschrift aus. Es begegnet sich nicht trotzig-beharrend, sondern unvoreingenommen und abwartend. Von systematischer Relevanz ist es, das permanente Wollen auf die Ausführungen zum climacischen Handlungsbegriff zu beziehen. Handlung bedeutet, sich mit dem Gedachten zu identifizieren, um darin zu existieren. ⁴³⁵ Hierin drückt sich – wie oben gesagt – die Einheit von Absicht und Verwirklichung aus. Sowohl die Absicht bezeichnet ein Wollen (ein intentionales Ausgerichtetsein; Interesse) als auch die Verwirklichung bezeichnet ein Wollen (willentlicher Vollzug; Leidenschaft). Die Handlung ist demnach als Einheit von Absicht und ihrer Verwirklichung grundlegend als Wollen zu verstehen. Das Wollen ist hierbei kein der Handlung kausal vorgelagerter motivationaler Aspekt der Handlung, sondern in die Handlung selbst integriert. Es muss sogar gesagt werden: Bei Climacus ist Handlung das Wollen selbst⁴³⁶ und zwar unter der Bedingung, dass das Indivi-

 Dabei scheint das Zitat einen Dezisionismus hervorzuheben, bei dem das Individuum (willkürlich) all das sein kann, wenn es dies nur sein will. (Zur Diskussion eines dezisionistischen Blicks auf Kierkegaard: Wesche, Kierkegaard, S. 138 – 155). Dass mit dieser Stelle keine willkürliche Entschiedenheit gemeint sein kann, wird deutlich, wenn man das Zitat in den Kontext der bisherigen Diskussion zur Unwissenschaftlichen Nachschrift stellt. Dann beschreibt das obige NBZitat im Wesentlichen die Reflexionsstruktur innerlichen Existierens: Das Individuum muss sich willentlich auf sich als immer noch offene Einheit beziehen.  SKS 6, 231/ SLW, 261.  Vgl. SKS 11, 181– 187/ DKT, 99 – 108.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Climacus beschreibt dies wie folgt: „Dass die Wirklichkeit der Handlung so oft mit allerlei Vorstellungen, Vorsätzen, Anläufen zu Entschlüssen, Stimmungsvorspielen und so weiter verwechselt wird, dass überhaupt sehr selten wirklich gehandelt wird, leugne ich nicht; ich nehme im

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duum durch das, was es will, als ganze Person gefordert ist. So zeigt sich folgendes Verhältnis von Wollen und Handlung: Handlung ist Ausdruck des Wollens und das Wollen zeigt sich im Handeln. Dieses Verhältnis von Wollen und Handlung drückt strukturell nichts anders aus als das oben beschriebene Verhältnis von Leidenschaft und Entscheidung: Motivation und Durchführung, Absicht und Verwirklichung sind dialektisch-reziprok verwoben: die Motivation zielt auf konkrete Durchführung und diese auf die Beständigkeit der Motivation (beide sind der Maßstab für das je andere). Da es bei allem Handeln, aller Entscheidung (im climacischen Sinne) um das Sich-zu-sichVerhalten geht, sind Wollen und Handlung, Leidenschaft und Entscheidung der auf Konkretion zielende Vollzug des Sich-zu-sich-Verhaltens, in dem sich das Individuum wirklich wird. Eben dies beschreibt ja die Innerlichkeit, die dann das auf Wollen basierende, leidenschaftlich-entschiedene Handeln des in Erfahrung zu bringenden Sich-zu-sich-Verhaltens ist.

2.2.4.3 Die „Samariter-Szene“ Soll der climacische Handlungsbegriff aus den bisherigen Ausführungen zusammengefasst werden, so ist er kurz gesagt als strukturelle Einheit von Denken, Entscheidung (Entschiedenheit) und Leidenschaft (Wollen, Interesse) zu kennzeichnen.⁴³⁷ Ihre existenzielle Bedeutung liegt darin, dass gehandelt wird. Und eben dies ist der Ernst des Existierens;⁴³⁸ das Ernstnehmen der eigenen Person als Bestimmung und Bedingung eigener Handlungsrealisation.⁴³⁹ Gegenteil an, das habe zur Konfusion viel beigetragen. Man nehme aber eine Handlung sensu eminenti, dann zeigt sich alles deutlich. Das Äußere an Luthers Handlung ist, dass er vor dem Reichstag zu Worms hervortrat; … von dem Augenblick an, da er mit leidenschaftlicher Entscheidung seiner ganzen Subjektivität im Wollen existierte …: da hatte er gehandelt.“ (SKS 7, 311/ DUN, 507 (Hervorhebung d.Vf.)).  Zu dieser Einheit: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 69. Dort betont sie die Einheit von „Denken, Wollen und Beschluß“.  Der Ernst ist Kierkegaards existenzdialektische Existenz-Kategorie, die die existenzielle Wirklichkeit als Lebenswirklichkeit erfasst, in der das der Theorie nach zu vollziehende Sich-zusich-Verhalten als wirkliches Tun begriffen wird. Vigilius Haufniensis schreibt: „Der Ernst … bedeutet die Persönlichkeit selbst, und nur eine ernste Persönlichkeit ist eine wirkliche Persönlichkeit, und nur eine ernste Persönlichkeit kann etwas mit Ernst tun, denn um etwas mit Ernst zu tun, dazu gehört zuerst und zunächst, dass man weiß, was der Gegenstand des Ernstes ist.“ (SKS 4, 449/ DBA, 624) Den „Gegenstand des Ernstes … hat jeder Mensch, denn das ist er selbst …“ (SKS 4, 450/ DBA, 625) Als ernstes Individuum praktiziert das Individuum ein Sich-zu-sich-Verhalten, wird sich gewahr als konkretes Individuum, als wirkliche Persönlichkeit, die das, was sie tut, mit Bestimmtheit tut.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.

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Damit aber tritt ein Problem in den Blick, das sich aus der Bestimmung des Existenzbegriffs,⁴⁴⁰ wie auch aus der dialektisch-reziproken Bewegung von Denken und Sein im Handeln ergibt.⁴⁴¹ Denn sich als Person ernst zu nehmen heißt ja, sich als Person in der Welt ernst zu nehmen. Es kann mit dem climacischen Handlungsbegriff nicht nur ein Korrelat des Sich-zu-sich-Verhaltens gemeint sein, sondern auch ein Handeln in der Welt beziehungsweise ein Handeln in der Welt vor dem Hintergrund des Sich-zu-sich-Verhaltens. Das heißt: Wirkliches Tun, existenzielle Handlung ist nur dann Handlung, wenn ein Selbst-Verhältnis vorliegt; wenn das, was getan wird, von einem selbst bewusst intendiert ist. Und dies muss im Anschluss an den climacischen (bewusstseinsphänomenologischen) Handlungsbegriff auch dann gelten, wenn das, was getan werden will, nicht in der Welt realisiert werden kann.⁴⁴² Dies wird von Climacus sogleich, anhand der neutestamentarischen Parabel vom barmherzigen Samariter, ins Bild gesetzt: Etwas Gutes gedacht zu haben, das man tun will, heißt das, es getan zu haben? Keineswegs, aber es ist auch nicht das Äußere, das den Ausschlag gibt; denn wer keinen Heller besitzt [thi En der ikke eier en Hvid], kann ebenso barmherzig sein, wie einer der ein Königreich verschenkt [bortgiver]. Als der Levit an dem Unglücklichen vorbeizog, der auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem von Räubern überfallen wurde, fiel ihm, als er von dem Unglücklichen noch ein Stück entfernt war, vielleicht ein, wie schön es doch sei, einem Leidenden zu helfen; er dachte vielleicht sogar schon daran, welchen Lohn doch eine solche gute Tat in sich trage, er ritt vielleicht langsamer, weil er in Gedanken versank; aber als er immer näher und näher kam [kom nærmere og nærmere], da zeigten sich die Schwierigkeiten, und er ritt vorüber. Nun ritt er wohl rasch zu, um schnell weg zu kommen, weg von dem Gedanken an die Unsicherheit des Weges, weg von dem Gedanken an die mögliche Nähe der Räuber, und weg von dem Gedanken, wie leicht ihn der Unglückliche mit den Räubern verwechseln könne. Er handelte also nicht. Aber gesetzt, die Reue holte ihn auf dem Weg [paa Veien] ein, gesetzt, er kehrte eilends um, ohne weder die Räuber noch andere Schwierigkeiten zu fürchten, allein [blot] in der Furcht, zu spät zu kommen; gesetzt, er käme zu spät, als der barmherzige Samariter den Leidenden schon in die Herberge gebracht hatte: hätte er dann nicht gehandelt? Gewiß, und doch kam er nicht dazu, im Äußeren zu handeln.⁴⁴³

Von den komplexen Deutungsmöglichkeiten dieses Abschnitts möchte ich auf folgende drei Punkte aufmerksam machen:

 Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Fasst man dies allgmeiner, dass Handlung darin besteht, etwas tun zu wollen, ohne dass es getan werden kann, dann ist dies eine grundlegende systematische Voraussetzung für das religiöse Existieren, in dem es darum geht, eine ewige Erlösung erreichen zu wollen, ohne sie durch sich selbst erreichen zu können: vgl. Kapitel 2.3.  SKS 7, 310 f. / DUN, 505 f.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Nicht erst die Ausführung macht das Gedachte zur Handlung, denn auf das Interesse kommt es an. Hiermit ist also die bisherige Diskussion von Kapitel 2.2.4.1/ 2 aufgegriffen. Sofern Handlung nicht an der Ausführung hängt (vgl. letzte Zeile des Zitats), sondern am Engagement, das man voluntativ aufbringt, scheitert Handlung nicht daran, dass man ein Ziel verfolgt, das unerreichbar bleibt. (Das ist eine elementare Bestimmung für das religiöse Existieren). Das heißt, das Engagement – und zwar als Überzeugungsvollzug – ist selbst die Handlung. Dabei ist das Engagement aber nicht als bloßer Vorsatz zu verstehen, den man haben kann, mit dem man nichts bewirkt. Engagement heißt Entschiedenheit und zwar im Gedachten zu existieren (Darin-Existieren)⁴⁴⁴ und damit das zu leben, was man denkt, und das zu denken, was man lebt, also die eigene Haltung mit der eigenen Weltverwobenheit auszuhandeln.⁴⁴⁵ In Bezug auf die Innerlichkeit liegt der wesentliche Kern von Climacus’ Beispiel darin, dass existenzielles Handeln bedeutet, dass eine Transformation des Bewusstseins des Individuums geschieht; eine Wandlung, die den Blick auf die Welt verändert. Bindet man dies an die vorhergehenden Ausführungen zurück, so ist Handlung die Entschiedenheit als die Veränderung des Blicks des Individuums auf sich selbst; dass es seine Einstellung zu sich und zu seinem zu lebenden Leben ändert und diesen veränderten Blick beibehält. Indem es sich selbst in veränderter, potenzierter Weise begegnet, begegnet es auch der Welt in veränderter Weise. Weil nun zugleich durch Handlung Wirklichkeit generiert wird (was hiernach bedeutet, dass durch den veränderten Blick auf sich selbst und die Welt die Welt in einem neuen Licht erscheint), kann gesagt werden: existenzielle Handlung generiert für den Handelnden nicht nur den Selbst-, sondern auch den Weltbezug (was auch vor dem Hintergrund sozialer Verflechtung zu sehen ist⁴⁴⁶). In der Welt zu handeln bedeutet bei Climacus nicht einfach nur darauf zu achten, was durch das eigene Handeln bewirkt wird, sondern im Wesentlichen umgekehrt darauf zu achten, was mit einem selbst geschieht, wenn man handelt.

 Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Dass dies eine äußerst intensive, kraftzehrende Angelegenheit ist, zeigt sich beispielsweise, wenn man Werner Herzogs Aufzeichnungen zu den Dreharbeiten seines Films „Fitzcarraldo“ anschaut (ders., Die Eroberung des Nutzlosen, Frankfurt am Main 2009). In ihnen wird klar, was es bedeutet, mit Engagement, mit Entschiedenheit das zu leben, was man denkt. Es wird gezeigt, wie tiefe existenzielle Erfahrung vor dem Hintergrund einer schier unlösbaren Aufgabe (ein Dampfschiff über einen Berg zu ziehen) gemacht werden; wie Möglichkeit in Wirklichkeit transformiert wird und was dabei mit dem Individuum geschieht. Aber nicht nur solche emphatischen Handlungsvollzüge, zu denen auch aus Überzeugung geborene, politisch-revolutionäre Handlungen zu zählen wären, können als Beispiel dienen, sondern jede Form von Sich-zur-Handlung-Überwinden, in dem das eigene Überzeugtsein von dem, was getan wird, als Basis des Handelns fungiert.  Vergleiche die Ausführungen zum religiösen Personsein in den Kapiteln 2.3.3.4.2/3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Denn Handlung ist von einem selbst unternommene Aktion (und – wie die Samariter-Szene zeigt – ist auch und gerade das äußere Unterlassen eine Handlung⁴⁴⁷), die auf einen selbst zurückwirkt; dass sich das Individuum immer als ein in der (sozialen, leiblichen, erfahrbaren etc.) Welt verorteten und verwickelten Menschen wahrzunehmen hat, dessen Taten Wirkungen erzeugen. Dies beschreibt die dialektische Bewegung von Denken zum Sein (und umgekehrt); dass sich das Individuum durch konkrete Realisierung sich mit sich selbst konfrontiert sieht (sich konkret wird). Der Fokus, den Climacus in der „Samariter-Szene“ einnimmt, ist die rückbezügliche Wirkung der Taten auf das agierende Individuum (vom Sein zum Denken beziehungsweise vom Handeln zum Bewusstsein zu gelangen).

2.2.4.4 Stellungnahme Indem Handlung als leidenschaftliche Entschiedenheit (Wollen) vor dem Hintergrund des Sich-zu-sich-Verhaltens und somit als Innerlichkeit qualifiziert wird, bedeutet dies nicht, dass das Handeln willkürlich aus dem Individuum selbst heraus geschieht. Dies führt zur Frage der Handlungsbegründung.⁴⁴⁸ Wie das Beispiel des barmherzigen Samariters gezeigt hat, muss der Mensch sich bei Climacus als einen in der Welt verorteten Menschen betrachten, dessen Taten Wirkungen erzeugen. Diese Taten sind wiederum nicht einfach nur ein Selbstgeschehen aus dem Individuum heraus, sondern (auch) sowohl durch die Weltgeschehen motiviert als auch auf die Welt hin orientiert.⁴⁴⁹ Das heißt: Zu handeln und dies auch zu wollen, muss immer auch als ein Akt der Reaktion auf eine aus der Welt begegnende Herausforderung verstanden werden.⁴⁵⁰ Jedoch zeigt sich in der Verlagerung der Handlung in den Wollensvollzug, dass es Climacus darum geht, die Handlung nicht allein auf objektive Wirkungszusammenhänge zu reduzieren oder gar allein von dort her zu begreifen. Daran wird deutlich, dass der Handlungsbegriff bei Climacus einer ist, in dem auch die Offenheit von Begründbarkeit einbezogen ist. Auch das vortheoretische existenzielle Interesse oder die nicht auf letzte Gründe rückführbare, anthropo-ethische Grundfrage nach dem „guten Leben“ (verstanden als konkret von einem selbst zu

 Vgl. auch Harry G. Frankfurt, „Eine angebliche Asymmetrie zwischen Handlungen und Unterlassungen“, in ders., Freiheit und Selbstbestimmung, S. 184– 188.  Obwohl eine Diskussion der Frage nach der Handlungsbegründung eigentlich an der von Climacus intendierten phänomenologischen Absicht der Handlungsbeschreibung vorbeigeht, führt sie aber zu einem interessanten und wichtigen Sachverhalt.  Auch könnte die „Friedhof-Szene“ (Kapitel 2.1.3.4) angeführt werden, wo aus einer existenziellen Krisis-Situation (der Knabe) heraus gehandelt wird.  Vergleiche den herausgearbeiteten Existenzbegriff in Kapitel 2.2.2.1.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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lebende Lebensgestaltung)⁴⁵¹ sind mit in die Begründbarkeit der Handlung einbezogen. Climacus besteht gewissermaßen darauf, dass dem Handeln eine unreduzierbare individuell-motivationale Komponente innewohnt. Indem Climacus die Handlung vor dieser Offenheit (der Begründung) konzipiert, ist es hilfreich, auf einen Aspekt aufmerksam zu machen, den Ernst Tugendhat hervorhebt: Es gibt … einen höchsten Punkt im Überlegen, wo wir die Entscheidung gerade nicht mehr objektiv begründen können, wo vielmehr das, was mein Bestes ist, sich seinerseits erst in einem Wollen konstituiert. … Wäre dem nicht so, könnte sich das Wollen in letzter Instanz noch auf Gründe abstützen, so würde der Wille gewissermaßen seine Schwerkraft, seinen Ernst verlieren, und d. h.: es wäre nicht mehr meine Stellungnahme. … Ich bin gefordert, in der Tat, aber d. h.: ich muß Stellung nehmen.⁴⁵²

Hier wird Climacus’ philosophische Absicht gespiegelt: Wirkliche Entschiedenheit (Wollen), d. h. eine solche, mit der existenzieller Ungewissheit begegnet wird, kann sich nicht auf objektive Gründe stützen.⁴⁵³ Und das gilt trotz der eigenen Geschichte, vor deren Hintergrund eine Entscheidung getroffen wird. Die Entscheidung kann zwar durch vergangene Erfahrung gelenkt werden, bleibt aber immer auf das Ungewisse verwiesen, denn Entscheidung zielt auf die offene, kontingente Zukunft. In dieser ambivalenten Situation jeder Entscheidungssituation ist die Offenheit das dominierende Element, weil ohne die Offenheit und Ungewissheit eine Entscheidung keine wirkliche Entscheidung, kein Akt des unbedingten Wollens wäre (was bei Climacus auch entscheidend für die Bestimmung des Glaubens und den Begriff des Wagens ist⁴⁵⁴). Sich mit (objektivem) Rückhalt zu entscheiden wäre – metaphorisch gesprochen – ein Weitergehen eines bekannten Weges, gegenüber dem keine absolute Stellungnahme gefordert ist. Einer absoluten Stellungnahme aber bedarf es aus existenziellem Kontext heraus, um der Ungewissheit (also der Möglichkeit und ihrer impliziten Kontin-

 Zur seit Platon bestehenden, anthropo-ethischen Grundfrage des „guten Lebens“ und der durch sie gestellten Aufforderung, diese Frage immer wieder neu zu stellen und neue, nicht letztgültige Antworten suchen zu müssen: Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, besonders S. 40 – 54.  Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 238.  Indem sich der Wille bei Tugendhat und Climacus – unter Voraussetzung der gerade genannten Fragestellung – nicht mehr auf Gründe stützt, tritt die Möglichkeit von willkürlichem Handeln in den Vordergrund. Tugendhat selbst geht auf dieses Problem der Wechselwirkung zwischen Gründen und unbegründbarem Willen ein: vgl. ders., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 241 f. Auch bei Climacus schwebt der Wille nicht frei, sondern lässt sich auch vor normativen Fragestellungen diskutieren, wie beispielsweise der von Climacus hervorgehobenen Pflicht gegenüber dem normativen Gebot (der „Forderung“) Gottes zu leben (etc.).  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

genz) auch begegnen zu können und sich dadurch in die Ungewissheit hinein eine Kontinuität als Person zu geben und eine kohärente Persönlichkeit zu stiften. Auf die anthropo-ethische Grundsatzfrage angewendet heißt das: Der Wille und die in ihm zum Ausdruck kommende Entschiedenheit sind es, die die Handlung tragen und zwar dann, wenn die Frage danach besteht, was mit dem eigenen Leben angefangen werden will, wenn also die eigene Person ernst genommen, ihr mit (Selbst‐)Sorge begegnet wird. Die aus dieser Krisis-Frage⁴⁵⁵ heraus entstehende Fokussierung des Individuums auf sein Leben lässt das Individuum in ein direktes Verhältnis zu sich und dem, was es tun muss, stellen. Es muss gegenüber sich selbst Stellung nehmen; muss also sich und das, was es tut, Bewertungen unterziehen. Weil diese bewertende Stellungnahme nur dann existenzielles Gewicht hat, wenn sie in eine permanente Haltung übergeht, liegt gerade im Wollen (Entschiedenheit) selbst der Kern der Handlung (Innerlichkeit). Konkreter noch: Es ist die Leidenschaft (der motivationale Grund aller entschiedenen Durchführung von Handlung⁴⁵⁶), die die Stellungnahme des Individuums zu dem, was es denkt und tut, ausdrückt. Denn etwas mit Leidenschaft zu begegnen bedeutet, sich so dazu zu stellen, dass es einen etwas angeht (was im existenziellen Sinne bedeutet, dass es die ganze Person angeht). Da Haltung nun aber dadurch definiert wurde, dass sie das Sich-offen-Halten ausdrückt,⁴⁵⁷ ist die Entschiedenheit, in der die Haltung, die Stellungnahme (Leidenschaft) zum Ausdruck kommt, immer im Widerspruch zwischen Bestimmtheit und Offenheit zu verstehen (dies entspricht strukturell der zwischen Bestimmtheit/Vergangenheit und Offenheit/Zukunft oszillierenden, existenziellen Möglichkeit eigenen Personseins⁴⁵⁸). In der Entschiedenheit trete ich der kontingenten Zukunft und ihrer Ungewissheit bestimmt entgegen, indem ich eine einheitliche Stellung (Haltung) beziehe. Das wird existenziell dann getan, wenn sich das Individuum dazu bestimmt, sich offen zu halten. Entschiedenheit ist das Sich-offen-Halten vor dem Hintergrund der Ungewissheit; eine durch Leidenschaft in die Zukunft hineingetragene Kontinuität, die keine Verhärtung bedeutet.⁴⁵⁹  Die Frage ist eine Krisis-Frage, weil die Gestaltung des eigenen Lebens maßgeblich von der offenen Zukunft und damit von der Ungewissheit abhängt, vor deren Hintergrund sich entschieden werden muss, d. h. sich ohne objektiven Rückhalt auf eine Lebensführung zu verpflichten, ohne dabei aber von dem eingeschlagenen Weg nicht auch abweichen zu können, da im Sich-Offenhalten ein wesentlicher, systematischer Aspekt climacischer Lebensgestaltung besteht.  Vgl. Kapitel 2.2.4.2.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Das Wollen ohne Verhärtung vor dem Hintergrund objektiver Ungewissheit ist ein systematisch wichtiger Punkt für das von Climacus im religiösen Existieren konzipierte Empfangen: ab Kapitel 2.3.2.3.3.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Denn nur dadurch wird die Möglichkeit als Bedingung von – existenziell verstandener – Identität in den Existenzvollzug (Innerlichkeit) einbegriffen⁴⁶⁰ und zwar so, dass sich das Individuum durch Entscheidung selbst erschließt und erschließen kann.⁴⁶¹ Wollen, Leidenschaft, Entschiedenheit, Handlung und Innerlichkeit sind also Existenz-Kategorien, mit denen eine Verantwortung sich selbst gegenüber beansprucht wird. Zu diesem ethischen Anspruch schreibt Arne Grøn: „Unsere Entscheidung des Lebens besteht … nicht darin, dass das Leben wird, wie wir es entscheiden.Vielmehr haben wir mit unseren Entscheidungen zu leben.“⁴⁶² Darin liegt ein wesentlicher (auch direkt) von Climacus intendierter Aspekt, der vorher schon anhand der Samariter-Szene (Kapitel 2.2.4.3) angesprochen wurde. Alles, was entschieden, was gewollt, was in Handeln umgesetzt wird, erzeugt Wirkungen und das vor allem auch dem Individuum selbst gegenüber. Das Individuum ist bei allem, was es tut, nicht nur sich selbst ausgesetzt, sondern jede Handlung ist eine Konfrontation des Individuums mit sich. Climacus nimmt den Menschen in den Blick als ein durch seine Handlungen ausformendes Individuum, das immer darauf bedacht sein muss, was durch die Handlung mit ihm selbst geschieht. Das zieht die Konsequenz nach sich, dass das Wollen, Entscheiden und Handeln nicht ein unmittelbares Vorwärtsdrängen im Leben bedeutet, sondern ein Bewusstsein von den unverfügbar-kontingenten Wirkungen voraussetzt. Systematisch muss in das Handeln das Kontingenzbewusstsein, das jeder Entscheidungssituation innewohnt (s.o.), existenziell einbezogen werden. Wenn sich das Individuum in seinem Handeln der kontingenten Wirkung des Handelns bewusst ist, kann das bedeuten, dass vor Handlungen zurückgeschreckt wird oder dass Handlungen ausbleiben können: Erstarrung durch die „Übersteigerung des Unbekanntheitsgrades dessen, was sich ereignen kann“⁴⁶³ und durch die Unfähigkeit der Kompensation der Kontingenz dessen, was durch das eigene Handeln passieren kann. Diese Sachlage wird von Vigilius Haufniensis im Begriff Angst ausführlich thematisiert, indem die Angst immer die Angst vor der Möglichkeit ist.⁴⁶⁴ Bei Climacus ist es ja aber gerade die Möglichkeit, die es in den Existenz-

 Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Vergleiche hierzu den von Eilert Herms als „konsistent“ bezeichneten Begriff des Existierenden: Ders., „Entscheidung“, S. 693.  Grøn, „Ein Leben zu führen“, S. 99.  Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 565. Blumenberg formuliert dies im Zusammenhang von Angst und räumlicher Wirklichkeitserfahrung als Möglichkeitserfahrung von Sichtbarkeit.  Das setzt selbstverständlich voraus, dass Vigilius ein Handeln des Individuums im Blick hat, das nicht belanglos ist. Roland Barthes: „Belanglos ist, was offensichtlich keine Konsequenzen

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

vollzug einzubeziehen gilt; die im Wagen⁴⁶⁵ vollzogene Akzeptanz der Kontingenz als dynamisches Entwicklungs- und Entdeckungsprinzip eigenen Personseins.⁴⁶⁶ Schließlich muss hervorgehoben werden, dass für Climacus das Handeln allem objektiven Nachdenken inkommensurabel ist,⁴⁶⁷ womit er darauf besteht – und eben dies ist der existenzielle Sinn –, dass gehandelt werden muss. Nicht im Ausbleiben von Handlungen, sondern im aktiven Wagen des Handelns wird der Mensch zur Person. Personsein heißt dann in einem zweifachen Sinne Verantwortung zu übernehmen. Es soll nicht nur durch Entscheidung und willentliches Handeln Stellung bezogen werden, sondern auch zur Entscheidung und zum eigenen Handeln Stellung genommen werden. Stellung zu beziehen und Stellung einzunehmen heißt, sich mit Leidenschaft der Sache anzunehmen. Es geht also nicht nur darum, dass man sich positioniert, sondern auch für seine Position einsteht. ⁴⁶⁸ Wirkliche Stellungnahme ist eine bejahend-identifizierende Bewertung der Bewertung dessen, was man tut; also innere Haltung und das gleichzeitige Vertreten dessen, was man tut, durch die innere Haltung. Das eigene Tun ist dann Ausdruck der inneren Haltung und die innere Haltung ist Grund und Bestimmung des Tuns (beides bedingt sich gegenseitig⁴⁶⁹). Die sich damit bestätigende Intention des climacischen Handlungsbegriffs⁴⁷⁰ ist: das Bekenntnis des Individuums zu sich selbst und dem, was es tut; die Identifikation mit dem eigenen

hat, haben wird.“ (Ders., Fragmente einer Sprache der Liebe, übers. von Hans-Horst Henschen, 16. Aufl., Frankfurt am Main 2014, S. 236) Gerade weil das von Vigilius intendierte Handeln (Ernst; Innerlichkeit) nicht belanglos, sondern essenziell für die eigene Lebensgestaltung und das eigene Selbstsein (Verwirklichung) ist, macht es Angst und versetzt in seiner doppeldeutig (antipathetisch-sympathetisch) verzerrten Interpretation zukünftiger Wirkung in eine – wie Barthes die Angst bezeichnet – „zögernd-abwägende Einstellung“ (ebd., S. 236).  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Die dabei implizierte doppelstufige Positionierung des Individuums gegenüber sich selbst und seinem Handeln im Handeln verweist auf den Sachverhalt, dass bei Climacus eine Entscheidung immer an die erste Person Singular im existenziellen Sinne gebunden ist. Entscheidung heißt, sich selbst zu übernehmen, für sich und sein Handeln einzustehen. Die Subjektivität und das Sich-zu-sich-Verhalten sind dabei nicht nur die unhintergehbare Voraussetzung der Individualität, des Person- und Selbstseins, sondern auch das, wodurch alle Entscheidung bei Climacus bedingt ist: „Jede Entscheidung, jede wesentliche Entscheidung liegt in der Subjektivität.“ (SKS 7, 39/ DUN, 161)  Vergleiche den herausgearbeiteten Existenzbegriff (Kapitel 2.2.2.1) und die dialektische Struktur des Handlungsbegriffs (Kapitel 2.2.4.1).  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Handeln.⁴⁷¹ Dies bezeichnet Climacus als Innerlichkeit. Und das bedeutet: Innerlichkeit ist nicht nur bloßer Vollzug,⁴⁷² sondern ein reflexiver, durch identifizierende Bewertung getragener Vollzug (In diesem Sinne bezeichnet Climacus die Innerlichkeit im Zusammenhang mit dem Handlungsbegriff als identifikatorisches Darin-Existieren⁴⁷³). Wird die Problematik der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln allgemeiner gefasst und auf die davor liegenden Diskussionen bezogen, ist Entscheidung nur dann möglich, wenn die Sache, zu der sich entschieden wird, zugleich in ihrer Negation gesehen wird. Im Kontext der Unwissenschaftlichen Nachschrift bedeutet das: Nicht nur heißt Sich-zu-sich-Verhalten, dass eine Zukunft vor einem liegt, in der das Selbst-Verhältnis noch nicht ist, sondern auch, dass die Möglichkeit besteht, dass es nicht mehr sein wird. Nicht nur wird damit das Problem des Sich-kontingent-Seins in den Blick genommen,⁴⁷⁴ sondern zugleich wird damit auch die Iterationsbewegung des Wollens und somit die das Existieren fundierende Permanenz des Wollens,⁴⁷⁵ die leidenschaftliche Entschiedenheit begründet. Wird dies auf das Problem der Verantwortlichkeit bezogen, so liegt in der climacischen Existenz-Konzeption als ständiges Wollen der Anspruch, die eigene Positionierung (Stellungnahme), die durch Entscheidung eingenommen wird, auch zu erhalten – und das trotz beziehungsweise gerade wegen der Wirkungen, die durch Entscheidung und Handlung gegenüber der eigenen Person gezeitigt werden.⁴⁷⁶ Zu existieren heißt demnach auch, sich mit der Wirklichkeit, die durch

 Dies bestimmt philosophisch-handlungstheoretisch den Sachverhalt des freien Handelns: „Wenn wir genau das tun, was wir tun wollen, handeln wir frei. Eine freie Handlung ist eine Handlung, die eine Person ausführt, weil sie sie ausführen will. Frei zu handeln heißt, die harmonische Übereinstimmung zwischen dem, was man tut, und dem, was man will, aufrechtzuerhalten.“ (H. G. Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen, 29) Die hierbei stillschweigend von Frankfurt vorausgesetzte und in früheren Aufsätzen herausgearbeitete Voraussetzung eines doppelstufigen Strukturmodells des Willens ist deshalb treffend für den vorliegenden Sachverhalt, weil es auch Climacus um den Vollzug und die Bewertung des Vollzugs in der Stellungnahme geht. Denn für die eigene Handlung bzw. die eigene Entscheidung einzustehen heißt, genau das zu tun, was man will und sich mit der Ausführung des Willens zu identifizieren. (Eben darin besteht für Frankfurt die Freiheit des Handelns.). – Zu Frankfurts Willensstrukturmodell besonders: Ders., „Willensfreiheit und der Begriff der Person“, in ders., Freiheit und Selbstbewusstsein, S. 65 – 83. Zu Frankfurts Willen-Identitätsmodell besonders: Ders., „Identität und ungeteilter Wille“, in ders., Freiheit und Selbstbewusstsein, S. 116 – 137. Zu beiden Modellen besonders: Robert Kane, A Contemporary Introduction to Free Will, New York und Oxford 2005, S. 93 – 98.  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Vgl. Kapitel 2.2.3.3.  Vgl. Kapitel 2.2.4.2.  Vgl. Kapitel 2.2.4.3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

einen selbst mitgestaltet wird, zu konfrontieren; mit dem zu leben, was durch einen ist. Wird dies auf die Innerlichkeit übertragen, so ist diese die Wirklichkeit meiner selbst,⁴⁷⁷ zu der Stellung bezogen und genommen wird – und zwar sowohl zu dem, was ich hier und jetzt bin, durch das, was ich meiner Vergangenheit nach bin, als auch zu dem, was ich der Möglichkeit nach durch meine Zukunft sein werde. Die Innerlichkeit ist die durch Stellungnahme gekennzeichnete Ganzheit der eigenen Person.

2.2.5 Sich-Verstehen Im vorliegenden Teilkapitel soll die Innerlichkeit als Sich-Verstehen näher charakterisiert werden. Der Diskussion liegt im Anschluss an Kapitel 2.1 und der bisherigen Diskussion in Kapitel 2.2 die existenziell-epistemologische Frage zugrunde, wie sich die Innerlichkeit als Vollzug des Selbstseins zur Sprache verhält beziehungsweise wie das Verhältnis von Sein und Sprache im Selbst-Verstehen zu charakterisieren ist. (Oder noch grundlegender gefragt: Was kann das Individuum überhaupt von sich verstehen?) Für die von Climacus vorgenommene, sehr subtile, systematische Ent-bindung (von Verstehen und Sprache) müssen die Begriffe der Erfahrung und des Erlebens genauer betrachtet werden (Kapitel 2.2.5.1). Danach ist das dabei gewonnene Verständnis in Bezug zum Sich-Verstehen zu bringen (Kapitel 2.2.5.2), von wo aus der Aspekt der Sprache einbezogen beziehungsweise das Verhältnis von Innerlichkeit und Versprachlichung des Sich-Verstehens genauer betrachtet werden kann (Kapitel 2.2.5.3).

2.2.5.1 Erfahrung und Erleben Es wurde im Vorhergehenden öfters davon gesprochen, dass das Sich-zu-sichVerhalten in Erfahrung gebracht werden muss.Was bedeutet dies? Für die Antwort dessen ist zu beachten, dass Climacus die Begriffe „erfahren“ [erfare] und „erleben“ [opleve] synonym gebraucht.⁴⁷⁸ Auf einer ganz basalen Ebene dienen beide

 Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  Dies erscheint aus sachsprachlicher Sicht befremdlich. Denn Erfahrung steht für ein (nicht im Plural zu gebrauchendes) Erfahrensein, während Erleben für eine (subjekthafte, im Plural zu gebrauchende) Einzelerfahrung steht. (Zu deren Unterscheidung, kurz und präzise: Hans Wißmann, „Erfahrung I.“, in TRE, Bd. 10, S. 83 – 89, hier S. 84.) Die wesentlichen Stellen bei Climacus, die zum Verständnis von Erleben und Erfahrung beitragen, sind: 1. „[Wa]s es heißt, zu leben; das muss ich durch mich selbst erfahren [erfare] …“ (SKS 7, 136/ DUN, 280) Das Lebensverständnis ist als Erfahrungsgehalt zugänglich. Zu leben und damit die Tätigkeit des Lebensvollzugs ist nicht von

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Begriffe als Interpretament von Leben im Sinne des Lebensvollzugs. Gleichfalls sind sie grundsätzlich als das zu begreifen, was allein durch die 1. Person Singular zu verstehen ist und aus der 3. Person nur in Abschattungen (Husserl) beschrieben werden kann. Erleben ist das Selbsterlebte; Erfahrung ist das Selbsterfahrene. Erfahrung und Erleben hängen demnach (a) davon ab, wie man ist (die eigene Erfahrung ist niemals die eines anderen), sind also durch (b) Subjekthaftigkeit bestimmt und dabei gleichfalls (c) auf Erkenntnis (Selbst-Verstehen) bezogen, womit sie (d) das bisherige Leben nicht nur bereichern, sondern (e) den (neuen) Umgang mit begegnender Wirklichkeit prägen (und zwar im Ganzen: denn der Umgang mit Wirklichkeit bezieht sich immer auch auf begegnete und nochzubegegnende Wirklichkeit, also auf den durch Erfahrung geprägten Umgang mit Erinnerung (bezüglich Climacus: Sich-Annehmen) und das Einlassen auf die durch Erfahrung geprägten Erwartungen (bezüglich Climacus: Sich-offen-Halten)).⁴⁷⁹ Schließlich sind Erfahrung und Erleben Korrelate der Tätigkeit des Existenzvollzugs, der Innerlichkeit, des Sich-zu-sich-Verhaltens. Im Erleben/Erfahren geschieht etwas mit dem Individuum. Indem es sich konkret wird, wird sich das Individuum im Erleben/Erfahren selbst wirklich; es vergegenwärtigt sich (was die Akzeptanz von Außen- und Innenwelt einschließt⁴⁸⁰). Damit ergibt sich folgende, mehr spezifizierte Charakteristik des Erlebens/Erfahrens:

der eigenen Person zu trennen. Das eigene Leben und die eigene Erfahrung bilden eine Einheit. 2. „[D]ie Wissenschaft wendet sich immer mehr von den ursprünglichen Eindrücken [primitive Indtryk] der Existenz ab, es gibt nichts mehr zu erleben [opleve], nichts zu erfahren [erfare], alles ist fertig …; man liebt nicht, glaubt nicht, handelt nicht, aber man weiß, was Liebe, was Glaube ist …“ (SKS 7, 314 f. / DUN, 511) Climacus setzt die Begriffe des Erlebens und des Erfahrens gleich. Beide Begriffe werden von drei Konnotationen begleitet: a) Erleben und Erfahren sind an die „ursprünglichen Eindrücke“ gebunden; an die theoretisch nicht einholbaren Geschehnisse im Individuum selbst, die keiner Vermittlung oder fremden Beglaubigung bedürfen. b) Beide Begriffe werden dem „Fertigsein“ entgegengesetzt. Sie werden als ein Prozess verstanden. c) Sie werden an den Begriff der Handlung und an das Sich-zu-sich-Verhalten gebunden. 3. „[D]er Existierende wird im Erlebten konkret [concret i det Oplevede] und er hat es, indem er weitergeht …“ (SKS 7, 443/ DUN, 679) Im Erleben findet die Konkretwerdung des Individuums statt. Konkret wird sich das Individuum im konkreten Denken, das anthropologisch-existenziell eine Einheit mit der Leidenschaft bildet (Kapitel 2.2.3). Das Erleben begleitet das Verhältnis des Individuums zu sich (gleichfalls begleitet das Denken das Erleben; dazu Kapitel 2.2.5.2), so dass das Selbst-Verhältnis als eine dialektische Einheit von Denken und Erleben, Reflexion und Erfahrung, oder allgemeiner: von Denken und Sein charakterisiert wird (dazu Kapitel 2.2.2.1). Mit der Betonung des „Weitergehens“ werden die Prozesshaftigkeit und damit die Tätigkeit des Sich-zu-sich-Verhaltens als Erlebnisvollzug herausgehoben.  Zu diesen fünf allgemeinen Charakteristika der Erfahrung / des Erlebens: Wißmann, „Erfahrung I.“, S. 84.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Das Erleben und Erfahren sind der selbsterlebte/selbsterfahrene Lebensvollzug als innerliches Existieren (denn: Innerlichkeit = existenzielle Wirklichkeit⁴⁸¹), durch das Selbst-Bewusstsein entsteht.⁴⁸² Demnach ist mit beiden Begriffen kein passives Widerfahren, kein reflexionsloses Erfülltsein des Individuums in der Unmittelbarkeit eines Gefühls gemeint, sondern sie liegen dem Sich-zu-sich-Verhalten als rückbezügliche Reflexion zugrunde (der systematisch zentrale Begriff der Leidenschaft als Erfahrungs-/Erlebnisbegriff ist hierbei mitzudenken). Durch die Begriffe des Erlebens und Erfahrens wird die Bewusstwerdung des Reflexionsvollzugs hervorgehoben, womit sie systematisch dem Sich-zu-sich-Verhalten als ständiger Vollzug Rechnung tragen.⁴⁸³ Das heißt, sie beschreiben das innerliche Existieren (Bewusstseinsbewegung) als einheitlichen Erlebnis-/Erfahrungs-Strom; das Darin-Existieren als Involviertsein,⁴⁸⁴ das aber nur dann Selbsterfahrung ist, wenn das Individuum im Erleben durch Reflexion eine Distanz zu sich selbst besitzt. Selbsterfahrung ist so die genetische Grundmodulation des Selbstbewusstseins als auf das Sein zurückgebundenes Denken⁴⁸⁵ und damit nichts anders als die Ermöglichungsbedingung selbst-hermeneutischer Prozesse.⁴⁸⁶ Als einheitlicher Strom des Erlebens/Erfahrens werden beide Begriffe auch als jene Grundmodulation des Existierens herausgehoben, die der zu stiftenden Kontinuität des Lebenszusammenhangs (als einheitliche Persönlichkeit im ständig-iterativen Sich-Vergegenwärtigen) zugrunde liegen. Erst durch das ständige Sich-Vergegenwärtigen als einheitlich erlebte/erfahrene Tätigkeit rückbezüglicher Reflexion, ist es dem Individuum möglich, eine Einheit seiner Person zu zeitigen, die über dem bloßen unmittelbaren Fortlauf einzelner Erfahrungs- und Reflexionsmomente hinausgehen. In diesem Sinne ist bei Climacus der einheitliche Fluss des Erlebens und Erfahrens immer auf die Ganzheit des eigenen Daseins bezogen. Das Dasein wird zum bewusst wahrgenommenen Erfahrungs-/Erlebnisinhalt.

 Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  Gemeint ist keine grundlegende Genese des Selbst-Bewusstseins, das in gewissem Sinne immer schon ist, sobald das Individuum sich als ein Individuum in der Welt, unter Menschen und über deren Zuschreibungen (etc.) sich seiner selbst bewusst wird – was beispielsweise Robert Spaemann deutlich heraushebt: „Selbstbewußtsein, Selbstbezug ist Bezug auf etwas, was wir schon vor diesem Selbstbezug sind,was wir schon waren.“ (Ders., „Person und Versprechen“, S. 5); gemeint ist das akute Selbst-Bewusstsein als gesteigerte Form der Selbst-Wahrnehmung (vgl. Kapitel 2.2.3/4 bezüglich des Stichwortes: „Vergegenwärtigung“ und/oder „gesteigerte Aktualität“ der Person).  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  Dazu Kapitel 2.2.4.1.  Vergleiche die Struktur des Selbst-Verhältnisses in Kapitel 2.2.2.1.  Dazu Kapitel 2.2.5.2.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

201

Indem sich das Individuum im Erleben/Erfahren sodann konkret wird, wird es sich selbst gegenüber wirklich.⁴⁸⁷ Genauer: In der Bewusstheit der in Erfahrung gebrachten Bewusstseinsbewegung ver-wirklicht sich das Individuum vor sich selbst als das, das es ist (damit wird erneut die existenzdialektische Struktur ausgedrückt, die auch schon in Kapitel 2.2.4.1 anhand der Handlung herausgestellt wurde: vom Denken zum Sein zum Denken).⁴⁸⁸ Die Ver-wirklichung und Vergegenwärtigung der eigenen Person sind in ihrer Einheit das Selbst-Bewusstsein, das das In-das-Leben-Treten der eigenen Person ist. Das Selbst-Bewusstsein entsteht im Erleben und ist ein Er-Leben, ein Hervortreten der eigenen Person in dem zu lebenden Leben. Als Konkretion und Ver-wirklichung im Selbst-Bewusstsein sind Erleben und Erfahren Korrelate des Lebens als Intensivierung eigener SelbstWahrnehmung zu verstehen.⁴⁸⁹ Das Individuum erfasst sich als konkreter Erlebnis-/Erfahrungs-Inhalt und geistiger Gegenstand vor dem inneren (geistigen)

 Wenn sich das Individuum im Erleben/Erfahren konkret wird, bildet es in seiner erlebten Permanenz des Sich-zu-sich-Verhaltens nicht nur eine über der Unmittelbarkeit stehende Einheit der Selbst-Vergegenwärtigung aus, sondern zugleich behält das Individuum im Erleben/Erfahren eine nicht-reduzierbare Unmittelbarkeit bei. Dieses Moment nicht-reduzierbarer Unmittelbarkeit wurde in Kapitel 2.2.3 als existenzielle Gegenwärtigkeit im Sinne einer gesteigerten Aktualität gefasst (und impliziert damit auch die Aneignung als Vergegenwärtigungsprozess).  Zum Erfahren/Erleben gehört immer die Reflexion. Im Vorgriff auf Kapitel 2.2.5.3 ist dann über das Verhältnis von Erfahrung und Sprache (als an Reflexion gebundene Abstraktion: Kapitel 2.1.4) zu sagen: Climacus bezieht die Sprache zwar nicht systematisch in die Erfahrung ein, sondern sieht dieselbe als ein neben dem Erfahren/Erleben stehende Seite menschlichen Daseins, konzipiert deren ineinandergeflochtenes Verhältnis dann aber über das Inter-esse selbst, nämlich dass die beiden Seiten, Denken und Sein, Sprache und Erfahrung – und das ist das Entscheidende – durch den Menschen selbst in Beziehung gesetzt werden. Dennoch – und das muss hervorgehoben werden – sind die Begriffe Erfahrung/Erleben tendenziell ontologisierte Begriffe, weil sie trotz ihres indirekten Verhältnisses zur Sprache auch und vor allem vor-sprachlich verstanden werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie als der Sprache vollständig enthoben verstanden werden dürfen. Schon Kierkegaards Mitteilungstheorie zeigt, dass Existenz-Wirklichkeit an Vermittlung (Sprache), äußere Welt (durch Sozialität geschehende Vermittlung) und den konkreten Erfahrungsvollzug (Aneignung) gebunden ist. Existenzontologisierte Erfahrung – eben das hervorgehobene Sich-wirklich-Werden – muss innerhalb dieses systematischen Geflechts verstanden werden.  In diesem Sinne könnte beispielsweise auf Ludwig Wittgensteins Begriff der Erfahrung (jedoch bei ihm als Unterbegriff des Begriffs Erleben verstanden) verwiesen werden: „,Erfahrungen‘ haben Dauer, einen Verlauf; sie können gleichförmig, oder ungleichförmig verlaufen. Sie haben Intensität.“ (Ders., Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. 1, § 836) Auf Climacus gewendet: Sich in Erfahrung zu bringen heißt, in eine prozesshafte Intensivierung der eigenen Person zu gelangen. Hierbei wird also die Bedeutung des Begriffs Innerlichkeit als Innigkeit angezeigt. Dazu: Kapitel 1.3.

202

2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Auge, Ohr (etc.)⁴⁹⁰ In diesem Sinne sind das Erleben/Erfahren die termini a quo, durch die die existenzielle Wirklichkeit (Selbst-Bewusstsein; Innerlichkeit), durch einen genuin persönlichen Bezug zu ihr (Sich-zu-sich-Verhalten), bestimmt wird.⁴⁹¹

2.2.5.2 Sich-Verstehen Die existenziell-epistemologische Frage – Was kann das Individuum überhaupt von sich verstehen? – ist sowohl eine Frage zum Verhältnis von Wahrnehmung und Selbstbeobachtung als auch eine Frage zum Verhältnis von Erkennen und sich verändernder Wirklichkeit.

 Dies ist von Ludwig Wittgenstein entlehnt: vgl. ders., Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie.Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt am Main 1984, § 109.  Anhand dieser Bestimmungen von Erleben/Erfahren kann gekennzeichnet werden, was Erfahrung bei Climacus nicht bedeutet: 1. Sie bedeutet keine praktische Lebenserfahrung, die als ein Ergebnis zu verstehen ist, als Erfahrensein, d. h. als ein komplexes Netzwerk von Gelerntem, Erlebtem, Verstandenem, auf das zugegriffen werden kann, wenn das Individuum vor nicht routinierte Problemlagen gestellt wird, denen es durch seinen Erfahrungshaushalt spontan mit Lösungen begegnen kann. (Dies betont Aristoteles, für den Erfahrung eine praktische Kunstfertigkeit [téchne] bedeutet. Dazu: Friedrich Kambartel, „Erfahrung“, in HWPh, Bd. 2, S. 609 – 617, hier S. 609 f.; ebenfalls: Herms, „Erfahrung II.“, S. 89 f.) 2. Erfahrung bedeutet keine empirische Erfahrung. Vgl. dazu: SKS 19, 411, Not13:46/ DSKE 3, 449. Nicht objektive, messbare Erfahrung, sondern subjektiver Selbstbezug als erlebte Reflexion ist mit dem Erfahrungs-/Erlebnisbegriff bei Climacus impliziert. Die Unterscheidung von objektiver Erfahrung und subjektiver Erfahrung (Erleben) muss jedoch genauer differenziert werden. Indem der Mensch weltverwoben ist, erfährt/erlebt er immer in einem Bezug zur Welt. Beide Begriffe können nicht als radikal unabhängig vom Äußeren, als bloß subjektive Begriffe gefasst werden (dies bleibt von Climacus unausgeführt). Die Ausführungen in Kapitel 2.2.3 zur Akzeptanz der Vergangenheit und zum das Individuum treffenden Weltgeschehen, von denen her die Kontinuität eigener Persönlichkeit zu stiften ist, hat die Weltverwobenheit und die durch diese bestimmte Vergegenwärtigung gezeigt. Zudem ist das Erfahren/Erleben des Sich-zu-sich-Verhaltens immer an Handlungssituationen und -kontexte gebunden. Wirkliche Selbstwahrnehmung findet erst statt, wenn das Individuum sich als ein in der Welt wirkendes Individuum zu verstehen und zu verantworten hat. Die Szene des Leviten (Kapitel 2.2.4) verdeutlichte dies. Dementsprechend bringt Climacus mit Erfahren und Erleben Begriffe ins Spiel, durch die gezeigt wird, dass sich das Individuum als sich zu sich verhaltendes Individuum bewusst in der Welt verortet ist und sich ernst nimmt als eines, das mit dem, was außerhalb von ihm selbst geschieht, in Verbindung steht (was die Begriffe Erfahrung/Erleben auch an die Sprachlichkeit aller Weltverwobenheit bindet: vgl. Kapitel 2.2.5.3). Das Ernstnehmen dessen, was in der das Individuum umgebenden Welt geschieht, wird auch wichtig für das religiöse Existieren: vgl. die Kapitel 2.3.3.4.2/3.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

203

Sich selbst zu verstehen geschieht, wenn sich das Individuum vergegenwärtigt; wenn es sich rückwärtsgewandt an seine Vergangenheit erinnert, zugleich aber auch vorwärtsgewandt sich selbst als das Ungewisse bewusst wird. Die existenzielle Ganzheit des Individuums wurde deshalb als eine sich der Berechenbarkeit und Planbarkeit entziehende offene Einheit bezeichnet, in der das Unbestimmte einbezogen bleiben muss, weshalb das Individuum niemals zu einem fertigen Gesamtbild seiner selbst gelangen kann.⁴⁹² Die systematisch-analytische Grundlage dessen bringt Wolfgang Janke auf den Punkt: „Geht Sein … in einem Werden auf, das niemals fertig ist, dann kommen Feststellungen dessen, was ist, niemals zu Ende.“⁴⁹³ So gilt: Das Denken ist, ebenso wie das Existieren, im Werden.⁴⁹⁴ Im Journal JJ notiert Kierkegaard kurz: Das Leben „[muss] vorwärts gelebt werden …“ Das heißt, „dass das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verständlich wird, eben weil ich in keinem Augenblick vollkommen Ruhe finden kann …“⁴⁹⁵ Das Sich-Verstehen ist durch ein unreduzierbares Unfertigsein gekennzeichnet. Indem das Sich-Verstehen nun sowohl einer Vorwärtsbewegung (der Zeit) und somit einem Unfertigsein unterliegt wie auch einer Rückbewegung (in der Zeit) durch erzählte und/oder selbsterinnerte, fragmentarische Erinnerung darstellt,⁴⁹⁶ ist es selbst nicht durch ein Aufsteigen oder Fortschreiten (wie etwa bei Hegel) zu immer genauerem Wissen zu kennzeichnen. Sich-Verstehen kann sowohl bedeuten, vorhandenes Wissen zu revidieren als neues Wissen zu erlangen; es kann bedeuten sich misszuverstehen, sich bloß in Abschattungen zu verstehen, aber niemals sich genau zu durchschauen. Indem das Ziel die Ganzheit und Kontinuität der Persönlichkeit ist, ist das Verstehen als permanente Unruhe hin zu dieser Ganzheit zu begreifen, wobei auf dem Weg dorthin keine Geradlinigkeit besteht.

 Vgl. auch Kapitel 2.2.3.  Janke, „Der Weg der Wahrheit zum Menschen“, S. 196.  Dies lässt sich anhand des „subjektiven Denkers“ verdeutlichen: „Die Aufgabe des subjektiven Denkers ist, sich selbst in Existenz zu verstehen.“ (SKS 7, 321 / DUN, 519) Und: „Wer existiert, ist beständig im Werden; der wirklich existierende subjektive Denker bildet beständig diese seine Existenz denkend nach und versetzt all sein Denken ins Werden.“ (SKS 7, 85/ DUN, 215) In Bezug auf den vorliegenden Zusammenhang heißt das: Das Leben ist Werden. Der Mensch ist in der Zeit. Der subjektive Denker wiederholt die Bewegung der Zeit (dazu: Kapitel 2.2.3.3). Er versetzt sein Denken in ein ständig nur vorläufig festhaltendes Verstehen, das un(ab)geschlossen bleibt (vgl. Kapitel 2.2.5.2): „Während das objektive Denken alles im Resultat ausdrückt …, setzt das subjektive Denken alles ins Werden und lässt das Resultat weg.“ (SKS 7, 73/ DUN, 200) [Anm.: Es sei nur erwähnt, dass das ins Werden versetzte Denken auch bedeutet, intentional auf das Existieren konzentriert zu sein, denn diese ist ja die Wirklichkeit im Werden: vgl. Kapitel 2.2.2.2].  SKS 18, 194, JJ:167/ DSKE 2, 200.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Im Sich-Verstehen ist das Individuum ständig auf sich als Ganzheit bezogen, ohne diese erreichen zu können, womit es in einer stetigen Un-Sicherheit zu begreifen ist. Das Individuum bleibt für sich selbst immer nur Interpretation (und befindet sich, zumindest der Möglichkeit nach, permanent in einem nicht beendbaren, weiter zu differenzierenden Interpretationsvollzug). In seinem Interpretationsvollzug ist das Individuum in der Welt und muss sich aus seiner Weltverwobenheit heraus verstehen. Der Begriff des Konkreten bezeichnet diesen Umstand: ein durch Leiblichkeit bestimmtes Verwickeltsein in die physische, geschichtliche, psychische, sprachliche, soziale (etc.) Umwelt. Das Sich-Verstehen heißt dann, dass das Individuum sich aus dem unverfügbaren und es konfrontierenden Weltgeschehen und aus den durch Sozialität entspringenden Zuschreibungen durch andere Menschen zu verstehen hat; dass es notwendig einer von außen mitbestimmten Differenzierung seiner Person ausgesetzt ist. Doch unter dem Primat subjektiver Selbst-Vergegenwärtigung sagt Climacus deutlich: „Jedes Subjekt ist ein existierendes Subjekt, und diese Tatsache muss sich deshalb wesentlich in seinem Erkennen ausdrücken und muss sich darin ausdrücken, dass es verhindert, zu einem illusorischen Abschluss in der Sinnen-Gewissheit … zu gelangen.“⁴⁹⁷ Nicht im Fest-stellen dessen, was mit einem selbst durch das Außen geschieht, sondern im bewussten Begleiten dessen, was geschieht, liegt die un(ab) geschlossene Differenzierung des Individuums (Sich-offen-Halten). Es geht Climacus genauer um den durch Erfahrung/Erleben geprägten Umgang mit Wirklichkeit (was die durch diesen Umgang mitbestimmten Erwartungen und das Einlassen auf diese – eben das existenzielle Sich-offen-Halten – einschließt). Das Individuum stellt im existenziellen Sinne zwar fest, aber niemals resultativ, sondern immer im Bewusstsein des Offenlassens. Es weiß darum, dass es sich selbst zu keinem umfassend objektiven Gegenstand des Wissens werden kann.⁴⁹⁸ (Auch

 SKS 7, 81/ DUN, 209.  An diesen Sachverhalt knüpft Climacus folgenden Gedanken: Das Existieren ist „das fortwährende Lernen“ und „der Ausdruck der ständigen Realisation, die in keinem Augenblick fertig ist, solange das Subjekt existierend ist,wessen sich dieses gerade bewusst ist und wodurch es nicht getäuscht [ikke bedraget] wird.“ (SKS 7, 117/ DUN, 256 (Hervorhebung d.Vf.)) Alles Wissen, das das Individuum über sich erlangen kann, ist einzig Ausdruck von Möglichkeit, weil das Existieren immer einer weiteren Differenzierung unterliegt. Climacus verlangt nicht nur, dass das Individuum – wie oben gesagt – sich selbst als Ort der Ungewissheit bewusst wird, sondern auch, dass jegliche Attitüde abgelegt wird. Dazu heißt es im Journal JJ: „Affektion wird am besten übersetzt durch: Sich-etwas-Anlügen …“ (SKS 18, 305, JJ:497/ DSKE 2, 316) Indem sich das Individuum etwas anlügt, verhält es sich zu sich selbst, als wäre es ein anderes. Denn wenn gelogen wird, versucht man, jemand anderen aktiv zu täuschen. (Dazu genauer: K. Beier, Selbsttäuschung, 31 f.) Indem es sich anlügt, stellt das Individuum Sachverhalte über sich selbst fest und verobjektiviert und beurteilt sich, indem es sich eine von ihm gewollte Form verleiht, wider besseres Wissen. Es gibt sich

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

205

dies ist ein entscheidendes Merkmal, das sich im religiösen Existieren ausmachen lässt).⁴⁹⁹ Sich-Verstehen ist in diesem Sinne gerade keine Selbstbestimmung. Vielmehr zeigt sich im Prozess der Selbstbeobachtung, dass das Beobachtete nicht das ist, als das es erwartet wurde. Denn Selbstentdeckung ist (auch) die Veränderung des Individuums während der Beobachtung. Es wird sich konkret und gleichzeitig immer unschärfer. Wichtig ist nun folgende Stelle der Unwissenschaftlichen Nachschrift, durch die das Problem des Sich-Verstehens weiter differenziert werden kann: „Existierend auszudrücken [Existerende at udtrykke], was man von sich selbst verstanden hat, und so sich selbst verstehen …“⁵⁰⁰ Das „existierende Ausdrücken“ ist als Existenzialisierung des Denkens zu begreifen: der zu sein, der man ist, dadurch, dass man sich versteht. Das Verstehen geht dem Sein voraus, zugleich aber liegt im Sein das Verstehen. Strukturell bedeutet dies, dass das den Existenzvollzug begleitende Sich-Verstehen die Überführung der Bewegung des Selbstseins in eine Bewegung der Selbst-Interpretation ist, die rückwirkend auf das Sein einwirkt. Daran lassen sich im wesentlichen zwei Sachlagen verdeutlichen: 1. Verstehen wird von Climacus dann nicht allein als inhaltliches Denken begriffen, als ein hermeneutisch-interpretativer Akt der Selbst-Reflexion, sondern als ein Umsetzen des Denkens ins Sein. Sich zu verstehen heißt – in climacischer Terminologie – in dem Verstandenen zu existieren; das zu leben, was man von sich selbst verstanden und – bei aller unhintergehbaren Ungewissheit (Kontingenz) – ergriffen hat; mit dem man sich identifiziert.⁵⁰¹ Sich-Verstehen ist von Climacus als Tätigkeit (Innerlichkeit) bestimmt: „[D]as Innere lässt sich … nur vom einzelnen Subjekt realisieren, das dann von dem wissen ⁵⁰² kann, was in ihm wohnt …“⁵⁰³ dann einer Einseitigkeit seiner differenzierten (ganzen) Persönlichkeit preis. Auf Climacus bezogen bedeutet dies, dass die stetige Differenzierung verleugnet wird, obwohl man um diese weiß (würde man nicht darum wissen, wäre es keine Lüge, kein Betrug etc.). So heißt es bei Climacus, nachdem er vom Unterschied zwischen der Täuschung und der Wirklichkeit der eigenen Wirklichkeit gesprochen hat: „Nur das Individuum selbst kann wissen, was was ist.“ [Kun Individet selv kan vide, hvilket der er hvilket.] (SKS 7, 294/ DUN, 486) Wirklichkeit im existenziellen Sinne ist die offene Einheit der eigenen Person, konstituiert im fortlaufenden Sich-zu-sich-Verhalten als Prozess des Sich-Verstehens; unexistenzielle Wirklichkeit ist die Vereinseitigung bzw. das resultative Festhalten an bestimmten Merkmalen seiner Person. Sich selbst zu betrügen heißt dann, mit sich abgeschlossen zu haben; sich nicht als Person mit der Möglichkeit zur Entwicklung zu betrachten.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.3  SKS 7, 323/ DUN, 521.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Climacus verwendet den Begriff des Wissens hier, im Gegensatz zum Rest seiner Ausführungen, nicht im Sinne eines objektiven Wissens, sondern im subjektiven Sinne des Sich-wirklichWerden, Sich-Konkretwerdens, Sich-Bewusstwerdens.  SKS 7, 292 / DUN, 483 (Hervorhebung d.Vf.).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Verstehen ist eine existenzielle Handlung, in der sich das Individuum „durchsichtig“ wird: „Die[] Durchsichtigkeit des Denkens in Existenz ist eben die Innerlichkeit.“⁵⁰⁴ Durchsichtigkeit ist hierbei nicht mit völliger Klarheit des Erkennens zu übersetzen (s.o.), sondern mit existenzdialektischem Durchdrungensein von dem, was man denkt und tut,⁵⁰⁵ mit dem impliziten Telos vom „Gelingen des eigenen Daseins“⁵⁰⁶. Und es geht dabei weniger um konkrete Resultate, sondern um ein Geschehen: Das Individuum ver-wirklicht sich vor sich; es erlebt/erfährt sich; es wird sich konkret, durchdringt sich, indem es sich ergründet, er-lebt, hervorbringt, entdeckt, sich frei-legt durch seine Erinnerungen und Geschichte (Vergangenheit), seine Erwartungen und Möglichkeiten (Zukunft), seiner konkreten Existenzerfahrung und seiner Art und Weise des Lebendigseins (Gegenwart), seiner Innen- und Außenwelt, die sich durch die Person selbst überlagern im: Gewesen-, Gewollt-, Geprägt-, Ausgesetzt-Sein. In Erfahrung gebrachtes SichVerstehen ist dann die Transformation des Blicks⁵⁰⁷ auf die Innen-Außen-Welt, hin zur Identifikation-mit-sich-selbst.⁵⁰⁸ Es ist ein Ja-Sagen zu sich selbst (Sich-Bekennen⁵⁰⁹), sich selbst als gegebene Aufgabe zu betrachten und diese Aufgabe ernst zu nehmen. Dass damit zugleich ein ethischer Anspruch impliziert ist, zeigt ein Blick ins Journal JJ: „Wenn ein M[en]sch nicht das wird, was er verstehen kann, so versteht er es auch nicht.“⁵¹⁰ Das Sich-Verstehen ist erst wirkliches Verstehen, wenn das, was verstanden wird, auch getan wird. Verstehen liegt dem Handeln zugrunde und Handeln ist Ausdruck des Verstehens.⁵¹¹ 2. Wenn das Verstehen dem Sein vorausgeht und dem Sein das Verstehen innewohnt, so bedeutet dies letztlich: Das Individuum kann sich nur selbst verstehen, wenn es schon es selbst ist, d. h. sich selbst versteht. Deshalb: „In bezug auf alles Erkennen, bei dem es gilt, dass der Gegenstand des Erkennens die Inner-

 SKS 7, 231/ DUN, 405.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Heiko Schulz hebt dies in Bezug auf die „Durchsichtigkeit des Denkens in Existenz“ heraus: vgl. ders., „Innerlichkeit“, S. 157. Wie das Gelingen des Daseins letztlich konkret aussieht: vgl. Kapitel 2.2.6 und 2.3.4.  Vgl. Kapitel 2.2.4.2.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  SKS 18, 299, JJ:480/ DSKE 2, 310.  Dieses Verhältnis entspricht der Gedankenfigur von Wollen und Handlung in Kapitel 2.2.4.2. – Arne Grøn wendet das Verhältnis von Verstehen und Handeln direkt auf das Innerlichkeitsverständnis in der Unwissenschaftlichen Nachschrift an: „In der Innerlichkeit liegt ein Selbstverständnis, nämlich was ein Mensch durch das versteht, was er tut. Oder richtiger, darin liegt eine Forderung, selber das zu verstehen, was man tut.“ (Ders., Angst bei Søren Kierkegaard, S. 76)

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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lichkeit … ist, gilt es, dass der Erkennende in diesem Zustand sein muss.“⁵¹² Hier wird zunächst auf den Erfahrungs-/Erlebnisgehalt verwiesen, der ein Verstehen ermöglicht.⁵¹³ Gleichfalls ist auch impliziert, dass Verstehen eine konkrete Existenzweise ist. Doch eine derartige Verkopplung des Schon-Seins als Bedingung des Verstehens wäre tautologisch. Und so kann es nicht gemeint sein, weil Existieren Bewegung bedeutet.Vom Blickwinkel des Schon-Seins gilt deshalb:Versteht sich das Individuum, gelangt es zu neuer Erkenntnis, indem es sich in dem annimmt, was es ist. Annehmen ist mit gleichzeitigem Entdecken verbunden. SichVerstehen ist dann nicht nur im Sinne existenzieller Vergegenwärtigung⁵¹⁴ zu begreifen, sondern auch im Sinne des Entdeckens des Schon-Seins,verstanden als conditio humana. So ist das Sich-Verstehen als entdeckendes Annehmen nichts anderes als – wie Joyce sagt – „das eigene Menschsein einzubekennen“⁵¹⁵ und zwar als das Sich-zu-sich-Bekennen⁵¹⁶ durch die Aneignung der grundsätzlich zu verstehenden Bedingungen des Menschseins⁵¹⁷.⁵¹⁸ Existenzielles Verstehen ist demnach das Existieren vor den Bedingungen des Menschseins und eben deshalb – existenzdialektisch – ein durch das Denken bestimmtes Sein und ein vom Sein her bestimmtes Denken.

2.2.5.3 Artikulation und Innerlichkeit Das Erleben/Erfahren wurde in seinem wesentlichen, doppelten Verständnis charakterisiert: die in Erfahrung gebrachte, bewusste Bewusstseinsbewegung (Innerlichkeit) und, dass das Individuum sich in diesem Bewusstsein ver-wirklicht und sich damit in Erfahrung bringt. Dies kennzeichnet gleichfalls das Sich-Verstehen, das – neben dem Aspekt des interpretativ-(selbst‐)hermeneutischen Erkennens – eine Existenzweise darstellt, die die Art und Weise des Umgangs des Individuums mit sich bestimmt (Innerlichkeit). Das Individuum versteht sich, indem das, was verstanden wird, durchaus begrifflich und objektiv und propositional gedacht wird, zugleich aber immer einen Rest von Nicht-Propositionali-

 SKS 7, 57/ DUN, 183 (Hervorhebung d.Vf.).  Vgl. Kapitel 2.2.5.1.  Vgl. Kapitel 2.2.3.  James Joyce, Stephen der Held, übers. von Klaus Reichert, Berlin 1982, S. 155.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Vgl. besonders Kapitel 2.1.2.3.3.  Ist die Innerlichkeit in diesem Sinne ein Schon-Sein, also eine Bedingung des Menschseins, so gehört zur conditio humana das Charakteristikum, dass jeder Mensch die Möglichkeit zum konkreten Selbst-Verhältnis besitzt. Dies wird anhand des religiösen Existierens eingehender betrachtet: vgl. Kapitel 2.3.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

tät⁵¹⁹ beibehält.⁵²⁰ Das bedeutet: Der Sprache entzieht sich das eigene Sein.⁵²¹ Bei Climacus gilt dies in dem Sinne, dass das, was der Einzelne von sich versteht, nur von ihm verstanden werden kann, weil er es ist. So ist das objektive Was gerade durch das existenzielle Wie vermittelt. Und dennoch bedeutet das Sich-Verstehen, sich inhaltlich, durch Sprache zu begreifen. Denn etwas zu verstehen heißt, es auch in Sprache fassen zu können. Dies geschieht im das Existieren begleitenden Selbst-Interpretationsvollzug. Sich durch Sprache ausdrücken zu wollen (= alles in Sprache gefasste Wissen und Verstehen von sich) heißt dann aber immer, darauf aufmerksam zu sein, dass das, was im Denken begrifflich und allgemein ausgedrückt wird, nicht bedeuten kann, die eigene Wirklichkeit (Sein als Werden) in ihrer Umfassendheit einzuholen. Sprache ist Verkürzung (der eigenen Persönlichkeit).⁵²² Eine vollständige Objektivierung der eigenen Person ist aus der  Nicht-propositionales Wissen ist an seinen Inhaber gebunden. Es ist persönliches Wissen und kann für andere Menschen nicht verfügbar gemacht werden. Es ist das Sich-verortet-Wissen in verschiedensten Lebenssituationen aufgrund des umfassenden Durchdrungenseins der eigenen Person von einem komplexen Netzwerk aus Erfahrungen, Gedanken, Einstellungen (etc.) Es ist insofern durch Sprache zugänglich, als dass nicht-propositionales Wissen in verschiedenen, unvollständigen Abschattungen zur Sprache gebracht werden kann. Dazu ausführlich: Wieland, Platon und die Formen des Wissens, § 13, S. 224– 237, besonders S. 230 – 234.  Dies hat seine Begründung in folgendem Zitat: „Die Reflexion der Innerlichkeit ist die Doppel-Reflexion des subjektiven Denkers. Denkend denkt er das Allgemeine, aber als in diesem Denken existierend, dieses in seiner Innerlichkeit erwerbend, isoliert er sich subjektiv immer mehr.“ (SKS 7, 73 f. / DUN, 201) [Anm.: Wichtig zu beachten ist, dass die Doppel-Reflexion von Climacus hier noch nicht als mitteilungstheoretischer Begriff, sondern als existenzielle Charakterisierung des subjektiven Denkers bestimmt wird. Zur Doppel-Reflexion: vgl. Kapitel 2.1.2.3.2 und ausführlich: Schwab, Der Rückstoß der Methode, S. 95 – 104]. Der subjektive Denker ist zwischen Denken und Sein verortet (Inter-esse); bindet das Allgemeine an das Existieren und füllt das Denken mit Sein; er bringt den Begriff zur Anschauung. Die Doppel-Reflexion ist der Ausdruck dafür, dass das Begriffliche und Allgemeine der nicht-propositionalen Innerlichkeit sowohl gegenübergestellt als auch mit derselben verzahnt ist.  Climacus drückt diesen Sachverhalt damit aus, dass er sagt: „Wissen ist eine Übertragung in die Möglichkeit.“ (SKS 7, 288/ DUN, 478) Alles Objektivierte, alles begrifflich Veranschaulichte, alles propositionalisierte Wissen ist kein existenzielles Sein. „[D]ie einzige Wirklichkeit, die nicht dadurch zu einer Möglichkeit wird, dass sie gewusst wird, und die nicht allein dadurch, dass sie gedacht wird, gewusst werden kann, weil es seine eigene Wirklichkeit ist …“ (SKS 7, 292 / DUN, 483) „[D]ie einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender nicht bloß weiß, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist …“ (SKS 7, 288/ DUN, 478 (Hervorhebung d.Vf.)) Die eigene (existenzielle) Wirklichkeit ist das Individuum als das in seiner Umfassendheit nicht Objektivierbare.  Dies zeigt sich beispielsweise auch an Climacus’ Ausführungen zum Verstehen eines anderen Menschen (vgl. SKS 7, 292 f. / DUN, 483 f.). Climacus hebt dabei hervor, dass das Verständnis des einen Menschen durch einen anderen allein im Denken geschehen kann. Dabei nimmt er implizit Bezug auf alles Verstehen als ein in sich begrenzter Interpretationsakt. Denn Verstehen ist als inhaltlich-propositionalisierbares Verstehen (nicht als Existenzweise) ein interpretativer Akt

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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1. Person Singular nicht möglich. Frater Taciturnus spricht in diesem Sinne auch von „einer ewigen Qual: einer persönlichen Existenz, die sich selbst nicht zu einer Konklusion zusammenfassen kann.“⁵²³ Wie kennzeichnet sich also das Verhältnis zwischen Sprache und dem SichVerstehen? Es lässt sich eine Ambivalenz des Sich-Verstehens im Verhältnis zur Sprache benennen. Zum einen ist das Sich-Verstehen an Existenzweise gebunden (Sich-Erfahren; Sich-Bewusstwerden; Innerlichkeit), die sich der Sprache entzieht. Zum anderen kann sich das Individuum durchaus in Sprache erfassen, wenn auch nur in Abstraktion. Im Folgenden möchte ich diese Ambivalenz genauer herausarbeiten und zeigen, dass das Sich-Verstehen bei Climacus nur in dieser Spannung zu begreifen ist. Zur Konkretisierung ist das von Matthias Jung erarbeitete Erfahrungs-Modell der Artikulation hilfreich.⁵²⁴ Artikulation kennzeichnet sich durch mehrere Charakteristika. Die wichtigsten sind (für die vorliegende Sachlage): 1. Artikulation ist an die 1. Person Singular gebunden.⁵²⁵ 2. Artikulation bedeutet nicht, dass expressiv gesprochen oder gehandelt werden muss, sondern dass das Individuum sich vor sich bewusst wird.⁵²⁶ 3. Artikulation kennzeichnet sich durch ein nicht-propositionales Wissen, das durch eine Ambiguität von Evokation und Darstellung, Hervorbringen und Be-

auslegenden Denkens. In jeder Interpretation geht ein Stück Unmittelbarkeit verloren. Sie ist immer perspektivisch und somit das Ganze verfehlend (dazu beispielsweise: Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 871) Wirkliches Verstehen gelänge nach Climacus erst dann, wenn der eine Mensch den anderen Menschen in der Umfassendheit eigenen Verstehens und Erlebens in Erfahrung bringen kann, er sich „zu dem anderen, dem Handelnden machen könne[]“ (SKS 7, 292 / DUN, 483). Climacus geht demnach von dem Anspruch eines unbedingten, restlosen Erfassens aus. So muss Climacus letztlich schließen, dass jedes Individuum für sich „abgesondert“ [upsondret] (SKS 7, 294/ DUN, 486) ist. Der andere bleibt tendenziell ein Fremder. Nicht in einem absoluten Maß, denn Verstehen ist durchaus möglich, aber nicht umfänglich. Climacus verdeutlich dies anhand eines „absolut Verliebten“ (SKS 7, 461 / DUN, 702 f.). Man kann den anderen, den Verliebten nicht gar nicht verstehen, sondern allgemein und objektiv; man kann das, was er erlebt, begrifflich in Sprache fassen, aber das eigene Verliebtsein und das, was mit einem erlebend geschieht, wenn man verliebt ist (Veränderung des Blicks auf die Welt, zu Menschen, zu sich selbst etc.), kann nicht in Sprache gefasst werden.  SKS 6, 216/ SLW, 244.  Vgl. Matthias Jung, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg und München 1999, S. 262– 348. Dass die „Artikulation“ von Jung wesentlich als eine Leistung individueller Symbolisierung (im Anschluss an Dilthey, Cassirer und James) betrachtet wird, ist für die vorliegende Arbeit zwar nicht uninteressant, führt aber von dem, was herausgearbeitet werden soll, zu weit ab.  Ebd., S. 268 ff.  Ebd., S. 267.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

schreibung charakterisiert ist.⁵²⁷ 4. Artikulation bezeichnet ein reflexives Verhältnis des Individuums zu sich, wodurch es eine zeitlich kohärente Stabilität erreicht, die sich in seinen Lebenseinstellungen, Handlungen und Überzeugungen ausdrückt.⁵²⁸ Auf Climacus angewendet, bezeichnet die Artikulation ein prozessuales Sichin-Erfahrung-Bringen, das Sich-wirklich-Werden, bei dem sowohl Zukünftiges als auch Vergangenheit, ein Sich-offen-Halten und Er-leben (Hervorbringen) wie auch durch fragmentarische Erinnerung generierte autobiographische Rekonstruktion und Beschreibung⁵²⁹ in das Selbst-Verstehen einbezogen sind. Dem Hervorbringen und der Aufarbeitung liegt das Sich-zu-sich-Verhalten des konkreten Denkens zugrunde, in dem sich das Individuum in seiner eigenen Differenzierung und Entwicklung begleitet. Das konkrete Denken ist dann das Sich-Artikulieren, bei dem sich das Individuum als offene Einheit in der Gegenwart wirklich wird. Dieses Sich-konkret-Werden ist gleichzeitig durch das Erleben der nicht-propositionalisierbaren Existenzweise charakterisiert. Das Sich-Verstehen bezieht dann sowohl das Ungewisse als auch das Schon-Sein mit ein, sowohl Entdecken als auch Rekonstruktion, sowohl Vorsprachliches (Erleben) als auch Sprachliches, sowohl Sein als auch Sprache. Sich-Verstehen ist ein genuines Sich-Artikulieren, indem sich das Individuum dadurch versteht, dass es sich im Existenzvollzug sowohl evokativ hervorbringt als auch dieses Hervorbringen nachträglich beschreiben kann und somit in der ständigen Ambiguität der Artikulation verortet ist. Dies kommt in Kierkegaards Sentenz zum Ausdruck, dass das Leben vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden werden muss.⁵³⁰ Durch das vorwärtige Hervorbringen und die rückwärtige Aufarbeitung ist das Sich-Verstehen ein Vollzug persönlicher Kontinuitätsstiftung, indem es im Akt des Sich-Artikulierens auf das ganze Dasein bezogen ist. Die Kontinuitätsstiftung der eigenen Person (in der Artikulation) besitzt hierbei eine innere Ambivalenz: Sie ist offen (Ungewisses;

 Ebd., S. 274 f.; zur Unterscheidung zwischen Artikulation und bloßer Beschreibung: ebd., S. 290 f.  Ebd., S. 312 ff.  Die autobiographische Rekonstruktion und Beschreibung ist eine beständige, weil das Individuum im Werden ist und deshalb einerseits zu keinem Zeitpunkt mit der Rekonstruktion fertig sein kann (= sich rekonstruierend zu verstehen heißt, sich als Fragment verstehen) und andererseits die Sprache immer das Wesentliche der Wirklichkeit durch ihre Abstraktion verdeckt. Das nachträgliche Verstehen ist genuin durch Un-Sicherheit charakterisiert. Die existenzielle Dimension dieser Unsicherheit liegt darin, dass sie ausgehalten werden muss, weil das rekonstruierte Leben als genuiner Bestandteil der eigenen Persönlichkeit das mitbestimmt, was als Verwirklichung noch vor dem Individuum liegt: das eigene, (auch) durch einen selbst erst hervortretende Leben.  Vgl. SKS 18, 194, JJ:167/ DSKE 2, 200.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Zukunft), wird aber zugleich durch rekonstruierende Aufarbeitung (Vergangenheit) geschlossen. Das heißt, dass das Individuum aufgrund des von ihm Erlebten (Vergangenes) nicht einfach nur sagen kann, dass es so oder so ist (dass es sich so oder so versteht), sondern dass es zugleich auch die weitere Differenzierung der Person einbezieht. Durch die reflexive Artikulation gewinnt die eigene, existenzielle Wirklichkeit zwar eine bestimmbare Bedeutung, jedoch ist diese immer bloß durch eine Näherungsbewegung gekennzeichnet, in der letztlich die Akzeptanz eigener Undurchsichtigkeit eingeübt werden muss. In diesem Sinne ist der folgende zentrale Satz der Unwissenschaftlichen Nachschrift zu verstehen: „[D]ie Innerlichkeit des Verstehens hätte gerade darin bestanden, dass es der Einzelne durch sich selbst verstünde.“⁵³¹ Die Innerlichkeit als Sich-Verstehen ist immer ein Zwischenzustand (Inter-esse) zwischen Sein und Sprache; ein Erleben/Erfahren, das beschrieben werden kann, aber nicht allein dadurch bewusst wird, indem es sprachlich erfasst wird; ein bestimmter Blick auf die eigene Person und die Welt, der in seiner umfassenden subjektiven „Einfärbung“ jeder sprachlichen Erfassung der eigenen Person und der Welt zugrunde liegt.⁵³² Um nun aber das Verhältnis von Innerlichkeit und Sprache noch präziser zu kennzeichnen, muss der Blick auf folgende Sachlage geheftet werden: Indem es Climacus um die existenzielle Wirklichkeit (Innerlichkeit) geht, die sich nicht vollständig in Sprache zwingen lässt, aber vollständig in Erfahrung gebracht werden soll, gibt er zu verstehen, dass die existenzielle Konsequenz der Innerlichkeit als konkreter Existenzvollzug die ist, dass sich das Individuum aus dem Mittelbaren, dem Abstrakten, der Sprache befreien soll.⁵³³ Es geht Climacus letztlich darum, zu neuer Unmittelbarkeit, zu einer nicht-abstrakten Nähe zu sich selbst⁵³⁴ zu gelangen und die Sprache zu überwinden. ⁵³⁵ Strukturell gefasst: Im

 SKS 7, 77 f. / DUN, 205.  Vergleiche auch die Deutung der „Samariter-Szene“ (Kapitel 2.2.4.3).  In dieser Befreiung aus der Sprache liegen das Tun und Handeln, die Entscheidung und der Wille, die Innerlichkeit als Vollziehen. Climacus betont mit Bezug auf die Sprache, dass es „doch immer schwieriger sein wird es zu tun, als es in der Rede den Anschein hat.“ (SKS 7, 421 / DUN, 649)  „Den Ort des Interesses an sich selbst, d. h. am eigenen Existieren, nennt Kierkegaard die ‚Innerlichkeit‘: die nicht-abstrakte Nähe zu sich selbst, die für … Objektivität und Allgemeinheit gerade nicht zugänglich ist.“ (Deuser, „Existenz-Mitteilung“, S. 202). Eben dies, was Hermann Deuser als nicht-abstrakte Nähe bezeichnet, ist die neue Unmittelbarkeit des Individuums zu sich (und im religiösen Sinne dann auch zur Ewigkeit: vgl. Kapitel 2.3.2.3.1), die man als einen Zustand von Nicht-Entfremdung und Wiedergewinnung dessen, wer man (immer schon) ist, verstehen kann. (Dies ist von Gerhard Schreibers Ausführungen zum Verhältnis von Unmittelbarkeit und Glaube entlehnt: vgl. ders., „Glaube und ‚Unmittelbarkeit’ bei Kierkegaard“ KSYB 2010, S. 391– 425, besonders S. 424.)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Schon-Sein durch Sprache über die Sprache hinaus zu neuem Sein zu gelangen.⁵³⁶ In dieser nicht-abstrakten Nähe liegt die Innerlichkeit des Existierens als SichVerstehen im Sich-Erfahren. Das Sich-Erfahren bleibt dabei an die Ganzheit gebunden.⁵³⁷ Da der Mensch aber nicht aus der Sprache herauskommen kann, kann das Individuum zu keinem Zeitpunkt unmittelbar es selbst sein, kein reines Ich als erfahrbarer Zustand sein, sondern es steht immer in einem Verhältnis, einem Abstand zu sich und kann daher nur Abschattungen der Ganzheit für sich in Erfahrung bringen.⁵³⁸

 Hierbei muss an die Ausführungen in Kapitel 2.2.3 erinnert werden: Dass das Individuum niemals in einem vollständig-unmittelbarem Bei-sich-Sein ankommen kann. Die Überwindung der Sprache ist demnach allein ein Streben bzw. der Versuch der Annäherung daran. Paul Bowles hat in seinem Existenz-Roman Himmel über der Wüste das Überwinden der Sprache hin zur Sprach-Losigkeit auf die Spitze getrieben. Die Protagonistin verliert sich auf ihrer Wanderschaft durch die Wüste, nachdem ihr Mann gestorben ist. Ihre Identität löst sich vollkommen auf, was sich auch darin äußert, dass sie das Sprechen verlernt. Sie ist nur noch dadurch, dass sie die Bewegung des Wanderns vollzieht. Dabei tritt bei ihr eine neue, unmittelbare Wirklichkeit zutage, von der sie durch die Sprache getrennt geblieben war. (Jedoch ist die neue Wirklichkeit als ein nicht-erlösender Zustand konnotiert, da mit dem Sprachverlust der Protagonistin ein Verlust der Autonomie einhergeht.) Ganz ähnlich ist die Intention bei Climacus: Mit dem Versuch der Überwindung der Sprache soll die eigene Wirklichkeit als das Neue und durch die Sprache Versperrte zutage treten. Vergleiche die Ausführungen zum „Schweigen“ in Kapitel 2.3.3.4.1.  Vergleiche die Struktur der Aneignung in Kapitel 2.1.4.  Diesbezüglich gibt Kierkegaard im Journal JJ ein schönes Bild: „Immer wieder höre ich auf die Töne in meinem Inneren, auf die frohen Winke der Musik und den tiefen Ernst der Orgel; sie zusammenzuarbeiten ist eine Aufgabe nicht für den Komponisten sondern für einen Menschen, der sich mangels größerer Herausforderungen des Lebens auf die simple beschränkt, sich selbst verstehen zu wollen.“ (SKS 18, 172, JJ:103/ DSKE 2, 177) Das Besondere an dieser Stelle ist, dass das Sich-Verstehen nicht an die Sprache gebunden wird, nicht an das Sprechen, sondern an das Hören, die unmittelbare Wahrnehmung (zur Bedeutung des Hörens bei Kierkegaard: vgl. Kapitel 1.1). Das Zitat veranschaulicht auf bildhafte Weise, wie Kierkegaard dieses Selbst-Verstehen als Sich-Erfahren konnotiert: das Hineinlauschen, die Konzentration auf sich, die sensible Wahrnehmung der eigenen Person, sind die Bedingungen jedes Sich-Verstehenwollens. Die Zusammenführung der Wahrnehmungen ist das Ziel allen Sich-Verstehens, das dann in der erfahrenen Nähe Ausdruck der Innerlichkeit ist.  Den Sachverhalt des (durch die Sprache bedingten) Im-Verhältnis-bleiben-Müssens drückt Climacus in Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est damit aus, dass er sagt: „Kann denn das Bewusstsein nicht in der Unmittelbarkeit bleiben? Das war eine törichte Frage. Denn wo es das könnte, so wäre gar kein Bewusstsein da. Wie aber wird dann die Unmittelbarkeit aufgehoben [hæves]? Durch die Mittelbarkeit, welche die Unmittelbarkeit aufhebt, indem sie sie voraussetzt [forudsætte]. Was ist denn die Unmittelbarkeit? Es ist die Realität. Was ist die Mittelbarkeit? Es ist das Wort.“ (SKS 15, 55/ JC, 154 f.) Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Wirklichkeit, die Existenz, die dem Wort, dem Akt des Sprechens, dem Mittelbaren vorausliegt. Das

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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So lässt sich über das Verhältnis von Innerlichkeit und Sprache festhalten: Als Sich-Verstehen liegt die Innerlichkeit zwischen Sein und Sprache, indem sie als subjektiver Blick des Individuums (auf sich selbst und die Welt) der Sprache zugrunde liegt. Um dieses „zugrunde“ geht es Climacus letztlich. Die Innerlichkeit ist (trotzdem sie der Sprache zugrunde liegt, gleichfalls in der Sprache verwurzelt und deshalb) das Bestreben, die Sprache zu überwinden, was einerseits die in Kapitel 2.1.3.4 herausgestellte Übersetzung der sprachlich-ästhetischen Innerlichkeit in eine existenzielle Innerlichkeit benennt, systematisch aber eben auch bedeutet: in eine Haltung der Nicht-Objektivität gelangen zu wollen; eine Unmittelbarkeit, die vor der Sprache liegt. Es geht mit der Innerlichkeit dann um ein Selbst-Verhältnis als ein nicht-abstraktes Verhältnis. Unter Einbezug komplexer dialektischer Prozesse forciert Climacus in der religiösen Innerlichkeit (Kapitel 2.3) solch ein Selbst-Verhältnis.

2.2.6 Innerlichkeit als nichtreligiöse Lebenspraxis Innerliches Existieren ist ein Sich-zu-sich-Verhalten als ständiger Vollzug des Bewusstseins. Sie ist keine bloße Gefühlsbestimmung, sondern ein rückbezüglicher, in Einheit mit Leidenschaft bestehender Reflexionsprozess; eine Existenzweise, die sich als mentale Haltung auf den Blick des Individuums gegenüber sich selbst und der Welt niederschlägt. Das dabei entstehende Selbst-Bewusstsein ist das vollständige Durchdrungensein des Individuums vom Sich-zu-sich-Verhalten (Darin-Existieren). Unter Einbeziehung der Weltverwobenheit, Selbst-Wahrnehmung und -Reflexion sowie existenz-anthropologischer Phänomenologie und reflexionsphänomenologischer Beobachtungen geht es Climacus nicht allein um das Aufzeigen und die Darstellung des Selbst-Bewusstseins, sondern um die

Sprechen steht als Medium der Mittelbarkeit zwischen Unmittelbarkeit und dem Bewusstsein des Individuums. Im Sprechen vereinigen sich Gedanke und Wirklichkeit. Reflexionsphänomenologisch zeigt Climacus demnach, dass für das Erleben Bewusstsein und Reflexion notwendig sind, weil der durch sie und damit durch die Sprache konstituierte Abstand zu sich selbst erst eine Bewertung und damit eine konkrete Wahrnehmung des Erlebens und der Erfahrungen zulässt. Ohne Mittelbarkeit kein Erleben/Erfahren. Aber: Solange Bewusstsein ist, ist zur Unmittelbarkeit nur ein mittelbares Verhältnis möglich. Innerlichkeit als nicht-abstrakte Nähe, als unmittelbare Wirklichkeit wäre dann wiederum die Überwindung der Sprache. Indem aber aus der Sprache nicht herausgekommen werden kann, wird auch die nicht-abstrakte Nähe verhindert. Immer wenn Sprache gebraucht und das Individuum sich dadurch in ein Verhältnis bringt, wird die Unmittelbarkeit aufgehoben und verbleibt in der Mittelbarkeit des Verhältnisses. – Eine ausführliche Diskussion zu der zitierten Stelle findet sich bei: Deuser, „Existenz-Mitteilung“, S. 206 – 209. Auch: Glöckner, „Das Versprechen“, S. 49 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Genese desselben als gesteigertes Selbst-Bewusstsein.⁵³⁹ Climacus bezeichnet dieses als „Existenz-Durchsichtigkeit“⁵⁴⁰; das, was dabei entsteht, ist die „Existenz-Wirklichkeit“⁵⁴¹, die durch Erleben, Entscheiden, Handeln und Sich-Verstehen ein konkretes, aus und im Leben gewonnenes Vor-sich-wirklich-Werden des Individuums bezeichnet (was eine Verflechtung von Innen und Außen darstellt). Sowohl Durchsichtigkeit (die immer defizitär bleibt) als auch Wirklichkeit gehen zusammen in der Kategorie der „Existenz-Innerlichkeit“⁵⁴². Die in Erfahrung zu bringende Haltung der Ganzheit (auch als Verflechtung von Innen und Außen zu verstehen) beschreibt den Zustand der Innerlichkeit; leidenschaftliche Entschiedenheit (Handlung) die Existenzweise; Bewusstseinstransformation ihr Geschehen. Als durch identifizierende Bewertung getragener Vollzug (Stellungnahme) besitzt die Innerlichkeit die existenziellen Charakteristika der Zustimmung (zum eigenen Dasein), des Entdecken(‐Wollens der eigenen Person) und des Annehmens (wer man ist) und ist in diesem Sinne nicht nur zu jedem Zeitpunkt ihrer Realisation ein „fortwährende[s] Lernen“⁵⁴³, sondern auch ein ontogenetischer Identitätsvollzug (durch De-Distanzierung), ist also ein Prozess (Werden) von Dauer, der das Denken in Richtung auf das Individuum selbst „färbt“ und „lenkt“ (das Sein beeinflusst das Denken), womit sie in keinem Fall als (essentialisierter) „Ort“ (beispielsweise als „Kern-Selbst“) zu bezeichnen ist. Climacus’ Perspektive auf den Menschen ist dabei, dass der Mensch aus struktureller Perspektive zur Voraussetzung jeder philosophischen Betrachtung erhoben wird. Innerlichkeit ist dann diejenige Erscheinung existenziellen Sich-zusich-Verhaltens, in der die Bedingung (Individuum) vom Individuum übernommen wird, indem es sich als Bedingung für sein Existieren erfasst; dass es also von ihm abhängt, was mit ihm selbst geschieht. Climacus zielt auf einen Umgang mit der eigenen Existenz, in der eine Haltung eingenommen wird, mit der das eigene Leben als Ort eigener Gestaltung und Wirkung wahrgenommen wird. Hierbei liegt in der Entschiedenheit des Handelns der Anspruch Climacus’, dass das Individuum durch sein Verhältnis zu sich selbst die Antwort darauf ist, was es heißt zu leben. Somit ist die Innerlichkeit als existenzielles Sich-zu-sich-Verhalten die Bewusstwerdung der Bedingung von existenzieller Möglichkeit, genauer: die Bewusstwerdung des Selbstseinkönnens und zwar als existenzdialektische

 Damit kann die Selbstcharakterisierung Climacus’ als beobachtender Psychologe (Kapitel 2.1.3.3), der nicht an der Entstehung von Bewusstsein interessiert ist, abgewiesen werden.  SKS 7, 232 / DUN, 405.  SKS 7, 327/ DUN, 526.  Unter anderem: SKS 7, 231, 244, 251, 263, 265, 320/ DUN, 404, 422, 432, 446, 449, 517.  SKS 7, 117/ DUN, 256.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Handlung, in der das Es-Tun mit dem Es-Können korreliert.⁵⁴⁴ Im existenziellen Sinne bedeutet das bei Climacus nicht einfach nur, sich bewusst zu werden, sondern sich als ein Mensch bewusst zu werden, dessen Menschsein darin besteht, dass er sich immer schon zu sich selbst verhält. Innerlichkeit ist der ExistenzAusdruck dafür, dass das Individum begreift, dass es sich durch Weltverwobenheit, Erfahrung und Selbst-Reflexion immer schon verhalten hat, verhält und verhalten wird. Die existenzielle Frage ist dann: Wie gestaltet sich das Verhalten zum Leben? Die Lebens-Kunst innerlichen Existierens besteht darin, dass sich das Individuum gegenüber sich selbst positioniert, ohne sich zu verhärten; dass es sich auf das, was ihm in der Welt entgegentritt, zu reagieren weiß, ohne sich vollständig davon einnehmen zu lassen; dass es sowohl sich selbst als auch dem gegenüber, was ihm geschieht, offen bleibt und in diesem Sinne eine in die Offenheit verlagerte Transformation des Schon-Seins vollzieht.⁵⁴⁵ Dabei gilt es, ein sensibles Gleichgewicht zwischen Denken und Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit zu wahren. Das Individuum befindet sich permanent zwischen Beständigkeit und Veränderung, zwischen Haltung-Bewahren und eigener Weiterentwicklung; zwischen Aktivität und Passivität, zwischen handelnder Initiative und reagierendem Abwarten. Die Innerlichkeit ist dabei keine reine Gegenwärtigkeit, sondern als Reflexion immer auf das ganze Dasein (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) bezogen und ausgedehnt. Die Zukunft steht für die offene Möglichkeit eigener Entwicklung, der mit Ernst und Entschiedenheit entgegengetreten werden soll; die Vergangenheit ist der Ort eigener Geschichte, von der her die Bewältigung des eigenen Lebens geschehen muss; die Gegenwart steht für die Verantwortung, sich auch zu übernehmen (sich zu sich selbst zu stellen). Das innerlich existierende Individuum wird als eines konzipiert, dass sich grundlegend der Un(ab)geschlossenheit seiner Person gegenüber sieht, die es auszuhalten und zugleich anzunehmen gilt: einerseits im Sich-offen-Halten für das, was kommt und kommen kann, andererseits im Sich-Akzeptieren in dem, was war. Innerlichkeit beschreibt das bewusste Möglichbleiben (vor dem Hintergrund eigener, sozial konstituierter Geschichte).

 Dies ist durchaus transzendental zu verstehen, aber nicht im Sinne Kants, der das Ich a priori allen Erfahrungen und allem Erkennen zugrunde legt. Bei Climacus etabliert sich eine neue transzendental-philosophische Auffassung, in der der existenzielle Grund, das Individuum in der Welt, als strukturelle Bedingung die Bedingung seiner selbst ist. Climacus eröffnet eine nachmetaphysische Transzendentalphilosophie. Dies wird besonders bezüglich der Gelegenheitsreden relevant (Kapitel 3.2).  Vgl. Kapitel 2.1.4.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

In dieser Art und Weise mit sich umzugehen liegt Gelassenheit, aber eine Gelassenheit, die Anstrengung voraussetzt, sich in der Offenheit und Akzeptanz zu halten. Sich bewusst ins Verhältnis zu sich und der Welt zu setzen bedeutet, nicht gedankenlos mit sich und dem, was mit einem durch die äußere Welt geschieht, umzugehen, sondern ständig darauf zu achten, ohne sich dem, was (mit) einem durch das Außen geschieht, zu versperren oder gänzlich anheim zu fallen. Die Gelassenheit der Innerlichkeit besteht in der inneren Bewegung, in der die Konzentration allein auf dem liegt, was (mit) einem selbst geschieht.⁵⁴⁶ Indem es grundsätzlich darum geht, dass das Individuum sich willentlich und ohne Unterlass sich zu sich selbst verhält und sich dadurch mitten im Leben, der Zeit und der Welt verortet, ist die climacische Philosophie eine, in der es um eine Zustimmung zum Leben geht. Solches Ja-Sagen ist Ausdruck der Innerlichkeit, denn die „Innerlichkeit in der Existenz“ ist eine „unvergängliche[] Freude am Leben“, „die mit dem Verlangen des Lebensüberdrusses nach Zerstreuung nichts gemein hat …“⁵⁴⁷ Hierbei darf die Rede von der „Freude am Leben“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Sich-zu-sich-Verhalten dem Individuum als ständig zu realisierende Aufgabe auf-gegeben ist. Die Lebendigkeit und Freude ist allein als Resultat einer Weltsicht des ständigen Er-Arbeitens zu betrachten. Dabei gestaltet sich das innerliche Existieren als Protest gegen die äußerliche Gleichheit des Spießbürgerdaseins,⁵⁴⁸ dem mit dem Reichtum einer sich selbst bewussten Persönlichkeit entgegengetreten werden soll.⁵⁴⁹ Der hierbei einset-

 Die Gelassenheit der Innerlichkeit ist keine stoische Gelassenheit, kein Ablegen aller Bewegung zu etwas hin oder von etwas weg, keine Transzendierung in das hinein, was ist (vgl. beispielsweise Epiktet, Das Buch vom geglückten Leben, Abschnitt VIII); wodurch die climacische Gelassenheit auch nicht mit den asiatischen Gelassenheitsphilosophien wie beispielsweise des Daoismus zu vergleichen ist. Das Individuum ist nicht Ein-Gelassen in die Dinge (vgl. beispielsweise sehr deutlich: Zhuangzi, Zhuangzi, 151 (= Das Leben verstehen, Abschnitt 11)), sondern immer durch einen Abstand zu ihnen charakterisiert.  SKS 7, 261/ DUN, 443.  Dazu ausführlich (auch und vor allem in politischer Dimension): Deuser, Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, Kap. III.  Dies bringt die innerliche Persönlichkeit scheinbar nah an eine Form des Individualismus: „Allgemein betont ein individualistisches Denken den Wert der ,Persönlichkeit‘ vor den Gemeinschaftswerten, die persönliche Freiheit vor der gesellschaftlichen Bindung, die Gleichheit des Individuums vor der Ein- und Unterordnung in das Gesellschaftsganze.“ (Anton Rauscher, „Individualismus“, in HWPh, Bd. 4, S. 289 ff., hier S. 290) Auch wenn zweifellos einige dieser Eigenschaften auf die innerliche Person zutreffen, wird dieses individualistische Bild auf die Innerlichkeit durch die Betrachtung der religiösen Innerlichkeit, vor allem auch durch die Besprechung der Reden, aufgebrochen und in Frage gestellt.

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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zende Reflexionsprozess im Individuum (innerliches Existieren) bedeutet, dass sich von allem, was ihm begegnet, abgewandt und entfremdet wird.⁵⁵⁰ In solcher (gegen-autoritativen) Vereinzelung des innerlichen Existierens liegt die Entsicherung, mit der das Individuum umzugehen hat. In der Abwendung von aller Zerstreuung, von aller Konvention und gesellschaftlicher (An‐)Passung, soll Verantwortung (stellungnehmende Entschiedenheit) übernommen werden, die der Einzelne zu tragen hat. Innerlich zu existieren heißt bei Climacus zunächst, auf sich verwiesen zu sein und das undelegierbar. Zugleich ist der Mensch in der Welt sozialer Erfahrung und Verflechtung ausgesetzt. So ist mit dem Konzept der Innerlichkeit der existenzielle Widerspruch fokussiert, dass das Individuum zwischen einer sich abwendenden Reflexionshaltung und einer Verortung in der Welt situiert ist und diesen Widerspruch aushalten muss. Gemessen daran wird deutlich: Als Person ist das Individuum nicht das, was es äußerlich tut, sondern es ist das Verhältnis dazu. Selbstsein ist Stellungnahme (zum eigenen Tun). Als innerliche Person zu leben bedeutet dann auch, dass alle Erklärungen, alle Rechtfertigung, alle Fehler, kurz: dass mit all dem, wie sich das Individuum selbst deutet, zu leben ist. Zu leben heißt sich anzunehmen und zugleich in Frage zu stehen. Dieses In-Frage-Stehen ist von entscheidender Bedeutung. Das Individuum muss sich nicht nur die Welt als Ort der Kontingenz, sondern auch sich selbst als kontingent verstehen. Das Individuum hat sich damit zu arrangieren, dass es objektiv ungesichert lebt. Es bleibt zwar in der Welt und ihren Erscheinungen und Begegnissen verhaftet, könnte sich daran festhalten, aber gerade dies gilt es nicht nur zu unterminieren, sondern mit einem Bewusstsein permanenter Ungewissheit zu unterfüttern.⁵⁵¹ Die Praxis, die von Climacus demnach eingefordert wird, soll

 Es geht damit auch um die (Selbst‐)Sorge. Denn bei der Sorge um sich selbst liegt der „zentrale[] Kern“, wie Foucault mit Bezug auf Marc Aurel schreibt, darin, dass man sich von allem, was die Aufmerksamkeit, die Beflissenheit anzuziehen und den Diensteifer zu beanspruchen droht und was nicht wir sind, abwenden [muß]. Davon hat man sich ab- und sich selbst zuzuwenden.“ (Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 260 f.)  Es muss sich bei Climacus immer ins Bewusstsein gerufen werden, dass alles Äußere und ebenso alles eigene Entwickeln im Werden ist: „Das unaufhörliche Werden ist die Ungewissheit des irdischen Lebens [Jordlivets], in dem alles ungewiß ist.“ (SKS 7, 85/ DUN, 215) Dieser Ungewissheit wird systematisch das Akzeptieren der Ungewissheit gegenübergestellt. Bezüglich des eigenen Personseins bedeutet dies eben, sich selbst als unabgeschlossen und offen zu verstehen. Alles andere wäre nach Climacus Verzweiflung, dem „Drang, etwas abgeschlossen zu haben“ [Trang til at have noget Færdigt] (SKS 7, 85/ DUN, 215). Und doch gibt es in dem nicht-verzweifelten, sich als unfertig verstehenden Lebensvollzug Rückhalt. Denn das Individuum ist ein weltverwobenes und sozialisiertes (das Geschichte besitzt), wodurch die Ungewissheit relativiert wird, aber nur in dem Maß, wie dieser Rückhalt als Richtschnur dafür dient, sich von ihm für das Noch-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nicht nur durch ein waches Denken erarbeitet, begleitet und geformt werden, sondern ist durch eine innere Spannung gekennzeichnet: zwischen leidenschaftlichem Selbstbezug und objektiver Ungewissheit der Veränderung. Das philosophische Programm Climacus’ gestaltet sich dann als eines, in dem die Frage nach dem „guten“ Leben nicht durch objektive Argumentation zu beantworten ist. Vielmehr gehört das Stellen der Frage – und in eins das Eingeständnis der Offenheit ihrer Antwort – selbst schon zur Antwort.⁵⁵² In diesem Sinne gilt für Climacus das Gleiche, was Anton Hügli einmal im Zusammenhang mit Karl Jaspers’ Philosophie sagt: „Philosophie kann mir höchstens helfen, den Ort zu finden, an dem ich mit der Suche nach einer Antwort beginnen kann – so ich denn will. Sie befreit, aber geben kann sie nichts, nichts, woran man sich halten kann.“⁵⁵³ Ausstehende abzulösen. Innerlicher Existenzvollzug bedeutet immer, sich ungesichert dem noch Negativen gegenüberzusehen, was ein entscheidender systematischer Punkt für das religiöse Existieren ist: vgl. Kapitel 2.3.3.  Interessant ist, was Climacus gegen Hegels abstrakte Philosophie sagt, dass „keiner durch diese Philosophie dahin gebracht werden kann, sich selbst zu verstehen …“ (SKS 7, 283/ DUN, 471) Einerseits sagte er, dass eine Philosophie, die – aus Climacus’ Sicht – in ihrem systemischen Charakter einzig auf resultatives Feststellen ziele, nicht dabei helfen kann, Antworten für das eigene Leben zu finden. (Dass dem bei Hegel nicht so ist: vgl. Hyppolite, „Anmerkungen zur Vorrede der Phänomenologie des Geistes“, besonders S. 46 und 50.). Indem die Philosophie Hegels als Abstoßungspunkt für die eigene Philosophie Climacus’ dient, setzt er sich gleichfalls in ein Verhältnis zu Hegels Philosophie. Er betont demnach zugleich, dass jegliches philosophische Sprechen eines Philosophen – auch Climacus’ eigene Philosophie – überhaupt keine unmittelbare existenzielle Wirkung hervorrufen kann. Und doch beansprucht Kierkegaards Denken eine solche Wirkung (vgl. Kapitel 2.1.2.3.1). Denn Kierkegaard gehört, wie Feuerbach, zu jenen posthegelschen Philosophen, die sich selbst als Philosoph in der Wirklichkeit verstehen, die die Wirklichkeit thematisieren und auf sie hin schreiben wollen. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift merkt Climacus dementsprechend sarkastisch (nicht mehr bloß ironisch) an, dass sich Hegels Ausblenden der Wirklichkeit (das konkrete Existieren) schon dadurch beweise, indem er auf dem Papier ein System entwirft und die „ganze Welt … bewege[]“, ohne dass dies jemals konkret gelingen würde. (vgl. SKS 7, 381 / DUN, 596 f.).  Anton Hügli, „Grenzsituation oder: vom Sinn der Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz“, in Existenz und Sinn. Karl Jaspers im Kontext. Festschrift für Reiner Wiehl, hg. von Anton Hügli, Dominic Kaegi, Bernd Weidmann, Heidelberg 2009, S. 1– 22, hier S. 22. – Überhaupt lassen sich die in diesem Kapitel vorgenommenen Betrachtungen zum Selbstsein in einen kontextuellen Zusammenhang zu Karl Jaspers stellen: Das „,ich bin‘ im existenziellen Sinne … löst sich überhaupt in keinem Gedanken, sondern nur in den grundlosen Vollzügen, in denen ich meiner als frei verantwortlich und als Ursprung bewußt bin. Die Formel ‚ich bin‘ ist dann nicht Aussage eines Wissens, sondern signum für das Wesen der Erscheinung, dessen ich, wo ich unbedingt entscheide, in jeder Erfüllung absoluten Bewusstseins inne werde.“ (Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung. 4., unveränd. Aufl., Berlin, Heidelberg und New York 1973, S. 46) Auch wenn Jaspers „existenzielles ich bin“ durch die essentialisierende Bestimmung des „Wesens“ konnotiert

2.2 Sich-zu-sich-Verhalten und Innerlichkeit

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Die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Ungewissheit im Umgang mit dem eigenen Leben liegt der Philosophie Climacus’ in dem gleichen radikalen Maß zugrunde.⁵⁵⁴ Nur wenn sich das Individuum als Person auf die Ungewissheit und Offenheit einlässt, sich an der Ungewissheit abarbeitet, sich ihrer annimmt und dagegen opponiert, durch ein ständiges Sich-verorten-Wollen in der Welt und ein ständiges Sich-konkret-Werden im Sich-Hervorbringen des Er-lebens, kann von innerlichem Existieren des Individuums gesprochen werden; einem Existieren des Widerspruchs, in dem klar wird, „daß es das Ich als Konstante nicht gibt …“⁵⁵⁵

wird, legt er doch climacische Gedanken frei: eigene Entscheidung; sich im Vollzug in Erfahrung bringen; sich selbst als Bedingung der Möglichkeit eigenen Existierens wahr- und übernehmen. Helmut Fahrenbach hat die Nähe Jaspers’ zu Kierkegaards Denken überzeugend herausgehoben und die Kierkegaard-Adaption Heideggers und Sartres als die gegenüber dem Jaspers’schen Denken weniger adäquaten Aneignungen Kierkegaards qualifiziert: vgl. Fahrenbach, „Kierkegaard und die gegenwärtige Philosophie“, S. 154– 162. Zur ausführlichen Diskussion des Verhältnisses zwischen Jaspers und Kierkegaard ist m. E. sehr István Czakós Monographie, Geist und Unsterblichkeit, S. 165 – 189, zu empfehlen. Zudem ist Heideggers eigene Positionierung gegenüber Kierkegaards und Jaspers’ Existenzbegriffen (die Heidegger als dieselben versteht) im Band 35 der Heidegger-Gesamtausgabe zu beachten: Ders., Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides, § 14b.  Eine der wichtigsten Stellen dazu ist sicher die, wenn Climacus davon erzählt, wie er wegen Unwohlseins mehrmals zum Arzt geht, aber keine Verordnung des Arztes gegen das Unwohlsein hilft. Im Anschluss formuliert er die von Schwermut gekennzeichnete Behauptung: „Und so ist es mit uns Menschen. Das ganze irdische Dasein ist eine Art Übelbefinden. Fragt jemand nach dem Grund, so fragt man ihn zuerst, wie er sein Leben eingerichtet habe; sobald er das gesagt hat, antwortet man: hier sitzt es, das ist der Grund. Fragt ein anderer nach dem Grunde, benimmt man sich auf dieselbe Weise, und wenn er das Entgegengesetzte sagt, antwortet man: hier sitzt es, das ist der Grund – geht mit einer wichtigen Miene fort als derjenige, der alles erklärt hat, bis man um die Ecke gekommen ist, da zieht man den Schwanz ein und schleicht sich weg. Auch wenn mir einer zehn Reichstaler gäbe, ich würde es nicht auf mich nehmen, das Rätsel des Daseins zu erklären. Warum sollte ich das auch tun? Ist das Leben ein Rätsel, endet es wohl damit, dass, wer das Rätsel aufgegeben hat, selbst die Lösung gibt.“ (SKS 7, 409 f. / DUN, 634 f.) Trotz humoristischer Brechung ist diese Stelle von existenziellem Ernst. Ist die Existenz ein „Übelbefinden“, ein Leiden am „Rätsel“, das keine Lösung hat, ist es eine grundlegende Voraussetzung im Umgang mit dem eigenen Leben, diese Undurchsichtigkeit anzunehmen. Wenn Climacus am Ende schreibt, dass das Rätsel dadurch ein Ende findet, indem aufgehört wird, die Frage nach der Lösung des Rätsels zu stellen, ist kein resignativer Nihilismus impliziert, sondern die existenzielle Aufgabe, das Leben selbst anzunehmen und dabei einen Verzicht auf objektive Begründung einzuüben (was eine grundlegende Bestimmung für das religiöse Existieren ist: vgl. Kapitel 2.3.2.4). Erst wenn aufgehört wird, eine distanzierte Haltung zum Leben einzunehmen, ist das Leben das durch das Individuum in Erfahrung gebrachte. Erst durch selbst gelebte Handlung wird Leben unmittelbar, in dem Sinn verborgen liegt und dem Sinn verliehen werden kann. Auf die Sinn-Frage wird besonders bei den Reden eingegangen: u. a. Kapitel 3.2.3.4.  Strittmatter, Mai in Piešt’any, S. 69.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Solcher Defizienz von (systematisch-existenzieller) Konstanz begegnet Climacus mit dem religiösen Existieren.

2.3 Religiöse Innerlichkeit „[I]n Wahrheit existieren, also mit Bewusstsein seine Existenz durchdringen, zugleich ewig gleichsam weit über sie hinaus und doch in ihr gegenwärtig und wiederum doch im Werden: das ist wahrlich schwierig.“⁵⁵⁶

2.3.1 Vorbetrachtung 2.3.1.1 Systematische und philosophische Voraussetzungen Climacusʼ philosophisch-systematischer Ausgangspunkt zur Betrachtung der religiösen Innerlichkeit ist das sokratische Denken, das er gegen das platonische Denken dadurch abhebt, dass Sokrates sich seiner Existenz bewusst war und dieses Faktum in all sein Denken einbezog. Der wesentliche Grundgedanke, den Climacus dabei für sich in Anspruch nimmt, ist der, dass der existierende Mensch in der Existenz kein ewiges Bewusstsein erlangen kann, weil er der Ewigkeit inkommensurabel ist. Im Gegensatz dazu ist es durch die Anamnesislehre im platonischen Denken möglich, die Ewigkeit in der Zeit dadurch zu erreichen, dass sich die Seele an ihre vergangene und in ihr vorausgesetzte Ewigkeit erinnert. Bei Platon ist die Ewigkeit in der Immanenz durch die Verinnerlichung (Erinnerung) eine konkret realisierbare Möglichkeit, während bei Sokrates die Verinnerlichung dazu führt, dass sich das Individuum seiner Ausgeschlossenheit von der Ewigkeit bewusst wird. „Ein Mensch ist seiner Möglichkeit nach ewig und wird sich dessen in der Zeit bewusst: das ist der Widerspruch innerhalb der Immanenz.“⁵⁵⁷ Der Widerspruch im sokratischen Denken, sich zum Ewigen zu verhalten, ohne es in Besitz bringen zu können, bildet den systematisch grundlegenden Gedanken für die ethisch-religiöse „Religiosität A“.⁵⁵⁸ Sie bezeichnet diejenige  SKS 7, 280/ DUN, 468. Hier werden Selbstbezug, Gottesbezug und Kontingenz und damit die Fragen nach Identität und Religiosität kurz und knapp verdichtet, womit ebenfalls in einem Satz diejenigen Sachkomplexe benannt sind, die die religiöse Innerlichkeit umfasst.  SKS 7, 526/ DUN, 787.  Zur Religiosität A sei hier nur auf einige wichtige Sekundärliteratur verwiesen: Søren K. Bruun, „The Concept of »The Edifying« in Søren Kierkegaardʼs Authorship“, KSYB 1997, S. 228 – 252, hier S. 232– 238; Bühler, „Warum braucht das Pathetische den Humor? Humor und Religiosität bei Johannes Climacus“; Ingolf Dalferth, „Religiosität bei Kierkegaard und Schleiermacher“, in

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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religiöse Lebensform, in der sich zwar zur „ewigen Seligkeit“ und damit zum „ewigen Leben“ verhalten wird, aber kein christliches Existieren („Religiosität B“) darstellt. „Die Religiosität A muss erst im Individuum da sein, ehe davon die Rede sein kann, dass es auf das dialektische B aufmerksam werde.“⁵⁵⁹ Die Religiosität A ist diejenige religiöse Existenzform, die nicht nur die Voraussetzung für Climacusʼ Programm des „Christ-Werdens“ ist,⁵⁶⁰ sondern erst vom Menschen durchwandert werden muss, um zu verstehen, was es bedeutet Christ zu sein.⁵⁶¹ Dass Climacus die Voraussetzung der Religiosität A für das christliche Existieren betont, verweist darauf, dass mit dem ethisch-religiösen Existieren ein Modell des (religiösen) Existierens gegeben wird, das von Climacus selbst als so grundlegend erachtet wird, dass sich erst durch diese Existenzform zeigt, was es bedeutet religiös zu existieren. Diese grundlegende Allgemeinheit des religiösen Existierens „A“ betont Climcus, wenn er schreibt: „Die Religiosität A kann im Heidentum sein …“⁵⁶²; also jedem nicht-christlichen Religiositätsdenken innewohnen.⁵⁶³ In ihrer Allge-

Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, hg. von Niels Jørgen Cappelørn, Berlin und New York 2006 (Kierkegaard Studies, Monograph Series Bd. 11) S. 217– 264, besonders S. 240 ff.; Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, besonders S. 200 – 205; Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 313 – 322; Gregor Malantschuk, „Die Begriffe Immanenz und Transzendenz bei Søren Kierkegaard“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 463 – 495, besonders S. 475 – 480; Michael Olesen, „The Climacean Alphabet“, KSYB 2005, S. 282– 293; Calvin O. Schrag, „The Kierkegaard-Effect in the Shaping of the Contours of Modernity“, in Søren Kierkegaard. Critical Assessment of Leading Philosophers. Vol. IV, S. 316 – 332, besonders S. 322– 327; Schulz, Eschatologische Identität, besonders S. 286 – 303 und S. 402– 408; Vetter, Stadien der Existenz, S. 136 – 154.  SKS 7, 506/ DUN, 761.  Dazu: Olesen, „The Climacean Alphabet“, S. 286 f.  So ist es nicht verwunderlich, dass in der Unwissenschaftlichen Nachschrift das ethisch-religiöse Existieren nicht nur von Anbeginn der Schrift vorbereitet wird, sondern auch mehr als zweihundert Seiten in der Besprechung in Anspruch nimmt, während das christliche Existieren wesentlich auf gut dreißig Seiten abgehandelt wird. Natürlich ist diese Einteilung eine unzureichende, da alle Ausführungen in der Unwissenschaftlichen Nachschrift letztlich der Explikation des christlichen Existierens dienen, dessen genaue Besprechung durch Climacus lediglich die Zuspitzung aller vorher gemachten Aussagen ist.  SKS 7, 506/ DUN, 761.  Ob die Religiosität A wirklich solch eine allgemeine Konzeption von Religiosität ist, dass sie auch im Buddhismus, Islam, Judentum oder Hinduismus (etc.) angewandt werden kann, wie Calvin O. Schrag behauptet, halte ich für eine gewagte These, die im Einzelnen überprüft werden muss (vgl. Schrag, „The Kierkegaard-Effect in the Shaping of the Contours of Modernity“, S. 323). Mir scheinen die Voraussetzungen für das Modell „A“ strikt christlich-griechischer Natur zu sein, die auf das genuin Christliche hinzeigen und -führen sollen. Das Modell auf andere Kulturkreise

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

meinheit ist sie Ausdruck der conditio humana der Möglichkeit des Sich-zu-GottVerhaltens: „Das Humane ist die verborgene Innerlichkeit in absoluter Leidenschaft; und darin liegt …, dass sich jeder andere Mensch Gott ebenso gut muss nähern können …“⁵⁶⁴ Deshalb bezeichnet er sie auch als das „AllgemeinMenschliche“.⁵⁶⁵ Der existenziell-religiöse Kern der Religiosität A besteht darin, dass der Mensch dadurch in ein Verhältnis zur ewigen Seligkeit tritt, indem er sich verinnerlicht und durch die Verinnerlichung das ewige Leben erreichen will, dabei aber entdeckt, dass das Ewige in der Zeit nicht erreicht werden kann, Gott also in der Existenz das Entzogene ist. „[F]ür die Religiosität A ist nur die Wirklichkeit der Existenz, und doch ist das Ewige beständig von ihr verborgen, und verborgen anwesend [tilstede].“⁵⁶⁶ Die verborgene Anwesenheit Gottes in der Religiosität A zeigt nicht nur auf die Transzendenz Gottes in der Immanenz, sondern kennzeichnet A als diejenige Religiosität, in der Gott als Grund, dabei aber zugleich in seiner Entzogenheit als Negativum gedacht wird,⁵⁶⁷ was Climacus anhand der Kategorie des Erbaulichen herausstellt. Indem Gott in der Religiosität A da ist, für den Menschen aber unerreichbar bleibt, liegt ihre religiöse Praxis in einem ständigen Streben zu Gott. Mit der Betonung des Strebens zeigt Climacus auf den ethischen Aspekt der ethisch-religiösen Religiosität A. Das Ethische kennzeichnet sich in Bezug auf das Religiöse systematisch in drei Weisen: Aus stadientheoretischer Perspektive ist das ethische Existieren die das religiöse Existieren fundierende und unterliegende Existenzweise. Bei Climacus muss das Individuum ethisch existieren, um religiös sein zu können:⁵⁶⁸ „Nimmt man das Religiöse, dann gilt es, dass es durch das Ethische hindurch gegangen ist.“⁵⁶⁹ Aus modal-ontologischer Perspektive liegt der wesentliche Kern des ethischen Existierens darin, dass es das sich als Werden und Bewegung (Streben) zum Ideal definierende Existieren ist. Es beschreibt das Existieren als Bewegung zur Mög-

mit anderen Traditionen und anderen philosophischen Konzeptionen anwenden zu wollen, bliebe dennoch ein ungemein spannendes Unterfangen.  SKS 7, 462 / DUN, 704 (Hervorhebung d.Vf.).  SKS 7, 516/ DUN, 774.  SKS 7, 519/ DUN, 777.  Helmuth Vetter stellt heraus, dass Climacusʼ Denken der Religiosität A dadurch nahe an der negativen Theologie orientiert sei: ders., Stadien der Existenz, S. 152. Zum genauen Verhältnis von Kierkegaard und der negativen Theologie: D. Law, Kierkegaard as Negative Theologian, besonders S. 206 – 217. Zudem ist der Artikel von István Czakó zu Climacusʼ Auffassung Gottes als das „Unbekannte“ zu beachten: ders., „Das Unbekannte“, KSYB 2004, S. 235 – 249.  Dazu genauer: Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, S. 166 ff.  SKS 7, 353/ DUN, 560.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

223

lichkeit. In seiner ethisch-religiösen Ausprägung ist es das Existieren als Bewegung zur Möglichkeit der ewigen Seligkeit. Aus existenzieller Perspektive liegt die Betonung des ethischen Existierens auf der Subjektivität, dem Sich-zu-sich-Verhalten beziehungsweise dem Selbst-Verhältnis des Individuums. Bezüglich des ethisch-religiösen Existierens ist dieses Selbst-Verhältnis ein Selbst-Verhältnis vor Gott. Dies benennt die Innerlichkeit, deren grundlegende Definition lautet: „[D]ie Innerlichkeit [ist] das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott, seine Reflexion in sich selbst …“⁵⁷⁰ Die Innerlichkeit ist dann also jene Existenz-Kategorie, in der (ausgehend vom Sich-zusich-Verhalten) das Ethische (Selbst-Verhältnis) und Religiöse (Gott-Verhältnis) zusammen gedacht werden. Diese Definition umfasst zwei systematische Ebenen: Zum einen die reflexionsphilosophische Ebene: Dass das Individuum als Inter-esse zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit ein Verhältnis ist, das sich zu sich selbst verhält („Reflexion in sich selbst“) – also ein Verhältnis, das sich selbst bewusst ist. Das Sich-zu-sich-Verhalten ist dabei einerseits das prozessuale Aushandeln zwischen den Gegensätzen (Interesse); andererseits kann dieses Selbst-Verhältnis das Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen nur im Glauben an Gott gewinnen, weil dieser der das SelbstVerhältnis setzende Grund ist. Innerlichkeit ist in diesem Sinne – wie bei AntiClimacus – das Selbst-Bewusstsein, das sich bewusst wird, dass es da ist, aber nicht durch sich selbst in die Welt gekommen sein kann. Innerlichkeit ist das Bewusstsein grundsätzlichen Abhängigseins (was aus dieser reflexionsphilosophischen und gleichfalls ontologischen Perspektive eine für den identitätstheoretischen Aspekt des Selbstseins grundlegend systematische Perpetuierung des ethischen Existierens darstellt, in dem das Abhängigsein persönlichen Selbstseins lediglich relational zu Welt und Biographie gefasst wird⁵⁷¹). Zugespitzt: Das Selbst als solches (als ein Für-und-Ansich) gibt es nicht.⁵⁷² Zum anderen die existenzielle Ebene: Innerlichkeit beschreibt eine religiöse Existenzpraxis, in der das Individuum sein Leben vor Gott und der Möglichkeit einer ewigen Seligkeit gestaltet. In der religiösen Innerlichkeit gehen daher jene beiden grundlegenden Auffassungen des Existierens bei Climacus zusammen, die in Kapitel 2.2.2.1 herausgestellt wurden: Bewusstseinsbewegung und Verortung in der Welt; Reflexion und Lebensumgang (womit die religiöse Innerlichkeit gleichfalls eine Existenz-Kategorie im in Kapitel 2.1.2.3.1 herausgestellten Sinne ist). Die religiöse Innerlichkeit

 SKS 7, 397/ DUN, 618.  Vgl. Kapitel 2.2.  Dazu auch: Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 189 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ist demnach das existenzdialektische Bewusst-Sein zwischen Dasein und Ewigem ⁵⁷³ und stellt in diesem Sinne die ethische Existenzgestaltung im Rahmen einer religiösen Lebensform (Religiosität A) dar. Der Begriff der Lebensform ist bewusst gewählt. Unter ihm verstehe ich die Benennung des praxisnäheren Begriffs der Lebensgestaltung auf einer theoretisch-allgemeineren Ebene.⁵⁷⁴ Lebensform benennt einen bestimmten Typus von Lebensgestaltung, ohne diesen aber vollends festzulegen, sondern diesen durch Offenheit zu konnotiert. Dies ist insofern relevant, als dass Kierkegaards mäeutisches Vorgehen nur allgemeine Arten und Weisen der Lebensgestaltung aufzeigt, die durch jeden Einzelnen mit seinem Leben zu „füllen“ sind;⁵⁷⁵ dass also die von Kierkegaard angebotenen Lebensformen durch die Aneignung des Lesers in eine konkrete Lebensgestaltung überführt werden. Vor dem Hintergrund der Religio-

 Aus dieser Charakterisierung der Innerlichkeit lässt sich gut die religiöse Phänomenologie Climacusʼ ableiten. Als Erscheinung und Struktur des Sich-Verhaltens steht die Phänomenologie systematisch immer in der existenzdialektischen Spannung des Inter-esses, also zwischen Reflexion und konkreter Realisation (Denken und Sein), die wiederum in sich das Inter-esse zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit, Gott und Dasein einschließt (vgl. Kapitel 2.3.2.1). Das bedeutet: Sämtliche religiösen Phänomene sind als Bewusst-Sein zu verstehen, tragen also eine reziproke Struktur von Denken und Sein in sich (vgl. Kapitel 2.2.4), deren existenzielle Aushandlung sich zwischen Ewigkeits- und Daseinsverhältnis abspielt. Im climacischen Denken müssen Phänomene immer im Rahmen eines solchen strukturellen Zwischenseins von Denken und Sein, Ewigkeit und Dasein verstanden und behandelt werden, wie folgendes StrukturSchema zu verdeutlichen versucht:

Die Innerlichkeit selbst ist durch die schon genannte Zwischen-Struktur definiert und deshalb die umfassendste Kategorie der climacischen Phänomenologie: „[D]ie Szene ist die Innerlichkeit im Existieren als Mensch, die Konkretion ist das Verhältnis der Existenz-Kategorien zueinander.“ (SKS 7, 326 / DUN, 526) Und das bedeutet, dass alle subjektiven, d. h. konkretexistenziellen Phänomene (wie Sorge, Leidenschaft etc.) in die Innerlichkeit als Existieren (vgl. Kapitel 2.1.1) eingefasst sind, wobei die Innerlichkeit als Metaphänomen selbst nochmal ein konkretes Phänomen darstellt.  Zum Begriff der Lebensform, wie er hingegen seit Friedrich Schleiermacher verwendet wird (Wirkung des Einzelnen auf die Gesellschaft): Gerhard Mittelstädt, „Lebensform“, in HWPh, Bd. 5, S. 118 f.  Vgl. Kapitel 2.1.2.3.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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sität A bedeutet das, dass dieselbe in ihrer von Climacus intendierten Allgemeinheit diejenige religiöse Lebensform ist, deren Lebensgestaltung im ethischreligiösen Existieren und damit in der vom Individuum konkret zu praktizierenden Innerlichkeit liegt. Die Religiosität A gibt die (allgemein-theoretisch) Form vor, deren (konkrete) Gestalt(ung) die Innerlichkeit ist. Insofern die Lebensgestaltung der Innerlichkeit wesentlich durch die ethische Existenzweise bestimmt ist, liegt der strukturelle Kern der religiösen Lebensgestaltung im Selbst-Verhältnis, das als eine reflexive Bewegung des Individuums zu sich mit einer Bewegung (ethisch: Streben) zum Ewigen einhergeht. Diese doppelte Bewegung kennzeichnet sich durch eine wechselseitige Beziehung: Zum einen ist das Selbst-Verhältnis der strukturelle Ausgangspunkt allen Gottes-Verhältnisses, denn es ist das Individuum, das sich zu Gott verhält. Zum anderen kennzeichnet sich die religiöse Innerlichkeit existenziell dadurch, dass sich das Individuum über das Verhältnis zu Gott zu sich selbst verhält. Wie diese letztere Bewegung in ihrem Umwegcharakter (sich über etwas, das nicht die eigene Person ist (Gott), selbst zu erkennen)⁵⁷⁶ zu verstehen ist, ist ein wesentlicher Aspekt der Diskussion des vorliegenden Kapitels 2.3. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Religiosität A dadurch bestimmt ist, dass der Mensch ein Verhältnis zur Ewigkeit in ihm eingeht, wodurch nur das Innere des Menschen betont wird. Die Innerlichkeit ist jene Lebensgestaltung, in der sich das Individuum zum Inneren hin „umbildet“⁵⁷⁷; sich vollständig verin-

 Der systematische Umwegcharakter existenzieller Selbsterkenntnis verbindet Kierkegaards Denken mit dem von Ludwig Feuerbach. Bei beiden bedeutet Umweg Indirektheit und Selbstentfremdung, was bei Climacus-Kierkegaard durch den existenziellen Aspekt einer gewollten Selbstvernichtung vor Gott expliziert wird (vgl. Kapitel 2.3.3.3.2). Bei Feuerbach wird der Umwegcharakter noch mehr als anthropologische Bewusstseinsstruktur aufgefasst. Das „indirekte Selbstbewußtsein“ (ders., Das Wesen des Christentums, mit einem Nachwort von Karl Löwith, Stuttgart 2008, S. 53) des Menschen ist für Feuerbach eine notwendige Bedingung, um sich selbst zu erkennen, denn erst über das exkludierte, verobjektivierte, menschliche Wesen (Gott) wird sich der Mensch selbst bewusst, indem er sich als Objekt seiner eigenen Verobjektivierung betrachtet (= über Gott auf sich selbst zurückkommt). Feuerbach bezeichnet dies auch als „Kreislinie“ der Religion (vgl. ders., Das Wesen des Christentums, S. 279), d. h. dass die Einheit des Menschen mit seinem Wesen religions-anthropologisch im Umweg über eine vorherige Trennung des Wesens vom Menschen besteht. Zum Umwegcharakter und der Selbstentfremdung als konstitutive Bedingung der Individuation bei Feuerbach: Heiko Schulz, „Der Traum des wahren Bewusstseins. Zur Aktualität der Religionskritik Ludwig Feuerbachs“, in Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, hg. von Ingolf U. Dalferth und Hans-Peter Grosshans, Tübingen 2006, S. 117– 144, hier S. 128 und 132 f. Zu Kierkegaards eigener Rezeption von Feuerbach: vgl. Czakó, Geist und Unsterblichkeit, S. 78 – 95; und: ders., „Kierkegaards FeuerbachBild im Lichte seiner Schriften“, KSYB 2001, S. 396 – 413.  Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nerlichen und diese Verinnerlichung beibehalten soll. Die Innerlichkeit ist dadurch auf zweifache Weise bestimmt, a) als vertikal-inversive Bewegung und b) als horizontales Darin-Existieren, als Handlung. Und das Handeln besteht darin, in der inversiven Bewegung des Individuums zu sich (Selbst-Verhältnis) immer danach bestrebt zu sein, zugleich ein Gottes-Verhältnis zu praktizieren. So hebt Climacus immer wieder das „Subjektivwerden“ (Sich-zu-sich-Verhalten; SelbstVerhältnis) hervor und gleichzeitig, dass das Subjektivwerden die Grundlage für jedes Gottes-Verhältnis ist.⁵⁷⁸ Entscheidend ist hierbei, dass diese so benannte Struktur der Innerlichkeit (Selbst-Verhältnis vor Gott; Subjektivität im Gottes-Verhältnis), eine Lebenspraxis ist. Climacusʼ Ausführungen sind von dem Gedanken getragen, dass eine (wenig theoretisierende) Existenzbeschreibung vorgenommen wird (was für das methodische Vorgehen in diesem Kapitel bedeutet, die in der Existenzbeschreibung zumeist nicht explizite Theorie innerlichen Existierens rekonstruieren zu müssen⁵⁷⁹). Die theoretischen Ausführungen bleiben immer an die Praxis zurückgebunden. Aus dieser Perspektive ist die basalste aller philosophischen Voraussetzungen Climacusʼ: Dass der Mensch der Einzelne ist, der mit seinem zu lebenden Leben umgehen wollen will, indem er das Leben in der Existenzbewegung zum Ewigen vollzieht. Climacus bringt dies für die religiöse Innerlichkeit zum Ausdruck, wenn er schreibt: Das Subjektivwerden würde also die höchste Aufgabe sein, die jedem Menschen gestellt ist, gleichwie der höchste Lohn, eine ewige Seligkeit, nur für den Subjektiven da ist, oder richtiger es nur für den wird, der subjektiv wird. Ferner würde das Subjektivwerden einem Menschen, solange er lebt, vollauf zu tun geben, so dass es nicht dem Eifrigen, sondern nur dem Rastlosen [Stundesløse] wiederfahren würde, dass er mit dem Leben fertig würde, ehe das Leben mit ihm fertig würde, und dieser würde nicht berechtigt sein, das Leben zu ver-

 Ausgangspunkt ist: „[E]s kommt eben darauf an, sich existierend in die Subjektivität zu vertiefen.“ (SKS 7, 176/ DUN, 331) Die sodann im religiösen Existieren von Climacus proklamierte Einheit von Subjektivität (Selbst-Verhältnis) und Gottesverhältnis wird wie folgt beschrieben: „Die[] Entwicklung oder Umbildung der Subjektivität, diese ihre unendliche Konzentration in sich selbst gegenüber der Vorstellung von dem höchsten Gut der Unendlichkeit, einer ewigen Seligkeit, ist die entwickelte Möglichkeit der ersten Möglichkeit der Subjektivität.“ (SKS 7, 122 / DUN, 261) Dies ist dialektisch-reziprok zu verstehen: aus der (forcierten) Subjektivität folgt das Gottesverhältnis (Verhältnis zur ewigen Seligkeit) und aus diesem die – in climacischer Terminologie – „wahre und wirkliche“ Subjektivität. Aus dieser Subjektivität im Gottesverhältnis (Innerlichkeit) folgt die Omnipräsenz Gottes im persönlichen Blick auf das eigene Leben und dessen Gestaltung: „[I]m Innern des einzelnen Menschen gibt es eine Möglichkeit …, die in der Innerlichkeit zu einem Gottes-Verhältnis erweckt wird, und dann ist es möglich, Gott überall zu sehen.“ (SKS 7, 224/ DUN, 395)  Vgl. Kapitel 1.3.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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achten, sondern eher verpflichtet, zu verstehen, dass er wohl die Aufgabe des Lebens richtig begriffen hätte, da es sich sonst von selbst verstehen würde, dass sie so lange dauert, wie das Leben dauert – diese Aufgabe des Lebens: zu leben.⁵⁸⁰

Die Rastlosigkeit und die lebenslange Aufgabe bestimmen die hier implizit benannte Innerlichkeit als eine Praxis, in der das Selbst-Verhältnis vor Gott nicht nur permanent als Bewusstseinszustand zu erhalten ist, sondern, in der das wirkliche und wahre Gelebtwerden des eigenen Lebens darin besteht, als einzelnes Individuum vor Gott zu existieren. Wirklich zu leben bedeutet bei Climacus religiös zu existieren; mit einem bewussten Bezug zu Gott auf das eigene Leben, die Welt und die Mitmenschen zu blicken; vor allem aber, sich selbst beständig vor die Aufgabe zu führen, das eigene Leben unter dem Primat eines zu praktizierenden Gottes-Verhältnisses (Glaube) zu sehen. Es geht also darum, in eine „lebendige Haltung“⁵⁸¹ hineinzugelangen. In einer vielsagenden Fußnote notiert Climacus sodann, dass es für das einzelne Individuum gilt, „sich auf die letzten Schwierigkeiten einzulassen, wo die Frage in letzter Instanz so scharf, so eindringlich, so beunruhigend, so unbestechlich wie möglich wird, die Frage, wie weit der Einzelne, du und ich, Glaubende sind, wie wir uns von Tag zu Tag zum Glauben verhalten.“⁵⁸² Dieser kurze Kommentar kondensiert gewissermaßen das Grundanliegen Climacusʼ. Ihm geht es von Anbeginn der Unwissenschaftlichen Nachschrift, und selbst in den kleinsten Nebenbemerkungen, immer direkt oder indirekt um ein beständiges Umund Beschreiben des Glaubens als praktischen Handlungsvollzug. Was diesen praktischen Glaubensvollzug ausmacht, ist, dass das eigene Leben als Ort des Handelns in seiner Ganzheit in den Blick gelangen und als Ganzes ergriffen werden muss, unter der Bedingung, dass sich der einzelne Mensch als Bedingung („letzte[] Instanz“) seiner selbst und seines Glaubens versteht und sich im Glauben verpflichtend an den Glaubensgegenstand bindet. Solche von Unbedingtheit geprägte Gestaltung der Existenz, in der der Glaube zum bestimmenden Moment gerät, ist das Existieren in Innerlichkeit. Schließlich muss dieser Blick Climacusʼ auf die Gestaltung des eigenen Lebens vor der climacischen Kritik der Objektivität gesehen werden. Das Problem, das Climacus im ersten Teil der Unwissenschaftlichen Nachschrift eingehend diskutiert, ist, dass der Mensch im alltäglichen Leben einen objektiven Zugang zur Welt, sich selbst, dem Leben und vor allem auch zur Religion hat. Mit einem objektiven Verhältnis zu den „Dingen“ wird aber grundsätzlich eine Distanz zwischen dem

 SKS 7, 151 f. / DUN, 300.  Guardini, „Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards“, S. 52.  SKS 7, 382 (Anm.) / DUN, 599 (Anm.).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Menschen und dem Gegenstand des Interesses eingegangen.⁵⁸³ Deshalb wird in einer verobjektivierenden – für Climacus wesentlich: wissenschaftlichen – Umgangsweise das religiöse Existieren (Christentum) nicht als Existenzumgang betrachtet.⁵⁸⁴ So sind für Climacus all jene Menschen, die sich einzig zu Gegen-

 Vgl. auch Kapitel 2.1.2.1. Climacus verdeutlicht dies für das Christentum an mehreren Sachverhalten: 1. der historischen Forschung zur Bibel (vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, Kap. I, § 1 und 820 f.) und Kirchengeschichte (vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, Kap. I, § 2 und 820 f.), 2. der religiösen Rituale, v. a. der Taufe (vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, Kap. I, § 2 und 822 f.), 3. der manipulierenden Rhetorik religiöser Prediger (vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, Kap. I, § 3.) und 4. an der objektivierenden Systemphilosophie des Idealismus und seines metaphysischen Rationalismus (vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, Kap. II.). Zur Diskussion der Fehlformen des religiös-christlichen Existenzumgangs: vgl. Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 29 – 44; zur politischen, in ein gegen-autoritatives Denken mündende Dimension dieser Fehlformen: Robert L. Perkins, „Climacan Politics. Person and polis in Kierkegaardʼs Postscript“, in Søren Kierkegaard. Critical Assessment of Leading Philosophers,Vol. IV, S. 253 – 267, besonders S. 260 – 265. Die im ersten Teil der Unwissenschaftlichen Nachschrift herausgestellten Gemeinsamkeiten von historisch- und philosophisch-objektiver Betrachtung liegt wesentlich in folgenden Punkten: a) Es besteht ein Missverhältnis, ein Widerspruch zwischen Leidenschaft und Objektivität. Die Leidenschaft, die sich zu etwas Objektivem verhält, bezeichnet Climacus – sowohl bei der historischen als auch der philosophisch-spekulativen Betrachtung – als das „Komische“. Der Widerspruch besteht darin, dass sich mit Leidenschaft auf objektives Wissen bezogen wird. Climacusʼ grundlegende Gedankenfigur ist jedoch: 1. Seligkeit nur dann, wenn Leidenschaft zur Seligkeit besteht; 2. Leidenschaft nur dann, wenn Ungewissheit besteht; 3. Ungewissheit nur dann, wenn kein wissenschaftlich-empirisches oder philosophisches Wissen besteht. Deshalb schreibt Climacus: „Es muss beständig in Erinnerung gebracht werden, dass ich von dem Religiösen spreche, wo das objektive Denken, wenn es das Höchste sein soll, gerade Irreligiosität ist.“ (SKS 7, 76 (Anm. 2) / DUN, 203 f. (Anm. 4)) b) Indem der Mensch mit Objektivität umgeht, beschäftigt er sich mit Gewissheiten und Resultaten, mit Fertigem und Abgeschlossenem. Es steht dann keine Entscheidung mehr aus: für den Historiker bedeutete das: ist Jesus wirklich da gewesen, braucht er nicht zu glauben, ist er nicht da gewesen, ebenso wenig; für den spekulativen Philosophen bedeutet das: von der Ewigkeit her ist die ewige Seligkeit gewiss und vorausgesetzt, also muss er nicht glauben.  Zu Climacusʼ Umgang mit objektivem Wissen sei Folgendes angemerkt: Wird sich objektivwissenschaftlich mit dem Christentum auseinandergesetzt, verkommt das Christentum für Climacus zur bloßen „Sache“, über die gesprochen, die aber nicht gelebt wird. Nur zeigt sich hierbei eine Ambivalenz für die Thematisierung des Christentums bei Climacus selbst. Zum einen besteht für Climacus das Problem der „Sache“ und deren nüchtern-wissenschaftliche Betrachtung darin, dass dem Christentum Gewissheit abgerungen werden will. Für Climacus soll sich der für einen Christ haltende Mensch nicht einfach nach außen wenden dürfen (an die Bibel, die Kirche, die Sakramente, die Geschichtlichkeit des Christentums), um sein vermeintliches Christsein zu überprüfen und dessen Richtigkeit äußerlich zu rechtfertigen. Andererseits ist das Christentum aber nur vorhanden aufgrund des historisch überlieferten Wissens und der durch die Geschichte hindurch nicht negierbaren Präsenz. Auch Climacus (Kierkegaard) kommt nicht umhin, sich als

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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ständen und Sachverhalten in der Welt (für Climacus zu relativen „Dingen“) verhalten, solche, die in einem „objektive[n] Seelenzustand“ [objektiv Sjelstilstand]⁵⁸⁵ leben.⁵⁸⁶ Aber nur wenn sich der Mensch absolut zum absoluten Gegenstand (ewige Seligkeit) in Beziehung setzt, sie dabei nicht als Tatsachenwahrheit versteht, sondern als etwas Ungewisses, demgegenüber sich mit

ein Glied in der Geschichte christlich geprägter Welt zu sehen und sich als ein vom umgebenden System der Gesellschaft her sozialisierten Menschen zu betrachten. Und zweitens muss er sich auf Jesus Christus berufen, wenn es ihm um das Christ-Werden geht. Die Bibel ist als – zumindest kulturhistorisches – Dokument unumgänglich (was nach der Bibelkritik im 17. und 18. Jahrhundert selbstverständlich nicht bedeutet, dass sie als Tatsachendokument gelten kann). Climacus ist in der Thematisierung des Christentums demnach in der Spannung gefangen, zum einen sein gegenwissenschaftliches Christentum-Verständnis an den Leser zu bringen, andererseits aber berücksichtigen zu müssen, dass sein Verständnis des Christentums auf schon und unumgänglich-objektiv Vorhandenes aufbaut und aufbauen muss; dass alles Verstehen durch eine physische, geschichtliche, sprachliche, soziale (etc.) Weltverwobenheit des Individuums (vor‐)geprägt ist. Um seine Sicht des Christentums deutlich zu machen – dass das Christentum in der Subjektivität liegt – muss er sich aus den Gegebenheiten herausarbeiten. Er muss das scheinbar Selbstverständliche destruieren und dem Leser klar machen, dass das Wesentliche aller Denkanstrengung nicht in der objektiven Vergewisserung, sondern in der Heraushebung der Subjektivität besteht. Dass Kierkegaard sich der eigenen geschichtlichen Verortung und auch der seiner Mitmenschen bewusst war, zeigt sich daran, dass es ihm darum geht, den Gewohnheitschrist mäeutisch wachzurütteln und zum wahren Christen werden lassen zu wollen (und daran bestätigt sich systematisch gesehen: Zur Aneignung gehört unabdingbar das Schon-Sein, das vergegenwärtigt und in gesteigerte Aktualität überführt werden soll: vgl. Kapitel 2.1.4). Vor diesem Hintergrund kann und darf das Werk des Pseudonyms Climacus das übliche Denken über die Bibel und die Kirche nicht beiseite schieben, wenn es darum geht, den Leser mäeutisch zum wirklichen (subjektiven) Christsein zu führen. Climacus will demnach im ersten Teil der Unwissenschaftlichen Nachschrift die üblichen Denkmuster aufgreifen, damit der Leser sich in das Gewohnte hineinverwickelt, um dann den Leser mit seiner Objektivitätskritik rücklings wachzurufen. Climacus begegnet den üblichen Denkweisen auf ironische Weise. Diese zur Mäeutik dienende Methode kann aber nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass nur der Christ ist, der die Lehre des Christentums annimmt, nicht der, der in sie hineingeboren wird. Das ist angesichts des Primats der Aneignung vollends für Climacusʼ Denken zu bejahen. Das Christentum wird zwar an den Menschen herangetragen, durch das Wort der Bibel, das Wort der Kirche und das Wort der Wirkungsgeschichte, nur reicht das für Climacus nicht aus, um wirklicher Christ werden zu wollen. Sein mäeutisches Programm soll zur Einsicht verhelfen, welchen Wert die ewige Seligkeit hat, was in Anbetracht aller Mäeutik bedeutet, dass das Interesse am Christentum vom Leser selbst entdeckt werden muss.  SKS 7, 30/ DUN, 149.  Climacus spricht hierbei von Historikern, die ihre Religiosität auf Tatsachenwahrheiten aufbauen wollen. Dies widerspricht aber dem climacischen Kredo, dass Leidenschaft, Glaube, nur durch Ungewissheit durchdrungener Glaube „wahrer“ Glaube ist.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

höchster, leidenschaftlicher Verbundenheit verhalten werden muss, ist er auch unmittelbar und absolut um sich selbst besorgt.⁵⁸⁷ Das religiöse Existieren ist also durch den Selbst-Bezug vor dem Hintergrund des eigenen Umgangs mit dem zu lebenden Leben im Angesicht der Möglichkeit des ewigen Lebens gekennzeichnet. Deshalb schreibt Climacus ausdrücklich: „[D]ie Frage nach der Unsterblichkeit ist wesentlich keine Gelehrtenfrage, sie ist eine Frage der Innerlichkeit, die sich das Subjekt, indem es subjektiv wird, selbst stellen muss.“⁵⁸⁸ Hierin kommt Climacusʼ Vorstellung rechten religiösen Umgangs zum Ausdruck. Mit einer Bemerkung Charles Taylors zum protestantischen Christentum kann für Climacus gesagt werden: „Meine Religion ernst nehmen heißt, sie persönlicher zu nehmen, insgesamt hingebungsvoller, innerlicher, verpflichteter zu ihr zu stehen.“⁵⁸⁹ Die Betonung liegt auf „meiner Religion“, darauf, dass – Climacus entsprechend – Religion und der Umgang mit ihr die persönliche Anteilnahme und Engagement der ganzen Person fordert und nur unter dieser grundlegenden Voraussetzung von religiösem Existieren gesprochen werden kann. Religiöses Existieren bedeutet bei Climacus nicht nur, mit der Religion zu leben, sondern das eigene Leben unter den Bedingungen des Glaubensgegenstandes zu gestalten; von den religiösen Bedingungen persönlich durchdrungen zu sein und dies auch zu wollen. In diesem Sinne gilt für Climacus in gleichem Maße, was Vigilius Haufniensis im Begriff Angst schreibt: „[D]ie Frage ist, ob ein Mensch im tiefsten Sinne die Wahrheit erkennen will, sie sein ganzes Wesen durchdringen lassen will, alle ihre Konsequenzen annimmt …“⁵⁹⁰

 „Je objektiver der Betrachter wird, desto weniger baut er eine ewige Seligkeit ᴐ: seine ewige Seligkeit auf sein Verhältnis zur Betrachtung, denn von einer ewigen Seligkeit ist nur die Rede für die in Leidenschaft unendlich interessierte Subjektivität.“ (SKS 7, 38/ DUN, 159) Solch eine Umschreibung persönlicher, religiöser Verbundenheit entspricht dem Phänomen Religiosität: „Genuine Religiosität bleibt immer – auch unter der Bedingung biographischer Wandlungs- und Reifungsprozesse – getragen von einem Gefühl der Verbindlichkeit, das allen anderen Überzeugungsbildungen und Handlungsentscheidungen vorausliegt.“ (Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie, S. 21 f.)  SKS 7, 160/ DUN, 311.  Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, S. 16.  SKS 4, 439/ DBA, 610 (Hervorhebung d.Vf.).

2.3 Religiöse Innerlichkeit

231

2.3.1.2 Fragestellung und Vorgehen Ausgangspunkt für die folgende Analyse sind drei Bemerkungen Climacusʼ: Es wird gefragt, wie die Unsterblichkeit ihm sein Leben verwandele …⁵⁹¹ Eigentlich ist es das Gottes-Verhältnis, das einen Menschen zum Menschen macht …⁵⁹² Hat[] man vergessen, was Religiöses-Existieren ist, so hat[] man vergessen, was Menschlich-Existieren ist.⁵⁹³

Climacus stellt offensichtlich die Frage nach der conditio humana vor dem Hintergrund einer religiösen Lebenspraxis (die in Anbetracht der gegebenen Zitate sowohl individuationspragmatisch als auch ethisch-humanitär konnotiert ist). Die übergeordnete praxistheoretische Frage Climacus’ lautet dabei: Wie ist das eigene Leben zu gestalten, wenn die Möglichkeit einer ewigen Seligkeit besteht? Ihm geht es um die Bedingungen und die Aufgabe des Menschseins, wenn sich der Mensch mit der Frage nach der Ewigkeit konfrontiert sieht. Und er stellt dieses Problem sachlich-objektiv. In Anlehnung an Ernst Tugendhat⁵⁹⁴ bedeutet dies: Climacus geht es nicht darum, die anthropo-ethische Grundfrage nach dem guten und gelingendem Leben durch traditionale Rechtfertigungen neu aufzurollen, sondern ihm geht es darum, im Rekurs auf das Menschsein als solches darauf zu verweisen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. ⁵⁹⁵ Dies geschieht bei ihm unter der Einschränkung einer strukturtheoretischen und existenz-anthropologischen (und damit auch pragmatischen) Perspektive. Die Antwort darauf, was es bedeutet, Mensch zu sein, wird im Verweisen auf das einzelne Individuum und dessen strukturelle Grundbedingungen des existenziellen Selbst-Verhältnisses (Subjektivität) und des anthropo-ontologischen Inter-esses gesucht.⁵⁹⁶ Das bedeutet (auch in Anbetracht der zitierten Stellen): Nach Religion und im Einzelnen nach Religiosität zu fragen, heißt, nach den Bedingungen menschlicher Existenz zu

 SKS 7, 162 / DUN, 314.  SKS 7, 222 / DUN, 393.  SKS 7, 226/ DUN, 398.  Vgl. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, S. 47.  Es geht Climacus also um das „Erkenne dich selbst!“ – sowohl im allgemein-anthropologischen als auch existenziellen Sinne (um das eigene Menschsein und die intime Selbsterkenntnis). Für Climacusʼ Vorgehen muss dabei festgehalten werden, dass es ihm auf der Theorieebene um beide Aspekte des „Erkenne dich selbst“ geht, auf der existenziellen Ebene hingegen lediglich um die intime Selbsterkenntnis, die jedoch immer auf die anthropologisch-allgemeine Ebene zurückgebunden bleibt.  In diesem Sinne schreibt Hermann Deuser zu Kierkegaard: „Menschsein ist Selbstbezug; und auf diese Weise mit sich selbst, mit Gott und der Welt fertig zu werden, diese Aufgabe erst einmal zuzugeben, wahrzunehmen und zu bestehen, macht folglich eine erste Definition des Menschen aus.“ (Ders., „Die Dialektik menschlichen Existierens“, S. 140)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

fragen;⁵⁹⁷ und umgekehrt: nach menschlichem Existieren fragen, heißt, nach den Bedingungen von Religion und im Einzelnen von Religiosität zu fragen (diese reziproke Verwebung von Existenz und Religion lässt sich strukturtheoretisch aus dem climacischen Inter-esse ableiten; dass der Mensch immer in gleichem Maße an Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit verwiesen ist). Die folgende Untersuchung der religiösen Innerlichkeit geschieht im Hinblick auf zwei thematische Schwerpunkte. Zum einen auf die Frage, was es bedeutet, innerlich zu sein; sie wirklich zu leben, wenn sie vom Individuum praktiziert wird (was die Frage nach Individuation einschließt). Zum zweiten auf die Frage, welche anthropologischen Bedingungen des Menschseins Climacus durch die Innerlichkeitsthematik zutage fördert. Sowohl die Praxis als auch die conditio humana dominieren die Blickrichtung, die wiederum von einer strukturellen Perspektive auf die Verknüpfungen und Bezüge innerhalb des Begriffs und des Phänomens Innerlichkeit bestimmt ist. Dass diese Schwerpunktsetzungen und Perspektiven nicht zwingend eingenommen werden müssen, ergibt sich daraus, dass bei Climacus die Frage der (religiösen) Innerlichkeit unter anderem eng mit erkenntnistheoretischen und innersystematischen Betrachtungen zur Stadientheorie⁵⁹⁸ verwoben ist. Das Kapitel 2.3.2 unternimmt eine genaue Analyse des religiösen Existierens vor dem Hintergrund der von Climacus in den Philosophischen Brocken und der Unwissenschaftlichen Nachschrift gegebenen Bewegungsstruktur des (religiösen) Existierens. Es geht hierbei um die dem religiösen Existieren unterliegende strukturelle Dimension. Dabei muss sich auf eine sehr komplexe als auch abstrakte Diskussion eingelassen werden, aus der sich sämtliche existenziellen und anthropologischen Einsichten Climacusʼ aus der existenz-strukturellen Phänomenologie der Bewegungsbetrachtung ableiten lassen. Deshalb bildet dieses Kapitel die philosophisch-systematische Basis der dann folgenden existenziell-anthropologischen Betrachtung der Innerlichkeit. Systematischer Ausgangspunkt des Kapitels bildet Climacusʼ anthropologische Bestimmung des Menschen in seiner existenziell-ontologischen Dimension des Inter-esse, um danach sehr detailliert die Bewegungsstrukturen und die sich aus ihnen ergebenden systematischen, strukturellen, praktischen und existenziellen Konsequenzen zu erörtern. Am Schluss wird die existenzielle Aufgabe des Menschseins vor Gott genauer herausgestellt.

 Vgl. Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 308.  Zur Stadientheorie mit explizitem Bezug auf Johannes Climacus: C. S. Evans, Kierkegaard’s Fragments and Postscript, S. 33 – 54.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

233

Im zweiten Kapitel 2.3.3 wird schließlich die Innerlichkeit als Lebensgestaltung religiöser Lebensform betrachtet. Zunächst wird anhand der religiösen Terminologie Climacusʼ die Innerlichkeit weiter differenziert und ihre praktische Dimension näher bestimmt. Weiterhin wird der Fokus auf die anthropologische Dimension gelegt, die anhand des Leidens als auch der Erbauung und der darin zutage tretenden Einsichten in das Menschsein (vor Gott) differenziert wird. Im letzten Punkt (zum religiösen Personsein) wird schließlich die anthropologische auf die existenzpragmatische Dimension bezogen, um die Innerlichkeit schließlich in ihrer genauen Ausprägung als Praxis zu bestimmen. Dabei stellt das gesamte Kapitel eine Anwendung, Kommentierung und Differenzierung des vorhergehenden Kapitels dar.⁵⁹⁹

2.3.2 Existenzielle Bewegungsstruktur 2.3.2.1 Strukturelle Vorbetrachtung Wesentlich in der „Spinoza-Anmerkung“ und dem „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken sowie dem Wirklichkeitskapitel der Unwissenschaftlichen Nachschrift (besonders der Paragraphen 1 und 2) entfaltet Climacus sein ontologisches Denken und bestimmt hierbei den Menschen in seiner existenz-ontologischen Grundstruktur. Diese fußt auf zwei Prämissen: der ontologischen Differenz „zwischen faktischem und ideellem Sein“⁶⁰⁰ und dem Menschen als „Zwischenwesen“⁶⁰¹. Nach deren kurzen Präzisierung kann das religiöse Existieren strukturell vorbereitet werden. Die ontologische Differenz zwischen faktischem und ideellem Sein beruht auf der traditionellen Unterscheidung zwischen existentia und essentia (Daß-Sein und

 Dass sich hierbei allein auf die erbauliche Religiosität (A) konzentriert wird, hat sachliche Gründe. Zum einen wird dies im Hinblick auf die erbaulichen Reden getan, deren Unterschiedenheit und Gemeinsamkeit zum Erbaulichen bei Climacus herausgestellt werden soll. Zum anderen würde eine Betrachtung der paradoxen Religiosität (die christliche „B“) eine stärkere stadientheoretische Betrachtung und eine genaue Analyse der umfassenden Ausführungen zum Paradoxen in der Unwissenschaftlichen Nachschrift erfordern. Zwar bleibt dadurch die paradoxe Innerlichkeit und damit nach Climacus die größtmögliche Innerlichkeitsform außer Acht (vgl. SKS 7, 520/ DUN, 778 f.), jedoch ermöglicht diese Aussparung einen umfassenden und differenzierten Blick auf die erbauliche Innerlichkeit, ohne den Rahmen zu sprengen.  SKS 4, 246 (Anm.) / DPB, 53 (Anm.).  SKS 7, 301 / DUN, 494.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Was-Sein, Vorhandenheit und Wesen).⁶⁰² Im Paragraph 1 des „Zwischenspiels“ schreibt Climacus: Der im Bereich der existentia liegenden Seinsbestimmungen der Möglichkeit und Wirklichkeit⁶⁰³ steht die „Wesensbestimmung“ der Notwendigkeit⁶⁰⁴ gegenüber. „Sobald ich ideell von Sein rede, rede ich nicht mehr von Sein, sondern von Wesen. Die höchste Idealität hat das Notwendige, darum ist es.“⁶⁰⁵ Climacus definiert das Notwendige von der traditionellen Metaphysik her als Wesen und Idealität und somit als reine essentia. Als dieses ist es absolutes, unveränderliches, voraussetzungsloses und relationsloses, ewiges und unendliches Sein. Das Notwendige ist nur dann ontologisch als solches bestimmt, wenn es der Zeit inkommensurabel ist, es also ewig und unendlich bleibt (dies ist entscheidend für das religiöse Existieren). Während Notwendiges beziehungsweise höchste Idealität (worunter Climacus Gott definiert⁶⁰⁶) als Wesen nicht nicht sein kann,⁶⁰⁷ ist jedes in der Zeit und Endlichkeit verhaftete (nicht notwendige) Sein hingegen der Möglichkeit des Nichtseins⁶⁰⁸ unterworfen.⁶⁰⁹ Für den Menschen gilt die ontologische Differenz nun in besonderem Sinne. Er ist bei Climacus durch eine ontologische Doppelstruktur ausgezeichnet; existiert zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit,

 Vgl. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 24 f.; Fahrenbach, Kierkegaards Ethik, S. 5 f.; Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, S. 60 f.  Vgl. SKS 4, 273 f. / DPB, 88 f.  Vgl. SKS 4, 274/ DPB, 88  SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 53 f. (Anm.)  Vgl. SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 55 (Anm.).  Vgl. SKS 4, 274/ DPB, 88.  Climacus macht den Unterschied zwischen Notwendigem bzw.Wesen bzw. höchster Idealität und Sein (Möglichkeit und Wirklichkeit) anhand der Gegenüberstellung von Gott und einer Fliege deutlich, die sich nicht durch ihr Daß-Sein (existentia) unterscheiden, sondern durch ihre Notwendigkeit (essentia), mit der sie sind (vgl. SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 53 (Anm.)). Zur Darlegung dieser und anderer von Climacus gewählten Beispiele zur Erörterung des faktischen Seins: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 162 f.  Das bedeutet konkreter: Zeitlich-räumlich Seiendes ist somit der ontologischen Kontingenz des Vorhandenseins ausgesetzt, dass es überhaupt da ist und nicht nicht da ist. Daran schließt sich die einfache, aber basale Einsicht, dass alles das,was zeitlich-räumlich da ist, allein dadurch, dass es faktisch vorhanden ist, sich durch,wie Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift für den Menschen bedeutend macht, eine Vollkommenheit auszeichnet: „Existieren … ist … eine Vollkommenheit im Verhältnis dazu, überhaupt nicht zu sein.“ (SKS 7, 301/ DUN, 493) In Anbetracht der Kontingenz, als Mensch überhaupt da zu sein (leiblich in der Welt zu sein), ist die Gegebenheit des Daseins kein Sachverhalt unter anderen. – Zum faktischen Sein als elementare Bedingung des Existierens: vgl. Schäfer, Hermeneutische Ontologie, besonders 163 f.; auch: Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 31.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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zwischen faktischem und ideellem Sein. Der Mensch ist „bifrontisch“⁶¹⁰, ein „Zwischenwesen“⁶¹¹ dessen „Zwischenzustand“⁶¹² systematisch mit dem Inter-esse bestimmt wird. Als dieses vereint der Mensch beide Seinssphären, ohne aber die Differenz zwischen ihnen zu synthetisieren beziehungsweise aufzuheben.⁶¹³ Der Zwischenzustand ist ein Zugleich aus Trennung und Vereinung. Zu existieren bedeutet, am ideellen Sein zu partizipieren, ohne ihm habhaft werden zu können (was essenziell für die Struktur des religiösen Existierens ist). Wenn aber der ontologische Hiatus zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit unvermittelbar beide Seinssphären trennt, wie kann dann am ideellen Sein partizipiert werden? Durch das Denken.⁶¹⁴ Damit kommt dem Menschen als Inter-esse eine doppelte Zwischenposition zu. Er ist nicht nur zwischen faktischem und ideellem Sein verortet, sondern ebenso (wie schon Kapitel 2.2.2.1 herausgearbeitet) zwischen Denken und Sein. Der letztere Zwischenzustand gestaltet sich ebenso wie das ontologische Zwischensein als ein Zugleich von Trennung und Vereinung. Die Trennung zwischen Denken und Sein besteht einerseits darin, dass dem Denken systematisch (struktur-ontologisch) das ideelle Sein und dem Sein das faktische Sein zugesprochen wird. Gleichfalls sagt Climacus: „[D]as Denken nimmt … das Dasein vom Wirklichen weg und denkt es durch seine Aufhebung“, wobei die folgende Hinzufügung Climacusʼ entscheidend ist, dass das Denken das Wirkliche „in die Möglichkeit übersetzt“ [sætte det over i Mulighed].⁶¹⁵ Die Trennung zwischen Denken und Sein ist also in sich eine doppelte: ideelles vs. faktisches Sein; Möglichkeit vs.Wirklichkeit. Diese Trennung wird aber gleichzeitig in Form einer Vereinung aufgehoben, indem der existierende Mensch in seiner Ganzheit Denken und Sein umfasst. Er ist denkend und seiend,

 SKS 7, 88/ DUN, 219.  SKS 7, 301 / DUN, 494.  SKS 7, 301 / DUN, 493.  Aufgrund dieses „Zwischens“ ist es durchaus irritierend, dass Climacus in idealistischer Terminologie von einer Synthesestruktur des Menschen spricht (vgl. unter anderem SKS 7, 60, 88, 91, / DUN, 187, 219, 223), sofern die Struktur des „Zwischen“ gerade nicht in einem idealistischen Sinne synthetisiert. Die „Synthese“ des Menschen ist immer unter der von Wolfgang Janke gemachten Bestimmung zu sehen: als „unabschließbare Synthesis“ (ders., Historische Dialektik, S. 434).  Vgl. SKS 298/ DUN, 490.  SKS 7, 289/ DUN, 479. Indem das Denken allein im Bereich des Begrifflich-Allgemeinen (ideelles Sein) operiert, ist die im Denken erfasste Möglichkeit die Abstraktion von Wirklichkeit und damit kein Sein im Sinne von faktischem Sein. So wird anhand der Trennung von Denken und Sein der Hiatus zwischen ideellem und faktischem Sein in die Existenz hinein verdoppelt, indem das Denken einzig dem Bereich des Begrifflich-Allgemeinen und Ideellen zugehört und damit der Faktizität des Seins inkommensurabel ist. Dazu: Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 18.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

ein Bewusst-Sein, besitzt sowohl die Faktizität des Daseins und ist durch das Denken an den Bereich des Allgemeinen und Ideellen verwiesen, was ihn bei Climacus gegenüber allen anderen Formen des faktischen Seins heraushebt.⁶¹⁶ Aus dieser Perspektive von Trennung und Vereinung folgt, dass für den existierenden Menschen als Inter-esse weder das faktische Sein gegenüber dem Denken, noch das Denken gegenüber dem faktischen Sein jeweils ein Übergewicht besitzt. Dem Menschen ist als existenzdialektisches Bewusst-Sein eine der Struktur des Inter-esse entsprechende Gleichstellung von Denken und Sein inne. Er existiert denkend. ⁶¹⁷ Dieser Bestimmung folgend ist es dem Menschen möglich, seine eigene Faktizität durch das Denken auf ideelle Inhalte auszurichten: „[I]ch muss denken können (zum Beispiel das Gute), um darin zu existieren.“⁶¹⁸ In Kapitel 2.2.4 wurde dieses Darin-Existieren als Handlung und Wirklichkeit gekennzeichnet. Existieren ist – ausgehend von dem Zitat – als die je eigene aktive Wirklichkeit zu

 Ohne Zweifel kann gesagt werden, dass Climacusʼ Konzeption des existierenden Menschen an Platon orientiert ist, indem der Mensch faktisch und endlich da ist, und gleichzeitig an der Ewigkeit (Idealität) Anteil hat, entsprechend der Seele bei Platon. (Dazu, dass das metaphysische Denken Climacusʼ in einem etwas komplizierten Verhältnis zum Denken Platons steht: Manis, „Johannes Climacus on Coming into Existence: The Problem of Modality in Kierkegaardʼs Fragments and Postscript“, besonders S. 116 ff.) Jedoch gilt bei Platon: Die Idee ist als Idealität dasjenige, was sich relationslos durch sich selbst bestimmt (vgl. Florian Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, hg. von Jens Halfwassen u. a., Berlin und New York 2007, S. 38 ff.), und als dieses die Voraussetzung aller Gegenständlichkeit ist, die aus der Idee als der die materielle Wirklichkeit erzeugenden Macht hervorgeht, womit die Idee „die äußere Wirklichkeit zu dem macht, was sie ist.“ (Taylor, Hegel, S. 428) Als Hervorgegangenes hat die empirische Wirklichkeit partizipierenden Charakter an der Idee. Die Wirklichkeit wird durch die Idee bestimmt (zum Bestimmt-Sein der Wirklichkeit: Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, S. 32– 38). Bei Climacus hingegen ist die Idee als Idealität keine hervorbringende Kraft; sie steht von allein in gar keinem Bezug zur Wirklichkeit (vgl. Zwischenspiel, § 1; womit er sich auch gegen Hegel und dessen dialektische Abhängigkeit und Vermittlung von Idee und Wirklichkeit wendet; zu Hegel: vgl.Taylor, Hegel, S. 428 – 456). Ein Gegenstand kann demnach bei Climacus nicht an der Idee partizipieren (vgl. beispielsweise Climacusʼ Bemerkung zum Verhältnis von einer Kartoffel zur Idee: SKS 7, 302 / DUN, 495). Nur der existierende Mensch hat durch das Denken Anteil am Wesen (der Idee). In einer Journalaufzeichnung notiert Kierkegaard: „Die Definition des Seins, die Platon im Parmenides § 151 gibt, die letzten Worte: Sein ist nichts anderes als das Partizipieren an einem Wesen in der gegenwärtigen Zeit.“ (SKS 19, 406, Not13:41 / DSKE 3, 444 (Hervorhebung d.Vf.)) Obwohl er hier die allgemeine Bestimmung des Seins bei Platon wiedergibt, die platonisch für alle Gegenstände der Welt gilt,was in Anbetracht climacischer Ontologie nur für den Menschen zutrifft, zeigt er auf subtile Weise an, dass nur dann von Sein im Sinne von Existenz gesprochen werden kann, wenn sich der Mensch gegenwärtig zum Ewigen verhält – wahres Sein nur glaubendes Existieren ist (dazu Kapitel 2.3.2.4.1).  Vgl. SKS 7, 281 / DUN, 469.  SKS 7, 301 / DUN, 494.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

237

verstehen, in der sich das eigene faktische Dasein als Vollzug des Bezugs zu ideellem Sein („zum Beispiel das Gute“) gestaltet. Bevor dies auf das religiöse Existieren angewandt werden soll, lässt sich die existenziell-ontologische Struktur wie folgt schematisieren:

* In dieser Schematisierung entsteht der Eindruck, dass Wirklichkeit grundsätzlich allein in Bezug zum Sein im Sinne des faktischen Seins steht. Dies gilt nur im ontologischen Sinne. Im existenziellen Sinne wird der Begriff Wirklichkeit von Climacus synonym zu Inter-esse und Existenz verwendet.

Das Existieren wird von der anthropo-ontologischen Struktur des Inter-esses her bestimmt. Das, was im Denken erfasst wird, kann so auf das eigene faktische Dasein übersetzt werden (gekennzeichnet durch den gestrichelten Pfeil), dass die eigene Wirklichkeit (Existenz) eine an Denkinhalten (Möglichkeiten, ideellen Inhalten) orientierte Lebensweise ist. Das existenzielle Handlungsziel ist es, das Inter-esse zwischen Denken und Sein, deren Hiatus, so zu überwinden, dass nicht nur Denken und Sein ineinandergreifen,⁶¹⁹ sondern ideelles und faktisches Sein in der Existenz zusammengeführt werden, um – wie Climacus in den Philosophischen Brocken sagt – „die Idealität Gottes dialektisch ins faktische Sein hineinzubekommen.“⁶²⁰ Was das religiöse Existieren bei Climacus dann kennzeichnet, ist die Bezugnahme zu einer religiösen Erlösungsvorstellung – die für Climacusʼ (religiöse) Philosophie relevante Vorstellung einer ewigen Seligkeit (die ontologisch als Ewiges ideelles Sein darstellt). Religiös zu existieren heißt, die Erlösungsvorstellung (ideelles Sein) im Denken in den Blick zu nehmen (Idealbezug), um dann den eigenen Lebensvollzug auf diese Vorstellung hin zu gestalten und im Verhältnis zum Ewigen zu existieren. Gelebte Religiosität ist demnach als verbindlicher Idealbezug zu verstehen, der systematisch nicht von der konkreten (Existenz‐)Erfahrung getrennt werden kann. Strukturell ist es wichtig, dass dabei der existenz-ontologische Hiatus beachtet wird: dass das Denken bei  Vgl. Kapitel 2.2.4.  SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 55 (Anm.).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Climacus im Bereich des Allgemeinen und Ideellen verbleibt, während das faktische Dasein eine ontologisch vom Denken getrennte Sphäre ist. Daraus folgt jene für die Struktur des religiösen Existierens grundlegende Bedingung: Dass die im Denken erfasste Erlösungsvorstellung aufgrund ihrer Idealität (ideelles Sein, Ewigkeit) der Zeitlichkeit und Endlichkeit (faktisches Sein) inkommensurabel ist. Sie bleibt einzig eine Möglichkeit, die nicht in die Wirklichkeit (Existenz) übersetzt, also im Leben nicht erreicht werden kann. Dadurch ist religiöses Existieren strukturell als die Praktizierung des Strebens zu einer solchen Erlösung zu verstehen.⁶²¹ Struktur-ontologisch ausgedrückt: „Existierend soll er also nicht aus Endlichkeit und Unendlichkeit Existenz bilden, sondern aus Endlichkeit und Unendlichkeit zusammengesetzt soll er existierend das eine von beiden werden; und beides wird man nicht auf einmal, wie man es ist, dadurch dass man ein Existierender ist, denn das ist gerade der Unterschied zwischen Sein und Werden …“⁶²² Im religiösen Existieren, dem Streben zur Erlösung, geht es um das Werden beziehungsweise die Bewegung (im Sein), sich permanent zur Unendlichkeit/Ewigkeit zu verhalten, als ein Vollzug, der das Gelebtwerden des Lebens nicht nur begleitet, sondern von innen heraus bestimmt; um ein Streben als ein durch Wollen gekennzeichnetes Verhältnis. ⁶²³ Climacus gibt zur Erläuterung dessen zwei Bewegungsmodelle.

 Für die Anschauung religiöser Praxis bei Climacus bedeutet dies: Das im Streben vollzogene Verhältnis zu Gott (Glaube) ist für Climacus die Innerlichkeit als der „Durchgang zur wahren Unendlichmachung in Gott“ (SKS 7, 165/ DUN, 318 (Hervorhebung d.Vf.)) – der Durchgang zum ewigen Leben (ewige Seligkeit). Die Metapher des „Durchgangs“ zeigt deutlich die Unerreichbarkeit des Ewigen in der Zeit und qualifiziert die Innerlichkeit als strukturelle und konzeptionelle Bedingung religiöser Erlösung (bei Climacus).  SKS 7, 382 / DUN, 598.  Das Streben ist eine praktische Kategorie. Es geht in ihr um eine freiwillige, auf Reflexion und Affirmation beruhende Aktivität, in der die subjektive Komponente, durch eine bestimmte Tätigkeit einem Ziel näher zu kommen, das maßgebliche Element ist. Es geht um Bejahung des Gegenstands des Interesses und um Realisation der bewussten Bewegung zur Erreichung des Ziels. Streben ist dann grundlegend an das Willentliche gebunden. (Zum Begriff des Strebens: Otfried Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt am Main 1979, S. 311– 333. Ich beziehe mich auf: ebd., S. 315 f.) Das bei Climacus thematisierte Streben lediglich – funktional – als ein Wollen, als ein unaufhörliches Streben, wie im deutschen Idealismus herausgestellt worden ist, zu identifizieren, greift bei Climacus zu kurz. Zwar ist das Wollen auch impliziert, wenn Climacus von Entschiedenheit (Freiwilligkeit) und Leidenschaft (Bejahung des Ziels) spricht, zugleich aber ist das Streben und die an dasselbe geknüpfte Bewegungsmodell des Existierens Ausdruck diffiziler anthropologischer Muster der conditio humana. Bei Climacus sind mit der Thematisierung des Strebens immer auch Problematiken wie die der Zeitlichkeit, Unverfügbarkeit, Identität (etc.) angesprochen.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

239

2.3.2.2 Bewegungsmodelle Das Streben zum Ewigen wird von Climacus als Bewusstseinsbewegung (Werden) thematisiert. Dafür ist erstens erneut das „Zwischenspiel“ (Philosophische Brocken) zu konsultieren. Ausgehend von Kapitel 2.2.2 soll im Folgenden (nochmal) das Werden als „Übergang von Möglichkeit zur Wirklichkeit“⁶²⁴ in den Blick genommen werden, um die schon vorgenommene Deutung für das religiöse Existieren zu erweitern. Danach wird die Struktur der im Paragraph 1 des Wirklichkeitskapitels der Unwissenschaftlichen Nachschrift entworfenen, religiösen Bewusstseinsbewegung in den Blick genommen (Kapitel 2.3.2.2.2). An beiden Stellen bestimmt Climacus ein basales und komplexes Strukturmodell, das maßgebend für die Auseinandersetzung dessen ist, was Climacus unter (religiösem) Existieren versteht (Kapitel 2.3.2.3) und zugleich zum strukturellen Grundmodell des Verständnisses der Innerlichkeit als religiöses Existieren gerät (Kapitel 2.3.2.4).

2.3.2.2.1 Philosophische Brocken: Kontinuierlicher Übergang Als Übergang ist das Werden ein Prozess, in dem eine qualitative Veränderung vollzogen wird; eine Transformationsbewegung der Möglichkeit in die Wirklichkeit, die Ergebnis und zugleich Ende der Bewegung ist. So ist Wirklichkeit das Unveränderliche und vom Werden ausgeschlossen. Gegenüber dieser Wirklichkeitsbestimmung gibt Climacus eine zweite: „Die Veränderung des Werdens ist Wirklichkeit …“⁶²⁵ Der Widerspruch zwischen beiden Wirklichkeitsbegriffen wurde in Kapitel 2.2.2 dadurch aufgelöst, dass beide Wirklichkeitsbegriffe ineinander gedacht wurden. Existenz wurde dementsprechend als zu sich selbst verhaltende Wirklichkeit (rückbezüglich-reflexive Bewegung) gekennzeichnet. Werden hingegen beide Wirklichkeitsbegriffe als unterschiedene Auffassungen von Wirklichkeit stehen gelassen, ist das Existieren nicht mehr die Bewegung zu sich selbst, sondern die Wirklichkeit als Bewegung zu einer von ihr differenten, unveränderlichen Wirklichkeit. Hierbei sind drei Sachverhalte zu beachten: 1. Indem die Existenz die Wirklichkeit im Werden ist, ist die unveränderliche Wirklichkeit von der Existenz ausgeschlossen und damit in der Existenz nicht einzuholen. 2. Indem das Werden im „Zwischenspiel“ als Übergang von Möglichkeit zur Wirklichkeit betrachtet wird, ist die Existenz als Werden eine Transformations-

 SKS 4, 274 / DPB, 88.  SKS 4, 275/ DPB, 89.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

bewegung, deren Ziel unerreichbar bleibt. Existenz wird transitiv als kontinuierlicher Übergang aufgefasst. 3. Existenzielle Wirklichkeit ist ein Im-Übergang-Sein (Bewegung) zu einer Möglichkeit, deren Wirklichkeit der Existenz selbst inkommensurabel ist. Solche Wirklichkeit ist (von den Bestimmungen des „Zwischenspiels“ her) das ideelle Sein beziehungsweise die Notwendigkeit. So gefasst, ist die existenzielle Wirklichkeit als kontinuierlicher Übergang die Bewegung zum Ewigen und Unendlichen. Dieses Verständnis existenzieller Wirklichkeit beschreibt das religiöse Existieren. Die Existenz ist das Verfolgen eines „Plans“⁶²⁶, der kontinuierlich besteht, aber kein Resultat erreicht. Das Individuum befindet sich in einer teleologischen Bewegung zur Wirklichkeit der Möglichkeit und damit für Climacus prinzipiell in einer Bewegung, an deren Ende Wirklichkeit steht. Diese Bewegung zum Ewigen ist genauer als ein Verbleiben im Übergang (Verbleiben in der Bewegung) zu bezeichnen, da das konkrete Hinübertreten zum Ewigen in der Existenz nicht vollzogen werden kann.⁶²⁷ Religiöses Existieren ist dadurch nicht nur erst dann als solches zu bezeichnen, wenn ein ewiges Telos als unveränderliche Wirklichkeit in den Blick des Existierenden rückt, sondern der Existierende selbst den Blick nicht mehr abwendet; er also die Möglichkeit seiner selbst als Vervollkommnung im Ewigen annimmt und beständig vor Augen hat: eine Bewegung aus Interesse. ⁶²⁸ Neben diesem intentionalen Aspekt religiösen Existierens tritt hinzu, was in Kapitel 2.2 ausgearbeitet wurde: Dass es bei allem Existieren im climacischen Sinne um das reziproke Verhältnis von Denken und Sein geht. Existieren ist ein Darin-Existieren oder ein am Denken orientiertes Existieren, dessen Praxis Einfluss auf das Denken hat, wodurch es ein Vollzug als verwirklichter Bezug zum Inhalt des Denkens ist (Involviertsein⁶²⁹). Religiöses Existieren ist in diesem Sinne der Vollzug (Streben) als verwirklichter Bezug zur Erlösungsvorstellung der ewigen

 Vgl. SKS 4, 273/ DPB, 87.  Der Begriff des Übergangs ist ernst zu nehmen. Er bedeutet, dass die existenzielle Wirklichkeit eine Bewegung ist, die das existenziell Unmögliche versucht: in der Existenz über die Existenz hinaus zu gelangen. Mit der Wiederholungsbewegung in der Unwissenschaftlichen Nachschrift (Kapitel 2.3.2.2.2) wird dafür die Grundstruktur angegeben, die in den darauffolgenden Teilkapiteln (besonders Kapitel 2.3.2.3) weiter differenziert wird.  In der Unwissenschaftlichen Nachschrift sagt Climacus eindeutig – und damit die existenzsystematische Fundierung für die Bewegungsbeschreibung der Philosophischen Brocken gebend: „Sobald ich anfange, mein Denken im Verhältnis zu etwas anderem teleologisch zu machen, ist das Interesse mit im Spiel.“ (SKS 7, 290/ DUN, 481) Im Interesse richtet sich das Individuum intentional auf die Möglichkeit einer ewigen Seligkeit.  Vgl. besonders Kapitel 2.2.4.1.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

241

Seligkeit. So lässt sich Bewegungsanalyse in folgendem Schema veranschaulichen:

In diesem Vollzug des Bezugs besteht die Praxis religiösen Existierens als eine reflexionsphänomenologische Bewusstseinsbewegung, die nichts anderes als eine Beschreibung der Glaubensbewegung als ständige Praxis des Glaubens (an die Wirklichkeit der ewigen Seligkeit) darstellt.

2.3.2.2.2 Unwissenschaftliche Nachschrift: Zyklische Kontinuität Climacus verdichtet in der Unwissenschaftlichen Nachschrift seine Auffassung des (ethisch-religiösen) Existierens (Religiosität A) anhand eines komplexen Bewegungsmodells subjektiven Bewusstseins. Die folgende Stelle aus dem Paragraph 1 des Wirklichkeitskapitels wird eingehend interpretiert, weil sie die strukturtheoretische Grundlage für die climacische Auffassung religiöser Innerlichkeit⁶³⁰ darstellt. Insofern Existenz Bewegung ist, gilt es, dass es doch ein Kontinuierliches gibt, das die Bewegung zusammenhält, sonst gibt es nämlich keine Bewegung. Gleichwie der Satz, dass alles wahr sei, bedeutet, dass nichts wahr ist, so bedeutet der Satz, dass alles in Bewegung sei, dass es keine Bewegung gibt*. Das Unbewegliche gehört mit zur Bewegung als das Ziel [Maal] der Bewegung, sowohl in Bedeutung von τελος als auch von μετρου, sonst bedeutet der Satz, dass alles in Bewegung sei,wenn man auch die Zeit wegnimmt, dass alles in Bewegung sei, eo ipso Stillstand. Aristoteles, der die Bewegung auf so mancherlei Weise hervorhebt, sagt deshalb, dass Gott, selbst unbewegt, alles bewege. … [D]ie Schwierigkeit für einen Existierenden [ist] die, der Existenz die Kontinuierlichkeit zu verleihen, ohne welche einfach alles verschwindet. Eine abstrakte Kontinuierlichkeit ist keine Kontinuierlichkeit, und das Existieren des Existierenden verhindert die Kontinuierlichkeit wesentlich, während die Leidenschaft die momentweise Kontinuierlichkeit ist, die gleichzeitig die Bewegung hemmt und der Impuls der Bewegung ist. Für einen Existierenden ist Entscheidung und Wiederholung das Ziel [Maal] der Bewegung. Das Ewige ist die Kontinuierlichkeit der Bewegung, aber eine abstrakte Ewigkeit ist außerhalb der Bewegung, und eine konkrete Ewigkeit im Existierenden ist das Maximum der Leidenschaft. Alle idealisierende* Leidenschaft nämlich ist Antizipa-

 Vgl. besonders ab Kapitel 2.3.2.4.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

tion des Ewigen in Existenz für einen Existierenden, um zu existieren*. … Aber die Antizipation des Ewigen durch die Leidenschaft für einen Existierenden ist jedoch nicht die absolute Kontinuierlichkeit, sondern die Möglichkeit der Annäherung an die einzig wahre, die es für einen Existierenden geben kann.⁶³¹

Climacus bezieht sich zu Beginn auf Aristoteles. Dieser nimmt, was Climacus aufgreift, eine Unterscheidung zwischen Bewegung und Unbewegtem vor. Das Unbewegliche ist bei Aristoteles das Notwendige, der unbewegte Beweger beziehungsweise Gott.⁶³² Als der unbewegte Beweger ist Gott eine Bewegung in der Ewigkeit und Unendlichkeit und als solche eine Bewegung in sich selbst – eine ganzheitliche Bewegung, die in sich selbst Ziel und Anfang der Bewegung ist (was für die folgende Analyse der climacischen Bewegung entschieden festgehalten werden muss).⁶³³ Diese Bewegung versetzt alles andere in Bewegung, weil der unbewegte Beweger das höchste Ziel aller Bewegung ist – alles strebt zu ihm hin.⁶³⁴ So wird der unbewegte Beweger von Aristoteles als das „Weswegen“, als Grund aller Bewegung definiert, wozu es in der Metaphysik heißt: „Denn es gibt das Weswegen für etwas und von etwas; letzteres kann in unbeweglichen Dingen sein, ersteres nicht.“⁶³⁵ Der unbewegte Beweger (Weswegen) ist sowohl der Grund (von) als auch das Ziel (für) der Bewegung, wobei jedoch allein die zielgerichtete Bewegung (die Bewegung für etwas) in der Welt und der Zeit ist. Climacus übernimmt von Aristoteles, dass die Existenzbewegung ein Streben zum Ewigen ist. Hierbei stehen in dem Bewegungsmodell die Bewegung in der Zeit (Existenz) und das Unbewegliche (Ewige) in einem Verdopplungsverhältnis (Spiegelung) zueinander. Dies zeigt sich zunächst anhand der Begriffsverwendung. Seinen Ausgangspunkt nimmt dies im ersten Satz, dass die Existenz Bewegung sei,⁶³⁶ die durch ein Kontinuierliches zusammengehalten wird. Hierbei muss beachtet werden, dass Climacus innerhalb des Bewegungsmodells mit einem doppelten Verständnis von „Kontinuität“ arbeitet. Zum einen identifiziert er

 SKS 7, 284 f. / DUN, 473 f. In der folgenden Auslegung und Besprechung werden die Bezüge auf dieses Zitat mit – (s.o.) – gekennzeichnet.  Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII, 6 und 7. Eine kurze Auseinandersetzung zur Bewegung bei Aristoteles in Bezug auf die Unwissenschaftliche Nachschrift findet sich bei: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 169 f.  Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII, 8, 1073a25.  Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII, 8, 1074a30.  Aristoteles, Metaphysik, XII, 7, 1072a35.  Climacus setzt Existenz mit Bewegung gleich. Dies entspricht der Bestimmung des Werdens im „Zwischenspiel“, in dem Climacus herausstellt, dass einzig in der Zeit Bewegung sein kann. Im Ewigen und Unendlichen, Ideellen und Notwendigen gibt es keine Bewegung und keine Veränderung. Dies entspricht wiederum Aristoteles.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

243

das Kontinuierliche als das Ewige (s.o.) und somit als das aristotelische Unbewegliche (im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken: das „Notwendige“), zugleich spricht er von Kontinuität im Sinne einer gleichförmigen Bewegung in der Zeit (im „Zwischenspiel“: „Plan“). So ist das Ewige/Unbewegliche das Kontinuierliche, durch das die Bewegung (Existenz) zusammengehalten wird und eine Kontinuität erhält. Um diese Gedankenfigur genauer zu verstehen, muss Folgendes beachtet werden. Climacus schreibt: „Das Unbewegliche gehört mit zur Bewegung als das Ziel [Maal] der Bewegung, sowohl in Bedeutung von τελος als auch von μετρου …“ (s.o.)⁶³⁷ Das „Unbewegliche“ (Ewige) ist zugleich als Telos (Ziel) und Metron (Maß) der Bewegung (Existenz) benannt.⁶³⁸ Climacus differenziert damit strukturell die teleologische Bewegung aus dem „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken. Das Telos der Bewegung (das Unbewegliche) besitzt eine doppelte Funktion: Als Ziel ist es das, was erreicht werden will; als Maß bestimmt es die Art und Weise der teleologischen Bewegung. Präziser lässt sich dies anhand zweier zentraler dialektischer Bestimmungen verdeutlichen: 1. Das Ziel der Bewegung (das Telos) beeinflusst (als Metron) die Bewegung zum Ziel. 2. Das Ziel ist (als Metron) in die Bewegung eingeschrieben, ohne dass es (als Telos) erreicht werden kann.

 Im Original lautet die Stelle: „Det Ubevægelige hører med til Bevægelsen som Bevægelsens Maal, baade i Betydning af τελος og μετρου …“ (SKS 7, 284 (Hervorhebung d.Vf.)) Das Problem hängt an der Übersetzung des Begriffs Maal. Hans Martin Junghans übersetzt Maal mit „Maß“ (AUN II, 13) und verweist in der dazugehörigen Endnote darauf, dass Maal mehrere Bedeutungen haben kann: Maß, Ziel, Zweck, Ausmaß, Größe, Portion, Quantum (etc.) B. und S. Diderichsen, an deren Übersetzung sich in dieser Arbeit im Wesentlichen orientiert wird, übersetzen Maal mit „Ziel“. Beide Übersetzungen haben ihren Sinn und sind nicht von der Hand zu weisen. Indem Climacus betont, dass Maal sowohl als Telos (Ziel) als auch als Metron (Maß) verstanden sein soll, arbeitet er mit seiner Differenzierung der Uneindeutigkeit des dänischen Wortes Maal entgegen und macht deutlich, dass Maal in der (im Deutschen selbstverständlichen) Differenzierung (Ziel und Maß) erfasst werden muss. Beide gängigen Übersetzungen dieser Stelle, in denen sich entweder für „Maß“ (Junghans) oder für „Ziel“ (Diderichsen) entschieden wird, bleiben hinter der Bedeutung des Dänischen zurück.  Dieses Entsprechungsverhältnis zwischen Ziel und Maß wiederholt Kierkegaard in der 1847, also ein Jahr nach der Unwissenschaftlichen Nachschrift veröffentlichten Gelegenheitsrede (erste Rede der Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist) – und zwar ebenfalls mit den gleichen systematischen Implikationen, wie sie im Folgenden entfaltet werden: vgl. SKS 8, 239/ ERG, 147.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Das Unbewegliche (Ewige) ist dann die in die Zeit hinein verdoppelte Kontinuität und zwar als die gleichförmige Kontinuität der Bewegung, die einerseits durch das Ziel ihre Form erhält (Dialektik 1) und zugleich das Ziel in sich trägt, ohne es zu erreichen (Dialektik 2).⁶³⁹ Auf die existenzielle Bewusstseinsbewegung übertragen: Die Unveränderlichkeit der Ewigkeit dient bei Climacus als Halt und Orientierungspunkt für die existenzielle Bewusstseinsbewegung. Nun hält Climacus aber fest: Das „Existieren des Existierenden verhindert die Kontinuierlichkeit wesentlich“ (s.o. (Hervorhebung d.Vf.)). An anderer Stelle schreibt er auch: „Die absolute Kontinuierlichkeit kann sein [des Existierenden, d.Vf.] Denken nicht erreichen.“⁶⁴⁰ Die Existenz (und das Denken respektive Bewusstsein) ist in der Zeit und kann keine ideelle, ewig-unveränderliche Bewegung im aristotelischen Sinne annehmen. Der Mensch ist dann vor die (existenziellreligiöse) Aufgabe gestellt, die Verdopplung (Spiegelung) der ewigen Kontinuität in die Zeit zu übertragen; diese Verdopplung auch vorzunehmen, indem er sich ständig zum Ewigen verhält. Wird dieses Verhältnis des Menschen zum Ewigen in eine von Climacus unterschiedene Terminologie überführt, bedeutet dies nichts anderes, als dass sich zum Unbedingten allein auf unbedingte Art und Weise verhalten werden kann. So ist die Verdopplung des Ewig-Unbeweglichen als gleichförmige Kontinuität in der Zeit nichts anderes als das absolute Verhältnis zum Absoluten (und das in Permanenz).⁶⁴¹ Ausgehend von der Aufgabe des Individuums, die Verdopplung vorzunehmen, muss ein Sachverhalt betont werden, durch den sich Climacus von Aristoteles absetzt. Die Differenz zwischen beiden besteht in der Veranlassung der Bewegung.Während Aristoteles von einem metaphysischen Grund (Weswegen, Gott) der Bewegung ausgeht,⁶⁴² heißt es von Climacus im „Zwischenspiel“: „Alles Werden geschieht durch Freiheit, nicht aus Notwendigkeit; nichts Werdendes wird aus einem Grund; alles aber aus einer Ursache.“⁶⁴³ Diesem Grundsatz folgend, geschieht die Bewusstseinsbewegung aus Freiheit, ist somit ein Prozess in Freiheit und damit existenziell eine Bewegung aus der Möglichkeit heraus zu

 Diese doppelte Dialektik ewigkeitsorientierter Bewusstseinsbewegung findet sich im Übrigen auch schon in der 1844 verfassten Rede Die Erwartung einer ewigen Seligkeit: SKS 5, 256/ 3R44, 170.  SKS 7, 300/ DUN, 493.  Climacus betont, dass das religiöse Existieren „mit dem Komparativen gar nichts zu tun“ (SKS 7, 497/ DUN, 749) hat; weder weniger noch mehr sein kann, sondern immer die Eigenschaft der Absolutheit in sich trägt.Vergleiche auch die Ausführungen zur „Anstrengung“ in Kapitel 2.3.3.1.2.  Dass dies ebenfalls auf Climacusʼ systematische Konzeption der Bewegung zutrifft, wird im Folgenden noch genauer herausgestellt werden. Und es ist entscheidend für die (religiöse) SelbstKonzeption (Innerlichkeit): vgl. besonders Kapitel 2.3.2.4.2.  SKS 4, 275/ DPB, 89.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

245

wählen, sich festzulegen, sich zu entscheiden und zugleich in Entschiedenheit den Bewegungsprozess selbst beizubehalten. Denn die „Schwierigkeit für einen Existierenden“ sei es eben, so Climacus, der Existenz Kontinuität zu verleihen (s.o.). Indem die kontinuierliche Bewegung zum Ewigen keine aristotelisch-kosmische Voraussetzung besitzt, sondern vom Individuum selbst abhängt, ist das Individuum der ständigen Möglichkeit des Abfallens von der Bewegung ausgesetzt. Existenzbewegung ist als ständig gefährdete eine, zu der sich permanent überwunden werden muss. In diesem Sinne ist die Wiederholung der Entscheidung (die Entschiedenheit) das Ziel der Bewegung (s.o.).⁶⁴⁴ Die existenzielle Konsequenz dessen ist, das Leben mit Hingabe an das Ewige auszufüllen. In diesem Sinne wird das Ewige existenzialisiert, indem es bei Climacus maßgeblich um das Verhältnis zum Ewigen geht, also um das Ewige als etwas, das für den Existierenden zu etwas Konkretem wird. Es steht nicht einfach als ein unfassbares An-Sich unberührbar dem Menschen gegenüber, sondern es geht den Menschen etwas an; es wird bedeutsam, gewinnt Prägnanz und tritt als Bedeutsamkeit – mit Hans Blumenberg gesprochen – „aus dem diffusen Umfeld der Wahrscheinlichkeit“⁶⁴⁵ heraus, was bei Climacus systematisch dadurch geschieht, indem das Ewige an die gelebte Zeit des Existierenden zurückgebunden wird.⁶⁴⁶ Eben dieses existenzielle Zurückbinden des Ewigen an die zeitliche Existenz, die Verbundenheit zum Ewigen – das macht die Religiosität des Individuums aus.⁶⁴⁷ Von Climacus wird dies im gegebenen Bewegungsmodell noch genauer differenziert und begrifflich durch die „Wiederholung“ gefasst, deren existenzstrukturelle Bedingung die Leidenschaft ist, die zunächst in ihren verschiedenen Funktionen und Bedeutungsebenen bestimmt werden muss. Die Leidenschaft steht als Signum für die Implementierung konkreter Wirklichkeitserfahrung in den Aspekt der Religiosität. Wichtig ist hierbei, dass Climacus von „idealisierender Leidenschaft“ (s.o.) spricht, die er in der dazugehörigen Fußnote von der „irdischen Leidenschaft“⁶⁴⁸ unterscheidet. Nicht im

 Obwohl bei Climacus die Bewegungsveranlassung durch Freiheit bestimmt ist, muss sie gleichfalls als ein dialektisches Geschehen aufgefasst werden; als ein Veranlasstwerden, in dem die Freiheit durch das Ewige bestimmt wird und die Bewegung nicht allein vom Individuum abhängt, sondern auch von dem nicht beeinflussbaren Eintreten des Ewigen in die Zeit (Augenblick). Im Hinblick auf die Freiheit wird dies im nächsten Teilkapitel besprochen (Kapitel 2.3.2.3.1).  Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, S. 78.  Dazu ausführlich: Gerhard Thonhauser, Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Søren Kierkegaard mit ständigem Hinblick auf Martin Heidegger, Freiburg und München 2011, S. 157 ff.  Vgl. Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie, S. 21 f.  SKS 7, 285 (Anm.) / DUN, 474 (Anm.).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

sinnlichen Genuss liegt die Leidenschaft, sondern in der Leidenschaft des Geistes, einem Bewusstseinsverhältnis, das in einem in Erfahrung zu bringenden Bezug zum Ewig-Unveränderlichen steht. Davon ausgehend und in diesem Sinne nimmt Climacus die Leidenschaft innerhalb des Bewegungsmodells in exponierter Weise in den Blick: als „Maximum der Leidenschaft“ (s.o.), die er an anderer Stelle auch als „größte[] [yderste] Anstrengung“⁶⁴⁹ oder „unendliche Konzentration“⁶⁵⁰ bezeichnet. In dieser höchsten Leidenschaft wird das Ewige konkret, indem es antizipiert wird (s.o.). Durch die Leidenschaft wird sich dem Ewigen angenähert, was bedeutet, dass die „Begegnung“ mit dem Ewigen in die Existenz versetzt ist (denn: „eine abstrakte Ewigkeit ist außerhalb der Bewegung“ (s.o.)).⁶⁵¹ Dabei wird aufgrund des Inter-esse des Menschen⁶⁵² ein paradoxer Zwischenzustand zwischen Annäherung (an das Ewige) und Entzogenheit (Verbleiben im Endlichen) erreicht.⁶⁵³ In diesem widersprüchlichen Verhältnis von Abstand und Annäherung liegt die Dialektik der höchsten Leidenschaft: In der definitiven Bewusstwerdung absoluter Entzogenheit des Ewigen findet die größte, aber nur asymptotische Annäherung an das Ewige statt.⁶⁵⁴ Obwohl in der höchsten Leidenschaft lediglich dieser paradoxe Zwischenzustand erreicht wird, in dem nicht über das Existieren (die Zeit und Endlichkeit) hinausgelangt wird, schreibt Climacus: „Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über das Existieren hinausgeht [udover].“⁶⁵⁵ Climacus betont hierbei zwei Sachverhalte: Zum einen, dass das Maximum der Leidenschaft ein Moment in der Zeit darstellt, was Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift auch als den „Augenblick der Leidenschaft“⁶⁵⁶ bestimmt. Zum zweiten, dass der Existierende in

 SKS 7, 57/ DUN, 184.  SKS 7, 122 / DUN, 261.  Vgl. Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 213. – Und bei Climacus heißt es deutlich: „Dem Zustand, an zwei Stellen [Steder] auf einmal zu sein“ – zwischen Ewigem und Endlichem – „kommt er am nächsten, wenn er in Leidenschaft ist …“ (SKS 7, 183/ DUN, 340 (Hervorhebung d.Vf.)).  Vgl. Kapitel 2.3.2.1.  Dies kann auch ontologisch übersetzt werden. Der Mensch befindet sich in höchster Leidenschaft in einem definitiven Zwischen von Ewigkeit und Zeitlichkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit. Das Individuum gelangt in höchster Leidenschaft in ein höchstes Inter-esse. Darauf wird ausführlich zurückzukommen sein. Vgl. Kapitel 2.3.2.4.2.  Dorothea Glöckner arbeitet diese Gedankenfigur explizit heraus: vgl. Kapitel 1.2.3. Ebenso: Richter, Der Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard, S. 34.  SKS 7, 180/ DUN, 337.  SKS 7, 180/ DUN, 337.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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der höchsten Leidenschaft über das Existieren hinausgeht, was bedeutet, das Wort „existieren“ in seinem ursprünglichen Wortsinn zu verstehen: als „ek-sistere“, „Hinaus-stehen“, als Über-Stieg über die Zeit.⁶⁵⁷ Dieser ekstatische Moment in der Zeit wird von Climacus schon zu Beginn der Philosophischen Brocken thematisiert, wenn er vom „Augenblick“ spricht, der „von dem Ewigen erfüllt“⁶⁵⁸ ist. Die Terminologie des Augenblicks, der höchsten Leidenschaft und der Ekstase bildet somit ein funktionales Verhältnis.⁶⁵⁹ In den Zustand der Ekstase zu gelangen bedeutet aber in einen Zustand vorreflexiver Erfahrung zu gelangen.⁶⁶⁰ Dies widerspricht der Leidenschaft als Signum der Erfahrungsdimension von Religiosität. Aus diesem Grund wird systematisch eine weitere Form der Leidenschaft relevant, die Climacus – im Gegensatz zur höchsten Leidenschaft – mit dem Attribut des Unendlichen versieht. Die unendliche Leidenschaft ⁶⁶¹ – oder zum Teil auch „konzentrierte [samlet] Leidenschaft“⁶⁶² – ist diejenige Modulation der Leidenschaft, mit der sich auf das Unendliche und Ewige gerichtet und das Im-Verhältnis-Stehen selbst in Erfahrung gebracht und konzentriert wird. Es wird also die auf Interesse basierende Fokussierung auf das Unendliche betont (wie auch in den Philosophischen Brocken). Sofern das Unendliche gerade dann in der Existenz präsent wird, wenn das Maximum der Leidenschaft erreicht ist, stellt die unendliche Leidenschaft systematisch die Form der Leidenschaft dar, die teleologisch auf ihre eigene Maximierung, die höchsten Leidenschaft ausgerichtet ist. Dieses Ausgerichtetsein der unendlichen Leidenschaft auf ihr eigenes Maximum ist im gegebenen Bewegungsmodell an eben dieses Maximum (höchste Leidenschaft) zurückgebunden. Wenn Climacus davon spricht, dass die Leiden Vgl. Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie, S. 84. Interessant – und im vorliegenden Zusammenhang ironisch – ist es, dass Heidegger diese Bedeutung von ex-istere in unmittelbarer Kommentierung zu Kierkegaard heraushebt, aber behauptet, dass er selbst (Heidegger) der erste sei, der den Begriff Existenz in diesem Sinne systematisch verwendet.  SKS 4, 226/ DPB, 28.  So verwundert es nicht, dass Climacus – in Entsprechung zur Unterscheidung zwischen idealisierender und irdischer Leidenschaft – den Augenblick höchster Leidenschaft von einem Augenblick sinnlichen Erlebens unterscheidet: „[D]as Vergängliche ist nichts, wenn es vorbei ist, und sein Wesen ist, vorbei zu sein, schnell wie der Augenblick des sinnlichen Genusses, der der weiteste Abstand vom Ewigen ist: ein Augenblick in der Zeit, mit Leere gefüllt.“ (SKS 7, 384 / DUN, 601) Während der sinnliche Genuss „mit Leere gefüllt“ ist, ist der Augenblick, auf den es Climacus ankommt „vom Ewigen erfüllt“ (s.o.). Irdischem Leben und sinnlichen Freuden wird anhand dieser Kontrastierung der Abschied zugunsten einer vollständig absorbierenden Fokussierung auf das Ewige und Nicht-Endliche (Un-Vergängliche) gegeben.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Vgl. unter anderem SKS 7, 40/ DUN, 161.  SKS 7, 351 / DUN, 558.

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schaft der Impuls der Bewegung ist (s.o.), ist die höchste Leidenschaft der Moment, in dem die Existenz (absolut) ausgerichtet wird, auf das Ewige hin. Das Ewige tritt absolut ins Bewusstsein. Die höchste Leidenschaft ist also jener Augenblick, in dem das Existieren nicht nur in einem Verhältnis zum Ewigen steht, sondern nach diesem Augenblick aufgrund der Etablierung solch eines Verhältnisses erst als wirkliches Existieren zu bezeichnen ist.⁶⁶³ Dementsprechend schreibt Climacus: „[I]m Augenblick der Leidenschaft bekommt es [das Individuum, d.Vf.] gerade den Schwung [Fart] zum Existieren.“⁶⁶⁴ Und dieser „Schwung“ ist systematisch die unendliche Leidenschaft. Daraus folgt grundsätzlich: Der Zusammenhang von unendlicher und höchster Leidenschaft ist eine zirkulär-rückbezügliche Struktur⁶⁶⁵: die unendliche Leidenschaft zu ihrem Maximum, das Anfang und Ziel derselben ist. Diese rückbezügliche Struktur von unendlicher und höchster Leidenschaft wird auch dadurch betont, dass Climacus die Leidenschaft nicht nur als Impuls, sondern ebenso als Hemmung der Bewegung (s.o.) identifiziert.⁶⁶⁶ Die Hemmung ist ein strukturelles Glied innerhalb der Bewegung: So wie der Anfang („Impuls“ → „Schwung“) der unendlichen Leidenschaft in der höchsten Leidenschaft liegt, so liegt in dieser zugleich das Ende („Hemmung“). Anfang und Ende der unendlichen Leidenschaft fallen ineinander, womit das Ende immer zugleich der Anfang ist. Wird dies in Verbindung zu den oben vorgenommenen bewegungsdialektischen Bestimmungen gebracht, bedeutet dies: Die höchste Leidenschaft ist nicht nur das Telos (Ziel; Ende) der unendlichen Leidenschaft, sondern als formgebende Bedingung (Anfang) der unendlichen Leidenschaft auch deren Metron (dies entspricht der Dialektik, dass das Ziel die Bewegung beeinflusst). Das Maximum bestimmt dann die Bewegungsmodulation beziehungsweise die Intensität, mit dem sich auf das Ziel gerichtet wird – das Maximum verlangt maximale, unendliche Anstrengung (dies entspricht der Dialektik, dass das Ziel in der Bewegung enthalten ist, ohne es einholen zu können). So sehr nun eine rein strukturelle Darstellung der Leidenschaft funktional eine Bewegung als Möbiusband oder als perpetuum mobile zu implizieren scheint (Anfang und Ende sind Teil der Bewegung), so sehr geht dies an der existenziellen

 Die Leidenschaft ist die „Antizipation des Ewigen in Existenz für einen Existierenden, um zu existieren.“ (s.o. (Hervorhebung d.Vf.)).  SKS 7, 363/ DUN, 574 / AUN II, 105. Hierbei wird der Übersetzung von Hans Martin Junghans gefolgt, der „Fart“ gelungener mit „Schwung“ und nicht wie B. und S. Diderichsen mit „Zug“ übersetzt.  Vergleiche die Betrachtung der Existenz-Wirklichkeit in Kapitel 2.2.2.2.  Die „momentweise Kontinuität“ (die höchste Leidenschaft) hat die Eigenschaft, dass sie „gleichzeitig die Bewegung hemmt und der Impuls der Bewegung ist.“ (s.o.)

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Realität vorbei. Denn diese ist durch den Freiheitsaspekt der Bewegung gekennzeichnet (s.o.). Die Existenzbewegung ist immer eine von Brüchigkeit gekennzeichnete;⁶⁶⁷ eine, in der sich zum bewussten Verhältnis zum Ewigen immer wieder von neuem überwunden werden muss. Oder existenz-strukturell gesagt: Das Erreichen der höchsten Leidenschaft ist nur der Scheitelpunkt einer Bewegung, die, durch diesen bestimmt, entweder fortgeführt werden kann (zum nächsten Scheitelpunkt) oder sein gelassen wird. Da es für Climacus existenziell kein Entweder-Oder gibt, gilt für ihn nur das Fortführen der beständig brüchigen Bewegung. Und wie im Vorhergehenden schon angedeutet, wird damit der Begriff der Wiederholung relevant, den Climacus präzise fasst, wenn er schreibt: „Selbst wenn jemand das Höchste erreicht hat, wird die Wiederholung, womit er seine Existenz ausfüllen muss …, … ein fortwährendes Streben sein …“⁶⁶⁸ Und kurz darauf: „Das fortwährende Streben … ist … das Bewusstsein, existierend zu sein“, weshalb das Existieren „Ausdruck der ständigen Realisation [ist], die in keinem Augenblick fertig ist …“⁶⁶⁹ Als Streben ist die Wiederholung eine durch Freiheit gekennzeichnete lineare Bewegung, die auf horizontaler Ebene in der Zeit vorwärts schreitet und dabei – eine vertikale Bewegung zum Telos der Bewegung vornimmt. Sofern das Telos als Metron die weitere Bewegung bestimmt, ist die Wiederholung – existenz-strukturell – die (unendliche) Leidenschaft zur (höchsten) Leidenschaft und zwar als zyklische Bewegung:⁶⁷⁰ eine Bewegung in unendlicher zur höchsten Leidenschaft

 Vom Aspekt der Leidenschaft her, kann dazu auch so argumentiert werden: Das Ereignis der höchsten Leidenschaft verhindert nicht das Abfallen von der Bewegung. So schreibt Climacus: „Zu[r] … Geringfügigkeit des Menschen gehört … auch, dass er zeitlich ist, und dass er es nicht aushalten kann, in der Zeitlichkeit ohne Unterbrechung das Leben der Ewigkeit zu führen.“ (SKS 7, 445/ DUN, 682) Und an anderer Stelle: „Nur phantastisch kann ein Existierender beständig sub specie aeterni sein.“ (SKS 7, 301 / DUN, 493) Und schon in Entweder – Oder vermerkt Gerichtsrat Wilhelm, dass ein fortwährendes Halten im Augenblick bedeuten würde, dass das Individuum „aufhören könnte, ein Mensch zu sein …“ (SKS 3, 160/ DEO, 711) Der Mensch kann nicht ununterbrochen in einem ekstatischen Zustand verharren. Deshalb gilt: Der Existierende ist in und nach der höchsten Leidenschaft (Augenblick) in ein Verhältnis zum Ewigen gebracht, aber das etablierte Verhältnis danach ist durch eine beständige Brüchigkeit ausgezeichnet, weil es eben kein Verhältnis von maximaler Intensität (höchster Leidenschaft) ist (was es nur momentweise gibt; s.o.).  SKS 7, 117/ DUN, 255.  SKS 7, 117/ DUN, 256.  Climacus selbst betont dies konkret, wenn er die Existenzbewegung als ein „Streben“ bezeichnet, „das von der entscheidenden Leidenschaft der Unendlichkeit [Uendelighedens afgjørende Lidenskab] impulsiert und wiederholt erfrischt wird, aber doch ein Streben ist.“ (SKS 7, 186/ DUN, 345 (Hervorhebung d.Vf.)).

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und von dieser her zur Erneuerung derselben und das in der Modulation eines permanent⁶⁷¹ wiederholenden Fortschreitens. ⁶⁷² Die Wiederholung ist als solche Bewegung teleologisch und zugleich über sich (den einzelnen Zyklus) und das Ziel (höchste Leidenschaft) hinaus orientierte Bewegung (denn Wiederholung ist Erneuerung von Ziel und Bewegung). Nur in der so gefassten Wiederholung als Streben besteht ein dauerhaftes Verhältnis zum Ewigen – oder wie oben gesagt: das Beibehalten der Kontinuität. Damit ist das in der Unwissenschaftlichen Nachschrift gegebene climacische Bewegungsmodell eine Phänomenologie der existenziellen Bewusstseinsbewegung als zyklische Kontinuität. ⁶⁷³ Und als solche ist die Wiederholung, ausgehend von dem Freiheitsaspekt, die von Leidenschaft getragene Entschiedenheit (die Wiederholung der Entscheidung ist das Ziel der Bewegung (s.o.)). Damit stellt die Wiederholung als Bewusstseinsbewegung sowohl strukturell eine in sich geschlossene Ganzheit als iterativer Zyklus wie auch existenziell eine zu wiederholende Aufgabe dar. Die Ganzheit bezeichnet hierbei die Wiederholungsbewegung als eine nicht-endliche Bewegung (Kontinuität) und die Aufgabe bestimmt das Beibehalten der Bewegung (Entschiedenheit). Der im eminenten und damit leidenschaftlichen Sinne Existierende ist dann zuallererst einer, der seine Existenz damit ausfüllt, von immer Neuem in den Scheitelpunkt der Bewegung, in die Ekstase hineinzugelangen, womit ein Aspekt aus dem „Zwischenspiel“ (Philosophische Brocken) aufgegriffen wird: dass der Existierende in der Bewegung zum Ewigen, sich in einem Übergang befindet, in einem Zustand des Hinübergelangenwollens zum Ewigen, was hier bedeutet: den permanent repetierenden Versuch zu unternehmen, das Unmögliche zu wollen: die Zeit zu übersteigen – und doch bloß die Annäherung zu erreichen. Aber gerade unter dem Blickwinkel des ständigen Versuchens und Wollens ist die Wiederholung existenziell der Ausdruck für die im Vorhergehenden herausgestellte, genuine Religiosität: das Durchdrungensein vom Gefühl der Verbundenheit mit dem Ewigen und als solches ein stetig-erneuender Prozess der Intensivierung, in dem das Ziel (Telos) in dem Maße (Metron) bewusst wird, wie  Dass die Wiederholung mit dem Aspekt der Kontinuität, der Permanenz oder auch Konstanz zu tun hat, zeigt sich schon an Kierkegaards pseudonymem Namen Constantin Constantius, der bekanntermaßen der „Denker“ hinter der Wiederholungsfigur ist.  In Andeutung findet sich dieser Gedanke bei Liselotte Richter, die schreibt, dass das „unaufhörliche Werden von Augenblick zu Augenblick durchzuhalten“ ist. (Dies., Der Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard, S. 53)  In ihrem zyklischen Bewegungsaspekt könnte die Wiederholung ohne Zweifel als Diskontinuität verstanden werden, was sich beispielsweise an der Terminologie von „Impuls“ und „Hemmung“ zeigt. Ich werde aber den Begriff der Diskontinuität nicht weiter verwenden, weil er eine linear-unterbrochene Bewegung impliziert, was strukturell gerade an der Kontinuität der Wiederholung vorbeigeht.

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sich zu ihm verhalten wird. In diesem Sinne beschreibt die Wiederholung das in eine leidenschaftliche Fokussierung absorbierte Bewusstsein. Die Wiederholung ist dann in ihrer iterativ-zyklische Kontinuität eine aristotelisch-analoge Bewegung. Nicht nur, weil sie stetig um ihr eigenes Zentrum kreist (Ekstase; Augenblick etc.), sondern auch weil ein als Ganzes zu erneuernder Zyklus der Wiederholungsbewegung in sich Anfang und Ende (das Telos) besitzt. Der Wiederholungsbewegung kommen demnach die Merkmale der ewig-unveränderlichen Bewegung bei Aristoteles zu, aber: als eine in die Zeit gedehnte Bewegung, die sowohl gleichförmig (kontinuierlich) als auch unveränderlich (stetig erneuernd; kreisend) ist. Sie ist strukturell als existenzielles Pendant zur unveränderlichen Bewegung des Ewigen bestimmt. Vollzieht der Existierende die Wiederholungsbewegung, vollzieht er demnach die anfangs besprochene Verdopplung des Ewigen in der Zeit. Hinzu kommt: Als lineares Streben ist die Wiederholung eine über sich hinaus orientierte Bewegung (s.o.). Das bedeutet bei Climacus nicht nur, dass die Ziele in die Kontinuität einbegriffen sind, auf die die Bewegung als Ganzes ausgreift, sondern gleichfalls, dass die möglichen Ziele selbst Ausdruck der Ganzheit sind, indem diese in sich eine sublimierte Kontinuität der gesamten Wiederholungsbewegung darstellen.⁶⁷⁴ Dies kann auch so ausgedrückt werden, dass die absolute Fokussierung auf das Ewige ihren Höhepunkt im ekstatischen Augenblick des Hinaus-Stehens der höchsten Leidenschaft findet, in dem die (asymptotische) Annäherung an das Ewig-Unbewegliche als ein approximativer Zustand der Unbeweglichkeit in der Zeit geschieht. In der Ekstase der Leidenschaft wird ein Moment zwischen Ruhe und Bewegung erreicht; ein Augenblick im Sinne des Platonʼschen έξαίνης (exaiphnés).⁶⁷⁵ Indem die Wiederholung dann einerseits als Ganzes eine aristotelischanaloge Verdopplung des Ewigen in der Zeit darstellt, andererseits auf ihrem Scheitelpunkt (höchste Leidenschaft, Augenblick, Ekstase) nicht nur ihre eigene Perpetuierung der Bewegungsmodulation, sondern auch die größte bewegungs-

 Das existenziell-temporale Pendant zur sublimierten Kontinuität wurde in Kapitel 2.2.3.3 anhand des Verhältnisses von Ausdehnung und Punktualität besprochen: Vergegenwärtigung als Bündelung der Zeitsukzession. Die Korrelation zum hier vorliegenden Sachverhalt ist zwar nur von rein formal-struktureller Natur, zeigt aber deutlich, wie Climacusʼ Denken in verschiedenen Kontexten auf dieselben strukturellen Grundfiguren zurückzuführen ist.  Zu diesem Verständnis des Augenblicks, vergleiche die Ausführungen von Vigilius Haufniensis: SKS 4, 385 – 388 (Anm. 2) / DBA, 538 – 543 (Anm. 2). Zu Platon selbst: Sommer, Evidenz im Augenblick, S. 110. Zur Kritik Kierkegaards am Platonʼschen Augenblick: Michael Theunissen, „Augenblick“, in HWPh, Bd. 1, S. 649 f. Zur Korrektur Kierkegaards in Bezug auf Platon: Werner Beierwaltes, „έξαίνης oder: Die Paradoxie des Augenblicks“, PJdG 1966/67, S. 271– 281.

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strukturelle Annäherung zur ewig-unveränderlichen Bewegung erreicht (RuheBewegung), kann die Wiederholung nicht nur als Abbild-Bewegung (des Ewigen), sondern als Apotheose-Bewegung bestimmt werden. Abbild ist sie, weil sie als strukturell-apotheotische Annäherung und Verähnlichung zum Ewigen immer nur ein defizitäres, niederstufiges Abbild des Ewigen bleibt (denn: „die Antizipation des Ewigen durch die Leidenschaft für einen Existierenden ist … nicht die absolute Kontinuierlichkeit“ (s.o. (Hervorhebung d.Vf.))) – und das in doppelter Form: einer höherstufigen und einer niederstufigen Abbildung des Ewigen.⁶⁷⁶ Die höherstufige Abbildung ist die Ekstase, in der ein in sich geschlossener Zustand erreicht wird; eine momentane, punktuelle Bewegung, die in sich Anfang und Ende ist. Die niederstufige Abbildung sind hingegen die in die Zeit gedehnten Wiederholungszyklen selbst, die gleichförmige Kontinuität. Die Abbildungen und apotheotischen Näherungen können mit folgendem Schema verdeutlich werden. Die schwarzen Pfeile stellen die Abbildungs-Tendenz dar; die gelben Pfeile die bewegungsstrukturelle Näherungs-Tendenz zur je höheren Bewegung.

Dieses Schema zeigt schließlich auch, dass die Metaphysik bei Climacus eine existenzialisierte ist, und dass das Existenz-Denken nicht ohne metaphysische Implikationen gedacht werden kann. Beide Seiten der ontologischen Differenz⁶⁷⁷ sind strukturell aufeinander verwiesen und gehen in der Existenz (Inter-esse)

 Die Unterscheidung dieser beiden Apotheosebewegungen wird relevant, wenn das „Erbauliche“ besprochen wird: vgl. Kapitel 2.3.3.3.3. – Anzumerken ist, dass die Apotheose allein strukturell zu verstehen ist bzw. sich nur aus der Strukturanalyse der Bewegung ergibt. Existenziell – und das wird mit dem eben genannten „defizitär“ herausgehoben – bleibt das Individuum vor Gott.  Vgl. Kapitel 2.3.2.1.

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zusammen. Als Wirklichkeit, als Werden⁶⁷⁸ ist diese dann eine Bewegung reiner Fluidität, die aber in ihrer Rückbindung an das die Bewegung stabilisierende Ewige nicht zerfließt. Und eben diese Rückbindung der Existenzbewegung (Wiederholung) an das Unveränderliche als „ein Kontinuierliches …, das die Bewegung zusammenhält“ (s.o.) kennzeichnet sie im Sinn der beiden oben genannten dialektischen Bestimmungen: durch die Dialektik, dass das Ziel der Bewegung die Bewegung beeinflusst (das Ewige ist Telos, Metron, Anfang, Ende), als auch durch die Dialektik, dass das Ziel in der Bewegung selbst enthalten ist, ohne es erreichen zu können (denn die Wiederholung ist lediglich niederstufige Apotheose).

2.3.2.2.3 Zusammenführung und dialektische Bestimmungen Bei Climacus bedeutet Bewegung eine teleologische Bewusstseinsbewegung zum Ewigen zu vollziehen (Philosophische Brocken), die in sich eine zyklische Bewegung zu ekstatischen Momenten darstellt (Unwissenschaftliche Nachschrift). Damit kann die in den Brocken bestimmte Bewegung mit der Bewegung in der Nachschrift ineinander gefaltet werden. Der kontinuierliche Übergang (Brocken) stellt die Wiederholungsbewegung (Nachschrift) dar. Der Übergang der Brocken lässt sich dann in doppelter Weise charakterisieren. Zum einen ist er das Erreichenwollen beziehungsweise das Hinübergelangenwollen in die jenseitige, entzogene Ewigkeit (Brocken); zum anderen ist der Übergang der Überstieg über die Zeit in der Ekstase des Hinaus-Stehens (Nachschrift). Bezüglich der Nachschrift hat sich gezeigt, dass Climacusʼ Betrachtung der Bewegung zum Ewigen eine Leidenschaftsbewegung ist, während in den Brocken eine Bewegung im Denken zur Möglichkeit des Ewigen besprochen wird. Und während die Brocken dafür die auf der Ontologie beruhende phänomenologische Basis geben, differenziert Climacus in der Nachschrift diese Basis aus, indem er die in den Brocken beschriebene Bewegung in sich als ekstatische Bewegung charakterisiert, die als Bewusstseinsbewegung im Denken (Brocken) eine Bewegung in Leidenschaft (Nachschrift) ist. Damit kann auf einen Sachverhalt, der in Kapitel 2.2.3 besprochen wurde, verwiesen werden. Existieren zeichnet sich immer durch eine Gleichstellung von Denken und Leidenschaft aus. So auch in der Bewusstseinsbewegung zum Ewigen:⁶⁷⁹ Im Denken wird existenzdialektisch die

 Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  Dass das religiöse Existieren in einem Gleichklang aus Denken und Leidenschaft, d. h. aus Verstand, Gefühl und Wille besteht, wird von Kierkegaard in einer Journal-Notiz hervorgehoben: vgl. SKS 19, 414, Not13:49/ DSKE 3, 452. Andreas Krichbaum hat diese innere anthropologische

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Möglichkeit einer ewigen Wirklichkeit in den Blick genommen, zu der sich mit Leidenschaft verhalten wird. Die Wiederholung ist demnach das Bewusstsein, das existenzdialektisch Realität (faktisches Sein; Erfahrung) und Idealität (Denken) zusammenführt und damit Ausdruck und Überführung des existenziellen Inter-esses in einen konkreten Vollzug des verwirklichten Bezugs (zum Ewigen) ist.⁶⁸⁰ Die maßgeblichen dialektischen Bestimmungen dieses existenzdialektischen Verhältnisses (Bewegung) sind: Struktur analysiert: ders., Kierkegaard und Schleiermacher, S. 310. Zu Krichbaums Analyse: vgl. Furchert, Das Leiden fassen, S. 229 (Anm.).  Jon Stewart hat gezeigt, dass diese Sicht auf die Wiederholung schon in Climacusʼ Fragment De omnibus dubitandum est angelegt ist: vgl. ders., „Hegel als Quelle für Kierkegaards Wiederholungsbegriff“, KSYB 1998, S. 302– 317. Stewarts Implementierung von Hegel scheint mir nicht nur für das Climacus-Fragment sinnvoll zu sein, sondern als systematische bewegungsstrukturelle Grundlage überhaupt. Denn in Anbetracht der bisher formal charakterisierten Wiederholungsbewegung als existenziell zu realisierende Aufgabe einer formal-aristotelischen, existenziell-ganzheitlichen Bewusstseinsbewegung, in der systematisch sowohl Telos und Metron als auch Anfang und Ende dialektisch komplex verkoppelt sind, ist es angebracht, auf Hegels Bestimmung des „Werdens“ in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes hinzuweisen (vgl. Hegel, Werke 3, S. 11– 67). Dort charakterisiert Hegel die „wirkliche Ganzheit“ (ebd., S. 13) der dialektischen Bewegung als ein Zusammenschluss von a) Zweck und Ausführung (vgl. ebd., S. 13, 23), b) von Resultat und Werden (vgl. ebd., S. 13), c) von Anfang und Ende, was er schließlich als eine „Kreis“-Bewegung definiert (vgl. ebd., S. 23), in der durch Reflexion „die Ausbreitung … der Substanz“ (ebd., S. 16) vollzogen wird, also der Zweck, das Resultat in der Ausführung, dem Werden (Reflexion) selbst abgebildet – oder wie Hegel sagt: „entfaltet[]“ (ebd., S. 26) – wird. Bei Hegel besteht die dialektische, sich durch sich selbst hervorbringende und sich in sich selbst vertiefende Kreis-Bewegung (vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 182) dann nicht nur in der dialektischen Verkopplung von Anfang und Ende als eine zur Ganzheit strebende Offenheit ständiger Weiterentwicklung und Freilegung dessen, was vorausgesetzt wird (vgl. Ruschig, „Randglossen zur ‚Bewegung des Begriffs‘“, besonders S. 67 f.), sondern eben dadurch auch in der grundsätzlichen systematischen Bestimmung, dass die Bewegung selbst eine Kontinuität darstellt, die in sich Veränderung einschließt. Wird dies systematisch auf die climacische Wiederholungsbewegung übertragen, ergeben sich folgende formalen Korrelationen zu Hegel: a) Zweck und Resultat entsprechen begrifflich dem Telos der Bewegung bei Climacus; – b) Ausführung und Werden entsprechen begrifflich dem Metron der Bewegung bei Climacus; – c) die dialektische Verkopplung von Anfang und Ende entspricht systematisch der aristotelisch-analogen, in sich geschlossenen Ganzheit der Bewegung bei Climacus (was die strukturell-verschiedenen, dialektischen Verkopplungen von Telos und Metron der Wiederholungsbewegung einschließt); – d) die Abbildung der Substanz im Werden entspricht bei Climacus der Existenzialisierung des Ewigen als abbildende Hineindehnung des Ewigen in die Zeit (was im Folgenden auch – und dadurch gerade Hegel entsprechend – als eine in das Vorausgesetzte hineingelangende (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1), d. h. vom Grund her bestimmte, den Grund gleichzeitig freilegende Bewegung charakterisiert werden wird: vgl. Kapitel 2.3.2.4.2); – e) die Veränderung einbeziehende Kontinuität der Bewegung entspricht formal der Entschiedenheit bei

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1. Das Ziel der Bewegung ist in die Bewegung eingeschrieben, ohne es zu erreichen. 2. Das Ziel der Bewegung beeinflusst die Bewegung zum Ziel. 3. Die Annäherung an das Ziel geschieht in unüberwindbarer Entzogenheit des Ziels.

2.3.2.3 Annäherungen an die bewegungsdialektischen Strukturen Die gegebenen bewegungsdialektischen Bestimmungen sollen in den folgenden drei Teilkapiteln konkretisiert und angewendet werden. Dabei werden grundsätzliche, sich aus der Bewegungsanalyse ergebende Fragen erörtert: Wenn das Ziel in die Bewegung eingeschrieben ist, wie ist es möglich, in die geschlossene, aristotelisch-analoge Bewegung einzusteigen (Kapitel 2.3.2.3.1)? Wenn das Ziel die Bewegung beeinflusst, welche (temporaltheoretische) Existenzstruktur impliziert dies (und welche existenzstrukturellen Konsequenzen ergeben sich daraus; Kapitel 2.3.2.3.2)? Wenn die Annäherung an das Ziel durch die Entzogenheit des Ziels bestimmt ist, welche existenzielle Konsequenz des Umgangs damit schlägt Climacus vor (Kapitel 2.3.2.3.3).

Climacus (vgl. Kapitel 2.2.4.2) und dadurch mithin der Wiederholungsbewegung selbst (besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit dem religiösen Selbstsein: Kapitel 2.3.2.4.2). Der Unterschied zu Hegel, was entschieden festgehalten werden muss, ist jedoch, dass Climacus die formale Wiederholungsbewegung unter existenzdialektischen Vorzeichen betrachtet und nicht als reine Reflexionsbewegung (Hegel) versteht: a) Die Wiederholungsbewegung kann dann keine abstrakte, sich durch sich selbst hervorbringende und sich in sich selbst vertiefende Kreisbewegung sein, sondern ist formal eine den Kreis in die Zeit dehnende Bewegung, eine zyklische Schlaufenbewegung von zunehmender und abflauender Intensität und als solche Bewegung eine existenziell zu bewältigende Aufgabe (Entschiedenheit). b) Während Hegel sich gegen die auf „Begeisterung“ basierende „Ekstase“ der Bewegung wehrt (Hegel, Werke 3, S. 16) – wobei systematisch gesehen die dialektische Bewegung bei Hegel selbst eine „Ekstase des Werdens“ darstellt (Hyppolite, „Anmerkungen zur Vorrede der Phänomenologie des Geistes und zum Thema: das Absolute ist Subjekt“, S. 47) –, ist die Wiederholungsbewegung bei Climacus gerade eine durch Begeisterung/Leidenschaft getragene Bewegung, die zwar systematisch nicht als eine rein ekstatische Bewegung gekennzeichnet werden kann, jedoch als eine Bewegung bestimmt werden muss, die, auf Ekstase zielend, selbst eine leidenschaftliche Reflexionsbewegung ist, also eine Zwischenbestimmung zwischen Hegels Abwertung der Begeisterung und dessen Heraushebung der Reflexion darstellt. c) Dies macht wiederum die existenzdialektische Dimension der Wiederholungsbewegung aus, dass sie zwar eine Bewusstseinsbewegung ist und somit die Reflexion einschließt, jedoch grundsätzlich eine auf Erfahrung zielende und durch Erfahrung (Leidenschaft) gespeiste Reflexionsbewegung ist.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.2.3.1 Hineingelangen in die Bewegung Bisher wurde sich lediglich auf die immanente, bewusstseinsphänomenologische Struktur der Bewegung konzentriert. Wie aber ist es möglich, in die Bewegung hineinzugelangen? Oder muss gar nicht in die Bewegung hineingelangt werden? Denn die Strukturanalyse der Bewegung hat gezeigt, dass die Wiederholung nur als eine Erneuerung der Bewegung und des Bewegungsziels verstanden werden kann. Daraus folgt unschwer, dass es Climacus um ein schon bestehendes Verhältnis zum Ewigen geht.⁶⁸¹ Gleichfalls betont Climacus den Freiheitsaspekt der Bewegung; dass dieselbe vom Subjekt selbst begonnen werden muss. Beide Aspekte – Schon-Sein und Freiheit – zusammengenommen können nur bedeuten, dass Climacus die vom Subjekt selbst vorzunehmende Freilegung eines verdeckten Ewigkeitsverhältnisses im Blick hat.⁶⁸² Die damit einhergehende, zu beantwortende Frage ist die nach der Charakteristik des Anfangs im Sinne eines freilegenden Hineingelangens.Wie geschieht ein solches Hineingelangen in das SchonBestehende?

Geschehen des Augenblicks⁶⁸³ Das Hineingelangen ist bestimmt durch den „Augenblick“. Bisher wurde der Augenblick als „Augenblick der Leidenschaft“⁶⁸⁴ in mehrfacher Weise charakte-

 Onto-strukturell wird dies durch das Inter-esse gefasst. Bewegungsstrukturell ist die Wiederholung als apotheotische Verdopplung der ewig-unveränderlichen Bewegung Ausdruck für die in die Zeit gedehnte Repetierung dessen, was per definitionem immer schon da ist: das Ewige.  Dies muss als und unter dem Aspekt der Aneignung verstanden werden, die die existenzdialektische Einübung des Schon-Seins (Freiheit) und als solche die Überführung (Erneuerung) des Schon-Seins in gesteigerte Aktualität bedeutet (vgl. Kapitel 2.1.4). Die folgenden Ausführungen sind auch als initiationstheoretische Betrachtungen der Aneignung in existenziell-religiöser Hinsicht zu sehen.  Neben den Auseinandersetzungen in der Kierkegaard-Forschung (stark verdichtet und empfehlenswert: Deuser, Religionsphilosophie, S. 296 – 302), ist besonders der sehr gute Artikel von Werner Beierwaltes zu erwähnen: ders., „έξαίνης oder: Die Paradoxie des Augenblicks.“ Über die Nachforschung des Begriffs „Augenblick“ (έξαίνης; exaiphnés) in seinen Ursprüngen bei Platon wird dessen Verarbeitung bei Aristoteles, sodann die Theologisierung bei Pseudo-Dionysius Areopagita und schließlich die Rückführung des Augenblicks als Theologumenon in die Philosophie, unter Beachtung des platonischen Einflusses bei Kierkegaard, betrachtet. Kierkegaards Auffassung wird sehr gut rekonstruiert und sein Platon-Verständnis im Begriff Angst (Vigilius) korrigiert. Im Folgenden werde ich mich allein auf die Ausführungen Climacusʼ stützen und Vigilius (so weit als möglich) außen vor lassen.  SKS 7, 180/ DUN, 337.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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risiert.⁶⁸⁵ Für den vorliegenden Sachverhalt sind zunächst besonders die ekstatische Bestimmung (Überstieg über die Zeit) und die temporaltheoretische Bestimmung (Moment des Überstiegs) von Bedeutung. Der Augenblick wird von Climacus als „die Fülle der Zeit“ [Tidens Fylde] bezeichnet. Und er betont diesbezüglich in der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „[D]as Ewige trifft“⁶⁸⁶ das Individuum, was bedeutet, dass im Augenblick die Ewigkeit in die Zeit hineindringt. ⁶⁸⁷ Mit Schopenhauer könnte auch gesagt werden: Der Augenblick „kommt … plötzlich und wie von außen angeflogen“⁶⁸⁸, womit – ganz im Sinne Climacusʼ – eine genuine Passivität des Individuums betont wird. Der Augenblick ist ein kontingent-wiederfahrendes Geschehen und kann nicht bewusst durch ein Wollen herbeigeführt werden. Obwohl der Augenblick also – ekstatisch – der nicht aktiv herbeiführbare Überstieg des Individuums über die Zeit ist, wird er von Climacus dennoch – temporaltheoretisch – als Moment im Kontinuum der Zeit bestimmt, denn er ist „kurz“ und „vorübergehend“⁶⁸⁹. Der Augenblick ist als Moment jedoch nicht mit einem JetztPunkt in der Zeit zu verwechseln, der die Kontinuität zwischen Vorher und Nachher herstellt, sondern muss als das Plötzliche verstanden werden, das die Kontinuität der Zeit zerstört⁶⁹⁰ – die Zeit anhält,wie Vigilius betont.⁶⁹¹ Als solche ekstatische Emphase

 Die vorgenommenen Bestimmungen des Augenblicks sind: a) ekstatisch als Überstieg über die Zeit; b) temporaltheoretisch als Moment des Überstiegs; c) bewegungsstrukturell als sublimierte Kontinuität der in die Zeit gedehnten Kontinuität (Wiederholung); d) bewegungsteleologisch als ewigkeitsanaloges Existenztelos der zyklischen Wiederholungsbewegung; e) bewegungsphänomenologisch als Zustand von Ruhe und Bewegung.  SKS 7, 443/ DUN, 678.  Anmerkung zur Bewegungsanalyse: Weil im Augenblick „das Ewige von oben auf den Existierenden zielt“ (SKS 7, 443/ DUN, 678), also das Ewige in die Zeit eindringt, findet eine vom Individuum losgelöste,vertikale Bewegung des Ewigen auf das Individuum statt. Gleichfalls ist die Wiederholung eine stetig-vertikale Bewegung zum Maximum der Leidenschaft (die mit dem Augenblicksgeschehen eintritt). Der Augenblick ist somit der existenzielle Moment der Konvergenz: des Individuums auf das Ewige, durch das Ewige. Ein systematisches Korrelat dessen stellt die Entscheidungsstruktur dar: Freiheit, die durch das Absolute bedingt ist (s.u.).  Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I. Zweiter Teilband, S. 499 (§ 70).  SKS 4, 226/ DPB, 28.  Dies ist von Manfred Sommer übernommen, der sich in seiner Auseinandersetzung mit dem „Augenblick“ (bei Ernst Mach) von Auseinandersetzungen zum „Augenblick“ leiten lässt, die sich ausdrücklich mit Kierkegaard beschäftigen (vgl. ders., Evidenz im Augenblick, S. 110, wo Sommer in der Anmerkung 26 den HWPh-Artikel von Michael Theunissen und den PJdG-Artikel von Werner Beierwaltes hervorhebt; vgl. ebenfalls: ebd., S. 207 (Anm. 5)). Sommer schreibt: „Das Momentane ist die kleinste wahrnehmbare Zeitspanne, eine Art temporales »Atom«, eine minimale Extension. Das Jetzt dagegen bezeichnet die Grenze zwischen dem Vorher und Nachher; das, worin Vergangenheit und Zukunft einander berühren und wodurch ständig die Kontinuität der Zeit her-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

bezeichnet Climacus den Augenblick auch als „Bruch“⁶⁹². Und als dieses die Kontinuität durchbrechende Plötzliche kommt dem Augenblick – ontogenetisch – das Charakteristikum der Ursprünglichkeit zu. Denn der Augenblick ist diejenige „Cäsur“⁶⁹³ in der Zeit, in der das (verdeckte) Ewigkeitsverhältnis vom „Nicht-Da-Sein zum Da-Sein“⁶⁹⁴ gelangt, also das Ereignis, in dem für das religiöse Bewusstsein „das Entscheidende“⁶⁹⁵ geschieht, nämlich die onto-strukturelle Entscheidung als (näherungsweise) Zusammenführung⁶⁹⁶ von Faktizität und Idealität, von Zeit und Ewigkeit (die ursprünglich ontologisch geschieden sind⁶⁹⁷).⁶⁹⁸ Climacus bezeichnet den Augenblick als dieses ursprüngliche Ereignis auch als die „Wiedergeburt“⁶⁹⁹, in der – man beachte die Passivkonstruktion – „das Individuum mit dem Glauben geboren wird …“⁷⁰⁰ Der Augenblick ist also das dem Individuum passiv wiederfahrende Ins-Leben-Treten des religiösen Existierens⁷⁰¹ – oder von der Bewegungsanalyse her: der (geschehende) Impuls der Bewegung.

gestellt wird. Das Jetzt ist das Ende dessen,was war, und der Anfang dessen,was kommt: zu beiden gehört es, sowohl zu diesem als auch zu jenem. Anders das Plötzliche: es gehört weder zum einen noch zum anderen. Es ist gerade das, was sich in die Kontinuität der Zeit nicht einfügt, ja sie zerstört. Dies ist der Augenblick im emphatischen Sinne.“ (Ders., Evidenz im Augenblick, S. 110 f.; vgl. auch ebd., S. 206 f.) Diesbezüglich sei darauf hingewiesen, dass Vigilius Haufniensis den Zusammenhang von „Augenblick“ und der Bestimmung des „Plötzlichen“ selbst hervorhebt und dabei geradezu die Vorlage für die von Sommer gegebene Analyse liefert: vgl. den Abschnitt „Das Dämonische ist das Plötzliche“ in Kapitel 4, § 2: SKS 4, 430 – 433/DBA, 599 – 602.  Vgl. SKS 4, 391/ DBA, 546.  SKS 4, 228/ DPB, 29.  Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 143.  SKS 4, 230/ DPB, 32.  SKS 4, 226/ DPB, 28.  Die ontologische Zusammenführung muss von der Existenz her gedacht werden; dass der Mensch im Werden ist und somit nur eine paradoxe Annäherung in absoluter Entzogenheit des Ewigen erfährt. Alles andere wäre mystisch-platonisches Denken ohne sokratisch-existenzielle Implikation (vgl. Kapitel 2.3.1.2). Denn der Mensch verbleibt auch im Augenblick im Werden, in der Zeit. Es findet keine absolute Transzendierung statt, keine plotinische Begegnung mit dem „Einen“.  Vgl. Kapitel 2.3.2.1.  In diesem Sinne schreibt Climacus: „Dem Zustand, an zwei Stellen [Steder] auf einmal zu sein, kommt er [der Existierende, d.Vf.] am nächsten, wenn er in Leidenschaft ist, aber Leidenschaft gibt es nur momentweise“ (SKS 7, 183/ DUN, 340 (Hervorhebung d.Vf.)): also nur im Augenblick – dem zeitlichen Moment, der mit „dem Ewigen erfüllt“ ist. (SKS 4, 226/ DPB, 28) – Temporaltheoretisch thematisiert Vigilius Haufniensis den Augenblick dezidiert als Zwischenbestimmung von Zeit und Ewigkeit: vgl. die Einleitung zu Kapitel III im Begriff Angst: SKS 4, 384– 396/ DBA, 537–552.  SKS 4, 227/ DPB, 29.  SKS 4, 294/ DPB, 114.  Der Augenblick ist in diesem Sinne die religionsstiftende Epiphanie, in der das Individuum durch das Offenbarwerden Gottes ergriffen wird. Zu diesem Verständnis der (dezidiert nicht

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Diese komplexe Charakteristik des Augenblicks kennzeichnet ihn als ein Ereignis in der Zeit, das seine für das Individuum persönliche und über das Persönliche hinausgehende, universelle Bedeutung dadurch erhält,⁷⁰² dass es über den Moment des Geschehens hinausträgt, also – grundsätzlicher formuliert – das Individuum verändert. Dies liegt in der Natur des Augenblicks. Denn im Augenblick dringt das, was dem zeitlichen Leben (ontologisch) nicht zugehört, das Ewige, in das Leben selbst ein. Der Augenblick stellt in sich eine – mit Manfred Sommer gesprochen – „Gegeninstanz zum Leben“ dar, dessen absolut solitäres Geschehen ein „Gegen-Sinn“ zur bisherigen Konsistenz des gelebten Lebens bedeutet. ⁷⁰³ Der Augenblick ist so gesehen das phänomenologisch völlig Andere und als Ereignis reine Veränderung. Jedoch ist ein solches gegen-sinnhaftes Veränderungsgeschehen nur dann ein solches, wenn es als solches von Bedeutung ist, d. h. als solches interpretiert wird. Um den Augenblick subjektiv als existenzielle Genese des Religiösen zu verstehen (worum es Climacus ja gerade geht), bedarf es vor dem Augenblicksgeschehen eines genuinen Interesses des Individuums für das Religiöse. Diese unhintergehbare (religiöse) Existenzbedingung betont Climacus in der Einleitung der Unwissenschaftlichen Nachschrift. Die „conditio sine qua non“⁷⁰⁴ für das Ewigkeitsverhältnis (beziehungsweise das Verhältnis zur ewigen Seligkeit) ist das „unendliche Interesse“⁷⁰⁵, also nichts anderes als ein „tief religiöse[s] Bedürfnis [Trang]“.⁷⁰⁶ Der existenz-systematische Ausdruck dafür ist die „Sorge“⁷⁰⁷ als das

christlich-theologisch verstandenen) Epiphanie: Günter Lanczkowski, „Epiphanie“, in HWPh, Bd. 2, S. 585 f.  Arne Grøn bestimmt den Augenblick als den Moment in der Zeit mit unendlicher Bedeutung (ders., „Zeit und Transzendenz“, in Der Sinn der Zeit, hg. von Emil Angehrn u. a.,Weilerswist 2002, S. 40 – 52, hier S. 48 f.); nicht nur,weil das Individuum durch ihn in ein Verhältnis zum Unendlichen (Ewigen) gebracht wird, sondern weil das Leben durch das Geschehen des Augenblicks verändert wird.  Vgl. Sommer, Evidenz im Augenblick, S. 272.  SKS 7, 25/ DUN, 145.  Mit dem Attribut „unendlich“ gehen drei systematische Implikationen einher: a) Eine intentionale Fokussierung auf das Unendliche als Gegenstand für das Bewusstsein; b) die Intensivierung des Bewusstseins vom Ewigen und Unendlichen; c) die Vergegenwärtigung des Daseins des Ewigen und Unendlichen.  SKS 7, 418/ DUN, 645. Das Telos dieses Bedürfnisses ist nicht nur die eigene Erlösung, sondern auch, „in der Zeit von Gott gekannt zu sein.“ (SKS 7, 409/ DUN, 633) Dazu Kapitel 2.3.3.3.3 und der Abschnitt zum „Schweigen“ in 2.3.3.4.1.  SKS 7, 25/ DUN, 145. So heißt es, das Interesse implizierend, an anderer Stelle, dass der religiös existierende Mensch einer sein muss, „der sich darum unendlich sorgt, ob er sich in Wahrheit zu Gott mit der unendlichen Leidenschaft des Bedürfnisses verhalte …“ (SKS 7, 184/ DUN, 342)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

interessierte Sich-zu-sich-Verhalten⁷⁰⁸ vor dem Hintergrund der Erlösungsvorstellung. Erst dieses (auf die eigene Person fokussierende) Verlangen⁷⁰⁹ (nach der eigenen Erlösung) gibt den Orientierungs- und Intentionsrahmen für eine (nachträgliche⁷¹⁰) Deutung des Augenblicksgeschehens.

 Vgl. Kapitel 2.2.4.  Die existenzielle Kategorie der Sorge, des Bedürfnisses, des Verlangens (im strengen/ernsten Sinne) verbindet das climacischen Denken mit dem Denken von Vigilius, der zur „objektiven Angst“ schreibt: „[I]n der Angst bekundet sich der Zustand, aus dem er sich heraussehnt und bekundet sich, warum die Sehnsucht allein nicht genügt, um ihn zu befreien.“ (SKS 4, 362 / DBA, 508) Die conditio humana der Angst lässt nach Befreiung von der Angst sehnen (durch ein glaubensgebundenes Verhältnis zur Ewigkeit; Kap.Vdes Begriffs Angst) und kann sich dennoch nicht allein von ihr befreien: Es bedarf des Augenblicks (Kap. III des Begriffs Angst), der erst das (neue) Verhältnis freilegt und -gibt (wie bei Climacus). Vigiliusʼ und Climacusʼ Denken wird demnach basal von dem Gedanken der Sehnsucht („Streben“) bestimmt, in einem ungehinderten Verhältnis zur Ewigkeit zu stehen (bei Vigilius: ohne Angst; bei Climacus: ohne Leiden).  Dass der Augenblick erst nachträglich gedeutet werden kann, ist nicht selbstverständlich. Denn als „Augenblick der Leidenschaft“ (SKS 7, 180/ DUN, 337), wie Climacus ihn bezeichnet, scheint er ja eine qualitative Erfahrungsdimension zu implizieren, was sowohl durch die Emphase des Plötzlichen wie durch die Veränderung konnotiert wird. Der Augenblick impliziert eine Spürbarkeit, die das Individuum nicht unberührt zurücklässt. Nun weist Climacus aber erstens ausdrücklich darauf hin, dass die höchste Leidenschaft (Augenblick) kein sinnlich erfahrbarer Genuss ist (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Zweitens liegt es in der Natur der Veränderung, dass diese erst dann eine Veränderung sein kann, wenn sie in einer zeitlichen Distanz zu einem differenten Ausgangszustand steht; dass der Augenblick als Veränderungsgeschehen erst dann als Veränderung betrachtet werden kann, wenn Zeit verstrichen ist. Vor allem aber zeigt drittens die Emphase des Augenblicks seinen ekstatischen Charakter – und damit die unzweideutige Konnotation einer absoluten Unmittelbarkeit, die aller Reflexion vorausgeht. Als das Plötzliche, das alle bisherige Konsistenz des Lebens zerschneidet, hat der Augenblick – wie Manfred Sommer analysiert – „kein Was, das sich von anderen Was unterscheiden ließe. Und wem es blitzartig einleuchtet, der hat kein Wissen davon, kein »Bewußtsein«, keine Intentionalität … und somit auch keine Gegenstände, geschweige denn Aussagen über sie. Der Augenblick kennt keine Identität und keine Distinktionen, nicht Dieses als unterschieden von Jenem, nicht Ich und nicht Welt und nicht Zusammenhang und nicht Masse. All dies … kommt später: als Reflexionsprodukt, nachträgliche Verständigung dessen, dem etwas geschehen ist, über das, was ihm da geschehen ist.“ (Ders., Evidenz im Augenblick, S. 207) So gesehen ist der Augenblick in seinem unmittelbaren Geschehen reine Vorreflexivität, die sich deshalb auch der Sprache entzieht und in diesem Sinne – wie Schopenhauer zur Ekstase festhält – eine „nicht weiter mittheilbare[] Erfahrung“ ist (Ders., Die Welt als Wille und Vorstellung I. Zweiter Teilband, S. 506 (§ 71)). (Zur Nicht-Mitteilbarkeit instinktiver Erfahrung bei Schopenhauer: vgl. Giok Son, Schopenhauers Ethik des Mitleids und die indische Philosophie. Parallelität und Differenz, Freiburg und München 2000, S. 152– 156). Der Augenblick kann als climacische Ekstase der Leidenschaft nur paradox als absolute Erfahrung beschrieben werden, die sich der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit entzieht (und damit eben keinen reflexiven Abstand zum Geschehen impliziert). Erst nachträglich lässt sich durch Reflexion rekapitulieren, was geschehen ist und dieses Geschehen als eine Veränderungserfahrung be-

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Dies könnte so verstanden werden, dass der Augenblick nur Interpretation (semiotisch: Interpretant) ist. Dies aber nähme dem Augenblick seine Qualität als Ursprungsereignis. Der Augenblick selbst forciert die nachträgliche Interpretation, wie diese dem Augenblick seine volle Bedeutung zukommen lässt. Aus diesem reziproken Verhältnis von Geschehen und Interpretation muss die Veränderung durch den Augenblick ausdrücklich in der folgenden Doppelperspektive gesehen werden: Die Veränderung ist ein durch Passivität gekennzeichneter, plötzlicher „Bruch“ und ein durch Interesse/Sorge bestimmtes Verständnis von dem, was dem Individuum widerfahren ist. Davon ausgehend bezeichnet Climacus den Augenblick als „Umkehr“⁷¹¹. Diese kann durchaus im Sinne der christlichen metanoia ⁷¹² aufgefasst werden, bedeutet für den vorliegenden, (bewegungs‐)strukturellen Zusammenhang aber wesentlich Folgendes: Die „Umkehr“ ist der (durch Interesse/Sorge mitbestimmte) Augenblick als Genese der Leidenschaft⁷¹³ (die das Vollzugskorrelat des Interesses ist⁷¹⁴). Die „Umkehr“ bedeutet diesbezüglich ein transformierend inversives Neuwerden

schreiben (vgl. zur nachträglichen Vermittelbarkeit des Augenblicksgeschehens auch: Deuser, Religionsphilosophie, S. 263). Besonders deutlich zeigt sich die Nachträglichkeit und Vorreflexivität des Augenblicks, wenn er in seinem – funktionalen – Zusammenhang mit der Existenzkategorie des Sprungs (s.u.) gesehen wird. Weil der Sprung bei Climacus der existenzielle Begriff für das Initiationsgeschehen des Augenblicks ist, sind des einen Charakteristika zugleich die des anderen. Wenn Climacus über den Sprung sagt, dass in dessen Geschehen „die Reflexion zum Stehen gebracht“ (SKS 7, 110/ DUN, 246) wird und dass „sich der Sprung [zeigt],wie sich der Sprung eben zeigen kann: … dass er gewesen ist“ (SKS 7, 313/ DUN, 509), so zeigt sich darin unzweideutig das, was den Augenblick kennzeichnet: die durch die Vorreflexivität seines Geschehens bedingte Nachträglichkeit allen Verständnisses von ihm.  SKS 4, 227/ DPB, 28.  Die metanoia bezeichnet eine Konversionsbewegung des Individuums in Abhängigkeit zu einem als unbedingt erfahrenen Zusammenhang (religiös: Gott). Michel Foucault kennzeichnet sie deshalb als „radikale Veränderung des Denkens“ (Ders., Hermeneutik des Subjekts, S. 266) und somit als die Veränderung des Blickwinkels und der Einstellung des Subjekts auf sich selbst und die Welt. Wesentliche Merkmale der metanoia sind: a) eine plötzliche Verwandlung; b) ein Übergang von einer Seinsweise zur anderen; c) ein Bruch, der den Selbst-Verzicht in Relation zum Unbedingten impliziert. (Vgl. ebd., besonders S. 266 f. und 271 ff.) Merkmal a entspricht dem Augenblick als Emphase. Merkmal b entspricht der Wiederholung (und in religiöser Terminologie: der Umbildung und Resignation: vgl. Kapitel 2.3.3.1) wie dem Augenblick als „Wiedergeburt vom NichtDa-Sein zum Da-Sein“ (SKS 4, 230 f. / DPB, 32). Merkmal c entspricht ebenfalls dem Augenblick als Emphase und schließlich der Erbauung als Gottesverhältnis durch Selbstvernichtung (Kapitel 2.3.3.3). Alle drei Merkmale der metanoia – Verwandlung, Übergang, Selbst-Vernichtung – werden bei Climacus systematisch unter dem Begriff Innerlichkeit subsumiert.  Climacus nennt den Augenblick in diesem genetischen Sinne auch den „Entscheidungsaugenblick der Leidenschaft“ (SKS 7, 186/ DUN, 344).  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

des Individuums als ein durch den Augenblick geschehendes Ausgerichtetwerden.⁷¹⁵ Und zwar in dem speziellen Sinne der Hinwendung zum schon bestehenden Ewigkeitsverhältnis, also im Sinne einer Rückwendung ⁷¹⁶ zu dem, was immer schon ist. Während im Moment des Augenblicks, dem „Bruch“, die Möglichkeit zum Ewigkeitsverhältnis aufflackert, ist die „Umkehr“ das durch den „Bruch“ konstituierte Entschiedenwerden (s.u.) zu dieser Möglichkeit; eine grundsätzliche, durch Augenblicksgeschehen und Interesse/Sorge getragene, passiv-aktive Veränderung als die Überführung des Schon-Seins in gesteigerte Aktualität (= Rückwendung⁷¹⁷). Die Veränderung („Umkehr“) ist also – strukturell (der Wiederholung entsprechend) – eine in Erfahrung gebrachte Erneuerung, also die „Wiedergurt“ (s.o.) im Sinne einer nicht-abstrakten, nicht-entfremdeten Wiedergewinnung des Ursprünglichen (womit es als gelebter Wirklichkeitsvollzug – existenziell – ein radikales Neuwerden darstellt,⁷¹⁸ weil ein fundamentaler Per-

 Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.  Anmerkung zur Bewegungsanalyse: Bewegungsteleologisch ist der Augenblick das ewigkeitsanaloge Existenztelos der zyklischen Wiederholungsbewegung. Als Versuch der Erneuerung des Augenblicks ist die Wiederholung nicht nur eine Bewegung vorwärts zum nächsten Augenblick, sondern auch rückwärts, dorthin, wo die Bewegung ihren Anfang genommen hat. Die Wiederholung ist die Wieder-Holung des Ursprünglichen. Solche stetig versuchende Erneuerung ist als eine sich verengende Spiralbewegung zu verstehen: der Versuch, sich immer tiefer in das Vorausgesetzte hineinzuarbeiten (eine systematische Struktur, die sich deutlich in den Reden wiederfindet: vgl. u.a. Kapitel 3.2.3.1).  Die Rückwendung in diesem bestimmten Sinne ist die existenzdialektische Aneignung (vgl. Kapitel 2.1.4).  Auf solch ein existenziell-emphatisches Neuwerden zielt beispielsweise Ingolf Dalferths Betrachtung ab, wenn er mit besonderer Betonung herausstellt, dass das Neuwerden das wesentliche Werden bei Kierkegaard sei, weil es ihm nicht darum gehe, dass der Mensch im Werden sei, sondern wie er in seiner Existenz die qualitative Veränderung zum Subjektsein vollziehe. (Ders., „Religiosität bei Kierkegaard und Schleiermacher“, S. 224 f., 225 (Anm. 21) und 227 f.) Dieser Abschnitt muss in Verbindung mit Dalferths Ausführungen zur „Absolute[n] Entscheidung“ (ebd., 248 ff.) gelesen werden, da ansonsten der Eindruck entsteht, dass das Individuum von sich aus und aus sich heraus die Fähigkeit hat, „grundlegende Moduswechsel des ganzen Lebens“ (ebd., 228) zu praktizieren. Aber Climacus zeigt u. a. anhand des „Augenblicks“, dass das Individuum, so sehr es auch die Veränderung will, sich nicht selbst transformieren kann, sondern verändert werden muss. So betont Dalferth, dass das Neuwerden des Individuums darin besteht, dass es einen neuen Lebenshorizont eröffnet bekommt und dabei vor (s)eine Möglichkeit gestellt wird, die aus dem vorhergehenden Lebenszusammenhang, wenn auch nicht zwingend undenkbar, so doch mindestens aber unmöglich erschien. (Vgl. ebd., S. 248) Auf Climacus angewendet zeigt sich dann der grundlegende Gedanke (von ihm), dass die Identität nicht selbsttätig erreicht, d. h. dem Individuum durch eigenes Bemühen verliehen werden kann, sondern erst dann entsteht bzw. gegeben wird, wenn es sich Unverfügbarem ausgesetzt sieht, das einwirkt. Dem Personsein wohnt, was in Kapitel 2.2 ausführlich betrachtet wurde, kein re-

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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spektivwechsel des Individuums stattfindet: hinein in die Innenperspektive, aus der heraus die eigene Person, das eigene Leben, Welt und Mitmenschen neu gesehen werden⁷¹⁹).⁷²⁰

Geschehen und Freiheit: Entscheidung Im erneuernden Durchgang durch den Augenblick wird das Individuum in ein Verhältnis zum Göttlichen und Ewigen gebracht, das es dann in der stetigen Erneuerung der Wiederholungsbewegung aufrecht zu erhalten gilt.⁷²¹ Wird dies in eine von Climacus differente Terminologie überführt, so ist der Augenblick der Moment des Ergriffenwerdens ⁷²² (vom Ewigen) und die Wiederholung der Prozess des Ergriffenbleibens. Durch den Augenblick wird ein durch Interesse/Sorge getragener Prozess in Gang gesetzt, dessen Charakteristika in einem willentlichen Ansichreißen (zum Ewigen hinübergelangen zu wollen: Philosophische Brocken) und einem bewussten Gebundensein (Religiosität als Verbundenheit: Unwissen-

sultatives Fertigsein, sondern ein unhintergehbares Offenbleiben inne. Im religiösen Existieren wird dies perpetuiert, indem das Unverfügbare als der dem Individuum übergeordnete, es umgreifende und übermannende Zusammenhang diejenigen Möglichkeiten offenlegt, die dem Individuum erst dadurch bewusst werden, wenn es mit ihnen konfrontiert wird. Das Selbstsein besteht darin, sich dem Ungeahnten auszusetzen und so ein grundsätzliches und ständiges Offenbleiben als ein Sich-konfrontieren-Lassen zu praktizieren, wodurch die eigene Identität immer nur ein Entstehen ist. Climacus wendet diesen Gedanken für das religiöse Existieren so, dass ein Empfangenwollen Gottes praktiziert werden soll. Dies wird ab dem nächsten Punkt (Kapitel 2.3.2.3.3) bis zum Schluss des gesamten Teils (2.3) facettenreich zu betrachten versucht.  Dies ist von Hermann Deuser entlehnt: vgl. ders., „Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz“, S. 93. – Bestätigt wird dies in Kapitel 2.3.3.4.3.  Als Erneuerung, Veränderung, Bruch, Umkehr stellt der Augenblick die Kategorie des (ontogenetischen) Übergangs dar – beispielsweise existenziell: von der an Endlichkeit orientierten Lebensweise (Ästhetik) zur an Ewigkeit orientierten, ethisch-religiösen Lebensweise (Innerlichkeit). Als solch eine Kategorie des Übergangs wird der Augenblick dezidiert von Vigilius Haufniensis bestimmt: vgl. SKS 4, 384/ DBA, 537.  Anmerkung zur Bewegungsanalyse: Innerhalb der Bewegungsanalyse wurde das Ziel der Bewegung, der Augenblick, als Teil der Bewegung bestimmt (Anfang und Ende der Bewegung fallen zusammen, woraus sich die aristotelisch-analoge Struktur der Wiederholung ergab). Jedoch stellt der Augenblick, wie er im Vorhergehenden besprochen wurde, ein Initiationsgeschehen dar und kann in diesem Sinne nicht als Anfang, der schon Teil der Bewegung ist, verstanden werden. Erst nach diesem Initiationsgeschehen ist der Augenblick als Anfang zugleich struktureller Teil der Wiederholungsbewegung.  Zu dieser Terminologie: vgl. auch Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 380.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

schaftliche Nachschrift) bestehen.⁷²³ So ist nicht nur die Initiation des Prozesses, das Ergriffenwerden, eine passiv-aktive Veränderung (der durch das Interesse/ Sorge gefilterte Augenblick: die „Umkehr“ (s.o.)), sondern auch der initiierte Prozess selbst ist durch Aktivität und Passivität bestimmt und zwar als das aktive Verbleiben im passiv-aktiven Ergriffensein (die „Umkehr“). Diese impliziten Strukturen von Passivität und Aktivität sind Ausdruck des Verhältnisses von Geschehen und Freiheit, also dem Aspekt des Hineingelangens in die Bewegung, dass das Individuum nicht nur durch den Augenblick die Möglichkeit eröffnet bekommt, sondern aus Freiheit die Bewegung auch will (= sich dafür entscheidet, das verdeckte Ewigkeitsverhältnis beibehaltend freizulegen⁷²⁴). Um dies genauer zu bestimmen, ist folgende Stelle aus der Bewegungsanalyse zu betrachten: „Für einen Existierenden ist Entscheidung und Wiederholung das Ziel der Bewegung.“⁷²⁵ Hier werden implizit die relevanten Verhältnisse von Geschehen und Freiheit durch den Begriff Entscheidung subsumiert. Zunächst bedeutet Entscheidung – und zwar als Ziel der Bewegung – ein singuläres Ereignis, das – ausgehend vom Augenblick als zu wiederholendes Ziel der Bewegung – eine Entscheidung ist, also das Geschehen, in dem das Individuum durch das Hineindringen des Ewigen in die Zeit entschieden wird. Dieses Entschiedenwerden ist aber nur recht verstanden, wenn es vor dem Hintergrund des im Vorhergehenden genannten Reziprozitätsverhältnisses von Augenblick und Interesse (Sorge) gesehen wird. Geschieht der Augenblick, wird dies vom Individuum im Sinne der religiösen Interesseintention als Entschiedenwerden begriffen; dass der Augenblick der „Augenblick der Entscheidung“⁷²⁶ ist.Weil der Augenblick aber zugleich ein ursprüngliches Veränderungsereignis ist, ist er ja „das Entscheidende“⁷²⁷, also gerade das Geschehen, das das Verständnis von ihm selbst forciert. Geschehen und Deutung bestimmen das Entschiedenwerden als das durch die eigene Person bedeutend gemachte Ausgerichtetwerden (also als Transformation) der eigenen Person.⁷²⁸ Und das zeigt grundsätzlich, dass das

 Diese doppelte Konnotation des Begriffs Ergriffensein ist von Dieter Henrich entlehnt: vgl. ders., Bewußtes Leben, S. 184.  Dies entspricht – unter dem Freiheitsaspekt – der Aneignung des Ewigkeitsverhältnisses.  SKS 7, 284/ DUN, 473 f.  SKS 7, 234 / DUN, 408; auch: SKS 7, 186/ DUN, 344. Ähnlich wird der Augenblick (im Sinne des Entscheidungsaugenblicks) in Entweder – Oder als „Wahlaugenblick“ bestimmt: vgl. SKS 3, 160 ff. / DEO, 711 ff.  SKS 4, 226/ DPB, 28.  Anmerkung vor dem Hintergrund der Bewegungsanalyse: Indem die Entscheidung das vom Individuum selbst bedeutend gemachte Ausgerichtetwerden auf das Ewige ist, geht es um das Annehmen des Ewigen als Maß für das eigene Existieren. Das Ewige selbst (das Telos der Bewegung) gibt das Maß vor. Die Wiederholungsbewegung ist dann der Versuch der Entsprechung

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Entschiedenwerden auch gewollt⁷²⁹ werden muss; aber erst durch das Geschehen kann das Gewollte praktiziert werden. Das Entschiedenwerden ist also ein durch Freiheit bestimmtes und ein die Freiheit ermöglichendes Geschehen: Indem das Individuum entschieden wird, kann es entscheiden. In der zitierten Stelle der Bewegungsanalyse wird Entscheidung auch in direktem Zusammenhang mit der Wiederholung genannt. Damit wird der Entscheidung als Ereignis der Freiheit eine iterative Struktur zugesprochen. Entscheidung ist Entschiedenheit und somit als Prozess gefasst. Ausgehend von der eben vorgenommen Bestimmung des Entschiedenwerdens als Ermöglichung der Entscheidung kann die Entschiedenheit zunächst als das bewusste Beibehalten der Bewegung zum Ewigen (beziehungsweise zu dessen existenzieller Vorform: nächster Augenblick) gedeutet werden, was in der Bewegungsanalyse anhand der „unendlichen Leidenschaft“ (Unwissenschaftliche Nachschrift) beziehungsweise dem „Streben“ (Philosophische Brocken) betrachtet wurde und die oben genannte aktive Dimension des durch den Augenblick in Gang gesetzten Prozesses benennt. Aus entscheidungstheoretischer Perspektive ist es aber wichtig, dass die Entschiedenheit nicht nur als der Bewegung immanent gedacht wird, sondern in Bezug auf die Metastruktur der Bewegung selbst: dass nämlich die iterative Entscheidung die Wiederholung des Entschiedenwerdens (Augenblick) ist. Damit zeigt sich in der Entschiedenheit die gleiche Struktur wie für die singuläre Entscheidung: dass auch die Entschiedenheit eine vom Augenblicksgeschehen abhängige Freiheit ist. Sowohl Entscheidung als auch Entschiedenheit werden in ihrer volitionalaktiven Freiheit durch das Gebundensein an das Absolute getragen und gestützt. Religiös gedeutet: Keine Freiheit ohne Gottes Hilfe.⁷³⁰ Und in diesem Sinne heißt es

gegenüber dieser Vorgabe (weil die Wiederholung – bewegungsstrukturell – das Vollziehen einer apotheotischen Abbild-Bewegung des Ewig-Unveränderlichen ist). Das vom Individuum selbst bedeutend gemachte Ausgerichtetwerden ist demnach eine Entscheidung zum Entsprechenwollen gegenüber dem als vorgegeben betrachteten Absoluten – und in diesem Sinne eine genuin religiöse Entscheidung. Zu dieser: Herms, „Entscheidung“, in TRE, Bd. 9, S. 690 – 705, hier S. 693.  Ein schönes Beispiel für dieses Wollen gibt Gerichtsrat Wilhelm: „Indem nämlich die Wahl mit der ganzen Inbrunst der Persönlichkeit vorgenommen worden ist, ist … er selbst in ein unmittelbares Verhältnis zu der ewigen Macht gebracht, die das ganze Dasein allgegenwärtig durchdringt.“ (SKS 3, 164 / DEO, 716) Bei aller existenziell-religiösen Entscheidung geht es um die Leidenschaft für ein Leben, das durch Gott getragen wird.  Freiheitstheoretisch gedeutet: Freiheit impliziert Bindung: Gebundensein und Verbundensein. Ohne diese Bindung bliebe die Freiheit leer und ohne Orientierung; eine absolute (– existenziell unmögliche) Freiheit, die dialektisch ins Gegenteil umschlagen würde. – Besonders Vigilius Haufniensis legt mit dem Begriff Angst eine Freiheitstheorie vor diesem Hintergrund vor. Zur Freiheitstheorie bei Kierkegaard vergleiche man besonders die Monographien von Walter

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

klar: „Gerade in d[]em Augenblick der Entscheidung braucht [behøver] das Individuum einen göttlichen Beistand …“⁷³¹ Entscheidungstheoretisch bedeutet dies, dass die Entscheidung wie auch die Entschiedenheit Freiheitsakte darstellen, in denen das Handeln auf das konzentriert wird, durch das die Entscheidung und Entschiedenheit zustande kommt: also das Ewige beziehungsweise Gott. Diese zirkuläre Struktur der Entscheidung (für das; durch das) lässt sich leicht aus dem Verhältnis von Augenblick und Interesse ableiten: Was im Augenblick geschieht ist das Gewollte; die Bedingung ist zugleich das Telos.

Glaube und Anfang: Sprung Indem für Climacus das religiöse Existieren – der durch ein Ewigkeitsverhältnis konstituierte Glaubensvollzug (leidenschaftliche Wiederholungsbewegung oder auch das Ergriffenbleiben) – das existenzielle Ziel seiner Ausführungen ist, muss dieses, von der eben besprochenen Struktur her als eines betrachtet werden, das durch das Resultat des ursprünglichen Initiationsgeschehens des Augenblicks in Gang gebracht und gleichursprünglich das durch das Wollen (Interesse/Sorge) Vorausgesetzte ist. Dabei ist zu betonen, dass der Glaube ein Ewigkeitsverhältnis impliziert, das (für das religiöse Existieren) freigelegt werden muss. Gibt es also im Individuum den Willen zum Glauben, so ist dieses existenz-religiöse Symptom bei Climacus das Zeichen dafür, dass es ein vorausgesetztes Ewigkeitsverhältnis gibt. Und der Augenblick ist dann als Initiationsgeschehen des Glaubens⁷³² einfach die bestätigende Freilegung des geahnten, immer schon bestehenden, aber verdeckt gebliebenen Ewigkeitsverhältnisses. Wenn Climacus nun schreibt – „[J]eder Anfang …, wenn er gemacht wird, … geschieht … kraft eines Entschlusses, [wird] wesentlich kraft des Glaubens gemacht …“⁷³³ – so bestimmt er den Anfang der Bewegung (das Hineingelangen) über das Verhältnis von Glaube und Freiheit: Der Glaube ist die Voraussetzung für den Entschluss (Entscheidung), der die Bedingung für das religiöse Existieren (Glaubensvollzug) ist. Die Entscheidung (für den Glauben) und der Glaube stehen also in einem reziproken Verhältnis. Einerseits ist der Glaube dann selbst ein Entschiedensein; ist Freiheit – im climacischen Sinne: Freiheit, die durch das Absolute (Augenblick; Gott) bedingt ist. Und gleichfalls ist – aufgrund der Rezi-

Dietz, Sören Kierkegaard – Existenz und Freiheit, Frankfurt am Main 1993, und von Michael Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, Paderborn u. a. 1994.  SKS 7, 234 / DUN, 408.  Climacus bezeichnet den Augenblick ja auch als die „Wiedergeburt“ (SKS 4, 227/ DPB, 29), in der „das Individuum mit dem Glauben geboren wird …“ (SKS 4, 294/ DPB, 114)  SKS 7, 174 / DUN, 329.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

267

prozität mit dem Glauben – der Anfang der Bewegung (die Entscheidung für den Glaubensvollzug) ebenfalls ein Akt der Freiheit, die vom Absoluten bedingt ist. Der Anfang ist demnach – strukturell – ein Moment des Zwischenseins: das Gewollte, das durch das Unbedingte in seiner existenziellen Genese bedingt wird;⁷³⁴ also das, was gegeben werden muss und nicht vom Individuum durch den bloßen Willen begonnen werden kann. Und eben dieses Gegebenwerden bezeichnet Climacus als den „absoluten Anfang“, der sich genau dann und nur dann ereignet, wenn die „Reflexion zum Stehen gebracht“⁷³⁵ ist; wenn also der Augenblick als das die Kontinuität unterbrechende Plötzliche geschieht. Indem diese Unterbrechung der Kontinuität von Climacus sodann als „Entschluss“ bestimmt wird,⁷³⁶ zeigt sich deutlich, dass der Anfang der Bewegung in der Spannung zwischen Augenblick und Entscheidung und damit zwischen Geschehen und Freiheit besteht.⁷³⁷ Diese Doppelstruktur des (hineingelangenden) Anfangs wird systematisch mit dem Begriff des Sprungs abgedeckt. In ihm vereinen sich – funktional – die Charakteristika des Augenblicksgeschehens und der Entscheidung zum subjektiven Moment des Anfangs. Climacus betont einerseits, dass der Sprung aus eigener Kraft eine „Unmöglichkeit“⁷³⁸ ist (entsprechend dem Augenblick). Der Sprung ist also nichts Aktives, sondern ein geschehender Akt: ein Gesprungenwerden. Gleichfalls betont er, dass „der Sprung die Kategorie der Entscheidung ist“⁷³⁹, was bedeutet, dass der Sprung eben als Entscheidung ein Gesprungenwerden ist (entsprechend der Entscheidung als Entschiedenwerden). Der Sprung ist als das Hineingelangen in die Bewegung (in den Glaubensvollzug) ein Akt der Freiheit, der vom Unbedingten bedingt ist; er ist Handlung, die durch das bestimmt ist, woraufhin gehandelt wird (entsprechend der intrinsischen Entscheidungsstruktur).⁷⁴⁰ Wenn Climacus den Sprung schließlich dadurch charakterisiert, dass dieser „ein Akt der Isolierung ist, da er das Betreffende,was sich nicht denken lässt“ – das Ewige⁷⁴¹ – „dem Einzelnen anheimgibt, … es glaubend anzunehmen

 C. Stephen Evans arbeitet diese Struktur anhand der Philosophischen Brocken ebenfalls heraus: vgl. ders., Passionate Reason, besonders S. 138 – 142.  SKS 7, 110/ DUN, 246.  Vgl. SKS 7, 110/ DUN, 246.  Aus diesem Grund ist es unzureichend, allein den Augenblick als Anfang zu bestimmen. Der Augenblick ist zwar als Freilegung des Ewigkeitsverhältnisses in seiner Ursprünglichkeit zugleich das Hineingelangen in die Bewegung, durch den das Gewollte begonnen werden kann – sofern aber das Wollen (Interesse/Sorge) existenz-systematisch gleich ursprünglich ist, ist das Hineingelangen in die Bewegung eben bedingt durch die Wechselwirkung von Geschehen und Freiheit.  SKS 7, 100/ DUN, 233.  SKS 7, 97/ DUN, 230.  Zum Verhältnis von Sprung und Handlung: Deuser, Religionsphilosophie, S. 247.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

[antage]“⁷⁴² – so wird mit dem Begriff des Annehmens das Schon-Sein des verdeckten Ewigkeitsverhältnisses benannt und zwar als Akt der erneuernden Freilegung, die jedoch nicht, wie beim Augenblick als plötzliches Aufflackern der Möglichkeit konnotiert wird, sondern als subjektiver Handlungsvollzug der Entscheidung, die (wiederum) durch den Augenblick bedingt ist. Im Begriff des Sprungs verbinden sich demnach systematisch sowohl die Aspekte der Freilegung und des Hineingelangens wie auch die des Geschehens und der Freiheit.

Anmerkungen zur Bewegungsanalyse Indem die Wiederholungsbewegung als eine in sich geschlossene Bewegung analysiert wurde, in der der Anfang (der einzelnen Zyklen) nicht nur gleichfalls das Ende, sondern dadurch auch Teil der Bewegung selbst ist, schien sich implizit zu ergeben, dass es keinen konkreten Einstiegspunkt in die Bewegung gibt. Mit der gegebenen Analyse des Anfangs wurde dies wiederlegt. Und doch geht es Climacus um die Freilegung des Schon-Seins eines verdeckten Ewigkeitsverhältnisses. In diesem Sinne gibt es existenziell immer schon die Möglichkeit der Wiederholungsbewegung, die durch das Initiationsgeschehen des Augenblicks und durch die Entscheidung (im analysierten Sinne) ontogenetisch konkret wird und vom „Nicht-Da-Sein zum Da-Sein“⁷⁴³ gelangt. Nach dem Ereignis des Augenblicks ist die Wiederholung als eine durch (unendliche) Leidenschaft getragene Bewegung die Konkretion und Durchführung des Interesses und der Sorge. Weil diese – vor allem das Augenblicksgeschehen – onto-existenziell anzeigen, dass das Verwiesensein an Unbedingtes grundsätzlich im Menschen angelegt ist, ist die Wiederholungsbewegung die (permanente) Überführung des Schon-Seins in gesteigerte Aktualität – ein durch Leidenschaft bestimmtes In-Erfahrung-Bringen. Dies ist Aneignung im existenziell-religiösen Sinne. Der Glaubensvollzug (Wiederholung) kann also systematisch niemals von der Aneignung selbst getrennt werden.⁷⁴⁴ Als Realisation der grundsätzlich gegebenen Möglichkeit des Glaubens bedeutet die Wiederholung existenziell, dass das, was immer schon ist (das Ewige), anzunehmen und in den eigenen existenziellen Vollzug des Lebens zu integrieren ist – oder religiös gedeutet: ein durch Verbundenheit zu Gott geprägtes und durch ihn getragenes Existieren zu vollziehen (ein Existieren, das in Abhängigkeit zum Absoluten steht).  SKS 7, 98/ DUN, 232.  SKS 4, 230/ DPB, 32.  Vgl. Hans Vorsters Bemerkungen zu Kierkegaard: ders., „Glaube“, in HWPh, Bd. 3, S. 627– 645, hier S. 640.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Indem ein solches Existieren das Einwirken Gottes bedarf (das Augenblicksgeschehen), um überhaupt – im innerlichen Sinne – vollzogen werden zu können, ist das Ewige/Gott nicht nur Bedingung, sondern auch Ziel und als Ziel auch Maß der Bewegung (was sich bewegungsstrukturell als Apotheose und freiheitstheoretisch als zirkuläre Struktur der Entscheidung äußert). Es zeigen sich demnach aus dem Verhältnis von Anfang und Vollzug der Bewegung klar zwei der in Kapitel 2.3.2.2.3 gegebenen, bewegungsdialektischen Bestimmungen: dass das Ziel in die Bewegung eingeschrieben ist, ohne es zu erreichen, und, dass das Ziel die Bewegung zum Ziel beeinflusst.

2.3.2.3.2 Zeit- und Existenzstruktur Vor dem Hintergrund, dass die Bewegung vollzogen wird, also nicht mehr in sie hineingelangt werden muss, soll nun die bewegungsdialektische Bestimmung, dass das Ziel der Bewegung die Bewegung zum Ziel beeinflusst, weiter konkretisiert werden. Und zwar in der existenzstrukturellen Ausprägung der Bewegung als Bewegung in der Zeit. Wie lässt sich die immanente Zeitstruktur der Existenz (als Bewegung) fassen? Und welche existenzstrukturellen Konsequenzen ergeben sich daraus?

Bewegung zwischen Zeit Der Mensch ist als Existierender immer unabgeschlossen, unterwegs, steht mitten im Leben, besitzt Vergangenheit und Zukunft und ist in diesem Sinne als Werdender in einem zeitlichen Zwischen. ⁷⁴⁵ Welche Struktur besitzt dieses temporaltheoretische Zwischensein unter dem Blickwinkel der Bewegungsstruktur des religiösen Existierens? Die Wiederholungsbewegung ist als Verhältnis zum Ewigen als Bewegung zum nächsten Augenblick (Unwissenschaftliche Nachschrift) und letztlich als eine Bewegung zur Möglichkeit (Philosophische Brocken) der christlichen Verheißung einer ewigen Seligkeit gekennzeichnet. Obwohl beide Bewegungen bei Climacus ineinander fallen, sind sie durch subtil unterschiedene Zeitstrukturen gekennzeichnet. Beiden gemeinsam ist, dass eine implizite, ständige Vorwärtsbewegung von Climacus betont wird, wenn er die Existenz als „Weg“⁷⁴⁶ be-

 Vgl. Grøn, „Religion und Subjektivität“, S. 96.  U. a.: „[S]o wird natürlich besonders der Weg anzupreisen sein, der das Existieren besonders akzentuiert.“ (SKS 7, 177/ DUN, 333) „[D]er Weg ist das Entscheidende …“ (SKS 7, 390/ DUN, 608) Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit der Wegmetapher: vgl. Ringleben, Aneignung, S. 339 – 373.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

zeichnet, der vorwärts beschritten werden muss: „Vorwärtsgehen ist ja das Bild des Existierens.“⁷⁴⁷ Dieses Vorwärtsgehen ist für die Bewegung in den Philosophischen Brocken, dem kontinuierlichen Übergang, von der der Unwissenschaftlichen Nachschrift, der zyklischen Kontinuität, zu unterscheiden. Während die Übergangsbewegung (Brocken) eine lineare Bewegung zum Ewigen bezeichnet, ist die Wiederholung in ihrer Linearität (Streben) eine entlinearisierte Bewegung zu ekstatischen Augenblicken. Bevor jedoch die Unterscheidung zwischen beiden Bewegungs-Zeit-Strukturen deutlich gemacht werden kann, muss Climacusʼ Bestimmung der Zeitstruktur religiösen Existierens dargelegt werden. Die Existenz als Bewegung zum Ewigen ist deshalb eine permanente Vorwärtsbewegung, weil das Ewige in der Zeit entzogen bleibt. In der Zeit gilt, so Climacus, dass sich „die Ewigkeit … wie Zukünftiges zu einem Werdenden verhält …“⁷⁴⁸ Zum existenz-religiösen Telos der Bewegung (die theologische Implikation der christlichen Verheißung einer ewigen Seligkeit als die im Jenseits liegende, zukünftige Möglichkeit der Erlösung) kann sich das Individuum, aufgrund seines absolut futurischen Charakters, nur erwartend verhalten.⁷⁴⁹ Im ErreichenWollen der ewigen Seligkeit wird die Existenz von Climacus als ein Hineinentwickeln in die Zukunft bestimmt. Dies wird konkret, wenn Climacus schreibt: „Der Entwicklungsgang der religiösen Subjektivität hat … die merkwürdige Eigenschaft, dass sich der Weg für den Einzelnen auftut und sich hinter ihm schließt.“⁷⁵⁰ Religiös zu existieren heißt, sich radikal – mit entschiedener Kontinuität – nach vorn richten und der Zukunft eine geschlossene Form geben zu wollen (bewegungsstrukturell drückt sich diese Geschlossenheit deutlich im aristotelischanalogen Charakter der Wiederholungsbewegung aus): mit religiösem Interesse

 SKS 7, 408/ DUN, 633.  SKS 7, 280/ DUN, 467; vgl. auch SKS 7, 386/ DUN, 603.  Climacusʼ Gedankenfigur zur Erwartung ist zwar erst mit der Erörterung des Glaubens verständlich (Kapitel 2.3.2.4.1), sei aber hier schon kurz angeführt. Er schreibt: „Das präsentische Verhältnis ist das der Gewissheit und der Bestimmtheit, aber ein präsentisches Verhältnis zu einem Futurum ist eo ipso das der Ungewissheit, und darum ganz richtig das der Erwartung.“ (SKS 7, 386/ DUN, 603) Kurz zuvor spricht Climacus vom Verhältnis des Individuums zur ewigen Seligkeit. Indem das Verhältnis zu dieser nur ein präsentes, glaubendes Verhältnis und damit ein Im-Abstand-zum-Verhältnisgegenstand-Sein ist, in dem einerseits die Gewissheit der ewigen Seligkeit subjektiv da ist, andererseits die ewige Seligkeit nicht gegenwärtig ist, sondern ihr Erreichen im Ungewissen liegt, ist die Gewissheit, mit der sich zur Seligkeit verhalten wird, nur die der Erwartung des Entzogenen und Unverfügbaren. Diese Aussage steht in Spannung mit der im vorhergehenden Punkt gemachten Analyse des Loslassens vom Erreichen des Ziels. Auf diese Ambivalenz, dass das Individuum zwischen einem Erwarten und einem Zustand wider aller Erwartung verhaftet ist, wird eingegangen in den Punkten 2.3.2.4 und 2.3.3.2.2.  SKS 7, 68/ DUN, 193.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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und Leidenschaft teleologisch⁷⁵¹ einen „Plan“⁷⁵² verfolgen. Gleichzeitig bedeutet ein solches Existieren zum zukünftig Ewigen, die Bewegung auch im Hier und Jetzt zu vollziehen. Deshalb schreibt Climacus: „[A]uf sich selbst recht aufmerksam zu sein als einer, der in der Gegenwart lebt und das Zukünftige vor sich hat …“⁷⁵³ Sowohl Zukunft als auch Gegenwart rücken prominent in den Fokus der Betrachtung. Zukunft und Gegenwart stehen gleichwertig nebeneinander und müssen gleichzeitig in den Blick des Existierenden geraten. Das hat existenzstrukturelle Bedeutung und zwar, wenn das bewegungsstrukturelle Verhältnis von Telos und Metron der Bewegung in den Blick rückt. Denn sowohl Telos als auch Metron stehen für bestimmte Modi der Zeit. Als Telos ist das Ewige das Unveränderliche, das zukünftig ist. Als Metron ist das Ewige das Unveränderliche im Sinne des Maßstabs für die in der Gegenwart zu vollziehende beständige Bewegung. Indem das Telos bewegungsstrukturell nun zugleich das Metron der Bewegung ist, bestimmt die Zukunft die Gegenwart, wodurch die Existenzbewegung eine in der Gegenwart und die ausstehende Zukunft hinein beständige, von ihrem Ziel her bestimmte Bewegung zum Ewigen ist. Kurz: Religiöses Existieren ist (zunächst) durch Zukunft geprägte Gegenwart. ⁷⁵⁴ Und im Sinne der Philosophischen Brocken gilt für den kontinuierlichen Übergang eben diese transitive Zeitstruktur. Denn der Übergang (Werden) ist eine Bewegung zur jenseitigen ewigen Seligkeit, die als das Zukünftige, das zu praktizierende Existieren (Streben) gegenwärtig prägt, nämlich als das Telos, das das Maß der Bewegung bestimmt – eine permanent-kontinuierliche Bewegung zu sein. Für die Wiederholungsbewegung der Unwissenschaftlichen Nachschrift gilt diese Zeitstruktur zunächst ebenfalls, weil ihr ewigkeitsanaloges, zukünftiges Ziel – der Augenblick – als in sich geschlossene, punktuelle Bewegung das Maß der in der Gegenwart zu vollziehenden Bewegung vorgibt. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich aber eine Differenz gegenüber der Zeitstruktur der Philoso-

 „Sobald ich anfange, mein Denken im Verhältnis zu etwas anderem teleologisch zu machen, ist das Interesse mit im Spiel.“ (SKS 7, 290/ DUN, 481)  SKS 4, 273/ DPB, 87.  SKS 7, 136/ DUN, 279.  Darin deutet sich die für die Innerlichkeit elementare Struktur der Doppel-Bewegung (vgl. Kapitel 2.3.3.4.3) an: Durch Zukunft geprägte Gegenwart bedeutet durch Ewigkeit geprägter Vollzug, d. h. im Bewusstsein Gottes im Hier und Jetzt zu agieren (was bei Constantin Constantius sehr schön gesagt wird, wenn er schreibt, dass es um das „Zurückströmen des Ewigen ins Gegenwärtige“ geht (SKS 4, 15/ DW, 337)). Es geht darum, konkret auf die Welt zurückzukommen und nicht im bloßen Bewusstsein des Ewigkeits-/Gottes-Verhältnisses zu verbleiben.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

phischen Brocken. Denn für die Wiederholung gilt, dass sie eine zyklische Bewegung ist. Indem sie ihren Anfang im Augenblick nimmt und von diesem her eine Bewegung zu einem neuen Augenblick ist, sind ihre Zyklen strukturell und ontogenetisch durch ein und denselben Moment begrenzt: Anfang und Ende fallen zusammen. Ist die Wiederholung demnach eine Bewegung zum Ursprung (zum Augenblick), ist sie strukturell eine Bewegung in die Zukunft hinein und dadurch gleichfalls eine Bewegung zu der in die Zukunft verlagerten (schon geschehenden) Vergangenheit. Im Telos der Wiederholungsbewegung fallen Zukunft und Vergangenheit zusammen. ⁷⁵⁵ Damit muss Climacusʼ eigenem Präferieren der Zukunft (bei allem religiösen Existieren) widersprochen werden. Zwar ist die Wiederholungsbewegung eine Bewegung in die Zukunft, aber als diese eine Erneuerungsbewegung der Vergangenheit. Die Bewegungsrichtung der Wiederholung ist demnach zwar eine Bewegung vorwärts, aber als solche genau genommen eine Bewegung rückwärts. In ihrer durch das Telos bestimmten Bewegungsmodulation (Metron) ist die Wiederholungsbewegung dann zeitstrukturell gesehen eine durch Vergangenheit geprägte Gegenwart. ⁷⁵⁶ Wird der Fokus nun auf den Augenblick selbst gerichtet, so ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass er in der Bewegungsanalyse als sublimierte Kontinuität beziehungsweise punktuelle Bewegung bestimmt wurde. Als solche ist der Augenblick die Verdichtung dessen, was durch die Wiederholung in die Zeit gedehnt wird (weshalb er bewegungsstrukturell das das Metron bestimmende Telos der Bewegung ist). Zeitstrukturell könnte nun abgeleitet werden, dass der Augenblick keine sukzessive, sondern verdichtete Zeit ist, was ausgehend von der Zeitstruktur der Wiederholung bedeutet, dass im Augenblick Gegenwart und Vergangenheit (und mit dieser die Zukunft) zusammenfallen. Dies ist ganz richtig, muss der Präzision wegen aber durch eine entscheidende Nuance ergänzt werden. Denn für sich genommen ist der Augenblick zwar in der Zeit, besteht aber nicht in einem Jetztpunkt, der Vergangenheit und Zukunft verbindet,⁷⁵⁷ sondern in einem Moment des die Kontinuität unterbrechenden Plötzlichen. Das bedeutet: „[D]er Augenblick [ist] das Weder-Noch von Früherem und Späterem.“⁷⁵⁸ Der Augenblick ist onto-temporal weder Vergangenheit noch punktuelle Gegenwart noch Zukunft. Er

 Vor dem Hintergrund der Wiederholung wird verständlich, was Vigilius meint, wenn er schreibt: „Ist der Augenblick …, so ist das Ewige … das Zukünftige, das wiederkommt als das Vergangene.“ (SKS 4, 393/ DBA, 549)  Vgl. hierzu auch Wenche Marit Quist, „When your Past lies ahead of you – Kierkegaard and Heidegger on the Concept of Repetition“, in KSYB 2002, S. 78 – 92. Quist entwickelt den Gedanken der „zukünftigen“ Vergangenheit vor allem anhand von Heideggers Wiederholungsbegriff.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Sommer, Evidenz im Augenblick, S. 207; vgl. auch ebd., S. 110.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

273

ist die Gegenzeit zur sukzessiven Konsistenz der Zeitlinie.⁷⁵⁹ Demgegenüber ist es dann aber auch wichtig, dass bei Climacus der Augenblick als das Eindringen des Ewigen in die Zeit bestimmt ist.⁷⁶⁰ Indem das Ewige per definitionem immer schon ist und sein wird, fallen im Augenblicksgeschehen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen.⁷⁶¹ Der Augenblick ist der Moment in der Zeit, in dem Zukunft und Vergangenheit gegenwärtig sind.⁷⁶² Der Augenblick ist somit zeitstrukturelle Verdichtung – und doch ist er universell über die einzelnen Zeitkategorien hinausweisend, weil er das plötzliche Weder-Noch zeitstruktureller Sukzession ist. Nur in dieser Spannung zwischen Konkretion und Allgemeinheit – als Sublimie-

 In diesem Sinne bestimmt Vigilius den Augenblick auch als „das Nicht-Seiende unter der Bestimmung der Zeit“ (SKS 4, 385 (Anm. 2) / DBA, 538 (Anm. 2)). Und bei Manfred Sommer heißt es auch, dass der Augenblick die „Destruktion der Zeit“ (ders., Evidenz im Augenblick, S. 251) ist.  So gesehen, ist der Augenblick ein ontologisches Zwischensein (Inter-esse), zwischen Zeit und Ewigkeit. Hermann Deuser nennt den Augenblick daher auch den „theoretisch nicht zu identifizierende[n] Zwischenraum, die Zwischenzeit …“ (Ders., Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 46)  Hierbei von einer existenz-phänomenologischen Gleichzeitigkeit mit dem Ewigen zu sprechen ist strukturell ungenau, weil mit dem Ewigen bei Climacus niemals vollständig gleichzeitig geworden werden kann, was durch die ontologische Struktur der Existenz bedingt ist. Das Ewige bleibt das Uneinholbare, selbst wenn es in die Zeit eindringt. Der Existierende bleibt im Werden, in der Zeit und damit wesentlich verschieden und ungleichzeitig vom Ewigen. Alles augenblickliche Berühren des Ewigen – so Climacus – „bleibt doch nur Annäherung …, weil das Ewige von oben auf den Existierenden zielt, der durch sein Existieren in Bewegung ist und daher in dem Augenblick, in dem das Ewige trifft, bereits einen kleinen Augenblick davon entfernt ist.“ (SKS 7, 443/ DUN, 678) Der Augenblick ist lediglich die zeitliche Sublimierung des Verhältnisses zum Ewigen.  Dies ließe sich auch aus bewegungsstruktureller Perspektive zeigen: Als Telos der Wiederholungsbewegung ist der Augenblick – und zwar aus dem Blickwinkel der Bewegung selbst – sowohl das Schon-Geschehene (Anfang; Vergangenheit) als auch das Noch-Geschehende (Ziel; Zukunft) und damit das bewegungsstrukturelle Zusammenfallen von Vergangenheit und Zukunft. Der Augenblick ist dann der Moment in der Zeit, in dem die Bewegung eine Gegenwart erreicht, in der Zukunft und Vergangenheit sind. Wollte man der Unwissenschaftlichen Nachschrift exegetisch genauer gegenübertreten, so müsste man Climacusʼ Fokussierung des Ewigen als das Zukünftige mehr Rechnung tragen. Dann wäre für den Augenblick festzuhalten: Indem das Ewige in die Zeit einbricht und das Ewige von Climacus als das Zukünftige bestimmt ist, fallen im Augenblick Zukunft und Gegenwart zusammen. Im Augenblick ist die Zukunft gegenwärtig. (Zu diesem Verständnis der Zeitstruktur im Augenblick hat Gerhard Thonhauser genauer gearbeitet: vgl. ders., Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Søren Kierkegaard mit ständigem Hinblick auf Martin Heidegger, S. 150 – 161, besonders S. 160). Was diesbezüglich jedoch ausdrücklich betont werden müsste, ist Folgendes: Dass im Augenblick die Zukunft gegenwärtig ist, gilt allein strukturell und nicht im erfahrungsphänomenologischen Sinne. Denn wird beachtet, dass der Augenblick eine vorreflexive Erfahrung ist (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1), so bedeutet der Augenblick keine Vergegenwärtigung, also keine bewusste Gewahrwerdung der Zukunft für das Individuum.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

rung von Zeit und als universale Gegeninstanz der Zeit – ist der Augenblick zeittheoretisch zu verstehen. Sieht man vom Augenblick als außerordentlichen Spezialfall existenzieller Zeitstruktur ab, so zeigt sich, dass das religiöse Existieren bei Climacus durch zwei Formen von Zwischenzeitlichkeit geprägt ist. Ausgehend von dem Bewegungsmodell der Philosophischen Brocken besteht die Zeitstruktur zwischen Gegenwart und Zukunft; im Hinblick auf die Unwissenschaftliche Nachschrift zwischen Gegenwart und Vergangenheit (die Zukunft impliziert). Indem die Bewegungsmodelle der Philosophischen Brocken und der Unwissenschaftlichen Nachschrift als eine Bewegung verstanden werden müssen,⁷⁶³ ist das religiöse Existieren nicht nur auf alle drei Zeitekstasen ausgedehnt, sondern als eine Gegenwärtigkeit verstanden, in die Vergangenheit und Zukunft hineinreichen und zwar als die der Gegenwart gleichwertig nebenstehenden Zeitekstasen. Ausgehend von der hier vorgenommenen bewegungsstrukturellen Ableitung der existenz-religiösen Zeitstruktur geht es mit dieser, ebenso wie im ethischen Existieren,⁷⁶⁴ um ein existenzielles In-den-Blick-Bekommen der temporalen Ganzheit des Daseins.⁷⁶⁵

Inter-esse und Lebenszusammenhang Um Climacus exegetisch etwas näher zu kommen, muss dessen Betonung von Gegenwart und Zukunft im religiösen Existieren beachtet werden (also die Analyse der Zukunft als Vergangenheit in der Wiederholungsbewegung außen vor gelassen werden). Climacus betont ja nicht umsonst genau diese beiden Zeitekstasen. Denn ihm geht es um ein existenzielles Doppelverhältnis, das systematisch verschieden benannt werden kann, aber in seinen differenten Benennungen funktional analog zu verstehen ist. Das religiös existierende Individuum ist durch eine doppelte Intentionalität ausgezeichnet: a) auf Gegenwart und Zukunft (zeitstrukturell); b) auf Vollzug und Ziel der Bewegung (bewegungsstrukturell); c) auf Endlichkeit und Ewigkeit (ontologisch). Durch Gegenwart-Vollzug-Endlichkeit ist der existenziell gestaltbare Bewegungsraum bestimmt; durch Zukunft-Ziel-Ewigkeit die Bewegungsrichtung auf die teleologisch-anvisierte, existenziell-religiöse Möglichkeit der Erlösung. Es geht demnach um konkrete Verortung und gleichfalls um die permanente Überschreitung dieser Verortung (womit unzweideutig der kontinuierliche Über Vgl. Kapitel 2.3.2.2.3.  Vgl. das Schema in Kapitel 2.2.3.2.  In diesem Sinne kann die Wiederholungsbewegung als Erneuerungsstreben zum Augenblick als eine Bewegung zur vom Augenblick in sublimierter Weise repräsentierten Ganzheit der Zeitlichkeit des Daseins gesehen werden.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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gang der Philosophischen Brocken ⁷⁶⁶ bestimmt ist). Aus dieser existenz-strukturellen Doppelfokussierung lassen sich verschiedene Sachverhalte ableiten. Wenn Climacus, wie vorher zitiert, in der Unwissenschaftlichen Nachschrift schreibt – „[A]uf sich selbst recht aufmerksam zu sein als einer, der in der Gegenwart lebt und das Zukünftige vor sich hat …“⁷⁶⁷ –, so ist damit existenziell das doppelte Interesse des Individuums und zeit-/bewegungsstrukturell deutlich die doppelte Teleologie des religiösen Existierens angezeigt. Jedoch ist diese doppelte Intentionalität intrinsisch in das Selbst-Verhältnis eingefasst, denn es geht darum, „auf sich selbst recht aufmerksam zu sein“. Indem das Selbst-Verhältnis systematisch das Interesse für das Inter-esse ⁷⁶⁸ ist, zeigt die doppelte Intentionalität auf systematischer Ebene, dass es dem Individuum im religiösen Existieren darum gehen soll, sich selbst zwischen Endlichkeit (≙ Gegenwart) und Ewigkeit (≙ Zukunft) verortet zu sehen, also auf sich selbst als ontologisches Inter-esse aufmerksam zu sein.⁷⁶⁹ Das ontologische Inter-esse ist im religiösen Existieren wiederum die existenziell-religiöse Erweiterung des anthropologischen Inter-esses, das die Verflechtung von Denken und Sein bezeichnet. Während mit dem Denken das ideelle Sein (Ewigkeit) erfasst werden kann, steht das Sein systematisch für die Faktizität des Existierens (Endlichkeit). Und erst in der gegenseitigen Durchdringung von Denken und Sein ist Existieren als konkrete Praxis bestimmt, indem einerseits der Idealbezug (Denken) auf die konkrete Lebensgestaltung (Sein) und diese wiederum auf das Verhältnis (zur religiösen Erlösung) einwirkt. Wenn Climacus also schreibt, dass das Individuum auf die konkrete Verortung in der Gegenwart und gleichfalls auf die Bewegung in die Zukunft hinein (Überschreitung der Gegenwart) konzentriert sein soll, so beschreibt er damit die existenzielle Aufgabe des Individuums, sich nicht nur im Bewusstsein des (ontologischen) Inter-esses zu halten, sondern auch, das Denken (Erlösungsvor-

 Hierfür muss ausgehend von der Analyse des „Zwischenspiels“ der Philosophischen Brocken darauf hingewiesen werden, dass die Praxis der (religiösen) Existenz in einem doppelten Sinne als teleologische Bewegung aufzufassen ist: als Existenz-Verhältnis und als Verhältnis zur Ewigkeit. Bewegungsstrukturell muss es dem Individuum sowohl darum gehen, sich im Vollzug des bewussten Existierens zu halten (vgl. Kapitel 2.2.2.2), wie es ihm zugleich darum gehen muss, sich im Bezug zum Ewigen zu halten (Kapitel 2.3.2.2.1). Diese doppelte Teleologie der Existenzbewegung lässt sich auch mit der Terminologie der Wiederholungsbewegung verdeutlichen: Die doppelte Teleologie der Bewegung liegt in der Kontinuität (Unveränderlichkeit) als Ziel (das Ewige) und der Kontinuität (Beständigkeit) als Vollzug (die Bewegung). Erst durch diese Doppelfokussierung wird religiöses Existieren als Praxis bestimmt (vgl. besonders Kapitel 2.3.3.4.3), in der der Idealbezug und die konkrete Lebensgestaltung in einem Wechselverhältnis stehen (s.u.).  SKS 7, 136/ DUN, 279  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.3.2.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

stellung) so auf das gegenwärtige Sein zurückzubeugen, dass dieses durch jenes durchdrungen wird: ein vom Denken bestimmtes Sein beziehungsweise eine von Zukunft geprägte Gegenwart. Wenn das Individuum dies konkretisiert, also existenziell praktiziert, wird die Rückwirkung des Denkens auf das Sein gleichfalls umgekehrt:⁷⁷⁰ durch das vom Denken bestimmte Sein wird das Denken ein vom Sein bestimmtes Denken. Also: Je mehr das Individuum sein Leben vor dem Hintergrund der Erlösungsvorstellung gestaltet, umso präsenter wird diese. Und das bedeutet eben auch: Je mehr sich auf die durch Zukunft geprägte Gegenwart konzentriert wird, umso präsenter wird die Zukunft. Nur in diesem Inter-esse der ständigen Unruhe zwischen Gegenwart und Zukunft kann das religiöse Existieren begriffen werden (was konsequenterweise bedeutet, dass religiöses Existieren im Grunde niemals wirklich in der Gegenwart ankommt). Indem diese Verflechtungen von Denken und Sein, Zukunft und Gegenwart, Endlichkeit und Ewigkeit unter dem systematischen Schirm des Selbst-Verhältnisses stehen, ist dieses konzeptuell allein durch diese Verflechtungen zu verstehen. Selbstsein bedeutet eben nicht, sich lediglich in der Gegenwart⁷⁷¹ zu verorten oder sich allein auf das Endliche zu konzentrieren, sondern bedeutet einen Vollzug (Streben) in die Zukunft auf die Ewigkeit hin, die in der Gegenwart vergegenwärtigt sein soll. Solches religiöse Selbstsein zeigt sich dann nicht nur als Korrelat ethischer Vergegenwärtigung,⁷⁷² sondern ist strukturell nichts anderes als die Innerlichkeit, die als „das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott“⁷⁷³ bestimmt ist, also als das Existieren mit struktureller Doppelfokussierung: „[A]uf sich selbst recht aufmerksam zu sein als einer, der in der Gegenwart lebt und das Zukünftige vor sich hat …“⁷⁷⁴ Angesichts der strukturellen Doppelfokussierung und der systematischen Verflechtungen innerhalb des onto-anthropologischen Inter-esses ergibt sich dann für das vor dem Hintergrund der Ewigkeit vollzogene Existieren, dass das Individuum auch darum bemüht ist, in einer existenziellen Ganzheit zu leben, womit es darum geht, dem Leben eine in sich geschlossene Form zu geben (s.o.), und so ein Zusammenhang verliehen werden will (was in der Bewegungsanalyse durch den Begriff der Kontinuität abgedeckt wird).Vor dem Hintergrund, dass das Ziel der Bewegung die Bewegung beeinflusst beziehungsweise das Telos der Bewegung das Metron der Bewegung bestimmt (durch Zukunft geprägte Gegenwart), hängt der Lebenszusammenhang vom anvisierten, das Leben durchdringenden     

Vergleiche die Ausführungen zur Handlung in Kapitel 2.2.4. Vergleiche die Ausführungen Michael Theunissens in Kapitel 1.2.2. Vgl. Kapitel 2.2.3. SKS 7, 397/ DUN, 618. SKS 7, 136/ DUN, 279.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Orientierungspunkt ab. Und in Anbetracht des Programms der Unwissenschaftlichen Nachschrift, dem Christ-Werden, ist die ewige Seligkeit strukturell der übergeordnete Zusammenhang, von dem her dem eigenen Leben ein Zusammenhang verliehen werden will. In der Terminologie der Bewegungsanalyse bedeutet dies: Das Verhältnis des Individuums zur ewigen Seligkeit wird dadurch zu einem kontinuierlichen, weil sich zu etwas verhalten wird, das selbst keiner Veränderung unterzogen ist (Ewigkeit). Es findet eine Wechselwirkung zwischen dem Bezugspunkt und der eigenen Aktivität statt, indem sich das eigene aktive Verhalten auf den Bezugspunkt richtet, von dem her das Verhältnis geprägt ist und zu einer Einheit geformt werden kann.⁷⁷⁵ Diese Einheit besteht zeitstrukturell wiederum darin, dass der Existierende bei aller Zukunftsorientierung – aufgrund der strukturellen Doppelfokussierung – größte Aufmerksamkeit auf die Gegenwart als die mit Streben auszufüllende Zeit richten muss. In diesem Sinne schreibt Climacus: „In der Existenz ist das Individuum eine Konkretion, die Zeit konkret, und selbst während das Individuum überlegt, ist es für den Gebrauch der Zeit verantwortlich.“⁷⁷⁶ Die Verantwortung im Umgang mit der Zeit evoziert einen Umgang mit dem eigenen Leben, bei dem es nicht gilt, fertig zu werden, sondern das Leben – in seiner dem Individuum verfügbar gemachten zeitlichen Ausdehnung – als Raum einer permanent-unabgeschlossenen Aktivität zu sehen: „Existenz ist keine abstrakte Eilfertigkeit, sondern Streben und ein fortdauerndes Währenddem …“⁷⁷⁷ Das „Währenddem“ betont hierbei das Darin-Existieren ⁷⁷⁸ in einem Ewigkeitsverhältnis (zu existieren, während man im Verhältnis zum Ewigen ist, also das Inter-esse praktiziert) und dadurch auch den Aspekt der durch Vergangenheit geprägten Gegenwart (Wiederholung): dass sich das Individuum in einem bestehenden (durch den Augenblick initiierten und Interesse fokussierten) Ewigkeitsverhältnis verortet sieht und dieses bestehende Ewigkeitsverhältnis in Form eines auf die Zukunft hin beibehaltenen Strebens aufrecht erhält („fortdauerndes Währenddem“). Solches Beibehalten beziehungsweise Fortdauern, also die Kontinuität, ist nicht nur das, um was es existenzpragmatisch wesentlich geht, sondern auch diejenige Beschreibung des religiösen Existierens, die die Zwischenzeitstruktur,

 Die Einheit bleibt Möglichkeit („kann“), weil das beständige Streben (Einheit) von der eigenen Entschiedenheit (Freiheit) abhängt: vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  SKS 7, 478/ DUN, 724.  Ebd.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

die Realisation des Inter-esses und den strukturellen Lebenszusammenhang zusammenfasst und sublimiert.⁷⁷⁹

2.3.2.3.3 Wollen und Loslassen Mit dem letzten Punkt zur Bewegungsdialektik, dass die Annäherung an das Bewegungsziel in unüberwindbarer Entzogenheit von demselben geschieht, muss ich erneut auf den Augenblick zu sprechen kommen, weil dieser das Annäherungsgeschehen an das Ewige ist. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, was die Entzogenheit des Ziels für existenzielle Konsequenzen nach sich zieht. Was das Verhältnis zum Ewigen (systematisch) grundsätzlich kennzeichnet, ist der Sachverhalt, dass das Ewige strukturell immer das Entzogene bleibt. Denn abgesehen davon, dass das Ewige an sich das der zeitlichen Existenz ontologisch Entgegengesetzte ist, ist auch die Schnittstelle zwischen Zeit und Ewigkeit, der Augenblick, in seiner Unbeeinflussbarkeit und Vorreflexivität grundsätzlich etwas Entzogenes. Sobald der Augenblick geschieht, findet zwar in der Ekstase die größte, asymptotische Annäherung an das Ewige statt,⁷⁸⁰ aber so, dass das Ewige nicht bewusst wahrgenommen wird.⁷⁸¹ Sobald der Augenblick vorbei ist und das Individuum aus der Ekstase abgefallen ist, befindet es sich zwar – das religiöse Interesse vorausgesetzt – in einem bewussten Verhältnis zum Ewigen (Glaube), jedoch so, dass Climacus dann von einem Streben zum Ewigen spricht. Dieser Zustand nach dem Augenblick bezeichnet die Bewusstheit vom Verlust des (unmittelbar gegenwärtigen) Ewigen, das dann mit Leidenschaft und Entschiedenheit

 Zeitstrukturell gesehen bedeutet das Beibehalten/Fortdauern keine kontemplative Versenkung in vollständige Gegenwärtigkeit. Dies liegt – wie im Vorhergehenden gesagt – an der ständigen Zukunftsorientiertheit religiösen Existierens. Nicht Ruhe, sondern eine permanente Fluidität des Existenzvollzugs wird betont. – Dass Climacus (ebenso wie Vigilius Haufniensis) keine Philosophie der Kontemplation verfolgt: vgl. Kapitel 2.2.2.1. Jedoch wird sich zeigen, dass im religiösen Existieren strukturell durchaus von Kontemplation gesprochen werden kann: vgl. Kapitel 2.3.3.3.3.  Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.  Der Augenblick ist (wie auch der Sprung) eine ekstatische Bestimmung, in der das Individuum keinen reflexiven Abstand zum Geschehen besitzt, sondern vielmehr einem ihm widerfahrenden Geschehen ausgesetzt ist. Nur so ist zu erklären, wenn Climacus schreibt: Es „zeigt sich der Sprung, wie sich der Sprung eben zeigen kann: dass er kommen muss, oder dass er gewesen ist.“ (SKS 7, 313/ DUN, 509) Entweder Antizipation oder nachträgliche Vergegenwärtigung: So oder so, das Gesprungenwerden (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1) in ein gewolltes und bewusst vollzogenes Glaubensverhältnis entzieht sich der Wahrnehmung im Augenblick des Geschehens.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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als Streben erneut erreicht werden will (= Wiederholung).⁷⁸² Die existenzielle Konsequenz ist: Je weniger der Augenblick erreichbar ist, desto intensiver wird er gewollt. So betont beispielsweise Frater Taciturnus: „[W]enn man alles tut und es hilft nichts, so kann man sicher sein, dass man mit Begeisterung handelt.“⁷⁸³ Diese Dialektik von Entzogenheit und Intensität des Wollens (Begeisterung) findet bei Climacus ihren Ausdruck darin, dass das Verhältnis des Individuums zum Ewigen von unendlichem Interesse gekennzeichnet ist und das Ewige mit unendlicher Leidenschaft gewollt wird. Das Ewige (und der Augenblick) wird in dem Maße gewollt, wie es entzogen ist – absolut; die qualitative Bestimmung des Verhältnisses entspricht der des Verhältnisgegenstandes.⁷⁸⁴ Die Leidenschaft, das Interesse, die Begeisterung sind also Zustände des vollständigen (absoluten) DarinExistierens (Handelns), in denen dem Unendlichen mit höchster, persönlicher Verbundenheit begegnet wird (= Religiosität). Und dennoch kann die Unbedingtheit des Wollens den Augenblick nicht herbeiführen. Damit kommt eine der (systematisch) entscheidendensten Stellen der Unwissenschaftlichen Nachschrift zum Tragen: [I]m Verhältnis zum Höchsten wäre wohl … das anstrengendste Handeln, dass man nämlich, nachdem man mit äußerster Kraft begeistert alles hat tun wollen, erfährt, das Höchste sei, sich selbst in jedem Augenblick dem direkt gegenüber in Empfang [Modtagende] zu halten, für dessen Erwerb man so unendlich gern etwas tun wollte.⁷⁸⁵

Diese Stelle drückt genau das Gegenteil eines unbedingten Wollens aus. Denn „sich in Empfang“ zu halten heißt, sich zum Höchsten (dem Ewigen und dessen existenziellem Pendant, dem Augenblick) so zu verhalten, dass vom selbsttätigen Erreichen losgelassen wird. Dies impliziert einerseits, dass der Wille zum Erreichen des Augenblicks negiert werden soll und dass die Unverfügbarkeit des Augenblicks zu akzeptieren ist. Gleichfalls soll das Individuum durch die Negation des Willens der Zeit selbst den Abschied geben. Denn nur so kann sich in Entsprechung zum Ewigen verhalten werden, weil im Absehen von der Zeit das negiert wird, was den Unterschied zum Ewigen ausmacht. Die Negation des Wollens und der Zeit ist apotheotisch; das Herantreten an die Ewigkeit (was systematisch durch  Für dieses Erneuerungsstreben ist also systematisch folgendes Äquivalenzverhältnis wichtig: So wie das Ewige ontologisch als das der Zeit Entzogene ist, so ist der Augenblick jener Moment in der Zeit, der als „konkrete Ewigkeit“ (SKS 7, 284 / DUN, 474) entzogene Zeit darstellt, denn sein Ewigkeits-Zeit-Geschehen kann weder bewusst herbeigeführt noch bewusst wahrgenommen werden.  SKS 6, 284/ SLW, 324.  Vergleiche die Ausführungen zu Telos und Metron der Bewegung in Kapitel 2.3.2.2.2.  SKS 7, 161 f. / DUN, 313.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

die Negationsdialektik religiösen Existierens gefasst wird⁷⁸⁶).⁷⁸⁷ Und dies gilt äquivalent für den Augenblick: Im Loslassen der Zeit will sich an den Augenblick angenähert werden. Und eben weil dieser in seinem Eintreten unbeeinflussbar ist, kann das Loslassen der Zeit und des Willens einzig ein Versuch sein, eine Haltung einzunehmen, sich gegenüber dem, was unverfügbar ist, offen zu halten ⁷⁸⁸ (eben: es empfangen zu wollen ⁷⁸⁹). Ausgehend von der Entzogenheitsdialektik und dem Aspekt des Empfangens befindet sich das Individuum im religiösen Streben (Wiederholung) also zwischen einem unbedingten Wollen (unendlicher Leidenschaft) und dem Zustand des Loslassens vom Erreichenwollen des Ziels.⁷⁹⁰ Die Krux dieser doppelpoligen Konzeption ist, dass Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift der Leidenschaft einen so hohen Stellenwert zumisst, dass von einem wirklichen Loslassen nicht gesprochen werden kann. Das Individuum wird durch das Maß seiner Leidenschaft von jeglicher Befreiung aus der Leidenschaft gehindert.⁷⁹¹ Die existenz-anthropologische Einsicht Climacusʼ ist hierbei: Der Mensch ist ein Wesen, das nicht ohne Wollen gedacht werden kann und in der Zeit/der Welt immer Unverfügbarem ausgesetzt ist. Und angesichts der existenziell-religiösen Wollensstruktur liegt die existenzielle Aufgabe des Individuums dann letztlich in

 Vgl. Kapitel 2.3.3.3.  Diese Dialektik ist rein strukturtheoretisch zu verstehen. Denn existenziell ist der Mensch in der Zeit verwurzelt und kann sie nicht aus eigener Kraft überwinden oder negieren. Ideengeschichtlich ist diese Abkehr von Zeit und Welt als Hinkehr zum Ewigen durch das alte Motiv der Sorge gefasst. Dazu: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, besonders S. 260 – 266.  In dieser Perpetuierung des ethischen Existenzumgangs (Kapitel 2.2.3.2) geht es um das wach gehaltene Bewusstsein der Möglichkeit. Und damit geht es nicht mehr nur, wie im ethischen Existieren, um die konkreten (auch nicht im eigenen Bewusstseinshorizont enthaltenen) Möglichkeiten realisierbarer Existenz, sondern um die eine Möglichkeit eines absoluten Seins (um Ganzheit als Einheit und Vollständigkeit im höchst-denkbaren, existenziell-realisierbaren Sinne).  Für die von mir auch im Folgenden verwendete Terminologie des Empfangenwollens könnte in gleichem Sinne die von Almut Furchert geprägte Begrifflichkeit des Einlassens und Zulassens gebraucht werden (dies., Das Leiden fassen, besonders S. 233). Denn das Empfangenwollen ist das Gewilltsein, ein Sich-Öffnen und Einlassen auf das, was empfangen werden will, und das bedeutet auch, sich nicht dagegen zu wehren, sondern das Empfangen zuzulassen. Strukturell bedeutet dies wiederum: Die existenzielle Passivität (Empfangen) ist nicht ohne Aktivität (Wollen) zu denken!  Diese Ambivalenz wird an der oben zitierten Stelle von Climacus selbst betont, wenn er sagt, dass man unendlich gern etwas für den Erwerb des Höchsten getan hätte, sich aber nur empfangend verhalten kann.  Analog dazu, anhand der Nicht-Befreiung aus dem Willen: Lore Hühn, „Systematische Einleitung: Schopenhauer und Kierkegaard in der philosophiegeschichtlichen Konstellation des Nachidealismus“, in Schopenhauer – Kierkegaard, S. 1– 18, hier S. 13.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Folgendem: Das, was es will, auch wirklich zu wollen, sich aber nicht auf das Erreichen des Gewollten zu versteifen, sondern sich gegenüber dem, was erreicht werden will, ohne die Erwartungen des Erreichens ⁷⁹² zu verhalten. ⁷⁹³ Betont sei, dass die Befreiung von Erwartung kein Zustand von gelassener Gleichgültigkeit ist, denn das Wollen bleibt das maßgebende Element (Metron) der Bewegung. Die Wiederholung kennzeichnet sich demnach als eine Bewegung, in der willentlich zu einem über das Individuum hereinbrechenden Ereignis (Augenblick) gestrebt wird, wodurch sie sich wesentlich als ein mit unendlicher Leidenschaft und Entschiedenheit zu vollziehendes Sich-im-Verhältnis-zum-Ewigen-Halten charakterisieren lässt. Oder anders gesagt: Wiederholung ist strukturell die Freiheit zur Passivität: das Entschiedensein zu hingebendem Ergebensein (dies korreliert systematisch mit der herausgestellten Haltung aktiver Passivität,⁷⁹⁴ ebenso wie mit der Leidenschaft für ein Leben, das durch Gott getragen wird⁷⁹⁵). Als solch ein Sich-Halten im Verhältnis zum Ewigen ist die Wiederholung Ausdruck für die Struktur einer Einstellung des Individuums, in der das Ewige als handlungsleitend anerkannt wird.⁷⁹⁶ Diese konkrete, existenzielle Einstellung/Haltung ist die Innerlichkeit.

 Zur Erwartung genauer: Kapitel 2.3.3.2.2 und 3.3.1.3.  Die strukturell-systematische Konzeption dessen wurde schon in Kapitel 2.2.4.4 herausgearbeitet: Wollen ohne Verhärtung vor dem Hintergrund objektiver Ungewissheit. Hieran zeigt sich erneut, dass das nicht-religiöse und das religiöse Existieren auf den gleichen Konzeptionsprämissen beruhen.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Das existenziell Interessante dieser Einstellung und Handlung zeigt sich, wenn man das Ziel der Wiederholung nochmals genauer betrachtet. Was erreicht werden will, ist die Ekstase (Augenblick), die weder verfügbar ist noch bewusst wahrgenommen werden kann. In dem Moment, dem Augenblick, in dem das Individuum für das Ewige geöffnet wird, erreicht es einen Zustand der Nicht-Bewusstheit (Vor-Reflexivität). Die Wiederholungsbewegung ist eine Bewegung zur Negation von Reflexion und kann damit als eine Bewegung zur Befreiung aus dem Denken gekennzeichnet werden. In dieser Befreiung steht die im Denken erfasste Möglichkeit einer ewigen Wirklichkeit nicht mehr aus und das nicht nur, weil nicht mehr gedacht wird, womit die Möglichkeit aus dem Blick des Individuums verschwunden ist, sondern weil das Ewige strukturell näherungsweise erreicht wird. Somit ist die Wiederholungsbewegung ein Bestreben, die religiöse Erlösung (Ewigkeit) im Leben zu erreichen. In diesem existenziellen Erlösungszustand (Augenblick) gelangt das Individuum nicht nur in eine Nicht-Zeit (Augenblick), sondern auch in einen Zustand des Nicht-Seins, eines der Zeit enthobenen Seins (Ekstase). Die Wiederholungsbewegung ist dann als Bestreben zur Erlösung im Leben ein Bestreben zur Nichts-Werdung vor dem Ewigen. Diese Nichts-Werdung wird in Bezug auf die Erbauung und das Selbstsein vertieft: vgl. Kapitel 2.3.3.3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.2.4 Existenziell-religiöse Anwendung Im diesem letzten Teilkapitel zur Bewegungsstruktur der religiösen Existenz soll allein die existenzielle Konkretion der Struktur des Religiösen im Mittelpunkt stehen. Den die bisherige Diskussion aufgreifenden Ausgangspunkt bildet das folgende Zitat: „Die Aufgabe ist“ – schreibt Vigilius Haufniensis – „die Wiederholung in etwas Innerliches zu verwandeln, in die eigene Aufgabe der Freiheit, in ihr höchstes Interesse …“⁷⁹⁷ In der Innerlichkeit ist das Interesse der Freiheit die Wiederholung: jene ist die praxistheoretische Bedingung und Konkretion von dieser, womit bei Vigilius Innerlichkeit und Wiederholung konzeptionell auseinandergehalten werden. Bei Climacus gilt deren systematische Unterscheidung ebenfalls (wie am Ende des vorhergehenden Teilkapitels angedeutet wurde) und gilt doch nicht. Denn zunächst ist die Wiederholungsbewegung eine Bewegung in Leidenschaft und damit ein konkreter (leiblich-praktischer) Bewusstseinsvollzug, wodurch sie selbst Ausdruck der Innerlichkeit ist – des leidenschaftlichen, auf Selbst- und Ewigkeitsreflexion gründenden Existenzvollzugs.⁷⁹⁸ Gleichfalls gilt: Was die Wiederholung strukturell darstellt, ist die Innerlichkeit existenziell. Präziserweise sind also Wiederholung und Innerlichkeit systematisch nicht dasselbe. Und dennoch ist die Wiederholung die strukturelle Spiegelung der Innerlichkeit, wie diese die existenzielle Spiegelung der Wiederholung ist. Daher kann für das Denken Climacusʼ durchaus gesagt werden: Wiederholung ist Innerlichkeit. Und dies kann gezeigt werden. Denn Climacus bezeichnet die Innerlichkeit im religiösen Kontext als „das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott“.⁷⁹⁹ Dieses Doppelverhältnis lässt sich kurz dadurch charakterisieren, dass sich das Individuum über das Verhältnis zu Gott zu sich selbst verhält. Die Innerlichkeit ist eine Bewegung des Individuums zu Gott, von dem her es auf sich selbst zurückkommt. Das religiöse Selbst-Verhältnis hat also Umwegcharakter. Und dies zeigt, dass das religiöse Selbst-Verhältnis (Innerlichkeit) über die Struktur der Wiederholung beschrieben werden kann. Denn auf der abstrakten Ebene der Bewegungsanalyse wurde solch eine Umwegstruktur einerseits durch die Zeitstruktur (von der Zukunft her geprägte Gegenwart⁸⁰⁰) und andererseits durch das dialektische Verhältnis von Telos und Metron der Bewegung⁸⁰¹ deutlich gemacht. Für die Analyse der Innerlichkeit, des Selbst-Verhältnisses vor Gott, soll im Folgenden deren existenz-systematisches Doppelverhältnis – Selbst und Gott –

 SKS 4, 326 (Anm.) / DBA, 460 (Anm.).  Zu Wiederholung und Leidenschaft: Kapitel 2.3.2.2.2. Zu Wiederholung und Selbst-Verhältnis: Kapitel 2.3.2.3.2 und besonders 2.3.2.4.2.  SKS 7, 397/ DUN, 618.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.2.  Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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gesplittet werden. Zum einen wird – unter struktureller Engführung – das Verhältnis zum Ewigen (Gott) in seiner existenziellen Ausformung betrachtet (Kapitel 2.3.2.4.1). Dazu ist ins Gedächtnis zu rufen, dass die Wiederholungsbewegung strukturell den Glaubensvollzug beschreibt,⁸⁰² der wiederum ein konkreter Existenzumgang ist, für den es nun gilt herauszufinden, was diesen struktur- und praxistheoretisch kennzeichnet. Im zweiten Abschnitt wird das Selbstsein als Vollzug der Innerlichkeit vor dem Hintergrund der Struktur der Wiederholungsbewegung analysiert (Kapitel 2.3.2.4.2). Schließlich soll in der Zusammenführung beider Punkte die Innerlichkeit in ihrer religiös-existenziellen Grundbedeutung genauer bestimmt werden (Kapitel 2.3.2.4.3).

2.3.2.4.1 Glaube: Struktur und Praxis Allgemein kann mit H. Vorster gesagt werden, dass es bei Kierkegaard „um die Realisierung des Gottesverhältnisses als Sinn der Existenz geht.“⁸⁰³ So auch und vor allem bei Climacus. Denn auf der existenzdialektischen Aneignung, der Wahrheit, wie Climacus diese nennt,⁸⁰⁴ liegt die Betonung, sobald es um den Glauben geht. Was bedeutet: Es geht Climacus um die Praxis der Innerlichkeit als permanente Einübung des Ewigkeits-/Gottesverhältnisses. Und dass es dabei um die Einübung geht, bedeutet ja, dass die so bestimmte Glaubenshandlung eine ist, zu der sich durchgearbeitet werden muss; also nicht ohne Hindernisse geschieht. Worin besteht – abgesehen vom Hineingelangen in den Glauben⁸⁰⁵ – die Schwierigkeit eines aktiven Glaubens? Um dies zu verstehen, darf nicht übersehen werden, dass Glaube bei Climacus nicht allein Innerlichkeit ist, sondern auch durch Verzweiflung bestimmt wird. Erst in deren strukturellem Spannungsverhältnis kann der Glaube systematisch erfasst und daraus schließlich die Glaubenspraxis bestimmt werden.

Zwischen Verzweiflung und Innerlichkeit Um den systematisch-strukturellen Unterschied zwischen Verzweiflung (die bei Climacus weder theoretisch so differenziert noch phänomenologisch so komplex verstanden wird wie bei Anti-Climacus) und Innerlichkeit und dem Glauben zu verstehen, muss das Verhältnis von Verstand und Leidenschaft in den Blick ge-

   

Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1. Vorster, „Glaube“, S. 640 (Hervorhebung d.Vf.). Vgl. SKS 7, 182 (Anm. 1), 186, 220, 221 f. / DUN, 340 (Anm. 8), 345, 390, 392. Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nommen werden. Denn eine grundlegende Bestimmung des climacischen Existierens ist, dass es sich immer als eine Einheit von Leidenschaft und Denken kennzeichnet.⁸⁰⁶ Für den Glauben als Ausdruck innerlichen Existierens gilt dies in gleichem Maße. Dafür ist zunächst systematisch festzuhalten: a) Der Aspekt der Leidenschaft wurde anhand der Wiederholungsbewegung ausführlich thematisiert: Die Leidenschaft zum Ewigen ist die unendliche Leidenschaft als Vollzug des unendlichen Interesses. Beide – Leidenschaft und Interesse – sublimieren Erfahrungsgehalt, Intentionalität, Wollen und Streben (Bewusstseinsbewegung) zur Praxis des Existenzvollzugs. b) Der Aspekt des Denkens wird von Climacus in der Thematisierung des Glaubens durch den Begriff des Verstandes ersetzt, durch den das Verstehen betont wird. Denn in Bezug auf die climacische Konzeption des Glaubens ist entscheidend, dass der Gegenstand des Glaubens (das Ewige bzw. Gott) kein Phantasieprodukt des Verstandes selbst ist, sondern objektiv da ist, aber der Verstand das Ewige nicht objektiv verstehen kann.⁸⁰⁷ Das Ewige ist „das Unverständliche“⁸⁰⁸, das für den Verstand Paradoxe. Im Kapitel III der Philosophischen Brocken wird das Paradox als „Gott“, als das „Unbekannte“, als das vom Menschen „absolut Verschiedene“⁸⁰⁹ bestimmt.⁸¹⁰ „Lässt sich ein solches Paradox denken? … Der Verstand denkt es wohl nicht …“⁸¹¹ Im Sinne Kants bleibt der Verstand bei Climacus

 Vgl. unter anderem Kapitel 2.3.2.2.3.  Vgl. Purkarthofer, Kierkegaard, S. 50 f.  SKS 7, 555/ DUN, 824.  Dies wiederholt Climacus in: SKS 7, 445/ DUN, 682 f.  In der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird dieser Gott, der nicht der menschgewordene Gott (Christus) ist, als transzendenter Schöpfergott gefasst: „Gott denkt nicht, er schafft; Gott existiert nicht, er ist ewig.“ (SKS 7, 303/ DUN, 496) „Die Natur, die Totalität der Schöpfung ist Gottes Werk, und doch ist Gott nicht dort …“ (SKS 7, 224/ DUN, 395) Während im ersten Zitat von Climacus der ontologische Unterschied zwischen Mensch und Gott herausgehoben werden will (das Zitat findet sich im Wirklichkeitskapitel), ist das zweite wesentlich gegen eine pantheistische Auffassung Gottes gerichtet. Diese wird von Climacus abgelehnt: einerseits, weil in ihr Gott als eine in der Natur verankerte Kraft durch seine Positionierung in der Zeit und der Endlichkeit zu einem Teil der Schöpfung wird und durch dieses Hineinholen Gottes in die Endlichkeit Gott selbst verendlicht wird; andererseits, weil im Pantheismus der Mensch immer schon in der Ewigkeit aufgehoben ist und dadurch eine Beruhigung in Bezug auf seine Erlösung erfährt (vgl. SKS 7, 206 f. / DUN, 372),was existenziell bedeutet, dass das von Climacus intendierte religiöse Existieren als Streben zur Erlösung ad absurdum geführt würde.  SKS 4, 252 / DPB, 60. In den Philosophischen Brocken und der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird dieses Paradox als sokratisches Paradox bestimmt (vgl. SKS 7, 190 – 193/ DUN, 350 – 353), indem sich der Mensch zu einer außerhalb der Zeit liegenden (ewigen) Wahrheit verhält. Demgegenüber steht das christliche Paradox, das das Christusgeschehen beschreibt, in dem Gott

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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innerhalb menschlicher Erkenntnisgrenzen, muss diese anerkennen und darf sie nicht phantastisch überschreiten wollen. Obwohl das Paradox (das Ewige bzw. Gott) vom Verstand objektiv nicht zu verstehen ist,⁸¹² verhält sich das Individuum im religiösen Existieren mit unendlicher Leidenschaft (Interesse) zum Ewigen.⁸¹³ Denn ohne die Leidenschaft und den durch sie bestimmten Selbst-Bezug des Individuums, bliebe das Verhältnis zum Ewigen ein rein objektives und damit für Climacus ein irreligiöses.⁸¹⁴ Die damit herausgehobene Spannung zwischen unendlicher Leidenschaft und (objektivem) Nichtverstehen beschreibt sowohl Verzweiflung als auch Innerlichkeit. Während aber bei der Verzweiflung die Betonung mehr auf dem Verstandesverhältnis zum Ewigen – dem objektiven Nichtverstehen – liegt, ist die Innerlichkeit Ausdruck des Leidenschaftsverhältnisses:⁸¹⁵ „Während der Verstand verzweifelt, dringt der Glaube in der Leidenschaft der Innerlichkeit siegreich vor.“⁸¹⁶ Der Glaube steht hierbei in einer Zwischenposition. In der Verzweiflung ist der Glaube und zugleich ist er nur als Innerlichkeit. Der Glaube ist ein leidenschaftliches Verhältnis zum Ewigen wider den Verstand aus dem Verstand heraus.⁸¹⁷ „Der Glaube hat nämlich zwei Aufgaben:“ – schreibt Climacus – „aufzupassen und in jedem Augenblick die Unwahrscheinlichkeit, das Paradox zu entdecken, um es dann mit der Leidenschaft der Innerlichkeit festzuhalten.“⁸¹⁸ Der Glaube ist also durch den Verstand gekennzeichnet, weil allein durch den Verstand überprüft werden kann, dass sich tatsächlich zu etwas gänzlich Unverständlichem verhalten wird: Das Individuum „glaubt … wider den Verstand und

in der Zeit erschienen ist. Zu den verschiedenen Formen des Paradoxen: Deuser, Die paradoxe Dialektik des politischen Christen.  Vgl. Climacusʼ Ausführungen, dass das Paradox nicht erklärt werden kann: SKS 7, 201 ff. / DUN, 364 ff.  „Dies ist also das höchste Paradox des Denkens, etwas entdecken wollen, was es selbst nicht denken kann.“ Climacus bezeichnet dies darauf als „Leidenschaft des Denkens“. (SKS 4, 243/ DPB, 49)  Vgl. SKS 7, 76 (Anm. 2) / DUN, 203 f. (Anm. 4).  Diese Trennung zwischen Verzweiflung als Verstandesverhältnis und der Innerlichkeit als Leidenschaftsverhältnis ist im Grunde viel zu schematisch, wird aber im Folgenden in dieser auch von Climacus lancierten Konnotation beibehalten, um dadurch den Glauben in seiner immanenten Struktur deutlich zu verstehen. Jedoch muss festgehalten werden: So wie die Innerlichkeit nicht allein Leidenschaft bedeutet, so bedeutet Verzweiflung nicht allein Verstand; beide müssen als komplexe, existenzdialektische Phänomene zwischen Reflexion und Erfahrung begriffen werden.  SKS 7, 205 (Anm.) / DUN, 370 (Anm.).  Dazu auch: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 33.  SKS 7, 212 / DUN, 379.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

braucht … den Verstand – um aufzupassen, dass e[s] wider den Verstand glaube.“⁸¹⁹ Verzweiflung, Innerlichkeit und Glaube bezeichnen demnach strukturellwidersprüchliche Verhältnisse zum Ewigen (Gott). Die Verzweiflung beschreibt den Verstand, der vom Gegenstand des Verstehens (als dem objektiv Nichtverstehbaren) nicht ablassen kann und zugleich vom Gegenstand des Verstehens abgestoßen ⁸²⁰ wird.⁸²¹ Innerlichkeit beschreibt die Leidenschaft, mit der das ob-

 SKS 7, 516/ DUN, 774. Andernfalls wäre der Glaube, so Climacus, als Wahnsinn zu identifizieren. Zu diesem vermerkt er: „[D]ie Innerlichkeit der Unendlichkeit hat der Wahnsinn [Afsindighed] nie, seine fixe Idee ist gerade eine Art objektives Etwas, und der Widerspruch des Wahnsinns ist gerade, sie mit Leidenschaft umfassen zu wollen. Was im Hinblick auf Wahnsinn den Ausschlag gibt, ist also … nicht das Subjektive, sondern die kleine Endlichkeit, die fixiert worden ist,was Unendlichkeit ja niemals werden kann.“ (SKS 7, 178 (Anm.) / DUN, 334 f. (Anm.)) An anderer Stelle schreibt Climacus, die Struktur des Wahnsinns aufgreifend, zur Verrücktheit: „Der qualvolle Selbstwiderspruch der weltlichen Leidenschaft entsteht dadurch, dass das Individuum sich zu einem relativen τελος absolut verhält. Eitelkeit, Geiz, Neid und so weiter ist danach wesentlich Verrücktheit [Galskab], denn das ist gerade der allgemeinste Ausdruck der Verrücktheit: sich zum Relativen absolut zu verhalten …“ (SKS 7, 384 / DUN, 600) Was Wahnsinn und in eins Verrücktheit für Climacus auszeichnet, ist, dass sich das Individuum mit höchster Leidenschaft und intensivster Verbundenheit auf etwas Relatives in der Welt richtet, das der Endlichkeit und Zeitlichkeit angehört. Glaube hingegen verhält sich zum Ewigen und zwar so, dass das Ewige als das Unverständliche stehen bleibt. Das Problem des Wahnsinns und der Verrücktheit besteht darin, dass mit etwas Endlichem wie mit etwas Unendlichem umgegangen wird, als stelle Endlichkeit etwas Göttliches dar. Im Wahnsinn und der Verrücktheit wird das Endliche überhöht, während im Glauben das Ewige bzw. der Verhältnisgegenstand als gar kein Gegenstand betrachtet wird, der in den relationalen Kategorien der Zeit und der Endlichkeit verglichen werden kann, womit er weder überhöht noch „verkleinert“ zu werden vermag, sondern als das angenommen werden muss, was er ist: das durch den Verstand nicht Verstehbare. Indem sich im Glauben das zeitliche und endliche Individuum in ein Verhältnis zum Nicht-Verhältnishaften setzt, ist ein solches Verhältnis immer schon Ausdruck einer unzulänglichen Beziehung zum Gegenstand des Verhältnisses und dieser Unzulänglichkeit kann wiederum nur mit dem intensivsten, jedoch immer noch unzulänglichen Verhältnis begegnet werden. Wenn sich mit solch einer Verhältnismodulation zu etwas Zeitlich-Endlichem verhalten wird, ist für Climacus der Wahnsinn da. Die hierin liegende psychologische Einsicht Climacusʼ ist, dass mit dieser allgemeinen Bestimmung des Wahnsinns die innere geistige und affektive Bewegung des Menschen offengelegt wird, mit der jede Form von kultischer Verehrung (z. B. Personenkult; Idolatrie) beschrieben werden kann: „[D]er Gott, auf den man zeigen kann, ist ein Abgott [Afgud] …“ (SKS 7, 431 / DUN, 663; vgl auch die Bemerkung Climacusʼ zum Verhältnis von Glauben und Anbetung eines „Götzen [Afgud]“: SKS 7, 184/ DUN, 342)  Das Abgestoßenwerden in der Verzweiflung (= vom Gegenstand des Interesses distanzierendes Nichtverstehen) ist reflexionstheoretisch der Zweifel. Denn dieser bezeichnet ja die Gewahrwerdung problematischen Verstehens. Die entscheidende Funktion des Zweifels besteht darin, dass er zunächst Überzeugungen in Frage stellt, um dann – via vorgenommener Pro-

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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jektiv Ungewisse (das Nichtverstehbare) im Blick gehalten wird.⁸²² Dabei wird an der objektiven Ungewissheit nicht verzweifelt, sondern sie wird angenommen und akzeptiert. ⁸²³ Der Glaube beschreibt schließlich den definitiven Zwischenzustand zwischen Verstand und Leidenschaft und dadurch den Zustand von Verzweiflung und Innerlichkeit,⁸²⁴ weshalb Climacus auch vom „Kampf [Strid] des Glaubens“⁸²⁵

blemlösungen – stabilisierte Handlungsvollzüge aus sich herauszulassen. Eben solch eine Stabilisierung bringt Climacus im vorher angeführten Zitat zum Ausdruck: dass der Verstand benötigt wird, um wider den Verstand zu glauben. Anders gesagt: Kein Glaube ohne Zweifel (auch wenn es Climacus letztlich um eine den Zweifel überwindende Überzeugung geht: die Innerlichkeit). Zur Verzweiflung wird der Zweifel genau dann, wenn die existenzielle Erfahrungsdimension der Leidenschaft und des Interesses hinzutritt; wenn zweifelnde Distanzierung und unmittelbare Identifizierung mit dem Gegenstand des Interesses gewollt wird. In solch einer vom Wollen umgriffenen Haltung wird der Zweifel zu einer Ohnmachtserfahrung (die bei Climacus durch die Verzweiflung anvisiert, aber systematisch durch das Leiden entfaltet wird; vgl. Kapitel 2.3.3), die sich – nicht wie zu vermuten wäre – destruktiv auf den Glauben auswirkt, sondern gerade dessen notwendige Bedingung ist: „[D]ie Gewissheit des Glaubens ist ja an der Ungewissheit kenntlich“ (SKS 7, 459/ DUN, 700), die „den Religiösen … beständig in der Schwebe hält, damit er beständig die Gewissheit ergreife …“ (SKS 7, 460/ DUN, 701) Anders gesagt: Subjektive Gewissheit (Glauben) entsteht gerade aus der Überformung der objektiven Ungewissheit durch das Bewusstsein der objektiven Ungewissheit.  Verzweiflung kann nicht allein als Abstoßung gekennzeichnet werden, weil sie das Verstandesverhältnis zum Ewigen (Gott) beschreibt, das wiederum allein unter der Prämisse eines religiösen Existenzvollzugs angenommen werden kann. Ansonsten wäre zu fragen, warum sich das Individuum vom Nichtverstehbaren nicht einfach abwendet. Dass es dies bei Climacus nicht tut, liegt am Interesse zum Ewigen (Gott), wodurch die Verzweiflung nicht nur eine religiöse Kategorie ist, sondern nur in der Spannung zwischen dem interessierten Festhalten am Ewigen und dem sich abwendenwollenden Nichtverstehen gesehen werden kann, wobei die Betonung der Verzweiflung jedoch auf der Abstoßung (Abwendenwollen) liegt. Daran zeigt sich, dass sie nicht allein eine Verstandesbestimmung ist, sondern auch eine affektive Komponente, die Interesse und Leidenschaft in sich trägt, jedoch systematisch tendenziell die kognitive Seite gegenüber der affektiven betont wird.  Eine grundlegende Definition der Innerlichkeit (in der Unwissenschaftlichen Nachschrift) lautete, dass „die Innerlichkeit die objektive Ungewissheit mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit umfasst.“ (SKS 7, 186/ DUN, 345) Sie ist also der Zustand des Festhaltens am Ewigen; die Verbundenheit.  Hier zeigt sich die strukturelle Spannung der Verzweiflung in umgekehrter Weise. Dass die Innerlichkeit sich zum objektiv Ungewissen verhält, verdeutlicht, dass sie nicht nur Leidenschaft ist, sondern auch den Verstand umfasst, jedoch die affektive Komponente gegenüber der kognitiven dominiert.  Dieser Zwischenzustand des Glaubens erinnert an Kant, der den Glauben ebenfalls durch einen solchen Zwischenzustand charakterisiert: in der Mitte zwischen Meinung und Wissen (dazu: Deuser, „Pragmatische oder pragmatizistische Religionsphilosophie“, S. 152.), was gleichfalls auf Climacus übertragen werden kann, bei dem es jedoch nicht um objektives, sondern um subjek-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

als Bezeichnung des ständigen Widerspruchs von abgestoßenem Verstand⁸²⁶ und annehmender Innerlichkeit spricht.

Entzogenheit und Entschiedenheit Von Glauben kann, ausgehend von seiner inneren strukturellen Konzeption, nur gesprochen werden, wenn sowohl die Verzweiflung des Verstandes als auch die Leidenschaft der Innerlichkeit beibehalten werden. Und in diesem Verhältnis von Verzweiflung und Innerlichkeit tritt die Dialektik zwischen Entzogenheit und Intensität⁸²⁷ zum Vorschein: sich in dem Maße dem Ewigen zuzuwenden (Innerlichkeit), wie es sich als das Entzogene zeigt (Verzweiflung): „Glaube ist die objektive Ungewissheit mit dem Abgestoßenwerden durch das Absurde, in der Leidenschaft der Innerlichkeit festgehalten, die gerade das auf das Höchste potenzierte Verhältnis der Innerlichkeit ist.“⁸²⁸ Dass Climacus hierbei vom Absurden spricht, bezeichnet das Ewige als das, was dem Verstand absolut fremd und unbegreiflich bleibt, immer distanziert und niemals in Erfahrung zu bringen ist, kurz: was den Verstand abstößt (verzweifeln lässt)⁸²⁹ und dadurch das leiden-

tives Wissen geht. Während Kant eine epistemologische Perspektive einnimmt, geht es Climacus um eine existenzielle Überzeugungsbildung und deren Einfluss auf die persönliche Handlung.  SKS 7, 205 (Anm.) / DUN, 370 (Anm.).  Nur aus der Perspektive des sich abwendenwollenden Verstandes (Verzweiflung) ist im Übrigen zu verstehen, dass Climacus den Glauben als „Martyrium“ (SKS 7, 212 f. / DUN, 379 f.) bezeichnet. Einerseits verweist dies (in)direkt auf die Person Climacus, der als Humorist kein vollständig religiöser Mensch ist (vgl. Kapitel 2.1.3.3) und demnach das Verstehen und die Rationalität in einer Weise thematisiert, in der nicht einfach prophetisch von der heilenden Kraft des Glaubens gesprochen wird. Andererseits zeigt sich daran auch, dass das „Martyrium“, die „Verzweiflung“ eine tendenziell betonte Verstandesbestimmung ist, denn das Martyrium besteht darin, „gegen den Verstand zu glauben“ (SKS 7, 212 / DUN, 379). Da aber „mit dem Verstand zu glauben … sich gar nicht tun [lässt]“ (SKS 7, 212 / DUN, 379), bedarf es der Innerlichkeit: „Den Verstand gerade gegen sich muss dann die Innerlichkeit des Glaubens das Paradox ergreifen …“ (SKS 7, 205/ DUN, 369) Die Verzweiflung ist dabei, ebenso wie die Innerlichkeit, selbst Ausdruck des Glaubens. Denn in der Verzweiflung wird das leidenschaftliche Verhältnis zum Ewigen durch den Verstand gehemmt und dadurch dialektisch verstärkt: „[D]ie einzige Weise, auf welche ein existierender in ein Verhältnis zu Gott kommt, … ist [die], dass der dialektische Widerspruch die Leidenschaft zur Verzweiflung bringt und mit »der Kategorie der Verzweiflung« (Glaube) Gott umfassen hilft …“ (SKS 7, 183 (Anm.) / DUN, 341 (Anm.))  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  SKS 7, 554 f. / DUN, 824 (Hervorhebung d.Vf.).  Zum Begriff und der Funktion des Absurden (als Ausdruck des Paradoxen) ausführlich: Deuser, Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, S. 43 – 46. Zum bei Climacus (in den Philosophischen Brocken) verstandenen Absurden (als Ärgernis des Verstandes): ebd., S. 43 f. Zu beachten sind zudem die Ausführungen im Wahrheitskapitel der Unwissenschaftlichen Nach-

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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schaftliche Verhältnis der Innerlichkeit perpetuiert.⁸³⁰ So kann Climacus schließlich herausheben: „Glaube ist ja die höchste Leidenschaft …“⁸³¹, also die bis auf das Äußerste potenzierte Innerlichkeit. Diese Steigerungsdialektik von Wollen und (entzogenem) Wollensgegenstand bedeutet, dass das, was dem Verstand an Halt fehlt (Verzweiflung), die Innerlichkeit zurückgibt, ohne aber dem Verstand Sicherheit bieten zu können. Der Glaube ist so gesehen genau der Zwischenzustand von (objektiver) Ungewissheit und (subjektiver) Gewissheit – oder, um ein Bild Climacusʼ aufzugreifen: der Zwischenzustand von Untergehen und Rettung, eine permanente Schieflage des „Schiffes“.⁸³² Die Tendenz des schrift (besonders SKS 7 192 ff. / DUN, 353 ff.), wo Climacus das Absurde als die Gewissheit und somit die objektiv anzuerkennende Nichtverstehbarkeit des Ewigen thematisiert: Die „objektive[] Ungewissheit ist hier die Gewissheit davon, dass es objektiv gesehen das Absurde ist, und dieses Absurde, in der Leidenschaft der Innerlichkeit festgehalten, ist der Glaube.“ (SKS 7, 192 / DUN, 353) „Das Absurde ist gerade durch das objektive Abstoßen der Kraftmesser des Glaubens der Innerlichkeit.“ (SKS 7, 193/ DUN, 354) In der Innerlichkeit wird das Ewige als das objektiv Ungewisse (Absurde) anerkannt und sich mit Leidenschaft dazu verhalten.  So auch: „Der Glaube darf sich nicht mit dem Unverständlichen begnügen; denn gerade das Verhältnis zu oder das Abgestoßenwerden durch das Unverständliche, das Absurde, ist der Ausdruck für die Leidenschaft des Glaubens.“ (SKS 7, 555/ DUN, 824) Oder: „Während der Glaube … in der Ungewissheit einen nützlichen Zuchtmeister [Tugtemester] … hat,würde er in der Gewissheit seinen gefährlichsten Feind bekommen.“ (SKS 7, 36/ DUN, 156) Also: Die (objektive) Unverständlichkeit/Ungewissheit steigert die Intensität des Verhältnisses.  SKS 7, 124 / DUN, 264.  In einer Fußnote fasst Climacus das existenzielle (in der Zeit verankerte) Verhältnis des glaubenden Individuums zum Ewigen anhand der Schiffsmetapher zusammen: „[W]enn der Glaubende seinen ganzen Verstand, jede letzte Wendung der Verzweiflung gebraucht, bloß um die Schwierigkeit des Paradox zu entdecken … kann es wohl [dennoch] für den Glauben reichlich Halt in der Leidenschaft der Innerlichkeit geben. Bei günstigem Wetter ruhig im Schiff zu sitzen, ist kein Bild des Glaubens; aber wenn das Schiff ein Leck bekommen hat, dann das Schiff begeistert durch Pumpen zu halten und doch den Hafen nicht zu suchen [søge]: das ist das Bild. Enthält das Bild auch auf Dauer eine Unmöglichkeit, so ist das nur die Unvollkommenheit des Bildes, aber der Glaube hält aus. Während der Verstand wie der verzweifelte Passagier seine Arme, wenn auch vergeblich, nach dem Lande ausstreckt, arbeitet der Glaube aus Leibeskräften in der Tiefe: froh und siegreich rettet er die Seele gegen den Verstand. Ein solcher Widerspruch ist es, glaubend zu existieren …“ (SKS 7, 205 (Anm.) / DUN, 370 f. (Anm.)) Zur Erläuterung: Nicht „ruhiges Wetter“, d. h. nicht die objektive Sicherheit, dass das Ewige erreicht oder verstanden werden kann, liegt dem Glauben zugrunde – wodurch das „Schiff“ ruhig auf dem Wasser fahren könnte –, sondern die objektive Ungewissheit, die den Verstand verzweifeln lässt, bedingt den Glauben. Das „leckgeschlagene Schiff“ bezeichnet in diesem Sinne den mit Verstand ausgezeichneten Menschen, der keinen objektiv-verifizierbaren Haltepunkt mehr finden kann, verzweifeln und dadurch – metaphorisch – untergehen würde, wenn er keine Leidenschaft besäße. Das Individuum kann sich in seiner Verzweiflung des Nichtverstehens nur dadurch vor dem Untergehen retten, indem es „aus Leibeskräften in der Tiefe“ – im Innern des

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Schiffes – „begeistert pumpt“, was ja nicht nur eine wunderbar gewählte Allegorie für die zyklische Wiederholungsbewegung ist, sondern gleichzeitig auch die entschiedene Selbsttätigkeit („Leibeskräfte“), die Leidenschaft („Tiefe“) und somit auch die sich durch diese Selbstüberlassenheit ergebende Isolation des Individuums hervorhebt. Das Individuum bleibt – im Bild geblieben – also am Leben, indem es den Existenzumgang der Innerlichkeit in Form der leidenschaftlichen Wiederholung praktiziert und sich dabei mit Leidenschaft zum Unverstehbaren (das als solches anzuerkennende Unverstehbare) verhält. Climacus betont hierbei ausdrücklich, dass nicht der Versuch unternommen werden soll, „den Hafen zu suchen“ und zu diesem die „Arme auszustrecken“; sich also letzten Endes so auf den Verstand zu berufen, dass dieser sich vom objektiv Ungewissen entweder, weil er daran verzweifelt, vollständig abwendet, oder das objektiv Ungewisse durch spekulatives Denken in die Zeit geholt wird (was Ausdruck der hegelschen Mediation zwischen Zeit und Ewigkeit wäre und damit das Ungewisse in objektive Gewissheit umwendet). [Anm.: Im weiteren Verlauf der zitierten Stelle sagt Climacus: „…; Übereinkommen ist ein Blendwerk für einen Existierenden, da dies, dass ein ewiger Geist existiert, selbst ein Widerspruch ist.“ (SKS 7, 205 (Anm.) / DUN, 371 (Anm.)) Die offensichtliche Anspielung auf das mediierende, spekulative Denken Hegels wird im Verlauf der Unwissenschaftlichen Nachschrift für das religiöse Existieren dadurch abgewiesen, dass die Übereinkunft von Zeit (Mensch) und Ewigkeit (Gott) nur, so Climacus, in der Phantasie geschehen kann, aber niemals in der Wirklichkeit menschlicher Existenz: „Im Phantasie-Medium der Möglichkeit kann Gott für die Einbildung sehr gut mit dem Menschen zusammenschmelzen, aber in der Wirklichkeit mit dem einzelnen Menschen, das ist gerade das Paradox.“ (SKS 7, 528/ DUN, 790) Allein Jesus Christus führt als menschgewordener Gott und damit als Paradox Zeit und Ewigkeit zusammen. Als dieses Paradox ist er bei Climacus der Gegenstand des christlichen Glaubens.] Die Innerlichkeit als Wiederholung „gegen den Verstand“ ist die Glaubensbewegung, denn „der Glaube hält aus.“ Der Glaube ist eben das Aushalten der Abwesenheit des objektiv ungewissen Ewigen in der Zeit. Diese Eigenschaft des Glaubens zeigt seinen inneren, dialektischen Widerspruch (letzter Satz des Zitats). Dieser wird im ersten Satz des Zitats dadurch ausgedrückt, dass der Glaube als verzweifelter Verstand „Halt“ in der Innerlichkeit findet, die als Gegengewicht zur Verzweiflung das objektiv Ungewisse annimmt. So kann Climacus schließlich auch sagen, dass die Gewissheit des Glaubens in der Ungewissheit liegt (SKS 7, 459/ DUN, 700), wodurch der Glaubende „beständig in der Schwebe“ (SKS 7, 460/ DUN, 701) gehalten wird. Die darin liegende Dialektik, vom objektiv Ungewissen abgestoßen zu werden (Verzweiflung), um in diesem Abgestoßenwerden ein Annehmen der Ungewissheit zu praktizieren (Innerlichkeit), kennzeichnet den Glauben als denjenigen Zustand des Individuums, in dem subjektive Gewissheit im Angesicht objektiver Ungewissheit erreicht wird. Dies gipfelt schließlich systematisch in der Erbauung als Geborgenheit in Ohnmacht (vgl. Kapitel 2.3.3.3.3). [Anm.: Es sei noch darauf hingewiesen, dass Michel Foucault zur Metapher der Schifffahrt einige erhellende Bemerkungen gemacht hat (vgl. ders., Hermeneutik des Subjekts, besonders S. 309 f.). Laut Foucault impliziert die Metapher fünf Merkmale: den (ortsverändernden) Weg, die Zielgerichtetheit, die Rückkehr zum (Heimat‐)Hafen, den Wunsch der Rückkehr und das praxisrelevante Wissen, diese Rückkehr auch vollziehen zu können.Vor dem Hintergrund Foucaults und in Anbetracht der Bewegungsanalyse (Kapitel 2.3.2) ergäbe sich für die Charakteristik des Glaubens, dass er als Weg (Bewegung) zielgerichtet (teleologisch) und gewollt (Interesse/Leidenschaft) ist und als solche Bewegung eine Praxis (Innerlichkeit und Wagnis: s.u.) darstellt, die sich rückbezüglich zum Heimathafen/Ursprungsort (Gott) verhält, was bedeutet: Der Glaube ist ein

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Menschen ist dabei, so Climacus eindeutige Diagnose, sich von der Ungewissheit abzuwenden, sich den objektiven Gewissheiten zuzuwenden und im climacischen Sinne die Leidenschaft zu negieren und sich auf die Seite des sicheren Verstehens zu schlagen.⁸³³ Selbst wenn das Individuum glaubt, besteht die ständige Gefahr, dass der Glaube aufgegeben wird.⁸³⁴ Da es aber existenziell gilt, den Glauben nicht aufzugeben, wird verständlich, weshalb Climacus die Wiederholungsbewegung als Entschiedenheit betrachtet.⁸³⁵ Gegen den Verstand zu glauben (Innerlichkeit) und sich der eigenen objektiven Erkenntnisblindheit (gegenüber dem Ewigen) hinzugeben, bedeutet, das Verhältnis zum Ewigen wider den Verstand entschieden aufrecht zu erhalten. ⁸³⁶ Der Glaube ist bei Climacus grundsätzlich als ein Akt der Freiheit (Entschiedenheit) zu verstehen, der ohne Garantien (ohne objektive Gewissheit⁸³⁷) zu vollziehen ist.⁸³⁸ Und das ist elementar. Denn daraus folgt, dass

Prozess nach Hause, eine Rückkehr zum Grund (vgl. Kapitel 2.3.2.4.2). Diese Interpretation lässt sich auch dann halten, wenn eingewendet werden wollte, dass Climacus die „Rückkehr zum Hafen“ in der zitierten Stelle abweist. Denn nicht Gott wird von Climacus durch die Metapher des Hafens benannt, sondern der Verstand.].  Denn: „Wird nämlich die Leidenschaft fortgenommen, so ist der Glaube nicht mehr da, und Gewissheit und Leidenschaft vertragen sich nicht.“ (SKS 7, 36/ DUN, 156)  Vergleiche hierzu die Ausführungen zur Resignation in Kapitel 2.3.3.1.1.  Vgl. besonders Kapitel 2.3.2.3.1.  Vergleiche beispielsweise: „[D]er Glaube verhält sich zum Unwahrscheinlichen und Paradoxen selbsttätig, selbsttätig darin, es zu entdecken und es in jedem Augenblick festzuhalten – um glauben zu können.“ (SKS 7, 212 / DUN, 380)  Dass der Glaube eine existenzielle Handlung ohne Garantien ist, ergibt sich notwendig aus dem Aspekt der Ungewissheit gegenüber Gott. Bei genauerem Blick in die Unwissenschaftliche Nachschrift zeigt sich aber, dass Climacus bei all seiner Philosophie der Ungewissheit dennoch ein Sicherheit gebendes Prinzip ausmacht, das sich im Denken selbst findet, nämlich die Dialektik. So schreibt er: „[D]ie Dialektik ist … eine wohlwollend dienende Macht, die entdeckt und finden hilft, wo der absolute Gegenstand des Glaubens und der Anbetung, wo das Absolute ist – dort nämlich, wo der Unterschied zwischen Wissen und Nicht-Wissen in der absoluten Anbetung der Unwissenheit zusammenstürzt, da wo sich die objektive Ungewissheit dagegen stemmt, um die leidenschaftliche Gewissheit des Glaubens hervorzubringen … Die Dialektik selbst sieht nicht das Absolute, aber sie führt das Individuum gleichsam zu ihm hin und sagt: hier muss es sein, dafür stehe ich ein; wenn du hier anbetest, dann betest du Gott an.“ (SKS 7, 444 f. / DUN, 681) Die Dialektik ist der Denk-Weg, der beschritten werden muss, um aus der Reziprozität von Objektivität und Subjektivität, Denken und Leidenschaft in den Glauben zu finden. Und eben in diesem Sinne kann der Glaube systematisch nicht ohne das Denken gedacht werden, ja, das Denken gibt die Garantie, dass sich das Subjekt zu Gott verhält und zwar in dem Sinne, wie es im Vorhergehenden schon zitiert wurde: Das Individuum „glaubt … wider den Verstand und braucht … den Verstand – um aufzupassen, dass e[s] wider den Verstand glaube.“ (SKS 7, 516/ DUN, 774)  In diesem Sinne ist Glaube die Praktizierung der Freiheit vor dem Hintergrund unabänderlicher Kontingenz. Denn Freiheit bedarf der Kontingenz der Ungewissheit und Unsicherheit,

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eine Grundprämisse des Glaubens darin besteht, dass nicht nur die Entzogenheit des Ewigen ausgehalten werden muss, sondern dass die Entzogenheit selbst der Garant dafür ist, sich zum Ewigen zu verhalten, weshalb an der Entzogenheit selbst festgehalten werden muss, ohne je zu wissen, ob das Ewige – im existenziell relevanten Sinne – auch wirklich erreicht wird (was sowohl für die zukünftige Jenseitsewigkeit einer christlichen Erlösung als auch für die „konkrete Ewigkeit“ des einzig passiv eintretenden Augenblicks gilt).

Wagen und Loslassen Den Aspekt der Entschiedenheit ohne Garantien fasst Climacus durch zwei prominente Begriffe: Risiko und Wagnis.⁸³⁹ Während beim Risiko⁸⁴⁰ die Betonung mehr auf der Rationalität des Verstandes liegt, betont das Wagen⁸⁴¹ den Vollzug der Leidenschaft, sich trotz des Risikos zum Ewigen zu verhalten (und umgekehrt: es zu wagen, ist das Risiko). Risiko ist systematisch mehr mit der Verzweiflung verknüpft;⁸⁴² Wagnis mehr mit der Innerlichkeit. Der Glaube ist dann als risiko-

ohne die das Entscheiden kein Wählen, sondern eine sich aus dem Ziel der Handlung speisende Notwendigkeit wäre (vgl. Kapitel 2.2.4.4). Wäre die Vergebung einer im Jenseits liegenden, zukünftigen ewigen Seligkeit (= das Telos des Glaubens) sicher, warum sollte der Mensch dann wählen; die Freiheit, sich für etwas zu entscheiden, wäre zerstört. Nur wenn sich in der Unsicherheit für das Ungewisse entschieden wird, ist der Glaube auch als Glaube zu bezeichnen. An etwas Gewisses zu glauben ist also ein Widerspruch, was Climacus in Bezug auf die Leidenschaft selbst betont: „Wird nämlich die Leidenschaft fortgenommen, so ist der Glaube nicht mehr da, und Gewissheit und Leidenschaft vertragen sich nicht.“ (SKS 7, 36/ DUN, 156)  An dem Begriff des Wagnisses lässt sich eine systematische Beobachtung in Bezug auf die Religiosität A machen. Climacus betont, dass die Religiosität A im Heidentum sein kann (vgl. SKS 7, 506/ DUN, 761). Zugleich schreibt er zum Heidentum, dass dessen Irrtum darin liege „nicht alles wagen zu wollen“ (SKS 7, 368/ DUN, 580); die Religiosität A zeichnet sich hingegen durch das Wagnis aus, weil sie die Innerlichkeit für die ewige, aber ungewisse Seligkeit ist. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Religiosität A weder ganz heidnische Religiosität noch ganz christliche Religiosität (B) ist. Sie steht in Bezug zur christlichen Bestimmung der ewigen Seligkeit, aber nicht in Bezug zu Jesus Christus; sie steht in Bezug zum Heidentum, geht aber über dasselbe hinaus. Daher muss die Religiosität A als Misch- bzw. Zwischenform von heidnischer und christlicher Religiosität gesehen werden, die von beiden Elemente vereint, ohne in einer von beiden Religionsformen aufzugehen. Dies deckt sich mit Climacusʼ Anspruch, dass die Religiosität A die allgemeinste und umfassendste Religiositätsform ist (vgl. Kapitel 2.3.1).  Vgl. besonders SKS 7, 187/ DUN, 345.  Vgl. besonders SKS 7, 386 ff. / DUN, 603 ff.  Nicht nur ist das Risiko der reflexionstheoretische Ausdruck für ein existenzielles Verhältnis zu etwas Unverständlichem (und damit der Verzweiflung immanent), sondern auch der Begriff in Kierkegaards Religionsphänomenologie, der am stärksten den Einbezug des Zweifels in den Glauben verdeutlicht. Risiko bedeutet: Glaube kann nur unter der Bedingung des Zweifels ge-

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behaftetes Wagen (also als strukturelle Zwischenbestimmung von Verzweiflung und Innerlichkeit) durch keine Reflexion einzuholen und bezeichnet so das SichAussetzen an die (objektive) Ungewissheit.⁸⁴³ „[T]rete ich die lange mühsame Wanderung an, ohne Gewissheit, ob mein Unternehmen gelingen wird: ja, dann wage ich* …“⁸⁴⁴ Der Glauben ist demnach ein Prozess, ohne anzukommen.⁸⁴⁵ Und das Wagnis ist: Ein Leben mit dem Ewigen zu leben, ohne eine versteh- oder erfahrbare Repräsentation oder gar Manifestation des Ewigen zu besitzen. Das Wagen ist demnach ein hochgradig bewusster Vollzug, was einschließt, dass die Ungewissheit ebenfalls permanent bewusst sein muss.⁸⁴⁶ Sich also immer wieder auf das Wagnis und das Risiko, die Unsicherheit und Kontingenz zurückzurufen und sich so in iterativer Weise ständig selbst vor die Ungewissheit zu bringen, ist die Aufgabe, die das Individuum im Glauben zu vollziehen hat.⁸⁴⁷ Mit schehen (das Grundthema in Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est). Von den prominenten PhilosophInnen ist es vor allem Hannah Arendt, die dies als die die Philosophiegeschichte revolutionierende Einsicht Kierkegaards herausstellt: vgl. dies., Vita activa, S. 350 (besonders auch die dazugehörige Endnote 34 auf Seite 474) und: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 39 und 306.  Darin liegt wiederum das, was Climacus die Wahrheit des Existierens nennt – sich in dialektischer Verbundenheit zum Ewigen zu verhalten: „[D]ie objektive Ungewissheit, festgehalten in der Aneignung der leidenschaftlichen Innerlichkeit, ist die Wahrheit.“ Und: „[D]ie Wahrheit ist eben dies Wagestück, mit der Leidenschaft der Unendlichkeit das objektiv Ungewisse zu wählen.“ (SKS 7, 187/ DUN, 345; vergleiche auch die auf derselben Seite zu findende Verbindung der Wahrheit mit dem Begriff des Risikos) – Zur ausführlichen Wahrheitsbetrachtung in der Unwissenschaftlichen Nachschrift sind zwei Artikel besonders hervorzuheben: Grøn, „Subjektivität und Un-Wahrheit“; Janke, „Der Weg der Wahrheit zum Menschen“. – Zur Wahrheit als das von Climacus bezeichnete Existenzverhältnis zum Ewigen u. a.: Dalferth, „Religiosität bei Kierkegaard und Schleiermacher“, S. 245 – 248; Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 49 ff.; Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 219 f.  SKS 7, 386 f. / DUN, 604 f.  Dies ist der Bestimmung der Existenz als Bewegung (vgl. Kapitel 2.2.2) immanent, bei der im grundlegend systematischen Sinne „der Weg … akzentuiert“ wird (SKS 7, 177/ DUN, 333), d. h. der Vollzug und Verlauf betont werden – und das auch in ihrer speziell religiösen Ausprägung (vgl. SKS 7, 389 f. / DUN, 607 f.).  Denn: „Wagen ist das Korrelat zur Ungewissheit; sobald Gewissheit ist, hört das Wagen auf.“ (SKS 7, 386/ DUN, 603) Dies zeigt wiederum die systematische Nähe des Wagens zur Leidenschaft, denn: „Gewissheit und Leidenschaft vertragen sich nicht.“ (SKS 7, 36/ DUN, 156)  So schreibt Climacus: „Falls ich aber in der Existenz alles wagen soll, so ist das bereits eine ganze Lebens-Aufgabe [Livs-Opgave], und wenn ich dann mit meinem Wagnis in der Existenz bleiben soll, muss ich beständig fortfahren zu wagen.“ (SKS 7, 388 (Anm.) / DUN, 605 (Anm.) (Hervorhebung d.Vf.)) Diese religiös-existenzielle (Lebens‐)Aufgabe, sich dem Ungewissen bewusst auszusetzen, ist zugleich der „Weg“, der in die Zukunft hinein beschritten wird; eine permanente Beschäftigung, die durch das Maß des energetischen Aufwands Veränderung zeugt: „[W]enn er es gewagt hat, ist er nicht mehr derselbe.“ (SKS 7, 385/ DUN, 602) Climacus betont

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

dem Wagen wird also definitiv die Freiheit (Entschiedenheit) betont; die Freiheit, mit der sich leidenschaftlich an das Ewige gebunden wird. Deren existenziell-religiöse Bedeutung liegt dann notwendig im Anerkennen der objektiven Ungewissheit. Oder um es auf eine Formel zu bringen: Es geht um die Freiheit zum Annehmen der Ungewissheit (was mit der Freiheit zur Passivität korreliert⁸⁴⁸). Ausdruck dessen ist die Innerlichkeit, für die im Sinne der Wiederholungsbewegung gilt: das Gewollte (Telos) wirklich zu wollen (Metron), sich aber in diesem Wollen nicht auf das Erreichen des Gewollten zu versteifen, sondern sich ohne Erwartungen zu verhalten.⁸⁴⁹ So ist das Wagen der Innerlichkeit der Glaube als das Festhalten, das zugleich ein Loslassen ist. Jedoch muss sich das Individuum (aufgrund der Verflechtung von Innerlichkeit und Verzweiflung) immer wieder zum Loslassen überwinden. Allein im Gelingen dieser Überwindung hin zum Loslassen ist der Glaube wirklicher Glaube wider den Verstand. Und in diesem Prozess der Überwindung liegt die Genese dessen, dass der Glaube ein vor-rationales⁸⁵⁰ Überzeugtsein ist, das wider alle

demnach, dass erst am Abarbeiten an der Ungewissheit das Entdecken der eigenen Person möglich ist. Erst das Verhältnis zu dem, was unmöglich scheint, setzt nicht nur das Potenzial zur Veränderung frei, sondern lässt Möglichkeiten bewusst werden, die vorher nicht in den Blick geraten sind (vgl. dazu Kapitel 3.2.2.1). Im Verhältnis zu dem, was den Menschen übersteigt und wie er sich vor das Unbegrenzte gestellt sieht, im Glauben, gewinnt das Individuum einen neuen Blick auf sich und wie es mit seinem von ihm zu lebenden Leben umgeht. Und eben darum geht es, wenn Climacus seine existenziell-religiöse Ausgangsfrage (vgl. Kapitel 2.3.1) formuliert: „Es wird gefragt, wie die Unsterblichkeit ihm sein Leben verwandele …“ (SKS 7, 162 / DUN, 314)  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  Das bedeutet nicht un- oder gar irrational, weil die Verzweiflung durchwandert werden muss, um sich von dem Verstand loszulösen (zum Irrationalitätsvorwurf an Kierkegaards Glaubensbegriff: Stephen C. Evans, „Is Kierkegaard an Irrationalist? Reason, Paradox and Faith“, in ders., Kierkegaard on Faith and the Self. Collected Essays, Waco 2006, S. 117– 132; sowie: István Czakó, „Kann Glaube philosophisch sein? Aspekte der Irrationalitätsproblematik im Glaubensverständnis Kierkegaards und Karl Jaspersʼ“, in Religion und Irrationalität. Historisch-systematische Perspektiven, hg. von Jochen Schmidt und Heiko Schulz, Tübingen 2013, S. 159 – 185, besonders S. 161– 176). Dass sich von der Verzweiflung losgelöst werden soll, um wirklich zu glauben, zeigt implizit folgende Stelle: „Verzweiflung ist immer das Unendliche, das Ewige, das Totale im Augenblick der Ungeduld, und alle Verzweiflung ist eine Art Gereiztheit.“ (SKS 7, 504 / DUN, 758) Die Verzweiflung verhindert für Climacus in ihrem „Drang, etwas fertig zu haben“ (SKS 7, 85/ DUN, 215) und damit aufgrund ihrer immanenten Ungeduld („Gereiztheit“) den Glauben als Annehmen und somit auch die Innerlichkeit als ständigen Versuch der Überwindung des (verzweifelten) Verstehenwollens. Dass die Verzweiflung für den Glauben die konstitutive Vorstufe bleibt, die durchgestanden werden muss, um zum Glauben wider den Verstand (Innerlichkeit) gelangen zu können, wird auch von Dorothea Glöckner herausgehoben: vgl. dies., Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 142.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Gegenargumentation besteht.⁸⁵¹ Als dieses argumentationslose Überzeugtsein ⁸⁵² ist der Glaube das Er- und Umgriffensein von Gott als ein Sich-Überlassen an Gott,  So sagt Climacus: „Der Gegenstand des Glaubens ist keine Lehre, denn dann wäre das Verhältnis intellektuell …“ (SKS 7, 297/ DUN, 489)  Das argumentationslose Überzeugtsein des Glaubens als ein in der Innerlichkeit praktiziertes Annehmen Gottes wider den Verstand (Loslassen) geht letztlich auf Climacusʼ Ausführungen zum Gottesbeweis zurück. In der „Spinoza-Anmerkung“ (SKS 4, Cap. III, 246 f. (Anm.) / DPB, Kap. III, 52– 55 (Anm.)) kritisiert Climacus, dass Spinoza aus dem Begriff Gott dessen Sein nominaldefinitorisch ableitet. Spinoza argumentiert: je vollkommener ein Wesen, desto mehr Sein, d. h. desto wirklicher (faktischer). Climacus lehnt jedoch jegliche Beweisführung aus dem Begriff Gott ab. Er spielt dies anhand des physiotheologischen (vgl. SKS 4, 245 f. / DPB, 53 f.) und ontologischen (vgl. SKS 4, 244– 250/ DPB, 51– 57; SKS 7, 304 f. / DUN, 498 f.) Gottesbeweises durch. Die Nichtbeweisbarkeit von Gottes Dasein führt auf Kant zurück, dem sich Climacus erkenntnistheoretisch bezüglich des begrifflichen Beweisens implizit anschließt: „Soll … die absolute Notwendigkeit eines Dinges im theoretischen Erkentnisse erkannt werden, so könnte dies allein aus Begriffen a priori geschehen, niemals aber als eine Ursache, in Beziehung auf ein Dasein, das durch Erfahrung gegeben ist“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 2, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 558).Wenn Gott nur begrifflich zu bestimmen ist, sich sein Dasein der Erfahrung entzieht, bleibt Gott allein ein Ideal, das weder bewiesen noch widerlegt werden kann (vgl. ebd., S. 561 ff.). Jener Auffassung folgt Climacus, wenn er Gott als das Undenkbare definiert. Als das Undenkbare ist er „Idealität“ (SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 55 (Anm.)) und zwar die höchste Idealität. Daraus folgt: 1. Gott ist vom Denken, das kantisch innerhalb seiner eigenen Erkenntnisgrenzen bleibt, nicht erfassbar; 2. Gott ist als Idealität von der faktisch-existenziellen Wirklichkeit verschieden; 3. Gott entzieht sich jeder Wahrnehmbarkeit. 4. Gott ist in Bezug auf den Menschen (ontologisch) das gänzlich Andere/Fremde (vgl. SKS 4, 244, 249, 251/ DPB, 51, 57, 59; SKS 7, 374, 445/ DUN, 588, 682). Gott ist als Idealität weder aus der Natur (Empirie), noch aus dem Begriff zu beweisen. Der Beweis Gottes gelingt für Climacus allein durch den Glauben. „[I]m Vertrauen auf ihn“ (SKS 4, 247/ DPB, 54), d. h. im Vertrauen auf Gott, braucht der Mensch keine Beweise. Für Climacus gilt: Die Frage, ob Gott da ist, kann nur der Fragende beantworten, wenn er aufhört, sie zu stellen. Der Glaube gleicht einer Einübung des Verzichts auf objektive Beweisführung (Climacus bezeichnet dies als „Resignation“: vgl. Kapitel 2.3.3.1.1) – „[I]ndem ich den Beweis loslasse, ist das Dasein da.“ (SKS 4, 248/ DPB, 55) Gottes Wirklichkeit liegt im Glauben als vorrationale Überzeugung, in der Gott wider allen Beweis vom Individuum angenommen wird. [Anm.: Climacus bezeichnet dieses Annehmen als „Sprung“ (SKS 4, 248/ DPB, 55), wobei dies auf die Dialektik verweist, dass der Sprung ein Gesprungenwerden ist, in dem Augenblick, wenn das Ewige in die Zeit eintritt und somit auch hier deutlich wird, dass der Glaube der Einwirkung Gottes bedarf und zugleich als Überzeugung ein zu praktizierendes Offensein für Gott darstellt.] Entsprechend vermerkt Kierkegaard in einer Journalnotiz: „Eine Überzeugung heißt deshalb Überzeugung, weil sie über dem Beweis steht.“ (SKS 20, 79, NB:102 / DSKE 4, 87) In der Überzeugung wird das theoretische Postulat von Gottes Existenz praktisch übernommen und so in den Lebensvollzug integriert, als ob es wahr sei (Kant). (Zu Kants praktischem Gebrauch des Postulats: Henrich, Bewußtes Leben, S. 146). Zur Darlegung des Verhältnisses von Climacus zu den Gottesbeweisen: Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, S. 70 f. (unter Berücksichtigung des frühen Kierkegaard); ebenso: Robert L. Perkins, „Kierkegaards erkenntnistheo-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

der allein und wider alle Beeinflussung, in Anbetracht des Erreichenwollens der ewigen Seligkeit, dieselbe gewähren kann. Der Glaube als Innerlichkeit des Loslassens ist dann die Haltung des Empfangenwollens ⁸⁵³ dessen, was allein empfangen werden kann; die einzig adäquate Verhältnisweise zum Gegenstand des Verhältnisses.⁸⁵⁴ „Es ist keineswegs“ – schreibt Kierkegaard im Journal JJ – „eine sophistische Betrachtung, dass man jeden Augenblick in seiner Seele die Möglichkeit beibehält, dass Gott noch in diesem Augenblick alles gutmachen kann. Erhält man sie nicht aufrecht, dann ermattet man in Verzweiflung und ist nicht imstande, das Gute zu empfangen, wenn es wirklich angeboten wird.“⁸⁵⁵ Liest man dieses Zitat als Kommentar zur Innerlichkeit des Empfangenwollens, so bestimmt sich diese als eine der Verzweiflung entgegengesetzte, genuin religiöse Hoffnung,⁸⁵⁶ in der – mit Richard Schenk gesprochen – „Unerläßliches und Ungesichertes (Nicht-Garantiertes) eine Einheit bilden“⁸⁵⁷ und zwar so, dass unbedingt Gewolltes und Ungewissheit so ineinander verschränkt sind, dass daraus eine in die Zukunft⁸⁵⁸ hinein bestehende Zuversicht (auf das sich im Augenblick offenbarende Gute) entspringt.

retische Präferenzen“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 385 – 407, hier S. 392 ff.; Schreiber, Apriorische Gewissheit, S. 375, Anm. 522; Heywood Thomas, „Logik und Existenz bei Kierkegaard“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 408 – 424, hier S. 414 und 421.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Dies verweist auf die Struktur der Wiederholungsbewegung. Denn dass die Art und Weise des Verhältnisses dem Gegenstand des Verhältnisses entspricht, beschreibt einerseits das Verhältnis von Telos und Metron der Bewegung und andererseits zugleich auch die apotheotische Charakteristik der Wiederholungsbewegung (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Je intensiver sich zum Ewigen verhalten wird, je entschiedener die Wiederholung praktiziert wird, umso stärker ist die eigene Bindung an das Ewige (vgl. Kapitel 2.3.2.3.3) und als solche Ausdruck des sich überlassenden Glaubens.  SKS 18, 184, JJ:138/ DSKE 2, 190 (Hervorhebung d.Vf.).  Dass Hoffnung bei Kierkegaard vor allem als Gegenpol zur Verzweiflung fungiert, dazu: Hans-Georg Link, „Hoffnung“, in HWPh, Bd. 3, S. 1157– 1166, hier S. 1164. Zur Unteruchung der Hoffnung bei Kierkegaard, vor allem mit Bezug auf das Phänomen der Verzweiflung, der Relation zum Selbstsein und dem Verhältnis zum Glauben, neuerdings: Mark Bernier, The Task of Hope in Kierkegaard, Oxford 2015.  Richard Schenk, „Von der Hoffnung, Person zu sein. Theologische Überlegungen zur Diskontinuität von Verheißung und Vertrauen“, in ders. (Hg.), Kontinuität der Person, S. 147– 177, hier S. 151.  Zum Verhältnis von Zukunft und Hoffnung: Link, „Hoffnung“, S. 1157.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Hoffnung und Vertrauen Der Glaube als eine auf Entschiedenheit beruhende und als Empfangenwollen durchgeführte Praxis der Innerlichkeit ist also Hoffnung – genauer: Hoffnung, die in einem Wechselverhältnis zum Vertrauen steht. Diesbezüglich muss der Glaubensbegriff in seiner Spannung von Gewissheit und Ungewissheit genauer fokussiert werden. Als argumentationsloses Überzeugtsein kann der Glaube bei Climacus nur dann praktisch Bestand haben (existenziell vollzogen werden), wenn ihm ein religiöses Interesse (die „conditio sine qua non“ religiösen Existierens⁸⁵⁹) und somit ein Wunsch, eine Idee, eine Intention von dem vorausgeht, an das geglaubt werden will (die Erlösung). An den erlösenden Gott zu glauben bedeutet, an Gott bedingungslos festzuhalten, gegen alle objektive Verifizierbarkeit. Damit ist der Glaube die subjektive Bestätigung dessen, was sich objektiv nicht bestätigen lässt, und als diese subjektive Bestätigung gerade die objektivierbare Bestätigung der subjektiven Annahme. Im Glauben gibt es demnach nur dann Gewissheit, wenn diese als subjektives Korrelat objektiver Ungewissheit fungiert und jene wiederum als Korrelat von dieser.⁸⁶⁰ Glaube ist also ein in sich geschlossener, subjektiver Prozess; die Gewissheit, die sich selbst bestätigt – und damit eine Überzeugung, die gar keiner rationalen Argumentation bedarf, sondern sie überführt einzig das, was immer schon besteht, in gesteigerte Aktualität:⁸⁶¹ „[D]ann ist es möglich, Gott überall zu sehen.“⁸⁶² Das Einzige, was das Denken Climacusʼ davor bewahrt, dass der Glaube – im Feuerbachʼschen Sinne – nur die angebetete, vom Individuum losgelöste, objektivierte Vorstellung der Erlösung ist, besteht in der theoretischen (und existenziellpraktischen) An- und Übernahme der Existenz Gottes als Faktum, das nicht bewiesen werden kann, da keine philosophische Beweisführung für die Existenz Gottes stichhaltig ist (also weder über das Dasein noch über das Nicht-Dasein Gottes etwas gesagt werden kann; s.o.). In diesem Sinne läuft Climacusʼ Glaubensbegriff auf Pascals „Wette“⁸⁶³ hinaus: An Gott zu glauben ist trotz aller unmöglichen Verifizierbarkeit ein Hoffnung spendender Prozess, bei dem es, wenn er gewagt wird, nichts zu verlieren gibt, sondern allein und nur der Gewinn der

 Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Denn: „[D]ie Gewissheit des Glaubens ist ja an der Ungewissheit kenntlich …“ (SKS 7, 459/ DUN, 700) Und: „[D]ie Ungewissheit … [ist] die Form der Gewissheit …“ (SKS 7, 460/ DUN, 701) Vergleiche auch die „Spiegel“-Anmerkung zum Ethischen (die Praxisdimension des Glaubens), durch das eine Transformation des Ungewissen zum Gewissen gelingt: SKS 7, 143/ DUN, 288.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.  SKS 7, 224/ DUN, 395. Zu diesem Zitat: vgl. Kapitel 2.3.1.  Vgl. auch Kapitel 2.3.3.1.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Erlösung von allem Leiden aussteht. Glaube bedeutet demnach: Sich an genau dieser Hoffnung festzuhalten. Diese Hoffnung basiert auf dem Vertrauen in die Möglichkeit der Erlösung und somit in die Existenz und auch Güte Gottes.⁸⁶⁴ Das Vertrauen des Individuums kann dabei mit Georg Simmel als „mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“ bestimmt werden (was dem Glauben als Zustand zwischen Gewissheit und Ungewissheit entspricht). Es ist die „affektive Hoffnung auf künftige Erfüllung“ (Thomas von Aquin) und stellt als diese die Grundlage für den praktischen Bestand des Glaubens dar. Denn ohne Vertrauen kann überhaupt keine (religiöse) Gesinnung Bestand haben (Kant).⁸⁶⁵ Und insofern es bei Climacus keine objektive oder phänomenologische Verifizierung für Gottes Dasein oder die Erlösung gibt, ist der Glaube als argumentationsloses Überzeugtsein – subjektivitätsstrukturell – das die Hoffnung speisende Vertrauen in Gott und zwar als Vertrauen in das eigene Vertrauen in Gott. Ein solches Vertrauen in das eigene Vertrauen beschreibt strukturell den Glauben als in sich geschlossenen subjektiven Prozess, der durch sich selbst stabilisiert wird. Für die existenzielle Dimension des Glaubens ist zu beachten, dass das, was das Vertrauen zuallererst notwendig macht, der Umstand ist, dass sich das Individuum überhaupt einer Kontingenz und Ungewissheit ausgesetzt sieht (was dem Begriff des Wagens entspricht). In das Vertrauen auf Gott ist demnach die permanente Ungewissheit einbezogen, die Erlösung auch jemals zu erreichen. Vertrauen bedeutet demnach, sich einem Kontrollverlust auszusetzen (was der Entschiedenheit ohne Garantien entspricht). Der Glaube als Praxis des Vertrauens kann dann im Sinne Tanja Gloynas definiert werden: Als ein „Sich-Verlassen auf ein Gegenüber“ – auf Gott – „angesichts eines ungewissen und risikobehafteten Ausgangs einer Handlung“ – dem Glauben/Wagen (etc.) – „unter freiwilligem oder erzwungenem Kontrollverlust.“⁸⁶⁶ Und im Sinne Climacusʼ ist der Kontrollverlust des Sich-Verlassens auf Gott sowohl erzwungen als auch freiwillig. Erzwungen ist er, weil auf Gott und dessen Gewährung der Erlösung kein Einfluss genommen werden kann; der Kontrollverlust ist also notwendig. Zugleich ist er freiwillig, weil zur grundlegenden Bestimmung des Glaubens das Loslassen von Erwartungen gehört. Dieses Loslassen des Glaubens von der Erwartung, die Erlösung zu erreichen, ermöglicht erst die Hoffnung, weil ansonsten ein durch Erwartungsdruck und  Zu Hoffnung, Glaube und Vertrauen als Antwort auf die Nicht-Evidenz Gottes: Schenk, „Von der Hoffnung, Person zu sein“, besonders S. 151.  Zu diesen Bestimmungen des Vertrauens durch Simmel, Thomas und Kant: vgl.Tanja Gloyna, „Vertrauen“, in HWPh, Bd. 11, S. 986 – 990, hier S. 986 f.  Gloyna, „Vertrauen“, S. 988.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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objektive Ungewissheit begründeter Nihilismus der Angst und Verzweiflung folgen würde.⁸⁶⁷ Das bedeutet jedoch nicht, dass der Glaube ein reines Vertrauen auf Gott ist – ohne Angst und Verzweiflung.⁸⁶⁸ Denn der Glaube ist ja gerade die Zwischenbestimmung von Innerlichkeit und Verzweiflung und in diesem Sinne die Zwischenbestimmung von Vertrauen und Kontrollverlust. Und eben diese Spannung wird mit dem Begriff des Empfangens abgedeckt. Denn das Empfangen ist ja selbst eine Zwischenbestimmung, die, wenn sie auf den vorliegenden Sachverhalt angewendet wird, im Vertrauen auf Gott besteht – und zwar als die durch die Innerlichkeit eingenommene Haltung der Offenheit gegenüber dem, was unbedingt gewollt wird (Erlösung), ohne sich auf das Erreichen des Gewollten zu versteifen.⁸⁶⁹ So ist die Innerlichkeit das Vertrauen, das im Bewusstsein der Abhängigkeit vom Gebenden (Gott) die Bereitschaft des Annehmenwollens erzeugt. Da diese durch Vertrauen generierte Bereitschaft nur Bestand haben kann, wenn sie durch die Hoffnung auf Gewährung (der Erlösung) getragen wird, die wiederum – wie oben gesagt – durch Vertrauen getragen wird, bilden Hoffnung und Vertrauen in Form der Innerlichkeit (des Glaubens wider den Verstand) ein reziprokes Verhältnis.

2.3.2.4.2 Religiöses Selbst-Verhältnis Was bedingt das Selbstsein? Welche Praxis entspringt der Struktur? Aus der Sicht der Strukturanalyse soll im Folgenden das Selbstsein bestimmt werden. Die dadurch gewonnenen Ergebnisse können im nächsten Punkt mit der Praxis des Glaubens in Verbindung gesetzt werden.

Onto-anthropologische Bedingung: Das Inter-esse realisieren Das Selbstsein wurde als ein Interesse für das Inter-esse bestimmt,⁸⁷⁰ womit das doppelte Interesse für das Ewige als auch für den konkreten Existenzvollzug be-

 So bestimmt Thomas von Aquin die Furcht als Mangel von Vertrauen. Vgl. Gloyna, „Vertrauen“, S. 986. Kierkegaard selbst gibt dutzende Beispiele,wohin Angst und Verzweiflung führen, wenn es keine Hoffnung gäbe (und zeigt damit natürlich auch, dass Angst und Verzweiflung gerade durch Hoffnung gespeist werden).  Nicht nur Climacusʼ und Anti-Climacusʼ Bestimmungen der Verzweiflung, sondern auch Vigiliusʼ Ausführungen im Begriff Angst sind hierfür zu konsultieren.  Das Empfangenwollen ist also der Zwischenzustand von Anstrengung und Überlassenheit (an Gott).  Vgl. Kapitel 2.2.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nannt ist.⁸⁷¹ Es geht also darum, die Existenz als Inter-esse auf der Basis des Interesses zu realisieren. Denn im Interesse führt das Individuum – existenz-anthropologisch – die nicht überwindbare ontologische Trennung von ideellem und faktischem Sein zusammen, indem es das im Denken erfasste ideelle Sein auf sein faktisches Sein (auf seine leibliche Existenz in der Welt) zurückbeugt und so als ein Zwischen an beiden ontologischen Polen bewusst partizipiert:⁸⁷² „[E]in wirklicher Mensch, aus Unendlichkeit und Endlichkeit zusammengesetzt, [hat] gerade darin seine Wirklichkeit …, dass er diese im unendlichen Interesse an seinem Existieren zusammenhält …“⁸⁷³ Vor dem Hintergrund der Strukturanalyse der Bewegung muss für das dabei zu realisierende Bewusstsein des eigenen Inter-esses beachtet werden, dass es zwei „Phasen“ der Wiederholungsbewegung gibt: die Hinbewegung zum Augenblick und den Augenblick selbst. In der Hinbewegung bleibt das Selbstsein als Versuch der Realisation des Inter-esses immer in einem Ungleichgewicht und konkreten Übergewicht der Zeit verankert. Dennoch ist der Existierende in der Hinbewegung zum Augenblick bestrebt, das (faktische) Übergewicht der Zeitlichkeit zu minimieren, im Versuch, sich dem Ewigen anzunähern. Im Augenblick hingegen wird das höchstmögliche Selbstsein erreicht. Denn in der asymptotischen Annäherung geschieht ein Zustand, in dem Zeit und Ewigkeit gleichwertig nebeneinander stehen⁸⁷⁴.⁸⁷⁵ Das Individuum ist gewissermaßen zentriert; in der Mitte und im größtmöglichen Gleichgewicht zwischen Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Konkretem und Allgemeinem (faktischem und ideellem Sein).⁸⁷⁶

Praxistheoretische Bedingungen: Entscheidung und Erleben Die absolute Entscheidung im Existenz-Medium ist und bleibt doch nur eine Annäherung …, weil das Ewige von oben auf den Existierenden zielt, der durch sein Existieren in Bewegung ist und daher in dem Augenblick, in dem das Ewige trifft, bereits einen kleinen Augenblick

 Vgl. Kapitel 2.3.2.3.2.  Climacus fasst dies anschaulich in dem bekannten Bild des „Wagenlenkers“: vgl. SKS 7, 284/ DUN, 473. Zur ausführlichen Deutung dieser Stelle: vgl. Furchert, Das Leiden fassen, S. 190 ff., besonders auch 190 (Anm. 8) zur Erläuterung der Nähe dieser Stelle bezüglich Platons PhaidrosMythos.  SKS 7, 275/ DUN, 461 f.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1/2.  „Dem Zustand, an zwei Stellen [Steder] auf einmal zu sein, kommt er [der Existierende, d.Vf.] am nächsten, wenn er in Leidenschaft ist, aber Leidenschaft gibt es nur momentweise …“ (SKS 7, 183/ DUN, 340 (Hervorhebung d.Vf.)).  „Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über das Existieren hinausgeht [udover].“ (SKS 7, 180/ DUN, 337)

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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davon entfernt ist. Der Beginn der absoluten Entscheidung im Existenz-Medium ist am allerwenigsten ein für allemal, etwas Zurückgelegtes,weil der existierende kein abstraktes x ist, das etwas zurücklegt, und dann wenn ich so sagen darf, unverdaut durch das Leben weitergeht, sondern der Existierende wird im Erlebten konkret und er hat es, indem er weitergeht, bei sich und kann es also jeden Augenblick verlieren; er hat es bei sich, nicht wie man etwas in der Tasche hat, sondern durch Dieses ist er dieses Bestimmte, was er näher bestimmt ist, und verliert seine eigene nähere Bestimmung, indem er es verliert. Durch die Entscheidung in der Existenz ist ein Existierender näher bestimmt zu dem geworden, was er ist; weist er sie von sich ab, dann hat nicht er etwas verloren, dann hat er nicht sich selbst und hat etwas verloren, dann hat er vielmehr sich selbst verloren und muss von vorne anfangen.⁸⁷⁷

Das Ewige, das „von oben auf den Existierenden zielt“, ist das Entschiedenwerden des Individuums durch das Ewige;⁸⁷⁸ ein Entschiedenwerden, das als „absolute Entscheidung“ (im „Existenz-Medium“⁸⁷⁹) an den Grund der Entscheidung bindet. Durch dieses Transformationsgeschehen wird ein beizubehaltendes Verhältnis zum Ewigen ins Leben gerufen. Wichtig ist diesbezüglich der letzte Satz des Zitats, in dem Climacus davon spricht, dass eine Abweisung der (absoluten) Entscheidung den Verlust des Selbstseins bedeuten würde.⁸⁸⁰ Das Ereignis des Augenblicks muss also angenommen werden, damit das Individuum es selbst ist. Aber: Ist der Augenblick einmal geschehen, bedeutet dies nicht, dass das Individuum für immer es selbst ist, weil von dem Verhältnis zum Ewigen auch wieder abgefallen werden kann („es also jeden Augenblick⁸⁸¹ verlieren“ kann; zum Abfallen⁸⁸²). Nur wenn das Individuum sich im Verhältnis zum Ewigen mit Entschiedenheit (Freiheit) hält, ist es es selbst. Selbstsein ist demnach als Prozess bestimmt.⁸⁸³

 SKS 7, 443/ DUN, 678 f. Zur nicht-religiösen Deutung dieser Stelle: vgl. Kapitel 2.2.4.2.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Dass Climacus den Begriff des Mediums verwendet, ist nicht uninteressant, weil Medium „Mitte“ bedeutet, also das Inter-esse benennt.  Dass Climacus von einer Abweisung spricht, betont eben, dass die Entscheidung kein aus dem Individuum allein vollzogener Akt der Freiheit ist, sondern ein dem Individuum widerfahrendes Ereignis darstellt (und zwar durch das Ewige, das „von oben auf den Existierenden zielt“, was strukturell nichts anderes besagt, als dass das Telos auf das Metron der Bewegung einwirkt, wodurch das Individuum „umgebildet“ wird; vgl. auch Kapitel 2.3.3.1.1).  Climacus verwendet hier den Begriff des Augenblicks nicht im existenziell-relevanten Sinne, sondern im gewöhnlichen Sinne eines Moments in der Sukzession der Zeit.  Vgl. unter anderem Kapitel 2.3.2.2.2.  Das Abfallenkönnen vom Verhältnis zum Ewigen bestimmt den Weg des Existierens (Selbstsein) als einen permanent unabgeschlossenen Prozess. Wichtig ist hierbei, dass die Unabgeschlossenheit des Wegs selbst nur Ausdruck der immerwährenden ontologischen Unabgeschlossenheit des Individuums ist. Sowohl im Augenblick als auch danach bleibt das Individuum ein Inter-esse und gelangt zu keinem Zeitpunkt in eine absolute Einheit von Zeit und Ewigkeit. Die ontologische Differenz ist zu keinem Zeitpunkt aufzuheben; der Existierende ist eine „unab-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Dass Climacus diesen Prozess des Sich-im-Verhältnis-zum-Ewigen-Haltens als Entscheidung bestimmt, bedeutet strukturell, dass das Selbstsein das Zusammenführen von Zeit und Ewigkeit ist; eine Ent-Scheidung; die Realisierung des Inter-esses. Zugleich bestimmt Climacus diesen Prozess phänomenologisch als Erleben. ⁸⁸⁴ Dies weist auf das Existieren als Vollzug in Leidenschaft, was im Zusammenhang mit der Entscheidung bedeutet, dass das Existieren nur dann als solche zu bezeichnen ist, wenn das Individuum sich in seiner Ganzheit des Inter-esses für sein Existieren einbringt. Das Selbstsein als leidenschaftliches Existieren wird dann nicht nur zum primären Gegenstand des Erlebens, sondern ist gleichfalls die konkrete Lebenswirklichkeit (das Selbstsein, das kein „abstraktes x“ ist), die vor dem Hintergrund des Ewigkeits-Verhältnisses gelebt wird. Das Selbstsein ist das, was von dem Ewigen her und auf das Ewige hin getan wird. Strukturell gesehen, ist das Selbstsein dann nichts anderes als die Wiederholung (die Bewegungshandlung, die durch das Ewige beginnt und auf das Ewige zielt). Existenziell gesehen, ist das Selbstsein dann nicht nur die persönliche Verbundenheit zu Gott, sondern eben die Innerlichkeit: „das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott“⁸⁸⁵, in dem sich „die Persönlichkeit“ durch Entscheidung „konsolidiert“, also auf bewusst gelebte Kontinuität setzt, was bei Gerichtsrat Wilhelm als „innere Unendlichkeit“⁸⁸⁶ und bei Climcus gerade durch die „unendliche Leidenschaft“ (der Wiederholung) bestimmt ist. Innerlichkeit ist demnach das Selbstsein als konkrete Lebenswirklichkeit, die die Realisierung des Inter-esses durch Freiheit (Entschiedenheit) und Erleben (Leidenschaft) ist; ein Werden in Leidenschaft. ⁸⁸⁷ Und in diesem Sinne sagt Climacus: „In der Leidenschaft ist das existierende Subjekt … am allerbestimmtesten es selbst.“⁸⁸⁸ – was

schließbare Synthesis“ (Janke, Historische Dialektik, S. 434). Diese ontologische Unabgeschlossenheit lässt das Existieren zu einem immerwährenden Bestreben des Individuums werden, die Spannung der ontologisch heterogenen Momente (Zeit und Ewigkeit) überwinden zu wollen; das nicht negierbare Im-Widerspruch-Sein (das Zwischensein) in einer sich aus diesem Widerspruch ergebenden nicht endenden Bewegung beenden zu wollen. Das Selbstsein ist als Existieren in Leidenschaft immer das Bestreben danach, sich in eine ontologische Einheit zu bringen und damit paradox die Identität im Nichtidentischen zu erlangen. Wolfgang Janke formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Das Selbst ist nicht Sein, sondern Werden als der freie, diskontinuierliche Versuch, in ständiger Bedrohung durch die Selbstverlorenheit im Widerspruch zu sich selbst zu finden. Das sind Bestimmung und Aufgabe des Menschen.*“ (Ders., Historische Dialektik, S. 436)  Vgl. Kapitel 2.2.5.1.  SKS 7, 397/ DUN, 618.  SKS 3, 164 / DEO, 716.  Vgl. auch Kapitel 2.2.2.2.  SKS 7, 181 / DUN, 338 (Hervorhebung d.Vf.).

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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ohne Bedeutungsverlust auch so formuliert werden kann: In der Innerlichkeit ist das existierende Subjekt am allerbestimmtesten es selbst. Denn gerade die Innerlichkeit ist die Umsetzung der Definition des Selbst: dem Interesse für das Inter-esse.

Existenziell-religiöse Bedingung: Sich-zum-Grund-Verhalten Bezüglich der Wiederholung ist das Selbstsein als leidenschaftliches Existieren im Verhältnis zum Ewigen sowohl die Bewegung zum nächsten Augenblick als auch die (in der Zukunft verortete) Rückkehr in den Zustand des Augenblicks. Diese Bewegung zur Rückkehr in den nächsten Augenblick⁸⁸⁹ ist eine Erneuerungsbewegung zur Potenzierung des Selbstseins (der höchsten Form des Inter-esses).⁸⁹⁰  Das Selbstsein ist als dieses rückkehrende Werden eine Bewegung, die in der Gegenwart von der zukünftigen Vergangenheit her (Anfang, Augenblick) für die ausstehende Zukunft (Ziel, Augenblick) vollzogen sein soll. Dies entspricht der von Constantin Constantiusʼ herausgestellten Wiederholungsfigur: „[D]ie eigentliche Wiederholung [ist] eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung [erindres forlænds] …“ (SKS 4, 9/ DW, 329) Das Ewige wird als das im Augenblick Eintretende durch die Zukunft hindurch als das Vergangene entdeckt bzw. das Vergangene wird als zukünftig Eintretendes antizipiert. Darin liegt eben die strukturelle Dimension, dass die Wiederholung sowohl eine rückwärtige wie vorwärtige Bewegung ist (vgl. Kapitel 2.3.2.3.2). Bringt man dies in Verbindung zum eben entwickelten Selbstsein, so ist die Wiederholung die Bewegung zum vorausgesetzten Grund (rückwärts), von dem her das Selbstsein die in die Zukunft hineinzutragende Stabilität erhält (vorwärts). Das kann auch so ausgedrückt werden, dass die Wiederholung Ausdruck des Selbstseins als Bewegung zur eigenen Potenzierung ist, das auf diesem Weg von Gott getragen ist (in Verbundenheit zu Gott steht; von ihm ergriffen ist; Leidenschaft). Als Rück-vorwärts-Bewegung zum Grund entspricht die Wiederholung – formal – durchaus der dialektischen Bewegung bei Hegel als „fortwährende und in sich zurückgehende“ Bewegung (Ders., Werke 3, S. 61), was als Rück-Vorwärts-Bewegung zum Grund zu verstehen ist (dazu: Ruschig, „Randglossen zur ,Bewegung des Begriffs‘“, S. 67 f.). Während bei Hegel die Bewegung eine identitätsgenerierende, sich selbst übersteigende Reflexionsbewegung darstellt, ist die Wiederholungsbewegung eine strukturell gebrochene Identitätsbewegung, in der Stabilität angestrebt wird, diese jedoch nicht in absolutem Maße erreicht werden kann, weil Grund und Selbst, Ewigkeit und Existenz (Zeit) nicht synthetisierbar sind. In diesem Sinne ist die Wiederholung als Rückvorwärts-Bewegung – existenziell gesagt – der Versuch persönlicher Kontinuität, die als angestrebter Prozess-Zustand permanent von kontingenten Weltverhältnissen (vgl. Kapitel 2.2.3) durchkreuzt wird.  Die Potenzierung des Selbstseins im Augenblick, zu der sich das Selbstsein beständig verhält, indem es den Augenblick erreichen will, ist jedoch in Anbetracht der Charakteristik des Augenblicks noch genauer zu bestimmen. Denn der Augenblick ist eine vorreflexive Erfahrung (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1). Indem durch die Wiederholungsbewegung dieser Zustand der Vorreflexivität erreicht werden will, will in einen ekstatischen Zustand hineingelangt werden, in dem das Individuum den Bezug zu sich verliert und ganz Gott überlassen ist (ohne jedoch vollständig in ihm aufgehen zu können). Das Bestreben des Selbstseins zu seiner eigenen Potenzierung ist das Be-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Das Selbstsein ist so in sich eine Bewegung zu sich selbst.⁸⁹¹ Dies beschreibt die dem Selbstsein immanente Rückbezüglichkeit; dass das Selbst ein reflexives Verhältnis, ein Sich-zu-sich-Verhalten darstellt.⁸⁹² Wichtig ist hierbei, wozu sich das Selbst in seiner Reflexivität verhält. Denn dieses Wozu ist der Augenblick, also das durch Gott erst ins Leben tretende Selbst. Das Selbst ist dadurch als reflexives Verhältnis gekennzeichnet, in dem es sich zu sich als das gottgegebene Selbst ⁸⁹³ verhält; also eine strukturell doppelte Fokussierung vornimmt: zu sich selbst und seinem Grund.⁸⁹⁴ Und dies beschreibt wiederum die Innerlichkeit als „das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott“.⁸⁹⁵ Einerseits stellt Gott dabei Halt und Maßstab des Selbst-Verhältnisses dar;⁸⁹⁶ andererseits ist das Individuum daran interessiert, sich selbst hervorzubringen (Entscheidung). Die Innerlichkeitspraxis ist demnach das bewusst beibehaltene, kontinuierliche Bestimmt-

streben zur Nichtswerdung des Individuums vor Gott. Diese allein aus der Struktur der Wiederholungsbewegung abgeleitete Schlussfolgerung wird sich als das wesentliche Merkmal der Erbauung herausstellen: vgl. besonders Kapitel 2.3.3.3.2/3.  Vergleiche auch die Besprechung der Wirklichkeit in Kapitel 2.2.2.2, wo sich die Struktur der Existenz eben als diese Bewegung zu sich selbst herausgestellt hat. In Anbetracht der Wiederholung ergibt sich: Da das Ziel der Bewegung dialektisch in der Bewegung enthalten ist, ohne es aus eigener Kraft erreichen zu können (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3), bleibt das Individuum auf dem Weg zu sich permanent von sich entfernt, auf Abstand, ohne Möglichkeit eines unmittelbaren Bei-sichSeins.  Vgl. Kapitel 2.2.2.2.  Das gottgegebene Selbst, das anhand der Erbauung auch als das ursprüngliche Selbst bestimmt wird (vgl. Kapitel 2.3.3.3.2), ist bei Climacus der sublimierende Ausdruck dafür, dass das Selbst als das, was das Individuum im Kern ausmacht und bestimmt, eine konkret-allgemeine und aus dieser theoretischen Spannung nicht zu befreiende Existenzkategorie ist (dazu: Kim, Der Einzelne und das Allgemeine, S. 33 f.; Fischer, Existenz und Innerlichkeit, S. 207 f.), mit der zum Ausdruck kommt, dass jegliche Individualität und Identität immer durch äußere (dem Individuum nicht zugehörende) und allgemeine Bestimmungen menschlichen Daseins, von Notwendigkeiten und Gegebenheiten bedingt ist (aber nicht allein durch sie bestimmt wird). In der Krankheit zum Tode wird dies von Anti-Climacus grundlegend entfaltet.  In diesem Sinne hat Martin Heidegger Recht, wenn er Kierkegaards Existenzbegriff über den von Karl Jaspers definiert und schreibt – „Existenz ist, d. h. ein Existierendes ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält.“ – und dabei Transzendenz „als das Transzendente und dieses als das Absolute – Gott“ bestimmt. (Ders., Der Anfang der abendländischen Philosophie, S. 83) Fraglich bliebe in Bezug auf Kierkegaard allein, was Heidegger – durch die Übernahme dieser Existenzdefinition von Jaspers (vgl. ebd., S. 82) – mit „seiner Transzendenz“ meint, was ein wenig zu sehr nach einem Subjektivismus klingt. Denn bei Kierkegaard/Climacus verhält sich das Individuum in der Innerlichkeit (= Existenz; vgl. Kapitel 2.1.1) zur Transzendenz überhaupt.  SKS 7, 397/ DUN, 618.  Vergleiche die Ausführungen zu Telos und Metron der Bewegung in Kapitel 2.3.2.2.2.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

305

werden des Individuums von Gott;⁸⁹⁷ die Freiheit zum Empfangen (durch die das Selbstsein in seinem Umwegcharakter – über Gott – bestimmt ist); ein ProzessZustand, in dem sich das Individuum als von Gott bestimmt annimmt (und so zugleich von sich loslässt und doch an sich festhält⁸⁹⁸).

2.3.2.4.3 Sich-Verstehen und Annehmen Die Innerlichkeit ist als Sich-zu-sich-vor-Gott-Verhalten das Selbstsein als VonGott-auf-Gott-hin-Existieren: das Selbstsein als Verhältnis zum Ewigen – der Glaube. Das impliziert, dass das Selbstsein strukturell durch Reflexion und Erfahrung, Verstand und Leidenschaft bestimmt ist, weil der Glaube selbst die Zwischenbestimmung von Verstand und Leidenschaft ist. Die dabei für den Glauben konstitutive Struktur von (objektiver) Ungewissheit und (subjektiver) Gewissheit hat sich bezüglich des Ewigkeitsverhältnisses als Annehmen desselben erwiesen: als Innerlichkeit des Empfangenwollens. Wie ist das Verhältnis von Verstehen und Leidenschaft im religiösen Selbstsein bestimmt? So habe ich mich selbst zu verstehen versucht: ist das Verständnis auch ärmlich und seine Ausbeute auch gering, so habe ich mich, um dem abzuhelfen, entschlossen, mit meiner ganzen Leidenschaft kraft des Verstandes zu handeln; vielleicht ist es doch auch zuguterletzt eine gesündere Diät, nur ein wenig zu verstehen, aber dies Wenige in der unendlichen Zuverlässigkeit der Leidenschaft in der Einfassung der Unendlichkeit zu besitzen, als viel zu wissen und nichts zu besitzen …⁸⁹⁹

 Hier zeigt sich erneut eine Parallele zu Anti-Climacus: So wie bei Climacus das religiöse Selbstsein, die Innerlichkeit, a) im höchsten Inter-esse zwischen Zeit und Ewigkeit und b) im Bestimmtwerden durch Gott (dazu Kapitel 2.3.3.3.3) liegt, so gilt dies in Entsprechung auch für AntiClimacus: „[S]ich selbst werden heißt konkret werden. Konkret werden heißt aber weder endlich noch unendlich werden, denn was konkret werden soll, ist ja eine Synthese.“ (SKS 11, 146/ DKT, 51) Wie bei Climacus ist für Anti-Climacus das Selbst ein Vereinen beider ontologischen Pole des Menschen (ein Inter-esse). Dies gelingt bei Anti-Climacus, dem ausschließlich von einem christlichen Standpunkt her sprechende Pseudonym, allein im Glauben, in dem das Selbst als ein durch einen Anderen, Gott, bestimmtes Selbst angenommen wird (vgl. DKT, zweiter Abschnitt, A, Kapitel I). Dazu ausführlich: Joachim Ringleben, Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar, Göttingen 1995, S. 68 – 95.  Vgl. dazu besonders auch Kapitel 2.3.3.3. – Denn obwohl das Individuum bei Climacus erst es selbst ist, wenn es sich vor Gott versteht und sich damit der Unverfügbarkeit des eigenen, gottgegebenen Seins bewusst wird, ist es zugleich durch den Aspekt des Wollens (Entschiedenheit) in einer ständigen Bewegung gefangen (die Wiederholung), in der es an sich festhält, indem es an Gott als die das Selbst setzende Macht festhält.  SKS 7, 168/ DUN, 321 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Climacus redet in der 1. Person Singular. Somit ist diese Stelle innerhalb der direkt praktizierten, den Leser spiegelnden Mäeutik Climacusʼ zu verstehen. Er spricht hierbei weder von Innerlichkeit noch von Glauben. Er erwähnt lediglich, dass es ihm um ihn selbst geht beziehungsweise dass er sich selbst verstehen will. Das Verstehen wird hierbei in unmittelbaren Zusammenhang zur Leidenschaft gestellt. Indem die Leidenschaft das prozessuale Verhältnis zur Ewigkeit bestimmt (und zwar in seiner phänomenologischen Erlebnishaftigkeit), liegt das Verstehen gerade im Erleben selbst, also nicht in einem reflexiven Interpretament. Das SichVerstehen besteht in einem In-Erfahrung-Bringen,⁹⁰⁰ was dem entspricht, dass das Individuum in der Leidenschaft am „allerbestimmtesten es selbst ist“ (s.o.). Und dies wird durch die – für die Unwissenschaftliche Nachschrift einmalige – terminologische Besonderheit der zitierten Stelle bestätigt. Denn Climacus spricht von einer „gesünderen Diät“, die darin besteht, „nur wenig zu verstehen“. Dem Sich-Verstehen liegt eine geistige Askese und zwar im ursprünglichen Wortsinn der „Übung“ zugrunde, die hier genauer als ein Vollzug der Einübung (Aneignung) gefasst werden kann. Dabei geht es um eine das Individuum absorbierende Überlassenheit an Gott als ein Sich-Vertiefen in die Abhängigkeit von und die Hin-Gabe an Gott. Und das bedeutet: Gott allein hat aufgrund seines „ewigen Mitwissen[s]“⁹⁰¹ die vollständige Durchsichtigkeit vom Individuum. Das Sich-selbst-Verstehen des Individuums ist hingegen eine Unmöglichkeit, weil sich das Selbst einer absoluten Durchsichtigkeit entzieht. ⁹⁰² Denn

 Vgl. Kapitel 2.2.5.3.  SKS 7, 131/ DUN, 273.  Vgl. auch Kapitel 2.2.5. Grundsätzlich wird dies schon von Gerichtsrat Wilhelm in Entweder – Oder gesagt, wenn er vermerkt, „dass kein Mensch sich durchsichtig zu werden vermag.“ (SKS 3, 184/ DEO, 743) Bei Climacus wird hingegen eine scheinbar konträre Bemerkung relevant, wenn er schreibt, dass „eine Bewusstseins-Durchsichtigkeit [Bevidsthedens-Gjennemsigtighed] … sich … langsam erwerben lässt.“ (SKS 7, 389/ DUN, 607) Climacus scheint eine Durchsichtigkeit des Individuums zu implizieren, vor allem auch dadurch, dass er stellenweise von einer „ExistenzDurchsichtigkeit“ spricht (dazu Kapitel 2.2.6). Aber selbst wenn die Durchsichtigkeit im Sinne der in Kapitel 2.2 gemachten Analyse verstanden wird, bedeutet Durchsichtigkeit nur das Ideal, das als unerreichbares angestrebt werden kann. So auch für die eben zitierte „Durchsichtigkeit des Bewusstseins“, die sich „langsam erwerben lässt“. Die Durchsichtigkeit, die sich langsam erwerben lässt, ist und bleibt letztlich einzig die Einsicht des Sich-niemals-vollständig-Verstehenkönnens, sei es aus dem Aspekt der Weltverwobenheit heraus (Kapitel 2.2) oder aus dem hier vorliegenden Aspekt des gottgegebenen Selbst heraus. Ganz ähnlich argumentiert Klaus Schäfer: „Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch besteht also darin, daß Gott Anteil an jener Durchsichtigkeit ermöglicht und fordert, die Gott selbst ist: daß er die Leidenschaft fordert, sich selbst zu verstehen. Sich selbst zu verstehen heißt somit bei Climacus: sich seinen Anteil an jenem Erkanntsein nehmen, aus dem man stammt …“ (Ders., Hermeneutische Ontologie, S. 45) Das Selbst-Verstehen wird durch Gott ermöglicht, aber nur insoweit, wie sich das Individuum seinen Anteil am

2.3 Religiöse Innerlichkeit

307

wenn – religiös gesehen – nur Gott das absolute Verstehen besitzt, der Mensch aber gerade durch den „absoluten Unterschied“ und die „absolute[] Verschiedenheit“⁹⁰³ zu Gott definiert wird, bleibt das menschliche Selbst-Verstehen einem unreduzierbaren Begrenztseins ausgesetzt.⁹⁰⁴ So schreibt Climacus explizit: „Gott gegenüber spreche ich immer mit Unbestimmtheit von mir selbst … [I]ch [sollte] ja gerade in meinem Verhältnis zu Gott lernen, dass ich nichts mit Bestimmtheit weiß …“⁹⁰⁵ Das Individuum hat sich in der Einübung des Ewigkeits-Selbst-Verhältnisses (Innerlichkeit) immer wieder von Neuem zu der Einsicht zu bringen, dass es weder sich, noch irgendetwas anderes (andere Menschen⁹⁰⁶, Sachverhalte, Gott selbst) jemals vollkommen verstehen wird. Das Selbst-Verstehen (und nicht nur dieses Verstehen) besteht somit in einem Loslassen aus Entzogenheit: ⁹⁰⁷ der Akzeptanz eines Nicht-Verstehens. ⁹⁰⁸ Die „gesunde Diät des Wenig-Verstehens“ ist demnach das Vertrauen auf Gott, in dem sich das Individuum auf eine Dezentrierung⁹⁰⁹ von sich einlässt, in der es

Erkanntsein (durch Gott) entnimmt, d. h. sich dessen annimmt, was ihm menschlichmöglich ist zu verstehen. In diesem Annehmen seiner selbst von Gott her, liegt zugleich auch das Annehmen Gottes – die „Durchsicht …, die Gott selbst ist“ (Schäfer). Folgt man Schäfers Ausführungen wieter, meint er damit kein Zusammenfallen von Selbstsein und Gott.  Vgl. SKS 7, 374 f., 445 f. / DUN, 588 f., 682 f.  Dieses Begrenztsein wird wesentlich durch zwei Faktoren bestimmt: Nicht nur ist es als das gottgegebene Selbst von außen gegeben (somit nicht dem Individuum allein zugehörig; vgl. auch Kapitel 2.2.3), sondern es besitzt in seiner Allgemeinheit (Ewigkeit) eine für den Menschen unverstehbare Umfassendheit und Universalität. Strukturell ließe sich das Nicht-Verstehen des gottgegebenen Selbst auch erklären, wenn beachtet wird, dass dasselbe im Augenblick gegeben wird, der Augenblick jedoch immer existenziell-negativ konnotiert ist: er ist das Vorreflexive, das Entzogene, das Unverfügbare, das, was den Verstand übersteigt, das Paradox.  SKS 7, 164 / DUN, 316 (Hervorhebung d.Vf.).  Vgl. dazu auch Kapitel 2.2.5.3.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  Sokratisch gesagt: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Dies ist der religiös-existenzielle Kern des sokratischen Existierens. Zu diesem in seiner von Climacus lancierten Betrachtungsweise: Kapitel 2.3.1. Angemerkt sei zudem, dass es besonders die erbaulichen Reden zwischen 1843 und 1845 sind, in denen Kierkegaard die Akzeptanz menschlichen Nichtvermögens ethisch ausweitet und als grundlegendes Konzept weltbezogenen Handelns herausstellt. Neben der Besprechung der Gelegenheitsreden von 1845 (vgl. Kapitel 3.2) sei besonders auf die Rede Gott zu bedürfen ist die höchste Vollkommenheit des Menschen (4R44) verwiesen, in der Kierkegaard das „Nicht-vermögen“, die Nichtigkeit des Menschen vor Gott, zum Fundament religiösen Existierens erhebt.  Climacus bringt diese im Wahrheitskapitel unter der These „Subjektivität ist die Unwahrheit“ zur Sprache. Dazu ausführlich: Grøn, „Subjektivität und Un-Wahrheit“, besonders S. 23 f. Die Dezentrierung wird anhand des Leidens und der Selbstvernichtung vor Gott stärker in den Blick rücken: vgl. Kapitel 2.3.3.2.3 und 2.3.3.3.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

erkennt, dass es sich nicht kennen kann⁹¹⁰ und die Wahrheit über sich nicht besitzt.⁹¹¹ „Aber diese Enthaltsamkeit [Afholdenhed] ist … der göttliche Genuss und die herzstärkende Erquickung der Ewigkeit.“⁹¹² Die „Enthaltsamkeit“ ist eben – dem (glaubenden) Vertrauen entsprechend – die Praxis des Empfangens als grundsätzliche Bereitschaft des Annehmens: ist Innerlichkeit als Annehmen der Ungewissheit.⁹¹³ Dabei wird das Eingeständnis in die Ungewissheit zum Modus der Integration der Ungewissheit in den Existenzvollzug, was ja die existenzielle Strukturdimension des Glaubens beschreibt, bei dem das objektiv Ungewisse mit Leidenschaft in die eigene Existenz einbezogen wird (Innerlichkeit). Das bedeutet aber nicht, dass das Individuum im Glauben gar nichts über sich erkennen kann. Das, was es erkennt, ist nichts weniger als eine sowohl anthropologische als auch religiöse Grundeinsicht: das Im-Verhältnis-Stehen und die Abhängigkeit vom Gegenüber (eben weil das religiöse Selbst-Verhältnis durch ein Verhältnis zum göttlichen Gegenüber geprägt ist). Die inhaltlichen Erschließungen und Evaluierungen dieser Erkenntnis, die Interpretanten des Das-bin-Ich, sind keine Verstehensergebnisse, sondern ein un(ab)geschlossenes Entdecken,⁹¹⁴ weil die Ungewissheit über sich, als auch über Gott einbezogen bleibt. Deshalb ist das Verstehen ein permanentes Dazwischen von Erschließung und Durchkreuzung des Objektiven, womit das Sich-Verstehen dem In-der-Schwebe-Sein des Glaubens⁹¹⁵ ver-

 Einerseits kann dies im Sinne Paulusʼ verstanden werden: Im „Sich-auf-Gott-Verlassen“ geschieht die „Preisgabe des Vertrauens auf die eigene Person“ (Gloyna, „Vertrauen“, S. 986). Zugleich ist dies gut augustinisch zu verstehen. Norbert Fischer vermerkt: „Nicht einmal sich selbst kann er zureichend erkennen. In der Analyse der Möglichkeit objektiver Erkenntnis bleiben ihm Gott und das eigene Selbst notwendige, aber unlösbare Aufgaben.“ (Ders., in Augustinus, Suche nach dem wahren Leben, S. XXIII) Der Unterschied zu Augustinus besteht darin, dass Climacus das Selbst nicht als abstraktes, im Innern verschlossenes Innen (vgl. Kapitel 1.1) versteht, sondern immer auch als einen in der Zeit existenzialisierten Prozess leiblicher Weltverwobenheit (vgl. Kapitel 2.3.3). Dagegen könnte eingewendet werden, dass dies bei Augustinus ebenso der Fall ist, sofern die Confessiones eine narrativ-biographische Selbst-Stilisierung der Person Augustinus sind, der sich ebenfalls in seiner Weltverwobenheit und Entwicklung darstellt. Diese vom Text der Confessiones ausgehende performative Betrachtung wird bei Augustinus aber nicht – wie bei Climacus – grundlagentheoretisch in die Problematik des gottgegebenen Selbst integriert.  Dazu: Arne Grøn, der dies anhand von Climacusʼ bekannter These „Subjektivität ist die Unwahrheit“ analysiert: Ders., „Subjektivität und Un-Wahrheit“, S. 24. Vergleiche auch Andreas Krichbaum, der dies von einer erkenntnistheoretischen Perspektive aus herausarbeitet: ders., Kierkegaard und Schleiermacher, S. 214 f.  SKS 7, 134/ DUN, 276. Dies ist eine Umschreibung der Erbauung als Ohnmacht in Geborgenheit: vgl. Kapitel 2.3.3.3.3.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.  Vgl. auch Kapitel 2.2.3.2.  Vgl. SKS 7, 460/ DUN, 701.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

309

gleichbar ist. Und die dabei implizierte Fluidität und Dynamik ist systematisch gesehen die in der Innerlichkeit gespiegelte Wiederholungsbewegung – was bedeutet, dass es letztlich überhaupt nicht auf das Objektive ankommt (eine feste Interpretation der eigenen Person), sondern dass das Verstehen von Vorbehaltlosigkeit durchdrungen ist und in die Subjektivität der Innerlichkeit verlagert wird. Das Verstehen besteht dann im Existieren selbst; der Lebensgestaltung vor dem Hintergrund des Gottes-Bezugs. Ausgehend von dem grundlegenden Aspekt des Annehmens ergibt sich für die Innerlichkeit: In ihr wird Gott als das objektiv Ungewisse und das eigene von Gott bedingte Personsein (Selbstsein) angenommen, das sich einem Verstehen entzieht. Die Innerlichkeit ist die Einübung des Verzichts auf Objektivität gegenüber dem Ewigen (Einübung des Sich-Überlassens an Gott) und der eigenen Person (Einübung eines Wenig-Wissens). Indem die Innerlichkeit dadurch eine doppelte Einübung gegenüber der objektiven Ungewissheit Gottes und des Selbstseins ist, das – in dieser Einübung – von einem objektiv Ungewissen (Gott) angenommen wird, ist die Innerlichkeit eine Praxis, in der sich das Individuum vor die Krisis umfassender Ungewissheit objektiven Verstehens bringt (was dem Begriff des Wagens entspricht⁹¹⁶) und sich selbst von Unverfügbarkeit umgeben und durchdrungen sieht (und das heißt auch, sich selbst nicht in Besitz und unter Kontrolle bringen kann). Und religiös zu existieren heißt: sich mit dieser umfassenden Kontingenz⁹¹⁷ zurechtzufinden.⁹¹⁸ So zeichnet sich die religiöse Innerlichkeit durch die Akzeptanz des Akzeptierenmüssens umfassender, objektiver Ungewissheit aus.⁹¹⁹ Als diese Akzeptanz ist die Innerlichkeit Ausdruck der Heilung einer  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.  Bei Vigilius ist eben dies die Angst: das in Erfahrung gebrachte Bewusstsein von Kontingenz. – Bei Climacus gibt nun die Innerlichkeit eine Antwort auf das Faktum der ontologischen Kontingenz: überhaupt da zu sein, ohne eine Begründung dafür zu haben – womit die Innerlichkeit gleichfalls die Antwort auf den berühmten Brief vom „11. Oktober“ in der Wiederholung ist. Denn das, was in der Innerlichkeit besessen wird (womit der Begriff der Inwendigkeit, des Zueigen-Seins relevant wird; vgl. Kapitel 1.3; auch Kapitel 2.3.3.1.1), ist zwar kein objektives Wissen darüber, warum ich da bin, aber die subjektive Gewissheit um den Grund des Ursprungs. Innerlichkeit ist die Geborgenheit in der Nicht-Verstehbarkeit und damit zwar kein Medium der Antwort, aber ein existenzieller Platzhalter für die Nicht-Verlorenheit: den Sinn des Lebens.  In diesem Sinne ist die religiöse Innerlichkeit die Perpetuierung des durch den Einbezug von Kontingenz und Offenheit bestimmten Selbst-Verstehens und -Seins nichtreligiöser Innerlichkeit (Kapitel 2.2) – auch und gerade in Bezug auf den Aspekt des Annehmens, der sowohl hier als auch in der nichtreligiösen Innerlichkeit auf die Ganzheit der eigenen Person bezogen ist.  Systematisch sind damit zwei Ebenen impliziert: Nicht nur der Umgang mit Ungewissheit und Unverständlichkeit und Unkontrollierbarkeit, sondern damit eben auch der Wechsel von einer aktiv-kontrollierenden Haltung des Verstehens zu einer Haltung der Passivität. Beide Aspekte, der des Loslassens als auch der der Transformation, werden von M. Jamie Ferreira als wesentliche

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

völligen Ortlosigkeit (der Verzweiflung/Angst), indem die (bei Climacus kaum überwindbare) Verstand-Gebundenheit zugunsten der strukturell gegengewichtigen Leidenschaft überwunden wird. Dies beschreibt den Glauben (als Praxis wider den Verstand). Doch die mögliche Heilung im praktizierten Glauben ist grundsätzlich ambivalent. In seinem systematisch-strukturellen Zwischensein von Verstand (Verzweiflung) und Leidenschaft (Innerlichkeit) liegt zwar eine Gelassenheit (Annehmen), bei der jedoch immer die Gefahr besteht, dass sie verloren geht.⁹²⁰ Deshalb ist die Gelassenheit der Innerlichkeit zugleich immer auch die größte Anstrengung, sich nicht von der Ungewissheit abzuwenden, sondern sich dieser auszusetzen. Nur in diesem (sozusagen) annehmenden Zurückrufen ist der Glaube und in ihm das Selbstsein vor Gott (Innerlichkeit). Die Innerlichkeit als Praxis des Glaubens ist dann Einübung und Wiederholung, Annehmen und Akzeptieren und letztlich genau der Zwischenzustand von Festhalten und Loslassen, Entschiedenheit und Gelassenheit und damit die Praxis von Wollen und Empfangen.

2.3.3 Religiöse Lebensform der Nichtswerdung „Religiös besteht die Aufgabe darin, zu fassen, dass man vor Gott gar nichts ist, oder darin, gar nichts zu sein und dadurch vor Gott zu sein, und dieses Nicht-Vermögen muss man immerzu vor sich haben, und sein Verschwinden ist das Verschwinden der Religiosität.“⁹²¹

2.3.3.1 Hinführung In diesem zweiten Teil zur religiösen Innerlichkeit wird es zunächst darum gehen, anhand von Climacusʼ religiöse Terminologie die Innerlichkeit systematisch weiter zu bestimmen; danach, die sich aus dieser Bestimmung ergebende Praxis des Individuums vor ideengeschichtlichem Hintergrund zu charakterisieren (Kapitel 2.3.3.1.2). Schließlich sollen die anthropologischen Aspekte des religiösen Menschseins (conditio humana) aufgedeckt werden. Dies wird anhand des Leidens (Kapitel 2.3.3.2) und der Selbstvernichtung vor Gott zugespitzt (Kapitel 2.3.3.3), wobei sowohl der Aspekt existenzieller Praxis als auch systematisch-strukturelle

Funktionen des „Sprungs“ (hier: Kapitel 2.3.2.3.1) herausgestellt: vgl. ders. „Surrender and paradox: imagination in the leap“, in Søren Kierkegaard – Critical Assessments of Leading Philosophers, Vol. III, S. 142– 167.  Vergleiche die Ausführungen zum Überwinden des Verstandes in Kapitel 2.3.2.4.1.  SKS 7, 419/ DUN, 647.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

311

Phänomene des religiösen Existierens einbezogen bleiben, um so das komplexe, von Climacus entworfene Bild der religiös-erbaulichen Lebensform in ihrer konkreten Gestalt(ung), der Innerlichkeit, aufzuzeigen (Kapitel 2.3.3.4).

2.3.3.1.1 Religiöse Existenzterminologie: Innerlichkeit Im Kapitel IV des zweiten Teils der Unwissenschaftlichen Nachschrift und dort wiederum im Abschnitt „Sectio II“, der in die Unterpunkte „A“ und „B“ eingeteilt ist, überführt Climacus seine Betrachtung des innerlichen Existierens als doppelt interessiertes Verhältnis zum Existieren und zum Ewigen in eine religiöse Terminologie, mit der er das religiös-innerliche Existieren nicht nur als die wesentliche Form des Existierens herausstellt, sondern die in den vorangegangenen Wahrheits- und Wirklichkeitskapiteln aufgezeigten Strukturen verschärft. Von besonderem Interesse für die vorliegende Untersuchung ist dabei der Abschnitt „A“ und in diesem wiederum die Paragraphen 1 und 2, deren existenzstrukturelle Ausführungen mit der bisherigen Betrachtung nicht neu erarbeitet werden müssen. Die Begrifflichkeiten, die dabei zunächst besonders wichtig sind, sind die als Trias erscheinenden Begriffe: Pathos – Umbildung – Resignation. Nach deren kurzer Klärung kann die Innerlichkeit begrifflich und im Anschluss die religiöse Lebenspraxis konkretisiert werden.

Pathos⁹²² Frater Taciturnus schreibt kurz: „Mein Pathos … ist die Innerlichkeit meiner Seele.“⁹²³ Das religiöse Pathos ist die Leidenschaft, mit der sich zur Vorstellung der ewigen Seligkeit, dem höchsten Gut oder – wie Climacus kurz darauf deutlich macht – zum „absolute[n] τελος“⁹²⁴ verhalten wird.⁹²⁵ Pathos ist als Bezugnehmen

 Eine knappe und präzise Analyse des Pathos-Begriffs in der Unwissenschaftlichen Nachschrift findet sich bei: Bühler, „Warum braucht das Pathetische den Humor?“, besonders S. 165 – 168.  SKS 6, 341 / SLW, 390.  SKS 7, 353/ DUN, 559.  Die Begriffe Seligkeit, Gut und Telos stehen dabei in einem funktionalen Zusammenhang: vgl. Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 269. Alle drei Begriffe bezeichnen die für den religiös existierenden Menschen zu erreichen wollende, jenseitige Erlösung (und insofern die Erlösung von Gott abhängt, verhält sich das Individuum im Pathos „eo ipso auch zu Gott.“ (SKS 7, 375/ DUN, 589)) Die subtile Nuancierung zeigt sich wie folgt: Während durch die Seligkeit die christlich-religiöse Existenzform in den Blick rückt, betont das ewige Gut die ethische Dimension. Das absolute Telos hingegen ist die am wenigsten welt- und lebensanschauliche Bestimmung,weil sie die existenzstrukturelle Bezeichnung (für die Seligkeit und das Gut) ist. Durch sie rückt die Existenz als Bewegung in den Fokus.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Handeln: „[I]n bezug auf die Wirklichkeit ist Tat das höchste Pathos.“⁹²⁶ Das pathetische Handeln ist durch „Interessiertheit“⁹²⁷ und damit zugleich durch das „Wollen“ und somit – phänomenologisch – durch eine Bewusstseinsbewegung bestimmt. So betont Climacus, dass sich zu einem „absoluten Telos“ zu verhalten bedeutet, „das Wollen im höchsten Sinne“⁹²⁸ zu praktizieren.⁹²⁹ Das Pathos ist die existenzielle Fokussierung der eigenen Erlösung.

Umbildung Die Umbildung der Existenz nimmt ihren systematischen Ausgangspunkt in der dialektischen Rückwirkung des Telos auf das Verhältnis des Individuums.⁹³⁰ Umbildung ist eine Transformation als ein Umgebildetwerden durch das Gewollte (das Geschehen des Augenblicks⁹³¹).⁹³² Die existenzielle Einsicht Climacusʼ ist hierbei, dass all das, was gewollt wird, das Individuum in dem Maße verändert,

 SKS 7, 355/ DUN, 562.  SKS 7, 356/ DUN, 563.  SKS 7, 358/ DUN, 567. Dieses „höchste Wollen“ entspringt einem tautologischen Normativ. Denn „das höchste τελος muss man um seiner selbst willen wollen.“ (SKS 7, 358/ DUN, 567) In platonischer Tradition soll das absolute Gute gewollt werden, weil es das Gute ist, über das hinaus nichts Gutes gedacht werden kann.  In der Praxis des Pathosʼ kommen dabei die Dialektik von Telos und Metron der Bewegungsanalyse (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2) zur Geltung: „[A]bsolut wollen heißt das Unendliche wollen, und eine ewige Seligkeit wollen heißt absolut wollen …“ Und das bedeutet: „absolut streben“ und „nicht … fertig zu sein“ (SKS 7, 359/ DUN, 567). Dieses Niemals-Fertigsein eines permanent-leidenschaftlichen Wollens ist Ausdruck dafür, dass die Bewegung eine vom Telos her bestimmte ist. Sich zur ewigen Seligkeit zu verhalten heißt, sich absolut zum Absoluten verhalten. „Im Verhältnis zu dem Grad, in dem das Individuum das existenzielle Pathos existierend ausdrückt …, im selben Grad steigt sein pathetisches Verhältnis zur ewigen Seligkeit.“ (SKS 7, 508/ DUN, 764)  „[D]as existenzielle Pathos [tritt] dadurch ein[], dass sich die Idee zu der Existenz des Individuums umgestaltend verhält.“ Das heißt, dass „das absolute τελος durch sein Verhältnis zur Existenz des Individuums diese … absolut umbildet …“ (SKS 7, 353/ DUN, 559) Und später konkretisiert Climacus dies weiter: „Bildet sie [die Umbildung, d.Vf.] ihm seine ganze Existenz nicht absolut um, verhält er sich nicht zu einer ewigen Seligkeit …“ (SKS 7, 358/ DUN, 567) „Eine ewige Seligkeit verhält sich zu einem wesentlich Existierenden pathetisch …“ (SKS 7, 356/ DUN, 564) Alle Zitate drücken die Wechselbeziehung zwischen Ewigkeit und Individuum aus: Das Ewige wirkt auf das Individuum ein; das Individuum verhält sich zum Ewigen; die Bewegung zum Telos wird vom Telos beeinflusst (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2/3). Es geht also um ein Umgebildetwerden, was bisher als Ausgerichtetwerden (Kapitel 2.3.2.2.2), als Gesprungenwerden (Kapitel 2.3.2.3.1) und Bestimmtwerden (Kapitel 2.3.2.4.2) gefasst wurde.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Vergleiche auch Lincoln, Äußerung, S. 114.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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wie es gegenüber dem Ziel des Wollens notwendig ist.⁹³³ Zwischen Bewegung und Ziel besteht demnach eine dialektische Einheit und zwar durch die investierte Energie (Pathos; Leidenschaft). Von Climacus wird hierbei also nicht nur das Erreichenwollen, sondern ebenfalls die Bereitschaft, das Erreichenwollen auch durchzuhalten, betont.⁹³⁴ Die Umbildung bezeichnet demnach das pathetische Verhältnis des Individuums zum absoluten Telos und somit das Festhalten an einer Zielsetzung (was in den Philosophischen Brocken als „Plan“ bestimmt wird⁹³⁵). Die drei wesentlichen Eigenschaften der Umbildung sind: 1. Als Praxis des pathetischen Verhältnisses ist die Umbildung die Existenzialisierung des Ewigen⁹³⁶.⁹³⁷ 2. Die in der Umbildung

 Das Ziel der Umbildung liegt also, kurz gesagt, in der Veränderung des Individuums, nicht nur durch das, was es will, sondern auch dadurch, dass es sich mit dem, was es will, beschäftigt. Das existenziell Entscheidende ist nicht das Resultat, sondern die ständige Bewegung als kontinuierliche Wandlung in die sich immer mehr vertiefende Identifikation mit dem, was erreicht werden will. Eben dies ist Innerlichkeit.  Für die Umbildung gilt das Gleiche, was bezüglich des Glaubens (anhand des Wagens; vgl. Kapitel 2.3.2.4.1) herausgehoben wurde: Weil das Ziel (das Ewige) das Entzogene ist, liegt existenziell das Ziel im energetischen Aufwand zum Auffinden des Ziels, womit nicht das Fertigsein, sondern der Prozess, nicht die Wahrheit an sich, sondern die Zeitbesetzung, d. h. die Beschäftigung mit der Wahrheit und damit auch die mit dieser Beschäftigung einhergehende Veränderung des Individuums betont wird. „[D]ie Wahrheit [ist] die Verwandlung des Subjekts in sich selbst.“ (SKS 7, 44/ DUN, 166) und zwar in Anbetracht des zu erreichenden Ziels – müsste hinzugefügt werden. Die Bewegung (Veränderung) entspricht in ihrem Maß dialektisch dem Ziel. Und dies kann auch anhand der folgenden Stelle deutlich gemacht werden. Climacus notiert: „Was die Vorstellung von Gott oder von der eigenen ewigen Seligkeit bei einem Menschen bewirken soll, ist, dass er seine ganze Existenz im Verhältnis dazu umbildet, und diese Umbildung ist das Absterben von der Unmittelbarkeit. Dies geschieht langsam, aber dann wird der Mensch sich schließlich* in der absoluten Vorstellung von Gott absolut gefangen fühlen …“ (SKS 7, 438/ DUN, 672 (Hervorhebung d.Vf.)) Die Umbildung wird als die Einübung in das Verhältnis zu Gott (und der ewigen Seligkeit) herausgestellt, in der die Beschäftigung mit dem Ziel die Veränderung des Individuums bewirkt. So ist die Umbildung derjenige aktive Wandlungsprozess des Individuums, dem die Struktur der Wiederholungsbewegung innewohnt; in dem Ziel und Bewegung zum Ziel sich gegenseitig bedingen und jeweils auseinander hervorgehen. Die Umbildung beschreibt die Veränderung des Individuums in Abhängigkeit vom zu erreichenden Ziel; die Bewegung, die dem Ziel entspricht; die Wandlung, die für das Ziel erforderlich ist.  Vgl. Kapitel 2.3.2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.  „[D]as Pathetische liegt nicht darin, dass man von einer ewigen Seligkeit Zeugnis ablegt, sondern darin, dass man seine eigene Existenz in ein Zeugnis von ihr verwandelt.“ (SKS 7, 359/ DUN, 568) „Soll sich also ein Existierender zu einer ewigen Seligkeit pathetisch verhalten, so kommt es darauf an, dass seine Existenz das Verhältnis ausdrückt.“ (SKS 7, 358/ DUN, 566) Dass die Existenz selbst zum Zeugnis der ewigen Seligkeit werden soll, bedeutet, dass die Existenz von dem pathetischen Verhältnis zum Ewigen durchdrungen wird (= Umbildung). Das Existieren als

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

zum Ausdruck kommende Relevanz des Ewigen zeigt an, dass das Ewige für das Individuum da ist; die Praxis ist der subjektive Beweis⁹³⁸ für das Ewige.⁹³⁹ 3. Die

Vollzug eines verwirklichten Bezugs zum Ewigen ist das Relevantwerden des Ewigen, dessen Relevanz für das eigene Leben in jedem Moment durch das eigene Verhältnis des Individuums gelebt wird. Dementsprechend heißt es zum Pathos, dass das Interesse „dadurch ausgedrückt wird, dass ich meine ganze Existenz handelnd nach dem Gegenstand des Interesses umbilde …“ (SKS 7, 356/ DUN, 563).  In der Umbildung selbst liegt der Beweis für die je eigene, persönliche Relevanz des Ewigen. Climacus spricht hierbei nicht von einem objektiven Beweis für das Ewige, das bei Climacus von vornherein als objektives Sein vorausgesetzt wird, sofern die gesamte anthropo-ontologische Struktur des Menschen – das Inter-esse – nicht ohne das Ewige zu denken ist. Dadurch ist auch folgender, sich ergebender Zirkel zu erklären, wenn er schreibt: „[D]as absolute τελος ist nur dann da, wenn sich das Individuum absolut zu ihm verhält …“ (SKS 7, 361/ DUN, 570) Das Dasein des Ewigen hängt vom Verhältnis zu ihm ab. Jedoch hängt das Verhältnis dialektisch zugleich vom Ewigen ab. Die Relevanz des Ewigen wird für das Individuum durch die Dialektik von Verhältnis und Verhältnisgegenstand bestimmt, die in einer gegenseitigen Abhängigkeit stehen. Eben dies zeigt, dass Climacus nicht von einem objektiven Beweis des Ewigen spricht, weil das Ewige sowohl Voraussetzung als auch Folge des Verhältnisses ist (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1).  „[D]as Dasein des absoluten ethischen Gutes [lässt sich] nur dadurch beweisen …, dass das Individuum selbst existierend ausdrückt, dass es da ist …“ (SKS 7, 385/ DUN, 602) Die ewige Seligkeit ist für das Individuum subjektiv da, wenn das Individuum den Vollzug des verwirklichten Bezugs zu ihr praktiziert. Verhältnis und Verhältnisgegenstand, Bewegung und Ziel stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander. So kann Climacus sagen: „[D]ie ewige Seligkeit, als absolutes Gut, [hat] die Eigentümlichkeit, dass sie sich einzig durch die Weise des Erwerbens [Erhvervsmaaden] definieren lässt …“ (SKS 7, 388/ DUN, 606) Die ewige Seligkeit wird wirklich und wahr (denn als Wahrheit definiert Kierkegaard ja die Aneignung; hier: „Erwerben“; vgl. Kapitel 2.3.2.4.1), wenn sich das Individuum mit dem Gedanken der Seligkeit identifiziert (was die Innerlichkeit als Handlung definiert: vgl. Kapitel 2.2.4.1) und dieser in permanenter Praxis der Aneignung verinnerlicht und zu eigen macht (dazu auch: A. Furchert, Das Leiden fassen, 232). Dies wird von Climacus auch so formuliert: „[D]as absolute Verhältnis ist eben dadurch das absolute, dass es das Seine für sich selbst hat, dass es sich zum Absoluten verhält, ein Kleinod, das man nur ganz haben kann und dass sich nicht eintauschen lässt.“ (SKS 7, 491 / DUN, 742) Entweder ist das Verhältnis zum Absoluten (Gott; Seligkeit) ein absolutes Darin-Existieren (Handeln), in dem sich mit dem Gegenstand des Interesses vollständig identifiziert wird, oder das Verhältnis ist gar nicht. Ist das Verhältnis absolut und entspricht in seiner Intensität dialektisch dem Verhältnisgegenstand (Entzogenheitsdialektik), ist das Absolute, zu dem sich mit höchstem energetischen Aufwand verhalten wird (Pathos), für das Individuum da und zwar in dem für das Absolute entsprechende Maß, also in einem nicht mehr zu negierenden, unbedingten und das eigene Leben beständig begleitenden Maß. Dieses subjektive Dasein des Absoluten hängt von der Permanenz des Verhältnisses und dem persönlichen Bemühen ab, weshalb Climacus einerseits die Metapher des „Kleinods“ wählt, weil das Absolute nicht für jeden in dem von Climacus intendierten Sinne da ist, und andererseits, dass es durch nichts eingetauscht werden und man es nicht einfach von jemand anderem bekommen kann. Das subjektive Dasein des Absoluten muss erarbeitet werden, ist also an den je eigenen praktischen Vollzug (Innerlichkeit; Aneignung) gebunden.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Umbildung ist so die Abwendung von der Zeit/Welt, hin zum Ewigen⁹⁴⁰,⁹⁴¹ aber in dem Widerspruch, nicht aus der Welt herauskommen zu können. Dieser letzte Sachverhalt führt strukturell und existenziell zur Resignation.

Resignation Mit der Resignation ist von Climacus zunächst jene in der Umbildung verankerte Einstellung des Individuums benannt, sich von der Zeit und der Welt zugunsten des Ewigen abzuwenden,⁹⁴² womit ganz im Sinne des lateinischen resignare ein Verzichten und Aufgeben (nicht im Sinne des Beendens, sondern eben im Sinne des Sich-Abwendens) betont wird. Doch die Resignation bezeichnet als Sich-Abwenden die konkrete Aufmerksamkeit des Individuums auf seine Weltverwobenheit („Unmittelbarkeit“; die leibliche Verwicklung in die Um- und Mitwelt), die durch die resignierende Einstellung danach überprüft wird, ob es einen innerweltlichen und objektiven Anhaltspunkt für die Erlösung gibt.⁹⁴³ In diesem in-

 Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  Die Umbildung ist das Sich-Hineinbegeben in einen solchen Lebensvollzug. Strukturell lässt sich das Verhältnis von Pathos und Umbildung dadurch kurz als dialektisches, gegenseitiges Bestimmtwerden charakterisieren. Denn durch das (vom Ewigen her entstehende) Pathos wird die Existenz umgebildet und die Umbildung ist das selbstgewollte Annehmen des pathetischen Verhältnisses, weshalb das Pathos erst durch die Umbildung wirklich ist, d. h. gelebt wird. In Kapitel 2.3.2.3.1 wurde dieses Umgebildetsein als „Umkehr“ (Philosophische Brocken) diskutiert. Die lebenspraktische Konsequenz dessen liegt dann in Folgendem: „Ist für ihn nur eine ewige Seligkeit sein höchstes Gut, so bedeutet dies, dass die Momente der Endlichkeit ein für allemal durch Handlung zu etwas herabgesetzt sind, was der ewigen Seligkeit gegenüber aufgegeben werden muss.“ (SKS 7, 356/ DUN, 564) „[G]ibt es etwas, was er um ihretwillen nicht aufgeben will, so verhält er sich nicht zu einer ewigen Seligkeit.“ (SKS 7, 358/ DUN, 567)  Deshalb benennt Climacus die Resignation auch funktional als „Richtungs-Major“ (SKS 7, 370/ DUN, 582).  Denn: „Im Verhältnis zum absoluten τελος benimmt sich das Individuum … richtig, wenn es sich so benimmt. Bei allem, was es unternimmt, wo es ist, wie sein Befinden [Tilstand] ist, ob die Welt ihm winkt oder droht, im Scherz oder Ernst, prüft die Resignation vor allem nach, dass der absolute Respekt vor dem absoluten τελος bewahrt sei.“ (SKS 7, 372 / DUN, 584 f.) „Es braucht bloß seine ganze Unmittelbarkeit mit all ihrem Verlangen u.s.w. durch die Resignation visitieren zu lassen. Findet es einen einzigen festen Punkt, eine Verhärtung, verhält es sich nicht zu einer ewigen Seligkeit. … Entdeckt dagegen die visitierende Resignation keine Misslichkeit, so zeigt sich also im Augenblick der Visitation, dass sich das Individuum zu einer ewigen Seligkeit verhält.“ (SKS 7, 359 f. / DUN, 568) Indem Climacus von der visitierenden Resignation spricht, die auf die Weltverwobenheit achtet, um so zur ewigen Seligkeit zu führen, besitzt die Resignation eine Eigenschaft, die Vigilius Haufniensis der Angst zuspricht: „[D]ie Angst [dringt] in seine Seele hinein und durchforscht alles und ängstigt das Endliche und Kleinliche aus ihm heraus und führt ihn dahin, wohin er will.“ (SKS 4, 458/ DBA, 636) Auch die Angst ist durch eine doppelte Aufmerk-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nerweltlichen Verhältnis zum Ewigen wird die Welt der Abstoßungspunkt zum Ewigen hin. Die Resignation beschreibt dabei nicht einfach einen Umschlag, sondern eine Bewegung, bei der das Individuum durch das „Außen“ hindurch muss, um in das „Innen“ zu gelangen;⁹⁴⁴ zur Konzentration auf die Ewigkeit. So impliziert die Resignation einerseits die Einübung des Verzichts auf Objektivität,⁹⁴⁵ womit sie als der Zustand des Individuums bestimmt ist, in dem es sich vor

samkeit gekennzeichnet: auf die Endlichkeit (Zeitlichkeit), um sich von dieser weg, allein auf die Ewigkeit hin zu konzentrieren. Das heißt in Entsprechung zur Resignation, dass auch die Angst keinen Halt in der Endlichkeit und Zeitlichkeit findet. Jedoch liegt die in der Angst entdeckte objektive Haltlosigkeit und die dadurch vorzunehmende Abwendung von der Endlichkeit – im Unterschied zur Resignation – darin, dass sie in der Endlichkeit allein die Möglichkeit erblickt, die in ihrer Unbestimmtheit das Individuum vor Orientierungslosigkeit stellt. Dieser Orientierungslosigkeit muss sich bei Vigilius gestellt und sie muss in gewissem Sinne akzeptiert werden, um in dem Ausgesetztsein an die Offenheit der Möglichkeit den dahinter liegenden Grund – die Ewigkeit – zu entdecken. „Wer durch die Angst gebildet wird, der wird durch die Möglichkeit gebildet, und erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird,wird nach seiner Unendlichkeit gebildet.“ (SKS 4, 455/ DBA, 632) In diesem Freisein für die Ewigkeit (Unendlichkeit) durch die Angst drückt sich wiederum und zugleich die Eigenschaft der Resignation aus: auf die Endlichkeit zu achten, um dadurch umgebildet zu werden.  Als die Umbildungs-Bewegung ist die Resignation Ausdruck der christlichen metanoia. Zu dieser: Kapitel 2.3.2.3.1.  Der climacische Resignationsbegriff entspricht hierbei dem von Johannes de Silentio in Furcht und Zittern. Jochem Hennigfeld vermerkt in seinen Ausführungen zur Resignation in Furcht und Zittern: „Zur Resignation gehört … die Fähigkeit, von der Vielfältigkeit endlicher Bestimmungen abzusehen.“ (Ders., „Resignation. Zu einem Grundmotiv bei Schopenhauer und Kierkegaard“, in Schopenhauer – Kierkegaard, S. 35 – 46, hier S. 41) In Bezug auf Climacus bedeutet dies, dass sich das Individuum in seinem Bestreben, die Erlösung zu erlangen, keinen phantastischen Vorstellungen von der Seligkeit hingeben soll: „[D]er Wollende [will] von diesem τελος nicht einmal etwas wissen, abgesehen davon, dass es da sei, denn solange ihm ein Wissen darüber zuteil wird, wird er schon in seinem Vorwärtsstreben [Farten] aufgehalten.“ (SKS 7, 359/ DUN, 567) Als das Ewige kann die ewige Seligkeit nicht objektiv erfasst werden; über sie kann nichts objektiv gewusst werden. Sie kann – wie von Climacus selbst getan – zwar durchaus näheren Bestimmungen unterzogen werden (z. B.: „In der ewigen Seligkeit gibt es kein Leiden …“ (SKS 7, 411 / DUN, 636)), jedoch nicht in solchem Maße, dass eine konkrete Vorstellung des Zustands eines ewigen Lebens eintritt. Wenn Climacus schreibt: „In bezug auf eine ewige Seligkeit als das absolute Gut bedeutet Pathos …, … dass diese Vorstellung für den Existierenden seine ganze Existenz umbildet.“ (SKS 7, 352 / DUN, 559) ist gesagt, dass es nicht auf die konkrete Vorstellung, sondern auf die Bedeutung der Vorstellung ankommt (dies findet sich in der transzendentalanalogen Diskussion der Trauungsrede wieder, in der es um die handlungsanleitende Vorstellung geht; vgl. Kapitel 3.2.3). Der Unterschied besteht darin, dass die Bedeutung der Vorstellung ein auf existenzielle Praxis zielendes Verhältnis zur Seligkeit impliziert,während eine konkrete Vorstellung im Rahmen menschlichen Verstehens und somit im Rahmen des Vorstellbaren geschähe, das in Bezug auf eine Erlösung ein willkürliches, phantastisches Ausmalen dieses Zustands wäre. Das Individuum würde davon träumen, wie es wäre erlöst zu sein, ohne – sowohl im Moment des Träumens, als

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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die Bedeutung der Seligkeit als das objektiv Unverstehbare zurückruft.⁹⁴⁶Andererseits zeigt sich die strukturelle Konsequenz, dass in der Resignation die Aufmerksamkeit des Individuums auf beide Pole der ontologischen Differenz gerichtet ist.⁹⁴⁷ Climacus nennt dies – in Anlehnung an Johannes de Silentio – die „Doppelbewegung“⁹⁴⁸, die die Einübung der „absolute[n] Distinktion“⁹⁴⁹ von Zeit

auch im durch die Vorstellung eines phantastischen Zustands bestimmten Verhältnisses zur Seligkeit – aktiv etwas dafür zu tun, die Erlösung zu erreichen. [Anm.: Dies entspricht dem Gedanken, den Kierkegaard in den Gelegenheitsreden anhand des Wünschens herausstellt: etwas zu wollen, ohne etwas dafür tun zu wollen; vgl. Kapitel 3.2.2.2. Das Individuum bleibt auf Distanz.]. Nicht das Verlieren in der Phantasie, sondern in der Konzentration auf die Gegenwart, dem Bewusstsein, im Hier und Jetzt etwas tun zu müssen, nicht nur, um die Seligkeit erreichen zu wollen, sondern um ihr eine in der Existenz näherungsweise entsprechende Form zu geben – sie durch die beständige, eigene Beschäftigung und Identifikation mit ihr auszudrücken, liegt dem Gedanken (nichts von dem absoluten Telos wissen zu wollen) zugrunde. Die Aufgabe des sich pathetisch verhaltenden Individuums liegt darin, dass sich immer wieder vor die objektive Nichterkennbarkeit des Zustands der ewigen Seligkeit zurückgerufen werden muss und dass damit eine beständige Aufmerksamkeit der Gegenwart gegenüber zu praktizieren ist. Für die Umbildung zu einem pathetischen Verhältnis hat dies zur Folge, dass sie einerseits die vollständige Fokussierung auf das Ewige bedeutet, sich das Individuum aber nicht in dem pathetischen Verhältnis phantastisch in das Ewige (hinein) verlieren soll, sondern sich selbst als ein in der Welt und der Zeit verortetes Wesen wahrzunehmen hat. Damit ist die Umbildung Ausdruck einer konkret in Erfahrung zu bringenden Spannung zwischen der aufrecht zu erhaltenden Aufmerksamkeit, in der Welt zu sein und sich zugleich gänzlich auf das Ewige zu konzentrieren (und sich von der Welt zugleich abzuwenden). Diese Doppel-Fokussierung ist die Resignation.  Die „Resignation will das absolute τελος jeden Augenblick vor allem Fraternisieren sicherstellen.“ (SKS 7, 364 / DUN, 575) Dies besagt eben, dass die ewige Seligkeit gegenüber all dem, was einem in der Zeit und in der Weltverwobenheit begegnen kann, als das kontrastive Gegenüber bestimmt wird, das nirgends in der Welt auszumachen ist. Hierbei wird der Begriff der Resignation im Sinne eines resignierenden Aufgebenwollens durchaus relevant. Dafür ist zu beachten, was im Kapitel 2.3.2.4.1 zum Glauben gesagt wurde: dass der Verstand daran verzweifelt, das Ewige objektiv nicht verstehen zu können und dasselbe dadurch als das Unverstehbare und somit als das in der Zeit und Endlichkeit nicht Auffindbare und Verortbare innerlich anzunehmen ist; der Verstand aber zugleich immer danach strebt, objektive Sicherheit zu erreichen. Wird dies beachtet, so gibt Climacus mit dem Begriffsgebrauch der Resignation an, dass gegenüber der ewigen Seligkeit und Gott im Individuum grundsätzlich die Tendenz vorliegt, das Verhältnis zu Gott und Seligkeit aufzugeben, gerade weil es keinen objektiven Halt für den Verstand gibt.  Vgl. besonders Kapitel 2.3.2.3.2. – Die Kernkritik an Kierkegaards Innerlichkeitskonzept ist, dass Innerlichkeit bei ihm bedeutet, den Blick für die Welt zu verlieren (in der vollständigen Abkehr von dieser: vergleiche die in Kapitel 1.3 angeführten Stellen Adornos, Heydebrands, Blumenbergs und Arendts). Aber schon ein genauer Blick auf die Strukturen des religiösen Existierens wie hier die Resignation zeigt das Gegenteil, was sich anhand der ethischen Dimension religiösen Existierens weiter bestärken wird (vgl. die Kapitel 2.3.3.4.2/3).  SKS 7, 372 / DUN, 585.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

(Endlichkeit) und Ewigkeit (Unendlichkeit) ist.⁹⁵⁰ Wenn das Individuum also „bifrontisch“⁹⁵¹ das Inter-esse realisiert,⁹⁵² ist es durch die Resignation in der Umbildung als Praxis des Pathos. Für die Existenzgestaltung, also praxistheoretisch, ergibt sich daraus, sich ganz und gar auf das Ewige, Gott und die Erlösung zu fokussieren und alle im eigenen Leben vorzufindenden Erfahrungszusammenhänge, persönlichen Beziehungen (etc.) vor dem Hintergrund dieser Fokussierung nicht nur zu betrachten, sondern zu leben.⁹⁵³ Und eben dies ist Innerlichkeit.

Innerlichkeit Wie geht es … mit der Innerlichkeit [Indvortesheden] zu? Ja, das geht so vor sich: dass die Aufgabe darin besteht, das absolute Verhältnis zum absoluten τελος einzuüben, so dass das Individuum jenes Maximum zu erreichen strebt: sich zugleich zu einem absoluten τελος und zum relativen zu verhalten – … indem es sich absolut zu einem absoluten τελος und relativ zum relativen verhält. Das letztere Verhältnis gehört der Welt, das erstere dem Individuum selbst an, und schwierig ist es, sich auf einmal absolut zum absoluten τελος zu verhalten und so im gleichen Augenblick wie andere Menschen an diesem und jenem teilzunehmen.⁹⁵⁴ Die Aufgabe ist also, sein Verhältnis zum absoluten τελος so einzuüben, dass man es beständig bei sich hat, während man in relativen Zwecken der Existenz verbleibt …⁹⁵⁵ [D]as Maximum der Aufgabe ist, sich auf einmal absolut zum absoluten τελος und relativ zum relativen verhalten zu können, oder das absolute τελος immer bei sich zu haben.⁹⁵⁶

 Unter anderem: SKS 7, 364 / DUN, 575. Das, was in permanenter Bewegung einzuüben ist, ist der doppelte Blick der Resignation, durch den sich das Individuum vor Gott erkennt. „In der Existenz heißt es beständig: vorwärts, und solange es vorwärts heißt, geht es darum, die absolute Distinktion einzuüben, geht es []um[] die Fertigkeit, sie immer leichter zu vollziehen …“ (SKS 7, 374 / DUN, 587)  Es sei betont, dass die „Doppel-Bewegung“ (SKS 4, 131 / DFZ, 212) der Resignation bei Silentio etwas anders konnotiert ist als bei Climacus. Bei Silentio kennzeichnet sie die Bewegung des Glaubens, in der über die Unendlichkeit auf die Endlichkeit zurückgekommen wird (vgl. SKS 4, 132 f. / DFZ, 214 f.). Bei Climacus hingegen wird diese Bewegung nicht durch die Resignation, sondern durch die Innerlichkeit ausgedrückt (Selbstsein vor Gott; „Milde“ zu Mitmenschen: Kapitel 2.3.3.4.2/3)  SKS 7, 88/ DUN, 219.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.2.  So heißt es zur Umbildung: „Das einer ewigen Seligkeit entsprechende adäquate Pathos ist die Umbildung, durch welche der Existierende im Existieren alles in seiner Existenz im Verhältnis zu jenem höchsten Gut verändert.*“ (SKS 7, 354/ DUN, 561 f.)  SKS 7, 370/ DUN, 582 f.  SKS 7, 371 / DUN, 584.  SKS 7, 376/ DUN, 591.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

319

In den zitierten Stellen fällt auf, dass die Innerlichkeit einer doppelten Bestimmung unterliegt. Sie wird sowohl als Einübung/Aufgabe als auch als Maximum der Aufgabe betrachtet. In Anbetracht der religiösen Terminologie Climacusʼ heißt das: Die Innerlichkeit bezeichnet sowohl die sich durch die Resignation umbildende als auch umgebildete Existenz.⁹⁵⁷ Sie ist also die existenzdialektische Zusammenführung von Freiheit, Bewusstsein und Handlung und dadurch die Aneignung der Religiosität. Die gleichzeitige Aufmerksamkeit auf Zeit und Ewigkeit wird dabei als eine in Erfahrung gebrachte Lebenspraxis gestaltet, die in dem Bewusstsein, in der Welt zu sein und dort auch handeln zu müssen, von dem Primat des religiösen Bezugs zu Gott begleitet wird (der dem Individuum zu eigen, eben „inwendig“⁹⁵⁸ ist). Als dieser Existenzvollzug von permanenter struktureller Spannung (das „Maximum der Aufgabe“) ist die Innerlichkeit ja grundlegend als das Sich-zu-sich-vor-Gott-Verhalten,⁹⁵⁹ also als das Selbstsein mit existenzontologischer Doppelfokussierung definiert. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich für Climacusʼ im Zitat genannte Formel – sich relativ zum Relativen und absolut zum Absoluten zu verhalten (was nichts anderes als die existenzontologische Doppelfokussierung ausdrückt) – folgende lebenspraktische Konsequenz: Es gilt sich zu den in der Welt erreichbaren Zwecken nur so zu verhalten, dass sie nicht das bestimmende Moment der Lebensgestaltung werden:⁹⁶⁰ Zuerst Gott, dann die Welt. Die Welt wird über das Verhältnis zu Gott relativiert und dadurch bewertet. Dementsprechend hat sich das Individuum (als Teil der Welt) auch selbst mit angemessenem Maß zu begegnen. Gegenüber dem Absoluten gilt nicht Überhöhung, sondern Bescheidenheit.⁹⁶¹ Und die Innerlichkeit ist die Bejahung  Im Sinne der Existenzbewegung kann das Ergebnis und Resultat dann aber nicht darin liegen, mit der Einübung fertig zu werden oder im Werden der Zeit je fertig sein zu können. Allein durch den Fakt, dass das Individuum immer im Voranschreiten der Zeit bleibt, hat es sich immer der Aufgabe der Einübung zu widmen, um nicht vom Verhältnis zum Ewigen abzufallen.  Climacus bezeichnet die Innerlichkeit im Zitat als Inwendigkeit (Indvorteshed). Dazu: Kapitel 1.3.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.  Dabei dürfen das relative Verhältnis zum Relativen wie auch das absolute Verhältnis zum Absoluten (Pathos) nicht voneinander getrennt gedacht werden. Denn das Relative ist nur deshalb relativ, weil es vor dem Hintergrund des Absoluten gesehen wird. Dies ist entscheidend, weil das Individuum im Relativen verortet ist; der Welt zugehört. „Das wirkliche Individuum ist ja in der Unmittelbarkeit und insofern eigentlich absolut in den relativen Zwecken.“ (SKS 7, 392 / DUN, 611)  So ist die Formel Climacusʼ – sich relativ zum Relativen und absolut zum Absoluten zu verhalten – in Bezug auf das Personsein die Formel für einen Existenzumgang, in dem sich der Mensch in seinem Menschsein, d. h. seiner Fehlbarkeit und Begrenztheit bewusst wird (vgl. auch Kapitel 2.3.2.4.3): „Eigentlich ist es das Gottes-Verhältnis, das einen Menschen zum Menschen macht …“ (SKS 7, 222 / DUN, 393) Und in diesem Sinne ist die Bescheidenheit durch die Einsicht der eigenen Fehlbarkeit die Umsetzung des antiken gnothi seauton („Erkenne dich selbst!“), das mit

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

dessen,⁹⁶² also das Sich-zu-sich-vor-Gott-Verhalten, in dem sich über den absoluten Bezug zu Gott (das Absolute) relativ zum eigenen Personsein (das Relative) verhalten wird. So sehr dabei die eigene Person in den Hintergrund rückt, so sehr tritt sie gleichfalls wieder in den Vordergrund. Denn in dem absoluten Verhältnis zum Absoluten, dem Pathos,⁹⁶³ geht es dem Individuum um seine Erlösung. Innerlichkeit ist demnach das religiöse Selbstsein als die weltliche Selbst-Relativierung des Individuums bei gleichzeitiger Verlängerung der eigenen Person in die Ewigkeit hinein.

2.3.3.1.2 Religiöse Lebenspraxis: Abwendung und Anstrengung Als Voraussetzung und Durchführung einer Lebenspraxis, deren Lebensorientierung im Ewigen liegt (beziehungsweise durch den Ewigkeitsbezug bestimmt ist), wird mit der Innerlichkeit vor dem Hintergrund der religiösen Existenzterminologie die Durchbrechung routinierter – auf Zweck und Endlichkeit orientierter – Lebensmuster beschrieben. So betont Climacus mit Bezug auf die Resignation: In der Unmittelbarkeit ist das Individuum in der Endlichkeit verwurzelt; wenn die Resignation sich davon überzeugt hat, dass das Individuum die absolute Richtung auf das absolute τελος genommen hat, dann ist alles verändert, die Wurzeltriebe sind durchgehauen. Es lebt in der Endlichkeit, hat aber nicht sein Leben in ihr. ⁹⁶⁴

dem meden agan („nicht zuviel“) korrespondiert und kein „Übermaß an Verhalten“ bedeutet und „man sich nicht zu viel auf seine Kraft einbilden noch sich mit der Macht der Gottheit messen sollte.“ (Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 18).  Umgebildet ist die Existenz also genau dann, wenn das Individuum im Prozess der Umbildung (Innerlichkeit) von dieser Einsicht durchdrungen ist, also „das absolute τελος immer bei sich hat“ (s.o.; SKS 7, 374 / DUN, 584). Und dass es auf dieses Immer-bei-sich-Haben ankommt, zeigt sich, wenn Climacus an anderer Stelle notiert, dass „Gott gerade etwas ist, das man a tout prix mitnimmt, was im Verständnis der Leidenschaft gerade das wahre Verhältnis der Innerlichkeit zu Gott ist.“ (SKS 7, 183/ DUN, 341) „[D]enn die absolute Vorstellung von Gott zu haben heißt nicht: en passant die absolute Vorstellung haben, sondern: in jedem Augenblick die absolute Vorstellung haben.“ (SKS 7, 438/ DUN, 672)  Wenn Climacus sagt – „[D]ie Aufgabe besteht … darin … nach dem Existieren zu trachten [eftertragte], das auf die Dauer [Længden] das Pathos des großen Augenblicks hat.“ (SKS 7, 365/ DUN, 576 (Hervorhebung d.Vf.)) – so besteht die existenziell-religiöse Aufgabe eben in der beständigen Praxis des Glaubens, denn „der Glaube ist ja die höchste Leidenschaft“ (SKS 7, 124 / DUN, 264), ist Pathos und als dieses die Innerlichkeit für die eigene Erlösung. [Anm.: Die Terminologie des „großen Augenblicks“ beschreibt das Pathos als höchstes Resignationsverhältnis; die ontologische Doppelfokussierung, was dem Augenblick entspricht, in dem ein ontologischer Zwischenzustand besteht: vgl. Kapitel 2.3.2.3.1/2].  SKS 7, 373/ DUN, 586 (Hervorhebung d.Vf.).

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Hiervon ausgehend möchte ich im Folgenden die wichtigsten zwei Eigenschaften der religiösen Lebenspraxis herausheben, in einen ideengeschichtlichen Vergleich stellen und auf die Innerlichkeit hin analysieren: die Abwendung von der Welt und die Anstrengung des Individuums.

Abwendung von der Welt zum Zweck der Erlösung Die Abwendung von der Welt zum Zweck der Erlösung ist ein altes Motiv der Philosophie.⁹⁶⁵ Schon in Platons Phaidon wird es thematisiert, wo die Tätigkeit des Philosophierens der Weg zur Erlösung ist.⁹⁶⁶ Das Philosophieren dient dort in seiner Erlösungsfunktion der Hoffnung auf ein dauerhaft leibloses und dadurch reines Leben der Seele nach dem Tod.⁹⁶⁷ Der Mensch muss seinen Platz im kosmischen Gefüge erkennen und in Entsprechung sein Leben gestalten (was der climacischen Systematik des durch das Telos beeinflussten Metrons der Bewegung entspricht⁹⁶⁸). Die Erlösungshoffnung bedeutet dann praktisch gesehen: im Leben dem Leben abzusterben. Denn zur Wahrheit zu streben (Einsicht und wahre Erkenntnis zu erlangen) bedeutet, sich erstens von der Konditionierung der Seele

 Ein wesentliches Stichwort für die philosophische Tradition ist diesbezüglich die Selbstsorge. Dazu: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 260 ff.  Im Phaidon wird dies wie folgt dargelegt: Philosophie ist das Streben nach Wahrheit durch selbst erlangte Einsicht (vgl. 67a-b). Da der Mensch aber im Leben eine Zusammensetzung aus Leib und Seele ist, wird der Mensch an der Erkenntnis des Wahren gehindert (vgl. 66b-c). Wenn die Wahrheit an sich erkannt werden will, muss die Seele ohne den Leib und seine Anfälligkeit für Täuschung sein (vgl. 66d-e), was bedeutet, dass der Tod eine Sonderstellung für den Philosophen hat, da jener der Wendepunkt ist, durch den die Seele in der Ablösung vom Leib zur Wahrheit gelangt und in das Ewige eintreten kann (vgl. 67d; Apologie, 40c). In das Ewige eintreten zu wollen bzw. zur Wahrheit zu streben, ist das höchste Bestreben der Seele, weil sie in ihrem Wesen göttlich, unsterblich, vernünftig, eingestaltig und unauflöslich ist (vgl. 80b) und so den unvergänglichen Ideen ähnelt (vgl. 79a-e; Phaidros, 245c). Die Seele ist demnach einerseits bestrebt, an den ihr angestammten kosmischen Platz zu gelangen, andererseits nach Erlösung von der Leiblichkeit zu streben, denn was die Seele in der Ewigkeit erwartet, ist Klarheit, Wachheit, Wahrheit, d. h. „in sich selbst gesammelt“ (80e) zu sein. Für den Philosophen besteht die Aufgabe darin, im Leben eine der ewigen Seele adäquate Lebensweise zu praktizieren. Denn nur so erlangt die Seele einen Platz im Ewigen, bei den Göttern: „Die aber rein und mäßig ihr Leben verbracht und Göttern zu Reisegefährten und Führern bekommen hat, bewohnt jede den ihr gebührenden Ort.“ (108c) Denn „[i]n der Götter Geschlecht aber ist wohl keinem, der nicht philosophiert hat und vollkommen rein abgegangen ist,vergönnt zu gelangen, sondern nur dem Lernbegierigen.“ (82b-c) Die Tätigkeit des Philosophierens ist also der praktische Weg zur Erlösung.  Vgl. Platon, Phaidon, 114c. Hierbei muss natürlich beachtet werden, dass sich Sokrates (Platon) des mythischen Moments diesen Denkens durchaus bewusst ist und dies betont zum Ausdruck bringt: vgl. Phaidon, 114d-115a.  Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

durch leibliche Eigenschaften und weltliche Gewohnheit zu lösen, um sich dadurch zweitens von dem Äonen dauernden, zyklischen Prozess der Wiedergeburt zu befreien.⁹⁶⁹ Nur in der Befreiung vom Körper, der Entleibung,⁹⁷⁰ der Vergeistigung, besteht im Leben nicht nur die Möglichkeit der Annäherung an ein ewiges Bewusstsein (Wahrheit), sondern auch die Möglichkeit, im Ewigen zur Ruhe zu kommen.⁹⁷¹ Climacus selbst betont den Sachverhalt der Entleibung für das sokratische Denken.⁹⁷² Und er teilt mit diesem den strukturellen Aspekt der Abwendung von der Welt, um sich in praktizierter Innerlichkeit der Erlösung zuzuwenden. Während Climacus hierfür zu Beginn des Religiositäts-Abschnitts der Unwissenschaftlichen Nachschrift noch die Terminologie vom „Aufgeben“ der Welt verwendet, wird dies im Verlauf des gesamten Abschnitts rhetorisch gesteigert, indem von „Entsagung“⁹⁷³ und schließlich von „Abtöten“⁹⁷⁴ gesprochen wird. Der Zustand, in dem sich das Individuum dann befindet, beschreibt Climacus als einen Zustand der Entfremdung: „Sein Leben hat wie das eines anderen die verschiedenen Prädikate einer menschlichen Existenz, aber es [das Individuum, d.Vf.] ist in ihnen wie einer, der in den geliehenen Kleidern eines Fremden geht.“⁹⁷⁵ Das, was der Endlichkeit angehört, wird also nicht als das Eigene betrachtet. Und eben weil – religiös – das Ewige als Erlösung und dadurch als „Zuhause“ angesehen wird, wird die Welt als das Unrelevante ausgegrenzt.⁹⁷⁶

 Zur Loslösung der Seele vom Leib: vergleiche den Totengerichtsmythos am Ende des Gorgias, 524b-526b, und den Seelenmythos im Phaidros, 247d-248e. Zur Wiedergeburt: vergleiche die genannten Stellen im Gorgias, Phaidros und im Phaidon, besonders 70c.  Dass diese Entleibung – das Ähnlichwerden der Seele mit dem Ewigen – nicht zwingend eine Abwertung des Lebens (verstanden als Zeit zwischen Geburt und Tod) mit sich bringt, wie beispielsweise Stephan Schaede in seiner Rezeption des Phaidon impliziert (ders., „Grundlagen I. Leben bei Platon und Aristoteles“, in Das Leben, S. 3 – 32, hier S. 7– 10), liegt daran, dass die philosophische Lebensführung, die im Phaidon als Absterben gefasst wird, einem ethisch-gesellschaftlichen Zweck untergeordnet ist, was Platon in der Politeia ausführlich ausarbeitet.  Diese Konversionsbewegung ist die Platonʼsche epistrophe. Dazu sehr prägnant: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 264 f.  „Der griechische Philosoph war ein Existierender, und das vergaß er nicht. Darum nahm er seine Zuflucht … zum Totsein im sokratischen Sinne, um denken zu können. Er wurde sich bewusst, dass er ein Denkender war, wurde sich aber gleichzeitig bewusst, dass gerade Existenz als Medium ihn unaufhörlich daran hinderte, kontinuierlich zu denken … Um also in Wahrheit denken zu können, entleibte er sich selbst.“ (SKS 7, 281 / DUN, 469)  Unter anderem: SKS 7, 368, 392 / DUN, 580, 612.  Unter anderem: SKS 7, 418, 438, 479/ DUN, 646, 672, 725.  SKS 7, 373/ DUN, 586.  Dazu: Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 230 f. Die Ausgrenzung der Welt ist nur eine vorläufige Bestimmung innerlichen Existierens. Letztlich ist sie eine der Welt zugewandte

2.3 Religiöse Innerlichkeit

323

Die Ablösung von der Welt und Hinwendung zur Ewigkeit trägt dann die Eigenschaft in sich, dass sich das Individuum in eine strukturelle Zwischenposition begibt, in der es von doppelter Kontingenz (Fremdheit und Ungewissheit) umgeben ist⁹⁷⁷ – sowohl von der Seite der äußeren Welt⁹⁷⁸ als auch von der Seite der Ewigkeit her.⁹⁷⁹ Die freiwillige Isolation von der äußeren Welt wird von der „Isolation vor Gott“⁹⁸⁰ begleitet und stellt ein Sich-Verschließen vor dem Verfügbaren dar, besitzt aber in sich den Umkehrungseffekt des Sich-Öffnens für das Unverfügbare (dem Empfangen⁹⁸¹). Dabei findet zwar im Bewusstsein des Individuums maßgeblich eine Zentrierung Gottes statt, hat aber gleichfalls die Folge, dass sich das Individuum als Basis des Handelns für die Erlösung erkennt (Innerlichkeit), ohne aber die Erlösung aus eigener Kraft erreichen zu können. Die dabei erfahrene Ohnmacht (gegenüber dem gewollten Ziel) wird lebensweltlich davon begleitet, dass der Prozess der Isolation und Vereinzelung und Entfremdung von der Welt ein Akt des Schmerzes und des Leides ist. Denn Climacus denkt immer den Aspekt der Weltverbundenheit des Menschen mit; sein Hängen an und Nichtloslassenwollen von dem, was ihn umgibt.⁹⁸² Innerlichkeit ist demnach eine Lebenspraxis, in der es nicht nur darum geht, die Kontingenz in Erfahrung zu bringen und eine Haltung des Kontrollverlusts bewusst einzunehmen, ⁹⁸³ sondern auch gegen alle Selbstverständlichkeit gewohnter Weltverortung zu handeln.

Anstrengung innerlichen Existierens Der systematische Ausgangspunkt für die Anstrengung innerlichen Existierens besteht zunächst darin, dass die existenzontologische Doppelfokussierung, die

(sozial-ethische) Praxis. Angedeutet wurde dies schon im vorhergehenden Teilkapitel, wo herausgestellt wurde, dass die Innerlichkeit strukturell und praktisch immer auf Ewigkeit und das eigene Individuum (in der Welt) konzentriert ist. Ausführlich besprochen wird dies in den Kapiteln 2.3.3.4.2/3.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.3.  Vgl. Kapitel 2.2.3.2.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.  SKS 7, 481 / DUN, 729.  Vgl. ab Kapitel 2.3.2.3.3.  Das folgende, in seiner direkten Symbolik und physischen Metaphorik sehr schmerzhafte Bild verdeutlicht dies drastisch: „Wie wenn der Arzt das Zahnfleisch gelöst und den Nerv durschnitten hat, und nun den Zahn sitzen lässt, so ist sein Leben in der Endlichkeit gelöst, und die Aufgabe besteht nicht darin, den Zahn wieder zum Festwachsen zu bringen …“ (SKS 7, 373/ DUN, 586)  Dies wurde vorher schon als grundlegendes Merkmal des Glaubens herausgestellt,vergleiche die Ausführungen zu Hoffnung und Vertrauen in Kapitel 2.3.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

„absolute Distinktion“, eingeübt und beibehalten werden soll.⁹⁸⁴ Und Climacus schreckt vor diesem Hintergrund nicht vor der Aufforderung zur Überlastung zurück, was er durch zwei Bilder des Nicht-Aufgebens betont: „Wäre es nicht möglich, durch übermenschliche Anstrengung Gott näher zu kommen, das Verhältnis ohne Unterbrechung, wenn möglich ohne Schlaf, zu bewahren!“⁹⁸⁵ Und: „[D]ie tägliche Anstrengung, sich in der Leidenschaft des Glaubens zu bewahren … [gleicht] einem Mann …, der eine Last den Berg hinaufwälzt …“⁹⁸⁶ Schlaflosigkeit und Sisyphos verdeutlichen (für Kierkegaard) geradezu (untypisch) plakativ die Anstrengung, ein Verhältnis zur Ewigkeit zu praktizieren. Systematisch gesehen liegt die Anstrengung in der Gleichzeitigkeit dessen, worauf sich das Individuum ständig zu konzentrieren hat: Auf die Weltentfremdung konzentriert zu sein (sich nicht von ihr einnehmen und ablenken zu lassen), was im Gegenzug bedeutet, auf die Einübung des Ewigkeitsverhältnisses konzentriert zu sein und zwar solange das Leben dauert, weil das Telos, das Gewollte, die Seligkeit immer aussteht (absolut in die Zukunft verlagert ist). Und das heißt auf die Unverfügbarkeit des Ziels konzentriert zu sein, weshalb die Einübung des Ewigkeitsverhältnisses die Konzentration auf die Haltung des Empfangens darstellt. Die darin implizite Befreiung aus der Erwartung des Erhaltens bedeutet, sich gegen ein Haben-Wollen des Gewollten zu wenden und doch den Willen dazu nicht aufzugeben. Diese Entschiedenheit impliziert wiederum, auf die Möglichkeit des Verlusts des Ewigkeitsverhältnisses konzentriert zu sein (wenn man nicht vollständig auf Gott fokussiert ist). Aber gerade diese Möglichkeit des Verlusts entspringt ja aus der Möglichkeit der Erlösung, auf die es sich über und vor allem zu konzentrieren gilt. Während es also im Selbstverhältnis um die Praxis der Bescheidenheit gegenüber Gott geht,⁹⁸⁷ ist das Ewigkeitsverhältnis Ausdruck für eine Praxis der Übertreibung. Es geht – auch vor allem durch die Leidenschaft – um die Negation des antiken meden agan („nicht zuviel“) beziehungsweise des ne quid nimis („nichts übertreiben“).⁹⁸⁸ Die Erlösung soll, trotz der nicht vorhandenen Garantien  „[D]ie Einübung der absoluten Distinktion macht das Leben absolut angestrengt, gerade wenn man zugleich in der Endlichkeit bleiben und sich auf einmal absolut zum absoluten τελος und relativ zum relativen verhalten soll.“ (SKS 7, 384 / DUN, 600)  SKS 7, 445/ DUN, 682.  SKS 7, 514/ DUN, 771.  Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Climacus fasst eindeutig die Praktizierung einer (Über‐)Anstrengung – das Nichtpraktizieren des ne quid nimis – ins Auge, wenn er schreibt: „Am Tempel von Delphi stand bekanntlich auch die Inschrift: ne quid nimis … In manchem Lebensverhältnis kann jene Lebensregel ne quid nimis ihre Gültigkeit haben, aber auf das absolute leidenschaftliche Verhältnis zum absoluten τελος angewandt ist das Galimathias. Im Gegenteil, es geht darum, alles absolut zu wagen, alles absolut

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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(die Erlösung zu erreichen), zur Lebensaufgabe werden. Und worin sublimiert sich diese Lebensaufgabe? In der (in Kapitel 2.3.2.4.1 schon diskutierten) Hoffnung. So schreibt Climacus in einer vielsagenden Fußnote: [A]ber ein Existierender, der existierend ausdrückt, dass er sich zu dem absoluten Gut verhält, ist vielleicht eine große Seltenheit, ein Existierender, der mit Wahrheit sagen kann: so existiere ich, so habe ich entsagend meine Existenz umgebildet, dass ich, wenn ich allein für dieses Leben hoffte, der elendste von allen wäre, ᴐ: der fürchterlichst Betrogene, betrogen durch mich selbst, weil ich nicht zugegriffen habe.⁹⁸⁹

Falls es Erlösung gibt, so soll alles für das ewige Leben getan werden. Die Anstrengung fußt auf dieser Hoffnung. Und Climacus steht mit diesem Gedanken in der Tradition von Sokrates und Pascal. Zu Sokrates heißt es bei Climacus: „Wir wollen Sokrates betrachten. … Er stellt die Frage objektiv problematisch hin: falls es eine Unsterblichkeit gibt. … Auf dieses »falls« setzt er sein ganzes Leben, er wagt zu sterben und er hat sein ganzes Leben mit der Leidenschaft der Unendlichkeit so eingerichtet, dass es annehmbar befunden werden müsste – falls es eine Unsterblichkeit gibt.“⁹⁹⁰ Der von Climacus wiedergegebene sokratische und sich in seinem eigenen Denken widerspiegelnde Gedanke ist eben, dass das Leben im Glauben an die Möglichkeit (dem „Falls“) der Erlösung zu leben ist. In der Hoffnung darauf wird die Lebensgestaltung vom ihrem Telos bestimmt und ist somit der Möglichkeit der Erlösung unterzuordnen. Dieser Gedanke findet sich wiederum in seiner bekanntesten Form bei Pascal, dessen „Wette“ in ihrer Essenz lautet: An Gott gegen alle Verifizierbarkeit zu glauben bedeutet, allein und nur das ewige Leben zu gewinnen.⁹⁹¹ Glaube ist Hoffnung auf die Erlösung. Der „Wetteinzusetzen, das höchste τελος absolut zu begehren, aber dann geht es wiederum darum, dass selbst die absolute Leidenschaft und die absolute Entsagung in Bezug auf alles andere nicht den Anschein erwecken, eine ewige Seligkeit zu verdienen, zu erwerben.“ (SKS 7, 368/ DUN, 579 f.)  SKS 7, 355 (Anm.) / DUN, 563 (Anm.).  SKS 7, 185/ DUN, 343. Dass Climacus mit dieser Beobachtung nicht falsch liegt, zeigt die vielleicht wichtigste Stelle des Phaidon, in der Sokrates sagt (nachdem er dargelegt hat, dass die Seele bei einem Lebensvollzug des wahrheitsliebenden Philosophen in der Ewigkeit zur Ruhe kommt): „Dass sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl einen vernünftigen Mann nicht zu behaupten; dass es jedoch sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches sei, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch, es darauf zu wagen, dass man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei gleichsam mit sich selbst besprechen.“ (Platon, Phaidon, 114d (Hervorhebung d.Vf.)).  „Wägen wir Gewinn und Verlust,wenn wir uns … entscheiden, daß Gott ist.Wenn ihr gewinnt, so gewinnt ihr alles, und wenn ihr verliert, so verliert ihr nichts: Wettet also, ohne zu zögern, daß er ist.“ Daran zu glauben, dass Gott ist, heißt an die eigene Unsterblichkeit zu glauben, denn „es gibt ein ewig glückliches Leben zu gewinnen.“ (Pascal, Gedanken, S. 227, Fragment: 418/233) – Bei

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

einsatz“, den das Individuum dabei zu erbringen hat, ist die eigene Lebenszeit oder genauer: die Verwendung der eigenen Lebenszeit zur Konzentration auf das Ewige. Und die Konsequenz dieser Anstrengung ist, – wie Climacus es ganz im Sinne Pascals auf die Formel bringt – dass durch den Glauben „unendlich mehr herauskommt als eingesetzt wurde.“⁹⁹² Während Pascal vom Wetten spricht, spricht Sokrates vom Wagnis⁹⁹³ (was Climacus übernimmt⁹⁹⁴). Und sowohl Wetten als auch Wagnis bedeuten, an die Wirklichkeit des Ewigen (der Erlösung; bei Platon: des Mythos) zu glauben und das eigene Leben für diese Wirklichkeit zu leben, um der Möglichkeit, die sich daraus ergibt, zu entsprechen.⁹⁹⁵ Dabei zeigt die Terminologie des Wettens und

Climacus gibt es diesbezüglich eine interessante Formulierung, die Pascals Rede vom „Gewinn“ aufgreift und vor dem Hintergrund der Abwendung von der Welt modifiziert: „[W]elches ist das Maximum dessen, was der Mensch durch sein Verhältnis zum absoluten τελος gewinnt? Im endlichen Sinne ist nichts zu gewinnen, sondern alles zu verlieren.“ (SKS 7, 366/ DUN, 577) – Während in Bezug auf die Ewigkeit der Gewinn im Sinne des Erhaltens von etwas aussteht, liegt in Bezug auf die Endlichkeit der Gewinn im Verlieren der Endlichkeit (um durch diese Negation eine Verähnlichung des Ewigen zu erlangen und sich dadurch der Ewigkeit anzunähern; vgl. Kapitel 2.3.3.3.1).  SKS 7, 522 / DUN, 781. Es könnte nun selbstverständlich die gängige Kritik an Pascal – und gleichfalls an Climacus – angeführt werden (die im Übrigen von Pascal selbst gesehen wird: vgl. ders., Gedanken, S. 353, Fragment: 588/279), dass der „Wette“ ein zweckorientiertes Nützlichkeitskalkül zugrunde liegt und dieses weder zum Glauben führt noch dem Umfang des Glaubens als lebensstützende Erfahrung gerecht wird. (Vgl. Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über die Erfahrung der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004, S. 16) Die Beobachtung Joasʼ geht auf William James und dessen berühmten Aufsatz Will to Believe zurück. In Die Vielfalt religiöser Erfahrung schließt James daran an, wenn er schreibt, dass die Philosophie den Glauben nicht hervorbringen kann (vgl. ebd., S. 431).) Dennoch liegt diesem Nützlichkeitskalkül – was Hans Blumenberg herausstellt – die Voraussetzung zugrunde, dass überhaupt gewettet werden muss (vgl. ders., Höhlenausgänge, S. 354). Der Mensch kommt nur dann zum Wetten – und somit zu einer bewussten Vergegenwärtigung der Möglichkeit und der Ungewissheit –, wenn sich keine andere Möglichkeit bietet, die vor umfassender Ungewissheit rettet. Das Nützlichkeitskalkül ist also mehr existenziell als funktional zu verstehen – zumal es bei Climacus mehrfach heißt, dass die Praxis der Anstrengung für eine Erlösung nicht deren Lohn bedeutet (vgl. Kapitel 2.3.3.2.2), also das Individuum den Glauben nicht als eine Nützlichkeit verstehen soll.  Vgl. Platon, Phaidon, 114d.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.  Zu Platon: Wolfgang Janke, Plato. Antike Theologien des Staunens, Würzburg 2007, S. 73 – 77, besonders 76 f.; Romano Guardini, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon. Bern 1945, S. 230 f.; Christian Schäfer, „Der Mythos im Phaidon (107d-115a)“, in Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 44: Phaidon, hg. von Jörn Müller, Berlin 2011, S. 159 – 174, besonders S. 171 ff. – Bezüglich des existenziellen Entsprechens ist festzuhalten, dass dies systematisch der climacischen Konzeption der Innerlichkeit

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Wagens (und des „Risikos“, wie es bei Climacus noch heißt) auf diskursiver Ebene deutlich einen rationalen Blick auf das Problem eines existenziellen Glaubensvollzugs, eben weil alles (religiöse; mythische) Wetten und Wagen vor dem Hintergrund philosophischer Reflexion und deren Freilegung objektiver Ungewissheit geschieht.⁹⁹⁶ Was diesbezüglich Pascal und Climacus von Sokrates abhebt, ist, dass die religiöse Existenz zu einer Lebenspraxis wird, für die es keine Alternative gibt, wenn sich der Ungewissheit – der Kontingenz und Nicht-Verstehbarkeit von Welt und Ewigkeit – bewusst geworden ist, wobei bei Climacus explizit hinzukommt, dass die Innerlichkeit das Zurückrufen vor die Ungewissheit ist.⁹⁹⁷ Alle praktische Über-Anstrengung der Innerlichkeit, sich der unverfügbaren Ewigkeit zuzuwenden und sich dabei „schmerzhaft“ von der Welt zu entfremden, zielt bei Climacus dann auf folgende Gedankenfigur ab: Die umfassende Ungewissheit vergegenwärtigen, sich in dieser Haltlosigkeit halten, um so das Fundament für den Glauben zu entdecken (Gott), um dann im Glauben die Ungewissheit anzunehmen und so in der Offenheit für die unverfügbare Erlösung zu leben. ⁹⁹⁸ Die Innerlichkeit als Lebenspraxis der Vergegenwärtigung umfassender, durch Reflexion verursachter Ungewissheit legt also dieselbe als anthropologische Konstante frei. Der Mensch ist bei Climacus in die Verunsicherung – das „Unzuhause“⁹⁹⁹ – hineingestellt.¹⁰⁰⁰ Hiervon ausgehend wird nun im Folgenden das Leiden in seiner Struktur und als anthropologische Expression religiöser Innerlichkeit herausgestellt, um darauffolgend und im Zusammenhang mit dem bisher Gesagten, zum systematisch zentralen Thema religiöser Innerlichkeit zu gelangen: die Erbauung in der Selbstvernichtung – die existenzielle Umsetzung der eben beschriebenen Haltlosigkeit.

als existenzielles Pendant der Wiederholung entspricht, weil diese gerade die Entsprechung von Metron (Praxis) und Telos (Erlösung) der Bewegung (Existenz) darstellt.  Tilo Wesche betont dies für den Zusammenhang von Kierkegaard und Sokrates ebenfalls: ders., Kierkegaard, S. 148 f.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.3.  Dies könnte ebenso für Vigilius herausgestellt werden, weil die Angst sowohl das Bewusstsein der Isolation von als auch der Öffnung für das Unendliche ist. Krisis und Katharsis fallen zusammen. Dazu müsste sich vor allem das Kapitel V im Begriff Angst angeschaut werden.  Heidegger, Sein und Zeit, S. 189.  Das Un-Zuhause der Ungewissheit wird religiös damit kontrastiert, dass die Erlösung das Zuhause darstellt – trotz all ihrer Ungewissheit. Eben dies, dass in der Ungewissheit Sicherheit und Gewissheit liegen (das Zuhause im Un-Zuhause liegt), ist ja das Entscheidende an der climacischen Religiosität, wie sich nicht nur anhand des Glaubens als ein In-der-Schwebe-Sein (zwischen Gewissheit und Ungewissheit) gezeigt hat (vgl. Kapitel 2.3.2.4.3), sondern auch im Folgenden anhand der Erbauung zeigen wird.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.3.2 Das Leiden entdecken¹⁰⁰¹ Dass Climacus das vom Individuum einzugehende religiöse Verhältnis zum Ewigen als Pathos bezeichnet, kommt nicht von ungefähr. Das griechische πάθος bedeutet Erleiden. ¹⁰⁰² Etwas zu erleiden ist für den, dem es wiederfährt, tragisch. Das Tragische ist das – von der griechischen Tragödie aus gesehen – Unabwendbare. So verstanden, ist die im Pathos zu vollziehende religiöse Lebenspraxis eine unabwendbare, in der gelitten wird.¹⁰⁰³ Deshalb: „[D]as religiöse Handeln ist am Leiden kenntlich.“¹⁰⁰⁴ Und ausgehend von der Diskussion in Kapitel 2.3.3.1.1 bedeutet dies: Die Praxis des Pathos ist die Innerlichkeit und diese ist Leiden. Als Ausdruck für „das Leben der Ewigkeit“¹⁰⁰⁵ ist die Innerlichkeit die in existenzielle Praxis überführte Überzeugung, „dass gerade im Leiden das Leben sei.“¹⁰⁰⁶

 Eine umfassende Abhandlung zum Leiden bei Climacus hat Almut Furchert vorgelegt, in der dasselbe facettenreich zur Sprache gebracht wird. Vgl. dies., Das Leiden fassen, besonders 206 – 265. Vor dem Hintergrund dieser Arbeit kann sich in der vorliegenden Untersuchung auf einige wenige, für die Diskussion der Innerlichkeit relevante Punkte konzentriert werden.  Vgl. Katja Vogt, „pathos“, in Wörterbuch der antiken Philosophie, hg. von Christoph Horn und Christof Rapp, 2., überarb. Aufl., München 2008, S. 332– 334. Ebenfalls: Jothen, Kierkegaard, Aesthetics and Selfhood, S. 148.  So bezeichnet Climacus das wesentliche Pathos als Leiden: „[D]er wesentliche Ausdruck des existenziellen Pathos (das Handeln ist) [sei] Leiden …“ (SKS 7, 393/ DUN, 612) Und etwas später: „Leiden aber als der wesentliche Ausdruck des existenziellen Pathos bedeutet, dass wirklich gelitten wird, oder dass die Wirklichkeit des Leidens das existenzielle Pathos ist …“ (SKS 7, 402 / DUN, 625) Das Pathos hat bei Climacus aber genau genommen drei Formen: Resignation, Leiden, Schuld. Zur strukturellen Erörterung der Pathos-Formen in der Unwissenschaftlichen Nachschrift u. a.: Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S: 308 f. Ebenso: Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, S. 310 – 313; Bühler, „Warum braucht das Pathetische den Humor?“, S. 165 – 168; Olesen, „The Climacean Alphabet“, S. 283 f. Neben der schon besprochenen Resignation konzentriert sich die vorliegende Diskussion auf das Leiden. Dies geschieht aus dem Grund, weil die Schuld als höchste Pathosform das systematische Bindeglied zwischen der erbaulichen Religiosität A und der christlichen Religiosität B ist, was bedeuten würde, dass die Schuld erst dann recht verstanden ist,wenn die Religiosität B eingehend diskutiert würde. In Anbetracht der Konzentration dieser Arbeit auf die religiöse Innerlichkeit im Hinblick auf die erbaulichen Reden ist das Leiden die maßgebliche, obwohl auf das christliche Existieren hinzeigende (vor allem in Kierkegaards Spätwerk), dennoch die höchste, allein – zumindest bei Climacus – der erbaulichen Religiosität zugehörige Kategorie.  SKS 7, 393/ DUN, 613.  SKS 7, 74 (Anm.) / DUN, 200 (Anm.) (Hervorhebung d.Vf.).  SKS 7, 396/ DUN, 617 (Hervorhebung d.Vf.). Zur Erklärung sei folgendes von Climacus verwendetes Bild beachtet: „[I]m Leiden beginnt das Religiöse zu atmen.“ (SKS 7, 397/ DUN, 617) Die Metapher des „Atmens“ deutet darauf, dass das Leiden – sozusagen – überlebensnotwendig ist, um religiös zu existieren. Diesbezüglich gibt es im vorderen Teil der Unwissenschaftlichen Nachschrift eine interessante Formulierung, in der es heißt: „[D]as Ethische [ist] der ewige Atemzug [Aandedrag] …“ (SKS 7, 141/ DUN, 286) Das ethische Existieren, das dem religiösen

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Die Innerlichkeit als Lebensform ist von Leiden gekennzeichnet, jedoch nicht in dem Sinne, dass das Leiden vom Individuum selbst verursacht wäre. Vielmehr wird das Leiden von Climacus als conditio humana offengelegt: „[R]eligiös gesehen sind alle Menschen leidend, und es geht gerade darum in das Leiden zu kommen (nicht indem man sich hineinstürzt, sondern entdeckt, dass man in ihm ist) …“¹⁰⁰⁷ Die Betonung, dass das Individuum das Leiden allein vor dem Hintergrund des Religiösen zu entdecken hat (und nur so entdecken kann) zeigt deutlich, dass das religiöse Existieren als anthropologisch-konstitutive Lebensweise betrachtet wird.¹⁰⁰⁸ Für das genauere Verständnis muss jedoch gefragt werden: Was entdeckt das Individuum, wenn es in das Leiden vordringt? Und was bedeutet der Begriff Entdecken? Wie wird das Leiden von Climacus verstanden? Liegt in der ausufernden Darstellung des Leidens in der Unwissenschaftlichen Nachschrift ein Bild der Existenz vor, das eine Lebensanschauung intendiert, die von tragischer Untröstlichkeit gekennzeichnet ist? Oder ist die Bestimmung des Leidens als conditio humana allein ein existenzstrukturelles Phänomen? Zur Klärung dieser Fragen müssen zunächst die Ursachen des Leidens und danach die von Climacus entworfene und für die Lebenspraxis entscheidende Leidensdialektik herausgestellt werden (Kapitel 2.3.3.2.2), um schließlich die Bedeutung des Leidens in Bezug auf die Innerlichkeit aufzuzeigen (Kapitel 2.3.3.2.3).

grundsätzlich zugrunde liegt, wird hier schon religiös eingefärbt. Die Metapher des „ewigen Atemzugs“ ist insofern interessant, als dass mit ihr das Einatmen betont wird und so auf subtile Weise ein Verinnerlichungsprozess benannt wird: Die Innerlichkeit als Einübung des Sich-zu-sichVerhaltens (ethisch) und des Verhältnisses zum Ewigen (religiös). Das Attribut in der Formulierung „ewiger Atemzug“ bedeutet nicht nur, das Ewige einzuatmen, also das Verhältnis einzuüben und dieses zu verinnerlichen, sondern zugleich vom Ewigen her die Bedingung für das eigene Leben zu erfahren. Deshalb: „Innerlichkeit ist das Leben der Ewigkeit …“ (SKS 7, 74 (Anm.) / DUN, 200 (Anm.)). Und das „Leben der Ewigkeit“ ist sowohl als Genitivus subjectivus wie als Genitivus objectivus zu verstehen; als Leben, das auf die Ewigkeit ausgerichtet ist und ebenso als die Ewigkeit, die in das Leben einbezogen wird. Zusammengenommen bedeutet dies, dass das Leben das Ewige zum Ausdruck bringen soll (vergleiche die Apotheose der Wiederholung in Kapitel 2.3.2.2.2). Und die Innerlichkeit als Leiden ist dann der Versuch dies zu realisieren, aber als ein ewigkeitsbezogenes Existieren, das zur Defiziterfahrung (Leiden) gerinnt. Dies zeigt sich in den folgenden Ausführungen.  SKS 7, 397/ DUN, 617 (Hervorhebung d.Vf.).  Vgl. Kapitel 2.3.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.3.2.1 Ursachen und Ausprägungen des Leidens Die wichtigste Ursache für das Leiden ist in der anthropo-ontologischen Bestimmung des Menschen verankert. Denn die Tragik des religiösen Existierens besteht darin, dass der Mensch in der conditio humana des Inter-esses Spuren des Ewigen in sich trägt,¹⁰⁰⁹ ohne es verfügbar machen zu können. Der Mensch ist in der Zeit, in der das Ewige entzogen bleibt.¹⁰¹⁰ Somit ist die – systematisch aus der Ontologie entspringende – Inkommensurabilität des Absoluten im Verhältnis zum existierenden Einzelnen eine Ursache für das Leiden,¹⁰¹¹ was letztlich bedeutet, dass im Verhältnis zum Ewigen daran gelitten wird, überhaupt ein Mensch zu sein, dem eine nicht reduzierbare Mängelstruktur innewohnt: nämlich das Ewige nicht verfügbar machen zu können. In diesem der Tantalusqual vergleichbaren Zustand ist „das Leiden gerade das Bewusstsein vom Widerspruch“.¹⁰¹² Denn das Leiden an der Nichterreichbarkeit des Ewigen muss grundsätzlich vor dem Hintergrund des Interesses und der Leidenschaft an der Ewigkeit gesehen werden. Im Gegensatz zu Schopenhauer ist dabei nicht der Wille an sich die Ursache des Leidens, sondern nur dann ist der Wille die Ursache, wenn er sich auf ein Ziel richtet, das nicht der eigenen Verfügbarkeit unterliegt. Leiden entsteht bei Climacus in dem Moment, wenn das,was gewollt wird, in dem Widerspruch steht, absolut und beständig¹⁰¹³ begehrt zu werden, aber nicht in Besitz zu bringen ist (womit das Leiden das emotionsphä-

 Vgl. Kapitel 2.3.2.3.  Climacus nennt diese unreduzierbare Ambivalenz die „Not des Existierens“ (SKS 7, 274/ DUN, 460). Die „Not“ besteht in der Bedingung des In-der-Zeit-verbleiben-Müssens. Das zieht zunächst zwei Konsequenzen nach sich. Zum einen liegt das Leiden darin, nicht aus der Zeit herausgelangen zu können; zum anderen darin, dass das Ewige das Entzogene bleibt.  Vgl. SKS 7, 438/ DUN, 672.  SKS 7, 438/ DUN, 672.  Dass die Beständigkeit des Begehrens konstitutiv für das Leiden ist, zeigt folgende Stelle: „Leiden ist gerade der Ausdruck für das Gottes-Verhältnis, jenes religiöse Leiden nämlich, das ein Kennzeichen für das Gottes-Verhältnis ist und ein Kennzeichen dafür, dass er [der Mensch, d.Vf.] nicht durch Befreiung vom Verhältnis zu einem absoluten τελος die Glückseligkeit erlangt.“ (SKS 7, 412 / DUN, 637) Ein Gottes-Verhältnis ist Leiden, weil eine Nicht-Befreiung vom Ewigkeitsverhältnis gerade die vita activa des Existierens betont: eines ständigen Strebens und Sich-darin-Haltens zu dem, das entzogen bleibt. Und so schreibt Climacus unzweideutig: „[U]nter der Wirklichkeit des Leidens wird dessen Fortdauern als wesentlich für das pathetische Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit verstanden … Wie die Resignation nachprüft, dass das Individuum die absolute Richtung auf das absolute τελος hatte, so wäre die Fortdauer des Leidens die Sicherheit dafür, dass das Individuum in der Stellung verharrt und sich in der Stellung bewahrt.“ (SKS 7, 402 f. / DUN, 625) Der Aspekt des Fortdauerns wird außerdem betont: SKS 7, 404, 407, 452, 487/ DUN, 628, 630, 691, 737.Vgl. auch Kapitel 2.3.2.3.2.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

331

nomenologische Korrelat der reflexionsphänomenologischen Verzweiflung als Verlusterfahrung des Ewigen darstellt).¹⁰¹⁴ Dieser Ohnmachtserfahrung liegt nicht nur der Widerspruch zwischen Erlösungswunsch und dem faktischen Status der Nichterlösung zugrunde, sondern – anthropologisch elementarer – der Widerspruch zwischen dem Wollen und dem faktischen Dasein des religiös Existierenden. Deshalb schreibt Climacus, dass es „[d]er Grund d[]es Leidens ist, dass sich das Individuum eigentlich absolut in den relativen Zwecken befindet.“¹⁰¹⁵ Diese unentrinnbare, faktische Weltverwobenheit ist nicht nur die ontologische Ursache für die Entzogenheit des Gewollten, sondern auch Grund der folgenden Formen des Leidens (die alle in Bezug auf das grundlegende Leiden an der Entzogenheit des Ewigen zu verstehen sind): Zum einen das Leiden, das in der Entfremdung von der Welt für das Ewige hervortritt, weil die Entwurzelung aus der Welt nur unter schmerzvoller Durchtrennung gewohnter Routinen und Bedürfnisse geschehen kann.¹⁰¹⁶ Zum zweiten das daraus entspringende Leiden an der Selbst-Relativierung der eigenen Person¹⁰¹⁷ durch Verneinung der Selbstfixierung.¹⁰¹⁸ Zum dritten das Leiden daran, dass in der Welt die (gewollte) Entfremdung von der Welt niemals ganz gelingen kann.¹⁰¹⁹ Und schließlich viertens das grundsätzliche Leiden an der Welt selbst –

 Das kann vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Pathos und Umbildung auch so ausgedrückt werden, dass die Struktur des Leidens darin besteht, dass die investierte Energie des Individuums einerseits die Identifikation mit dem Ziel erzeugt, andererseits aber das Nichterreichenkönnen des Ziels unerträglich ist; es leidet also genau dann, wenn auf die vorenthaltene Erfüllung des Ziels insistiert wird. Die Verweigerung des Gewollten lässt dabei das Bedürfnis mit aller Deutlichkeit bewusst werden. Und in diesem Bewusstsein besteht das Leiden.Wenn Climacus nun schreibt – „In der ewigen Seligkeit gibt es kein Leiden …“ (SKS 7, 411 / DUN, 636) – könnte geschlussfolgert werden, dass das Leiden deshalb aufhört, weil das Gewollte erreicht ist. Doch genau betrachtet gibt es in der Erlösung gar keinen Willen mehr. Das bedeutet aber in existenzieller Hinsicht nicht, dass der Wille – wie bei Schopenhauer – zu negieren ist, um sich aus dem Leiden zu befreien. Vielmehr soll der Wille für die Erlösung beibehalten, aber in Geduld existiert werden. Es gilt in die Haltung des Empfangens zu gelangen. Das Empfangenwollen ist kein Zustand des Nicht-Leidens, sondern eine Vertiefung ins Leiden, weil Wollen, Entzogenheit und Ohnmacht, trotz allen Annehmens, radikal ins Bewusstsein geführt werden (vgl. Kapitel 2.3.3.2.2).  SKS 7, 418/ DUN, 646. Zur im Zitat verwendeten Terminologie: vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Climacus notiert: Es „müssen alle Leidenschaften der Endlichkeit ausgestorben, muss alle Selbstsucht ausgerottet sein, jene Selbstsucht, die sich stolz von allem abkehrt. Aber darin steckt eben der Knoten, und hier besteht das Leiden, sich selbst abzutöten …“ (SKS 7, 428/ DUN, 659)  „[D]as Handeln der Innerlichkeit ist Leiden, denn das Individuum vermag nicht, sich selbst umzubilden, dergleichen kann es sich höchsten einbilden [skabe sig Skaberi] …“ (SKS 7, 394 / DUN, 614) Climacus spielt hierbei auch auf das Augenblicksgeschehen an (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1), das für

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

als Ort der Nichterlösung.¹⁰²⁰ Zusammengefasst kann daher gesagt werden, dass das Leiden aus dem Willen zur Erlösung unter der Bedingung der Weltverwobenheit entspringt.¹⁰²¹

2.3.3.2.2 Leidensdialektik und Innerlichkeitspraxis „Leiden ist gerade der Ausdruck für das Gottes-Verhältnis.“¹⁰²²

Die Verweigerung des Gewollten lässt das Bedürfnis nach dem Gewollten steigen. Dies beschreibt die Entzogenheitsdialektik,¹⁰²³ die auch die Leidensdialektik ist

das Individuum unverfügbar ist, ohne das aber die (gewollte) Entfremdung von der Welt – das absolute Umgebildetwerden – nicht vollständig gelingen kann (vgl. Kapitel 2.3.3.1.1).  Diesbezüglich ist folgende Stelle interessant: „Der Existierende … begreift … die ganze dialektische Schwierigkeit, dass er einige Zeit,vielleicht lange Zeit brauchen wird, um Gott objektiv zu finden; er begreift diese dialektische Schwierigkeit in ihrem ganzen Schmerz, weil er Gott im selben Augenblick gebrauchen soll, weil jeder Augenblick, in dem er Gott nicht hat, verloren [spildt] ist*.“ (SKS 7, 183/ DUN, 341 (Hervorhebung d.Vf.)) Strukturell wird hierbei das Ziel (Gott), das entzogen ist („Schmerz“/Leiden), zugleich als der Grund des Lebensvollzugs gedacht, indem das Ziel (Gott) der Bewegung (Innerlichkeit) für einen gelingenden, erfüllten und nicht-defizitären Lebensvollzug im Moment des Vollziehens einbezogen sein muss. Da dies in Climacusʼ Konzeption des Religiösen unmöglich ist, bleibt das Leben als Innerlichkeit unreduzierbar unerfüllt, unfertig und deshalb eine ständige, leidenschaftlich-wollende Bewegung zum Ewigen. – Eine ausführliche Interpretation der zitierten Stelle findet sich bei: Ringleben, Aneignung, S. 257 ff.  Deshalb ist die lebensfüllende Aufgabe des Strebens zum Ewigen ein leidendes Streben, womit eine Bemerkung aus dem „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken interessant wird, wenn Climacus notiert: „Alles Werden ist Leiden …; denn durch die Wirklichkeit ist die Möglichkeit zunichte gemacht.“ (SKS 4, 274 / DPB, 88) Die Wirklichkeit als modal-ontologischer Gegensatz zur Möglichkeit wird in seiner existenziellen Charakteristik des Werdens als Leiden gefasst. Dies kann so gelesen werden, dass die existenzielle Wirklichkeit des Strebens (Werdens) in sich selbst der Grund dafür ist, daran gehindert zu werden, in der Ewigkeit ankommen zu können. Denn allein in der Zeit gibt es Bewegung (Werden), was die existenzielle Wirklichkeit von der Möglichkeit des Ewigseins ausschließt. Insofern wird durch die Wirklichkeit (Zeit, Werden) die Möglichkeit (Ewigkeit) zunichte gemacht. Das Individuum, das in der Wirklichkeit ist, ist damit von der Möglichkeit ausgeschlossen und darum im Leiden gefangen, nicht in die Ewigkeit hineinkommen zu können. Ihm bleibt nur die Einübung eines kontinuierlichen Übergangs, der die existenzielle, im „Zwischenspiel“ entworfene Bewegung zum Ewigen ist. Dass Climacus in diesem Sinne gelesen werden kann (bzw. muss) – dass das Individuum (Wirklichkeit) in sich selbst der Grund für das Leiden ist – zeigt sich, wenn Climacus die Erbauung als höchstes Verhältnis zu Gott darlegt und schreibt, dass das Gottes-Verhältnis erst dann (näherungsweise) gelingen kann, „wenn bloß alles, was im Weg steht, weggeschafft ist, jede Endlichkeit und vor allem das Individuum selbst in seiner Endlichkeit …“ (SKS 7, 510/ DUN, 766) Dazu genauer: Kapitel 2.3.3.3.3.  SKS 7, 412 / DUN, 637.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

333

und systematisch auf der Innerlichkeit als Leidenschaft, mit der das objektiv Ungewisse festgehalten wird,¹⁰²⁴ beruht. Denn indem die Innerlichkeit gerade das Zurückrufen vor und in die Ungewissheit ist,¹⁰²⁵ stellt sie das Bewusstsein dar, in dem sich das Wollen des Unverfügbaren manifestiert und so das Leiden konstituiert.¹⁰²⁶ Die darin liegende reziproke Struktur von unbedingter Hinwendung (Innerlichkeit) und Nicht-Erreichen (Leiden) bezeichnet Climacus auch als „Dialektik der Unendlichkeit“¹⁰²⁷, die darin besteht, „sich selbst unendlich resigniert und unendlich begeistert in der Sympathie der Unendlichkeit zu bewahren“¹⁰²⁸, also im Wollen das Unverfügbare besteht. Insofern die religiöse Aufgabe darin liegt, in das Leiden hineinzukommen (es zu entdecken), muss die Dialektik der Unendlichkeit freigelegt und darin das Leiden ausgehalten werden: „Das tägliche Leben in der entscheidenden Dialektik der Unendlichkeit zu haben und doch weiter zu leben: das ist die Kunst.“¹⁰²⁹ Die Kunst besteht also darin, trotz der Entzogenheit des Ewigen und der fehlenden Garantien des Erreichens in der Hoffnung auf dieselbe zu leben.¹⁰³⁰ Climacus betont dieses Trotzdem implizit durch den Begriff der Erwartung: „In der Zeitlichkeit ist die Erwartung einer ewigen Seligkeit der höchste Lohn, weil die ewige Seligkeit das absolute τελος ist; und das Zeichen dafür, dass man sich zum Absoluten verhält, ist gerade, dass nicht nur kein Lohn zu erwarten, sondern Leiden zu ertragen ist.“¹⁰³¹ Die Erwartung der Seligkeit ist der höchste Lohn, der darin liegt, dass Leiden zu ertragen ist, womit das höchste, was existenziell-religiös erreicht werden kann, im Gegenteil dessen besteht, was für gewöhnlich mit dem positiv konnotierten Begriff des Lohns – als Ent-/Belohnung für erbrachte Mühe – verstanden wird. Für die Erwartung einer ewigen Seligkeit gilt daher: „[I]ch soll bedenken, dass der Umstand, dass ich es so heftig gewünscht habe, kein

 Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  Vgl. SKS 7, 186/ DUN, 345.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.3  „[D]ie Religiosität [ist] die Innerlichkeit … und … das Leiden [hat] gerade hierin seinen Ursprung …“ (SKS 7, 397/ DUN, 618)  SKS 7, 99/ DUN, 232.  Ebd.  SKS 7, 85 (Anm.) / DUN, 214 (Anm.).  Die das Leiden bestimmende „Dialektik der Unendlichkeit“ kennzeichnet dasselbe als eine systematische Zwischenbestimmung von Verzweiflung und Innerlichkeit, von Abstoßung und Annehmen, womit dem Leiden die Struktur des Glaubens innewohnt (vgl. Kapitel 2.3.2.4.1).  SKS 7, 366/ DUN, 577.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Verdienst [Fortjeneste] ist …“¹⁰³² Erwartung zeichnet sich durch Resultatlosigkeit aus, weshalb sie nicht als ein Damit-Rechnen, dass dieses oder jenes geschieht, sondern aufgrund der Ungewissheit und Zukünftigkeit des Gewollten als Wartenmüssen konnotiert wird.¹⁰³³ Der Lohn der Erwartung liegt allein darin, dass auf die Seligkeit gehofft wird, diese Hoffnung aber gerade Leiden bedeutet (womit die Erwartung in ihrer inneren Spannung eine Modifikation der „Dialektik der Unendlichkeit“ darstellt). Nun zeigt aber die Betonung des Wartenmüssens auf einen Aspekt, der grundlegend für die Innerlichkeit gilt: die Haltung des Annehmens und Akzeptierens.¹⁰³⁴ Diesbezüglich muss die „Begeisterung der Religiosität im Leiden“¹⁰³⁵ betrachtet werden. Und das entscheidende Merkmal derselben formuliert Climacus (wenn auch mit ironisch-polemischer Kritik an geistlosem Predigen) an folgender Stelle: [I]n religiös begeisterter Überzeugung von der Bedeutung des Leidens für das höchste Leben soll er … über alles Sehnen des Wunsches lächeln … und … sich über den Schmerz des versagten Wunsches … erheben …¹⁰³⁶

Im Verstehen, dass das Leiden nicht überwunden werden kann, sondern das Leiden unreduzierbar in das religiöse Existieren eingeschrieben ist, liegt die existenzielle Einsicht, dass das, was gewollt wird, zwar nicht durch das Individuum allein erreicht werden kann, aber dieses Nicht-Erreichenkönnen anzunehmen ist. Das bedeutet nicht, dass das leidenschaftliche Festhalten am Ewigen aufgegeben werden soll, sondern dass das Individuum das Gewollte auch wirklich und permanent will, jedoch in dem Bewusstsein, dass dies alles ist, was es tun kann. Das Leiden wird bei Climacus somit erst dann recht verstanden, wenn in der Praxis der Innerlichkeit zugleich eine beurteilende Haltung zum Leiden einge-

 SKS 7, 164 / DUN, 317. Mit gleicher Stoßrichtung sagt Climacus: „Der erste wahre Ausdruck dafür, dass man sich zu dem absoluten τελος verhält, ist, dass man allem entsagt, wenn aber nicht im selben Augenblick der Rückgang beginnen soll, dann ist das wahre Verständnis davon, dass dieses allem Entsagen dennoch nichts ist, falls es das höchste Gut verdienen sollte.“ (SKS 7, 368/ DUN, 580)  Climacus deutet dies an folgender Stelle an: „Das präsentische Verhältnis ist das der Gewissheit und der Bestimmtheit, aber ein präsentisches Verhältnis zu einem Futurum ist eo ipso das der Ungewissheit, und darum ganz richtig das der Erwartung.“ (SKS 7, 386/ DUN, 603)  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.3.  SKS 7, 398/ DUN, 618.  SKS 7, 399/ DUN, 621.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

335

nommen wird. Dementsprechend gilt es bei Climacus eine bejahende Haltung („Begeisterung“) zum Leiden einzuüben.¹⁰³⁷ Diese Bejahung des Leidens bedeutet vor dem Hintergrund der Innerlichkeit und der praktischen Möglichkeit religiöser Lebensgestaltung, dass das Individuum im Religiösen zum Wollen gezwungen ist (denn das ist alles, was es für seine Erlösung tun kann), aber gleichfalls das Wartenmüssen, das Loslassen vom Erreichen des Ziels einüben soll. Die Innerlichkeit ist demnach die durch Beständigkeit konnotierte Wirklichkeit des Leidens¹⁰³⁸ als die leidensbejahende Praxis des Empfangens: Das Gewollte auch wirklich zu wollen, dabei aber alle Erwartung des Erreichens fahren zu lassen.¹⁰³⁹ In diesem Sinne gilt der Titel einer erbaulichen Rede Kierkegaards für Climacus: Geduld in Erwartung (2R44); eine erbauliche Rede, die nicht nur eng mit dem climacischen Denken verwoben ist, sondern in der es – in Climacusʼ Sinne – darum geht, sich nicht auf das Erreichen des Ziels zu versteifen, sondern in Erwartung das Warten zu lernen.¹⁰⁴⁰ So kann schließlich gesagt werden: In der Innerlichkeit als Haltung des Empfangenwollens wird die Existenz als Geduldsprobe des Erwartens betrachtet. Dies beschreibt nicht nur die vollständig umgebildete Existenz. Denn im von Climacus entfalteten systematischen Sinne der Verzweiflung ist diese Gedulds(ein)-übung des innerlichen Existierens auch ein (näherungsweise) nicht-verzweifeltes Existieren, sofern die Verzweiflung bei Climacus gerade Ausdruck der Ungeduld ist.¹⁰⁴¹ Zugleich ist die Verzweiflung wesentlich durch den Verstehensaspekt gekennzeichnet.¹⁰⁴² Das geduldige Existieren bezeichnet somit den Glauben wider den Verstand. Das aber bedeutet nicht, dass die näherungsweise Loslösung vom Verstehen (genauer: die Akzeptanz des Nicht-Verstehens) – der religiöse Kern der Innerlichkeit – ein Existieren ohne Leiden beschreibt. Denn gerade durch das Wollen des Unverfügbaren werden permanent die Entzogenheit von und die Ohnmacht gegenüber dem Ewigen ins Bewusstsein gedrängt. Die Haltung des Empfangenwollens ist demnach (lediglich) ein existenzieller Zustand des bewussten Umgangs mit dem Leidens im Leiden und so ein Vertiefen ins Leiden.

 „Religiös gesehen kommt es nämlich … darauf an, das Leiden zu fassen und so in ihm zu bleiben, dass man auf das Leiden reflektiert, nicht vom Leiden wegreflektiert.“ (SKS 7, 403/ DUN, 626)  „Die Innerlichkeit … fasst das Leiden als das Wesentliche.“ (SKS 7, 395/ DUN, 615) „[U]nter der Wirklichkeit des Leidens wird dessen Fortdauern … verstanden …“ (SKS 7, 402 / DUN, 625)  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  Vgl. Kapitel 3.3.1.3.  Vgl. SKS 7, 85, 504 / DUN, 215, 758.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.3.2.3 Existenz-anthropologische Bedeutung des Leidens Im Folgenden soll die existenz-anthropologische Bedeutung des Leidens in Auswahl betrachtet und auf die Innerlichkeit hin angewendet werden.

Krise und Selbstzentrierung Das Leiden ist ebenso wie die Leidenschaft¹⁰⁴³ nicht nur Signum für das existenzielle Absorbiertsein des Individuums in dem Prozess des religiösen Wollens, sondern auch Ausdruck für die systematische Implementierung von Wirklichkeitserfahrung in den Aspekt der Religiosität: „Leiden … bedeutet, dass wirklich gelitten wird …“¹⁰⁴⁴ Das ist die Leidens-Wirklichkeit. Im Leiden wird der Ewigkeitsbezug konkret; das Individuum spürt den konkreten Verlust, die Entzogenheit des Gewollten, weshalb es sich in einer es durchdringenden, emotionalen Krisenerfahrung des Wollens befindet.¹⁰⁴⁵ Wirkliches Leiden bedeutet in diesem Sinne Schmerz ¹⁰⁴⁶, der durch seine affektive und leibliche Dimension Signalcharakter besitzt.¹⁰⁴⁷ Der Mensch ist im Leiden an sich selbst ausgeliefert und rückt dabei so nah an sich heran, dass er sich nicht mehr negieren kann.¹⁰⁴⁸ Es wird sich über seine Leiblichkeit (in diesem Fall verstanden als ein über die

 Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.  SKS 7, 402 f. / DUN, 625.  Darin liegt eine grundlegende Übereinstimmung zwischen dem climacischen Leiden und der Gottessuche in den Confessiones Augustinus’. Zu Augustinus: Deuser, Religionsphilosophie, S. 112 ff.  Man vergleiche hierzu die im vorhergehenden Kapitel besprochene Stelle zur Schmerzhaftigkeit der Entzogenheit Gottes.  Ich beziehe mich auf: Siegfried Lenz, „Über den Schmerz (1993)“, in ders., Gelegenheit zum Staunen, hg. von Heinrich Detering, Hamburg 2014, S. 374– 388, hier S. 378 f. Es könnte sich ebenfalls auf Ludwig Wittgensteins Bemerkungen zum Schmerz bezogen werden: vgl. ders., Philosophische Untersuchungen, u. a. § 302; ders., Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie, Band 1, u. a. § 767. Und ebenfalls: Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 694, 768.  Hierbei muss auf Hannah Arendts kurze, aber sehr gedankenreiche Ausführungen zum Schmerz verwiesen werden: vgl. dies., Vita activa, S. 63 f. Sie charakterisiert den Schmerz als die „privateste aller Erfahrungen“, die sich nicht nur der Mitteilbarkeit entzieht, sondern dem Individuum auch die äußere Wirklichkeit entzieht, weil die Intensität des Schmerzes nur auf ihn fokussieren lässt. Der Schmerz führt aus der Um- und Mitwelt heraus, hinein in eine auf reine Schmerzintensität reduzierte Innensicht des Subjekts. – Und eben dies kann auch für das Leiden bei Climacus gesagt werden. Es ist die radikale Subjektivierung des Subjekts: fokussiertes Sich-zusich-Verhalten, durch den Filter des Schmerzes. Dabei wendet es sich von der Außenwelt ab (Resignation) und wird gleichfalls durch die Intensität des Leidens abgewendet (Aktivität und Passivität fallen zusammen). Leiden ist Selbst-Erfahrung.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

337

physische Präsenz vermittelte psychische Erfahrung) seiner selbst gewahr;¹⁰⁴⁹ wird sich konkret und bringt sich in Erfahrung. ¹⁰⁵⁰ Diese Erfahrung des Leidens ist eine Wahrnehmungsschärfung gegenüber der eigenen Person und trägt Erkenntniszuwachs in sich. Das Individuum wird sich im Leiden nicht nur der Vorläufigkeit und Ungewissheit des Daseins, sondern auch seiner Begrenztheit und Gegensätzlichkeit gegenüber dem Gewollten bewusst; dass es dem Unerreichtbleiben-Können und Verlieren-Können von Gewolltem anheimgestellt ist. Leiden ist in diesem Sinne Ausdruck der menschlichen Grundbefindlichkeit des Ausgesetztseins an das Unverfügbare (also – religionsphänomenologisch – die Konkretion eines „resignierenden“ Glaubensvollzugs). Dadurch ist das Leiden gleichfalls die Kennzeichnung dafür, dass der Mensch ein verletzliches Wesen ist, weil er der Kontingenz und Veränderung und somit der stetigen Durchkreuzung von Sicherheit, Beständigkeit, Gewissheit, Unveränderlichkeit unterworfen ist.¹⁰⁵¹ Aus struktureller Perspektive zeigt sich dabei die egozentrische Perspektive im climacischen Leiden; sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der schmerzhafter Erfahrung ausgesetzt ist; nicht nur ausgesetzt sein kann, sondern ausgesetzt ist – „dass wirklich gelitten wird“. Die (krisenhafte) Selbstzentrierung wird scheinbar durch den Aspekt verstärkt, dass es dem Individuum um seine Erlösung geht. Doch diese Form der Selbstzentrierung ist eigentlich eine strukturelle Minimierung der Ego-Zentrizität. Denn durch Pathos und Resignation wendet sich das Individuum allein dem Ewigen zu, womit nicht reflexive Selbstumkreisung in den Fokus rückt, sondern die eigene Person im Dienst des Höheren.¹⁰⁵² Die Selbstzentrierung wird dabei also auf eine strukturelle Notwendigkeit reduziert. Im Leiden besteht demnach eine signifikante Ambivalenz des Sich-zu-sichVerhaltens: existenzielle Hypostasierung und Reduktion. Die systematische

 Dass das Leiden nach der vorliegenden Deutung eine konkret-leibliche Dimension besitzt, rückt Climacus in die Nähe Schopenhauers. Das Leiden besitzt bei Schopenhauer ja nicht nur eine leibliche Dimension, sondern ist ja auch an den Willen gebunden. Während es aber bei Schopenhauer um die Überwindung des Leidens durch die Negation des Willens und die leibliche Askese geht, ist bei Climacus hingegen eine Vertiefung ins Leiden intendiert. Zu einem genaueren Vergleich zwischen der Leidensauffassung Schopenhauers und Kierkegaards: Tobias Hölterhof, „Schopenhauer und Kierkegaard: Leidende Philosophie und Philosophie des Leidens“, in Schopenhauer – Kierkegaard, S. 235 – 252. Für den vorliegenden Zusammenhang sind besonders interessant: ebd., S. 237 f. und 250.  Vgl. Kapitel 2.2.5.3.  Dieser Gedanke ist von Arne Grøn entlehnt: vgl. ders., „Religion und Subjektivität“, S. 98.  Das wird ganz ähnlich auch von Almut Furchert festgehalten, die die von mir genannte strukturelle Reduktion als ein Über-sich-Hinausgehen des Individuums betont. (Vgl. dies., Das Leiden fassen, S. 229)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Konsequenz ist: Religiöses Existieren ist Ewigkeitsbezug im konkreten Selbstbezug. Oder anders gesagt: Als Leiden ist Religiosität die Konkretion vor dem Ewigen. Und aus existenzphänomenologischer Perspektive ist eben dies die von Climacus intendierte und auf existenzieller Wirklichkeitserfahrung beruhende Innerlichkeit – das reflexionsphilosophische und existenzielle Selbst-Verhältnis vor Gott¹⁰⁵³.¹⁰⁵⁴

Trost Bedeutet Religiosität Trost; und speziell bei Climacus: Trost vom Leiden? Was sind die Charakteristika des Phänomens Trost? Ausgehend von Hans Blumenberg kann das Verhältnis von Leiden und Trost bei Climacus dargelegt werden. Der Trost gehört in die erste Verarbeitungsphase des Leids, des Schmerzes, des Verlusts. Er überbrückt die akute Nachpräsenz der Unerträglichkeit und die noch bestehende Erinnerungsfähigkeit. Trost gehört zu dem, was Weiterleben nach einem Punkt, der es unmöglich zu machen schien, dennoch möglich macht. Es bleibt dabei: Der Mensch ist das Wesen, welches »trotzdem« zu leben vermag. Trostbedürftigkeit und Trostfähigkeit sind Instrumente dieser Position inmitten der Negation.¹⁰⁵⁵

Blumenbergs Anthropologie geht, ähnlich wie die Arnold Gehlens, von der Bestimmung des Menschen als „Mängelwesen“ aus.¹⁰⁵⁶ Der Trost ist ein Kompensationsvermögen (und das Bedürfnis nach Kompensation),¹⁰⁵⁷ das Leid und die durch es verursachte Negationserfahrung und vollständige Gewahrwerdung der-

 Vgl. Kapitel 2.3.1.  Und das bedeutet aus einem exegetisch-systematischen Blick heraus, dass die Innerlichkeit eine existenzielle Praxis zwischen Leidenschaft (dem unbedingten Willen des Unverfügbaren) und Leiden ist. Sieht man von der Haltung des Empfangenwollens ab und betrachtet lediglich die strukturelle Spannung zwischen Leidenschaft und Leiden, so verstärkt erstere das Leiden und macht es zugleich erträglich. Die strukturelle Dialektik besteht darin, dass durch den leidenschaftlich-leidenden Ewigkeitsbezug der Selbstbezug konkret wird und der Ewigkeitsbezug durch den Selbstbezug erst seine existenzielle Bedeutung bekommt.  Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 633. Zur genaueren Auslotung des Trostes in seiner anthropologischen Funktion: vgl. ebd., Kapitel IX („Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen“), S. 621– 655, besonders S. 621– 635.  Zum Verhältnis von Blumenbergs und Gehlens Anthropologie und zur Diskussion der Chiffre „Mängelwesen“: Oliver Müller, Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie, Paderborn 2005, S. 272– 288.  Vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 632.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

339

selben abzumildern und deshalb trotz des Leides das Leben fortzuführen.¹⁰⁵⁸ Blumenberg versteht den Trost als „erste Verarbeitungsphase“, in der die Kompensation des Leids durch von außen kommende Hilfe (die Trostfähigkeit anderer) geschieht.¹⁰⁵⁹ Diese Bestimmung des Trostes, auf Climacusʼ Konzeption des Leidens angewandt, erhellt dessen eigene Auffassung von Tröstung. Dafür muss geklärt werden, wie sich das Verhältnis zwischen Kompensation vom Leiden und leidendem Existieren bestimmt. Das Leiden ist bei Climacus in die anthropo-ontologische Struktur des Menschen eingelassen. Der Mensch ist – in Gehlens Terminologie – ein Mängelwesen gegenüber der Verfügbarmachung des Ewigen. Wird nun ein Trostbedürfnis des Menschen (Blumenberg) angenommen, ist die Frage: Wie würde sich die Kompensation des Leidens bei Climacus realisieren lassen? Erstens dadurch, dass das Individuum sich aus seiner Innerlichkeit herausbegibt und sich – mit Climacus gesprochen – absolut zum Relativen (allein zur Welt und nicht zum Ewigen) verhält, also die Religiosität dadurch verweigert, dass es sich seiner Mängelstruktur gegenüber dem Ewigen nicht bewusst wird: das Leiden nicht „entdeckt“. Aber nur, wenn die eigene Mangelhaftigkeit ins Bewusstsein tritt (Leiden), kann von einem religiösen Existieren bei Climacus gesprochen werden. Zweitens könnte Kompensation durch ein direktes Verhältnis zu Gott geschehen beziehungsweise dadurch, dass Gott dem Menschen entgegentritt (Augenblick), wodurch die eigene Mängelstruktur von außen überwunden würde. Das Leiden impliziert in diesem Sinne eine Überwindungsforderung, die einem überexistenziellen Ordnungszusammenhang entspringt. Und das ist ja innerhalb des religiösen Existierens – und trotz der objektiv-kontingenten Unverfügbarkeit des Augenblicks¹⁰⁶⁰ – eine als real angesehene Möglichkeit (Hoffnung) konnotiert, womit die Wiederholungsbewegung interessant wird. Denn indem diese die Bewegung zum Augenblick ist, kann das innerliche Existieren auch als eine LeidenKompensationsbewegung gesehen werden, in der die Tröstung vom Leiden empfangen werden will.¹⁰⁶¹ Aber diese Intention des Trostes zeigt umso mehr die Realität des Leidens. Und selbst wenn die „Begegnung“ mit Gott geschähe, würde

 Blumenberg spricht hierbei von der „Vermeidung der Auseinandersetzung“, von der „Vermeidung des Bewusstseins“ oder auch von der „Distanzierung der Wirklichkeit“: vgl. ders., Beschreibung des Menschen, S. 621, 627, 629.  Blumenberg nennt dies die „Delegation des Leidens“: vgl. ders., Beschreibung des Menschen, S. 625.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Dass Climacusʼ Ausführungen diese Deutung unterstützen, wird sich anhand des „Schweigens“ zeigen: vgl. Kapitel 2.3.3.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

dies in einem ekstatischen Nicht-Bewusstsein passieren. Erst im Nachhinein,¹⁰⁶² im Bewusstsein vom Verlust der „Tröstung“ würde dieselbe erkannt – wenn das Individuum erneut im Zustand des Leidens wäre. Indem also die strikte Hinwendung zum Ewigen und die niemals zu negierende Bewusstwerdung von dessen Entzogenheit die Religiosität als Nicht-Kompensation vom Leiden definieren, kann das Individuum nicht getröstet werden. Das Einzige, was es tun kann, ist ein bewusster Umgang mit dem Leiden: die Innerlichkeit. Deren Haltung des Annehmens darf hierbei nicht als eine Selbsttröstung des Individuums verstanden werden, indem die Akzeptanz des Leides gleichgültig gegenüber dem Leid macht. Denn die Akzeptanz bedeutet ein Aushalten. Will das Individuum demnach getröstet werden, ist es noch nicht in der Innerlichkeit des Annehmens und somit noch nicht in der Bereitschaft des Aushaltens. Und eben dies beschreibt das existenzielle Trotzdem: ¹⁰⁶³ Vordringen zum Leiden und erst in der dann praktizierten Trost-Losigkeit des Sich-Aussetzens und der Nicht-Milderung wirklich existieren.¹⁰⁶⁴ In diesem Sinne entzieht sich die Innerlichkeit als Wirklichkeit des Leidens der Kategorie des Trostes.¹⁰⁶⁵ Ausgehend hiervon kann die von mir in der Einleitung zu Kapitel 2.3.3.2 gehegte Hypothese, dass Climacus mit der ausufernden Darstellung des Leidens in der Unwissenschaftlichen Nachschrift ein Bild der Existenz entwirft, in der das Individuum beständig von tragischer Untröstlichkeit begleitet wird, abgewiesen werden.

Entdecken und Conditio humana Weil der Ewigkeitsbezug immer schon im Menschen angelegt ist,¹⁰⁶⁶ ist ebenfalls das Leiden in der anthropo-ontologischen Struktur des Menschen angelegt.¹⁰⁶⁷

 Zu den Charakteristika der Begegnung, des Nicht-Bewusstseins und des Nachhineins des Augenblicks: vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Vgl. Kapitel 2.3.3.2.2.  Blumenberg spricht an der zitierten Stelle selbst vom Trotzdem-Leben. Bei Blumenberg beruht das Trotzdem auf der Fähigkeit des Menschen, einen Mangel zu kompensieren und dadurch den Mut zum Weiterleben zu erringen. Bei Climacus liegt das Trotzdem hingegen darin, dass sich gegen alle Kompensation dem Leiden ausgesetzt wird. Während bei Blumenberg das Trotzdem strukturell als Gegenbewegung zum Leiden verstanden wird, ist in Climacusʼ Existenzverständnis ein Trotzdem der Steigerung intendiert.  In Anbetracht der Trostbedürftigkeit des Menschen könnte jedoch durchaus der systematische Kompromiss festgehalten werden, dass die Innerlichkeit sowohl eine Gegenbewegung zum Trost (die Aufrechterhaltung des Leidens als Signum der Religiosität) als auch eine Trostbewegung (Wiederholungsbewegung) darstellt.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Das Entdecken des Leidens bedeutet dann Ent-Decken, d. h. Freilegen, Verstehen. Zum anderen wird das Leiden nur dann entdeckt, wenn es erfahren wird. Mit dem Begriff des Entdeckens wird also der Anthropo-Ontologie (als systematischer Ausgangspunkt für die conditio humana ¹⁰⁶⁸) mit einer anthropologischen Existenzphänomenologie des Bewusstseins begegnet.Worin besteht in Anbetracht des Entdeckens die conditio humana beziehungsweise was kennzeichnet den Menschen unter der Bestimmung des Leidens? Grundsätzlich bedeutet das Leiden, dass das Wollen jene menschliche Eigenschaft und Fähigkeit ist, die den Mensch dazu befähigt, Ziele in den Blick zu nehmen, die jenseits des Erreichbaren liegen¹⁰⁶⁹.¹⁰⁷⁰ Leiden ist der Ausdruck dafür, sich aus reiner Zweckorientierung befreien zu können, um das Unmögliche

 Damit wird eine Bemerkung Climacusʼ verständlich, in der er sagt, dass das Leiden „keine Selbstquälerei“ [Selvplagerie] bedeutet (SKS 7, 421 / DUN, 649), eben weil es eine – wie herausgestellt wurde –Notwendigkeit des religiösen Existierens darstellt.  Vgl. Kapitel 2.3.2.1.  Vergleiche auch die Interpretation der „Samariter-Szene“ in Kapitel 2.2.4.3.  Ein in diesem Zusammenhang interessantes Beispiel gibt Kierkegaard in seiner Rede Gottes Unveränderlichkeit von 1855. Er schreibt: „Denk dir einen Wandersmann; er steht am Fuß von einem ungeheuren, einem unübersteigbaren Berg. Dieser ist es, den er … nein, den er nicht überwinden soll, sondern dieser ist es, den er überwinden will, denn seine Wünsche, seine Sehnsucht, sein Begehren, seine Seele … sind schon drüben auf der anderen Seite, und an was es mangelt, ist bloß, dass er hinterher folgt.“ (SKS 13, 332 / GU, 267) Das Bemerkenswerte ist hierbei, dass Kierkegaard nicht nur die Problematik der jenseits aller Erreichbarkeit liegenden Ziele in den Blick nimmt (Leiden), sondern dass die Unerreichbarkeit des Ziels existenzialisiert wird. Das handlungstheoretische Problem liegt darin, dass die Intentionalität des Individuums in den konkreten Existenzvollzug übersetzt werden muss („dass er hinterher folgt“). In diesem Sinne ist das Leiden, hier von Kierkegaards Rede ausgehend, handlungstheoretisch eine in die Spannung zwischen Intentionalität und existenzieller Konkretion verlagerte Praxis, in der die Intensität des Wollens die Durchführung der Handlung bestimmt (vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Climacus’ Handlungsbegriff in Kapitel 2.2.4.1). Der existenzielle Aspekt dabei ist, dass das Leiden die Überwindung zum Handeln darstellt, trotz der Unerreichbarkeit des Ziels: also eine Praxis darstellt, die nicht nur die Intentionalität ausdrückt, sondern mehr als Intentionalität ist. Die Überwindung zum Handeln ist in diesem Sinne die Übergangsbestimmung zwischen Intentionalität und konkretem Existenzvollzug, die zugleich Ausdruck einer höherstufigen Bewertung der eigenen Handlungssituation ist, denn jede Überwindung geschieht vor dem Hintergrund zu wissen, worauf man sich einlässt. Im Leiden fallen demnach sowohl die Stellungnahme als höherstufige Bewertung des eigenen Handelns und die Unmittelbarkeit des Handlungsvollzugs zusammen. Das Leiden birgt dann als existenzielles Phänomen den Aspekt in sich, dass das Individuum im Leiden an sich selbst ausgesetzt ist und dabei gleichfalls eine Transzendierung seiner selbst vornimmt. Denn im konkreten Leiden stellt es sich in den Dienst der Aufgabe und transzendiert sich in diesem Sinne in eine entpersönlichte Haltung (die Aufgabe ist das Wichtige), die gleichfalls in ihrer existenziellen Konkretion ein persönliches Angegangensein von der Aufgabe bedeutet.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

zu versuchen. Der im Leiden zum Ausdruck kommende Versuch, Möglichkeiten zu erreichen, die sich der eigenen Verfügbarkeit entziehen, kennzeichnet den Menschen als Wesen, das selbst im Unwegbaren danach bestrebt ist, mit Ausdauer nach Lösungen zu suchen, dieses Suchen jedoch immer zugleich auch Ausdruck eines Ver-Suchens ist – sowohl im Sinne des unaufhörlichen Probierens, als auch des Niemals-zum-Resultat-Kommens¹⁰⁷¹ (zumal das Ewige das objektiv Ungewisse ist, das nur deshalb orientierungsstiftend ist, also das Individuum gegenüber dem Ewigen nur deshalb die Orientierung nicht verliert, weil es in Climacusʼ Philosophie als Realitätsfaktum angenommen wird¹⁰⁷²). Ausgehend von der Konnotation des Ent-Deckens bedeutet Leiden dann ganz basal, dass ein Bewusstsein von Möglichkeit und Unmöglichkeit eintritt. Dieses Kontingenzbewusstsein wird durch das Leiden zu einem das Individuum in seiner Ganzheit bestimmenden Faktum.¹⁰⁷³ Im Entdecken des Leidens liegt das Verstehen menschlicher Unzulänglichkeit und (unfreiwilliger) Unfähigkeit; die Notwendigkeit, sich als Mängelwesen von unreduzierbarer Fehlbarkeit verstehen zu müssen. Und eben dies wurde ja als Innerlichkeit herausgestellt.¹⁰⁷⁴ Ausgehend von der Konnotation der existenziellen Erfahrung bedeutet Leiden schließlich nicht nur die Erfahrung des Schmerzes, sondern ebenfalls, dass der Mensch als leidendes Wesen ein leidensfähiges Wesen ist, weil es ihm möglich ist, das Leiden anzunehmen (Innerlichkeit). Darin liegt das Potenzial menschlicher Widerstandsfähigkeit: das Unaushaltbare zu ertragen. Dies wird bei Climacus von dem Gedanken bestimmt, dass das Individuum die Fähigkeit besitzt, über sich selbst hinauszugehen, indem es gegenüber einem übergeordneten Zusammenhang (religiös: Gott) von sich ablässt. Und das zeigt wiederum die menschliche Fähigkeit, sich zugunsten des Anderen dezentrieren zu können (ohne dezentral zu werden), um den Anderen zu Wort kommen zu lassen.¹⁰⁷⁵ Die Dialektik ist hierbei: Leidensfähig wird das Individuum dadurch, dass es sich unter einem ihm übergeordneten Zusammenhang versteht; aber weil es sich zugleich von diesem übergeordneten Zusammenhang her versteht, leidet es.¹⁰⁷⁶

 Eben dies beschreibt ja aneignungstheoretisch die Innerlichkeit – ein nicht zu Ende kommender Prozess der Auseinandersetzung: vgl. Kapitel 2.1.2.3.1.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.1.  Vergleiche auch die Ausführungen zum Selbstsein in Kapitel 2.3.2.4.3.  Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Denn die Bewegung zum Ewigen beschreibt letztlich nichts anderes, als dass Gott zum Menschen spricht (Augenblick); sich der Mensch von Gott gesehen weiß; „in der Zeit von Gott gekannt“ wird (SKS 7, 409/ DUN, 633).  Denn der übergeordnete Zusammenhang – Gott – gibt Halt, ohne Erfahrungsevidenz.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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2.3.3.3 Negation und Epoché „[D]ie größte Anstrengung ist daran kenntlich, dass man durch sie zu nichts wird …“¹⁰⁷⁷ „[W]er nicht das Totale entdeckt, der entdeckt eigentlich nichts.“¹⁰⁷⁸

Die von Climacus gegebene, zugespitzte Formel für das religiöse Existieren lautet: „Ein Mensch vermag gar nichts … Der Religiöse befindet sich in diesem Zustand …“¹⁰⁷⁹ Eben dies ist das Leiden. Das Gewollte und Begehrte kann nicht verfügbar gemacht werden. Um nun aber dem Gegenstand des religiösen Interesses, Gott, so nahe wie möglich zu sein, gibt Climacus eine auf die Entzogenheit Gottes reagierende, existenzielle Konsequenz: die Selbstvernichtung. Die Negation jeglichen Selbst-Verstehens gerät dabei zur Bedingung der Möglichkeit einer wesensoffenbarenden Epoché, was systematisch durch den Begriff der Erbauung abgedeckt wird. Die Unzugänglichkeit Gottes gipfelt dabei einerseits in einer existenziellen Annihilation und wird andererseits selbst zum Ausdruck der GottesVergegenwärtigung. Wie aber sind Selbstvernichtung und Epoché (Erbauung) genau zu verstehen und systematisch zu fassen? Dafür muss zunächst kurz das existenz-religiöse Denkprinzip Climacusʼ zugespitzt werden, um in den darauffolgenden zwei Teilkapiteln (2.3.3.3.2– 3) die genannten Konzepte der Selbstvernichtung und Erbauung exakt erfassen zu können. Im Zuge dieser Erörterung wird die bisherige Diskussion strukturell sublimiert. Denn sowohl die Bewegungsdialektik (Wiederholung und Augenblick), die Selbstrelativierung (Pathos, Umbildung und Resignation), der existenzielle Umgang mit der Ungewissheit und der identitätstheoretische Glaubensvollzug (Innerlichkeit) zeigen sich in den folgenden Ausführungen auf das Engste miteinander verschränkt.

2.3.3.3.1 Dialektik der Negation In Climacusʼ Ausführungen können mehrere systematische Formen von Negativität ausgemacht werden.¹⁰⁸⁰ Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist vor

 SKS 7, 421 / DUN, 650.  SKS 4, 25/ DW, 348.  SKS 7, 440/ DUN, 675. Dies ist in Anbetracht der vorhergehenden Ausführungen zur Bedeutung des Leidens dialektisch zu verstehen: Nichts zu vermögen bedeutet, es trotzdem zu versuchen.  Das Gottesverhältnis zeichnet sich zunächst durch eine dialektische Negativität aus, wie Climacus in hegelscher Terminologie betont: „[D]as Positive ist beständig im Negativen …“ (SKS 7, 476/ DUN, 722) Und das bedeutet: das Sein ist im Werden (vgl. SKS 7, 81 / DUN, 210) oder mit Hegel

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

allem eine ontologisch bedinget Negativität: Dass das Ewige und die Existenz in einem gegenseitigen ontologischen Ausschlussverhältnis stehen. Das eine ist des anderen Negation. In dieser gegenseitigen Negativität liegt die Dialektik der Negation ¹⁰⁸¹, die neben der Entzogenheits-/Leidensdialektik die grundlegende Dialektik des religiösen Existierens darstellt. Der systematische Kern der Negationsdialektik liegt in der Struktur der existenziellen Entsprechung im ontologischen Gegensatz ¹⁰⁸² – und zwar aus der Pergesagt: das Wesen liegt dialektisch in der Bewegung, was bei Climacus bedeutet: Gott ist dialektisch in der Existenz, was er in den Philosophischen Brocken damit betont, wenn er anmerkt, dass es existenz-systematisch darum geht, „die Idealität Gottes dialektisch ins faktische Sein hineinzubekommen.“ (SKS 4, 247 (Anm.) / DPB, 55 (Anm.)) – was dann und nur dann möglich ist, wenn das Individuum glaubt. In der existenziellen Handlung des Glaubens ist das Verhältnis zu Gott wiederum durch Ungewissheit, Unruhe, Verzweiflung, Leiden geprägt. Diese Phänomenologie muss als existenzielle Negativität bezeichnet werden (vgl. dazu: SKS 7, 413/ DUN, 639; SKS 7, 393 (Anm.) / DUN, 612 (Anm.); SKS 7, 509 (Anm.) / DUN, 764 (Anm.)). Die existenzielle Negativität zeigt dabei, ebenso wie die dialektische Negativität, eine nicht aufzuhebende Spannung zwischen dem Ewigen und seinem Gegenteil, der Existenz, an. Denn das existenziell Negative ist Ausdruck für ein aus religiöser Perspektive ontologisches Defizit des Menschen. Insofern jedes existenzielle Verhältnis zum Ewigen Ausdruck des Ausgeschlossenseins des Menschen vom Ewigen ist, kann dasselbe nur als das Unverfügbare verfügbar sein. Und zwar im Sinne der Entzogenheitsdialektik: Je mehr das Ewige als das Negative (der Existenz) bewusst wird, umso stärker wird das Verhältnis zu ihm. Im absoluten Bewusstsein der Unverfügbarkeit ist das Unverfügbare im höchsten Maß zugegen. Zu Gott besteht also allein dann ein Verhältnis, wenn Gott als das dem Individuum absolut Negative (Entgegengesetzte und Entzogene) vergegenwärtigt ist: „In dem unendlichen leidenschaftlichen Interesse für ihre ewige Seligkeit befindet sich die Subjektivität in ihrer größten [yderste] Anstrengung, im äußersten, … wo Gott negativ in der Subjektivität ist …“ (SKS 7, 57/ DUN, 184)  Ich vermeide den Begriff „negative Dialektik“, wie er beispielsweise von Helmuth Vetter (ders., Stadien der Existenz, S. 136) oder Michael Theunissen (u. a. ders., Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Frankfurt am Main 1991) in Bezug auf Kierkegaard angewandt wird. Aus zwei Gründen: Einerseits um, wenn auch nur oberflächlich, den Eindruck zu vermeiden, dass die von Climacus angewandte Dialektik in einem direkten Bezug zu Adornos „Negative[r] Dialektik“ stehe; andererseits, auf sachlicher Ebene, dass der wesentliche Aspekt der „negativen Dialektik“, zu keiner Synthese der Gegensätze führen zu können, für Climacusʼ Existenzbetrachtung nicht zutrifft. Denn obwohl er, ausgehend von seiner Ontologie, mit absoluten Gegensätzen operiert, ist das Existieren und vor allem die Innerlichkeit die Vereinigung der Gegensätze in der Unvereinbarkeit (Stichwort: „Inter-esse“). Dem ontologischen Problem wird mit einer anthropologischen Lösung begegnet. Unter anderem wurde dies in der Bewegungsanalyse dadurch deutlich, dass die Existenzbewegung eine Abbild-Bewegung des Ewigen ist. Auch anhand des Stichworts „Existenzialisierung“ (des Ewigen) zeigt sich, dass Climacus keine „negative Dialektik“ verfolgt.  Mit dieser Formel sind aus existenz-religiöser Perspektive mehre systematische Sachverhalte auf den Punkte gebracht: Die Negationsdialektik ist Ausdruck der dritten bewegungsdialektischen Bestimmung (vgl. Kapitel 2.3.2.2.3). Denn die negationsdialektische Entsprechung im Gegensatz bedeutet im Sinne der bewegungsdialektischen Bestimmung: dass die größte Annä-

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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spektive des existierenden Individuums, d. h. von dem Blickwinkel her, dass das Ewige eine dem Menschen unverfügbare Negation weltverwobener Existenz darstellt. Die negationsdialektische Entsprechung des Individuums gegenüber Gott liegt dann in der Negation der Negation Gottes. ¹⁰⁸³ Von einem Verhältnis zu Gott (Glaube) kann nur gesprochen werden, wenn das Gegenteil des Ewigen, die Existenz, negiert wird. Dieser Negationsprozess beschreibt eine apotheotische Existenzialisierung des Ewigen, in der die (negierte) Existenz selbst zum Ausdruck des Ewigen wird.¹⁰⁸⁴ Und es geht dabei um nichts anderes, als auf existenz-religiösem (und

herung an das Ewige nur in unüberwindbarer Entzogenheit zum Ewigen geschieht. Demzufolge entspricht die Negationsdialektik der climacischen Konzeption der Innerlichkeit als existenzielles Pendant der Wiederholung, die die Entsprechung von Metron (Praxis) und Telos (Erlösung) der Bewegung (Existenz) darstellt (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2), aus deren Verhältnis die dritte Bewegungsdialektische Bestimmung hervorgeht. Daraus ergeben sich zwei existenzielle Sachverhalte: Einerseits ist das Wagen (vgl. Kapitel 2.3.3.1.2) benannt, das darin besteht, an die Wirklichkeit der Erlösung zu glauben und das eigene Leben für diese Wirklichkeit zu leben, um der Möglichkeit, die sich daraus ergibt, zu entsprechen. Ebenfalls ist das Empfangenwollen impliziert (das aus der dritten bewegungsdialektischen Bestimmung – über die die Darlegung der Entzogenheitsdialektik – herausgestellt wurde). So wurde die Negationsdialektik auch ganz konkret im Kapitel 2.3.2.3.3 angedeutet, als im Unterpunkt zum Empfangen gesagt wurde, dass in der Negation dessen, was den Unterschied zum Ewigen ausmacht, die (negative) Entsprechung zum Ewigen liegt. Das Empfangen zeigt sich im folgenden Unterpunkt zur Selbstvernichtung, die die existenzreligiöse Konsequenz der Negationsdialektik ist.  Denn aus der Perspektive des existierenden Individuums ist die höchste (existenzielle) Entsprechung im (ontologischen) Gegensatz zu Gott, dem absoluten Sein, die Vernichtung des Weltlichen als Entsprechung zu Gottes Entzogenheit. [Anm.: Diese Struktur der existenziellen Konkretion (Vernichtung) als negationsdialektische Entsprechung ontologischer Unverfügbarkeit (das Ewige) zeigt sich auch religionsphänomenologisch. Denn der Seligkeit wird bei Climacus mit dem Leiden begegnet (vgl. SKS 7, 413/ DUN, 639; SKS 7, 393 (Anm.) / DUN, 612 (Anm.); SKS 7, 509 (Anm.) / DUN, 764 (Anm.)), weil das Leiden phänomenologisch eben die negationsdialektische Entsprechung zur Abwesenheit ewiger Glückseligkeit ist.] Dies ergibt sich daraus, dass die Abwendung vom Erreichbaren (bei Climacus: Resignation) die negationsdialektische Hinwendung zum Unerreichbaren (bei Climacus: Pathos) ist. Und dies bedeutet eben: In der existenziellen Negation der Existenz findet die größte Entsprechung zum Ewigen als ontologische Negation der Existenz statt. – In dieser dialektischen Struktur der religiös-existenziellen Denkens Climacusʼ liegt im Übrigen die größte Nähe zur sokratischen Philosophie im Phaidon. Die Entsagung von der Welt führt zur höchstmöglichen Annäherung und Verähnlichung bezüglich des Ewigen. Zu Platon: Kapitel 2.3.3.1.2.  Vergleiche die Ausführungen zur Bewegungsdialektik (Kapitel 2.3.2.2.2), in der die Wiederholung als Existenzialisierung und apotheotische Abbildung des Ewigen herausgestellt wurde und zwar dadurch, dass im Gegensatz zum Ewigen, der Zeit, eine kontinuierliche Bewegung praktiziert wird, die dem Ewig-Kontinuierlichen näherungsweise entspricht. Ergo: Im ontologischen Gegensatz zum Ewigen wird der ontologische Gegensatz zur Existenz ausgedrückt.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

damit negationsdialektischem) Wege den ontologischen Status des Unerreichbaren erreichen zu wollen.¹⁰⁸⁵ Damit dies näherungsweise gelingt (und es kann nur näherungsweise gelingen¹⁰⁸⁶), muss sich das Individuum selbst innerhalb der Dialektik der Negation existenziell verorten.¹⁰⁸⁷ Dies trägt die notwendige Konsequenz in sich, dass sich „das Individuum … selbst beiseite schafft …“¹⁰⁸⁸ Denn es selbst ist Teil der Welt, die zugunsten des Ewigen negiert werden soll. Wie ist diese Selbstvernichtung genau zu verstehen?

2.3.3.3.2 Selbstvernichtung Climacusʼ zentrale Aussage zur negationsdialektischen Ausprägung der Selbstvernichtung lautet: „[D]as Gottes-Verhältnis ist … am Negativen kenntlich, und die Selbstvernichtung die wesentliche Form des Gottes-Verhältnisses …“¹⁰⁸⁹ Die Selbstvernichtung ist dann und in Anbetracht seiner religiösen Terminologie als ein Prozess der Umbildung charakterisiert, in dem die Abwendung von der Welt/ der eigenen Person (Resignation) und Hinwendung zum Ewigen (Pathos) der negationsdialektischen Entsprechung (gegenüber dem Ewigen) dient. Als solche negationsdialektische Apotheose ist die Selbstvernichtung ein bewusster Prozess absoluter Selbst-Relativierung,¹⁰⁹⁰ der die konsequente Umsetzung des verwirklichten Bezugs zum Ewigen bedeutet.

 Dies benennt nur anders das schon thematisierte Heineingelangenwollen ins Ewige: vgl. Kapitel 2.3.2.2.1/2 und 2.3.3.1.1.  Vgl. Kapitel 2.3.2.  Hierbei sei darauf hingewiesen, dass die religiöse Existenz als Praxis der Dialektik der Negation ein existenzidalektischer Vollzug ist, in dem das Individuum die Spannung und Gegensätzlichkeit von Existenz und Ewigkeit versteht, um diese Spannung und Gegensätzlichkeit zu leben. Dabei bedingen sich Lebenspraxis und Verstehen gegenseitig. Das Verstehen besteht darin, Ewigkeit, Seligkeit, Gott allein von ihrem Gegenteil, der Existenz, heraus verstehen zu können (vgl. Janke, Historische Dialektik, S. 432– 437), als Negation des Verstehbaren, wobei dieses (Nicht‐)Verstehen erst dann wirkliches Verstehen ist, wenn es sich in existenzieller Lebenspraxis äußert – der religiösen Innerlichkeit und deren Konfrontation mit der Ungewissheit im Leiden.  SKS 7, 509/ DUN, 766.  SKS 7, 418 f. / DUN, 647.  Climacus betont die Selbst-Relativierung im vorliegenden Zusammenhang besonders im Zusammenspiel von persönlicher Nichtigkeit und der absoluten Vorstellung Gottes (vgl. SKS 7, 439/ DUN, 673 f.). Dabei zeigt sich eine reziproke Abhängigkeit zwischen absoluter Vorstellung und eigener Nichtigkeit. Denn einerseits kann die Vorstellung Gottes und der Seligkeit nur dann absolut bewusst, fokussiert und vergegenwärtigt sein, wenn alles andere aus dem Blick gerät; andererseits ist die eigene Nichtigkeit nur relational zur Absolutheit wirkliche Nichtigkeit. Auf existenzieller Ebene ist demnach gesagt, dass es für die Selbstvernichtung das Festhalten am

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Dieser Ewigkeitsbezug hat in Anbetracht existenzieller Religiosität einen identitätstheoretischen Impetus. Denn es ist die Innerlichkeit, worum es Climacus geht, also um „das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott“.¹⁰⁹¹ Somit zeigt sich deutlich, dass es Climacus mit der Selbstvernichtung nicht um eine radikale Auslöschung des Selbstseins oder des Selbstbezugs geht,¹⁰⁹² sondern um eine indirekte Selbst-Zentrierung des Individuums. Denn religiöses Selbstsein ist erst dann, wenn das Individuum über Gott auf sich selbst zurückkommt.¹⁰⁹³ Dieser Umwegcharakter zeigt strukturell eine in der Innerlichkeit forcierte Dezentrierung der Selbstfokussierung an, die zugleich eine Zentrierung ist.¹⁰⁹⁴ Das Individuum lässt so weit von sich, d. h. von seiner aus der Welt gewonnenen und ihm zuge-

Ewigen bedarf. Und die dabei zutage tretende Rückwirkung des Ewigen auf die eigene Bedeutungszuschreibung gilt eben auch reziprok: Dass im Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit die Ewigkeit am stärksten ins Bewusstsein tritt.  SKS 7, 397/ DUN, 618.  Dies wird auch von Søren K. Bruun herausgehoben (vgl. ders., „The Concept of »The Edifying« in Søren Kierkegaardʼs Authorship“, S. 241). Schon der Fakt, dass Climacus überhaupt von Selbstvernichtung spricht, zeigt, dass bei dieser das Selbst nicht aus dem Blick des Individuums gerät. Und das bedeutet zugleich, dass die Selbstvernichtung auch kein vollständiges Abwenden (Negation) von der Welt darstellt, was sich wesentlich durch drei Punkte verdeutlichen lässt: Erstens, weil das Individuum in der Welt ist, sich zweitens auf seine existenzielle Praktizierung des Gottes-Verhältnisses konzentrieren muss und drittens aufgrund der permanenten Resignation auf die Welt als Abstoßungspunkt zum Ewigen hin achten muss.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.2.  Die dezentrierende Zentrierung lässt sich aus den bisherigen Ausführungen darlegen. Zunächst trat die reine Dezentrierung des Individuums besonders stark anhand des Augenblicks hervor. Der Augenblick stellt zwar strukturell die höchste Form des Selbstseins dar (vgl. Kapitel 2.3.2.4.2), die aber durch den vorreflexiven Verlust des Selbstbezugs bestimmt ist. „Ich gehe davon“, schreibt Roland Barthes und bezeichnet damit die Ekstase (ders., Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 270). Eben dies ist der Augenblick, die Ekstase: der Zustand, dass „das Ich … ganz fehl[t]“, wie es bei Ernst Mach über den Augenblick heißt (vgl. Sommer, Evidenz im Augenblick, S. 400). Der Augenblick ist Auflösung, Nicht-Identität, vollständige Dezentrierung – sämtliche Intentionalität ist ausgelöscht: Individuierung als Deindividuierung. Da diese Nichtswerdung im Augenblick zugleich die höchste Annäherung an einen ewigen, von allen weltlichen, zeitlichen, relationalen Bezogenheiten abgesonderter Zustand darstellt, ist der Augenblick die Erlösung in der Zeit – ein Zwischenzustand zwischen Ewigkeit und Zeit (vgl. Kapitel 2.3.2.4.2), Ruhe und Bewegung (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Ambivalenter verhält es sich innerhalb der Phänomenologie des Empfangenwollens, in der ein Sich-Hingeben als ein Sich-Verfügbarmachen und damit auch ein Bereitsein für das Unverfügbare praktiziert wird. Das Individuum rückt von sich ab, jedoch geht es ihm dabei um seine Seligkeit. Sämtliche Phänomene des Von-sich-Loslassens müssen als in sich ambivalente, dezentrierende Zentrierungen des Individuums gekennzeichnet werden. Dies gilt sowohl für die Selbst-Relativierung der Resignation wie auch für die Ewigkeitsfokussierung des Leidens – und somit auch für die Innerlichkeit, in die diese Phänomene einbegriffen sind.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

schriebenen Identität los, dass (über den Bezug zum Ewigen) ein Zurückkommen als Erneuerung (Wiederholung) ermöglicht wird.¹⁰⁹⁵ Eben dies ist Selbstvernichtung: ein das Selbst zentrierendes Empfangenwollen einer ursprünglichen und vom Grund (Gott) her bestimmten Identität, unter der Voraussetzung eines bewussten Abstandnehmens von gewohntem Handeln und aller weltlichen Bedeutungszuschreibung der eigenen Person (Dezentrierung). ¹⁰⁹⁶ Die dabei religiös gewollte Wieder-Holung ursprünglicher Identität¹⁰⁹⁷ steht aber unter dem Problem des Nicht-Verstehens der Ewigkeit und Absolutheit (womit ebenfalls das von Gott her gewollte und im Augenblick gegebene SelbstVerständnis nicht verstanden werden kann). Die existenzielle Lösung dieses epistemologisch gewendeten, identitätstheoretischen Problems liegt wiederum in der Selbstvernichtung (in der sich systematisch die identitätstheoretische und strukturell-negationsdialektische Ebene existenzieller Religiosität verschränken). Denn durch die Selbstvernichtung wird der Unverständlichkeit des ursprünglichen (Gott gegebenen) Selbst mit einer bewussten Negation des verständlichen (weltlichen) Selbst begegnet. Und eben durch diese Negation der Negation der

 Demnach bleibt das Individuum in der Selbstvernichtung der strukturelle Ausgangs- und Endpunkt von allem vordergründigen Ewigkeitsbezug. Allem Gottes-Verhältnis als Selbstvernichtung liegt als Substrat das Selbst-Verhältnis zugrunde.  Die Selbstvernichtung ist dementsprechend ein existenz-systematischer Ausdruck praktischer Innerlichkeit, deren Charakteristika unter anderem im Empfangenwollen liegen (Kapitel 2.3.2.3.3), in der dezentrierenden Selbstrelativierung (vgl. Kapitel 2.3.3.1.1) und im Abstandnehmen von der Welt (Kapitel 2.3.3.1.2).  Diese durch Gott gegebene Wieder-Holung der Identität korreliert systematisch sowohl im existenzstrukturellen Sinne mit der im Augenblick geschehenden „Umkehr“ bzw. Rückwendung zum Ewigen (vgl. Kapitel 2.3.2.3.1) als auch im bewegungsstrukturellen Sinne mit der erneuernden Rückkehr in den Augenblick als höchstes Selbstsein (vgl. Kapitel 2.3.2.4.2). Kierkegaard umschreibt solche rückgewinnende Wieder-Holung in einer Notiz nämlich auch als Rückkehr in das Ursprüngliche, das sich im Moment der Rückkehr als das Neue und Potenzierte des Bisherigen erweist: als die „Wiederholung der Individualität in einer neuen Potenz“ (hier zitiert aus: Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, übers., mit Einleitung und Kommentar hg. von Hans Rochol, Hamburg: Meiner, 2000, S. 112). Indem diese potenzierte Individualität das angestrebte, existenzreligiöse Ziel darstellt, in dem sich das Individuum das erste Mal wahrhaft und wirklich als es selbst vergegenwärtigt, lässt sich leicht schlussfolgern, dass alles Existieren vor dieser wiederholenden Rückkehr als ein Zustand entfremdeten Lebens begriffen wird. Dies entspricht einerseits der Analyse der Abwendung von der Welt, die ihren Grund u. a. im In-der-Welt-Sein als Zustand der Entfremdung hat (vgl. Kapitel 2.3.3.1.1), und andererseits der Analyse des Leidens, unter dessen verschiedenen Formen sich eben auch jene findet, in der an der völligen Negation der Erlösung im irdischen Leben gelitten wird (vgl. Kapitel 2.3.3.2.1). Zur Wieder-Holung und Entfremdung auch: Theunissen / Hühn, „Wiederholung“, besonders S. 739, 741.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Unverständlichkeit wird das existenzielle Selbstsein zur höchstmöglichen strukturellen Entsprechung des ursprünglichen Selbstseins.¹⁰⁹⁸ Was das Individuum dann identitätstheoretisch in der Hand hat, ist nichts positiv Bestimmbares (was formal-logisch aus der doppelten Negation zu schlussfolgern wäre), sondern lediglich das konkrete und vollständige Bewusstsein absoluter Ungewissheit sich selbst und Gott gegenüber. Und damit wird klar, dass die Selbstvernichtung Ergebnis der Innerlichkeit ist. Denn diese ist die Einübung¹⁰⁹⁹ des Zurückrufens vor die Ungewissheit und zwar im Modus des akzeptierenden Annehmens¹¹⁰⁰ derselben.¹¹⁰¹ Konkreter wird dies durch den Begriff der Erbauung, in dem sich Innerlichkeit und Selbstvernichtung verschränken.

 Dies kann auch unter folgendem Gesichtspunkt gesehen werden: Die Entzogenheit des ursprünglichen Selbstseins ist Leiden, dem negationsdialektisch mit der Selbstvernichtung begegnet wird, um so die „Isolation vor Gott“ (SKS 7, 481/ DUN, 729) aufzubrechen. Climacus sagt dies auch ganz konkret, wenn er vom „Leiden der Vernichtung“ spricht – womit sowohl eine negationsdialektische (durch die Entzogenheit des Ewigen ist das Leiden strukturell Selbstvernichtung) als auch eine existenzielle (das Negieren der Welt und Person ist Leiden: vgl. Kapitel 2.3.3.1.1 und 2.3.3.2.1) Implikation einhergeht –, indem das Individuum „in seiner Nichtigkeit die absolute Vorstellung hat, aber keine Gegenseitigkeit.“ (SKS 7, 439/ DUN, 673) Der Aspekt der fehlenden Gegenseitigkeit zeigt nicht nur die Entzogenheit des Ewigen, sondern auch die Einseitigkeit des Verhältnisses an. Die existenz-religiöse Bedeutung und Funktion der Selbstvernichtung ist dann leicht zu erkennen: Indem sie die negationsdialektische Entsprechung zum Ewigen, also die Verähnlichung des Individuums zum Göttlichen darstellt, ist die Selbstvernichtung der existenzielle Versuch, die Einseitigkeit aufzubrechen und mit Gott in ein – wie schon anhand des Leidens angedeutet wurde (vgl. Kapitel 2.3.3.2.3) – kommunikatives Verhältnis zu treten. Dies gilt jedoch nur für die strukturell-dialektische Ebene. Auf der existenziellen Ebene bleibt das Individuum in der Selbstvernichtung vor Gott: auf Abstand. Ein Kommunikationsverhältnis mit Gott kann nur – und das wiederum lediglich einseitig von Gott her – im Augenblick eintreten und zwar unbeeinflussbar vom Individuum.  Auf die vorhergehende Charakterisierung der Selbstvernichtung angewendet, ergibt sich: Ist die Selbstvernichtung Ausdruck eines ständigen Bereitseins für die Möglichkeit von Gottes Entgegenkommen, einem Sich-von-Gott-ergreifen-lassen-Wollen, ist die Innerlichkeit die Einübung dieses Bereitseins.  Vgl. ab Kapitel 2.3.2.4.3.  Deshalb ist Climacusʼ Aussage, dass das Individuum das „Nicht-Vermögen [zu Gott zu gelangen] … immerzu vor sich haben [muss]“ (SKS 7, 419/ DUN, 647) Ausdruck der Innerlichkeit als beständige Aufgabe der Vergegenwärtigung (Zurückrufen) und Einübung der Nichtswerdung vor Gott.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.3.3.3 Erbauung¹¹⁰² In der systematisch wichtigsten Stelle zum Erbaulichen schreibt Climacus: Das Erbauliche … ist die Vernichtung, in welcher das Individuum sich selbst beiseite schafft, um Gott zu finden, da nämlich das Individuum selbst das Hindernis ist.* Das Erbauliche ist hier also ganz richtig am Negativen kenntlich, an der Selbstvernichtung, die das GottesVerhältnis in sich findet, die durchleidend im Gottes-Verhältnis versinkt, in ihm gründet, weil Gott im Grunde ist, wenn bloß alles, was im Weg steht, weggeschafft ist, jede Endlichkeit und vor allem das Individuum selbst in seiner Endlichkeit, in seiner Rechthaberei Gott gegenüber.¹¹⁰³

Das Erbauliche liegt in der Selbstvernichtung als negationsdialektische Reaktion darauf, dass das Individuum als zeitliches und endliches Dasein durch sich selbst die unüberwindbare Grenze („Hindernis“) markiert,¹¹⁰⁴ dass Gott in der Welt nicht objektiv gefunden werden kann. Der Prozess der Selbstvernichtung ist so als Weg zu Gott gefasst, auf dem nicht nur von der Welt und der eigenen Person Abstand genommen wird, sondern eben auch von dem eigenen Verstehen (keine „Rechthaberei“). Mit dem Erbaulichen wird demnach – neben dem Aspekt der negationsdialektischen Verähnlichung mit der Entzogenheit Gottes – etwas betont, was schon anhand der Resignation herausgestellt wurde: die Einübung des Verzichts auf Objektivität¹¹⁰⁵ – oder wie Climacus es auch nennt: die „gesündere Diät, nur wenig zu verstehen …“¹¹⁰⁶ Denn gerade in der Einübung des Annehmens des Nichtverstehenkönnes liegt das (innerliche) Verhältnis zu Gott (und über ihn zur eigenen Person). Das Erbauliche stellt demnach eine Sublimierung der Innerlichkeit dar,

 Es ist zu beachten, dass das Erbauliche bzw. die Erbauung hier innerhalb der climacischen Systematik der „Religiosität A“ besprochen wird und nicht innerhalb der (christlichen) „Religiosität B“. Zu einer prägnanten Übersicht über die Formen der Erbauung sowie zur knappen Diskussion des Verhältnisses zwischen dem Begriff des Erbaulichen und dem der Erbauung: Schultzky, Die Wahrnehmung des Menschen bei Søren Kierkegaard, S. 161 f. Zum (neutestamentarischen) Ursprung des Erbauungsbegriffs: Gerhard Friedrich, „Erbauung I“, in TRE, Bd. 10, S. 18 – 21. Zur theologischen Ideengeschichte (mit Erwähnung Kierkegaards): Gerhard Krause, „Erbauung II“, in TRE, Bd. 10, S. 22– 28.  SKS 7, 509 f. / DUN, 766.  Vergleich auch die Interpretation des „Zwischenspiels“ der Philosophischen Brocken in der Anmerkung 1021 im Kapitel 2.3.3.2.1.  So heißt es an anderer Stelle: „[D]as Erbauliche wird nicht in der Aufhebung des Missverständnisses gesucht, sondern darin, es begeistert aushalten zu wollen …“ (SKS 7, 243/ DUN, 421)  SKS 7, 168/ DUN, 322; vgl. Kapitel 2.3.2.4.3.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

351

indem diese durch jene als existenz-epistemologische Praxis innehaltender Urteilsenthaltung charakterisiert wird. ¹¹⁰⁷ In dieser durch Selbstvernichtung geschehenden Epoché,¹¹⁰⁸ die existenziell einen Rückzug in die Subjektivität darstellt, wird über die prozesshaft gedachte „Versenkung“ Gott als wesensoffenbarender Grund entdeckt.¹¹⁰⁹ Systematisch

 Solche Urteilsenthaltung ist auch das zentrale Thema des Ultimatums am Ende von Entweder – Oder.  Epoché wird hier und im Folgenden im antiken Sinne der innehaltenden Urteilsenthaltung und dem darin implizierten Annehmen des Wahren verstanden. Dazu: Malte Hossenfelder, „Epoché I“, in HWPh, Bd. 2, S. 594 f. Für den vorliegenden Zusammenhang ergeben sich dabei zwei Formen der Epoché. Zum einen die aktiv herbeigeführte Epoché des Selbst-Verstehens (durch Selbstvernichtung). Zum anderen die Epoché, die durch die passiv geschehende Epiphanie (s.u.) zutage tritt, in der das Paradox (Gott) und damit das Nicht-Verstehenkönnen entdeckt werden.  Die erbauliche Versenkung ist der strukturelle Konnektor zwischen Individuum und Gott, Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit – und das als Existenzprozess gedacht. So schreibt Climacus: „[D]ie Aufgabe besteht … darin … nach dem Existieren zu trachten [eftertragte], das auf die Dauer [Længden] das Pathos des großen Augenblicks hat.“ (SKS 7, 365/ DUN, 576) Eben weil der Augenblick jenes höchstmögliche Zwischensein zwischen Zeit und Ewigkeit ist, in dem das Individuum zentriert zwischen beiden (existenzontologischen) Polen steht (vgl. Kapitel 2.3.2.4.2) und es darum geht, diesen Zwischenzustand „auf die Dauer“ zu praktizieren, ist die Versenkung der Versuch, sich permanent in das Ergriffensein durch Gott (Wiederholung) als ein religiöses Inter-esse zu begeben. Die Versenkung ist demnach systematisch zuallererst die Konzentration auf das eigene Vor-Gott-Sein. Bei solch einem Inter-esse der erbaulichen Versenkung ist das Individuum an beiden Enden des Verhältnisses von Negation umgeben: seiner Selbstnegation und der Gottes als das der Zeit inkommensurable Negativum. Im Erbaulichen hat das Individuum nicht nur radikal alles Weltliche verlassen, sondern entdeckt gleichzeitig seine vollständige Verlassenheit (Entzogenheit) von Gott. Die erbauliche Versenkung selbst ist das Gewahrwerden des Vor-das-Nichts-Gestelltseins; die Vertiefung in das Nicht-Verstehen; die Epoché. In diesem umfassenden Verlassensein, das bei Climacus – entgegen dem Denken Meister Eckharts – keine Vernichtung des Verlangens oder der Sehnsucht bedeutet (vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Predigt 52), sondern dialektisch das Gegenteil bewirkt (nämlich Pathos, Leidenschaft etc.), wird Gott entdeckt. Aus der vollständigen Negation tritt das allumfassende Sein (Gott) hervor und mit ihm das Werden zu einem neuen Menschen, weil das Individuum die „Bedingung“ – für sein neues Menschsein – „von Gott empfängt“ (vgl. SKS 7, 523/ DUN, 783; vgl. auch SKS 4, 299/ DPB, 121). Dabei empfängt das Individuum nichts Konkretes. Es existiert ausschließlich im Bewusstsein des Bestimmtwerdens, der Gottesfokussierung. Denn das Empfangen ist jenes plötzliche Umgewendet-, Umgebildet-, Ergriffenwerden durch Gott (Augenblick), das Climacus als die „Wiedergeburt vom Nicht-Da-Sein zum Da-Sein“ (SKS 4, 230/ DPB, 32) des Glaubens benennt. Dies ist der Moment der Erbauung als Erbautwerden im Sinne einer religionsstiftenden Epiphanie, in der die Ekstasis des Augenblicks zur Katharsis wird und die „Wesensoffenbarung der Gottheit“ geschieht (dazu: Lanczkowski, „Epiphanie“, S. 585 f.), die als solche durch das religiöse Interesse im

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

zeigt sich die Erbauung demnach als ein epiphaner Zustand.¹¹¹⁰ Da jedoch der Grund und das, was er offenbart, immer im Rahmen menschlich-begrenzter Erkenntnisfähigkeit und somit im Rahmen des Nicht-Verstehens und der Ungewissheit bleiben, tritt in der Erbauung nichts positiv Bestimmbares, kein Sein, sondern gerade „das Unbekannte“¹¹¹¹, das Nichts, das Fremde und ganz Andere, nämlich das Paradoxe (Gott)¹¹¹² und somit „das Unverständliche“¹¹¹³ zutage – und zwar als Wesen der Welt und damit auch der eigenen – im Gottes-Verhältnis „gründe[nden]“ (s.o.) – Person.¹¹¹⁴

Nachhinein auch so interpretiert wird (zur Nachträglichkeit allen Augenblicksverständnisses: vgl. Kapitel 2.3.2.3.1). [Anm.: Besonders vor dem Hintergrund der Terminologie der „gesünderen Diät“ (s.o.) und der damit impliziten Versenkung in das Bewusstsein des Nicht-Verstehens drängt sich ein Vergleich mit der Eckhart‘schen Konzept der „geistigen Armut“ auf, der das „Stirb!“ und „Werde!“ (vita activa) innewohnen, ebenso, wie die „gesündere[] Diät“ systematisch die Selbstvernichtung und das Empfangen enthält. Dass jedoch bei solch einer scheinbaren systematischen Korrelation zur deutschen Mystik Vorsicht geboten sein sollte: vergleiche die folgende Fußnote zur unio mystica. Zur „geistigen Armut“ vergleiche die Einleitung von Josef Quint in: Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, besonders S. 28 – 50.] Mit der ekstatischen Versenkung und dem Entdecken Gottes als Grund scheint eine Lebenspraxis als vita contemplativa intendiert zu sein. Jedoch ist das religiöse Existieren vordergründig die ins Denken verlagerte vita activa persönlicher Bemühung, zu Gott und schließlich zu sich selbst zu gelangen. Genau genommen, sind dabei aber vita activa und vita contemplativa miteinander verschränkt. Die beiden Verhältnismodulationen sind: a) Die vita activa religiöser Anstrengung dient dem Zweck in die vita contemplativa hineinzugelangen. In diesem Sinne ist die Versenkung in das Verhältnis nur das letzte und idealerweise (durch den Augenblick) eintretende Ende eines langen Arbeitsprozesses. b) Zum anderen ist die vita activa als praktizierte Innerlichkeit und ständige Einübung der Selbstvernichtung selbst Ausdruck einer vita contemplativa, des ständig praktizierten Gottes-Verhältnisses, in dem sich das Individuum durch Weltabwendung ganz auf Gott konzentriert. Beide Modulationen finden in der Analyse der Wiederholungsbewegung ihre Entsprechung, indem dort von einer höherstufigen und niederstufigen Apotheose gesprochen wurde (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2). Die höherstufige Apotheose ist die Ekstase des Augenblicks, in der kontemplativ die asymptotische Annäherung an das Ewige erreicht wird, wobei die Bewegung zur Ekstase die vita activa der Wiederholung ist. Diese gleicht dabei wiederum in ihrer unaufhörlichen Bewegung einem kontemplativen Versinken in das Verhältnis (zum Ewigen). Ist die Wiederholung die Praxis der einübenden Versenkung, ist der Augenblick die potenzierte Vertiefung derselben, aber passiv, nur durch Gott (– das Erbautwerden).  Ich verstehe Epiphanie hierbei als „Wesensoffenbarung“ (vgl. dazu: Lanczkowski, „Epiphanie“, S. 585 f.).  SKS 4, 251/ DPB, 59.  Zu Gott als Paradox: vgl. Kapitel 2.3.2.4.1  SKS 7, 555/ DUN, 824.  Die negative Theologie führt hier also klar zu einer negativen Anthropologie.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

353

Erbauung ist systematisch nicht nur die existenzielle Epoché (Selbstvernichtung), sondern die durch diese bedingte Epoché der Epiphanie, ¹¹¹⁵ in der das Individuum das Wesen des Ganzen als Negativum vergegenwärtigt. ¹¹¹⁶ Solche kathartische Erkenntnis bedeutet existenziell: Haltung in der Haltlosigkeit.¹¹¹⁷ Jedoch darf dieses Sich-Überlassen an den Kontrollverlust¹¹¹⁸ nicht als unio mystica ¹¹¹⁹ missverstanden werden. Denn indem Climacus das durchdrin-

 Dies muss als reziprokes Verhältnis von Epiphanie und Epoché gedacht werden. Durch die Epiphanie der Wesensoffenbarung tritt die umfassende Epoché ein, wie durch deren existenzielle Ausprägung die Epiphanie zuallererst ermöglicht wird und zu ihrer Wirkung gelangt.  Im Begriff Angst umschreibt Vigilius die durch Epoché geschehende Epiphanie durch die Erfahrung der Angst,wenn er im Kapitel zum Glauben vermerkt: „[D]ie Angst [dringt] in seine Seele hinein und durchforscht alles und ängstigt das Endliche und Kleinliche aus ihm heraus …“ (SKS 4, 458/ DBA, 636) In der Erfahrung des Vor-das-Nichts-Gestelltsein (Angst) erkennt sich das Individuum dadurch, dass es sich nicht erkennt (denn eine Spiegelung im Nichts ist nicht möglich). Es erkennt sich, indem es das unter den Eigenschaften liegende Wesen, das Unsagbare erblickt. Die darin liegende Katharsis kommt bei Climacus in einer der bekanntesten Stellen der Unwissenschaftlichen Nachschrift zum Ausdruck,wenn er schreibt: „Er [der Existierende, d.Vf.] weiß von der Negativität des Unendlichen im Dasein, er hält die Wunde dieser Negativität beständig offen, was ja zuweilen die Rettung [Frelsende] ist …“ (SKS 7, 84 / DUN, 214; vergleiche auch die ganz ähnlich formulierte Notiz 304 im Journal JJ: SKS 18, 236, JJ:304/ DSKE 2, 244) Die „Wunde der Negativität“ ist das Leiden und die Verzweiflung an der Entzogenheit des Ewigen; die „Rettung“ am „Offenhalten“ der Wunde ist das Annehmen des Leidens und der Entzogenheit des Ewigen. Die Rettung ist demnach die Innerlichkeit, in der das Unendliche als Negativum akzeptiert und im Bewusstsein gehalten wird. Katharsis liegt bei Climacus demnach – wie bei Vigilius – in der Vertiefung in das Nicht-Verstehen und dem darin zutage tretenden Vor-das-Nichts-Gestelltsein, in dem Gott als wesensoffenbarender Grund – nämlich als Nichts – liegt.  Im Erbaulichen findet das Individuum Halt in der Ungewissheit,weil die Ungewissheit nicht nur angenommen, sondern als Ausdruck Gottes erfahren wird – „seine Unsichtbarkeit … [ist] – seine Allgegenwart“ (SKS 7, 223/ DUN, 394; vgl. auch SKS 7, 224/ DUN, 395). Objektive Ungewissheit wird in subjektive Gewissheit überführt, in die die objektive Ungewissheit permanent einbezogen bleibt (= Leiden). Erbauung ist das In-der-Schwebe-Sein des Glaubens (zum Glauben: vgl. SKS 7, 460/ DUN, 701).  Der Kontrollverlust oder eben auch die Haltlosigkeit in der Ungewissheit (und deren Akzeptanz) haben sich im Vorhergehenden sowohl als wesentliches Merkmal des Glaubens (vgl. Kapitel 2.3.2.4.1) wie der Innerlichkeit (vgl. besonders Kapitel 2.3.3.1.2) gezeigt.  Bei einem Vergleich Kierkegaards zur deutschen Mystik (Eckhart, Tauler etc.) sollte Vorsicht geboten sein (zumal für Climacus hinzukommt, dass er den Begriff Mystik an keiner Stelle verwendet, was unter systematischem Blickwinkel selbstverständlich nichts zu bedeuten hat). In der neueren Forschung wird das Verhältnis von Kierkegaard und Mystik stärker in den Vordergrund gerückt. Ausgangspunkt bildet hierbei das von Kierkegaard gekannte, 1842, also noch vor Entweder – Oder erschienene Buch Meister Eckhart von Hans Lassen Martensen, das für Kierkegaards Mystikbild maßgebend war (dazu: Peter Šajda, „Meister Eckhart: The Patriarch of German Speculation who was a Lebemeister“, in Kierkegaard and the Patristic and Medieval Tradition, hg. von Jon Stewart, Farnham und Burlington 2008 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Re-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

gende Bewusstsein von Gott existenziell als „durchleidend“ (s.o.) charakterisiert, ist klar, dass die erbauliche Versenkung von einer unreduzierbaren Spannung zwischen Nähe und Ferne zu Gott bestimmt wird.¹¹²⁰ Gleichfalls dringt das Individuum aber bei aller epistemologischen und verhältnistheoretischen Diffusität zu identitätstheoretischer Reinheit und Klarheit vor. Denn in der aktiv beibehaltenen Haltung des passiv-empfangenden SichHingebens erkennt es sein Gegebensein (durch Gott).¹¹²¹ Und in dem dabei imsources, Bd. 4), S. 237– 253, hier S. 245 ff.) Schon im Vorwort des Buches macht Martensen deutlich, dass aus seiner Sicht das religiöse Moment der Mystik im „speculativen Geist[]“ (ebd., S. 1) liegt, womit Martensen – worauf Hjördis Becker hinweist – die Eckhart‘sche Mystik nicht allein als spekulatives Denken ansieht, sondern mit einem Blick aus der Perspektive idealistischer Philosophie, insbesondere der Hegels, betrachtet und verbindet. (Vgl. Hjördis Becker, „Mirroring God. Reflections of Meister Eckhart’s Thought in Kierkegaard’s Authorship“, in KSYB 2012, S. 3 – 24, hier S. 6 f.) Diese „Einfärbung“ ließe sich durch eine genaue Untersuchung des Buchs auch nachweisen.Von besonderem Interesse für den Vergleich zu Kierkegaard wäre dabei der Abschnitt zum „Mysterium“ (ebd., S. 32– 61), weil Martensen dort u. a. von der via negationes (vgl. ebd., S. 34), der unendlichen Identität von Seele und Gott (vgl. ebd., S. 39) und der Ekstase (vgl. ebd.) spricht – also Terminologien verwendet, die denen Climacus-Kierkegaards nicht unähnlich sind. Ein genauer systematischer Vergleich zwischen Martensen und Kierkegaard würde aber zeigen, dass Martensens Ausführungen der Kritik Kierkegaards am spekulativen Denken entsprechen (und das nicht im Fall Climacusʼ, sondern auch im Falle von Gerichtsrat Wilhelm: vgl. SKS 3, 235, 238/ DEO, 810, 814). Martensen denkt nicht das Existieren, d. h. die Welt- und Zeitverwobenheit des Menschen. Bei Martensen gibt es die unio mystica, die ekstatische Weltlosigkeit, die bei ClimacusKierkegaard niemals bewusst erreicht werden kann, sondern immer nur die Einbildung bleibt – als reine Möglichkeit der Phantasie (vgl. SKS 7, 528/ DUN, 790).  Denn das Leiden ist der Umstand, das Gewollte nicht erreichen zu können und dieses Abständigsein in höchstem Maße zu vergegenwärtigen (was in der Negationsdialektik und damit der Selbstvernichtung mündet). Das Leiden ist dabei in seiner Eigenschaft des „Fortdauerns“ (vgl. Kapitel 2.3.3.2.2), ebenso wie die erbauliche Versenkung, ein permanenter Prozess des Vor-GottSeins. Die dabei implizierte Dialektik von Nähe und Ferne wird von Climacus in Bezug auf die Erbauung auch als Spannung von dem „Entsetzen“ der Erbauung (vgl. SKS 7, 235/ DUN, 409) bei gleichzeitigem Annehmen der Entzogenheit Gottes (s.o.) bestimmt. Die Erbauung ist demnach – ebenso wie der Glaube und das Leiden (vgl. Kapitel 2.3.2.4.1 und 2.3.3.2.2) – eine systematische Zwischenbestimmung von Verzweiflung und Innerlichkeit.  In dem Gegebensein drückt sich systematisch die identitätstheoretische Konzeption des religiösen Selbstseins aus. Es beschreibt den Umwegcharakter des religiösen Selbstseins (über Gott zu sich selbst zu kommen) und, dass das wesentliche Selbst nicht in einem selbsttätigen Differenzieren und somit in einem – metaphorisch gesprochen – „Anhäufen“ und „Auffüllen“ liegt, sondern im Gegebensein, dem eine Leerung (Selbstvernichtung) vorausgeht. Das Individuum vergegenwärtigt sich in der Erbauung als ein unreduzierbar abhängiges von einer es setzenden Macht (Gott). Mit Bezug auf die Innerlichkeit ergibt sich dann: Die Innerlichkeit ist in ihrem Streben/Interesse/Bedürfnis nach Gott die Bereitschaft zum Abhängigsein – das Eingehen eines intensiven Verhältnisses zum Gegenüber, um von diesem bestimmt zu werden: das Empfangenwollen. Dies bedeutet einerseits Sicherheit erfahren zu wollen, trägt zugleich aber auch die

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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plizierten Loslassen von allem Urteilen (und somit auch von aller Selbstbehauptung;¹¹²² dem „Trotz“ der Krankheit zum Tode), wird das Gegebensein angenommen. ¹¹²³ Erbauung ist identitätsforcierende Gelassenheit – und genauer: Während das Individuum in das Gottesbewusstsein absorbiert ist, ¹¹²⁴ wird eine Geborgenheit in der Ohnmacht ¹¹²⁵ der Selbst-Unverfügbarkeit erfahren. ¹¹²⁶

Forderung in sich, dem Bestimmtwerden gerecht zu werden (vgl. Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 45 f.). Darin liegt die existenzielle Einsicht, dass der Mensch sich – wie schon anhand des Leidens herausgestellt wurde – immer von einem, ihn als Individuum übersteigenden Zusammenhang heraus zu verstehen hat; dass das Selbstsein immer von äußeren Unverfügbarkeiten und Gegebenheiten abhängt und eben nie als bloß persönliche Ausformung je eigener Eigenschaften verstanden werden kann.  In diesem Sinne ist Climacusʼ religiöses Existenzdenken das Gegenteil der Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert, der es vor allem um Denkfiguren der Selbstbehauptung geht, indem sich der Mensch kraft der eigenen Realisierung seines Daseins selbst realisiert (vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 511).  Das Annehmen des Gegebenseins bedeutet im religiösen Zusammenhang auch das Bewusstsein davon, dass allein Gott das Individuum kennt und erkennt (vgl. Kapitel 2.3.2.4.3). Es ist das Bewusstsein des Gesehenwerdens, dass dem Individuum Aufmerksamkeit zuteil wird – oder wie Climacus selbst sagt, „in der Zeit von Gott gekannt zu sein.“ (SKS 7, 409/ DUN, 633) Dieses Teilwerden von Aufmerksamkeit – in der religiösen Gewissheit, dass man erkannt ist – ist die Bedingung des Annehmens der eigenen Person, wie sie ist – in all ihrer Undurchschaubarkeit. Und das bedeutet: Die Akzeptanz durch den anderen wird für die Selbstakzeptanz benötigt. Es bedarf also vor allem Annehmen der eigenen Person ein Bewusstsein, dass man dennoch verstanden wird.  Dieses Absorbiertwerden, das schon anhand der Leidenschaft und des Leidens Erwähnung fand (vgl. Kapitel 2.3.2.2.2 und 2.3.3.2.3), ist terminologisch das „Versinken“ der Erbauung.  Zum Verhältnis von Ohnmacht und Erbauung: vergleiche auch Markus Kleinert, Sich verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard, Berlin und New York 2005 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 12), S. 205. Als Geborgenheit in Ohnmacht ist die Erbauung strukturell und in bisher verwendeter Terminologie die definitive Bereitschaft des Empfangenwollens als das Loslassen im Festhalten, durch die die Verbundenheit in Distanz (die Annäherung in Entzogenheit) generiert und Sicherheit und Gewissheit in der Haltlosigkeit der Ungewissheit gefunden wird.  Angemerkt sei, dass sich in der Erbauung eine identitätstheoretische Prämisse zeigt, die mit Kant ihre Hochkonjunktur hatte und die Georg Simmel treffend zusammenfasst: „[W]enn der Mensch von allem, was nicht ganz er selbst ist, befreit wird, wenn er sich selbst gefunden hat, so verbleibt als die eigentliche Substanz seines Daseins der Mensch schlechthin, die Menschheit, die in ihm wie in jedem andern lebt, das immer gleiche Grundwesen …“ (Ders., „Grundfragen der Soziologie“, in ders., Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 59 – 149, hier S. 132) Bei Climacus ist dieses „Grundwesen“ im religionsphilosophischen Sinne nicht die „Menschheit“, auch nicht im anthropologischen Sinne des Gottesbegriffs, wie er bei Feuerbach Einzug hält, sondern eben Gott als das Paradoxe und Unverständliche. Indem also durch die Selbstvernichtung Gott als Grund und damit das jedem Menschen zugrundeliegende Wesen entdeckt wird, ergibt sich aus der nichtverstehbaren Universalität dieses Wesens, dass das Selbstsein nicht die Gewahrwerdung uni-

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Mit dieser Spannung von Ungewissheit und durchdringender Akzeptanz derselben, von subjektiver Beheimatung in objektiver und nicht negierbarer Kontingenz, stellt die Erbauung auch in identitätstheoretischer Perspektive eine systematische Sublimierung religiöser Innerlichkeit dar.

2.3.3.4 Religiöses Personsein Mit der Innerlichkeit begegnet Climacus dem Problem der conditio humana durch eine existenzielle Antwort. Menschsein heißt, ein Mensch zu sein. Aber was bedeutet das konkret? Denn wird von der systematischen und strukturellen Ebene und den aus ihr zu gewinnenden existenziellen Einsichten abgesehen, stellt sich die Frage, was die von Climacus entworfene Innerlichkeit für lebenspraktische Konsequenzen hat – und zwar unter dem praxisphänomenologischen Blickwinkel des mit der Lebensgestaltung reziprok verschränkten Personseins.¹¹²⁷ Im Folgenden wird hierbei die nicht weiter irritierende Spannung zwischen Denken und Leidenschaft, die systematisch allem innerlichen Existieren innewohnt, hervortreten. Zunächst soll sich dem Denken zugewendet werden und der Frage, welchen Weltbezug durch dasselbe forciert wird. Sodann wird die dabei aus der Analyse der „Verborgenheit“ hervortretende Sicht differenziert und durch eine Betrachtung der Formen religiöser Liebe ergänzt (Kapitel 2.3.3.4.2), um im direkten Anschluss die ethische Bestimmung und Aufgabe innerlichen Existierens zu analysieren (Kapitel 2.3.3.4.3).

2.3.3.4.1 Negation des Ausdrucks Im Folgenden liegt der Fokus auf einem von Kierkegaard selbst forcierten Punkt: dem Verhältnis von Innen und Außen – und damit auch auf dem Gott- und WeltVerhältnis des Individuums. Die zu beantwortende Frage soll sein, ob die Innerlichkeit tatsächlich jeglicher äußerer Erscheinung inkommensurabel ist?¹¹²⁸ Für

verseller Menschlichkeit ist, sondern die Vergegenwärtigung eigener Kontingenz darstellt – eben der eigenen Unverfügbarkeit. Der paradoxe Zustand, den das Individuum damit in der Erbauung erreicht, ist eine Individuierung als Deindividuierung (was vorher als dezentrierte Zentrierung der Selbstfokussierung benannt wurde). Dies kann auch so ausgedrückt werden, dass die in der Epoché der Erbauung erreichte Identität eine gebrochene epistemische Einheit von Erkennendem und Erkanntem ist – eben weil das Individuum sich nur durch seine Nichtbestimmbarkeit bestimmen kann. Diese gebrochene Identität stellt die Perpetuierung fragmentarischer Identität des ethischen Existierens dar: vgl. Kapitel 2.2.5.2.  Die folgenden Ausführungen müssen in diesem Sinne auch als Erweiterung und im Anschluss an die Diskussion der ethischen Persönlichkeit in Kapitel 2.2.3 verstanden werden.  Schon Johannes de Silentio notiert, dass der Glaube eine „neue Innerlichkeit“ sei, die allem „Äußeren inkommensurabel“ ist (SKS 4, 161 / DFZ, 256). Ebenso bei Climacus. Der Aspekt, dass

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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die damit angesprochene „Verborgenheit“ der Innerlichkeit lassen sich mehre Punkte zur systematischen Bestimmung anführen:

Verborgenheit Aus existenziell-anthropologischer Sicht gilt für Climacus: „Das Humane ist die verborgene Innerlichkeit in absoluter Leidenschaft; und darin liegt …, dass sich jeder andere Mensch Gott ebenso gut muss nähern können …“¹¹²⁹ Die conditio humana ist hiernach nicht nur nicht vom Willen (Leidenschaft), sondern eben auch nicht von Religiosität zu trennen.¹¹³⁰ Und die „Verborgenheit“ der Innerlichkeit bezeichnet das anthropologische Datum, zu dem jeder Mensch befähigt ist vorzudringen: sich selbst vor Gott. Diese existenziell forcierte Prämisse geht auf die traditionell-platonische Vorstellung zurück, dass Wahrheit – und zwar im Sinne einer unveränderlichen Gültigkeit – „hinter“ den in Bewegung seienden Erscheinungen liegt. Und das Vordringen zum „verborgenen“ Selbst über das Verhältnis zu dem in der Welt „verborgenen“ Gott ist eben das Vordringen „hinter“ die Erscheinungen zu einer die Welt „der Täuschungen“ transzendierenden Entität. Daraus ergeben sich zunächst zwei Deutungsperspektiven.

Climacus die Innerlichkeit als „verborgene Innerlichkeit“ (SKS 7, 474 / DUN, 719) bezeichnet, weil darin, wie er selbst sagt, „die wahre Religiosität“ (SKS 7, 461 / DUN, 702) liege, wurde in der Kierkegaard-Forschung von immer neuem aufgegriffen. Beispielsweise hat Gerhard Schreiber in seiner kürzlich erschienenen Dissertation herausgestellt, dass der Aspekt der Verborgenheit der Innerlichkeit und damit die Inkommensurabilität derselben gegenüber dem Außen schon seit Kierkegaards Frühwerk (vor der Ironieschrift) in den Glaubensbegriff eingeht und sich bis in sein Spätwerk durchzieht: ders., Apriorische Gewissheit, S. 405 und 416 ff. Hinzu kommt, dass die „Verborgenheit“ seit jeher zur Diskussion und Desavouierung der Innerlichkeit geführt hat. Beispielsweise hat – neben Adornos bekannter Kritik eines isolierenden Spiritualismus (vgl. ders., Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Kap. III) – Kierkegaards Zeitgenosse Peder Ludvig Møller die Innerlichkeit als einen „spiritualistische[n], saft- und kraftlose[n] Egoismus“ gekennzeichnet. (Hans Jørgen Trojel, „Die Besprechung der »Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift« in der »Kopenhagener Post«“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 137– 139, 137). Jedoch ist weder die „Verborgenheit“ Ausdruck einer isolierenden Lebensanschauung (Adorno prägt dafür den Begriff des „Intérieurs“) noch ist die Innerlichkeit als existenzdialektischer Ausdruck des (inneren, verborgenen) Selbst-Bezugs unter der ethischen Kategorie des Egoismus einzuordnen. Vielmehr ist die Verborgenheit der Innerlichkeit ein wesentlich strukturell-dialektisch motivierter Begriff, und die Innerlichkeit eine auf Welt zielende Praxis der Fürsorge. Beides wird im Verlauf des gesamten folgenden Kapitels (2.3.3.4) deutlich werden.  SKS 7, 462 / DUN, 704.  Vgl. auch Kapitel 2.3.2.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Im Kontext Kierkegaards bezeichnet das Vordringen „hinter“ die Erscheinungen die Aneignung. Hiernach bekommt die Verborgenheit zunächst eine psychologische Konnotation. Sie bezeichnet dann die Unbewusstheit des Selbstseins (vor Gott), die durch Aneignung in Bewusstheit überführt wird. Gleichfalls bedeutet das Vordringen „hinter“ die Erscheinungen, dass das, was durch Aneignung entdeckt wird, eben nicht offen in der Welt vorzufinden ist, sondern sich gerade nicht zeigt. Und im climacischen Kontext kann das sowohl ontologisch (Selbst und Gott als das in der Welt „Verborgene“) als auch existenzpsychologisch (das Selbst als sich im Außen verbergender Bewusstseinsinhalt (s.u.)) verstanden werden. Vor allem der Aspekt des Sich-nicht-Zeigens wird von Climacus fokussiert. Und dies ist systematisch zunächst durchaus mit der Negationsdialektik ¹¹³¹ in Zusammenhang zu bringen. Denn das Individuum verhält sich genau dann in Entsprechung zum Göttlichen, wenn es sich im Gegensatz zum Göttlichen (der Zeit) demselben zu verähnlichen versucht, was nicht nur durch die Entsagung von der Welt und schließlich der Selbstvernichtung, sondern auch durch die Verborgenheit geschehen kann. Denn so wie das Ewige das Entzogene ist und sich nicht in der Welt zeigt, so ist die adäquate (negationsdialektische) Entsprechung zu dieser Entzogenheit das Nicht-Zeigen der Innerlichkeit.¹¹³² Für die Untermauerung solcher Negation des Ausdrucks hebt Climacus mit kontrastiver Absicht mehrfach das Mönchtum hervor. Er bemängelt, dass der Mönch seine Innerlichkeit (Gottes-Verhältnis) nach außen trägt¹¹³³ – durch äußere Absonderung, Kleidung (etc.) –, das Gottes-Verhältnis damit aber ästhetisiert und ihm den Ernst nimmt. Die Innerlichkeit liege jedoch nicht darin, das Gottes-Verhältnis asketisch zur Schau zu stellen, um sie dadurch beweisen zu wollen¹¹³⁴ – Climacus spricht hierbei von der „Entweihung [Profanation] des Heiligen“¹¹³⁵ –, sondern darin, dass man mit Überzeugung an Gott festhält¹¹³⁶.¹¹³⁷

 Vgl. Kapitel 2.3.3.3.1.  „Denn die wahre Religiosität ist, ebenso wie die Allgegenwart Gottes an der Unsichtbarkeit kenntlich ist, an der Unsichtbarkeit kenntlich …“ (SKS 7, 431 / DUN, 662 f.) Dieser Modus des NichtZeigen-Dürfens der Innerlichkeit geht auch auf den Gedanken zurück, dass jede Objektivierung die Innerlichkeit zur Pose werden lässt: vgl. dazu die Schlussfolgerungen zur „Friedhof-Szene“ im Kapitel 2.1.3.4.  Vgl. unter anderem SKS 7, 370, 372 / DUN, 582, 585.  Vgl. SKS 7, 368/ DUN, 580.  SKS 7, 378/ DUN, 593.  Vgl. Kapitel 2.3.2.4.1.  Das Problem der Ästhetisierung der Innerlichkeit liegt in dem Sachverhalt, dass derjenige, der sein Verhältnis zu Gott nach außen trägt, der Möglichkeit ausgesetzt ist, sich durch den ästhetischen Eindruck einzubilden, er sei innerlich, ohne es aber wirklich zu sein. Dies geht auf

2.3 Religiöse Innerlichkeit

359

Indem die Verborgenheit so als ein Nicht-Kommunizieren der eigenen Innerlichkeit betont wird, bedeutet dies existenzpragmatisch, dass das Individuum das Gott-Verhältnis nur für sich lebt. Das Ewigkeits-Verhältnis (dann) sozusagen in sich zu tragen, ohne dass das, was getragen wird, von außen gesehen werden kann, lässt Climacus schließlich die Metapher der „Schwangerschaft“ wählen,¹¹³⁸ was jedoch im Rahmen der „Verborgenheit“ zunächst unpassend zu sein scheint, da Trächtigkeit äußerlich sichtbar ist.¹¹³⁹ Und doch ist es aus existenzieller Perspektive eine gut gewählte Metapher, weil sie die nicht reduzierbare Ambivalenz von Fassade und Offenbarkeit der in menschlicher Gemeinschaft praktizierten Innerlichkeit anzeigt (s.u. die Ausführungen zum „Humor“). Gleichfalls zeigt sich an der Metapher der Schwangerschaft mit exemplarischer Deutlichkeit, dass Climacus die Innerlichkeit in Bezug auf das Innen-AußenVerhältnis wesentlich (aber nicht nur) auf Sichtbarkeit hin denkt.Verborgenheit ist dann auch Ausdruck für das Nichtzulassenwollen von Transparenz und Durchlässigkeit für andere: Zeichen des Unerkanntbleibenwollens. Jedoch gilt dies lediglich in Relation zur Um- und Mitwelt (Climacusʼ Kritik des Mönchtums zeigt

Climacusʼ Standpunkt zurück, dass die Welt und ihre Erscheinungen dem Ewigen inkommensurabel sind. „Die wahre Innerlichkeit fordert im Äußeren gar kein Zeichen.“ (SKS 7, 376/ DUN, 590) Jede Veräußerung (Zeichen) ist ein verendlichendes Abbilden, ein Festsetzen des Ewigen, das in der Zeit/Welt nicht festgehalten werden kann. Die Veräußerung ist demnach ein resultatives Festhalten an etwas, das dem Ewigen nicht entspricht und deshalb eine Verendlichung der unendlichen Leidenschaft und damit die Verendlichung des Versuchs, in der Zeit zum Ewigen vorzudringen, was sowohl eine Negation der Entzogenheits- als auch Negationsdialektik wäre – und damit eine Negation der Konzeption climacischer Religiosität und Innerlichkeit. Climacus bringt den Aspekt der Verendlichung des Unendlichen auch innerhalb seiner Sprachauffassung zur Geltung, wenn er davon spricht, dass Sprache (als das der Existenz entgegengesetzte Abstrakte) immer eine Verkürzung darstellt (vgl. SKS 7, 404/ DUN, 627). Sprachliche Äußerung (in Form von Zeichen) ist die Verkürzung von Wirklichkeit – auch der Unendlichkeit. Das wird im Folgenden anhand des Schweigens relevant.  So gilt für den religiösen Menschen bei Climacus, „dass er mit d[]er ganzen in ihm verborgenen Innerlichkeit, dass er mit dieser Schwangerschaft des Leidens und Segens im Innern [Indre], ganz wie andere Menschen aussieht …*“ (SKS 7, 452 / DUN, 691)  Ein anderer Einwand gegen die Metapher wäre ein ontologisch motivierter: dass Schwangerschaft dadurch bestimmt ist, dass ein eigenständiger Organismus im Innern ist. Dies würde in Bezug auf Innerlichkeit bedeuten, dass sie eine eigenständige Sphäre des Seins darstelle, was ohne Zweifel an Augustinus erinnern würde, bei dem es um ein verborgenes, nur Gott zugängliches Innen geht (vgl. Kapitel 1.1). Angedeutet wird dies, wenn es in der „Friedhof-Szene“ heißt, dass die Innerlichkeit das Ewige (im Menschen) ist (vgl. SKS 7, 215/ DUN, 383). Gleichfalls verfehlt dies das existenzdialektische Innerlichkeitsverständnis Climacusʼ, das sich gerade durch einen Zugang des Individuums zu seinem Innern auszeichnet, weil die Innerlichkeit ein gelebter Vollzug und eine erfahrbare Haltung des Durchdrungenseins ist.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

dies deutlich), wohingegen im Verhältnis zu Gott gerade das Erkanntwerdenwollen fokussiert wird (s.u.).

Schweigen „Schweigen ist Innerlichkeit.“¹¹⁴⁰

Die herausgestellten Merkmale der Verborgenheit (Selbstkonzentration, Unauffälligkeit im Äußeren, Überzeugung) werden von Climacus anhand des Schweigens von der Visibilität in die Akustik¹¹⁴¹ überführt. Hierbei ist das Schweigen zunächst ebenfalls Ausdruck der Negationsdialektik. Denn als Negation des Sprechens entspricht es dem entzogenen Ewigen,¹¹⁴² das weder verstanden (also auch nicht sprachlich expressiviert) werden kann, noch (von sich aus) in der Welt kundtut.¹¹⁴³ Aber was bedeutet das Schweigen in existenzieller Hinsicht? Jeder, der in Wahrheit sein Leben gewagt hat, hat den Maßstab des Schweigens gehabt; denn ein Freund kann und darf niemals dazu raten, ganz einfach aus diesem Grund: wer sein Leben wagen soll und Vertrauen braucht, um mit ihm darüber zu ratschlagen [overveie], der taugt nicht dazu. Aber wenn es in ihm heiß zu werden anfängt, und die letzte Anstrengung erfordert wird: dann springt man ab, dann sucht man bei einem Vertrauten Linderung und erhält den wohlgemeinten Rat: schone dich selbst; dann geht die Zeit dahin, und der Drang vorüber. Und wenn man dann in einem späteren Augenblick von einer Erinnerung heimgesucht wird, dann klagt man die Menschen an und beweist aufs Neue, dass man sich selbst verloren hat und seine Idealität unter den abhandengekommenen Dingen hat. Aber wer schweigt, klagt niemand außer sich selbst an, beleidigt keinen durch sein Streben; denn dies ist seine siegreiche

 SKS 8, 92 / LA, 104.  Die existenzielle Präferierung der Akustik lässt das Hören in den Vordergrund rücken, das nun – gegenüber dem Sehen – als wesentlicherer Erkenntnissinn konnotiert wird.  Mit der Bestimmung des Schweigens als negationsdialektischer Ausdruck von Religiosität lassen sich schließlich die systematischen Erscheinungsweisen der Negationsdialektik gebündelt aufzeigen. Als existenzielle Reaktion im ontologischen Gegensatz (Zeit/Welt) zum Ewigen ist die unendliche Bewegung des Denkens die bewusstseinsphänomenologische Reaktion auf die Unendlichkeit Gottes; das Schweigen die mitteilungstheoretische Reaktion auf die Entzogenheit Gottes und das Leiden die existenzphänomenologische Reaktion auf die Abwesenheit ewiger Seligkeit.  „In der religiösen Sphäre ist das Positive am Negativen kenntlich. Das höchste Wohlbefinden einer glücklichen Unmittelbarkeit, das [die] Freude über Gott und das ganze Dasein hinausjubelt, ist recht liebenswert, aber nicht erbaulich, ist nicht wesentlich ein Gottes-Verhältnis.“ (SKS 7, 509 (Anm.) / DUN, 764 f. (Anm.) (Hervorhebung d.Vf.)) Bezüglich der Negationsdialektik muss aus phänomenologischer Perspektive jedoch gesagt werden, dass das Schweigen durchaus ein Sich-Zeigen des Nicht-Sprechens ist – und in diesem Sinne nicht dem Sich-absolut-nichtZeigen des Ewigen entspricht.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

361

Überzeugung, dass in jedem Menschen dieses Mitwissen mit dem Ideal ist und sein kann und soll, das alles fordert und nur in der Vernichtung vor Gott tröstet.¹¹⁴⁴

Ich möchte zwei Deutungen hervorheben: 1. Schweigen ist nicht nur die Negation akustisch-artikulierten Sprechens, sondern auch wesentliches Sprechen. ¹¹⁴⁵ Es ist die Selbstunterredung des Individuums mit sich (kein „Ratschlagen“)¹¹⁴⁶ und somit Ausdruck intensiven Denkens, der Fokussierung (kein „Abhandenkommen“) und der Abwendung von der Welt (und jeglichem Suchen nach Halt in ihr). Das Individuum ist ganz bei sich und vergegenwärtigt sich seiner Lage im religiösen Streben.¹¹⁴⁷ Diese praktizierte Selbstkonzentration ist die Gewissenhaftigkeit (der Ernst),¹¹⁴⁸ mit der sich das Individuum der Aufgabe des religiösen Existierens widmen soll. 2. Aus der negationsdialektischen Prämisse des Schweigens geht die Epoché der Erbauung hervor. So notiert beispielsweise Frater Taciturnus, dass in der „Stille ein unendliches Nichts“ liegt und in diesem Nichts „das Bewusstsein der Ewigkeit“ verborgen sei.¹¹⁴⁹ In diesem Sich-Öffnen des Ewigen im Schweigen¹¹⁵⁰ ist dasselbe gerade als ein erbauliches Sprechen zu charakterisieren – die höchste Form einer als Sprache aufgefassten Innerlichkeit, deren Maß die Überwindung der Sprache ist.¹¹⁵¹ In seinem erbaulichen Charakter ist es dann das, was Siegfried

 SKS 7, 498/ DUN, 750 f.  Martin Heidegger hat das Schweigen in diesem Sinne bekanntermaßen als „existenziales Fundament … des Redens“ (ders., Sein und Zeit, 164) charakterisiert, indem der Mensch nicht nur ganz bei sich selbst ist, sondern vor sein Gewissen gestellt wird, durch das die Entschlossenheit zur Eigentlichkeit ihren Ausgangspunkt nimmt. (Vgl. ebd., § 60)  „Das Erste, was das Religiöse tut“ – schreibt Kierkegaard im Journal JJ – „ist seine Tür zu schließen und im Verborgenen zu reden.“ (SKS 18, 170, JJ:96/ DSKE 2, 175)  Das Individuum führt sich im Schweigen vor das Leiden, von dem es keine „Linderung“ (s.o.) gibt, und vor die Verantwortung sich selbst gegenüber, dass alles Streben zum Ewigen allein von ihm abhängt („Anstrengung“ (s.o.)). Deshalb ist das Schweigen auch Ausdruck jeglicher Abwendung von Schuldzuweisung an andere (kein „Anklagen“ (s.o.)). Die Verlagerung des Suchens nach Gründen im Äußeren zur Rechtfertigung des eigenen Misslingens wird nivelliert.  Zur Praxis der Gewissenhaftigkeit bei Climacus: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 79 f.  SKS 6, 310/ SLW, 353.  Deshalb darf das Schweigen bei Climacus nicht mit der „Verschlossenheit“ bei Vigilius verwechselt werden, bei dem das Schweigen ein sich verschließendes Kreisen des Individuums um sich selbst bedeutet, das nur durch das Sich-Ausdrücken (im Wort), das Offenbarwerden überwunden werden kann. Vgl. DBA, Viertes Kapitel, § 2. Dazu ausführlich: Dieckow, Gespräche zwischen Gott und Mensch, S. 70 – 81; auch: Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, besonders S. 55 f. und 152 ff.  Vgl. Kapitel 2.2.5.3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Kracauer „als das wortlose Umschließen der ganzen Gestalt“ benennt.¹¹⁵² Im Schweigen umfasst und entdeckt sich das Individuum selbst als Sein durch Gott. Damit wird gleichfalls der die Sprache überwindende Charakter des Schweigens wichtig. Denn die identitätstheoretische Epoché der Erbauung kann nur gelingen, wenn das Individuum durch kein Geräusch gestört wird – auch nicht durch seine eigene Selbstunterredung (Denken).¹¹⁵³ Schweigen ist der Zustand des HinHörens ¹¹⁵⁴ in der Hin-Gabe ¹¹⁵⁵ an Gott – der Versuch, in ein durch Intensität gekennzeichnetes kommunikatives Verhältnis mit Gott zu treten,¹¹⁵⁶ um dessen Wort zu empfangen. ¹¹⁵⁷ In diesem Sinne ist der letzte Satz des obigen (abgesetzten) Zitats zu verstehen: dass das Schweigen die „Vernichtung vor Gott“ ist, in der die Möglichkeit des Trostes liegt, die eigene Isolierung (vor Gott) durch das Bewusstsein des Gehört- und Gesehenwerdens aufzubrechen. So wird das Schweigen zum Ausdruck des religiösen Bedürfnisses, „in der Zeit von Gott gekannt zu sein.“¹¹⁵⁸

 Siegfried Kracauer, „Das zeugende Gespräch“, in ders., Über die Freundschaft. Essays. Frankfurt am Main 1971, S. 83 – 95, hier S. 95.  Denn mit der eigenen Stimme wird das, was von anderen gesagt wird, im Moment des eigenen Sprechens übertönt, was Kierkegaard beispielsweise in Anlässlich einer Beichte betont: „[S]o wird … Rede ein Lärm, der die Stille stört und deine Aufmerksamkeit eine Zerstreuung, die die Stille beleidigt.“ (SKS 5, 393/ DRG, 116) Auch deshalb verdeutlicht Kierkegaard – auf geradezu komische Weise – im Journal JJ (SKS 18, 300, JJ:484 / DSKE 2, 311), dass ein Sprechen im GottesVerhältnis („frommer Innerlichkeit“), wenn überhaupt, leise und murmelnd sein soll.  Hierfür ist interessant, dass Kierkegaard an einer Journal-JJ-Stelle verdeutlicht, dass die Kunst des Betens nicht im Sprechen, sondern im Hören liege; indem sich das Individuum bereitwillig an Gott hingibt und hörig ist, also bestimmt werden will. (Vgl. SKS 18, 295, JJ:464/ DSKE 2, 306). In Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, dass Gott siegt bestimmt Kierkegaard das Beten schließlich auch als „sich übergeben [overgiver sig]“ (SKS 5, 366/4R44, 92), was soviel bedeutet, wie: sich an Gott überlassen und mit Hingabe sich zu Gott zu verhalten (wobei diese Rede das Beten als dialektisch aufgeladenen Prozess zwischen Hingabe und Skepsis; Leidenschaft und Reflexion enthüllt).  Augustinus hat dem Schweigen in diesem Sinne – ironischerweise – wortgewaltig Ausdruck verliehen: vgl. ders., Confessiones / Bekenntnisse, Neuntes Buch, X.25.  Dennoch kann das Schweigen aus systematischer Perspektive nicht als die absolute Ekstasis verstanden werden, weil der Verstand bzw. das Nicht-Verstehen-Können grundsätzlich für den Glauben benötigt wird. Als dieses Zwischen zwischen nicht-abstrakter Unmittelbarkeit und auf Distanz bringendes, sprachliches Verstehen muss das Schweigen begriffen werden, womit es Ausdruck der Innerlichkeit als Existenzweise zwischen Sein und Sprache ist (Kapitel 2.2.5).  Im Empfangen wird das Individuum identitätstheoretisch bestimmt. Für das Deutsche ließe sich hierbei eine semantisch-spielerische Konnotation herausarbeiten: dass das Individuum aus dem Schweigen und Zuhören heraus im Bestimmtwerden durch Gott eine Stimme bekommt; es wird be-stimmt und lernt durch Gott das eigene Sprechen (Selbstsein) neu.  SKS 7, 409/ DUN, 633.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

363

Humor Offensichtlich sind Verborgenheit und Schweigen zunächst Ausdruck für eine existenzpragmatische Isolierung und Entfremdung des Individuums von der Welt. Nicht nur Vereinzelung, sondern auch innere Vereinsamung ist dabei impliziert¹¹⁵⁹ – zumal Climacus betont, dass es in der Innerlichkeit „keine Sozialität und keine Gemeinschaft“ gibt.¹¹⁶⁰ Diese sozial-eremitische Lebenshaltung soll aber im sozialen Gefüge des gesellschaftlichen Lebens gelebt werden,¹¹⁶¹ insofern für  So wird beispielsweise der Freundschaft kein hoher Stellenwert beigemessen (wie die obige, abgesetzte Stelle zum Schweigen gleich zu Beginn anhand des „Ratschlagens“ impliziert). Außerdem beachte man: SKS 20, 114 f., NB:188 und 190/ DSKE 4, 126 f.  SKS 7, 74 (Anm.) / DUN, 200 (Anm.). Dies wird ebenso bei Constantin Constantius betont, dass es wesentlich darum gehe, sich „in der Vereinzelung der Isolation von allem zu lösen“. (SKS 4, 27/ DW, 354) Und Frater Taciturnus macht dies konkret, wenn er schreibt, dass im religiösen Leben „so tief in die Innerlichkeit zurückgegangen“ wird, dass er „die Wirklichkeit schwer erreiche.“ (SKS 6, 327/ SLW, 373) Es sei jedoch angemerkt, dass Climacus die Tendenz der Vereinsamung im religiösen Existieren nicht nur selbst erkennt und heraushebt, sondern auch relativiert, wenn er notiert: „[E]s ist unleugbar, dass wenn man keine ethische und religiöse Begeisterung hat, man darüber verzweifeln muss, ein einzelner Mensch zu sein – sonst nicht.“ (SKS 7, 324 f. / DUN, 524) Die Relativierung der Einsamkeit besteht darin, dass Climacus hier eine für das ethisch-religiöse Existieren notwendige Einsamkeit intendiert, die von sozialer Vereinsamung unterschieden werden muss: nämlich die Einsamkeit im Sinne der Vereinzelung des je eigenen (subjektiven) Verhältnisses zu Gott, denn „jeder Mensch, der Leidenschaft hat, ist immer etwas einsam“ (SKS 7, 389/ DUN, 607), womit die Innerlichkeit benannt ist, die als Selbst-Verhältnis vor Gott (SKS 7, 397/ DUN, 618) von Climacus auch als die „Innerlichkeit der Einsamkeit vor Gott“ (SKS 7, 494 / DUN, 746) bestimmt wird. Diese wesentliche Einsamkeit, in der das Individuum für sich zu sich selbst findet, indem es sich zu Gott verhält, ist eine grundlegende Voraussetzung für das Selbstsein des Individuums bei Climacus. Friedrich Carl Fischer hat dies, mit vorrangigem Bezug auf die Krankheit zum Tode, genauer herausgearbeitet: ders., Existenz und Innerlichkeit, S. 202 ff.  Climacus sympathisiert ganz offensichtlich – wenn auch ironisch gebrochen und in Abgrenzung zum spekulativen Denken ausgeführt – mit einer eremitischen Lebensführung: „Man lächelt über das Klosterleben, und doch hat kein Eremit so unwirklich gelebt, wie man heutzutage lebt, denn ein Eremit hat zwar wohl von der ganzen Welt abstrahiert, aber er hat nicht von sich selbst abstrahiert … [D]och ist das leidenschaftliche Vergessen des Einsiedlers, das ihm die ganze Welt entschwinden [bort] lässt, der komischen Ablenkung [Distraction] des weltgeschichtlichen Denkers, der sich selbst vergisst, bei weitem vorzuziehen.“ (SKS 7, 291/ DUN, 482) [Anm.: Im Journal JJ verfasst Kierkegaard eine in ähnlichem Duktus, mit sympathisierender Distanz geschriebene Bemerkung zur mönchischen Askese: vgl. SKS 18, 242, JJ:324/ DSKE 2, 250.] Obwohl Kierkegaard die religiöse Innerlichkeit als Praxis innerhalb der Unauffälligkeit des alltäglichen Lebens versteht und hieraus das Klosterleben als die darunter stehende – weil die „Verborgenheit“ zur Schau tragende – Existenzweise ansieht, bleibt die Frage, ob die religiöse Innerlichkeit nicht so konzipiert ist, dass sie schließlich doch Ausdruck eines mönchischen Lebens (wenn auch nicht mit dessen äußeren Kennzeichnungen) darstellt. Eben dieser Gedanke verleitet Alois Dempf dazu, zu schreiben: „Es liegt ein erhabener asketischer Stil in diesem ganzen Leben, der Stil der Heiligkeit des Mönchs …“ (Ders., Kierkegaards Folgen, S. 171) Jedoch scheint mir diese Emphatisierung

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

das religiöse Individuum gilt: so aufzutreten wie alle anderen, denn „dadurch wird ja gerade die Innerlichkeit verborgen, dass er [der Existierende, d.Vf.] ganz wie andere aussieht.*“¹¹⁶² Mit diesem Kredo der Verborgenheit offenbart sich folglich ein vom Individuum bewusst auszuhaltender Widerspruch zwischen (äußerer) Erscheinung und (innerer) Haltung.¹¹⁶³ Während es an der gesellschaftlichen Oberfläche als eingepasste und konforme Persönlichkeit erscheint (also bewusst eine Praktizierung des „Man“ verfolgt, wie Heidegger sagen würde),¹¹⁶⁴ ist das Individuum durch seine innere Haltung (der Abwendung von der Welt) gleichfalls als nonkonformes Individuum zu qualifizieren. Denn es wendet sich in der Innerlichkeitspraxis grundsätzlich von den Erscheinungen in der Welt und somit auch von gesellschaftlichen Konventionen, Einstellungen, Verhaltensweisen ab¹¹⁶⁵.¹¹⁶⁶

des Mönches für Kierkegaards Denken sachlich weder korrekt noch zutreffend zu sein. Vielmehr scheint mir in seiner impliziten Haltung des Eremiten und seiner Lebenspraxis des Konzentriertseins ein traditioneller Aspekt des Philosophseins selbst zum Ausdruck zu kommen: Die Ablehnung der Bedingungen, unter denen das menschliche Leben gegeben ist, denn sie verhindern das wahre Sein. Zu dieser Vorstellung vom Leben des Philosophen (seit Platon) kurz und prägnant: Arendt, Das Urteilen, S. 38 f.  SKS 7, 452 / DUN, 691.  Dies ist auch die systematische Grundlage für den mit der Verborgenheit bei Climacus korrelierenden Begriff der Unkenntlichkeit in der Einübung im Christentum, nämlich nicht darzustellen, was man ist: vgl. SKS 12, 132 / DEC, 151.  Eine systematische Frage ist dann, ob derjenige, der sich als ganz normaler Bürger in die Welt einfügt, seine Innerlichkeit nicht zur Schau stellt, sie „inkognito“ (u. a. SKS 7, 373, 452 f. (Anm.) / DUN, 586; 690 ff. (Anm.)) in Verborgenheit lebt, der Möglichkeit der Täuschung in Bezug auf seine Innerlichkeit ausgesetzt ist? Dafür ist im Vorwurf Climacusʼ an das Mönchtum der Aspekt der Möglichkeit der Einbildung der Innerlichkeit zu beachten. Climacus spricht von (Selbst‐)Betrug: „[J]e weniger Äußerlichkeit, desto mehr Innerlichkeit, und Innerlichkeit durch ihren Gegensatz ausgedrückt … ist die höchste Innerlichkeit – falls sie da ist. Dies muss beständig hinzugefügt werden, sowie: je weniger Äußerlichkeit, desto leichter der Betrug.“ (SKS 7, 376/ DUN, 590) „Das Tiefsinnige liegt in der stillen Unvergänglichkeit der Innerlichkeit, aber darin liegt auch die Möglichkeit des Betruges und die Versuchung zu sagen, man habe es getan und tue es.“ (SKS 7, 372 / DUN, 585) Die Gefahr besteht darin, dass das Individuum die Verborgenheit als kenntliches Merkmal der Innerlichkeit versteht (was argumentativ dem Mönchtum entspricht, das am Äußeren seine Innerlichkeit überprüft), womit die Verborgenheit als wesentliches, die Innerlichkeit ästhetisch-beweisendes Kriterium verstanden werden würde. Die Verborgenheit als äußeres Kennzeichen der Innerlichkeit zu verstehen heißt, sich unmittelbar zu weltlichen Erscheinungen zu verhalten und in ihnen Halt zu suchen (was ein Widerspruch zur innerlichen Lebenspraxis wäre).  Vgl. auch Kapitel 2.2.6.  Diese Abwendung gilt jedoch nicht für kulturell geprägte, christlich-religiöse Denkmuster (wie etwa dem Streben zur Erlösung), die es existenziell in Erfahrung zu bringen gilt.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Ausgehend von dieser inneren Haltung könnte durchaus die Kritik geübt werden, dass sich auf individueller Ebene vor den Problemen, die es politisch, gesellschaftlich und auch zwischenmenschlich zu lösen gilt, abgeschottet wird. Zugleich liegt in der eigenen Distanzierung vom Geschehen auch eine Haltung von nicht abzulenkender Willensstringenz, der Nüchternheit, Überlegtheit und Sachlichkeit innewohnt.¹¹⁶⁷ Solche distanzierende Gelassenheit im Umgang mit dem, was geschieht, zeigt sich auch und vor allem anhand des Schweigens. Denn als existenzieller Modus der Konzentration (auf das, was religiös gewollt wird) und der handelnden Umsetzung verborgener Innerlichkeit ist es nicht nur Ausdruck von stiller Entschiedenheit, sondern auch Ausdruck für ein Tun, ohne Worte darum zu machen. Im Schweigen kommt eine Bescheidenheit ¹¹⁶⁸ zum Tragen, in der das Individuum nicht nach bewertender Anerkennung für das, was es tut, sucht.¹¹⁶⁹ Diese Bescheidenheit ist die Gelassenheit gegenüber jeglichem gesellschaftlich-konventionellem Drängen nach wie auch immer geartetem Erfolg. Kann damit nicht Climacusʼ Prämisse der Inkommensurabilität der Innerlichkeit für die Äußerlichkeit abgewiesen werden? Denn zu fragen ist ja: Zieht nicht jede ernste, tief in den eigenen Charakter einschneidende Einstellung auch Wirkung im Äußeren, also in den eigenen Re-Aktionen auf Welt und Mitmenschen nach sich? Nimmt man dies als gegeben, müsst man sich den die climacische Innerlichkeit ernsthaft praktizierenden Menschen als distanzierten (gar etwas ungeselligen¹¹⁷⁰) Gegenüber vorstellen, dem in seiner nüchtern-bescheidenen Gelassenheit ein sachlich überlegter, tendenziös gleichgültiger Gestus gegenüber den Geschehnissen in der Welt durchwirkt (was ganz der sozial-eremitischen Lebenshaltung entspräche). In diesem Fall würde sich die Innerlichkeit durch die von ihr verursachten Verhaltensphänomene zeigen. Und es gälte dann: Das Innen

 Diese Eigenschaften des von Climacus entworfenen Existierens werden besonders von Klaus Schäfer betont: vgl. ders., Hermeneutische Ontologie, besonders S. 72 ff. Außerdem ist der in diesem Sinne an der Welt „uninteressierte“ Mensch gerade der zum (auch politischen) Urteil fähige „Zuschauer“ bei Kant, wie dieser von Hannah Arendt verstanden wird: vgl. dies., Das Urteilen, besonders S. 85 – 87. Ein Vergleich verspricht interessante Ergebnisse bezüglich des Verhältnisses von Religiosität und Politik bei Kierkegaard.  Vgl. auch Kapitel 2.3.3.1.1.  So vermerkt Climacus abweisend: „Die Menge der Menschen … [ist] eifrig damit beschäftigt, etwas zu sein, wenn man sie ansieht; sie sind so weit möglich in ihren eigenen Augen etwas, sobald andere sie ansehen …“ (SKS 7, 456 f. / DUN, 696)  Wolfgang Janke bringt dies mit kulturkritischer Wendung für das Schweigen zur Geltung: „[W]eil er die geschwätzige, durch keine Reflexion gezügelte Mitteilsamkeit des unmittelbaren Menschen unerträglich findet und den Lärm der Gesellschaft scheut, verfällt er ins Schweigen. Kierkegaard hat Einsamkeit und Schweigen mit satirischer Schärfe gegen die ‚Dauergeselligkeit‘ unserer Zeit rehabilitiert.“ (Ders., Historische Dialektik, S. 417 f.)

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

wirkt in das Außen hinein; das Außen zeigt auf das Innen – womit die Negation des Ausdrucks (Verborgenheit/Schweigen) nur eine aus dem dialektischen Denken gewonnene, überspitzte Bestimmung wäre. Gleichfalls muss Climacusʼ systematische Prämisse des Wie-andere-Aussehens, das Kredo der Verborgenheit, ernst genommen werden. Zweifellos könnte das distanziert auftretende Individuum dann im Rahmen konventionellen Verhaltens verortet werden. Es könnte sogar gesagt werden, dass die Eigenschaften der Distanziertheit, Bescheidenheit (etc.) erstmal überhaupt nicht auf eine durch Überzeugung getragene Religiosität zeigen. Ja, das Individuum könnte mit der lebendigen Umsetzung dieser Eigenschaften sogar der Prämisse der Verborgenheit gerecht werden, weil es sich tendenziell von den anderen absondert. Aber eben dies wäre gleichsam das Auffällige – und das nicht nur, weil Climacus das SichPräsentieren als eigentlichen Konformismus diagnostiziert.¹¹⁷¹ Denn im recht verstandenen Sinne der Verborgenheit müsste der die Innerlichkeit praktizierende Mensch auch seine durch die Innerlichkeit verursachten Verhaltensweisen für andere unsichtbar machen – eben weil diese Verhaltensweisen (zumindest für ihn selbst) Ausdruck der (zu verbergenden) Religiosität sind.

 Wie schon oben zitiert: „Die Menge der Menschen … [ist] eifrig damit beschäftigt, etwas zu sein, wenn man sie ansieht …“ (SKS 7, 456 f. / DUN, 696) Hierbei ist es spannend einen Blick in Eine literarische Anzeige von 1846 zu werfen, wo Kierkegaard in seiner kritischen Betrachtung der „Gegenwart“ (vgl. SKS 8, 66 – 106/ LA, 72– 120) jene Modi des gesellschaftlichen Verhaltens analysiert, die Innerlichkeit verhindern oder pervertieren (vgl. besonders SKS 8, 91– 100/ LA, 102– 112). In Bezug auf das Sich-Präsentieren sind besonders die kurzen Bemerkungen zu „Oberflächlichkeit“ interessant, weil diese als „Repräsentationslust“ die „Unterscheidung zwischen Verhüllung und Offenbarung“, also zwischen Verborgenheit und Erscheinung unterminiere (vgl. SKS 8, 97/ LA, 109) und damit eben genau im Kontext der „Verborgenheit“ situiert ist. Oberflächlichkeit ist dann gerade derjenige Modus gesellschaftlichen Umgangs, in dem innere Haltung entweder so zur Schau gestellt wird, dass diese ihre Integrität verliert (die „Extensität“ verdrängt die „Intensität“: vgl. SKS 8, 92 / LA, 103), oder dass das Zur-Schau-Stellen selbst so bedeutungsschwanger ist, dass es für die innere Haltung gehalten wird. In diesem (doppelten) Sinne ist das Sich-Präsentieren die Negation der Differenz zwischen Schein und Sein, – oder traditioneller – zwischen Erscheinung und Wahrheit. Ohne auf den hiermit angesprochenen und für Kierkegaard typischen Aspekt einzugehen, dass das Innen dem Außen inkommensurabel ist, ist das, was Kierkegaard bzw. Climacus hier sieht, vor allem der Sachverhalt, dass bei einer fehlenden Anerkennung der Unterscheidung von Schein und Sein eigene Überzeugungen austauschbar werden. Und das ist es ja, wogegen die gesamte Philosophie der Innerlichkeit angeht. Denn Integrität und Stabilität der Persönlichkeit sind das (in Anbetracht aller Kontingenz) anzustrebende Ziel. Davon ausgehend, ist ein Konformismus des Sich-Präsentierens nichts anderes als opportunistische Beliebigkeit, die sich allein in der (jeweiligen) Situation gut positionieren will (vgl. hierzu auch Kierkegaards Kategorisierungen der „Menge“ in: Pia Søltoft, „The Ethical and the Social“, in KSYB 1999, S. 110 – 129, hier S. 118 f.).

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Dieses strikte und aus dem dialektischen Denken hervorgehende Unerkanntbleibenmüssen (denn jede – notwendig – weltgebundene Äußerung ist die Verendlichung und Verkürzung des Unendlichen) fasst Climacus mit dem systematischen Begriff des Humors,¹¹⁷² der das „Inkognito des Religiösen“¹¹⁷³ und somit die aus dem dialektischen Denken hervorgehende und zu lebende Negation des Ausdrucks der Innerlichkeit darstellt. Der innerliche Mensch verdeckt durch den Humor an der gesellschaftlichen Oberfläche seine Religiosität,¹¹⁷⁴ indem er das Innere äußerlich in ein bewusstes Gegenteil transformiert, ohne in diesem Prozess die Ernsthaftigkeit der Innerlichkeit für sich selbst zu verdecken oder gar zu verlieren.¹¹⁷⁵ Mit dem Humor wird also die sich aus dem Kredo der Verborgenheit ergebende Spannung zwischen gesellschaftlicher Erscheinung und innerer Haltung forciert, was konkret bedeutet, dass konformistisches Sich-Präsentieren innere Zurückhaltung übertüncht. Doch – und das scheint mir das lebenspraktisch Entscheidende zu sein – notiert Climacus: „[S]olange der Streit und das Leiden in der Innerlichkeit fortdauern, solange wird es ihm nicht ganz gelingen, die Innerlichkeit zu verber-

 Vgl. auch Kapitel 2.1.3.3.  SKS 7, 453/ DUN, 692 und weitere.  „[D]enn der Religiöse ist nicht der Humorist, sondern in seinem Äußeren ist er der Humorist.“ (SKS 7, 454/ DUN, 693) Zu fragen wäre diesbezüglich: Warum wird das Religiöse überhaupt an der gesellschaftlichen Oberfläche verdeckt? Climacusʼ Antwort ist nicht überzeugend und letztlich rein psychologisch durch Scham und Verunsicherung zu erklären, weil es ihm darum geht, dass das Religiöse durch die äußere Verdeckung unangreifbar gegen Desavouierung und komische Verunglimpfung wird. Dazu: Bühler, „Warum braucht das Pathetische den Humor?“, besonders S. 172 f. Zudem beachte man die Ausführungen in Kapitel 2.3.3.4.2, durch die Climacusʼ eigene Begründung der „Verborgenheit“ als unzureichend gefasst werden muss, weil es im Religiösen auch darum geht, die „Verborgenheit“ zu durchbrechen – man dann also durchaus mit Climacus gegen Climacus argumentieren kann.  Climacusʼ Definition dafür lautet: „Religiosität mit Humor als Inkognito ist daher: Einheit von absoluter (dialektisch verinnerlichter) religiöser Leidenschaft und Reife des Geistes, die die Religiosität von aller Äußerlichkeit in die Innerlichkeit zurückruft …“ (SKS 7, 458/ DUN, 699) Vor kulturhistorischem Hintergrund kann man dies durchaus kritisch gegen Kierkegaard wenden, denn seine Kritik des Gewohnheitschristen wird so die Beurteilungsbasis entzogen. Wenn sich wahre Innerlichkeit durch das äußere Erscheinen konventioneller, eingepasster Lebensweise äußert, die ja gerade die Erscheinungsform des alltäglichen Gewohnheitschristentums darstellt (d. h. sonntags in die Kirche zu gehen ohne ein Anzeichen von religiöser Überzeugung), ist eben zu fragen, worin das Maß der Beurteilung (und Abwertung) für gelebte Religiosität liegt? Denn jeder Gewohnheitschrist kann letztlich von Innerlichkeit durchdrungen sein, zeigt es aber nicht. Eine kritische Abwertung der anderen Menschen wäre dann entweder Anmaßung oder eine Beurteilung aufgrund von fehlenden Erscheinungsparametern (was gerade Teil der Innerlichkeit ist). Kierkegaards Kritik des Gewohnheitschristentums tappt gerade in die Falle, die die Innerlichkeitskonzeption systematisch mit sich bringt.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

gen …“¹¹⁷⁶ Selbst die zu perfektionierende Maskerade des Humors kann nicht die durchdringende Ernsthaftigkeit der Innerlichkeit verhindern. Innerer Nonkonformismus dringt an die Oberfläche. Innerlichkeit bleibt als Existieren an das InErscheinung-Treten gebunden. Diese existenzpragmatische Ambivalenz kennzeichnet die Praxis der Verborgenheit als ein Wirklichkeitsbewusstsein, in dem die Ambivalenz von Fassade (Humor) und Offenbarwerden auszuhalten ist. Climacus hat demnach im Blick, dass zwischen einer leidenschaftlichen Haltung und der eigenen Leiblichkeit, die die expressive Oberfläche des Menschen ist, eine niemals ganz negierbare Durchlässigkeit besteht. Die Innerlichkeit zeigt sich – und das eben nicht nur in den eigens erfahrbaren subjektiven Phänomenen wie dem Leiden, sondern auch (unfreiwillig) in sichtbaren Phänomenen. Aus der Perspektive der sichtbaren und sprachlich-akustischen Verborgenheit¹¹⁷⁷ bedeutet dies eben, dass der innerliche Mensch in permanenter Selbstkontrolle gegen seine eigene Überzeugung und Leidenschaft angehen muss, um diese nicht zu äußern. Und daran wird grundlegend der Aspekt der (Selbst‐)Entfremdung deutlich. Denn die in Innerlichkeit gelebte Haltung eines distanzierten Weltbezugs impliziert gerade nicht „die Leichtigkeit des Verschwindens aller Sorgen um den äußeren Schein“, wie Peirce einmal über die Einsamkeit schreibt.¹¹⁷⁸ Vielmehr befindet sich das innerliche Individuum in einem ständigen Widerspruch zu seiner Leiblichkeit und Sprache als Medien der Äußerung,¹¹⁷⁹ die mit der Patina eines permanenten, auf die Umwelt situativ reagierenden – und damit praktisch hochkomplexen – Versteckspiels überzogen werden müssen. Und aus diesem Aspekt heraus kann durchaus gesagt werden, dass innerlichem Existieren nicht nur eine Ambivalenz, sondern eine Dialektik von Fassade und Offenbarwerden besteht. Denn gerade die Sichtbarkeit treibt zur Fassade an, deren Forciertheit die Sichtbarkeit bestimmt. Und die Folge scheint mir zu sein, dass das Individuum – über eine bloße Beherrschung hinaus – einer Verkrampfung seiner kontrollierten Erscheinungsweise unterliegt, während es im Verhältnis zu sich selbst, dem Innern, gerade diese Kontrolle über sich selbst fahren lässt.¹¹⁸⁰

 SKS 7, 453 f. / DUN, 692 f.  Mit der sprachlich-akustischen Verborgenheit meine ich das Schweigen.  Charles Sanders Peirce, Religionsphilosophische Schriften, übers. unter Mitarbeit von Helmut Maaßen, eingel., komm. und hg. von Hermann Deuser, Hamburg 1995, S. 14.  Bezüglich der Sprache sei angemerkt, dass die Beredsamkeit des sich als Humorist gebenden Climacus – abgesehen von den mitteilungstheoretischen Überlegungen (vgl. Kapitel 2.1) – durchaus als Modus des Unerkanntbleibenmüssens gedeutet werden können: als Verbergen des (religiösen) Schweigens.  Vergleiche unter anderem die Erbauung in Kapitel 2.3.3.3.3.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

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Dass diese Zerrissenheit im Umgang mit sich selbst dem dialektischen Denken entspringt, zeigt in systematischer Hinsicht, wie sehr bei Climacus das Sein vom Denken bestimmt¹¹⁸¹ ist (wobei sich das Sein wiederum zirkulär als Bestätigung des Denkens erweist und dasselbe vertieft) und verdeutlicht geradezu drastisch, was Climacus meint, wenn er sagt, dass es darum gehe, denkend zu existieren. ¹¹⁸² Denn das Verbergen der Religiosität ist Signum für eine Präferierung des Denkens gegenüber der Leiblichkeit, der Bewusstseinshandlung gegenüber der Handlung in der Welt, die als nicht zu negierende Umschließung des Individuums notdürftig gegen eine freie (kontinuierliche) Entfaltung prozessualen Denkens selbst, die Wiederholung, abgegrenzt werden muss. Dieser Kraft des Denkens willentlich geschehende Prozess der Weltdistanzierung zur Fokussierung auf das Denken selbst ist ein der Tätigkeit des Denkens inhärentes Merkmal. Denn zu denken bedeutet, sich aus der umgebenden Welt, trotz selbstverständlicher Verortung in ihr, zu separieren und sich in eine neben der unmittelbaren Sinnen-Wirklichkeit bestehende Welt re-präsentativer Vergegenwärtigung zu begeben.¹¹⁸³ Denken ist Distanzierung vom Leben. Indem Climacus solch eine Phänomenologie des Denkens zweifellos im Blick hat, wie die Wiederholungsbewegung zeigt,¹¹⁸⁴ wird auch klar, dass ein weiteres phänomenologisches Merkmal der Denk-Tätigkeit darin liegt, dass es als ein dem Außen inkommensurabler, „verschlossener Raum“ gesehen wird. Und die existenzielle Konsequenz ist, dass das Denken nur dann adäquat realisiert wird, wenn in Entsprechung zu dieser Verschlossenheit das Denken im Außen verborgen wird. Und doch bleibt all dies für die climacische Philosophie zu einseitig. Denn weder lässt sich das innerliche Individuum in einem – sozusagen – bloß vulgärplatonischen Sinne verstehen, das aus dem Interesse am Überirdischen das Irdische abwertet, noch wird systematisch allein das Bewusstsein fokussiert, ohne das sich in der Welt zeigende Handeln einzubeziehen.

 Im religiösen Kontext heißt das, dass der existenziellen Praxis (Sein) das Ins-VerhältnisSetzen zu Gott (Denken) vorausgeht: „Aus dem Verhältnis des Individuums zum Ewigen resultiert das Wie seiner Existenz, nicht umgekehrt …“ (SKS 7, 522 / DUN, 781) Dies geht wiederum auf Climacusʼ Aufnahme der traditionellen Forcierung des Geistes im Christentums zurück, den er selbstreflexiv (subjektiv) und im Kern als Leidenschaft für das Ewige interpretiert (womit also die Leidenschaft, die gerade verhältnissetzend ist, der existenziellen Praxis vorausgeht): „Christentum ist Geist, Geist ist Innerlichkeit, Innerlichkeit ist Subjektivität, Subjektivität ist in ihrem Wesentlichen Leidenschaft, in ihrem Maximum unendliche, persönlich interessierte Leidenschaft für die eigene ewige Seligkeit.“ (SKS 7, 39/ DUN, 160)  Vgl. SKS 7, 281 / DUN, 469; vgl. Kapitel 2.3.2.1.  Ich entlehne diesen Gedanken von Hannah Arendt: vgl. dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 133 f.  Vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

2.3.3.4.2 Hin- und Zuwendung Um den Weltbezug in der climacischen Innerlichkeit herauszustellen, muss die Liebe und ihre von Climacus gegebene Phänomenologie untersucht werden, um die gewonnenen Ergebnisse schließlich in Verbindung zur Negation des Ausdrucks zu setzen. Dabei ist grundsätzlich festzuhalten, dass für Climacus zwischen Liebe, Glaube und Handlung ein innerer Zusammenhang besteht.¹¹⁸⁵ Der innere Kern des religiösen Handelns, des Glaubens, ist Liebe.Wie wird die Liebe in Bezug auf das religiöse Existieren verstanden?

Demut Man sagt ja sonst, dass Liebe die Beiden gleich zu machen vermögen. Ja, und man hat Recht, wenn man von dem Verhältnis zweier Menschen spricht, weil sie wesentlich auf gleicher Stufe [Linie] stehen, und der Unterschied das Zufällige ist. Da aber zwischen Gott und dem Menschen ein absoluter Unterschied besteht, ist diese direkte Gleichheit ein vermessener, schwindelerregender Gedanke; aber dass dem so ist, ist kein komparativer, menschlicher Ablass für die äußerste Anstrengung. Da aber zwischen Gott und dem Menschen ein absoluter Unterschied besteht, wie drückt sich dann die Gleichheit der Liebe aus? Durch die absolute Verschiedenheit. Und was ist die Form der absoluten Verschiedenheit? Demut. Welche Demut? Die Demut, die mit demütigem Freimut vor Gott als Dem, der es wohl besser weiß als der Mensch selbst, ihre menschliche Geringfügigkeit ganz eingesteht.¹¹⁸⁶

Die Praxis der demütigen Liebe besteht in einer freiwilligen Unterordnung und Ergebenheit unter die anzuerkennende höhere Macht. Denn Demut ist der Mut dazu, sich sein fehlbares Menschsein vor Gott einzugestehen¹¹⁸⁷ – und zwar in der bedingungslosen Leidenschaft und Verbundenheit zu Gott.¹¹⁸⁸ Das zu Gott eine Beziehung konstituierende Begehren der Leidenschaft und die Menschwerdung des Individuums korrelieren in der Demut. Die religiöse Liebe ist dabei als eine charakterisiert, in der es nicht um das Besitzen geht, sondern darum, dass man Gegenstand des Besitzes ist. Als solches  Dies wird angedeutet, wenn Climacus (gegen den Idealismus angehend) notiert: „[D]ie Wissenschaft wendet sich immer mehr von den ursprünglichen Eindrücken der Existenz ab …; man liebt nicht, glaubt nicht, handelt nicht, aber man weiß, was Liebe, was Glaube ist …“ (SKS 7, 314 f. / DUN, 511)  SKS 7, 445 f. / DUN, 682 f.  „[E]s [ist] der demütigste Ausdruck für das Gottesverhältnis …, seine Menschlichkeit einzugestehen …“ (SKS 7, 447/ DUN, 684)  Ausdruck der Verbundenheit ist beispielsweise folgende Stelle der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „Das ist des endlichen Geistes … letzter begeisterter Zuruf zu Gott: »ich kann dich nicht verstehen, aber ich will dich lieben, du hast immer recht, ja selbst wenn mir so wäre, als wolltest du mich nicht lieben, will ich dich doch lieben.«“ (SKS 7, 243/ DUN, 421)

2.3 Religiöse Innerlichkeit

371

Korrelat der Erbauung ist die Demut die Transformation des Wollens in Hingabe und Passivität. Das Individuum möchte gesehen, gehört und bestimmt werden, was bedeutet: Nicht das Ansichreißen, sondern das Verzichtenmüssen und Loslassen, die Bedürftigkeit aus Unselbstständigkeit und das Empfangenwollen stehen im Mittelpunkt.¹¹⁸⁹ Es geht in der Demut also nicht um Selbstbehauptung und Egozentrizität, sondern um Dankbarkeit.¹¹⁹⁰

 In diesem Sinne ist das Leiden Ausdruck religiöser Liebe. Deren Dialektik liegt einerseits darin, dass die Unmöglichkeit der Vereinigung das Begehren und die Hingabe an den gewollten Gegenstand der Liebe perpetuiert. Und die Epoché der Erbauung bringt schließlich die Einsicht, dass das Verlangen niemals gestillt werden kann, weil das Rätselhafte, das Unbekannte (Gott) geliebt wird. Andererseits besteht die Dialektik der leidenden Liebe darin, dass durch den Verzicht und das Loslassen ein Entgegenkommen des Gegenübers gewährleistet wird. Erst wenn der Gegenüber als der, der er ist, anerkannt und akzeptiert wird – dem Gegenüber die Freiheit zur eigenen Bewegung zugestanden wird und er somit nicht nach dem eigenen Willen geformt werden will oder er sich nach dem eigenen Willen zu richten hat – erst dann ist die Bedingung der Liebe erfüllt und die Möglichkeit ihres Gelingens als Möglichkeit der Begegnung (Augenblick) gegeben.  Climacus notiert: „Ich danke ihm für das Gute, von dem ich weiß, dass es ein Gutes ist; aber was ich weiß, ist das Endliche, also passiert es mir, dass ich Gott dafür danke, sich nach meinem Kopf zu richten. Und doch sollte ich ja gerade in meinem Verhältnis zu Gott lernen, dass ich nichts mit Bestimmtheit weiß, also auch nicht, ob dies etwas Gutes ist … Ich soll also meinen Dank mit einer Entschuldigung verbinden, um sicher zu sein, dass es Gott ist, mit dem ich die Ehre habe zu sprechen …, ich soll beschämt gestehen, dass es mir so gut vorkommt, ich soll um Vergebung bitten, dass ich dafür danke, weil ich es nicht lassen kann. Ich soll also um Vergebung dafür bitten, dass ich danke.“ (SKS 7, 164 f. / DUN, 316 f. (Hervorhebung d.Vf.). Zur Dankbarkeit hat Heiko Schulz erhellende Ausführungen vorgenommen, in denen er die Dankbarkeit als eine „Grundhaltung“ existenzieller Selbstverwirklichung bei Kierkegaard herauszustellen versucht: vgl. ders., „Das Beanspruchte und das Verdankte. Zur Idee der Selbstverwirklichung im Anschluss an Søren Kierkegaard“, in ders., Aneignung und Reflexion II. Studien zur Philosophie und Theologie Søren Kierkegaards, Berlin und Boston 2014 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 28), S. 146 – 180, besonders S. 173 ff., auch S. 177– 180. Schulz nimmt in seiner kurz ausgeführten Phänomenologie der Dankbarkeit u. a. den Aspekt der Ent-Selbstverständlichung in den Blick, womit er, wenn auch nicht als solchen herausgehoben, jenen von Climacus in der eben zitierten Stelle angesprochenen Punkt trifft. Wofür gedankt wird, so Schulz, ist etwas Gewährtes, das als Geschenk wahr- und angenommen wird und als solches, weil die freiwillige Reaktion des Dankes folgt, nicht als etwas gesehen wird, das einer Beanspruchung oder Erwartung unterliegt. Dankbarkeit richtet sich auf etwas, das im bisherigen Lebenshorizont nicht in Erscheinung getreten ist und dadurch nicht als etwas selbstverständlich In-Besitz-zu-Bringendes erachtet wurde, zugleich aber etwas Gewolltes darstellt, von dem man nicht wusste, dass man es wollte, weshalb das Geschenk auch von keinem Gefühl der Aufnötigung begleitet wird. Sodann zeichnet sich die Dankbarkeit dadurch aus, dass das Geschenkte auch einen bestimmten Adressaten hat, der das Geschenk für sich annimmt (und nicht abweist) und sich als der Beschenkte bewusst wird. Sich als Beschenkter wahrzunehmen, der etwas geschenkt bekommt (empfängt), das aus dem Lebenshorizont nicht selbstverständlich erschien und deshalb durch das

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Geschenk in unerwartetem Maße reicher wird, qualifiziert die Dankbarkeit als Reaktion auf eine das Individuum besser verstehende, ihm übergeordnete, zumindest außerhalb seiner selbst liegende Macht. Indem Climacus Gott als schenkende Macht qualifiziert, dessen Geschenk vom Beschenkten angenommen wird und ihn reicher macht, liegt in der Dankbarkeit die Demut, dass das anzunehmende Geschenk etwas Nicht-Selbstverständliches ist, von dem die eigene Person im Ganzen auf das zukünftige Leben hin geprägt ist, indem sich das eigene Leben nicht mehr unter der Bedingung der Abwesenheit des Geschenks vorgestellt werden kann. Climacus bezeichnet das Geschenk einfach als „das Gute“. Jedoch lassen sich Climacusʼ Ausführungen in der Unwissenschaftlichen Nachschrift bezüglich dieses Guten mehrfach deuten. Zum einen kann das Gute als ewige Seligkeit betrachtet werden, wie Climacus dieselbe stellenweise im Paragraph 1 des vierte Kapitels, Sectio II, A der Unwissenschaftlichen Nachschrift bezeichnet. Zum Zweiten könnte das Geschenk das gottgegebene Selbstsein im Sinne einer durch Glauben geprägten, religiösen Lebensgestaltung gemeint sein; damit zusammenhängend zugleich aber auch das als Existenz aufgefasste Leben selbst. Nicht umsonst schreibt Climacus: „Existieren … ist … eine Vollkommenheit im Verhältnis dazu, überhaupt nicht zu sein.“ (SKS 7, 301/ DUN, 493) Indem das bewusst gestaltete Leben (Existenz) von Climacus als Vollkommenheit betrachtet wird, fasst er den Gedanken in den Blick, dass das Leben dann das Gute ist, wenn es im nicht negierbaren Zusammenhang zur Ewigkeit gesehen wird, wenn also dem Leben Gott als Grund (Erbauung) unterliegend betrachtet wird, wodurch das Geschenk Gottes Gott selbst ist, der im Glauben angenommen und als existenzielle Metapher der Ganzheit lebensbestimmend in den Blick rückt, als die sinnhafte und sinnstiftende Sublimierung des zu lebenden Lebens selbst. Konkret heißt das, dass im Glauben die Möglichkeit, überhaupt ein Leben leben zu können, in Dankbarkeit angenommen wird und dabei das Leben akzeptiert wird, wider aller ontologischer Kontingenz der „Geworfenheit“ und Unfreiwilligkeit des eigenen, unbegründbaren Am-LebenSeins (vgl. beispielsweise den von Constantin Constantius geschriebenen „Brief vom 11. Oktober“ in der Wiederholung). Das Leben wird als das geschenkte Gute betrachtet, im Glauben daran, dass es nicht sinnlos ist. Rückkehr in das Leben und Annahme desselben als solches sind die Folge.Vor allem aber bedeutet es, ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was schon da ist, was man schon hat, aber dessen Wert nicht erkannt wurde. So ist das „von Gott geschenkte Gute“ nichts anderes als der veränderte Blick des Individuums auf das Selbstverständliche, das nun als das Nicht-Selbstverständliche wahrgenommen wird. Dies geschieht nicht nur unter der Bedingung, dass ein Sich-Öffnen und Bereitsein für das Unverfügbare praktiziert wird, durch das die eigene Abhängigkeit anerkannt wird, sondern auch mit der Folge, dass darin die „Ahnung der inneren Unendlichkeit eines Verhältnisses zu Bewusstsein [gebracht wird], das durch keine endliche Bestätigung vollkommen erschöpft oder verwirklicht werden kann.“ (Georg Simmel, Dankbarkeit. Ein soziologischer Versuch, vgl.: http:// socio.ch/sim/verschiedenes/1907/dankbarkeit.html) Die höchste Dankbarkeit dafür, im Leben selbst das unendliche Geschenk zu erblicken, ist die Verbundenheit (die leidenschaftliche Innerlichkeit) zu Gott – als maximaler Versuch, sich gegen die Nicht-Erwiderbarkeit dieses Geschenks zu stemmen (selbstverständlich ohne dies als eigenen Verdienst zu werten, was gerade keine Dankbarkeit wäre).

2.3 Religiöse Innerlichkeit

373

Weil die religiöse Liebe dabei aber von der Prämisse ausgeht, dass Gott unverfügbar ist, folgt praktisch, dass die religiöse Liebe eine extrem aufzehrende Liebe ist, indem sie von der eigenen, permanenten Konzentration auf den Gegenstand der Liebe abhängt. Denn gerade im Aspekt der Verbundenheit liegt der Gedanke, dass alle menschliche Liebe, selbst in ihrer höchsten Intensität, gegenüber der unendlichen Liebe Gottes defizitär ist. Deshalb muss mit ständiger Arbeit, einer unablässigen „Anstrengung“ (s.o.) permanenter Hinwendung, Gott gegenübergetreten werden.¹¹⁹¹ Worauf solches, gegen alle Gewöhnung angehendes Erarbeiten hinaus will, ist ein Zustand ekstatischer Gegenwärtigkeit (die existenziell zentrale Zeitkategorie¹¹⁹²), weil in dieser die Bedingung der Möglichkeit des Ergriffenwerdens liegt (was die Erbauung durch den Augenblick beschreibt). Denn in der völligen Erschöpfung lässt das Individuum in dem Maße von sich ab, dass die höchste Offenheit gegenüber dem Entgegenkommen Gottes gewährleistet ist.¹¹⁹³ Obwohl die demütige Liebe gerade keine unmittelbare und zwischen Gegensätzen vermittelnde ist (vgl. die ersten beiden Sätzen des abgesetzten Zitats), ist sie doch Ausdruck der Annäherung im absoluten Unterschied.¹¹⁹⁴ Auf der Grundlage, dass die Liebe dann durch das Begehren der Leidenschaft eine Beziehung zu dem schafft, was nicht da ist,¹¹⁹⁵ sublimieren sich in der religiösen Liebe systematisch die Entzogenheitsdialektik, Negationsdialektik und Selbstvernichtung: also eine De-Zentrierung des Selbst, Annäherung und Entzogenheit, Verbundenheit und Distanz.¹¹⁹⁶

Milde Während mit der demütigen Liebe die im religiösen Kontext zu erwartende Liebe zu Gott an- und ausgeführt wird, spricht Climacus noch von einer zweiten, weltzugewandten Form der Liebe. In einer Fußnote heißt es:

 In Anlehnung an Gerichtsrat Wilhelm behandelt auch Climacus die Ehe unter diesem Gesichtspunkt: vgl. SKS 7, 166 ff. / DUN, 318 ff.  Vgl. Kapitel 2.2.2.3.  In diesem Sinne notiert Roland Barthes: „Sich verausgaben, um ein undurchdringliches Objekt werben – das ist reine Religion.“ (Ders., Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 219)  Climacus bestimmt aus der negationsdialektischen Prämisse heraus auch die Anbetung als reale Form der Demut: „Anbetung [Tilbedelse] ist das Maximum für das Gottes-Verhältnis eines Menschen, und dadurch für seine Ähnlichkeit mit Gott, da die Qualitäten absolut verschieden sind.“ (SKS 7, 375/ DUN, 589)  In diesem Sinne steht die Demut durchaus in einem Verhältnis zum Platonʼschen eros. Vgl. zu diesem: Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 146.  Vgl. dazu auch: SKS 4, 252 / DPB, 60 f.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Eine eigentlich religiöse Individualität ist andern gegenüber immer sehr milde …, nur gegen sich selbst ist sie kalt und streng wie ein Großinquisitor. Sie ist im Verhältnis zu anderen, wie ein wohlwollender alter Mensch gegen einen jüngeren zu sein pflegt; nur im Verhältnis zu sich selbst ist sie alt und unbestechlich.¹¹⁹⁷

Climacus kontrastiert hier die Milde des religiösen Individuums mit der Haltung der Strenge. Letztere ist die beurteilende Stellungnahme des Individuums zum eigenen Handeln und gleichfalls die Gewissenhaftigkeit, mit der gehandelt wird. Sie sublimiert die Innerlichkeit in ihrem Ernst der Leidenschaft: dem selbst zu verantwortenden Anspruch, sich im Selbst- und Gott-Verhältnis – und auch der geradezu unbedingten, nicht-expressiven Haltung der Verborgenheit – zu halten. Das schließt selbstverständlich die Einübung und Wahrung sämtlicher an das Selbst-Verhältnis vor Gott geknüpfter, subjektiver Phänomene – wie Empfangenwollen, Annehmen (etc.) – ein. Während die Strenge auf das Individuum selbst gerichtet ist, stellt die Milde hingegen die Zuwendung zum anderen Individuum dar. Mit ihr wird die der Innerlichkeit innewohnende Ego-Zentrizität durchbrochen (worin Milde und Demut strukturell korrelieren). Milde ist Dezentrierung, um die Begegnung mit dem Anderen zu gewährleisten. Die dabei praktizierte Liebe den Mitmenschen gegenüber ist keine Liebe der höchsten Intensität (wie sie gegenüber Gott praktiziert wird), sondern eine Liebe des Verstehens und Verständnisses. Dem Anderen wird auf „gleicher Höhe“ und mit gleicher Sprache begegnet.¹¹⁹⁸ Es geht um die NichtGleichgültigkeit dem Anderen gegenüber.¹¹⁹⁹

 SKS 7, 354 (Anm.) / DUN, 561 (Anm.).  Dies lässt sich durch die „Person“ Climacus stützen. In seiner existenziellen Haltung als Humorist weiß er um die Eigenschaften des religiösen Existierens, weiß um das Leiden als grundlegende Eigenschaft des Menschen, selbst bei denjenigen, die sich nicht ihres Leidens bewusst sind. Climacus begegnet den Menschen mit Mit-Leid. Deswegen predigt er nicht rechthaberisch von oben herab über das religiöse Existieren, sondern gibt das Angebot zur Aneignung. Er begegnet ihnen auf „gleicher Höhe“, indem er durch seine Theoretisierung in einer universellen Sprache spricht, in der sich jeder die von ihm gegebene Hilfe annehmen kann. Das darin liegende Verständnis für die conditio humana ist die durch Climacus praktizierte „Milde“.  Eine Philosophie der Nicht-Gleichgültigkeit, für die Kierkegaards Denken sicher als ein Wegbereiter gesehen werden kann und in dem das Individuum und Subjekt nicht durch das Ethisch-Normative nivelliert wird, sondern bestehen bleibt und dadurch gerade zur Verantwortung gedrängt wird, bietet bekanntermaßen Emmanuel Lévinas. Ich verweise für den vorliegenden Zusammenhang lediglich auf den kurzen Abschnitt „4. Die Zwischenmenschliche Ordnung“ in dem Aufsatz „Das sinnlose Leiden“, in ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. Aus dem Französischen von Frank Miething, München und Wien 1995, S. 117– 131, besonders S. 128 f.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

375

Ein wesentliches Merkmal der weltzugewandten Milde ist dann auch die Sachlichkeit, die aus einem engen Verhältnis zwischen Strenge und Milde entspringt. Wenn das Individuum die Strenge sich selbst gegenüber praktiziert, schließt dies auch das Beurteilen der eigenen Person ein, mit der das Individuum die eigene Imperfektion und Fehlbarkeit vergegenwärtigt.¹²⁰⁰ Und indem es dies aus religiöser Perspektive vor Gott als Grund des Menschen überhaupt entdeckt (Erbauung), weiß es um die Fehlbarkeit eines jeden Menschen. Diese aus der Strenge entstehende Sachlichkeit im Blick auf den Menschen als solchen wird zur Bedingung der Möglichkeit der Milde. Das Durchdrungensein von Strenge wird in einen Existenzumgang der Milde transformiert, in dem der Andere als der Fehlbare anerkannt wird. Daraus folgen im Wesentlichen drei intersubjektivitätspraktische Eigenschaften der Milde. Zum einen wird dem Anderen mit Urteilsenthaltung begegnet (was das Ergebnis durch Erbauung darstellt). Zum anderen wird von jeder Schuldzuweisung gegenüber anderen Menschen für die eigenen Fehler abgelassen (was Climacus anhand des Schweigens deutlich macht).¹²⁰¹ Schließlich wird der Andere durch die Anerkennung (seiner Fehlbarkeit) als der angenommen, der er ist und als selbstständiges Individuum gesehen.¹²⁰² Das religiöse Individuum legt in seiner Praxis der Milde den Fokus nicht darauf, die Welt oder andere Menschen verändern, kontrollieren oder beeinflussen zu wollen. Vielmehr begegnet es dem Anderen mit wohlwollender Nüchternheit, mit Verständnis, Mäßigung und Achtung.¹²⁰³ Dabei bleibt es in seinem Verständnis für den anderen dennoch sachlich,

 Vgl. Kapitel 2.3.3.1.1.  Vgl. Kapitel 2.3.3.4.1.  Die Milde lässt sich in ihren intersubjektiven Eigenschaften auch erfassen und begründen, wenn eine weitere Stelle der Unwissenschaftlichen Nachschrift hinzugezogen wird: „Der eine Mensch kann einen anderen ethisch nicht richten [ikke ethisk dømme det andet], weil der eine Mensch den anderen Menschen nur als Möglichkeit verstehen kann.Wenn jemand sich also damit befasst, einen anderen richten zu wollen, so ist dies der Ausdruck seiner Ohnmacht [Afmagt], so dass er sich bloß selbst richtet.“ (SKS 7, 294/ DUN, 485 (Hervorhebung d.Vf.)) Anerkennung des anderen als anderen, Unverfügbarkeit des anderen und Urteilsenthaltung aus Selbstprojektion werden hier zusammengeführt. Diese entscheidende, von Climacus für das ethische Existieren ausgesprochene Stelle entspricht systematisch der religiösen „Milde“, wobei eine Verschiebung in der Begründung des Umgangs mit anderen Menschen vorliegt.Während beim ethischen Existieren wesentlich die Unverfügbarkeit (des Anderen) als Ursache im Vordergrund steht (was nicht bedeutet, dass dies nicht auch für das Religiöse gilt), steht beim religiösen Existieren das Bewusstsein der (eigenen) Fehlbarkeit im Vordergrund.  Diese für christliche Philosophie alte Motivik, zeigt sich u. a. bei Augustinus, bei dem die letzte Konsequenz allen innerlichen Handelns in der Begegnung mit Menschen liegt. Dazu ausführlich: die Einleitung von Norbert Fischer in: Augustinus, Suche nach dem wahren Leben (Confessiones X / Bekenntnisse 10), S. LXIV–LXVII.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

d. h. es begegnet dem anderen Individuum in der Weise, dass dieses für den Umgang mit seiner Fehlbarkeit auch selbst Verantwortung übernehmen kann. Eine wichtige Ergänzung zum Verständnis der Milde ergibt sich dann, wenn man sich die „Friedhof-Szene“ in Erinnerung ruft.¹²⁰⁴ Denn wenn es in der oben zitierte Fußnote zur Milde heißt – „[D]ie eigentlich religiöse Individualität … ist im Verhältnis zu anderen, wie ein wohlwollender alter Mensch gegen einen jüngeren zu sein pflegt; nur im Verhältnis zu sich selbst ist sie alt und unbestechlich.“¹²⁰⁵ – so kommentiert dies auch den Großvater des Knaben in der „Friedhof-Szene“, der Milde praktiziert, indem er einerseits Verständnis für die existenzielle Krisensituation des Knaben aufbringt und diesem andererseits den Glauben als Lösungsangebot unterbreitet. Die Milde kann dabei genauer als ein mäeutisches Begegnen zur Aneignung von Innerlichkeit und deren Strenge bezeichnet werden: als Hilfe zur Freilegung eigener Liebe und Verantwortbarkeit (sich in das Verhältnis zu Gott zu begeben und sich darin zu halten).¹²⁰⁶ Es wird für den anderen nach Lösungen gesucht – zum Zweck der Selbstständigkeit und (gegen-autoritativen) Ent-Bindung vom Helfenden.¹²⁰⁷ Und eben weil dies in der Anteilnahme gegenüber dem anderen und somit in einem humanitären Interesse geschieht, wird die Welt gerade nicht als das Unrelevante ausgegrenzt, sondern als Ort verstanden, in dem sich Religiosität zu erkennen geben muss.

 Vgl. Kapitel 2.1.3.4.  SKS 7, 354 (Anm.) / DUN, 561 (Anm.) (Hervorhebung d.Vf.).  Damit wird auch klar, dass die von Climacus in der „Friedhof-Szene“ präsentierte Innerlichkeit der romantischen Naturverklärung durch die Szene selbst ironisiert und anhand des „Großvaters“ nicht nur als „falsche Unmittelbarkeit“ herausgestellt wird, sondern als eine die ethische Dimension wahrer Innerlichkeit aussparende Vorform derselben charakterisiert ist.  Denn diese Ent-Bindung ist es, worum es bei aller existenziellen Mäeutik geht: dass „der Lernende sich das Gelehrte durch sich selbst aneignet, … er sich in sich selbst kehrt, [denn] das ist gerade die Innerlichkeit.“ (SKS 7, 220/ DUN, 390)

2.3 Religiöse Innerlichkeit

377

2.3.3.4.3. Doppel-Bewegung „[D]ie Aufgabe ist, zu erklären, wie meine religiöse Existenz zu meiner äußerlichen Existenz in ein Verhältnis kommt und sich in ihr ausdrückt.“¹²⁰⁸ „Inwardness is striving to passionately ground oneʼs external actions within an inner relation to God.“¹²⁰⁹

Während anhand der Verborgenheit und deren existenzieller Erscheinungsweise, dem Humor, die systematische Präferierung der Bewusstseinshandlung gegenüber der Handlung in der Welt herausgestellt wurde, zeigt sich anhand der Milde, dass die Welt nun gerade der Raum und das Telos der Handlung ist. Dies darf nicht als nicht auflösbare dialektische Spannung, sondern muss als praktische Verflechtung des religiösen Existierens begriffen werden. Aus der religiösen Fokussierung des Innen, der Zuwendung zu sich selbst und Abwendung von der Welt, geht eine Zuwendung zur Welt hervor.¹²¹⁰ Die konkrete Praxis besteht darin, zuerst Abstand von sich zu nehmen¹²¹¹ – was nichts weniger bedeutet als die Selbstvernichtung (vor Gott) –, um dann neu und mit geschärftem Blick auf die Welt zuzugehen.¹²¹² Wirkliche Innerlichkeit bleibt gerade nicht im bloßen Intérieur privater Befindlichkeit stecken, sondern drückt in das Außen durch.

 SKS 4, 407/DBA, 568.  Jothen, Kierkegaard, Aesthetics and Selfhood, S: 154. Peder Jothen gehört zu den wenigen, die die Innerlichkeit systematisch in ein aktives Verhältnis zum Außen, der Welt, dem äußeren Handeln stellen (vgl. auch ebd., S. 118) – auch wenn Jothen im selben Moment die traditionelle Deutung der Innerlichkeit beibehält und sie als nicht-expressivierbar bestimmt: vgl. ebd., u. a. S. 118, 154, 163.  Daran zeigt sich, dass die Innerlichkeit von Kierkegaard schon vor seinem Spätwerk nicht allein als ein Verschließen ins Innere, wie Adorno noch attestierte, sondern als ein Nach-außenWenden konzipiert ist, was Kierkegaard ab 1848 dann konkret ausführt. Zur Innerlichkeitskonzeption im Spätwerk Kierkegaards, mit besonderer Betonung des Nach-außen-Wendens: Deuser, Dialektische Theologie, S. 136 – 145, besonders S. 141– 144.  Hierbei wird der Begriff des Loslassens von Bedeutung. Es geht in der innerlichen Existenzpraxis nicht darum, alles Weltliche loszulassen oder gar loslassen zu müssen, was an jeder Lebensgestaltung vorbeiginge, sondern es geht um das Loslassenkönnen, also um die Fähigkeit, sich von dem, was einem begegnet, distanzieren zu können. Und damit ist nichts anderes als die Dezentrierung des Individuums angesprochen.  Die Wegbewegung von sich selbst und der Welt, um dann auf sich und die Menschen zurückzukommen, ist – ausgehend von der Existenzkategorisierung in „Stadien“ – m. E. weder allein christlich, ethisch oder ethisch-religiös zu verstehen (auch wenn letztere Kategorisierung die für Climacusʼ Existenzbetrachtung grundlegendste ist). Es ist die allgemeine Bestimmung des Menschen bei Climacus, auf die alle wie auch immer differenzierte oder klassifizierte Existenzbetrachtung hinführt.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Diese Doppel-Bewegung macht Aufgabe und Bestimmung des innerlich-religiösen Personseins aus.¹²¹³ Und ihre innere Struktur ist die der Existenzdialektik.¹²¹⁴ Denn es wird über die Distanzierung vom Konkreten zum Abstrakten und von dort zurück zum Konkreten gelangt; von alltäglicher Weltverwobenheit zur

 Am prominentesten wird diese Doppel-Bewegung sicher von Michael Theunissen als das grundlegende Prinzip in Kierkegaards Denken herausgehoben: vgl. ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 346. Die eben herausgestellte Doppel-Bewegung, die aus einer Hinbewegung zum Ewigen und aus einer von dort her sich speisenden Rückbewegung in die Zeit besteht, ist auch die existenziell-religiöse Gedankenfigur bei Johannes de Silentio (Furcht und Zittern). Sie besitzt eine lange philosophische Tradition. In Platons Höhlengleichnis wird diese Bewegung zum Ewigen (aus der Höhle heraus) und die Rückkehr vom Ewigen in die Zeit (in die Höhle hinein) dargestellt. Strukturell gesehen besitzt hierbei zunächst der climacische Begriff der Umbildung Eigenschaften der platonischen παιδεία (Paideia), die als Bildung und Umbildung thematisiert werden (vgl.W. Janke, Plato. Antike Theologien des Staunens.Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 122 – 127). Die Umkehr und Umwendung (griech. Πɛριαγογɛ; vgl. Platon, Politeia, 521c) ist im Höhlengleichnis die Inversion als Hinkehr zur Idee, die zugleich eine Konversion von der Höhle als der erfahrbaren, sozialen Lebenswelt darstellt (was bei Platon mit dem Begriff epistrophé beschrieben wird; dazu: M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 264 f.). Bei Climacus wird diese Bewegung strukturell mit dem Begriff der Resignation beschrieben. Die Rückkehr des Menschen in die Höhle ist bei Platon das Zurückkehren in die soziale Welt, um den Menschen mit der gewonnenen Einsicht in das Gute durch das Philosophieren selbst das Gute zu lehren (dazu: H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, S. 164 f.). Strukturell ist diese Zuwendung zu den Menschen bei Climacus die Milde. Sowohl das Philosophieren bei Platon als auch die Milde bei Climacus sind dann auch durch die Eigenschaft gekennzeichnet, dass das Individuum das Absolute (das absolute Telos) immer bei sich trägt. Bei beiden Philosophen geht es um eine Existenzialisierung des Ewigen, eine Nachahmung und Verähnlichung mit dem Ewigen, vor deren Hintergrund in der Welt gehandelt wird (zu Platon: S. Schenke, „Logik des Rückstiegs“ in: PJdG 1997, S. 316 – 335, hier S. 331 ff.). Philosophieren (Platon) und Milde (Climacus) sind ein DarinExistieren im Verhältnis zum Ewigen und Beständigen (zu Platon: vgl. Martin Heideggers Ausführungen zur Paideia in: ders., Platons Lehre von der Wahrheit, 4. durchgesehene Aufl., Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1997, S. 24 und 31; zudem deutet Heidegger das Verhältnis von Platon und Kierkegaard in seiner Interpretation des Höhlengleichnisses an: vgl. ders., Sein und Wahrheit, Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919 – 1944. Bd. 36/37, hg. von Hartmut Tietjen, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2001, S. 147). Für Climacus lässt sich davon ausgehend festhalten: Die Milde ist als Ab- und Rückkehr des Individuums in die Zeit die konkrete Praxis umgebildeter Existenz, in der die Innerlichkeit nach Außen abstrahlt. Gleichfalls ließe sich für beide Philosophen festhalten, dass es um folgende Existenzbewegung des Menschen geht: Einsicht erlangen, Veränderung der eigenen Person durch Einsicht, aus Veränderung heraus handeln. Denn sowohl bei Platon als auch bei Climacus sind tendenziell politische Prozesse angesprochen, wenn es um die Zuwendung zum Menschen geht, weil es bei beiden Denkern um die Praktizierung einer Mäeutik zur Einsicht geht, aus der philosophisches Existieren (Platon) und religiöses Existieren (Climacus) folgen.  Vgl. Kapitel 2.1.4.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

379

Selbstklarheit durch Gott und von dort her zurück zur alltäglichen Weltverwobenheit, die aber nun eine katalysierte ist. Denn dadurch, dass im Bewusstsein Gottes auf die Welt zurückgekommen wird, weil es existenziell darum geht, „das absolute τελος“, Gott, „immer bei sich zu haben“¹²¹⁵, erscheint die Welt unter transformiertem Blick, der das Schon-Sein als Anders- und Neusein desselben sieht.¹²¹⁶ Anders gesagt: Aus der Freilegung des Idealbezugs (durch Weltentsagung) folgt eine idealbezogene Praxis (Ethik). In schematischer Form:¹²¹⁷

Das aktiv geschehende und durch Religiosität neu forcierte Zurückkommen auf die das Individuum umgebende Lebenswirklichkeit impliziert zudem ein Verständnis von Innerlichkeit, das keine absolute Inkommensurabilität von Innen und Außen evoziert.Vielmehr ist die Innerlichkeit eben gerade das religiöse Existieren ¹²¹⁸ und damit genuin an Innen und Außen gebunden.¹²¹⁹ Sie vollzieht sich als Haltung im Innern des Individuums und zeigt sich im Außen – wie Climacus anhand der „Friedhof-Szene“ deutlich macht – ganz konkret in weltverwobenen und weltbezogenen Phänomenen. Während dann also die Innerlichkeit in Bezug auf die eigene Person durch den Humor¹²²⁰ und dessen Präferierung des Denkens gegenüber der Welt verborgen werden soll, liegt gleichfalls das religiöse Ziel der Innerlichkeit in Bezug auf andere Menschen im caritativen Sich-Zeigen des In-

 SKS 7, 376/ DUN, 591.  Will diese Transformation existenziell genauer charakterisiert werden, so ist es eine Transformation aus Dankbarkeit, deren Gehalt gerade in der Wandlung des Blicks auf das Selbstverständliche liegt, dem Dasein als solches, dem sich aus Dankbarkeit für dessen Gegebensein zugewandt wird (vgl. die Erörterung der Dankbarkeit in der Anmerkung 1190).  Die Innerlichkeit ist hierbei das existenzsystematische Zwischenglied von Religiosität und Ethik und gleichfalls der sie umfassende Korpus, stellt also innerhalb des Schemas sowohl die Bewegungspfeile als auch den umgrenzenden Rahmen dar.  Vgl. Kapitel 2.1.1.  Vgl. Kapitel 2.2.2.1.  Vgl. Kapitel 2.3.3.4.1.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

nerlichseins.¹²²¹ Sofern Verborgenheit und Sich-Zeigen als systematische Spannung des Sich-Ausdrückens aufgefasst werden, kann die durch Existenz dialektisch realisierte Folge nur die sein, dass die Verborgenheit durchschnitten wird, ohne dass die eigene Person preisgegeben wird. Denn gerade die Milde ist ja derjenige Modus von Religiosität, in dem das religiöse Individuum eine Stellungnahme und Selbstdarstellung ¹²²² wagt und damit einerseits – lebenspraktisch – seine Integrität unter Beweis stellt und gleichfalls – systematisch – die traditionelle Trennung von (täuschender) Erscheinung und (verborgener) Wahrheit durchbricht. Dennoch bleibt Climacus, trotz dieser anti-traditionellen Wendung (die Wahrheit wird in die Erscheinung hineinverlegt, ohne aber in der Erscheinung aufzugehen¹²²³), in der Tradition verhaftet. Die „Verborgenheit“ bleibt (immer noch) das Wesentliche. So gilt grundlegend, dass die Erscheinung im Dienst der Wahrheit, die Liebe im Dienst des Denkens steht – und nicht umgekehrt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass aus systematischer Perspektive das religiöse Selbst-Verhältnis als die anthropologische Bedingung für die ethische Zuwendung

 Wird im Rahmen der von Climacus selbst so stark lancierten Verborgenheit verblieben, konzentriert sich alle Ethik der Innerlichkeit auf eine Weltabwendung: „[W]as sind jene Menschen im Vergleich mit dem Gott, was die Erquickung ihres ganzen geschäftigen Lärmens im Vergleich mit der Lieblichkeit jener einsamen Quelle, die in jedem Menschen ist, jener Quelle, in der Gott wohnt, jener Quelle in der tiefen Stille, wenn alles schweigt?“ (SKS 7, 168 f. / DUN, 322) In diesem Sinn kann mit Volker Gerhardt gesagt werden: Kierkegaard „setzt … gegen das übermächtige gesellschaftliche Außen die ‚Innerlichkeit‘ seiner ausdrücklich so genannten ‚Existenz‘, die ihren Sinn in der Verweigerung findet. Im Widerstand gegen das Oberflächliche und Gewöhnliche sucht sie ihren persönlichen Zugang zum Göttlichen …“ (Ders., „Alle Philosophie ist Existenzphilosophie“, in Existenzphilosophie und Ethik, hg. von Hans Feger und Manuela Hackel, Berlin und Boston 2014, S. 1– 11, hier S. 9) So sehr dies in Bezug auf die traditionelle Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wahrheit, Welt und Gott zutrifft, so sehr wird jedoch anhand der Existenzdialektik klar, dass ein systematisches Insistieren auf den Aspekt der Verborgenheit zu einseitig für das climacische Denken ist. Nicht in der Abwendung, sondern in der Zuwendung zur Welt liegt der Sinn der Innerlichkeit.  Der Begriff Selbstdarstellung wird hier nicht im Sinne des Sich-zur-Geltung-Bringens verstanden, sondern im Sinne des Erscheinens des sich ansonsten gar nicht zeigenden, weil verborgenen Selbst. (Diese (doppelte) Konnotation ist von Hannah Arendt entlehnt: vgl. dies., Vom Leben des Geistes, S. 39.) Dies betont Kierkegaard selbst, wenn er in Eine literarische Anzeige notiert, dass die verborgene Innerlichkeit jene Sammlung der Person ist, durch die das Wesentliche offenbar wird. (Ich paraphrasiere die Bemerkung zur Innerlichkeit im Absatz zur „Oberflächlichkeit“: SKS 8, 97/ LA, 109)  Emmanuel Lévinas hat die Kategorie der „Wahrheit“ bei Kierkegaard deshalb auch treffend mit den Worten beschrieben: „[S]ie ist da, als wäre sie nicht da.“ (Ders., „Zur Lebendigkeit Kierkegaards“, in ders., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, hg. und aus dem Französischen von Frank Miething, München und Wien 1991, S. 74– 78, hier S. 77)

2.3 Religiöse Innerlichkeit

381

zu anderen Menschen fungiert.¹²²⁴ Denn mit den Einsichten in das eigene Menschsein (vor Gott) wird das Menschsein als solches erkannt (Erbauung), wodurch die eigenen Defizitstrukturen als Maßstab für den Umgang mit Mitmenschen gelten. Das Selbst-Verhältnis vor Gott dient also genauer dazu, anderen Menschen aufrichtig und mit dem wirklichen Eingeständnis eigener Menschlichkeit (also ohne jede Überhöhung und Anmaßung¹²²⁵) zu begegnen.¹²²⁶ Indem so aus dem religiösen Selbstsein ein das äußere Verhalten bestimmende Weltverhältnis hervorgeht, wird, wie sich schon anhand der „SamariterSzene“ gezeigt hat,¹²²⁷ deutlich, dass existenzielle Handlung über den Selbstbezug auch Weltbezug erzeugt. Und konkret heißt das: Es geht mit der Innerlichkeit immer auch um soziale Erfahrung und Verflechtung. Die Milde ist eben nicht nur Signum für die Innerlichkeit als weltbezogene Praxis, sondern auch für ein den anderen Menschen gerade nicht ausgrenzendes, sondern einbeziehendes Verständnis von Lebenswirklichkeit. Dennoch bleibt das Selbst-Verhältnis vor Gott die strukturelle Bedingung der Ethik. Werden in Anbetracht der Doppel-Bewegung die beiden Formen existenzreligiöser Liebe angeschaut, so offenbart sich folgende Struktur: Aus dem Sich-

 Wenn Climacus notiert, dass „das bescheidene Werk des Ethischen“ darin liegt, durch dasselbe „erbaut [und] damit offenbar für Gott und Menschen“ (SKS 7, 231 / DUN, 404) zu werden, so bedeutet dies in Anbetracht der zentralen, kurz davor gemachten Bemerkung – „Eigentlich ist es das Gottes-Verhältnis, das einen Menschen zum Menschen macht …“ (SKS 7, 222 / DUN, 393) –, dass die Innerlichkeit die Praxis ethischer Verantwortung gegenüber den anderen Menschen darstellt, unter der Voraussetzung eigener Menschwerdung (vor Gott). Daher bleibt in Climacusʼ Innerlichkeits-Philosophie folgende Aussage der Angelpunkt allen ethischen Verständnisses religiöser Existenzpraxis: „Hat[] man vergessen, was Religiöses-Existieren ist, so hat[] man vergessen, was Menschlich-Existieren ist.“ (SKS 7, 226/ DUN, 398) Denn damit ist nicht nur die individuationspragmatische Prämisse religiösen Existierens benannt, sondern eine Ethik, in der nicht nur das Begegnen, sondern auch der humanitäre Wille zur Menschlichkeit als oberstes Gebot des weltbezogenen Handelns fungiert.  Grundsätzlich kann hierbei gesagt werden, dass aus der Maßlosigkeit, mit der sich auf das Ewige und die eigene Person konzentriert wird, ein Maßhalten hervorgeht, sowohl im Sinne des Bewusstseins der eigenen Fehlbarkeit als auch des maßvollen Begegnens gegenüber den Mitmenschen.  In der Begegnung liegt die Nächstenliebe, die bei Kierkegaard als „sittliche Aufgabe“ eines nach außen gewendeten Handelns zu verstehen ist (Vergleiche die Gregor Malantschuk zitierende Fußnote in: Lincoln, Äußerung, S. 32 (Anm. 54)). – Für die climacische „Milde“ ist es wichtig zu sehen, dass deren Begegnungsaspekt darin besteht, dass sich das Individuum im Äußeren der leiblichen Handlung dem anderen Menschen zuwendet. Gleichfalls wird von Climacus mit der „Milde“ auch die Bewusstseinshaltung des Einbeziehens des Anderen in die eigene Handlung intendiert. Systematisch wird mit dem Begriff „Milde“ sowohl die Konkretion als auch die Intentionalität der äußeren Handlung betont.  Vgl. Kapitel 2.2.4.3.

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Öffnen für Gott (Demut) folgt ein Offensein für die Mitmenschen (Milde). Zuerst geht es dem Individuum um Gott, dann um sich und erst dann um den anderen Menschen. Und obwohl erst mit dem Ineinandergreifen der Gott-, Selbst- und Weltzuwendung der existenz-anthropologische Prozess der Mensch- und Personwerdung vollständig ist, bleibt letztlich die strukturelle Ego-Zentrizität allen Existierens bestehen. Das innerlich-religiöse Individuum ist bei Climacus das einzelne, jedoch nicht unter anderen Menschen verlorene, sondern in sich ruhende (und dabei immer auch das zu sich getriebene) Individuum. So muss entschieden festgehalten werden, dass die Zuwendung zu den Mitmenschen ohne ein Sich-Binden an den Gegenüber geschieht. Die durch Anstrengung und Bereitschaft zur eigenen Wandlung erzeugte (also durch Innerlichkeit erreichte) Selbstständigkeit des religiösen Individuums gibt ihm eine innewohnende Stabilität seiner Person, die auf Distanz hält, so dass das Nachaußen-Wenden zwar das Praktizieren einer neuen Unmittelbarkeit ist, diese neue Unmittelbarkeit sich aber nicht im Begegnenden zu verlieren vermag. Die ethisch-strukturelle Konsequenz ist, dass das Verhältnis zu Mitmenschen ein einseitiges und kein wechselseitiges ist. Es besteht allein im Zuwenden und nicht im Entgegennehmen. Strukturell wird das religiöse Individuum von Climacus demnach lediglich als Ausgangspunkt menschlicher Beziehung gesehen – nicht als Endpunkt.¹²²⁸

 Dass damit nicht das letzte Wort über die praktisch-ethische Philosophie Kierkegaards (nicht allein Climacusʼ) gesprochen ist, zeigt sich, wenn man folgenden Sachverhalt anschaut: Die Doppel-Bewegung des religiös-innerlichen Individuums (bei Climacus) kann auch damit beschrieben werden, dass aus dem Bestimmtwerden durch Gott (Empfangen) eine Haltung des SichZuwendens (Gebens) entsteht. Das Geben steht hierbei in einer Abhängigkeit vom Empfangen, ist diesem somit untergeordnet. Beide Eigenschaften stellen für Kierkegaard die Eigenschaften der Liebe dar: „Es ist besser zu geben als zu nehmen, aber es kann zuweilen demütiger sein, annehmen zu wollen, als geben zu wollen. Es mag vielleicht manchen geben, der bereit wäre, aus Liebe alles hinzugeben, aber nichts annehmen wollte.“ (SKS 18, 164, JJ:77/ DSKE 2, 168) Vor dem Hintergrund des climacischen Denkens heißt das: Das demütige Annehmen ist die religiöse Liebe zu Gott; die Liebe des Gebens die Liebe zu Menschen (Milde). Für Climacus bedeutet das: Aus der Liebe zu Gott entspringt die Milde zu Mitmenschen. Doch geht Kierkegaard an der gerade zitierten Journalnotiz über Climacus hinaus, indem er das demütige Annehmen nicht direkt mit Gott in Verbindung bringt, sondern in einer allgemeinen Betrachtung über die Liebe verbleiben lässt. So wird hier auch die Liebe zu Mitmenschen als eine gekennzeichnet, in der man dem anderen demütig begegnet und sich ihm gegenüber so verhält, dass auch er einem etwas zu geben vermag, das man annehmen kann. [Anm.: Es sei betont, dass dies auch für Climacus schon allein aus dessen mäeutischer Praxis heraus gegeben ist. Hier steht jedoch lediglich das sich aus dem Inhalt der Unwissenschaftlichen Nachschrift ergebende Verhältnis zwischen Sich-Zuwenden und religiösem Existieren zur Diskussion.] Während bei Climacus die Eigenschaft des Gebens in einer Abhängigkeit zur Eigenschaft des Empfangens steh – und das heißt, dass erst Gott und dann der

2.3 Religiöse Innerlichkeit

383

2.3.4 Versuch der Versöhnung Ein wesentlicher Gedanke zur religiösen Innerlichkeit wurde bisher ausgespart. Im Vorwort der Philosophischen Brocken schreibt Climacus zur Problematik des Todes: „Nur mein Leben habe ich, das ich jedesmal sofort aufs Spiel setze, wenn sich eine Schwierigkeit zeigt. Da geht das Tanzen leicht, denn der Gedanke an den Tod ist eine flinke Tänzerin, meine Tänzerin …“¹²²⁹ Durch das Bild des Tanzens wird eine permanente Bewegung des climacischen Denkens um, an den und mit dem Tod evoziert. Tritt der Tod in den Blick, besteht der existenziell zu realisierende Fokus darauf, dass das Leben genutzt werden muss: das Wagen wird zum bestimmenden Merkmal der Lebensgestaltung. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift konkretisiert Climacus dies.¹²³⁰ Die Betonung liegt dabei auf der Betrachtung der Ungewissheit des Todeszeitpunkts. Es gilt die Kontingenz des Ablebens vollständig zu verinnerlichen; den Tod zu subjektivieren; ihn in die eigene Lebensgestaltung zu integrieren¹²³¹ – um das Leben als Raum des Wagens zu internalisieren.

Mensch beachtet wird – so kennzeichnet sich die Liebe bei Kierkegaard als Gleichzeitigkeit des Gebens und Annehmens. Dadurch wird erstens betont, dass das Individuum auch von anderen Menschen lernen kann und sich nicht dem Wert einer unhintergehbaren Selbstständigkeit unterordnet (Climacus); wodurch zweitens eine Bereitschaft des konkreten Umgangs mit anderen Menschen impliziert ist und drittens ein Eingeständnis des Menschseins in Relation zu anderen Menschen stattfindet, d. h. sich selbst als soziales Wesen zu verstehen, das immer in Abhängigkeit zu anderen Menschen steht (was strukturell auch auf Climacus zutrifft: vgl. Kapitel 2.2). Bei Kierkegaard ist die Liebe zu Menschen – was anhand der Rede Anlässlich einer Trauung (Kapitel 3.2.3) genauer diskutiert wird – implizit als wechselseitige Beziehung betrachtet,während sie bei Climacus als einseitiges Sich-Zuwenden konzipiert wird. Die sich daraus ergebenden existenzphänomenologischen Konsequenzen für die Beschreibung des Menschen bei Kierkegaard (nicht Climacus) sind mannigfach. Zum Beispiel ist der Mensch dann nicht nur zum Mitleid fähig (Climacus), sondern vermag solches auch anzunehmen, wodurch ihm nicht nur die Fähigkeit des Trostes, sondern auch das Trostbedürfnis zugesprochen wird; der Mensch also als einer bestimmt wird, dem menschliche Nähe und Vertrautheit und Anteilnahme wichtig sind.  SKS 4, 217/ DPB, 16.  Vgl. SKS 7, 153 – 158/ DUN, 302– 308. Zum Tod bei Climacus (in der Unwissenschaftlichen Nachschrift): vgl. Z. Liu, Augenblick und Angst, S. 157 ff. Ebenfalls: Patrick Stokes, „Death“ in The Oxford Handbook of Kierkegaard, ed. by John Lippitt and George Pattison, Oxford 2013, S. 365 – 382, hier S. 367– 371.  „Ist der Tod immer ungewiss, bin ich sterblich: so bedeutet das, dass diese Ungewissheit unmöglich im allgemeinen verstanden werden kann, falls ich nicht auch so ein Mensch im allgemeinen bin. Aber das bin ich ja nicht …“ (SKS 7, 154/ DUN, 303) „[D]eshalb wird es für mich immer wichtiger, den Tod in jedem Augenblick meines Lebens hineinzudenken, denn da seine Ungewissheit in jedem Augenblick da ist, lässt sich diese Ungewissheit nur dadurch überwinden, dass ich sie jeden Augenblick überwinde.“ (SKS 7, 154 f. / DUN, 304) Mit der „Überwindung“ des

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

Die existenzielle Konsequenz ist, dass das Individuum durch das Todesbewusstsein auf sich selbst im Jetzt und Hier aufmerksam wird, jegliche distanzierte Haltung auflöst und sich konkret wird. Zugleich weist das Ausgesetztsein an die Kontingenz des Todes auf die Fragilität des Lebens. Denn indem das Leben als eines wahrgenommen wird, das sich ständig an der Grenze der Auslöschung bewegt, wird sich das Individuum der Vorläufigkeit und Ungewissheit des Daseins und mithin seiner Verwundbarkeit gewahr. Das Bewusstsein der Auslöschung treibt dann wesentlich dazu an, das Leben als jetzt zu lebendes Leben in den Blick zu nehmen. Und dies verbindet das TodesBewusstsein existenziell mit dem Ewigkeits-Bewusstsein. Denn in Bezug auf die ewige Seligkeit gilt es, in diesem nur einmal vorhandenen Leben etwas für diese zu tun.¹²³² So gilt es für das religiös existierende Individuum, sowohl die Endlichkeit (Tod) als auch die Unendlichkeit (Seligkeit) zu fixieren (was besonders in „Friedhof-Szene“ zum Ausdruck kommt), um von beiden Enden des Daseins her auf das Leben selbst zurückzukommen.¹²³³ Indem das Dasein von seinen Grenzen, Tod und Gott, und dadurch von der absoluten Verneinung und der absoluten Bejahung des Lebens (nämlich vom ewigen Leben) her begriffen wird, verdichtet sich durch deren Fixierung die Gesamtsicht auf das Dasein zu einem gebündelten Blick auf das Leben selbst. Das Individuum überwindet dabei die starre Grenze zwischen Leben und Jenseits, indem das Dasein durch den Glauben in die Ewigkeit erweitert wird, ohne den Tod zu negieren. Das Zurückkommen auf das Leben ist also begleitet von der Einsicht

Todes ist keine Kompensation, sondern eine vollständige Integration in den Lebensvollzug gemeint. Als Teil des Lebens prägt das Bewusstsein vom Tod das Leben von innen heraus. Er steht nicht mehr als (biologistisch-ontologischer) Gegensatz zum Leben.  Was dabei kaum erwähnt werden muss: Climacus geht von keiner Ewigkeit aus, in der systematisch eine irdische Wiedergeburtsvorstellung integriert ist. Es gibt also nur dieses eine Leben.  Dieser doppelte Blick auf die Grenzen des Daseins darf dabei nicht als (psychologische) Genese der Religiosität missverstanden werden. Zwar wird die Unendlichkeit als existenziell relevant zu Bewusstsein gebracht, wenn die Endlichkeit radikal bewusst ist, dennoch entsteht die Möglichkeit der Unsterblichkeit nicht durch das Todesbewusstsein. Vielmehr besteht zwischen beiden Blickrichtungen ein funktionaler Zusammenhang: das Todesbewusstsein lässt auf den Fakt des Existierens fokussieren; das Ewigkeitsbewusstsein gibt die Art und Weise der Existenzgestaltung vor. Die existenziell-religiöse Folge besteht darin, dass durch das von Tod und Ewigkeit her bewusst gelebte Leben in seiner Transzendierung, dem ewigen Leben, gewonnen werden kann. In diesem Sinne sind das Wagnis, die Innerlichkeit, der Glaube Prozesse, die das Leben in seiner Einmaligkeit wertschätzen.

2.3 Religiöse Innerlichkeit

385

in ein die Endlichkeit übersteigendes Mehr des Lebens.¹²³⁴ Und eben dieses Mehr ist Ausdruck des Bedürfnisses, das Leben in einen Sinnzusammenhang zu stellen, der sich nicht allein aus der Endlichkeit und der begegnenden Welt erschließt, sondern – traditioneller Metaphysik entsprechend – dem alles durchwaltenden Grund entspringt. Der grundlegende Gedanke dahinter ist, dass es Climacus um Versöhnung geht.¹²³⁵ Aus der Prämisse heraus, dass der Mensch als Inter-esse grundsätzlich ein entzweites Wesen ist und zwischen Denken und Sein, Endlichkeit und Unendlichkeit existiert, hat Climacus nicht nur die Versöhnung des Menschen mit Gott (dem Grund) im Blick, sondern über diese auch die Versöhnung des Individuums mit sich selbst, dem zu lebenden Leben und den es umgebenden Mitmenschen. Und die religiöse Innerlichkeit ist derjenige Prozess, diejenige Handlung, dasjenige Denken und die Leidenschaft, die – zumindest systematisch – all dies zu gewährleisten vermag. Strukturell ist sie die Wiederholung: die bewegungstheoretische Annäherung an Gott.¹²³⁶ Existenziell-religiös ist sie der Glaube: die durch Hoffnung, Vertrauen, Bescheidenheit, Liebe und Dankbarkeit gekennzeichnete, leidenschaftliche Durchdringung der Existenz mit dem Gottesbewusstsein, in dem die eigene Erlösung als auch das Erkanntwerden (von Gott) den Lebensvollzug tragen. Religions-anthropologisch ist sie das Leiden: die in allem (religiösen) Handeln liegende Einsicht in die Defizitstrukturen menschlichen Daseins (und die Akzeptanz derselben).¹²³⁷ Identitätstheoretisch ist sie das (im Werden begriffene) Selbstsein vor Gott: der aus der eigenen Unverfügbarkeit entspringende Prozess

 Das Mehr des Lebens ist metaphysisch verstanden; weder psychologisch, wie bei William James (ders., Die Vielfallt religiöser Erfahrung, besonders S. 491), noch nietzscheanisch, wie bei Georg Simmel (ders., „Lebensanschauung“, u. a. S. 229 f.).  Ich verstehe den Begriff Versöhnung hier nicht im von Kierkegaard selbst gebrauchten Zusammenhang der Sündenproblematik (vergleiche unter anderem die Einleitung des Begriffs Angst: SKS 4, 318/ DBA, 449), sondern als allgemein-menschliches Bedürfnis der Zuwendung, was die Fähigkeit zur Akzeptanz und zum Annehmen anderer ebenso einschließt wie die Bedingung aller Daseinsbejahung: das eigene Akzeptiert- und Angenommenwerden.  Diese apotheotische Bewegung drückt die negationsdialektische Versöhnung im Sinne einer gewollten Begegnung aus, die aber nicht durch Unmittelbarkeit, sondern durch das mittelbare Erkanntwerden von Gott bestimmt ist.  Denn das Entdecken und das damit verbundene Akzeptieren des Leidens in der Innerlichkeit entspringt dem entzogenheitsdialektischen Empfangenwollen: das Loslassen im Wollen des Unbedingten (Freiheit zur Passivität).

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2. Abschließende Nachschrift zu den Philosophischen Brocken

des Annehmens¹²³⁸ personalen Gegebenseins. Ethisch ist sie die Milde: die konkrete Zuwendung zum Leben der Mitmenschen. Die sich hierbei gegenseitig durchdringenden Verhältnisse des Individuums zur Ewigkeit, sich selbst und zur Welt kennzeichnen die Innerlichkeit als Praxis der Lebensverortung und des Lebensüberstiegs, der Aktivität und Passivität, des Bezogenseins und Bestimmtwerdens. Und gerade aus diesen Ambivalenzen heraus darf die Innerlichkeit nicht als Konkretion, sondern nur als der Versuch der Versöhnung begriffen werden.¹²³⁹ Denn die absolute Versöhnung bleibt gerade dadurch verwehrt, weil der Lebensumgang (und all das in ihm implizite Angewiesensein) von Ungewissheit und Kontingenz geprägt ist. Und dies schließt ein, dass die existenzdialektischen Erfahrungen¹²⁴⁰ von Verzweiflung, Schmerz, Leiden und Verletzlichkeit integraler Bestandteil innerlicher Lebensgestaltung bleiben – auch wenn das existenzielle Hauptmerkmal der Innerlichkeit das Annehmen der (diese Phänomene bedingenden) Ungewissheit darstellt. Die angestrebte, als gelungen empfundene und als nicht-dissonant verstandene Existenz der Geborgenheit, Liebe und Dankbarkeit kann somit nur eine für das ganze Leben bestehende „ideale Aufgabe“¹²⁴¹ sein, in der die „Idee als Maßstab“ und „als Regulativ“¹²⁴² des Handelns dient (wie es bei Constantin Constantius zur Innerlichkeit heißt).¹²⁴³ Und die konkrete Praxis versöhnender

 Denn identitätstheoretisch gipfelt die Innerlichkeit in der negationsdialektischen Erbauung: die durch Selbstvernichtung erreichbare Selbst-Versöhnung in Form der Geborgenheit in Epoché und Epiphanie (Deindividuierung als Individuierung).  Die Praxis der Versöhnung ist also nicht im Sinne Hegels zu verstehen, d. h. als eine definitiv vollendbare Synthesebewegung. Zu Hegel: Reinhard Loock, „Versöhnung II“, in HWPh, Bd. 11, S. 898 – 904, hier S. 900.  Zum Verhältnis von Innerlichkeit und Erfahrung sollte im religiösen Kontext angemerkt werden, dass eine Erfahrung nur dann eine der Innerlichkeit zugehörige ist, wenn in ihr ein das menschliche Dasein bestimmendes Grundfaktum zum Ausdruck kommt. Besonders durch die die Innerlichkeit prägenden Phänomene des Leidens und der Liebe wird dies deutlich. In ihnen kommen sowohl die Verletzlichkeit als auch die Hingabe, das Selbstbezogensein und das Auf-denanderen-Bezogensein umfänglich und als grundlegende Bestimmungen von menschlicher Existenz zum Ausdruck. Daran wird deutlich, dass die Innerlichkeit nicht nur einen durch Reflexion geprägten Phänomenbestand und eine durch Phänomene zum Ausdruck kommende Reflexion beschreibt, sondern gleichfalls jenseits dieser Kategorisierungen liegt. Innerlichkeit ist aus phänomenologischer Perspektive im Wesentlichen eine die conditio humana beschreibende, anthropologische Bestimmung; jedoch ist sie gleichfalls nicht darauf zu reduzieren.  SKS 7, 392 / DUN, 612.  SKS 4, 85/ DW, 429.  Gerade unter dem Aspekt der Dankbarkeit, mit dem es um die Wertschätzung der NichtSelbstverständlichkeit des Lebens geht (vgl. Kapitel 2.3.3.4.2), wird deutlich, dass es mit dem Topos der Innerlichkeit und ihren implizierten Verhältnissen zu Tod, Ewigkeit, Welt, Menschen und

2.3 Religiöse Innerlichkeit

387

Innerlichkeit liegt dann in der unbedingten Nutzung des Am-Leben-Seins und zwar in Form eines permanenten Prozesses der Anstrengung: eines ständigen Wollens des niemals vollständig Erreichbaren. Und dass dieses Nicht-erreichenKönnen akzeptiert und angenommen werden muss, ist nicht nur die existenzielle Annäherung an die eigentliche Versöhnung, sondern gerade die Existenz als Innerlichkeit, die als transitive Haltung von gleichzeitiger Verbundenheit und Distanzierung, die Lebensgestaltung durch einen unemphatisch-sachlichen und doch leidenschaftlichen Blick auf die Existenzsituation des Menschen prägt.

Selbst letztlich um nichts anderes geht, als um den höchsten Wert des Lebens: das Leben selbst. Kierkegaard steht mit dieser Wertung des Lebens als höchstes Gut also ganz in der Tradition der „christliche[n] Verabsolutierung des Lebens“ (Arendt, Vita activa, S. 403).

3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845 3.1 Vorbemerkung zu den Reden 3.1.1 Kurze Kennzeichnung der Reden Von einer geringen Rezeption der Reden kann innerhalb der Kierkegaard-Forschung nicht mehr gesprochen werden. Die dabei in den Blick geratenden Deutungsperspektiven divergieren zum Teil extrem.¹ Jedoch zeigen sich zwei Gemeinsamkeiten: Erstens das Ausloten des Verhältnisses von Reden und pseudonymen Schriften und zweitens die indirekte Mitteilungsform der Reden.²

Verhältnis von Reden und pseudonymen Schriften Das Verhältnis der Reden zu den Pseudonymen wird generell unter zwei Perspektiven gesehen. Entweder werden die pseudonymen Schriften als Kierkegaards Hauptwerk betont, oder die Reden, indem sie als Korrektiv und Voraussetzung der Pseudonyme bestimmt werden. Meines Erachtens ist die Entscheidung für die eine oder andere Seite unangebracht. Zum Verhältnis der Reden und Pseudonyme lässt sich kurz und bündig sagen, dass die Reden nicht in einem korrigierenden, sondern in einem dialektischen Verhältnis zu den pseudonymen Schriften stehen.³ Weder erklären die Pseudonyme die Reden vollständig noch die Reden die Pseudonyme. Sie müssen als komplexes Geflecht an hermeneutischen Bezügen, Verweisen, Einbeziehung und Abstoßung verstanden werden. In den Reden wird die Philosophie der Pseudonyme auf das Religiöse hin verengt, ohne dass das in  Dazu besonders: Eberhard Harbsmeier, „Die erbaulichen Reden Kierkegaards von 1843 bis 1845 in der deutschen Rezeption“, in KSYB 2000, S. 261– 272; Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, S. 14– 18.  Zur Mitteilungsstrategie: vgl. besonders Eberhard Harbsmeier, „Das Erbauliche als Kunst des Gesprächs“, in KSYB 1996, S. 293 – 313; George Pattison, „Kierkegaard’s Upbuilding Discourses“, in KSYB 2000, S. 205 – 222; Albrecht Haizmann, Indirekte Homiletik, Leipzig 2006; vgl. zusätzlich die Hinweise in: Schwab, Der Rückstoß der Methode, S. 36 (Anm. 50); sowie: Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, S. 324– 328. Zu den die indirekte Mitteilung evozierenden „Vorworten“ der erbaulichen Reden: Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein. „Hineintäuschen in das Wahre“, Berlin und New York 2003 (Kierkegaard Studies Monograph Series, Bd. 7), S. 61– 79; sowie: Pia Søltoft, „To Let Oneself be Upbuilt“, in KSYB 2000, S. 19 – 39, hier S. 31– 39.  Albrecht Haizman spricht davon, dass die Pseudonyme eine „dialektische Protreptik“ darstellen (vgl. ders., Indirekte Homiletik, S. 48 f.), womit aber letztlich Kierkegaards eigener Lancierung Genüge getan wird, dass die Reden doch eine Korrektur zu den pseudonymen Schriften sind. DOI 10.1515/9783110532036-003

3.1 Vorbemerkung zu den Reden

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den Reden Gesagte nur im Rahmen des Religiösen zu verstehen wäre. Die Reden repräsentieren in ihrer hohen Verdichtung an Gedanken Kierkegaards Philosophie in nuce. Weder die Reden noch die Pseudonyme sind je für sich das „Hauptwerk“ Kierkegaards.

Mitteilungsform Die Reden sind die Durchführungen eines Ins-Bild-Setzens der indirekten Mitteilung und Mäeutik, ohne sie zu theoretisieren. Die Theorie wird zugunsten einer von der Praxis ausgehenden und auf die Praxis hinleitenden Darstellung ersetzt. Der Unterschied zu den Pseudonymen ist selbstverständlich der, dass die Reden autonym von Kierkegaard herausgegeben und verfasst sind. Indem sich Kierkegaard weder maskiert noch versteckt noch fiktive Personen entwirft, ist er nicht gezwungen, umständlich zu mäeutisieren, sondern kann über die Sprache und Rhetorik⁴ den Leser in die Gedankenwelt und religiöse Absicht hineinführen. Durch die ohne Zweifel große rhetorische Suggestionskraft der Reden wendet Kierkegaard dennoch einige die Mäeutik absichernde Taktiken an (beispielsweise die Vorworte, den subtilen Wechsel der Sprecherperspektiven, die Betonung des Handeln-Könnens etc.), damit der Leser nicht in ästhetischer Bewunderung verharrt und deshalb nicht zur Aneignung gelangen würde. Gleichzeitig hebt Kierkegaard dabei auch auf der Darstellungsebene das Religiöse als eine sich über Ästhetik und Anschauung generierende Erfahrung heraus.⁵ Dies eröffnet, warum Kierkegaard in der 1. Person schreibt: Er führt dem Leser die durch seine eigene Person gebrochene Nähe je eigener Erfahrung vor Augen. Die Fremdheit der 1. Person Kierkegaards zielt hierbei – wie in den pseudonymen Schriften – auf eine auf Augenhöhe geführte Dialogizität, die zum Selbstgespräch des Lesers einlädt und anleitet. Um dieses Selbstgespräch zu ermöglichen, verwendet Kierkegaard,

 Zu Sprachgebrauch und Rhetorik und dem dabei zutage tretenden Verhältnis zwischen Philosophie und einer weitestgehend bildlichen Sprache besonders: Richard Purkarthofer, „Imagin(arr)ation“, in KSYB 2000, S. 146 – 162; auch: Bo Kampmann Walther, „Sound and Vision“, in KSYB 2000, S. 135– 145.  Und das bedeutet auch, dass die Aneignung des Religiösen durch die Reden auf konkreter, sozialer Erfahrung und damit auf Interpersonalität und Intersubjektivität beruhen, nämlich der Vermittlung eines Autors, der selbst in soziale Wirklichkeit gestellt ist. – Zum Verhältnis von Religiosität, Erfahrung und Ästhetik: vergleiche die „Schlussfolgerung“ im Anschluss an die Interpretation der „Friedhof-Szene“ in Kapitel 2.1.3.4. Die dort vorgenommenen Betrachtungen gelten für die Reden in gleichem Maße.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

neben anderen Aspekten, eine einfachere Sprache als in den pseudonymen Schriften.⁶

Methode und Religiosität Kierkegaard schrieb in den Jahren 1843 bis 1845 insgesamt 22 Reden. Die erste dieser Reden ist das „Ultimatum“ am Ende von Entweder – Oder, in dem er die auf Absicherung und wissende Gewissheit hinauslaufende Besprechung und Beschreibung ethischen Existierens (durch „Gerichtsrat Wilhelm“) ein Existieren der Verunsicherung entgegensetzt.⁷ Dies gibt fortan auch den Rahmen für die 18 Erbaulichen Reden von 1843/44 und die Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845 vor. Nicht Wissen, sondern Handeln im Verstehen der Verunsicherung stehen im Fokus der Auseinandersetzung. Weil diese Perspektive in den Reden immer im Hinblick auf das erbaulich-religiöse Existieren eingenommen wird, steht nicht nur die Gebrochenheit eines unmittelbaren Gottes-Verhältnisses, sondern der Glaube als problematischer Reflexionsvollzug im Vordergrund.⁸ Der Glaube ist weder durch Reflexion zu erreichen, noch geht er in Reflexion auf, stellt aber dennoch kein naives Gottes-Verhältnis dar, sondern wird beständig von Zweifel und philosophischer Einsicht begleitet. Die Reden nehmen dabei im Wesentlichen keine begriffliche Auseinandersetzung in den Blick. Vielmehr wird das religiöse Existieren in eine lebensnahe Situationsbezogenheit eingebettet und von dort her beschrieben⁹ (wie dies schon anhand der erbaulichen Szenen innerhalb der pseudonymen Schriften deutlich wurde: beispielsweise in der „Friedhof-Szene“). Kierkegaard verfolgt die Darstellung der Erfahrung praktischer Lebensform, weshalb die methodische Herangehensweise als eine phänomenologische bezeichnet werden kann, durch die die existenzielle Wirklichkeit (Selbst-Verhältnis) als eine herausgestellt wird, die sich erst in den Phänomenen zeigt. ¹⁰ Das hat zur Folge, dass das primäre

 Beispielsweise wird nicht von dem mit komplexer Bedeutung durchdrungenen und immer etwas abstrakt wirkenden Begriff „Existenz“ gesprochen, sondern Kierkegaard spricht immerfort von „Leben“, in das das Individuum gestellt ist und mit dem es umgehen muss.  Dies ist stadientheoretisch verstanden. Das „Ultimatum“ repräsentiert das auf das ethische Stadium folgende religiöse Stadium. Andreas Krichbaum vermerkt: „Religion wird von Kierkegaard … (stadientheoretisch) als Überbietung von gescheiterten Weisen zu existieren gedacht* …“ (Ders., Kierkegaard und Schleiermacher, S. 308)  Vgl. Deuser, „Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz“, S. 97.  Vgl. Hermann Deuser, „Die Inkommensurabilität des Kontingenten“, in KSYB 2000, S. 163 – 190, hier S. 175; vgl. ebenfalls: ders., Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 155 f.  Die Phänomenbeschreibungen (Wirklichkeit) verweisen auf die reflexionsphänomenologische Systematisierungsebene (Denken) und umgekehrt. Kierkegaard verfolgt in den Reden,

3.1 Vorbemerkung zu den Reden

391

Thema der Reden, das Verhältnis zu Gott,¹¹ von den Phänomenen her und auf die Phänomene hin beschrieben wird, so dass die Reden keine abstrakte, sondern eine aus der Lebenswirklichkeit gewonnene Religiosität in den Mittelpunkt stellen.¹² In ihre Zusammenführung von reflexionsphänomenologischen Ausführungen und phänomenologischer Beschreibung konkreter Wirklichkeitserfahrung stellen die Reden, wie Emanuel Hirsch treffend festhält, „Meditationen“ über das Gottes-Verhältnis dar.¹³ Denn besonders der Aspekt des Meditierens, sowohl im Sinne eines besinnlichen Sammelns wie auch des Nachdenkens, eines Sich-Einlassens und Reflektierens, Sich-Findenwollens und Sich-in-Frage-Stellens bestimmen nicht nur die erbauliche Religiosität, sondern auch die Aneignung des Gesagten. Obwohl die Reden Kierkegaards dabei die religiöse Versenkung und das Sich-Überlassen an Gott vorführen, sind sie gleichzeitig immer auch Mahnungen, das religiöse Existieren auch zu vollziehen; appellieren an die Möglichkeit der Wirklichkeit und somit an die Potenzialität des eigenen Willens und dadurch an das Handeln-Können. Dies ist insofern entscheidend, als dass es Kierkegaard mit der Erbauung um ein am anderen Menschen sympathisierend-interessiertes Aufbauen zur religiösen Existenz geht – nicht in dem Sinne, dass er intellektuell und abstrakt die Erbauung bespricht, sondern über das auf Phänomenologie beruhende, existenzdialektische Primat die Selbst-Erschließung des Lesers öffnen will, die in das Handeln selbst hineinverlagert wird. Die Anleitung zum Handeln kennzeichnet die Erbauung auf grundlegende Weise, weil Erbauung bedeutet, durch die Handlung das religiöse Existieren freizulegen: der Vollzug erzeugt das Bewusstsein und nicht umgekehrt.¹⁴ Indem Kierkegaard jedoch in einer vermittelnden

ebenso wie Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, eine Darstellung existenzieller Wirklichkeit, in der Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsreflexion nicht nur aufeinander verweisen, sondern sich gegenseitig durchdringen und sich als dialektisch-reziproke Einheit zeigen. Auf methodologischer Ebene kennzeichnet dies die reziproke Einheit von Theorie und Praxis (vgl. Kapitel 2.1.4); auf existenzieller Ebene die reziproke Einheit von Erfahrung und Reflexion.  Vgl. Flemming Harrits, „Wortwörtlichkeit des Geistes“, in KSYB 200, S. 121– 134, hier S. 128.  Das gilt ebenso für die Pseudonyme: vergleiche die Ausführungen zu Sprache und Praxis in Kapitel 2.1.4.  Vergleiche Hirschs Einleitung zu den erbaulichen Reden von 1843/44: GW 5, IX.  In diesem Sinne kann durchaus gesagt werden, dass Kierkegaard in seiner phänomenologischen Herangehensweise einen pragmatistischen Blick auf das Phänomen der Religiosität wirft: dass sich die Wahrheit und Wirklichkeit der eigenen Lebensgestaltung erst in und durch die Praxis herausstellen und sich bewähren. (Man vergleiche William Jamesʼ berühmte Ausführungen in Die Vielfalt religiöser Erfahrung, wo er herausstellt, dass erst eine das Individuum in der Praxis durchdringende Einstellung die wahre Religiosität ausmacht.).

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Position dem Leser gegenüber steht, wird dieses Verhältnis zwischen Handeln (Vollzug) und Denken (Bewusstsein) durch die Reden selbst auf den Kopf gestellt, zeigt damit aber nur an, dass die Erbauung zugleich immer ein Erbautwerden ist. Aktivität und Passivität sind in die Erbauung als dialektische Pole so eingeschrieben,¹⁵ dass die Erbauung nicht nur selbst Ausdruck eines Aneignungsprozesses ist, sondern als religiöses Existieren eine Form des aktiv gewollten SichAussetzens an Gott und somit ein Sich-Einlassen in gewollte Passivität darstellt.¹⁶

Innerlichkeit Ebenso wie die Erbauung wird auch die Innerlichkeit in den Reden nicht dem Begriff nach entwickelt. In gewissem Sinne wäre dies auch eine aus aneignungstheoretischer Perspektive kontraproduktive Herangehensweise, weil die Innerlichkeit Erleben bedeutet, das zwar durchaus in Sprache gefasst werden kann, aber die existenzielle Konkretion, das Erleben selbst, nicht einzuholen vermag. Sofern es in den Reden um die Aneignung einer aus konkreter Erfahrung gewonnenen Religiosität geht, ist die Innerlichkeit in die Ausführungen der Reden beständig eingebettet¹⁷, indem sie der Ausgangspunkt für Kierkegaards Darstellung und der Endpunkt im Sinne der konkreten praktischen Umsetzung ist. Das Ansprechen des Lesers als den „Einzelnen“, wie es Kierkegaard in den „Vorworten“ zu den Reden beständig wiederholt, gibt dann nicht nur den Rahmen zur Deutung der Reden als Abhandlungen der eigenen Religiosität vor, sondern forciert dadurch die Innerlichkeit vor dem Hintergrund einer von vornherein beabsichtigten Subjektivitäts-Perspektive, in der das Individuum (Leser) vor die Möglichkeit zur Freilegung seiner Innerlichkeit gestellt wird.¹⁸ Von einem theoretischkonzeptionellen Standpunkt betrachtet, ließe sich dann aus den Motiven der Aneignung und der Erfahrung der konkreten Lebenswirklichkeit antizipieren, dass das Verständnis der Innerlichkeit in den Reden auf ein Selbst-Verständnis des Individuums hinausläuft, das eine Selbst-Verständnis-Transformation aus der Lebenswirklichkeit heraus beansprucht.

 Dazu ausführlich: Søltoft, „To Let Oneself be Upbuilt“, besonders S. 26 – 31.  Die in diesem Sinne vielleicht treffendste Beschreibung der Erbauung gibt Markus Kleinert, der mit Bezug auf das „Ultimatum“ vermerkt, dass die Erbauung „forcierte Ohnmacht“ ist, in der der Mensch „Entlastung oder Erhebung erfährt …“ (Kleinert, Sich verzehrender Skeptizismus, S. 205)  Vergleiche Emanuel Hirschs Einleitung zu den erbaulichen Reden von 1843/44: GW 5, IX. Ebenfalls: Arne Grøn, „Temporality in Kierkegaard’s Edifying Discourses“, in KSYB 2000, S. 191– 204, hier S. 192; sowie: Furchert, Das Leiden fassen, S. 289.  Vgl. Deuser, „Warum immer wieder Kierkegaard?“, S. 10.

3.1 Vorbemerkung zu den Reden

393

3.1.2 Fragestellung und Vorgehen Von der Innerlichkeit als einer dienlichen Methode zur Erschließung der Reden zu sprechen, wie Almut Furchert es formuliert,¹⁹ ist irreführend. Sieht man von der an die indirekte Mitteilung der Pseudonyme geknüpften methodischen Figur der Innerlichkeit ab,²⁰ muss gesagt werden: Die Innerlichkeit ist keine Methode, sondern eine existenzielle Lebensweise, die aus den Reden herausgelesen werden kann, selbst aber keinen methodischen Schlüssel zur Erschließung der Texte darstellt. Sie kann abgesehen von den wenigen Nennungen in den Reden nur als hermeneutische Konzeptualisierung rekonstruiert²¹ werden. Insofern in den Reden die Innerlichkeit immer im Hintergrund steht und sie dieselbe anhand von lebensweltlichen Phänomenen und reflexionsphänomenologischen Ausführungen besprechen und vorführen, steht die praxistheoretische Frage im Raum: Wie kann das, worauf durch das Gesagte nur gezeigt wird, in Konkretion überführt werden? Oder theoretisch-systematisch gefragt: Wie kann aus der rein immanenten Vorführung der Innerlichkeit dieselbe konzeptionell erfasst werden? Dies lässt sich m. E. nur dann lösen, wenn sich auf einen methodisch durchaus gewagten Weg begeben und die dialektische Verwobenheit von Reden und pseudonymen Texten beachtet wird. Soll das Verständnis der Innerlichkeit in den Reden herausgestellt werden, ist es sinnvoll, eine immanente Betrachtung der Reden vorzunehmen – bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf das, was die Pseudonyme Vigilius und Climacus theoretisch zur Innerlichkeit sagen. Die Gefahr dabei ist, dass in den Reden das gefunden wird, was die Pseudonyme konzipieren. Um diese Gefahr zu umgehen, ist es notwendig, die Gedankengänge der Reden herauszustellen. Durch ein Abgleichen mit sich ergebenden Übereinstimmungen bei den Pseudonymen können die Gedanken der Reden durch die gewonnen Hinweise vertieft oder gegebenenfalls auch gegen die pseudonymen Schriften abgegrenzt werden. Diese Herangehensweise ermöglicht die dialektische Verbindung der pseudonymen Texte und der Reden herauszuarbeiten, bei gleichzeitiger Bewahrung der Eigenständigkeit beider Textgattungen. Der hermeneutische Ausgangspunkt, von dem her ich die folgenden Betrachtungen vornehmen werde, ist die climacische Bestimmung der Innerlichkeit als Selbst-Verhältnis vor Gott. ²² Diese allgemeine Bestimmung muss immer der kritischen Frage ausgesetzt bleiben, ob sie in den Reden überhaupt in dieser Form  Vgl. Furchert, Das Leiden fassen, S. 289.  Vgl. Kapitel 2.1.2.3.1.  Es sei hierbei an die methodischen Anmerkungen zu Rekonstruktion und Kontextprinzip in Kapitel 1.3 verwiesen.  Vgl. SKS 7, 397/ DUN, 618.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

zu finden ist und wenn ja, ob sie in den Reden an dieselben Kontextualisierungen und Bestimmungen (wie Leiden, Wiederholung, Identität etc.) gebunden wird. Dieses permanente In-Frage-Stehen eröffnet die Perspektive, einen hermeneutischen Schlüssel zu besitzen, der jedoch nicht willkürlich auf die Reden angewandt wird, sondern die eigenen Nuancierungen der Innerlichkeit in den Reden betont. Die Fragestellung, die dann verfolgt wird, ist dieselbe wie in den vorhergehenden Kapiteln: Welche systematischen und strukturellen Merkmale kennzeichnen die Innerlichkeit? Was bedeutet es, in Innerlichkeit zu leben? Dies schließt sowohl eine theoretisierend reflexionsphänomenologische als auch existenzpragmatische Perspektive ein. Zudem muss die Frage der Auswahl geklärt werden. Sämtliche 22 Reden von 1843 bis 1845 in den Blick zu nehmen ist deshalb kontraproduktiv, weil sich dann allzu leicht auf die groben Zusammenhänge und großen Bögen über alle Reden hinweg konzentriert wird. Schon aus Interesse am Detail muss ausgewählt werden. Die hohe Verdichtung der Gedanken in den einzelnen Reden verdeutlicht außerdem, dass eine Analyse den Reden in ihrer Komplexität nur dann gerecht werden kann, wenn die Auswahl auf wenige Reden beschränkt wird. Zunächst fällt die Wahl auf die Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten. Die Begründung dessen liegt sowohl in ihrer systematischen Stellung innerhalb von Kierkegaards Gesamtwerk als auch in ihrer Rezeption. Auf die Gelegenheitsreden folgt – im Kapitel 3.3 – die Besprechung der Geduldsreden von 1843/44, deren Auswahl an gegebener Stelle begründet wird.²³

 Aus methodischen Gründen muss auf einige hermeneutische Probleme bezüglich des Verhältnisses der erbaulichen Reden (1843/44) und der Gelegenheitsreden (1845) aufmerksam gemacht werden. a) Dass Kierkegaard die erbaulichen Reden in Blöcken von zwei, drei und vier Reden herausgegeben hat, sollte für jede Untersuchung derselben ernst genommen werden. Die einzelnen Konvolute verfolgen eigene Perspektiven, stellen in sich einen inneren Zusammenhang her und stehen teilweise nicht nur zueinander, sondern auch in sich in einem aufbauenden oder dialektischen Verhältnis. Die einzelnen Konvolute sind nicht einfach mit den anderen zu kombinieren und wenn, so muss dies aus einer genauen Analyse der einzelnen Texte heraus geschehen. Es lassen sich demnach die erbaulichen Reden und Gelegenheitsreden nicht sorglos aufeinander beziehen; was aber auch bedeutet, dass die einzelnen Reden-Zusammenstellungen in ihrer Eigenständigkeit der Perspektive und inneren Verflechtung erst herausgestellt werden müssen (vgl. Kapitel 3.2.1; Einleitung zu Kapitel 3.3). b) In den Gelegenheitsreden werden Themen und Begriffe aufgenommen, die sich ebenso in den erbaulichen Reden finden lassen. Obwohl sich eine kohärente Begriffsverwendung ausmachen lässt, steht diese in den erbaulichen Reden in einem viel stärkeren bibelexegetischen Kontext, abgesehen von den Vier erbaulichen Reden 1844, die neben den Gelegenheitsreden die einzigen Reden sind, bei denen in den Titeln der einzelnen Reden kein Bezug auf eine bestimmte Bibelstelle genommen wird. Das Problem ist, dass zwar viele der komplex kontextualisierten Themen der

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845 Die autonym herausgegebenen Gelegenheitsreden sind – neben den pseudonym herausgegebenen Stadien auf des Lebens Weg – die einzige Veröffentlichung Kierkegaards im Jahr 1845.²⁴ Sie stellen erbauliche Reden dar, werden aber von Kierkegaard nicht mehr zu diesen gezählt.²⁵ Innerhalb von Kierkegaards Ge-

erbaulichen Reden in die Gelegenheitsreden eingeschrieben sind, aber in den erbaulichen Reden teilweise ausführlicher und von anderen Blickwinkeln her betrachtet werden,was umgekehrt auch für die Gelegenheitsreden gilt: dass in ihnen Themen der erbaulichen Reden differenziert und mit neuen Konnotationen versehen werden. c) Während besonders die 1843er Reden sehr phänomenologisch-narrativ verfasst sind, wird diese Struktur im Verlauf der Entwicklung der Reden zunehmend aufgebrochen.Vor allem die Vier erbaulichen Reden 1844 sind geradezu philosophische Schriften, in denen die Phänomenbeschreibungen in eine analysierende Perspektive eingebettet sind. Die Gelegenheitsreden bilden in dieser Beziehung schließlich den Höhepunkt. Sie sind sicher die mit Abstand philosophischsten Reden Kierkegaards (bis 1845). In ihnen steht die Phänomenbeschreibung des Existierens im Dienst der dargelegten Philosophie. Bei den frühen erbaulichen Reden ist dies umgekehrt, wobei sich auch hier analysierende Reden ausmachen lassen (beispielsweise die erste und letzte/neunte Rede von 1843). Anhand dieser Sachverhalte zeigt sich, dass eine Einbeziehung der erbaulichen Reden in die Analyse der Gelegenheitsreden (und umgekehrt), wenn auch nicht gänzlich unangebracht, so doch mit aller Behutsamkeit vorzunehmen ist.  Zum Verhältnis der Gelegenheitsreden zu den Stadien: vergleiche die von Emanuel Hirsch verfasste „Geschichtliche Einleitung der 13. und 14. Abteilung“ der deutschen Gesamtausgabe; vgl. auch SKS K5, 394. Interessant ist, dass die Gelegenheitsreden bis kurz vor der Veröffentlichung unter dem Pseudonym Johannes de Silentio geschrieben wurden (vgl. SKS K5, 401), dem Pseudonym, das Furcht und Zittern verfasst hat. Spuren dieser Verfasserschaft lassen sich inhaltlich in allen drei Gelegenheitsreden ausmachen. An den gegeben Stellen wird darauf eingegangen. Ein eingehender Vergleich zwischen den Gelegenheitsreden und Furcht und Zittern wird ausgespart, wäre aber eine lohnenswerte, in der Forschungsliteratur noch ausstehende Aufgabe.  In Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (SKS 13, 7– 27/ WS, 1– 17) von 1851, wo Kierkegaard in der „Rechenschaft“ eine Systematik und kohärente Entwicklung seiner pseudonymen und erbaulichen Schriften im Dienst der religiösen Schriftstellerarbeit vorzunehmen versucht, werden die Gelegenheitsreden nicht genannt. Er spricht lediglich von den „achtzehn erbaulichen Reden“ (1843/44) bzw. von „erbaulichen Reden“, die im Zusammenhang mit einer pseudonymen Schrift veröffentlicht werden. (Vgl. SKS 13, 14 f. / WS, 6 f.) Dies gibt einerseits Aufschluss darüber, dass Kierkegaard die Gelegenheitsreden nicht zu den sogenannten erbaulichen Reden zählt, sie aber dennoch in die Kategorie der „erbaulichen Reden“ fallen, eben weil sie im Zusammenhang mit den Stadien auf des Lebens Weg erschienen sind. Dass er die Gelegenheitsreden gänzlich ausspart, zeigt andererseits, dass sie nicht recht in Kierkegaards Systematik der ästhetischen und religiösen Schriftstellerarbeit hineinpassen. Sie sind beides, ästhetisch und religiös (und in diesem Sinne erbaulich-religiös), gehen aber in dieser Bestimmung nicht auf, sondern zeichnen sich aufgrund ihrer systematisierenden Herangehensweise durch einen stärker philosophischen Duktus aus,

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

samtwerk sind sie ebenso wie die Unwissenschaftliche Nachschrift als ein Übergang anzusehen,²⁶ bevor Kierkegaard 1847 die Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist veröffentlicht, in denen er zu einem dezidiert christlich-religiösen Blickwinkel auf die Existenz wechselt. Dies macht die Gelegenheitsreden neben der Unwissenschaftlichen Nachschrift besonders interessant. In ihnen wird ebenso wie in der Unwissenschaftlichen Nachschrift das christliche Denken anvisiert. Jedoch wird das christlich-religiöse Existieren nicht vordergründig expliziert.²⁷ Die Gelegenheitsreden verbleiben immer im Rahmen der erbaulichen Religiosität. Sie stellen somit einen Bruch und das Aufgreifen einer neuen Perspektive dar und dürfen nicht einfach als Zusammen- und/oder Fortführung der erbaulichen Reden betrachtet werden.²⁸ Die Relevanz der Untersuchung der Gelegenheitsreden ergibt sich auch aus dem Sachverhalt, dass die Gelegenheitsreden in der Kierkegaard-Forschung zumeist übersehen werden,²⁹ wobei sich zugleich eine eigenwillige Spannung in der Rezeption offenbart. Denn die dritte Rede (An einem Grabe) ist vor allem in der deutschsprachigen philosophischen Diskussion mit Abstand die meist rezipierteste Rede Kierkegaards,³⁰ während die erste Rede (Anlässlich einer Beichte) wenig und die zweite Rede (Anlässlich einer Trauung) nur vereinzelt besprochen werden.³¹

ohne jedoch den existenziell-religiösen Aspekt zu vernachlässigen oder gar, aufgrund ihrer systematisierenden Herangehensweise, die Problematik der Mäeutik auszusparen.  Vgl. Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, S. 334.  Zur Bestimmung des christlichen Denkens in den Reden in einer von Climacus’ eigener Auslegung der Reden unterschiedenen Interpretation: vgl. Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, S. 126 – 129.  Auf den Unterschied zwischen den Erbaulichen Reden und Gelegenheitsreden wird exemplarisch anhand der Geduldsreden eingegangen: vgl. Kapitel 3.3.2.  Dies wird auch von Michael Bjergsø betont: ders., Kierkegaards deiktische Theologie, 76 (Anm. 2).  Dass die Grabrede einer massiven Interpretation unterliegt, hängt neben inhaltlichen Aspekten sicher damit zusammen, dass die dort entfaltete existenzielle Thanatologie Kierkegaards hoch anschlussfähig bzw. voraussetzungsreich für die existenzphilosophischen Betrachtungen des Todes im 20. Jahrhundert ist, vor allem in Bezug auf Heidegger (– auch wenn dies neuerdings und m. E. ganz richtig in Frage gestellt wird: vgl. Marius Mjaaland, „Death and Aporia. Some Reflections on the Problem of Thinking Death in At a Graveside (1845)“, in KSYB 2003, S. 395 – 418). Kierkegaard geht es in der Grabrede eigentlich gar nicht so sehr um eine säkularisierte Philosophie des Todes, sondern ebenso wie in den zwei davor liegenden Reden um das existenzielle SelbstVerhältnis vor Gott (Innerlichkeit),was wiederum die thematische Nähe der drei Gelegenheitsreden zu den davor verfassten erbaulichen Reden benennt.  Auf die Sekundärliteratur wird in den Einzelbetrachtungen der Gelegenheitsreden hingewiesen (ab Kapitel 3.2.2).

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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3.2.1 Hermeneutische und systematische Beobachtungen 3.2.1.1 Der Titel: „Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten“ 3.2.1.1.1 „Drei Reden …“ Schon der Titel „Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten“ markiert einen offensichtlichen Unterschied zu den ansonsten einheitlich benannten „Erbaulichen Reden“.Was lässt sich aus ihm ableiten für das Verständnis der Gelegenheitsreden?

Systematisierungsebenen Zunächst fällt ins Auge, dass es drei Reden sind. Hierbei könnte vermutet werden, dass der Zahl 3 eine von Kierkegaard intendierte besondere Bedeutung innewohnt, beispielsweise dass ein dialektischer Dreischritt (im hegelschen Sinne) angezeigt werden will oder in christlich-religiösem Kontext auf die Dreifaltigkeit angespielt wird. Sowohl die philosophisch-systematische als auch die theologische Deutungsmöglichkeit sind von dem inneren hermeneutischen Zusammenhang der drei Reden nicht überzeugend zu begründen. Dennoch lassen sich die drei Gelegenheitsreden als ein Werk lesen, in dem die (religiöse) Existenz in dreifacher Richtung aufgegriffen wird:³² In der Beichtrede die auf den christlichen Glauben hin diskutierte Ausprägung der Existenz;³³ in der Trauungsrede die ethische Dimension der Existenz unter Bezug auf Ehe und Liebe; in der Grabrede die humane Situation im Ausgesetztsein an die anthropologische Bedingung der Endlichkeit. Religion, Ethik, Anthropologie bestimmen die Betrachtung der menschlichen Existenz in den Gelegenheitsreden, wobei Ethik und Anthropologie im Dienst der existenziell-religiösen Diskussion stehen.

Lesen und Zuhören Als Nächstes fällt auf, dass es eben Reden sind. Dies deutet darauf hin, dass sie auf das gesprochene Wort ausgerichtet sind, was ihre eingängigen Formulierungen, zugespitzten Sentenzen und ihre iterative Narrativik erklärt. Trotz ihres Predigtstils sind die Gelegenheitsreden von Kierkegaard aber nicht für den öffentlichen Vortrag bestimmt gewesen. In diesem Sinne gab es nie einen Zuhörer der Reden. Und doch spricht Kierkegaard den Leser in den Reden mit „mein Zu-

 Vgl. Haizmann, Indirekte Homiletik, S. 240.  Wird von einem inneren Zusammenhang der drei Gelegenheitsreden ausgegangen, so wird die Auslegung der Grabrede zeigen, dass Kierkegaard keine christliche Religiosität verfolgt.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

hörer“ an.³⁴ Das ist insofern interessant, als dass die Gelegenheitsreden geschriebene Reden sind,³⁵ die von Kierkegaard zum Lesen bestimmt wurden. Um also etwas über die Reden und die sich durch ihren intendierten Rezeptionszugang ergebende Hermeneutik zu erfahren, ist es sinnvoll, den Unterschied zwischen dem eigenen Lesen eines Textes und dem Zuhören eines öffentlichen Vortrags zu betrachten. Zunächst gilt allgemein: Beim Lesen wird das Sehen betont, beim Zuhören das Hören, wobei auch beim Lesen letztlich ein Hören einsetzt, indem das Gelesene beim Lesen vor dem „inneren Ohr“ artikuliert und gehört wird. Praktisch folgt: Wenn gelesen wird, so liegt die Geschwindigkeit des Lesens als auch die Möglichkeit zur Wiederholung von Textpassagen beim Lesenden. Beim Zuhören ist der Hörer abhängig vom Redenden. Er kann weder die Geschwindigkeit des Vortragens beeinflussen, noch hat er die Möglichkeit zur Wiederholung, wenn er etwas akustisch oder semantisch nicht verstanden hat. Die Möglichkeit von Informationsverlust ist beim Zuhören größer.³⁶ Schließlich ist hervorzuheben: Wie das, was vom Redner gesagt wird, verstanden wird, hängt nicht nur von der deutlichen Artikulation des Redners, sondern auch von dessen Betonung und somit von dessen Gewichtung des dann vom Zuhörer unmittelbar aufgenommenen Inhalts ab. Beim Lesen hingegen ist zunächst alles gleich gewichtet und es hängt vom Leser selbst ab, welche Gewichtungen er vornimmt, obwohl auch hier der Autor des Textes nicht ohne Einfluss bleibt, wie etwa – in den Gelegenheitsreden angewendet – durch Kursivsetzungen, wiederholende Formulierungen oder auch Suggestionsphrasen³⁷. Der Leser hat, zumindest dem Anschein nach, den Text mehr in seiner Hand, als es dem Zuhörer möglich wäre – und das auch im ganz wörtlichen Sinne, denn der Leser kann den Text auch aus der Hand legen, während ein interessierter Zuhörer gezwungen ist, eine kontinuierliche Konzentration zu bewahren.

 Beispielsweise SKS 5, 391, 422, 447/ DRG, 114, 150, 179.  Dazu: Harbsmeier, „Das Erbauliche als Kunst des Gesprächs“, S. 300 – 304.  So betont beispielsweise Hans Blumenberg in seiner Beschreibung des Menschen, S. 876, dass das Hören u. a. zwar ein höchst leistungsfähiger Rezeptionsmodus (vor allem im Austausch von Worten ist es effizienter als beispielsweise der Austausch von Blicken), aber gleichfalls höchst illusionsanfällig ist (obwohl das Ohr unmittelbarer an die Welt ausgesetzt ist als das Auge, das schnell und bewusst geschlossen werden kann). Denn Hören ist immer die Aufnahme von vermittelter Information, die von der eigenen Rezeptions- und Interpretationsfähigkeit abhängt.  Unter anderem ersichtlich an der einige Male verwendeten und die Überredung forcierenden Formulierung Kierkegaards – „denn darin sind wir ja einig, mein Zuhörer“ (SKS 5, 447/ DRG, 179 und öfter). Diese Formulierung wird zum Teil auch rhetorisch variiert, z. B.: „Nichtwahr, mein Zuhörer“ (SKS 5, 458/ DRG, 192 und öfter).

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Der Unterschied zwischen Lesen und Zuhören liegt demnach wesentlich in dem Sachverhalt, dass die Tätigkeit des Zuhörens gleichzeitig passiv und aktiv ist,³⁸ während das Lesen wesentlich aktiv ist. Zudem ist beim Zuhören das unmittelbar begegnende, das einmalig gehörte Wort für die Erfassung des Inhalts von größerer Bedeutung, während beim Lesen der Inhalt auch durch Wiederholungen erschlossen werden kann. Indem Kierkegaard seinen Leser als Zuhörer anspricht, intendiert er eine Vereinigung der Eigenschaften des Lesens und Zuhörens. Der Leser soll so lesen, als wäre er Zuhörer eines öffentlichen Vortrags, den er aus Interesse verstehen möchte. Das Gelesene soll mit aller Konzentration vor dem „inneren Ohr“ so artikuliert werden, dass jedes Wort von Bedeutung wird, so dass es sich dem Leser in seiner von Kierkegaard intendierten Bedeutsamkeit einprägt.

Text und Leser – Leser und Text Davon ausgehend wird eine Interaktion zwischen Text und Leser eingeleitet, in der sich der Leser auf den Text in höchstem Maße einlässt, um den Text in sich einzulassen. Im Vorwort spricht Kierkegaard in diesem Sinne auch von der „freudigen Hingabe des Buches“ und der „sieghaften Hingabe [des Lesers]“.³⁹ Die Möglichkeit, das Gelesene zu wiederholen, ermöglicht die sich vertiefende Einübung in den Inhalt des Textes als auch die Einschleifung des Textes in den Lesenden. Dem Text selbst wird dabei ein eigenes Maß an Aktivität zugesprochen, die sich jedoch erst durch die Aktivität des Lesers ergibt, indem sich dieser dem Text aussetzt und ihn auf sich einwirken lässt. Damit wird der Text zwar erst durch den Leser bedeutend, jedoch hängt die Bedeutung des Textes nicht allein vom Leser ab.

 Vergleiche dazu auch Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 407– 429. Foucault stellt das Zuhören als gleichzeitige Passivität und Aktivität anhand einer Rekonstruktion stoischer Rhetorik heraus, wobei es ihm in Anbetracht des Kontextes seiner Sorge-Ausführungen um das philosophische Zuhören, also um das Hören der Wahrheit geht. (Vgl. ebd., 407) Anhand von Plutarch und Seneca wird das Hören als passives Ausgesetztsein an die Welt bestimmt, wobei dem Hören die besondere Bedeutung zukommt, dass das Subjekt aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden vermag (ebd., S. 408 – 412). Hören kann Veränderung bewirken. Die aktive Seite des Hörens stellt Foucault vor allem anhand von Epiktet und Platon dar. Sie zeichnet sich wesentlich durch drei Eigenschaften aus: der Einübung des Zuhörenkönnens (ebd., S. 412– 415), dem Schweigenlernen (ebd., S. 415 – 421) und der willentlichen Haltung, das „wahre“ Wort empfangen zu wollen (ebd., S. 422– 429). – Bezüglich Kierkegaards erbaulichen Reden wird letzteres Merkmal mit der Passivität gekoppelt, indem es um die Hingabe des Lesers an den Text geht (s.u.), womit gleichfalls die Einübung des Zuhörens betont wird, das als Bedingung der Aneignung fungiert.  SKS 5, 389/ DRG, 113.

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Dieses Verhältnis zwischen freiwilligem Sich-Aussetzen und eigenem SichHinwenden (auch durch die eigene Gestaltung der Textrezeption) ist eine Spiegelung der in den Gelegenheitsreden deutlich hervortretenden Existenzsituation des Individuums: an Welt, Zeit, Leben, Tod und Gott ausgesetzt zu sein und gleichzeitig die Möglichkeit zu besitzen, selbst Entscheidungen zu treffen. Indem Kierkegaard seinen Leser als Zuhörer anspricht, womit er den Aspekt der Gleichzeitigkeit von Passivität und Aktivität betont, wird der Leser als einer in einer bestimmten (Text-/Existenz‐)Situation betrachteter Leser angesprochen. Gleichfalls gilt: Indem der Rezipient Leser ist, wird, gegenüber dem Zuhörer, das Moment der Aktivität subtil gewichtet, wodurch das eigene Handeln beziehungsweise der eigene Umgang des Lesers mit dem Text (und seiner Existenz) herausgehoben wird. Der Umgang des Lesers mit der eigenen Existenz ist dann in dem Sinne intendiert, wie es durch Kierkegaards Ansprechen des Lesers als Zuhörer beabsichtigt ist: höchste Konzentration zur Verinnerlichung – in Bezug auf den Text heißt das: die geistige Verinnerlichung des Wortes (Aneignung); in Bezug auf die Existenz: das Verstandene zu leben. Die Art und Weise der Rezeption ist selbst schon der erste Schritt zur Existenzgestaltung und somit auch der erste Schritt zur wirklichen und verwirklichten Erschließung des Inhalts des Textes. Denn für den lesenden Zuhörer soll der Text – existenzdialektisch – zur Selbstanwendung werden.⁴⁰ Kierkegaard macht dies zunächst daran deutlich, wenn er zu Beginn der Beichtrede sagt: „Was der Redner nur dir sagen soll, das kannst nur du wissen, wie du die Rede verstehst, weiß er nicht, das kannst nur du wissen …“⁴¹ Der Leser soll über die Rede in ein Zwiegespräch mit sich selbst treten und sich selbst zur Frage werden. Die Reden liefern kein objektives Wissen und keine Erklärungen, sondern das Individuum muss sich durch die Reden und an ihnen selbst entdecken: „[B]ekommst du durch sie [die Rede, d.Vf.] etwas über dich selbst zu wissen, so ist es durch dich selbst …“⁴² Kierkegaard will diese Rückwirkung des Textes auf den Leser durch das Zurücktreten seiner Person als Autorität direkt unterstützen. So steht nicht umsonst an exponierter Stelle der Gelegenheitsreden, auf der letzten Seite der dritten Rede: „Der hier gesprochen hat, er ist nicht dein Lehrer, mein Zuhörer, er lässt dich nur, so wie er selbst es ist, ein Zeuge davon sein, wie ein Mensch versucht … zu

 Wichtig scheint mir dabei: Indem der Leser als Zuhörer angesprochen wird, wird das Hören und nicht das Sehen als primärer Erkenntnissinn hervorgehoben. Existenziell-religiös gewendet wird wie bei Climacus das Hin-Hören auf Gott betont, der nicht in der Welt und trotzdem da ist. Dazu besonders Kapitel 1.1 und 2.2.5.3 und 2.3.3.4.1.  SKS 5, 392 / DRG, 115.  SKS 5, 408/ DRG, 134.

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lernen …“⁴³ Am anderen Ende der Gelegenheitsreden, im Vorwort, das als Paratext inhaltlich in alle drei Reden eingelassen ist, schreibt Kierkegaard: „Jeder tue das Seine, der Leser deshalb das Meiste. Die Bedeutung liegt in der Aneignung.“⁴⁴ Nicht nur exponiert sich Kierkegaard selbst als Leser beziehungsweise lesender Zuhörer seiner Reden, der sich an den Texten abarbeitet und entdeckt. Es wird zudem herausgehoben, dass Kierkegaard, wie jeder andere Leser der Reden, in einem Verhältnis zum Text steht. Dieses Verhältnis ist ein von Kierkegaard klar intendiertes: das Verhältnis zum Text soll ein aus eigenem Entschluss gefasstes Lernen sein.⁴⁵ Dabei wird Lernen als Aneignung begriffen.

Vermittelnde Instanz Das Lernen liegt nicht im Wissen, sondern in der konkreten Einübung des Gesagten zur Existenzanwendung, womit die durch Denken und Erfahrung bestimmte Aneignung gerade die Bedeutungsentfaltung des Textes ist. Der Text selbst nimmt dabei die Funktion einer vermittelnden Instanz ein und das in dreifacher Blickrichtung: Zunächst kann das im Text Gesagte nur über den Text erschlossen werden und so zur Existenzanwendung geraten. Die Existenzanwendung liegt dann darin, dass das Gesagte vom Leser auf ihn bezogen wird und somit eine Subjektivierung des Textes stattfindet. Die Anwendung des Gesagten auf sich lässt den Leser sich selbst in den Blick rücken. Das wird dadurch verstärkt, indem es in den Reden inhaltlich um das Selbst-Verhältnis vor Gott geht. Über das Verstehen des Inhalts und die Selbstanwendung des Gesagten besteht die Möglichkeit, dass der Leser zu einem Selbst-Verhältnis gelangt. Das Selbst-Verhältnis wird vom Text als eine dritte, vermittelnde Instanz ermöglicht. Das existenzielle Ziel, das Selbst-Verhältnis, ist also nicht allein von der Aktivität des Individuums, sondern auch von dessen Passivität gegenüber äußeren Bedingungen bestimmt (hier: der Text selbst). Schließlich wird diese aktiv-passive Ermöglichung des Selbst-Verhältnisses durch den systematischen Inhalt der Texte zugespitzt, indem das existenzielle Selbst-Verhältnis durch Gott als dritte Instanz bedingt ist. Sofern der Leser der Reden als lesender Zuhörer idealerweise mit höchster Konzentration und dem Willen zur Verinnerlichung des Gesagten an die Texte herangeht, besteht die Möglichkeit, dass er in ein Verhältnis zum Text kommt, das  SKS 5, 469/ DRG, 205.  SKS 5, 389/ DRG, 113.  In der Beichtrede schreibt Kierkegaard: „[E]r [der Leser, d.Vf.] folge der Rede, aber in Freiheit und Freiwilligkeit …“ (SKS 5, 397/ DRG, 121 (Hervorhebung d.Vf.)).

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ihn in eine vermittelte Innerlichkeit (Selbst-Verhältnis vor Gott) zu bringen vermag; in ein Verhältnis zum Text, das die existenzielle, gelebte Innerlichkeit ermöglicht, jedoch nicht dauerhaft sichern kann. Die Reden sind als vermittelnde Instanz nur der erste Schritt zu einer Existenz-Innerlichkeit, deren Unvermittelbarkeit darin besteht, dass sie erst dann ist, wenn es keiner äußeren Vermittlung mehr bedarf und die Innerlichkeit durch das Individuum selbst gelebt wird. In diesem Sinne besteht das aneignungstheoretische Ziel der Gelegenheitsreden darin, dieselben als Text zu überwinden. Frei nach Ludwig Wittgenstein gilt es, die „Leiter weg[zu]werfen“⁴⁶, also die mäeutische Hilfestellung hinter sich zu lassen, um zum Handeln zu gelangen, das durch das Verstehen bestimmt ist als auch – reziprok – das Verstehen bestimmt.⁴⁷

3.2.1.1.2 „… bei gedachten Gelegenheiten“ Es sind Reden „bei gedachten Gelegenheiten“.Was bedeutet hier Gelegenheit? Was wird mit dem Attribut gedacht betont? Was wird damit gesagt, dass es gedachte Gelegenheiten sind? Und was ist schließlich damit gemeint, dass es Reden bei gedachten Gelegenheiten sind?

Situation und Bereitschaft Kierkegaard beansprucht mit dem Begriff Gelegenheit zwei Bedeutungen. Die erste liegt offen da. Mit Gelegenheit ist eine bestimmte Situation gemeint, die anhand der Thematik der drei Reden in dreifacher Weise variiert: die Beichte, die Trauung, das Begräbnis.⁴⁸ Wichtig sind hierbei zwei Beobachtungen: Zum einen sind diese Situationen in einen kirchlichen Handlungsrahmen eingeschlossen. Deshalb ist es von der Oberflächenstruktur der Reden her gesehen ganz richtig, wenn Michael Bjergsø festhält, dass in ihnen die Thematik des Gottes-Verhältnisses „sozusagen eingeschrieben ist“.⁴⁹ Dabei ist es m. E. jedoch wichtig zu sehen, dass Kierkegaard das Gottes-Verhältnis nicht allein durch den kirchlichen Rahmen fokussiert,

 Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, Satz 6.54, S. 111.  Vergleiche bei Climacus: Kapitel 2.2.5.3.  Hierin liegt ein erster großer Unterschied zu den erbaulichen Reden, die (fast) alle – abgesehen von den Vier erbaulichen Reden 1844 – an bestimmte Bibelstellen geknüpft sind und deren Bedeutungen existenziell durchleuchten. Auch die Gelegenheitsreden verweisen in ihren Formulierungen immer wieder auf Bibelstellen, stellen diese aber nicht so stark in den Vordergrund. Die Gelegenheitsreden sind von vornherein an die konkrete Lebenswirklichkeit des Individuums geknüpft.  Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, S. 75.

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sondern die Bedeutung des Gottes-Verhältnisses in die konkrete Wirklichkeit einschreibt. Das Gottes-Verhältnis rückt in das Zentrum des Umgangs des Individuums mit der Wirklichkeit, sowohl im Sinne der äußeren Wirklichkeit (vgl. Trauungsrede) als auch im Sinne der existenziellen Wirklichkeit des Selbst-Verhältnisses (vgl. Beicht- und Grabrede). Andererseits gilt: Obwohl die bestimmten, zum Anlass der Reden dienenden Situationen sowohl in ihrem Ort (Kirche) als auch in ihrer zeitlichen Ausdehnung eingegrenzt sind, weisen sie, ausgehend von der in den Reden zur Sprache kommenden Thematik über diese Situationen hinaus.⁵⁰ Die Situationen der Beichte, der Trauung und des Begräbnisses sind lediglich Sinnbilder für das innerliche Existieren, das lebenslange Gelebtwerden des Selbst-Verhältnisses vor Gott. Gelegenheit bedeutet das eigene, auf Kontinuität gesetzte, religiöse Existieren. So ist es auch nicht der äußere Ort, um den es Kierkegaard existenziell als Verortung der Gelegenheit geht (also nicht die Kirche als Haus), sondern die Innerlichkeit.⁵¹ Die zweite Bedeutung von „Gelegenheit“ deutet Kierkegaard im Vorwort an, wenn er schreibt: „Unwissend von Zeit und Stunde wartet es [das Buch, d.Vf.] in der Stille, bis der richtige Leser wie ein Bräutigam kommt und die Gelegenheit mit sich bringt.“⁵² Soll die Gelegenheit „mitgebracht“ werden, so bedeutet Gelegen-

 Dies zeigt sich an folgenden Sachverhalten: a) Die Beichte, das persönliche „Bekenntnis der Sünde“ (SKS 5, 391, 414/ DRG, 114, 141), ist von Kierkegaard durch den Aspekt der „Treue“ zu Gott als ein dauerhaftes Verhältnis zu Gott qualifiziert (vgl. SKS 5, 415 f. / DRG, 143). b) In der Trauungsrede heißt es ganz konkret: „Denn die Sache selbst hat ihren Ernst, und wo dieser im Getrauten nicht da ist, da ist die Handlung herabgewürdigt, denn die Trauung ist kein zeitliches Ereignis [Begivenhed].“ (SKS 5, 421 / DRG, 149) Nicht nur wird der Ernst von Kierkegaard in den Reden als lebenslange Aufgabe des Selbst-Verhältnisses entfaltet, sondern vor allem wird das Schließen der Ehe vor und durch Gott nicht auf einen bestimmten Moment reduziert, sondern als lebenslange Trauung und damit als lebenslanges Verhältnis zu Gott gesehen. c) Am Ende der Grabrede charakterisiert Kierkegaard den Ernst dadurch, dass er eingeübt werden muss, indem der Tod zum „Lehrer für das ganze Leben“ (SKS 5, 469/ DRG, 205) wird. Ausgehend von der in der Grabrede entfalteten Dialektik zwischen Tod, Leben und Gottes-Verhältnis wird – wie in der Trauungsrede – das Verhältnis zu Gott für das gesamte Leben ins Zentrum des Existierens gerückt.  Dass es Kierkegaard nicht um den „äußeren Ort“ geht, wird in der Beichtrede betont: SKS 5, 397/ DRG, 121.  SKS 5, 389/ DRG, 113. Interessant an dieser Stelle ist auch, dass das Verhältnis von Buch und Leser durch eine Staffelung zentraler Termini charakterisiert wird und zwar in der Reihenfolge der Reden: Die Stille ist einer der zentralen Begriffe der Beichtrede, mit dem u. a. die Innerlichkeit als Gottes-Verhältnis bestimmt wird. Die Stille gilt es, vom Inhalt der Beichtrede her, vom Individuum existenziell freizulegen. Indem das Buch „in der Stille wartet“, gilt es auch, das Buch zu entdecken (und schließlich sich an dem Buch selbst zu entdecken).

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heit hier nicht nur die nötige Zeit und die Muße zum Lesen, sondern die Einstellung und Bereitschaft für das Buch. Das ist entscheidend, nicht nur im Verhältnis zwischen Leser und Text. Mit der Gelegenheit ist sowohl eine affektive als auch reflexive Bindung an den Gegenstand des Interesses impliziert. Wird dies existenziell gewendet und auf die vorhergehende Ausführung zur Gelegenheit bezogen, ist der Begriff der Gelegenheit von Kierkegaard sowohl als Voraussetzung (Bereitschaft) für die Innerlichkeit wie auch als existenzielles Ziel (Konkretion der Innerlichkeit) bestimmt.

Epistemologie Mit dem Attribut, dass die Gelegenheiten gedacht sind, rückt Kierkegaard das Denken in den Fokus der Betrachtung. Zunächst ist diesbezüglich zu beobachten, dass in allen drei Reden epistemologische Fragestellungen vorliegen: Am deutlichsten tritt die erkenntnistheoretische Perspektive in der Beichtrede hervor, in der es darum geht: „Was es heißt, Gott zu suchen“.⁵³ Es geht hierbei um die Frage: Wie kann Gott erkannt werden unter der Voraussetzung, dass Gott „das Unbekannte“⁵⁴ ist und somit nicht erkannt werden kann. Kierkegaard exerziert diese Frage in verschiedenen Variationen durch, vor allem anhand des zentralen Begriffs der Rede: der Verwunderung, die er als „Anfang allen tieferen Verstehens“⁵⁵ begreift. Im Verlauf der Rede weist er die erkenntnistheoretische Frage ab und wendet sie praxistheoretisch zu der Frage: Wie gelangt das Individuum in ein Gottes-Verhältnis und wie ist das Verhältnis zu dem „Unbekannten“ existenziell bestimmt? In der Trauungsrede wird die Frage nach dem Erkennen Gottes existenzdialektischer betrachtet. Dabei ist die Frage leitend: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Gottes-Verhältnis möglich ist? Die Bedingungen der Genese sind die „wirkliche Vorstellung vom Leben, sich selbst und Gott“.⁵⁶ Indem der Begriff der Vorstellung genannt ist, wird nicht das widerspruchsfreie Erkennen

Der Leser wird als Bräutigam bezeichnet, womit die Trauungsrede angezeigt ist. Die Aufgabe des Bräutigams liegt darin, freiwillig einen Bund einzugehen; hier: den Bund mit dem Buch (und schließlich den Bund mit einem anderen Menschen in der eigenen Existenz). Schließlich soll der sich bereitwillig hingebende Leser die Gelegenheit mitbringen. Zeigt der Begriff der Gelegenheit hier auf die Grabrede, so ist ausgehend von dem in ihr dargelegten Denken mit „Gelegenheit“ das eigene Leben gemeint (das für das religiöse Existieren genutzt werden soll).  SKS 5, 396/ DRG, 120.  SKS 5, 399/ DRG, 123.  SKS 5, 404 / DRG, 129.  Vgl. SKS 5, 427, 437/ DRG, 156, 167.

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(objektive Gewissheit), sondern vielmehr das subjektive Verstehen herausgehoben und das wiederum nicht als resultatives Wissen, sondern als ein Einüben (Aneignung). Die im Denken verortete Vorstellung ist die handlungsleitende Prämisse, deren Bedeutung es ist, dass sie vom Individuum existenziell erarbeitet wird. Schließlich kehrt Kierkegaard in der Grabrede zurück zu einer erkenntnistheoretischen Frage: Kann der Tod verstanden werden und wenn ja, wie kann er verstanden werden? Diese Frage spitzt Kierkegaard unter existenziellen Vorzeichen zu, wenn er schreibt: „Sich selbst tot zu denken ist der Ernst …“⁵⁷ „Der Ernst ist, dass es der Tod ist, den du denkst …“⁵⁸ Jedoch beansprucht Kierkegaard hierbei keineswegs, dass der Tod – verstanden als (ontologisiertes) Nichts – gedacht werden soll, was unweigerlich in Aporien führen würde. Und doch gehört es zur Dialektik der Rede, dass das Individuum in der Grabrede durch aporetisches Denken in die eigene Innerlichkeit gelangt. Einerseits geht es ihm bei aller Todesreflexion wie in der Beichtrede darum, dass der (eigene) Tod als das Nichts ebenso wenig wie Gott als das Ewige gedacht werden kann, und andererseits wie in der Trauungsrede auch darum, dass die Vorstellung – hier: die Vorstellung, nicht mehr auf der Welt zu sein – handlungsleitend wird. Daraus lässt sich vorerst schließen, dass die epistemologischen Fragen, die Kierkegaard in den Reden aufwirft – das Erkennen Gottes, des Lebens, des Selbst und des Todes – immer im Rahmen einer existenziellen Verhältnishaftigkeit betrachtet werden; und dass diese Rahmensetzung nicht nach einer philosophieanalytischen Antwort verlangt, es demnach nicht um objektives Wissen geht, sondern vielmehr darum, wie mit dem, was nicht erkannt werden kann, aber von essenzieller Bedeutung für die eigene Existenz ist, umgegangen wird. Es geht Kierkegaard um die Bedeutung des Erkennens und Verstehens für das Existieren, weil das Verstehen dessen, das nicht verstanden werden kann, gerade im lebendigen Umgang mit diesem liegt.

Reflexionsphänomenologie Als Zweites tritt das Denken in einer schon von Climacus her bekannten Weise in den Blick: in der Perspektive einer reflexionsphänomenologischen Betrachtung. Kierkegaard geht es in den Reden um Erscheinungen und Bewegungen des Bewusstseins und wie diese Erscheinungen und Bewegungen im Verhältnis zum Existieren stehen.

 SKS 5, 445/ DRG, 177.  SKS 5, 446/ DRG, 178.

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Auch hier gibt die Beichtrede den Ton an. In ihr werden verschiedene Bewusstseinsverhältnisse unter der Prämisse des Gottes-Verhältnisses betrachtet: das Wünschen, das Streben, das Wissen, die Verzweiflung, die Verwunderung und die Sorge. Kierkegaard beginnt mit wesentlich defizitären Erscheinungen, destruiert diese und gelangt im Lauf der Rede schließlich zu den religiös-existenziell relevanten Bewusstseinserscheinungen, deren Bedeutung in der permanenten Bewegung und somit wie bei Climacus in einem kontinuierlichen Verhältnis zu Gott liegt. In der Trauungsrede wie auch in der Grabrede (jedoch schon am Ende der Beichtrede eingeführt) tritt der Ernst in den Vordergrund und mit ihm die religiöse Innerlichkeit als Selbst-Verhältnis vor Gott. Der Ernst ist in beiden Reden, ebenso wie bei Climcaus die Innerlichkeit, durch Leidenschaft bestimmt. Denn zu ihm gehört der Begriff der Begeisterung. Gleichfalls ist er eine existenzielle Reflexionsbestimmung. Im Wesentlichen zeichnet sich der Ernst dann durch drei Bestimmungen aus: Er ist ein selbst-reflexives Verhältnis des Individuums (jedoch immer in einem Verhältnis zu etwas Drittem, das in Anbetracht der Trauungs- und Grabrede in vierfacher Form auftritt: Liebe, Leben, Tod, Gott). Gleichfalls ist der Ernst Einübung und somit die Vertiefung des Individuums in den Geist. Dadurch ist er transitiv als Prozess, als nicht-endende Bewusstseinsbewegung zu verstehen.⁵⁹ In allen drei Reden ist Kierkegaard schließlich darum bemüht, eine Phänomenologie des Bewusstseins zu entfalten, durch die defizitäre, dem religiösen Existieren inadäquate Bewusstseinsbestimmungen ausgesondert werden können.⁶⁰ Das Entscheidende ist hierbei, dass sämtliche Bewusstseinsphänomene  Existenzielles Selbst-Verhältnis, Aneignung und Prozessualität kennzeichnen den Ernst in den Gelegenheitsreden. Dies sind alles systematische Bestimmungen der Innerlichkeit bei Climacus und Vigilius, wobei bei letzterem hinzukommt, dass der Ernst gerade die Innerlichkeit ist.  Zu nennen wären hier unter anderen die vom Individuum religiös-existenziell abzulegenden Praxisbestimmungen des Wünschens, der Einbildung und des Aufschiebens. Demgegenüber stehen unter anderen die zu realisierenden Phänomene der Aufrichtigkeit, der Dankbarkeit und des Ernstes. Entscheidend scheint mir aus methodologischer Sicht zu sein, dass Kierkegaards Primat, nämliche eine Eröffnung der Möglichkeit der Selbst-Erschließung des Lesers zu forcieren, geradezu eine an die Lebenswelt gebundene Phänomenologie emotionaler und sozialer Zustände fordert, um durch deren Beschreibung den Weg zu erschließen, den der Leser gehen soll. Bei Climacus heißt es dementsprechend zum „religiösen Vortrag“ (auch: einer erbaulichen Rede): „Wesentlich hält er alle Menschen, an die er sich wendet, für Irrende, er weiß über jeden Abweg der Verirrung Bescheid, kennt jeden Schlupfwinkel, jeden Zustand des Irrenden auf dem Weg der Verirrung.“ (SKS 7, 380 (Anm. 1) / DUN, 596 (Anm. 7)) Über die Phänomenologie der Lebenswelt – und deren inhärenten Aussonderung von religiositätsentfremdenden Phänomenen – wird der rechte Weg gewiesen, der im religiösen Sinne zu einer idealgebundenen Lebensgestaltung führt, weshalb Climacus kurz zuvor schreibt, dass der „religiöse Vortrag … wesentlich als Zwischenglied zwischen dem Individuum und dem Ideal … wirk[t]“, um „dem Individuum behilflich zu sein, das

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immer im Rahmen der Existenzdialektik gedacht und betrachtet werden; dass sie immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Denken und Sein verortet sind. Die defizitären Bewusstseinsphänomene sind solche, die in einer irgendwie gearteten Weise ein, wie Kierkegaard es selbst nennt, „gebrochenes Verhältnis“⁶¹ zum Gegenstand des Interesses (Gott, Selbst, Leben etc.) darstellen, während ihre Gegenphänomene solche sind, die das Verhältnis zwischen Leben, Selbst und Gott ausdrücken und die eigene Existenz innerhalb dieser drei Pole als einen vom Individuum zu beschreitenden Weg beschreiben. Kierkegaard geht es in seiner Phänomenologie nicht um reine Bestimmungen des Bewusstseins, sondern um Bestimmungen der Existenzbewältigung. – In diesem Sinne ist das Denken in den Reden immer eingebettet in das Gelebtwerden des Denkens und damit als Handeln im Sinne des climacischen Darin-Existierens zu verstehen.⁶²

Wirklichkeit und Möglichkeit Was bedeutet es, dass es Reden bei gedachten Gelegenheiten sind? Zu fragen wäre, warum Kierkegaard die Reden nicht beispielsweise Reden bei „religiösen Gelegenheiten“ nennt, zumal sie in kirchlichem Rahmen verortet sind und es in ihnen um das Gottes-Verhältnis geht und sie dadurch auf den ersten Blick auch eine größere Nähe zu den „Erbaulichen Reden“ hätten.⁶³ Denkbar wäre auch, dass er sie als Reden bei „wirklichen Gelegenheiten“ genannt hätte, was ihre Verbindung zur Existenzwirklichkeit, wenn auch ohne Textkenntnis immer noch subtil, so doch gleichsam sehr deutlich zum Vorschein treten ließe. Warum also „gedachte Gelegenheiten“? Was Kierkegaard auf keinen Fall meint, ist, dass das Attribut „gedacht“ im Sinne von ausgedacht zu verstehen wäre und es somit um rein fiktive Situationen ginge. Vielmehr beansprucht er mit den „gedachten Gelegenheiten“ eine

Ideal auszudrücken.“ (Ebd.) Die Funktion des Textes/Vortrags liegt also durch seine phänomenologische Aufgabe des Aufzeigens in der Mäeutik („Zwischenglied“) und damit, wie oben betont, in der vermittelnden Instanziierung des Anfangens zwischen dem Individuum und dem idealgebundenen Lebensweg, was schließlich im existenziellen Sinne bedeutet, das Selbst-Verhältnis vor Gott (Innerlichkeit) freizulegen.  SKS 5, 400/ DRG, 125.  Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  Hierbei muss betont werden, dass der Titel „religiöse Gelegenheiten“ eine de-mäeutisierende Funktion hätte. Denn es geht gerade darum, dass das Individuum seine Religiosität aus sich selbst heraus erkennt und freilegt. Die Texte geben nur Hilfestellungen. Nur dann gelingt Aneignung – und zwar im Sinne einer ins Leben übersetzenden Transformation des Denkens –, wenn sie nicht forciert und intendiert erzwungen wird, sondern aus Interesse und aus freier Wahl des Rezipienten geschieht.

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konkrete Wirklichkeitsrelevanz. Jedoch ist mit der Zusammensetzung von Denken („gedacht“) und Wirklichkeit („Gelegenheit“) ein hochproblematisches Verhältnis in der Philosophie Kierkegaards angesprochen. Hierfür ist in Erinnerung zu rufen, was Climacus im Wirklichkeitskapitel der Unwissenschaftlichen Nachschrift zum Verhältnis von Denken und Wirklichkeit schreibt:⁶⁴ „[D]as Denken nimmt gerade … das Dasein vom Wirklichen weg …, durch seine Übersetzung in die Möglichkeit.“⁶⁵ Alles Denken ist die Übersetzung des Konkreten, des Wirklichen und Faktischen in die Abstraktion. Wird das Abstrakte (das Gedachte) in ein Verhältnis zum Existieren gesetzt beziehungsweise ist das, was gedacht wird, existenzrelevant, beispielsweise ein Selbst-Verhältnis einzugehen, so offeriert das Denken einzig die Möglichkeit, etwas zu tun. Deshalb schreibt Climacus: „Wenn ich etwas denke, was ich tun will, aber noch nicht getan habe, so ist das Gedachte, wie genau es auch sei, wenn man es auch noch so sehr eine gedachte Wirklichkeit nennen kann, eine Möglichkeit.“⁶⁶ Im Denken bleibt das Individuum vor der Verwirklichung der Möglichkeit stehen und verharrt in einem antizipierten Ergebnis. Was hat dies mit den „gedachten Gelegenheiten“ zu tun? Kierkegaard legt offen, dass es sich bei den Reden um ein kompliziertes Geflecht von Wirklichkeit (Gelegenheit) und Möglichkeit (Denken) handelt. Von Climacus her ist eine gedachte Wirklichkeit das Ausdenken beziehungsweise die Vorstellung so oder so zu handeln, eine Möglichkeit. Auf die Reden kann dies allgemeiner übertragen werden: indem sie von gedachten Gelegenheiten handeln, handeln sie von gedachter Wirklichkeit und damit von Möglichkeit, genauer noch: von möglicher Wirklichkeit. Darin liegen wesentlich vier Deutungsebenen. 1. Zunächst sind die Situationen der Beichte, der Trauung und des Begräbnisses und der durch sie ausgeführten Existenzwirklichkeit (Selbst-Verhältnis vor Gott) durch einen Text repräsentiert. Sie stellen keine faktische, direkt erlebte Wirklichkeit dar. Das Dargestellte ist Gedachtes, dem sich anhand des Textes nur lesend und denkend genähert werden kann, wodurch der Leser zuerst einzig ein Verhältnis zum Inhalt der Texte eingeht, das im Rahmen von Abstraktion, im Denken verbleibt. Das schließt einerseits die Möglichkeit ein, dass auch ein Leser, der keine Erfahrung mit den in den Reden angesprochenen Situationen hat, ein Verhältnis zu diesen Situationen gewinnen kann; andererseits, dass selbst ein Leser, der Erfahrungen mit den präsentierten Situationen hat, in ein ungewohntes Verhältnis zu ihnen treten kann. In diesem Sinne eröffnet Kierkegaard durch

 Vgl. Kapitel 2.2.4.1.  SKS 7, 289/ DUN, 479.  SKS 7, 292 / DUN, 483.

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Imagination einem breit angelegten Publikum eine mögliche Wirklichkeit, entweder überhaupt auf die Möglichkeit einer religiösen Existenz zu stoßen oder zu ihr ein neues Verhältnis zu gewinnen. Der Titel „gedachte Gelegenheiten“ ist insofern strategisch gut gewählt, weil er eine breitangelegte Aneignungsabsicht gegenüber einer Leserselektion forciert. 2. Kierkegaard beansprucht, indem die Reden von möglicher Wirklichkeit handeln, keinen Realitätsanspruch in dem Sinne, dass die durch die Reden eröffnete Existenzwirklichkeit so und nicht anders zu realisieren wäre. Er präsentiert Wirklichkeit als Entwurf einer Wirklichkeit, die als gelebte Wirklichkeit individuell ausgeformt ist. In der Beichtrede schreibt er dementsprechend: „[E]s ist so, dass es [das Wesentliche, Anm. d.Verf.] jeder ein wenig unterschiedlich und auf seine Weise versteht. … [E]s ist so, dass es viele verschiedene Wege gibt, die zu der einen Wahrheit führen, und jeder geht seinen.“⁶⁷ Denn, so relativiert Kierkegaard seine eigenen Texte ganz konkret: „[D]er Wert einer Betrachtung ist immer zweifelhaft; sie kann einem manchmal helfen das Entscheidende zu finden, manchmal aber auch verhindern …“⁶⁸ Es geht Kierkegaard nicht darum, das er eine letztgültige Existenzbeschreibung präsentiert, sondern allein darum, eine auf basale Phänomene beruhende Existenzbeschreibung zu geben, deren Realisation durch das Individuum selbst in Erfahrung zu bringen ist; was zugleich bedeutet, dass er das Religiöse, um dessen existenzielle Realisation es schließlich gehen soll, eng an das eigene Erleben knüpft. Das führt zu folgendem Sachverhalt: 3. Der Begriff Wirklichkeit meint keine realisierte Wirklichkeit. Sie ist von Kierkegaard bereitgestellte, potenzielle Wirklichkeit, die aus ihrer Möglichkeit vom Leser in Wirklichkeit übersetzt werden muss, damit überhaupt von existenzieller Wirklichkeit gesprochen werden kann. In diesem Sinne handeln die Reden zwar von Wirklichkeit, deren „gedachte Gelegenheiten“ jedoch zu wirklichen Gelegenheiten für den Leser werden sollen. Dass von gedachten Gelegenheiten und somit von möglicher Wirklichkeit gesprochen wird, wobei die Möglichkeit dem Substantiv Wirklichkeit attributiv vorgelagert ist, zeigt, dass die Wirklichkeit als Möglichkeit im Denken erfasst werden soll, es aber auf die Realisation der Wirklichkeit ankommt. Es gilt, das Denken zugunsten des Handelns zu überwinden beziehungsweise ein in das Handeln implementiertes Denken zu erreichen. Nicht umsonst spricht Kierkegaard unter anderem in der Schlusspassage der Beichtrede länger vom „es tun zu können“.⁶⁹ Kierkegaard gibt mit „gedachten Gelegenheiten“ nicht nur eine subtile Umschreibung der Existenz als Reflexi-

 SKS 5, 416/ DRG, 144.  SKS 5, 397/ DRG, 120.  SKS 5, 416/ DRG, 144.

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onsvollzug und Lebensgestaltung (Sich-zu-sich-Verhalten), sondern er impliziert die existenzielle Dimension der eigenen Lebensgestaltung, die darin besteht, dass die in den Reden präsentierte Wirklichkeit als die eigene Möglichkeit erkannt wird, um sie in gelebte Wirklichkeit zu übersetzen. 4. Mit den gedachten Gelegenheiten wird ein noch ausstehendes Existieren betont, das erst noch realisiert werden muss. Die so verstandenen, gedachten Gelegenheiten (Existenz) dann so ins Denken zu implementieren, dass sie handlungsleitend werden, gelingt aber nur, wenn das, was die Reden darlegen, das Individuum auch etwas angeht. ⁷⁰ Werden die Reden dann aber nicht zu philosophisch irrelevanten Beschreibungen, die durch biographische Umstände oder subjektiv-persönliches Interesse bestimmt sind? Ein Blick ins Vorwort gibt Klärung: „Es [das Buch, d.Vf.] sucht jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dankbarkeit meinen Leser nenne, oder es sucht ihn nicht einmal. Unwissend von Zeit und Stunde wartet es in der Stille …“⁷¹ Entscheidend ist, dass Kierkegaard, nachdem er sagt, dass sich das Buch an den einzelnen (und implizit: interessierten) Leser wendet, hinzufügt, dass es diesen Leser nicht einmal sucht, sondern fernab aller zeitlichen Qualifizierung in der Stille wartet, also der menschlichen Existenz konstitutiv zugehört, ohne dass es eine bessere oder weniger geeignete historische oder persönlich-geschichtliche Zeit für den Inhalt des Buches gäbe. Die Spannung, die sich damit auftut, ist die zwischen Einzelnem und Allgemeinem, persönlicher Existenz und conditio humana. Was die Reden beschreiben, ist in jedem Menschen angelegt, es muss jedoch freigelegt (entdeckt) werden, und es kann nur durch das Individuum, durch das Abarbeiten am Text und letztlich allein durch die Reflexion der eigenen Person und des eigenen Lebens freigelegt werden (was die Reden gerade vorführen). Dies erinnert nicht nur an Climacus, sondern ist auch in seinem Sinne zu verstehen: der Mensch ist ein Inter-esse, dessen Ewigkeitsbezug immer schon da ist, das Gottes-Verhältnis demnach potenziell in jedem Menschen angelegt ist, nur liegt es durch routiniertes und konventionalisiertes Alltagsleben verborgen.⁷² Deshalb „warten“ die Reden auf Entdeckung, „unwissend von der Zeit“ und damit immer aktuell und relevant in der „Stille“, im Individuum. So ist die existenzielle Wirklichkeit immer schon als strukturell-religiös zu begreifen. Davon ausgehend und in Anbetracht der existenzdialektischen Aufgabe, sich selbst durch den Text hindurch zu entdecken (die Aufgabe der Aneignung), sind die „gedachten Gelegenheiten“ die eigene, konkret realisierbare Möglichkeit der Wirklichkeit; sind zu verwirklichendes und angelegtes religiöses

 Systematisch wird dies durch den climacischen Begriff des Interesses abgedeckt.  SKS 5, 389/ DRG, 113.  Vgl. Kapitel 2.3.1 und 2.3.2.3.1.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Existieren⁷³ und damit schließlich Ausdruck einer Anthropologie unter dem Blickwinkel religiöser Lebensbetrachtung.

Anleitung Damit bleibt zum Abschluss noch die Frage, warum es Reden bei gedachten Gelegenheiten sind? Das „bei“ mit „während“ zu übersetzen, trifft die Sache nicht recht, denn sowohl die Trauungsrede als auch die Grabrede setzen dort ein, wo die pastoralen Reden des „vollmächtigen“ Pfarrers enden. Die Beichtrede hingegen schließt eigentlich gar nicht an die Situation der Beichte an, sondern nimmt den Ort der Kirche tatsächlich nur zum „Anlass“, um eingehend über ein Gottes-Verhältnis und dessen lebenslange Praxis nachzudenken. Ja, allgemein kann gesagt werden, dass die jeweilige kirchliche Situation lediglich der Anlass ist, um über die religiöse Existenz und deren Verhältnis zum individuellen Selbst-Verhältnis nachzudenken. In diesem Sinne ist das „bei“ mit „für“ zu übersetzen. Es sind Reden für die religiöse Existenz, Reden, durch die das Individuum zur Innerlichkeit angeleitet werden soll.⁷⁴

3.2.1.2 Bemerkungen zum Verhältnis der drei Reden zueinander Wenn überhaupt, so werden die Gelegenheitsreden in der Sekundärliteratur einzeln betrachtet.⁷⁵ Das hat seine Berechtigung, denn jede der drei Reden ist ein

 Dass die 1847 veröffentlichte Gelegenheitsrede (Erbauliche Reden in verschiedenem Geist; 1. Abteilung) ohne das Attribut „gedacht“ auskommt, ist sehr aufschlussreich und zeigt den in diesen Reden vorgenommenen Perspektivwechsel Kierkegaards zum christlich-religiösen Existieren an. Indem die erste Rede lediglich eine „Gelegenheitsrede“ ist, geht es in ihr nicht mehr um das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, sondern allein um Wirklichkeit. Der Fokus wird verengt auf das Handeln. Es geht weniger um das Hineinkommen in das Existieren, sondern um den Imperativ der Umsetzung. In diesem Sinne ist die Gelegenheitsrede (1847) von ihrem Titel her und der sich damit ergebenden Implikation philosophisch undifferenzierter, was freilich nicht auf ihren Inhalt übertragen werden darf. Zumindest zeigt sich aber schon durch den Titel, dass Kierkegaard eine Zuspitzung vornimmt, die schließlich in der 3. Abteilung der Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist, dem Evangelium der Leiden, in den unbedingten Gehorsam (konkretes Handeln) gegenüber Christus mündet (dazu: Furchert, Das Leiden fassen, S. 321– 326).  Soll nach dieser Analyse des Titels eine systematische Übersetzung vorgelegt werden, so sind die „Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten“ drei existenzdialektische Vermittlungen für die konkret-mögliche Wirklichkeit religiösen Existierens.  Die einzige mir bekannte Ausnahme ist: Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, Kap. 3, S. 75 – 107.

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mehr oder minder in sich geschlossener Text, der als solcher seine eigenen inhaltlichen Schwerpunkte besitzt, die beachtet werden müssen. Dass auch dabei zu erhellenden Ergebnissen gelangt werden kann, zeigt die vielfältige Rezeption der Grabrede. Schneidet man aber die Grabrede von den zwei vorhergehenden ab, so gehen wichtige Verständnisebenen verloren, was umgekehrt auch für die beiden anderen Reden gilt. Erst im Gesamtzusammenhang als aufeinander bezogenes, einheitliches Werk entfalten die drei Reden ihr eigentliches Anliegen: die Innerlichkeit als Existenzvollzug vor anthropologischer Bedingung. Mit der folgenden kurzen Betrachtung der formalen und inhaltlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten können nicht nur thematische Zuspitzungen herausgearbeitet werden, sondern es ist später möglich, in die Einzeldiskussion der Reden hineinzugehen und bei der Konkretisierung der Innerlichkeitskonzeption deren innere Verwobenheit unkompliziert zu markieren. Ausgehend von formalen Gestaltungsmerkmalen und den sich an ihnen zeigenden Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Reden werden im Folgenden sämtliche Verhältnisvariationen zwischen den Reden in den Blick genommen.⁷⁶ Eine klare Trennung zwischen einzelnen Verhältnisbetrachtungen ist nicht immer eindeutig möglich, weshalb der Zugang über formale Ähnlichkeiten und Unterschiede (die Länge, der Aufbau und die Titel der Reden) erfolgt. Hierbei liegt nicht der Anspruch vor, sämtliche formalen wie inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede darzustellen und auszuloten, sondern durch sinnvolle Auswahl ein möglichst komplexes Bild zu zeichnen.

Trauungsrede: Innerlichkeit als Zentrum der Betrachtung Zunächst fällt auf, dass die drei Reden unterschiedlich lang sind; dass die erste und letzte Rede exakt gleich lang sind, während die mittlere Rede kürzer ist. Die Beicht- und Grabrede haben jeweils eine Länge von 27 (SKS) beziehungsweise 32 (GW) Seiten (womit beide die längsten Reden zwischen 1843 und 1845 sind), während die Trauungsrede 22 (SKS) beziehungsweise 25 (GW) Seiten lang ist. Was sagt das über das Verhältnis der Reden aus? Einerseits steht die Trauungsrede nicht nur der sequenziellen Anordnung nach in der Mitte, sondern wird auch von der ersten und dritten Rede eingerahmt. Sie bildet das Zentrum und den Fluchtpunkt, auf den Kierkegaard abzielt. Stellt man sich das Verhältnis zwischen den Reden als ein gerahmtes Bild vor, so ist es

 Die einzelnen Verhältnisse werden wesentlich in folgender Reihenfolge betrachtet (B= Beichtrede; T = Trauungsrede; G = Grabrede): T→B/G; T↔G; B↔G; B↔T; G→B/T. Das Verhältnis B→T/G wird nur angedeutet, aber in der Einzeldiskussion der Reden genauer herausgestellt.

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auffällig, dass dem Rahmen selbst eine hohe Bedeutung beigemessen wird (durch die Länge der beiden Reden). Die Beicht- und Grabrede geben der Trauungsrede dabei nicht nur eine Kontur, sondern machen sie durchlässig für das, was nicht in ihr gesagt wird. Das Bild wird sozusagen durch den Rahmen erweitert, der zum Bild gehört. Zugleich ist aber der Rahmen ohne Zweck, wenn es kein Bild gibt. Dieses dialektische Verhältnis zwischen Trauungsrede und den beiden anderen Reden kann auch so beschrieben werden, dass all das, was in der ersten und letzten Rede gesagt wird, von der Trauungsrede pointiert wird, während diese von dem Inhalt der sie umgebenden Reden durchdrungen und akzentuiert wird. In dieser Beobachtung liegt für die Auseinandersetzung mit der Innerlichkeit ein entscheidender Punkt: In der Trauungsrede gibt Kierkegaard die Bedingungen für den „Entschluss“ an, der wiederum eine Bedingung für ein Gottes-Verhältnis des Individuums ist. Die Bedingungen des Entschlusses sind die wirkliche Vorstellung vom Leben, sich selbst und Gott. Um die rechte Vorstellung vom Leben geht es nicht nur in der Trauungsrede, sondern vor allem in der Grabrede, in der das Verhältnis von Leben und Tod und die Bedeutung des Todes für das Leben herausgearbeitet werden.Von der rechten Vorstellung von Gott handelt von allen drei Reden am stärksten die Beichtrede. Mit der in der Anordnung der drei Bedingungen (des Entschlusses) mittig stehenden Vorstellung des Individuums ist das Selbst-Verhältnis angesprochen. Obwohl dasselbe in allen drei Reden präsent ist, wird die Selbst-Thematik vor allem in der Trauungsrede ausgeführt. Das Besondere ist nun, wo die Selbst-Thematik in der Trauungsrede angesprochen wird: nämlich in der Mitte der Rede und somit im Zentrum aller drei Reden. Entscheidend ist dabei, dass dies die einzige Stelle in allen drei Reden ist, wo Kierkegaard von Innerlichkeit (Inderlighed ⁷⁷) spricht (und nicht nur das Adjektiv „innerlich“ verwendet) und diese explizit mit der Selbst-Thematik in Verbindung gebracht wird. Nicht nur bildet die Innerlichkeit und mit ihr die SelbstThematik das Zentrum der Reden, sondern zu diesem Zentrum gehören, in der Trauungsrede unmittelbar angrenzend beziehungsweise durch die umliegenden Reden mittelbar zugehörig, die Problematik des existenziellen Verhältnisses zum Leben und zu Gott. Betont werden muss hierbei, dass es in der Trauungsrede schließlich um die Innerlichkeit als weltbezogene Praxis geht. Dies zeigt, wie bei Climacus anhand der „Milde“, dass die Innerlichkeit eine Lebensgestaltung darstellt, die ihre eigene (von Kierkegaard systematisch forcierte) „Verborgenheit“ aufsprengt. Thematisches Zentrum der drei Reden ist also nicht die existenzielle Isolation und Distanz, sondern die Verbundenheit des Individuums zur Welt.

 Vgl. SKS 5, 433/ DRG, 163.

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Trauungs- und Grabrede: Leben – als Aufgabe Die Sonderstellung der Trauungsrede zeigt sich auch in der Gestaltung des Aufbaus.⁷⁸ Die Trauungsrede ist die Rede, die ohne eine ausführliche Schlusspassage auskommt. Zwar besitzt sie eine, durch eine Leerzeile abgesetzte, kurze Koda, aber dieser Anhang wirkt weniger wie ein Schluss, sondern dient eher dem einheitlichen Gestaltungsmuster sämtlicher Reden, die immer mit einer stimmungsvollen Passage enden. Dass die Trauungsrede nur eine kurze Koda besitzt, lässt die Rede fast abrupt enden, direkt nach dem Hauptteil, dort, wo die Reflexion und Darstellung der Rede am stärksten ist. Entscheidend ist, dass nach diesem starken Schnitt die Grabrede beginnt. Die Trauungsrede geht sozusagen in die Grabrede über, die leitthematisch das in der Trauungsrede in den Vordergrund rückende Thema des Todes aufnimmt, ohne dass sie eine Fortsetzung des in der Trauungsrede Gesagten wäre. Inhaltlich lassen sich nun folgende Beobachtungen zum Verhältnis von Trauungs- und Grabrede anschließen: Zum einen der Übergang der Trauungsrede zur Grabrede. Die Trauungsrede endet mit einem Plädoyer dafür, dass Entscheidungen in der Jugend gefasst werden sollen. Abgesehen von den entwicklungspsychologischen Implikationen und Kierkegaards indirekten Betrachtungen zu Adoleszenz und Orientierungssuche ist es wichtig, dass er die Jugend hervorhebt als den Lebensabschnitt, in dem der Mensch beginnt, Entscheidungen zu treffen und seine Entscheidungsfreiheit in Anspruch nimmt, um damit sein Leben zu gestalten. Am Ende der Trauungsrede wird also auf komplexe Weise das existenzielle Anfangen herausgehoben. Unmittelbar danach, am Anfang der Grabrede, beginnt Kierkegaard mit dem Ende des Lebens, wenn er dem Leser zuruft: „So ist es denn vorbei!“⁷⁹ Mit diesem Übergang zwischen dem Ende der Trauungs- und dem Beginn der Grabrede wird von Kierkegaard also eine thematische Klammer gesetzt: Anfang und Ende, Natalität (existenzieller Entschluss) und Sterben. Das gesamte Leben – und zwar im Sinne des Existierens als bewusst gelebter Lebensvollzug – rückt von seinen Grenzen her in den Blick. Das, was vom Ende der Trauungsrede und dem Anfang der Grabrede eingeklammert wird, ist zwiefach zu sehen. Zum einen ist es auf textlicher Ebene der Übergang und Wechsel der einen zur anderen Rede; auf inhaltlicher Ebene ist es das (wirkliche) Leben (Existieren), das mit dem Entschluss beginnt und mit dem Tod endet. Auf textlicher Ebene sind der Übergang und Wechsel eine Leerstelle, so auch auf inhaltlicher Ebene. Zwar wird das Leben in beiden Reden ausgiebig

 Der Aufbau und die Gliederung werden jeweils dem Beginn der Diskussion der einzelnen Reden vorangestellt.  SKS 5, 442 / DRG, 173.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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betrachtet, aber in diesen Reflexionen und Beobachtungen geht es immer um das reflexive Verhältnis des Individuums zum eigenen Leben als religiöse Existenz. Es geht nicht um Erklärungen, wie das Leben richtig zu leben wäre (was in der Grabrede selbst wiederum Thema ist⁸⁰), sondern um die Vorbereitung einer selbstgewählten Lebensgestaltung. In diesem Sinne bleibt das Leben inhaltlich eine Leerstelle. Und diese Leerstelle muss vom Leser/Individuum durch die eigene Lebensgestaltung selbst gefüllt werden. Der Übergang, Wechsel und Bruch der einen zur anderen Rede ist somit als textliche Leerestelle ein unter dem existenzdialektischen Primat der Aneignung forciertes Bild für die inhaltliche und gleichfalls existenzielle Aufgabe der Ausfüllung des Lebens mit Innerlichkeit. In beiden Reden geht es schließlich um den Ernst. In der Trauungsrede ist es besonders die mittlere Passage, in der der Ernst eingeführt und in ein Verhältnis zu Leben und Selbst und schließlich, mit einigem Abstand (zehn Seiten später), auch zu Gott gestellt wird. Die Grabrede nimmt diese Besprechung des Ernstes inhaltlich auf, führt sie weiter und verdichtet sie zu einer Lebensanschauung. Die hohe Anschlussfähigkeit der Trauungs- und Grabrede durch die Thematik des Ernstes ist aber erst dadurch wirklich von inhaltlichem Interesse, wenn beachtet wird, dass beide Reden den Ernst aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Beide Perspektiven ergeben ein vollständiges Bild des Ernstes und schließlich auch des innerlich-religiösen Existierens.Während in der Trauungsrede vom „Entschluss“⁸¹ des Individuums gesprochen wird, wird in der Grabrede von der „Entscheidung des Todes“⁸² gesprochen. Mit dem Entschluss (Beslutning) gehen die Konnotationen des Wählens und damit eine aktive, selbst getroffene Entscheidung einher. In der Grabrede verwendet Kierkegaard für den deutschen Begriff Entscheidung hingegen das Substantiv Afgjørelse, bei dem mehr die Konnotation des Bestimmtseins im Vordergrund steht. Da Kierkegaard ganz bewusst nicht von der Entscheidung des Individuums, sondern von der „Entscheidung des Todes“ spricht, geht es darum, wie das Individuum und sein Leben vom Tod bestimmt werden. Während die Trauungsrede die Aktivität betont, hebt die Grabrede die Passivität und das Ausgesetztsein des Menschen an bestimmte anthropologische Bedingungen ins Zentrum der Betrachtung.⁸³ Erst in dieser Spannung zwischen Passivität und Aktivität und der durch beide Reden entfalteten Dialektik zwischen

   

Vgl. SKS 5, 461, 464 f. / DRG, 196, 200 f. SKS 5, 422 / DRG, 150. SKS 5, 447/ DRG, 179. Anzumerken ist, dass in beiden Reden Aktivität und Passivität dialektisch verwoben sind.

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Entschluss und Entschiedenwerden, sind sowohl der Ernst als auch das religiöse Existieren umfassend zu begreifen.⁸⁴

Beicht- und Grabrede: Gott und Leben Was die Trauungsrede formal von der Beicht- und Grabrede unterscheidet, ist die Gemeinsamkeit der beiden letzteren Reden. Deren gleiche Länge zeigt, dass Kierkegaard sowohl das Gottes-Verhältnis (Beichtrede) als auch das Verhältnis zum Leben (Grabrede) nicht nur gleich gewichtet, sondern dass das Gottes-Verhältnis nicht ohne ein Verhältnis zum eigenen Leben begriffen werden kann, was in den Gelegenheitsreden zugleich auch umgekehrt gilt. Die Trauungsrede führt dieses dialektische Verhältnis zusammen, indem in ihr das Verhältnis zu Gott als das wirkliche Verhältnis zum Leben dargestellt wird. Dabei ist für die Grabrede auffällig, dass das Gottes-Verhältnis eigentlich nur am Rande thematisiert wird, jedoch im Aufbau der Rede zentral gestellt ist, in der Mitte der Rede. Um dieses Zentrum kreisen sämtliche Reflexionen der Rede, was die Grabrede – und das kann nicht genug betont werden – mit der Beichtrede verbindet, die sich ausschließlich auf Reflexionen zum Gottes-Verhältnis konzentriert. In diesem Sinne können die Ausführungen der Grabrede nicht von den Ausführungen der Beichtrede abgekoppelt werden, sondern werden durch sie fundiert, während die Ausführungen der Beichtrede erst ihren vollen Gehalt durch die Grabrede erhalten. In dieser gegenseitigen Verwobenheit beider Reden wird folgende Beobachtung von Bedeutung: dass die Bestimmungen des Todes, wie sie von Kierkegaard in der dritten Rede vorgenommen werden, letztlich auch alle Bestimmungen Gottes sind. Der Tod ist entscheidend, unbestimmbar und unerklärlich. ⁸⁵ All diese Eigenschaften treffen auch auf Gott zu. Auch er ist für das religiöse Existieren entscheidend (er bestimmt das Individuum); auch er ist unbestimmbar (wie der Tod durch eine Dialektik von Gewissheit und Ungewissheit charakterisiert); und er ist unerklärlich (nicht verstehbar), was in der Beichtrede selbst ausdrücklich hervorgehoben wird.⁸⁶

 Diesbezüglich kommt hinzu, dass diese durch beide Reden herausgearbeitete Spannung und Dialektik die Dialektik der existenziellen Veränderung in der Beichtrede, in der die aktive Veränderung des Individuums durch ein passives Verändertwerden von Gott bestimmt ist, wenn auch nur indirekt, so doch ausführlich weiter diskutiert und auf die existenzielle Praxis angewendet wird.  Vgl. SKS 5, 448, 454, 464/ DRG, 180, 188, 199.  Wichtig erscheint mir hierbei, dass jene Bestimmung des Todes, die vom Wortlaut her mit der Bestimmung Gottes aus der Beichtrede am auffälligsten übereinstimmt (die Unerklärlichkeit), in der Grabrede durch eine Leerzeile abgesetzt ist, was bei den vorhergehenden Bestimmungen des

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Dass Beicht- und Grabrede im Gegensatz zur Trauungsrede einen ausgeprägten und deutlich gekennzeichneten Schlussteil besitzen, ist zunächst bezüglich des dort jeweils dargelegten Inhalts interessant. In beiden Schlusspassagen wird von Kierkegaard ganz direkt und ohne Umschweife auf die Existenz als Handeln und die Aneignung des Lesers eingegangen. Während der Schluss der Beichtrede gut doppelt so lang ist wie der der Grabrede, zeigt sich jedoch auf inhaltlicher Ebene, dass der Schluss der Grabrede pointierter formuliert ist und die Aussagen der Schlusspassage der Beichtrede in konzentrierter Form verdichtet und spiegelt. Dass beiden Reden mit einer theoretischen Darstellung zum Handeln (Beichtrede) beziehungsweise mit einem Appell an das Handeln/Arbeiten (Grabrede) enden, zeigt grundlegend, welche Bedeutung Kierkegaard diesem Aspekt für das religiöse Existieren beimisst: ohne eigenes Handeln kein Existieren, sondern nur Dahinleben.⁸⁷ Weiterhin werden sowohl Beicht- als auch Grabrede durch die Schlusspassage ausführlich abgeschlossen; brechen nicht ab, sondern bekommen eine in sich geschlossene Form. Dieses formale Merkmal zeigt deutlich, dass Kierkegaard beiden Reden eine ebenso große Bedeutung wie der Trauungsrede zumisst (von der formalen Seite her scheinbar sogar mehr Gewicht beimisst). Durch die Beichtund Grabrede wird das religiöse Existieren als ein zwischen den Polen Gott und Leben changierendes Verhältnis des Individuums präsentiert und das in einer in sich geschlossenen Form, einer Ganzheitlichkeit, die das religiöse Existieren zu einer anthropologischen Bestimmung erhebt, bei deren Betrachtung dem Gotteswie dem Lebensverhältnis als Bedingungen des religiösen Existierens Bedeutung zugemessen wird. Dennoch kann das religiöse Existieren nicht bloß aus den beiden Seiten Gott und Leben bestehen, sondern es bedarf des verbindenden Elements, dessen, was zwischen Gott und Leben steht: nämlich das Individuum, wie es in der Trauungsrede besprochen wird. Als dazwischenliegende Rede hebt sie das existenzielle Zwischensein des Individuums, sein Inter-esse (zwischen Leben und Gott, Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit, Tod und Unsterblichkeit) auf die performative Textebene, indem die Trauungsrede eben gerade die

Todes nicht getan wird. Auf text-performativer Ebene muss dies als Betonung gelten, womit Kierkegaard einen direkten Hinweis zur Verbindung zwischen den Reden zu geben scheint. – Auf die Spiegelung (strukturelle Äquivalenz) zwischen Tod und Gott wird näher einzugehen sein, weil sich an ihr die Auffassung der in den Gelegenheitsreden präsentierten Religiosität und damit auch die Innerlichkeit näher bestimmen lassen.  Interessant ist dabei, dass die der Beichtrede folgende Trauungsrede die aktive Existenzgestaltung heraushebt, was wiederum in der Grabrede, unter Einbezug weiterer Differenzierungen, zu einer ganzen Lebensanschauung entwickelt wird.

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Rede ist, die ohne einen wirklichen Schluss auskommt (was im existenziellen Sinne gedeutet, die Unabgeschlossenheit, den Prozess des Existierens anzeigt).

Beicht- und Trauungsrede: Anfangen Ein auffälliges formales Merkmal sind die Titel der drei Reden. Die ersten beiden Reden haben dieselbe Titelstruktur. Die letzte Rede fällt heraus.⁸⁸ Die Titelgestaltung eröffnet das Verhältnis der Reden zueinander in zwei weitere Blickrichtungen: das Verhältnis der Beicht- und Trauungsrede sowie der Grabrede im Verhältnis zu den beiden anderen Reden. Das Verhältnis der Beicht- und Trauungsrede lässt sich auf verschiedenen Inhaltsebenen ausmachen, wenn auch nur auf eine Thematik bezogen: das Gottes-Verhältnis. Sowohl die Beichte als auch die Trauung werden als „Anlass“ zum Verhältnis des Individuums zu Gott benannt. Beide Reden handeln (auch) von der Genese des Glaubens; anhand der Einübung des Sündenbekenntnisses (Beichte) und des Entschlusses (Trauung). Durch die Einübung kommt bei beiden Reden thematisch einerseits das Anfangen des Gottes-Verhältnisses als auch das darauffolgende beziehungsweise dialektisch mit dem Anfangen verwobene Im-Gottes-VerhältnisSein in den Blick. Während die Beichtrede anhand des zentralen Begriffs der „Verwunderung“ auf beide Dimensionen der Einübung eingeht, legt die Trauungsrede den Fokus stärker auf das Beginnen des Gottes-Verhältnisses und somit auf den Aspekt der Freiheit des Individuums – und zwar durch den Begriff des Entschlusses.⁸⁹ Interessant ist nun folgende Beobachtung zum Verhältnis von Anfangen, Handeln und Sprache. Nachdem die Beichtrede verschiedene reflexionsphänomenologische Variationen des Anfangens durchgespielt hat und schließlich herausstellt, dass das Individuum für das wirkliche Gottes-Verhältnis schon ein Gottes-Verhältnis besitzen muss, endet die Rede in der Schlusspassage mit einer konkreten Anweisung und Diskussion zum Handeln. Dass das Handeln als Nachtrag an den Hauptteil

 Interessant ist diesbezüglich, dass alle drei Reden von Kierkegaard in der Planungsphase zunächst gleich betitelt wurden: „Tale ved Skriftemaal. / ved Vielse. / ved Graven.“ – „Eine Rede zur Beichte. / zur Hochzeit. / zum Begräbnis.“ Erst im Nachhinein wurden die Titel geändert. Vgl. SKS K5, 394 f.  Wie einen Kommentar zum Verhältnis der Beicht- und Trauungsrede schreibt Kierkegaard im Journal JJ: „Das, was zum Anfangen bewegt, ist Staunen, Das, womit angefangen wird, ist ein Entschluss.“ (SKS 18, 288, JJ:442 / DSKE 2, 299) Ebenso im Verhältnis der beiden Reden: Während die Beichtrede anhand der Verwunderung (Staunen) Wert auf die Bewegung zum Entschluss legt und damit auf die Trauungsrede hinarbeitet, nimmt diese auf das konkrete Hineingelangen in die Innerlichkeit Bezug.

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angeschlossen wird, verdeutlicht, dass die davor vorgenommenen Beschreibungen der Erscheinung des Verhältnisses selbst (das Gottes-Verhältnis ist eines aus Sorge in Furcht und Seligkeit), nur dann Gültigkeit besitzen beziehungsweise existenzrelevant werden, wenn das Gottes-Verhältnis auch tatsächlich vom Individuum praktiziert wird. Im Anschluss daran beginnt die Trauungsrede. Das Besondere dabei ist, dass sie damit beginnt, dass „das Wort genannt werden soll“.⁹⁰ Im Verhältnis zur Beichtrede ist zunächst eine offensichtliche, sich dann jedoch als komplizierte Spannung zwischen Beicht- und Trauungsrede ergebende Gemeinsamkeit bemerkenswert: Eine Beichte besteht darin, dass das Bekenntnis vor Gott ausgesprochen wird. In der Beichtrede geht es nur an einer Stelle um das ausgesprochene Wort, wenn Kierkegaard auf das Gottes-Verhältnis zu sprechen kommt,⁹¹ das im Bekenntnis der Sünde liegt. In diesem Sinne kann die Aufforderung zum Aussprechen des Wortes am Anfang der Trauungsrede äquivalent als eine Aufforderung zum Gottesbekenntnis gelesen werden. Demgegenüber ist jedoch auffällig, dass die Beichtrede ansonsten ohne Aufforderung zur (sprachlichen) Äußerung auskommt, sondern die Sprache erst am Ende des Hauptteils durch das Schweigen⁹² und somit in einer verinnerlichten Form betont. Die Trauungsrede beginnt hingegen mit dem Aussprechen des Wortes, also mit einer nicht nur der Trauung, sondern auch dem Ritual der Beichte eingeschriebenen Praxis. Die Entgegensetzung zwischen Schweigen und Aussprechen, zwischen dem Ende der Beicht- und dem Anfang der Trauungsrede rückt zunächst eine Spannung zwischen dem inneren und dem äußeren Wort in den Blick, wobei durch die Beichtrede verdeutlicht wird, dass es nicht im Wesentlichen auf das äußere Wort ankommt, sondern auf den Gedanken; das innerliche Verhältnis; dem Bekenntnis zu sich selbst vor Gott (Kierkegaard spricht hierbei von „Aufrichtigkeit“). Jedoch wird im Verhältnis der beiden Reden zueinander dennoch nicht das Außen gegen das Innen ausgespielt. Um dies deutlich zu machen, ist es zunächst wichtig zu sehen, dass in der Trauungsrede mit dem Aufruf zu einer konkreten, äußeren Tat (das Aussprechen des Wortes) begonnen wird, während die Beichtrede das Tun/Handeln in ihrer Darstellung des Gottes-Verhältnisses wesentlich als innerlichen reflexionsphänomenologischen Vollzug herausstellt. Die hiermit betonte Spannung zwischen äußerem und innerem Handeln wird weiter dadurch hervorgehoben, dass die Trauung selbst das Eingehen eines Bundes zu jemand anderem ist, während die

 Vgl. SKS 5, 419/ DRG, 147.  Vgl. SKS 5, 397/ DRG, 121.  Unter anderem SKS 5, 413/ DRG, 140.

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Beichte als ein Vertiefen des Individuums in sich selbst dargestellt wird. Hierbei ist die Einkehr in sich selbst wiederum die von Kierkegaard systematisierte Voraussetzung für den in der Trauungsrede diskutierten inneren „Entschluss“ des Individuums; die Beichtrede demnach die Voraussetzung der Trauungsrede. ⁹³ Umgekehrt ist der Entschluss die Bedingung für das Eingehen des Gottesverhältnisses, wodurch die Trauungsrede die Bedingung für das innerliche GottesVerhältnis in der Beichtrede darstellt. Diese dialektisch-reziproke Verwobenheit zwischen Trauungs- und Beichtrede gibt nun den systematischen Schlüssel für die Deutung des ausgesprochenen Wortes am Anfang der Trauungsrede. Denn dieses ist diejenige Tat, die den Entschluss, sich an Gott zu binden, vor dem Hintergrund der Beichtrede kundtut und als Bekenntnis für alle Mitmenschen und konkreter noch, für den Ehepartner wirklich werden lässt.⁹⁴ Wird dies ins Verhältnis zum Aussprechen des Sündenbekenntnisses in der Beichtrede gesetzt, ergibt sich: Dem Wort als Tat (Trauungsrede) geht die Beichtrede voraus und zugleich ist das Wort das Bekenntnis zur permanenten Praxis der Beichtrede, womit der Sprache am Beginn der Trauungsrede insofern entscheidende Bedeutung zukommt, als dass sie sowohl Resultat als auch zu verwirklichender Anfang des in der Beichtrede dargelegten, innerlichen Gottes-Verhältnisses darstellt. Die Betonung des ausgesprochenen Wortes muss dabei – erneut – als das der Trauungsrede implizite Aufbrechen einer absoluten Verinnerlichung („Verborgenheit“), des In-sich-Verbleibens des Individuums gesehen werden, womit eine Gegenbewegung zur Verborgenheit bei Climacus und vor allem zur Verschlossenheit angedeutet wird, wie sie von Vigilius Haufniensis im Begriff Angst ausführlich zur Sprache gebracht wird. So schließt  Denn der Entschluss ist ein selbstgewähltes Eingehen des Verhältnisses zu Gott, der aber für Kierkegaard nur dann Bestand haben kann, wenn sich das Individuum über sich selbst und seine Fehlbarkeit im Klaren ist, also die Bewegung (zur Sünde) der Beichtrede nachvollzieht.  Hierbei ist zu beachten, dass das Wort, das bei der Trauung gesagt werden soll, das „Ja“ ist. Wird die Kommentierung der Trauungsrede (vgl. SKS K5, 434 ff.) zu Rate gezogen, wird deutlich, dass dieses „Ja“ zu Kierkegaards Zeiten in einem Zwiegespräch zwischen den Ehepartnern und dem Pfarrer mehrfach wiederholt und gegeben werden musste. (Das Zwiegespräch bestand aus dem gegenseitigen Vorlesen von Psalmen aus der Agende, genauer: das „Forordnet Altar-Bog for Danmark“ aus dem Jahr 1688.) Es gilt, das „Ja“ mehrfach zu betonen und das nicht nur als Bestätigung des Bundes zwischen den Ehepartnern, sondern auch zur Bestätigung der je eigenen als auch gemeinsamen Bindung an Gott. In diesem Sinne besteht die Trauung aus wiederholtem Bekenntnis (Wort) und aus Phasen des Kontemplierens über das Sichaneinanderbinden (sowohl von Mensch und Mensch wie auch von Mensch an Gott), wodurch sowohl die konkrete Handlung als auch der innerliche Vollzug, sowohl die Bewegungen der Trauungsrede als auch die der Beichtrede im Ritual der Trauung zusammengeführt und abgebildet werden. Es ist zumindest denkbar, dass Kierkegaard dies, wenigstens der Intention nach, gleich in den Beginn der Trauungsrede als deren Verhältnis zur Beichtrede eingeschrieben hat.

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die Trauungsrede mit dem Aussprechen des Wortes an die Beichtrede an, legt jedoch zugleich auch eine Gegenbewegung zum in der Beichtrede hervorgehobenen Schweigen offen und kennzeichnet damit die Auffassung der Sprache in der Beichtrede als ambivalent. Die Trauungsrede steht somit in einem weiterführenden als auch kommentierenden Verhältnis zur Beichtrede. ⁹⁵

Grabrede: Existenzielle Reziprozität Dass die Grabrede in einem gesonderten Verhältnis zur Beicht- und Trauungsrede steht, wird durch ihren Titel deutlich gezeigt. Michael Bjergsø vermerkt, dass die ersten beiden Reden die „typische Entwicklung des Gottes-Verhältnisses nachzeichnen, während die letzte den Hintergrund dafür skizziert.“⁹⁶ Meines Erachtens wird durch die Grabrede zwar auch ein existenzieller Hintergrund dargestellt, wie der Mensch zum Gottes-Verhältnis gelangen kann (Genese des Gottes-Verhältnisses), jedoch scheint mir aus systematischer Perspektive wichtiger zu sein, dass die Grabrede die beiden vorhergehenden in verschiedenen Perspektiven sublimiert und dabei zugleich Sachverhalte betont, die durch die beiden vorhergehenden Reden angezeigt, aber nicht ausgeführt werden. Die Grabrede stellt Ergebnis, Weiterführung und rückwirkende Kommentierung der Beicht- und Trauungsrede dar. Dass der Titel der Grabrede kein Begräbnis zum „Anlass“ nimmt, hat verschiedene Gründe. Zunächst ist hierbei zu sagen, dass sich der Anfang der Rede eindeutig auf die Bestattung eines anderen bezieht und dies zum Anlass nimmt, über das Verhältnis des Individuums zu seinem Tod nachzudenken. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den anderen beiden Reden. Während die eigene Beichte und die eigene Trauung erlebbare Tätigkeiten sind, ist der eigene Tod, zumindest, wie er von Kierkegaard zum größten Teil in der Rede verstanden wird, nämlich als

 Gleichfalls geht die Trauungsrede auch und gerade deshalb über die Beichtrede hinaus,weil sie deren Inhalt in die leiblich-weltliche Praxis (Ehe) verwebt und damit eben die Verinnerlichung („Stille“) der Beichtrede aufsprengt. Wird hierbei die dialektische Verwobenheit von innerlichem Gottes-Verhältnis und Entschluss und damit das sich gegenseitig voraussetzende und anschließende Verhältnis der beiden Reden zueinander beachtet, wird zudem verständlich, warum in der Trauungsrede leitthematisch gesagt wird, dass die „Liebe alles überwindet“ (SKS 5, 422 / DRG, 150). Bei Kierkegaard wird betont, dass erst durch die eigene Bindung an das Ewige und das dabei einhergehende Verständnis von sich selbst (Sünde) mit den in der weltlichen Praxis auftretenden Problemen so umgegangen werden kann, dass hinter allem Relativen (Welt) zugleich unabänderliche Stabilität (Gott) gesehen wird, ohne dabei aber eine radikale Abkehr von der Welt zu praktizieren, weil die Liebe (in der Ehe) eben auch sozial situiertes, gemeinsames Handeln und leibliches Aufeinanderbezogensein bedeutet.  Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, S. 77.

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Totsein (und weniger als Sterben oder Ableben), vom Individuum nicht erlebbar. Soll die Situation der jeweiligen Rede als konkreter, für das Individuum erfahrbarer Anlass genommen werden, von dem her die Reflexionen zur Existenz und zum Gottes-Verhältnis ihren Ausgangs- und Fluchtpunkt nehmen, so kann beziehungsweise darf aus Kierkegaards Sicht das eigene Begräbnis kein solcher Anlass sein, dessen Verwirklichung angestrebt wird. Der Tod wird von Kierkegaard ausdrücklich als das Nicht-Leben thematisiert, von dem weg sich das Individuum dem Leben zuwenden soll. Gleichzeitig dient das Nachdenken über den eigenen Tod und das Verhältnis zu ihm – Kierkegaard fasst beides zusammen im Ausdruck: „der Gedanke an den Tod“ – als Ausgangspunkt für das Verhältnis zum eigenen Leben. Innerhalb der Rede kommt deshalb der Vorstellung davon, tot zu sein und nicht mehr handlungswirksam in der Welt agieren zu können, eminente Bedeutung für die Gestaltung der eigenen Existenz zu. So nimmt der Tod als Anlass der Rede eine eigenwillige Zwischenposition ein: es geht nicht um die Verwirklichung des Todes, jedoch um die wirkliche Vorstellung des Totseins, während es in der Beicht- und Trauungsrede nicht um die wirkliche Vorstellung der Beichte und Trauung geht, sondern um deren existenzielle Verwirklichung. Die wirkliche Vorstellung davon, „an einem Grabe“ und das heißt genauer, an dem eigenen Grab zu stehen, legt nahe, dass Kierkegaard in dem Titel auf sublime Weise den tragenden, existenzrelevanten Gedanken der Rede zusammenfasst. Dass Kierkegaard nun die ersten Passagen der Rede damit beginnen lässt, „an einem Grabe“ eines anderen zu stehen und seiner Beerdigung beizuwohnen, dient der Vermittlungstaktik der Rede, in das Nachdenken über den Tod hinüberzuleiten und zwar anhand einer Situation, die jeder kennt; zugleich auch ein mögliches Bild für die von jedem für seinen Tod vorzunehmenden Vorstellung des Totseins zu geben und auch so den Leser direkt in die Reflexion des eigenen Todes einzuführen. Weiter gedacht liegt in diesem Beginn Kierkegaards die Absicht zu zeigen, dass der eigene Tod, der sich der Erfahrung entzieht, einer Vermittlung bedarf; er nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar zu Bewusstsein gebracht werden kann, entweder durch einen äußeren, konkreten Anlass (Beerdigung) oder eine Beschreibung (Grabrede selbst) oder durch eine Vorstellung vom Totsein (Reflexion des Individuums). Dieses einzig mittelbare Verhältnis zum eigenen Tod zeigt unter anderem deutlich, dass es beim Tod stärker noch als bei der Beichte oder Trauung auf ein solches Verhältnis ankommt, denn nur durch das mittelbare Verhältnis zum Tod wird der Tod existenzrelevant, während bei Beichte und Trauung das mittelbare Verhältnis schließlich in die konkrete Erfahrung und damit in ein unmittelbares Verhältnis transformiert werden soll. In der Grabrede wird im Wesentlichen die Reflexion und in den beiden anderen Reden letztlich das Erleben herausgestellt.

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Diese Spannung zwischen den Reden zeigt, wodurch die Existenz als Erfahrungszusammenhang in den Gelegenheitsreden bestimmt wird: Erleben und Reflexion sind nicht voneinander zu trennen; alles Erleben hängt in seiner Intensität und Wahrnehmung von zuvor geschehenden Reflexionen ab und ist immer auch von Reflexionen unterfüttert⁹⁷ – Unmittelbarkeit bleibt immer mittelbare Unmittelbarkeit und das Individuum hat überhaupt nur über die Reflexion und reflexive Verhältnisse Zugang dazu, die Welt und sich selbst zu erleben. Wird der Titel – „An einem Grabe“ – näher betrachtet, so wird mit „Grab“ offensichtlich der Tod und zwar das Im-Grab-Liegen, das Totsein herausgehoben. Doch „Grab“ ist mit einem unbestimmten Artikel versehen. „An einem Grabe“ heißt die Rede, was wohl unabhängig vom Inhalt der Rede am bestem damit übersetzt werden kann: „An irgendeinem Grabe“. Der Titel allein weist von vornherein gar nicht so sehr auf den eigenen Tod, sondern vielmehr auf den Tod im Allgemeinen; einerseits als etwas, das jeden trifft (anthropologisches Faktum) und andererseits als etwas, in dem die lebendige Individualität ausgelöscht und vernichtet ist (Vernichtung der Subjektivität). Kierkegaard wehrt sich mit dieser zwiefachen Auffassung des Todes gegen ideengeschichtliche Todesverständnisse (vornehmlich gegen das von Epikur). Der eigene Tod ist nichts gänzlich Allgemeines, sondern etwas, was das Individuum subjektiv angeht; es kommt auf das Verhältnis und somit auf das Bezogensein an, so dass der Tod trotz aller Allgemeinheit und Leerheit seiner Bestimmbarkeit zu etwas Eigenem, zu meinem Tod als Teil meiner Existenz transformiert wird. Diese vom Individuum selbst vorzunehmende Überführung des Todes in diese Konkretion des eigenen Todes gibt der Präposition des Titels ihre Bedeutung. Denn „An einem Grabe“ vermittelt stärker noch als die beiden anderen Titel eine Benennung der Situation: das Individuum soll sich vorstellen, ganz konkret vor einem Grab (und vom Inhalt der Rede her: vor seinem Grab) zu stehen und auf den Tod zu blicken und über ihn nachzudenken. Demgegenüber sind die Beichte und die Trauung als „Anlass“ nur Angelpunkte für die vorgenommenen Reflexionen über Existenz und Gottes-Verhältnis; es sind einzig mögliche Situationen, an die die von Kierkegaard geknüpften Reflexionen gebunden werden können. Es könnten also auch andere kirchliche Situationen als Anlass dienen. Bei „An einem Grabe“ hingegen geht es um diese eine Vorstellung: an seinem Grab zu stehen und die sich aus dieser Vorstellung speisenden Lebensbetrachtungen. Es geht um die Bedeutung des Totseins in seiner Unabänderlichkeit, Unbedingtheit und Faktizität.

 In der Trauungsrede wird dies explizit, indem die eigene Existenzgestaltung und -erfahrung im Zusammenhang mit der Vorstellung vom Leben, von sich selbst und von Gott steht.

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Der Tod soll in seiner Irreversibilität ins Zentrum der Lebensbetrachtung rücken. Diese Unhintergehbarkeit und Unumkehrbarkeit strahlt auf die beiden anderen Reden zurück: denn Beichte und Trauung sollen ebenfalls zu unhintergehbaren und unumkehrbaren Existenzgestaltungen werden. Das heißt (ausgehend vom Verhältnis zwischen Beicht- und Trauungsrede als auch der zentralen Stellung der Trauungsrede): die Liebe als Bund zu den Menschen soll unter der Voraussetzung eines permanent praktizierten Gottes-Verhältnisses zur zentralen Lebensgestaltung werden. Die Grabrede hat dabei insofern entscheidende Bedeutung, als dass sie der rückwirkende Ausgangspunkt für diese Existenzgestaltung ist, was Kierkegaard in der Grabrede selbst unter folgender Gedankenfigur sublimiert: Die Intensität der Existenz im Sinne der Lebensgestaltung als GottesVerhältnis ist durch ein ständiges Bezogensein auf den Tod als Abstoßungspunkt in das Leben bestimmt, weshalb das eigene Existenzverhältnis eine reziproke Bewegung zum eigenen Todesverhältnis darstellt. Dies besagt im Verhältnis zu den beiden anderen Reden: Liebe und Gott sind die zum Tod reziprok in den Blick zu fassenden Existenzpole.

Das Verständnis von Existenz in den Gelegenheitsreden⁹⁸ Aus dem Inhalt der Grabrede ergibt sich schließlich eine grundlegende Bestimmung des Existierens in den Gelegenheitsreden. Entscheidend dafür ist, dass sich das Individuum in seiner Existenzgestaltung nicht nur auf den Tod als Unabänderlichkeit beziehen soll, sondern auf den Tod als das Gewisse und zugleich Ungewisse,⁹⁹ d. h. auf den Tod als ein notwendig eintretendes Faktum, das in seinem Wann des Eintretens kontingent ist. Der kontingente Tod kennzeichnet die Existenz als eine ständig von Auslöschung bedrohte.¹⁰⁰ Für die Existenzbetrachtung ist der Einbezug der Kontingenz deshalb grundlegend, weil das Existieren nicht nur als Verortung in der Welt an das Ausgesetztsein an äußere Faktoren gebunden ist, die dem Individuum unverfügbar gegenüber stehen und es wider alle Beeinflussbarkeit mitbestimmen, sondern weil das Individuum als Person in seinem Selbstsein als kontingent bestimmt ist. Sowohl das (leibliche) Existieren in der Welt als auch das Selbst-Verhältnis sind durch Offenheiten,

 Anzumerken ist, dass Kierkegaard den Begriff Existenz in den Gelegenheitsreden nicht verwendet, sondern stattdessen von Leben spricht. Das, was das Leben aber systematisch ausmacht, ist das, was den Begriff Existenz bei Climacus und Vigilius bestimmt: Prozess, Idealbezug, Erfahrung (etc.). Von dieser systematischen Voraussetzung ausgehend stelle ich hier die Frage nach dem Existenzverständnis in den Gelegenheitsreden.  Vgl. SKS 5, 460/ DRG, 194.  Vergleiche auch Climacus: Kapitel 2.3.4.

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Ungewissheiten, von der Spannung zwischen Aktivität und unreduzierbarer Passivität, sowohl von eigenem Handeln als auch von Angewiesensein charakterisiert. In den drei Reden wird dies auf verschiedene Weise deutlich: In der Grabrede äußert sich diese Spannung unter anderem dadurch, dass es um die „Entscheidung des Todes“ geht; dass die eigene Existenz vom Tod her bestimmt wird. Nicht das Individuum ist es, das bei Kierkegaard über seinen Tod entscheidet, sondern der Tod entscheidet durch seine Unbeeinflussbarkeit in seinem Eintreten über die Gestaltung der eigenen Existenz. Weil sich dem Individuum die Kontrolle über die Dauer und damit über die Zeit seines eigenen Lebens entzieht, muss es die Kontingenz des Todes in seine Lebensbetrachtung einbeziehen. Es ist dem Tod gegenüber machtlos ausgesetzt, muss die Kontingenz annehmen und im Bewusstsein der Kontingenz das Leben als sinnhaften Gegensatz zum Tod in jedem Moment ausnutzen und seinen Fokus auf das eigene Handeln legen. In der Trauungsrede wird dieses Handeln näher bestimmt als das konsequente Handeln im Entschluss. Der Entschluss dient dem Gottes-Verhältnis und dem Zusammenleben mit Menschen (Ehe). Der Bund der Ehe kann jedoch nur dann von Bestand sein, wenn beide Partner ein Bekenntnis zum Verhältnis zum jeweils Anderen abgeben. Der Bund selbst hängt davon ab,wie sich die beiden Ehepartner gegenseitig begegnen. Nicht nur das eigene Bezugnehmen, sondern – ganz im Gegensatz zu Climacus¹⁰¹ – selbst Bezugspunkt zu sein, kennzeichnet das Individuum. Erst dadurch, dass das Individuum – strukturell – Ausgangs- und Endpunkt des Verhältnisses zwischen den Ehepartnern ist, ist die volle Bestimmung des Individuums in der Trauungsrede erreicht. Das Individuum ist dabei sowohl in Aktivität als auch Passivität verwoben und in seiner vollen Bestimmung von einem Dritten abhängig, dem Gegenüber. Dieses Abhängigsein von einem Dritten wird wiederum durch die Beichtrede anhand des religiösen Existierens hervorgehoben. Gott ist als äußere, unverfügbar gegenüberstehende, das subjektive Gottes-Verhältnis setzende Macht,von dem das religiöse Existieren bestimmt wird. Dem Individuum ist es unmöglich, aus eigener Kraft ein Glaubensverhältnis einzugehen; es bleibt auf Gottes Begegnen angewiesen. Erst wenn das Individuum durch Gott im Verhältnis zu ihm bestimmt ist, ist es bei Kierkegaard zu sich selbst als Selbstsein vor Gott und damit zu seinem innerlichen Personsein gekommen. In Anbetracht des Kontingenzgedankens, des Bestimmtwerdens, des Bezogen- und Abhängigseins ist das in den Gelegenheitsreden gegebene Verständnis der Existenz keines, in dem das Individuum strikt aktivistisch betrachtet wird.

 Vergleiche die Anmerkung 1228 in Kapitel 2.3.3.4.3.

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Vielmehr kann folgende These gewagt werden: In den Gelegenheitsreden geht es weniger um das Existieren als Selbstbestimmung, sondern vielmehr um das Existieren als Wille zur Passivität; um eine Existenzgestaltung, in der sich aktiv auf das Ausgesetztsein eingelassen wird; die Offenheit des widerfahrenden Geschehens anzunehmen ist und sich das Individuum – nicht allein, aber doch wesentlich – durch Hingabe an das sich der Kontrolle Entziehende (Welt, Menschen) und das Unverfügbare (Gott) selbst entdeckt.

3.2.1.3 Fazit Aus den Betrachtungen zum Titel – „Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten“ – lässt sich kurz festhalten, dass dieser viel über die drei Reden preisgibt. Durch ihn werden indirekt Voraussetzungen und Bestimmungen der Existenz und des existierenden Individuums vorgenommen; es werden das Verhältnis zwischen Text, Leser und Inhalt näher charakterisiert als auch inhaltliche Zielrichtungen angegeben: existenzdialektische Epistemologie, Existenzphänomenologie, Anthropologie (conditio humana), existenzielle Religiosität (Innerlichkeit). Die überblicksartige Besprechung des Verhältnisses der drei Reden zueinander hat zudem offengelegt, dass nicht nur jede Rede mit einer anderen, sondern auch alle zusammen diverse Verhältnisse eingehen, die sich charakterisieren lassen als: Überschneidung, Fortführung, Erweiterung, Kommentierung, Spiegelung. Die Reden bauen nicht nur gegenseitig aufeinander auf und stimmen in wichtigen Punkten überein, sondern unterscheiden sich auch in entscheidenden Details voneinander und legen so ein komplexes Bild religiösen Existierens frei, das es in der Einzelbesprechung der Reden zu vertiefen gilt. Die zentralen Themen sind das Leben, das Selbst und Gott beziehungsweise das Verhältnis des Individuums zu diesen drei Existenzpolen auch und gerade über die existenzielle Betrachtung des Todes. Das Leben wird in seiner Ganzheit von seinen Grenzen her betrachtet, in dessen Zentrum die Existenzgestaltung als Innerlichkeit steht, die Kierkegaard an den Begriff Ernst bindet und die darin besteht, ein Selbst-Verhältnis vor Gott im hier und jetzt zu lebenden Leben einzugehen. Zusammen eröffnen die Reden ein komplexes Verständnis gelebter Innerlichkeit, in das die Sachverhalte Kontingenz, Zeit, Welt, Sprache und Handeln sowie die Verhältnisse von Aktivität und Passivität, Innen und Außen, Genese und Darin-Existieren, Verfügbarmachung und Unverfügbarkeit, Bedingtheit und Unbedingtheit eingeschrieben sind.

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3.2.2 Anlässlich einer Beichte: Bestimmung des Gottesverhältnisses Einleitung (SKS ,  –  / DRG,  – )¹⁰² a) Pastorale Exposition (SKS ,  / DRG, ) b) Thematische Hinführung (SKS ,  / DRG, ) c) Reflexion zur Funktion und Anwendung der Rede (SKS ,  / DRG, ) II Hauptteil (SKS ,  –  / DRG,  – ) A) (Defizit‐)Formen des Suchens und Findens (SKS ,  / DRG, ) B) Veränderung und Verwunderung (SKS ,  / DRG, ) C) Der wirkliche Anfang des Gottes-Verhältnisses (SKS ,  / DRG, ) III Schluss (SKS ,  –  / DRG,  – ) a) Stille und Handeln (SKS ,  / DRG, ) b) Koda (SKS ,  / DRG, ) I

Anlässlich einer Beichte handelt vom „Suchen Gottes“¹⁰³ und zwar genauer davon, was eigentlich gesucht wird, wenn Gott gesucht wird und zugleich davon, wie dieses Suchen verstanden und existenziell begriffen werden muss. Das Suchen ist damit in dreifacher Form charakterisiert. Einerseits geht es um das Verstehen Gottes und ob sich das Verstehen in resultativem Wissen erschöpft (Verwunderung); weiterhin um das Verhältnis des Individuums zu Gott und wie dieses GottesVerhältnis in Bezug auf das Gottesverstehen bestimmt werden muss (Veränderung); und schließlich um das Suchen als existenzielle Praxis (Ernst, Innerlichkeit). Letztere Bestimmung des Suchens fungiert als äußere Klammer der Rede, die durch die pastorale Exposition und als Hauptthema des Schlusses gesetzt wird. Im Hauptteil der Rede werden anhand des zentralen Begriffs der „Verwunderung“ sowohl das Verstehen als auch das Gottes-Verhältnis sowie das Verhältnis zwischen Verstehen und Gottes-Verhältnis eingehend betrachtet. Die thematische Klammer bildet hierbei das Konzept der Stille, das sowohl in der Einleitung als auch im direkten Anschluss an den Hauptteil aufgegriffen wird und so als thematischer Ausgangs- und Endpunkt der Rede angesehen werden muss, dabei aber immer von der äußeren Klammer, dem Suchen als existenzielle Praxis, mitbestimmt ist. Um das in der Rede dargestellte Gottes-Verhältnis des Individuums und damit die Konzeption der Innerlichkeit zu verstehen, müssen die „Stille“, die „Verwunderung“ und das Handeln besprochen und in ein Verhältnis zueinander ge-

 Die von mir vorgenommenen Gliederungen können selbstverständlich nur Angebote sein. Beispielsweise gibt Eva Birkenstock ein anderes Gliederungsangebot der Grabrede, als es von mir in Kapitel 3.2.4 vorgenommen wird. Vgl. dies., Heißt philosophieren sterben lernen? Antworten der Existenzphilosophie: Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Rosenzweig, Freiburg und München 1997, S. 30.  SKS 5, 396/ DRG, 120.

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setzt werden. Dass es Kierkegaard hierbei schließlich mit der Innerlichkeit um eine permanente Beichtbewegung im Sinne eines immerwährenden „Sündenbekenntnisses“¹⁰⁴ geht, legt die tendenziell christliche Orientierung der Rede offen, wobei jedoch betont werden muss, dass das Christliche lediglich zur Orientierung dient;¹⁰⁵ die Rede selbst verbleibt in ihrer Darstellung des Gottes-Verhältnisses im Bereich dessen, was Climacus die „Religiosität A“ nennt.¹⁰⁶ Die Beichtrede beginnt sodann damit, dass Gott angesprochen wird.¹⁰⁷ Einerseits ist Gott dabei als der inhaltliche Bezugspunkt der darauf folgenden Ausführungen und andererseits als existenzieller Bezugspunkt für das Individuum charakterisiert, zu dem es in einem Verhältnis steht. ¹⁰⁸ In der gesamten Rede geht es von Beginn an nicht darum, ob Gott da ist, sondern darum, dass er durch Aneignung aus der subjektiven Unbewusstheit („Verborgenheit“) in Bewusstheit („Ernst“) überführt wird.¹⁰⁹ Deshalb kennzeichnet Kierkegaard (in den ersten Zeilen der Rede) das GottesVerhältnis als ein in sich ambivalentes, indem es durch Nähe und Ferne gekennzeichnet ist.¹¹⁰ Das Verhältnis von Nähe und Ferne gestaltet sich dabei als ein dialektisches Verhältnis. Denn die Nähe Gottes ist eine verdeckte Nähe, eine Nähe, die entzogen ist, weshalb Gott trotz seiner Nähe gesucht werden muss. Zugleich liegt aber der Sinn des Suchens nicht im Finden, denn Gott wird ja vorausge-

 Vgl. SKS 5, 391, 414 / DRG, 114, 141.  Dennoch ist die Problematik der Sünde zentral in die Rede eingeschrieben, was schon die Stellen ihre Erwähnung innerhalb der Rede offenbart: in der letzten Zeile der pastoralen Exposition; in der ersten Zeile des Schlusses; und schließlich im zentralen Teil der Rede, in dem es um die „Veränderung“ des Individuums geht.  Hermann Deuser analysiert die Beichtrede in Hinblick auf die „Religiosität A“: Ders., „Religious dialectics and Christology“, in The Cambridge Companion to Kierkegaard, hg. von Alistair Hannay and Gordon D. Marino, Cambridge 1998, S. 376 – 396, hier S. 379 – 385.  Die Beichtrede wird wie folgt eingeleitet: „Vater im Himmel! Wohl wissen wir, dass das Suchen immer seine Verheißung hat, wie kann es dann keine Verheißung sein, dich zu suchen, von dem alle Verheißungen und alle guten Gaben [Givers Gaver] kommen! Wohl wissen wir, dass der Suchende nicht immer in die Welt hinaus wandern muss, denn je heiliger das ist, was er sucht, desto näher ist es bei ihm, und wenn er erst dich sucht, o Gott, du bist ihm ja am allernächsten!“ (SKS 5, 391/ DRG, 114)  Denn das Gottes-Verhältnis wird durch die ersten Worte der Rede so eingeleitet, dass es vorausgesetzt wird.  So hält Kierkegaard eindeutig fest, dass es um die „Einkehr“ und die „Sammlung des Sinns“ (vgl. SKS 5, 396/ DRG, 120), also die kontemplative Konzentration des Verstehens geht, damit „das Wesentliche Eigentum des einzelnen wird“ – und zwar durch das „Tun“, also durch die Handlung der Aneignung (vgl. SKS 5, 416/ DRG, 144)  Vergleiche auch Climacus: Kapitel 2.3.2.2.2.

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setzt.¹¹¹ Die Dialektik besteht also wie bei Climacus darin, dass in der Entzogenheit Gottes seine Nähe liegt.¹¹² Gott ist verborgen anwesend.¹¹³ In der Rede werden diesbezüglich verschiedene Formen des Distanziertseins zu Gott ausgeführt: Erstens die, dass das Gottes-Verhältnis und damit die Nähe Gottes überhaupt nicht wahrgenommen werden, zweitens, dass das Gottes-Verhältnis entdeckt wird, aber nicht existenzrelevant in die eigene Lebensgestaltung eingreift. Insofern es Kierkegaard aber um das Gelebtwerden des Gottes-Verhältnisses geht, geht es ihm also um den transitiven Prozess der Aneignung – heraus aus aller Distanziertheit. Wenn das Gottes-Verhältnis eines ist, das, nachdem es entdeckt ist, auch gelebt werden soll, geht es Kierkegaard darum, dass das Verhältnis zu Gott identitätsstiftend für das Individuum wird. Dieses Selbstsein wird wiederum ontologisch begriffen, indem sich das Individuum dabei zwischen Leben und Gott gewahr wird. Ein Gottes-Verhältnis zu leben bedeutet dann, zu sich selbst vorzudringen, sich bestimmen und verstehen zu wollen als jemand, der sowohl an der Endlichkeit als auch Unendlichkeit, der Zeitlichkeit als auch Ewigkeit Anteil hat und durch dieses – von Climacus her gesehene – Inter-esse ¹¹⁴ immer und unüberbrückbar von Gott entfernt bleibt. Dass dabei das Selbst-Verhältnis und Gottes-Verhältnis unmittelbar zusammenhängen, kennzeichnet die Rede als eine Abhandlung über die Innerlichkeit.¹¹⁵ In der Beichtrede wird weder das Verhältnis von Nähe und Ferne noch die Verflechtung von Selbst- und Gottes-Verhältnis aufgelöst, sondern so konnotiert, dass die Gottes-Nähe bestimmend für die Selbst-Nähe ist.¹¹⁶ Da aber die Nähe  „Das Gesuchte ist … gegeben …“ (SKS 5, 405/ DRG, 133)  Der Begriff „Nähe“ impliziert, dass eine Relation herrscht. Zwischen Mensch und Gott kann nur ein Verhältnis bestehen, wenn eine Trennung der Verhältnispole vorausgesetzt ist. Die Nähe Gottes ist also durch nicht auflösbare Distanz des Individuums von Gott gekennzeichnet. Diese dialektische Relation zwischen Mensch und Gott entwirft Kierkegaard eingehend ein Jahr vor der Beichtrede, also 1844, in: Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, dass Gott siegt.  Bei Climacus heißt es dementsprechend: „[F]ür die Religiosität A ist nur die Wirklichkeit der Existenz, und doch ist das Ewige beständig von ihr verborgen, und verborgen anwesend.“ (SKS 7, 519/ DUN, 777) Hierin liegt auch der systematische und für die Beichtrede wichtige Ausgangspunkt für Kierkegaards Forcierung des Hörens als wesentlicher Erkenntnissinn (gegenüber dem Sehen). Dazu: Kapitel 1.1.  Vgl. Kapitel 2.3.2.1.  Das lässt sich jedoch aus den ersten Zeilen der Rede nur daran ablesen, dass die Suche Gottes nicht in der Welt geschieht, seine Anwesenheit nicht im Außen, sondern im Innern und damit in der Negation des äußerlich Wahrnehmbaren liegt. Bei Climacus wird dies durch den Begriff „Resignation“ abgedeckt (vgl. Kapitel 2.3.3.1.1).  Mit der Verschränkung des Verhältnisses von der Nähe und Ferne Gottes und des Verhältnisses von Selbst- und Gottes-Verhältnis befindet sich Kierkegaard in der Tradition Augustinusʼ,

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(immer) auch Distanz und Getrenntsein bedeutet (s.o.), zieht sich die Spannung zwischen Nähe und Ferne in all ihren dialektischen Variationen als konstitutive Bestimmung des Selbst- und Gottes-Verhältnisses durch sämtliche in der Rede dargelegten Stufen des Entdeckens und Darin-Existierens. Und im Aufzeigen des dazugehörigen, existenziellen Entwicklungsprozesses liegt gewissermaßen der rote Faden der Rede.

3.2.2.1 Konzeption der Stille Der Gegenstand der Rede I Am Ende der Rede vermerkt Kierkegaard, dass „der Gegenstand der Rede“ der ist, „die Stille zu verstehen, durch die man still zu werden vermag.“¹¹⁷ Die Stille wird von Kierkegaard sowohl als Voraussetzung und Bedingung des Gottes-Verhältnisses als auch als das Gottes-Verhältnis selbst bestimmt, womit sie Bedingung und Konkretion der Innerlichkeit darstellt. Eingeführt wird die Stille, indem Kierkegaard sie zunächst an einen Ort bindet: an den für die Beichte vorgesehenen Altarraum in der Kirche.¹¹⁸ Hierbei fungiert der Innenraum der Kirche nicht nur als Ort, an dem es leise ist, wodurch die Stille eine das Individuum umgebende Atmosphäre darstellt, sondern auch als Abgrenzung zur Außenwelt. Kierkegaard eröffnet damit sofort drei Perspektiven auf das Konzept der Stille. Zum einen, dass für die Stille eine Grenze überschritten werden muss, nämlich die von der Außenwelt in das Innen hinein (hier: Kirche als Gotteshaus). Dadurch ist die Stille zweitens direkt in das Innen hineinverlegt. Und drittens ist die Stille dabei dennoch von etwas Äußerem abhängig (hier: die Kirche als Gotteshaus). Die Stille ist als Negation des Außen sowohl von einem Übergang des Individuums in die Stille hinein bedingt und gleichfalls etwas an das Individuum Gegebenes. Die Stille wird somit durch eine Verflechtung von Aktivität und Passivität bestimmt. Die aktive Seite der Stille kommt vor allem zum Ausdruck, wenn Kierkegaard im gleichen Zusammenhang schreibt, dass derjenige, der in die Kirche geht, die Stille sucht, womit er ein teleologisches Interesse und Wollen des Individuums als weitere Bedingung der Stille herausstellt. Die passive Seite der Stille kommt hingegen nicht nur durch die Vereinzelung und Selbstaufmerksamkeit des Indivibei dem es u. a. heißt: „Du standest vor mir, ich aber war vor mir selbst fortgelaufen und fand mich nicht: um wieviel weniger dich!“ (Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, Fünftes Buch, II.2, S. 199). Beiden christlichen Denkern geht es damit letztlich um ein Bekenntnis des Glaubens.  SKS 5, 416/ DRG, 144.  Vgl. SKS 5, 392 / DRG, 114 f. Vgl. GW 8, 219, Endnote 157.

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duums im Zustand der Stille zum Ausdruck,¹¹⁹ sondern auch durch das Gegebensein derselben. Denn dass die Stille letztlich eine Gabe Gottes ist, die vom Entgegenkommen Gottes abhängt, zeigt sich, wenn Kierkegaard kurz vor der Koda vermerkt: „[M]it äußerster Kraft zu wollen und dann entdecken, dass man nichts vermag, dass man sich die Stille doch nicht selbst geben kann, weil sie Gott gehört!“¹²⁰ Was Kierkegaard hier intendiert, ist das Konzept des Empfangens, wie es bei Climacus herausgearbeitet wird.¹²¹ Demnach zeigt sich schon an der Einführung der Stille in die Rede, wie das Individuum durch die Stille bestimmt ist (Vereinzelung), was die Voraussetzung des Individuums für die Stille ist (Interesse), was das Individuum für die Stille tun muss (Verinnerlichung) und woran die Stille unabhängig vom Individuum geknüpft ist (Gott). Im Folgenden wird dies genauer betrachtet, um zum Schluss dieses Teilkapitels den Gegenstand der Rede, die Stille, nochmals genauer in den Blick zu nehmen.

Bedingungen und Zustand des Still-Werdens Die vom Individuum zu erfüllenden Bedingungen dafür, dass es in die Stille und damit in die Innerlichkeit gelangt, sind die Abwendung von der Welt (Verinnerlichung) und der Wille, im Gottes-Verhältnis zu leben (Interesse). Kierkegaard ruft dem Leser direkt zu: „Du willst nach dem Höchsten streben, danach, die Wahrheit zu begreifen und in ihr zu sein; du willst weder Zeit noch Fleiß sparen; du willst allem entsagen …“¹²² Der Wille zur Entsagung geht einher mit dem Willen, in ein Gottes-Verhältnis (Wahrheit¹²³) zu gelangen.¹²⁴ Welt und Gott werden dabei – wie bei Climacus – als

 So schreibt Kierkegaard, ebenfalls in gleichem Zusammenhang, dass es in der Kirche keine Gemeinschaft gibt, sondern „jeder … für sich [ist]“. (SKS 5, 392 / DRG, 115) – Im Übrigen ist dies eine Formulierung, die Climacus auch in der „Friedhof-Szene“ verwendet. In beiden Zusammenhängen wird die Einkehr (zu sich selbst) betont.  SKS 5, 417/ DRG, 145.  Vgl. Kapitel 2.3.2.3.3.  SKS 5, 415/ DRG, 143.  Ich verstehe Wahrheit hierbei im climacischen Sinne: als den die eigene Lebensgestaltung durchdringenden Ewigkeitsbezug.  Das Zu-Gott-gelangen-Wollen durch Welt-Vernichtung bringt Kierkegaard anhand einer rituellen Form der Stille zum Ausdruck: „[E]iner zu werden, der dem Heiligen direkt gegenüber steht und schweigt.“ (SKS 5, 410/ DRG, 137) Das Schweigen ist das eigene Verstummen und zugleich das Hinhören auf Gott. Kierkegaard notiert: „[S]o wird … Rede ein Lärm, der die Stille stört und deine Aufmerksamkeit eine Zerstreuung, die die Stille beleidigt.“ (SKS 5, 393/ DRG, 116) Kierkegaard spricht auch vom „Vergessen des Schweigens“ (SKS 5, 413/ DRG, 140) und impliziert dabei, dass

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ontologische Gegensätze von Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit begriffen. Das Interesse des Individuums impliziert also, sich von dem wegzuorientieren, wo das Ewige (Gott) nicht zu finden ist, weshalb innerlich (still) zu werden für Kierkegaard auch bedeutet, eine Absage an Geschäftigkeit und Zerstreuung zu erteilen.¹²⁵ Kierkegaard spielt dabei jedoch nicht das Innen gegen das Außen aus. Worauf es ihm ankommt, ist die Frage nach der Orientierung des Individuums. An dem, was das Individuum umgibt, kann es sich orientieren und eine Stabilität seiner Person erreichen, indem es sich mit dem, was ihm begegnet (zum Beispiel soziale Konventionen, Gewohnheiten etc.) identifiziert. Zugleich ist diese Orientierung am Außen aber eine Defokussierung des Individuums, die im Gegensatz zur Verinnerlichung (Stille) steht. Denn die Stille ist – in Anlehnung an Platons Phaidon, 80e – die „Sammlung sich selbst zu verstehen“¹²⁶ – und zwar gegen alle Zerstreuung.¹²⁷ Das Bezogensein auf das Äußere bietet somit zwar Orientierung, die für Kierkegaard jedoch Orientierungslosigkeit bedeutet, wenn es um das Selbstsein geht. Demgegenüber bietet die Stille in ihrer Verinnerlichung und Selbst-Fokussierung Orientierung, in der aber sämtliche Orientierung am Äußeren verlassen werden muss. In diesem Sinne bedeutet die Stille Orientierung und Orientierungslosigkeit. Auf diese Doppeldeutigkeit kommt es Kierkegaard an. Für Kierkegaard ist es diesbezüglich entscheidend, dass die Abwendung von der Welt und die Hinwendung zu sich selbst in solch radikalem Maße vorgenommen werden soll, dass das Individuum in seinem absoluten Desinteresse gegenüber äußerlichen Lebens- und Selbstorientierungen vor ein Nichts gestellt wird – nicht nur in dem Sinne, dass die das Individuum umgebende, leibliche, soziale (etc.) Welt zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit herabsinkt, sondern auch, dass sich das Individuum selbst zu einem Nichts wird und zwar deshalb, weil es sich von der Welt und allen durch die Welt gewonnenen Identifikationen ablöst.

das Individuum sich von der Welt abwendet (sie vergisst), um in diesem Schweigen der Welt Gott zu entdecken. Die Leerung des Individuums ist zugleich eine Hingabe an Gott. Von diesem Aufmerksamsein auf Gott hängt letztlich die gesamte Konzeption der Stille ab. Denn die Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung des Empfangens.  „[F]ür den Weltlichen ist es schwer die Stille zu finden, … schwer sie im Lärm des Lebens zu finden …“ (SKS 5, 392 / DRG, 115; auch: SKS 5, 398/ DRG, 122) Bei Johannes de Silentio und Climacus wird dies durch den Begriff „Resignation“ abgedeckt.  SKS 5, 412 / DRG, 138.  Hierfür betont Kierkegaard auch am Ende der Rede, dass der Ort der Stille „nicht äußerlich“ ist (SKS 5, 416/ DRG, 144) und die Stille als diese Nicht-Äußerlichkeit im Grunde gar nicht als Ort bezeichnet werden kann, sondern vielmehr als Verinnerlichung einen im Individuum verborgenen Prozess darstellt: „[W]as kein gemeinsames Unternehmen ist, das tue nicht auf der Straße, sondern allein [rigtigt] im Verborgenen.“ (SKS 5, 410/ DRG, 137)

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Die Abwendung von der Welt kann nicht nur als ein Abstandnehmen von Gewohntem verstanden werden, durch die ein neuer Blick auf bisher Erfahrenes einsetzt,¹²⁸ vielmehr soll sie so absolut sein, dass alle bisherigen Selbst-Repräsentationen aller Selbst-Verstehensprozesse des Individuums zusammenbrechen.¹²⁹ Kierkegaard bezeichnet dies als „Angst“¹³⁰, deren entsprechende Umschreibung gegeben wird, wenn er sagt, dass das Individuum „in der Stille versinkt“¹³¹ und dieses Versinken in der Stille wiederum dadurch bestimmt wird, dass das Individuum „sich von der Mannigfaltigkeit verlassen fühlt, in der e[s] seine Seele gehabt hat …“¹³² Angst ist in diesem Sinne die Absorption der Welt, womit das Individuum in der Stille/Angst zwar bei sich und in diesem Sinne orientiert ist, doch gleichfalls vor die völlige Desorientierung gestellt ist.¹³³ Deshalb ist das Nichts der Stille/Angst ebenfalls doppeldeutig. Denn das Nichts (der vollständigen Weltentsagung) und Gott zeigen sich als je eine Seite desselben Zustands.¹³⁴ Die Doppeldeutigkeit des Nichts der Stille/Angst hat zur Folge, dass die Stille/ Angst – wie bei Vigilius – als ein antipathetisch-sympathetischer Zustand ¹³⁵ gekennzeichnet ist.¹³⁶

 Die Transformation des Schon-Seins durch Welt-Vernichtung bringt Kierkegaard direkt zum Ausdruck: „[D]er gefährliche Augenblick der Besinnung, wenn er sich aus der Umgebung herausnimmt und ein Einzelner wird vor Gott …, das ist eine Stille, die das Gewohnte verändert …“ (SKS 5, 415/ DRG, 142) Die Transformation besteht genauer in der Fokussierung auf Gott, durch dessen Bewusstsein fortan die eigene Lebensgestaltung getragen wird (s.u.).  „Darum fürchtet vielleicht jemand diese Stille und ihre Macht, und das unendliche Nichts, das alle Unterschiede niederstürzt … Es ist, als ob der, der der Welt entsagt, vor der Leere graut, die sich zu zeigen scheint.“ (SKS 5, 395/ DRG, 118 f.)  SKS 5, 415/ DRG, 142.  SKS 5, 395/ DRG, 119.  SKS 5, 415/ DRG, 142.  In der Angst ist das Individuum – wie bei Vigilius Haufniensis – vereinzelt und auf sich selbst zurückgeworfen. Einen Vergleich zwischen der Beichtrede und dem Begriff Angst (in Bezug auf den Schicksalsbegriff) findet sich bei: Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, S. 334– 339.  Die Bedeutungswendung des Nichts der Welt-Losigkeit hin zu Gott entspricht dem Fakt, dass Kierkegaard Gott – ebenso wie Climacus in den Philosophischen Brocken – als „das Unbekannte“ (SKS 5, 399/ DRG, 123) und damit als das vom Menschen nicht Versteh- oder Bestimmbare charakterisiert (und eben dadurch gleichfalls eine Orientierungslosigkeit gegenüber dem Ewigen evoziert).Während eben das Nichtswerden der Welt die Orientierungslosigkeit in der Orientierung an Gott darstellt, gibt der Blick auf Gott nur Orientierungslosigkeit in der Orientierung an der Welt. Es wird also unübersehbar deutlich, dass Gott und Welt diametrale Pole einer ontologisch entzweiten Weltsicht sind.  Vgl. SKS 4, 348/ DBA, 488.

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Als solch ambivalenter Zustand wird die Stille von Kierkegaard auch als „Übergang zum Leben“¹³⁷ benannt. Am naheliegendsten ist es, wenn der „Übergang zum Leben“ dabei als „Wiedergeburt vom Nicht-Da-Sein zum Da-Sein“¹³⁸ verstanden wird und damit jene Bedeutung besitzt, die Climacus in den Philosophische Brocken dem Augenblick zuspricht¹³⁹, zumal die Stille in der Beichtrede nicht nur als „gefährlicher Augenblick“ der Angst, sondern auch als „Augenblick der Erfüllung“¹⁴⁰ bezeichnet wird.Von Climacus her verstanden ist die Stille dann jener Moment, in dem das Individuum durch das Einbrechen des Ewigen in die Zeit, also durch Gott, in den Glauben hineingelangt. Und eben weil Kierkegaard dies als „Übergang zum Leben“ bezeichnet, versteht er ebenso wie Climacus diesen Augenblick des Gesetzt- beziehungsweise Gesprungenwerdens als „Bruch“ mit dem bisherigen Leben, als Neuanfang des Lebens, das dann im Gottes-Verhältnis gelebt und gestaltet wird. Wird jedoch der Fokus auf den Phänomenzustand selbst, auf das Geschehen im Übergang gelegt, ist die Stille jener Moment und Zustand, in dem das Individuum, wie oben zitiert, „in der Stille versinkt“. Dass Kierkegaard hierbei von „Versinken“ spricht, verweist auf die Erbauung, wie sie von Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift entwickelt wird.¹⁴¹ Als das Absorbiertsein in das Gottes-Bewusstsein ist die Erbauung bei Climacus wesentlich durch die Vernichtung des Individuums und die Entdeckung Gottes als Grund bestimmt. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift ist die Selbst-Vernichtung Ausdruck der Negationsdialektik.¹⁴² Die damit implizierte existenzielle Entsprechung im (ontologischen) Gegensatz wird in der Beichtrede dadurch gefasst, dass sich das Individuum ebenfalls von der Welt und all seinen Bindungen an die Welt und somit auch von sich selbst abwendet, um sich so der Negation der Zeit, also der Ewigkeit, zu verähnlichen. Entscheidend ist hierbei, dass diese Vernichtung des Individuums nicht vom Individuum selbst herbeigeführt werden kann. Die Stille ist zwar durch das Be-

 Denn zum einen ist das Nichts der Weltlosigkeit zum Fürchten und die Leere erweckt Grauen (vgl. die Anmerkung 129), weshalb nicht nur eine Hemmung besteht, sich in den Zustand völliger Orientierungslosigkeit zu begeben, sondern Fluchtgefahr: „O, es ist sehr viel leichter nach links und rechts zu schauen, als in sich selbst zu sehen …“ (SKS 5, 410/ DRG, 137) Zum anderen ist die Vereinzelung, in der das Individuum vor das Nichts als Gott gestellt ist, jener Zustand, der gewollt wird, da Kierkegaard das Interesse an der Stille an den Ausgangspunkt der gesamten Darstellung stellt.  SKS 5, 393/ DRG, 116.  SKS 4, 230/ DPB, 32.  SKS 4, 227/ DPB, 29.  SKS 5, 399/ DRG, 123.  Vgl. Kapitel 2.3.3.3.3.  Vgl. Kapitel 2.3.3.3.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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streben des Individuums zur Selbstvernichtung und Abwendung von der Welt bestimmt, hängt aber gleichzeitig vom Entgegenkommen Gottes ab. Die Stille und somit auch die Vernichtung des Individuums können letztlich nur durch ein Ergriffenwerden von Gott eintreten. Alles Wollen zur Abwendung von der Welt (Auslöschung der Weltbezogenheit) zugunsten der Bündelung aller Intentionalität auf Gott dient dazu, in eine Passivität zu gelangen, deren Bedeutung darin liegt, dass eine vollständige Hingabe an Gott praktiziert wird.¹⁴³ Dieser Zustand der Passivität und Hingabe ist die Bedingung der Möglichkeit, dass die Vernichtung des Individuums durch Gott gelingen kann. Gelingt sie und brechen sämtliche bisherigen Identifikationen des Individuums zusammen, ist das Individuum in der Stille, die Kierkegaard auch als „Reinheit“ bezeichnet, zu der er vermerkt: „[K]ein Mensch kann ohne Reinheit Gott sehen …“¹⁴⁴ Systematisch sind die Stille, die Vernichtung und die Reinheit Zeichen für ein und denselben Zustand:¹⁴⁵ dass das Individuum in einem Gottes-Verhältnis ist. Das zweite Merkmal der Erbauung ist, dass Gott als Grund entdeckt wird. Dies hängt im Wesentlichen mit der Verwunderung zusammen und zwar als Prozess, in dem von objektivem Wissen Abstand genommen wird (vgl. nächstes Teilkapitel). Im Zusammenhang mit den bisherigen Ausführungen bedeutet nämlich die Weltentsagung auch die Entsagung von objektiv verifizierbarem Wissen und in diesem Sinne auch eine Urteilsenthaltung gegenüber dem, was nicht verstanden

 Der Gedanke, den Kierkegaard hierbei verfolgt, ist der, dass sich zum Absoluten (Gott) nur absolut verhalten werden kann: vgl. auch Kapitel 2.3.2.2.2.  SKS 5, 407/ DRG, 133 (im Original kursiv); auch: 396/120.  Das impliziert auch, dass sämtliche Bemühungen in das Gottes-Verhältnis zu gelangen darin gipfeln, von sich selbst loszulassen und sich Gott zu überlassen. Deshalb schreibt Kierkegaard, dass „der Reinste der willigste ist“ (SKS 5, 396/ DRG, 120). In der Reinheit (Stille) besteht das Maximum der Hingabe an Gott, ebenso, wie dies bei Climacus durch das „Maximum der Leidenschaft“ (SKS 7, 285/ DUN, 474) intendiert ist. Diese Hingabe an Gott, in der das Individuum in der größten Entfernung von sich selbst ist, ist der Moment, in dem höchste Deindividuierung und höchste Individuierung zusammenfallen. Denn einerseits wird das Individuum im Moment der Stille vollständig auf das Ewige und Absolute hin konzentriert und das dadurch, dass das Unverstehbare oder – in Kierkegaardscher Terminologie – das Paradoxe geschieht: das Ewige dringt in die Zeit ein. Zum anderen wird durch dieses nicht negierbare Geschehen des Unbedingten all das, was bisher Relevanz hatte, in Relation zu diesem Geschehen gesetzt, d. h. all das, was nicht absolut ist, also das Relative, Zeitliche, Endliche, Vergängliche und Begrenzte wird im Verhältnis zum Ewigen nichtig. In diesem Sinne wird auch das Individuum nichtig und gewissermaßen von allem Relativen gereinigt. Dies ist durchaus in Entsprechung zu Vigilius zu verstehen, der der Angst eine ebensolche kathartische Funktion zuspricht, wie Kierkegaard der Stille: „Da dringt die Angst in seine Seele hinein und durchforscht alles und ängstigt das Endliche und Kleinliche aus ihm heraus und führt ihn dahin, wohin er will.“ (SKS 4, 458/ DBA, 636)

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

werden kann. Die dabei erreichbare Epoché ist die Entdeckung Gottes als das „Unbekannte“¹⁴⁶, das als Grund die „Ordnung des Daseins“¹⁴⁷ darstellt.¹⁴⁸ Neben dem Prozess bewusster Welt-Vernichtung ist gleichfalls der Aspekt des Augenblicks wichtig. Denn in dem Moment, in dem Gott in die Zeit eintritt und das Individuum ergriffen wird, geht alle Orientierung an der Welt verloren und das Individuum ist vor die Unbestimmbarkeit gestellt. Es erfährt die unbekannte Ordnung des Daseins als Nähe Gottes und entdeckt ihn als hinter allem Sein liegenden Grund, der immer schon das gesamte Dasein durchdringt. Genau in diesem epiphanen Sinne kann gesagt werden, dass in der Beichtrede das in sich verkehrte Nichts (Gott), also das nicht-verstehbare Sein, der Grund des Daseins ist (was in der Grabrede aufgegriffen wird). Indem Gott als Grund beziehungsweise die Nähe Gottes entdeckt werden, dringt das Individuum zu Gott als das jeder anthropologischen Bestimmung des Menschen zugrundeliegende, aber dennoch ontologisch entgegengesetzte Fundament vor. An Gott ist die Bestimmung des Menschen an sich und somit auch die je eigene Bestimmung des Individuums gebunden. Kierkegaard benennt diese konkret als Sünde. ¹⁴⁹ Versteht sich das Individuum als Sünder, offenbart sich ihm im Moment der Stille die Wirklichkeit der Möglichkeit einer Existenzgestaltung, die es vorher nicht gesehen hat, also – christlich gesehen – eine Existenz, an deren Ende nicht der Tod, sondern das ewige Leben steht.¹⁵⁰ Zugleich wird das Erreichen dieses Ziels unendlich erschwert, weil das

 SKS 5, 399/ DRG, 123.  SKS 5, 391/ DRG, 114.  Auf ontologischer Ebene gilt dann: Die Ordnung und Stabilität der Welt besteht in der Kontingenz des Unbekannten, also dem für den menschlichen Verstand Nicht-Verstehbaren (vgl. Climacus: Kapitel 2.3.3.3.3). Auf subjekttheoretischer Ebene gilt wiederum: Der sich der Wahrnehmung entziehende Gott kann nur dadurch in Erfahrung treten, dass er sich als das Nichts zeigt, das dann nicht nichts ist, sondern ein Sein, das unmittelbar, aber indirekt erfahren wird, indem sich das Individuum von Gott gesehen weiß. Das ist der Glaube.  „Sünde [ist] das gemeinsame Los des Geschlechts“. (SKS 5 396/ DRG, 120) Betont werden muss, dass es Kierkegaard nur implizit darum geht, die Sünde als conditio humana zu charakterisieren. Mehr noch ist er auf die existenzielle Dimension der Sünde fokussiert, also auf das subjektive Auf-sich-Beziehen der Sünde: „[E]r versteht es nicht als allgemeine Aussage, dass alle Menschen Sünder seien, denn diese Allgemeinheit ist es nicht, worauf der Nachdruck liegt.“ (SKS 5, 408/ DRG, 135)  Diesbezüglich wird die Doppeldeutigkeit der Angst von Bedeutung. Die Stille/Angst erscheint antipathetisch, weil eine Möglichkeit des Selbstverstehens erahnt wird, die das ganze bisherige Leben in sich zusammenfallen und nichtig werden lässt; sympathetisch, weil zugleich die Möglichkeit erahnt wird, die das Leben unendlich bereichert. Diese doppeldeutige Möglichkeit kennzeichnet das Nichts der Stille/Angst,vor die sich das Individuum durch seine Verinnerlichung bringen soll, als rückbezügliche Reflexionsbestimmung. Denn im Erahnen der Möglichkeit liegt

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Erkennen seiner selbst als Sünder bedeutet, sich selbst als von Gott grundsätzlich entfernt zu erkennen.¹⁵¹ Diesbezüglich zeigt sich eine Dialektik zwischen Reinheit und Sünde, wobei zu beachten ist, dass Kierkegaard die Sünde auch als „Unreinheit“¹⁵² bestimmt.¹⁵³ Die Dialektik besteht darin, dass erst durch das Bewusstsein der Sünde ein Bewusstsein von Reinheit eintreten kann, so dass erst mit dem Bewusstsein der Sünde ein Bewusstsein für Gott eintritt (Reinheit).¹⁵⁴ Die Stille ist demnach jener Moment, in dem Gott gesehen wird, ohne ihn sehen zu können; sowohl der Moment der Reinheit und Sünde des Individuums wie auch der Nähe und Ferne Gottes. In der Stille ist nicht nur der Zustand des Individuums, sondern auch das Verhältnis zu Gott doppeldeutig charakterisiert, wobei daran erinnert werden muss, dass die Stille selbst systematisch doppeldeutig ist: Orientierung und Desorientierung bedeutet.

immer schon die Betrachtung des Hier und Jetzt durch die Brille der erahnten Möglichkeit. Das bisher gelebte Leben wird durch die Reflexion verzerrt, zu etwas, das nicht mehr hin- oder angenommen wird, sondern in Frage steht und in dem das Potenzial nach Veränderung erkannt wird.  In diesem Zusammenhang muss an Vigiliusʼ Ausführungen zum Sündenfall erinnert werden. Von dessen Interpretation ausgehend, wird die Angst als anthropologisches und existenziell-religiöses Phänomen gedeutet, das – mit Hans Blumenberg gesprochen – nichts anderes darstellt als die „Entzweiung einer ursprünglichen Symbiose“ (vgl. Blumenbergs Angstinterpretation in: ders, Beschreibung des Menschen, S. 564– 568, hier S. 567). Indem nun in der Beichtrede die Sünde als Bewusstsein der Trennung von Mensch und Gott bestimmt ist und die Angst als tragendes Phänomen des Gottes-Verhältnisses („Stille“) fungiert, besteht der systematische Zusammenhang zwischen der Beichtrede und dem Begriff Angst auch darin, dass in beiden Schriften die gleiche dogmatische Ausgangssituation vorherrscht, die zu den gleichen existenziellen Konsequenzen führt.  SKS 5, 407/ DRG, 133.  Diese Charakterisierung der Sünde kann in gewissem Sinne mit ihrer Bestimmung bei Climacus übersetzt werden. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird die Sünde als „Unwahrheit“ (SKS 7, 191/ DUN, 351) bezeichnet. Die Entgegensetzung ist die „Wahrheit“, die bei Climacus als dialektisches Verhältnis zur Ewigkeit verstanden wird. „Wahrheit“ und „Unwahrheit“ stehen wiederum in einem dialektischen Verhältnis zueinander; die Sünde als „Unwahrheit“ ist in die „Wahrheit“ eingeschrieben. In Wahrheit zu existieren heißt einen Bezug zur Ewigkeit zu praktizieren, unter der Voraussetzung, dass die Ewigkeit entzogen ist und unverfügbar bleibt. Ebenso in der Beichtrede: Die „Reinheit“ wird von der Sünde begleitet, ist also ein Verhältnis zur Ewigkeit, das zugleich die größte Differenz zwischen Mensch (Zeit) und Ewigkeit (Gott) ausdrückt.  „[M]an kann Gott nicht ohne Reinheit sehen, und die Sünde ist gerade Unreinheit, und darum kann man Gott nicht in den Sinn [Kjende] nehmen ohne ein Sünder zu werden.“ (SKS 5, 407/ DRG, 133; auch: 396/120)

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Der Gegenstand der Rede II Mit Hinblick auf den Ausgangspunkt dieses Teilkapitels ist zunächst der existenzielle Zustand des Still-Seins-und-Werdens zu beachten, dass das, was mit dem Individuum in der Stille geschieht, eine Veränderung seines Verständnisses von sich selbst ist, so durchgreifend, dass damit der Blick auf das eigene Leben grundsätzlich verändert ist. Der „Übergang zum Leben“, besteht darin, dass sich das Individuum als Sünder und damit als eines erkennt, das immer schon im Gottes-Verhältnis gewesen ist, das fortan dauerhaft gelebt wird. Systematisch liegt das Besondere darin, dass die Stille als Ausgangspunkt dieser Transformation zugleich die Bedingung ihrer selbst ist. Denn die Stille wird ja sowohl als Augenblick wie auch als Erbauung aufgefasst und ist damit sowohl die Bedingung des Gottes-Verhältnisses als auch das Gottes-Verhältnis selbst. Diesem Sachverhalt geht (existenziell) voraus, was für die Existenz des Individuums entscheidend ist: dass die Stille nicht nur Anfang des gelebten Gottes‐Verhältnisses (Sündersein) ist, sondern zugleich auch das Ziel der Verinnerlichung des Individuums. Denn als Prämisse für die Stille setzt Kierkegaard die Verinnerlichung, die Selbstbesinnung und die Abwendung von der Welt, um die Möglichkeit der Stille als Augenblick der Erbauung zu gewährleisten. Da die Stille (Still-Werden) aber erst dann wirklich gelingt, wenn die Stille (Veränderung) in der Stille (Augenblick) empfangen wird, ist der Verinnerlichungsprozess vom Empfangen bedingt, wie das Empfangen zugleich von der Verinnerlichung bedingt ist. Nicht umsonst schreibt Kierkegaard, dass es darum geht, „eine Kunst zu lernen“¹⁵⁵, zu verstehen, dass die Stille (Augenblick) unbeeinflussbar entzogen ist, sie aber dennoch unbedingt erreichen zu wollen.¹⁵⁶ Es ist also der Wille zur Hingabe, worum es Kierkegaard als existenzielle Aufgabe geht; die im freiwilligen Streben realisierte Intensivierung der Verbundenheit (zu Gott); eine Haltung forcierter Passivität, die als solche aktiv vollzogene Religiosität bedeutet.

 SKS 5, 411 / DRG, 137.  Kierkegaard bringt dies zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Man erwirbt sie nicht für nichts, aber man kauft sie nicht für Gold; man nimmt sie nicht mit Gewalt, aber sie kommt nicht wie im Traum …“ (SKS 5, 393/ DRG, 116) Nicht nur gelingt die Stille erst dann, wenn das Individuum etwas für sie tut (Einübung), sondern auch nur dann, wenn höchste Wachheit und Aufmerksamkeit auf die Begegnung mit Gott gelegt wird. – Bei Climacus wird dieser Gedanke mit der Entzogenheitsdialektik abgedeckt und ist besonders durch die Kategorie des Leidens repräsentiert.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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3.2.2.2 Verwunderung und Veränderung „Ich lehnte an der Reling und lauschte den Schatten der Nacht. Kein Laut.“¹⁵⁷

Den Hauptteil der Beichtrede nimmt der Begriff der Verwunderung ein, durch den wesentlich die reflexionsphänomenologischen und existenziellen Bedingungen des Still-Werdens aufgedeckt werden. Kierkegaard gibt hierbei gewissermaßen die Binnenstruktur der Veränderung zur Innerlichkeit an, durch die verschiedene, schon angesprochene Aspekte vertieft werden können.

Der Begriff der Verwunderung Bevor die Rede selbst untersucht wird, muss gefragt werden, was mit Verwunderung gemeint ist. Wolfgang Janke bringt den in der Beichtrede angeführten Begriff der Verwunderung in Verbindung zum Staunen.¹⁵⁸ Denn Kierkegaard bezeichnet die Verwunderung als „Anfang allen tieferen Verstehens“¹⁵⁹ und spielt damit nicht nur auf die bekannten Stellen zum Staunen als Anfang allen Philosophierens bei Platon und Aristoteles an, sondern gibt damit auch zu verstehen, dass Verwunderung als universelle, menschliche Erfahrung zu zählen ist.¹⁶⁰ Dennoch muss zur genauen Klärung der Verwunderung eine begriffliche Differenzierung vorgenommen werden und zwar die zwischen Sichwundern und Staunen. ¹⁶¹ Beide Begriffe beziehen sich auf etwas, das als „merkwürdig“ erscheint. Während jedoch das Sichwundern eher als das Bemerken einer Ungereimtheit angesehen werden kann, deren Ergründen in nicht allzu weit entfernten Erklärungen liegt und vom Individuum auch so aufgefasst wird, bezieht sich das Staunen auf etwas, das in seiner Vergegenwärtigung als Ganzes weder erahnt wurde noch wahrscheinlich schien. Im Staunen wird das Nichtverstehen, die Unerklärlichkeit und Unbegreiflichkeit umfassend als eine Einheit von Irritation und Faszination erfahren. In seiner Qualität der Irritation ist das Staunen, im Gegensatz zum Sichwundern, ekstatischer bestimmt, weil das Nichtverstehen

 Joseph Conrad, „Die Schattenlinie“, in ders., Erzählungen II, übers. von Elli Berger und Gunter Riedel, Leipzig und Weimar 1982, S. 247– 383, hier S. 321.  Vgl. Janke, Plato, S. 34– 37, besonders S. 34 f.  SKS 5, 399/ DRG, 123; auch: 404/129.  Vgl. Deuser, „Religious dialectics and Christology“, S. 381.  Ernst Tugendhat hat diese Unterscheidung eingehender dargelegt: ders., Egozentrizität und Mystik, S. 150 – 162, besonders S. 156 – 162. Die folgende, kurze Charakterisierung geschieht vor dem Hintergrund Tugendhats und ergänzt dessen Ausführungen gleichfalls. Ebenso wie bei Tugendhat wird auf eine weitere Bestimmung des Verwunderns, das Überraschtsein, verzichtet.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

nicht als nichtverstehbar abgetan wird, sondern gefangen nimmt. Das Staunen setzt aus Faszination die Energie für die Beschäftigung mit dem Erstaunlichen frei. Und weil sich das Individuum dabei vor die Grenze seiner Erfahrung und Reflexion gestellt sieht, will es sich in das Erstaunliche vertiefen. Das Erstaunliche ist als das Irritierende der Beginn der Frage, der Impuls zur Reflexion und des Nachdenkens, womit sich das Staunen gegenüber dem Sichwundern auch dadurch unterscheidet, dass es länger anhaltend ist und den Prozess der Vertiefung in das Erstaunliche begleitet.¹⁶² Kierkegaard meint mit der Verwunderung beides: sowohl den Anfang (Irritation) als auch das Vertiefen (Faszination) des Verstehens. Die Verwunderung ist dadurch Bedingung und Vollzug des Verstehens und das bedeutet bezüglich der Beichtrede, dass die Verwunderung die Bedingung für das Still-Werden ist: „Ja,will man gar nichts tun, so entflieht man der Stille in die Stille des geistigen Todes.“¹⁶³ Das Still-Werden wird von Kierkegaard also eindeutig an Reflexion gebunden, die sich auf „das Unbekannte“ (s.o.), Gott richtet, bei dem das Individuum an die Grenze des Verstehens stößt. Jedoch kann sich das Individuum nur verwundern, wenn es Gott als gegenwärtig („nah“) erfährt. Deshalb bezeichnet Kierkegaard die Verwunderung auch als den „Sinn der Unmittelbarkeit für Gott“.¹⁶⁴ Ist also das Still-Werden durch Verwunderung eine Reflexion, die an eine Erfahrungsqualität des Individuums gebunden ist, so geht es dabei um zwei Sachverhalte: Erstens, dass sich das Individuum in das Verstehen vertieft, dass Gott nicht verstanden werden kann. StillWerden durch Verwunderung bedeutet somit, sich in das eigene Nichtverstehenkönnen zu vertiefen. Zweitens bedeutet es, Gott nicht auf dem Weg des Erkennens und Verstehens erfassen zu wollen, sondern dass dieser über das Erleben des Nichtverstehenkönnens erkannt wird. Verwunderung ist demnach ein Erkennen, das sich der Subsumierung unter Reflexionsbestimmungen entzieht. Es geht Kierkegaard um ein Erkennen, das nicht durch Objektivität charakterisiert ist, sondern dadurch, dass das Erkennen eine Erfahrung eines infiniten Regresses, nicht verstehen zu können, bedeutet. Deshalb wiederholt er mehrfach, dass die

 Es sei angemerkt, dass es leicht wäre, die Verwunderung mit dem für den existenziellen Glaubensvollzug wichtigen Zweifel zusammenzubringen. Der Unterschied zwischen Staunen und Zweifel liegt aber in der Objektivierung des Nicht-Verstehbaren, die im Zweifel auf Distanz bringt, im Staunen hingegen eine affirmative Dimension impliziert und so dem climacischen Begriff des Wagnisses nahe kommt (zum Wagen: Kapitel 2.3.2.4.1). In diesem Sinne ist „Verwunderung“ gerade die Beschreibung eines subjektiven, nicht objektiven Verhältnisses zum Gegenstand des (Nicht‐)Wissens.  SKS 5, 417/ DRG, 144.  SKS 5, 399/ DRG, 123.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Verwunderung „unendlich“ sei,¹⁶⁵ womit der durch nicht-fixierbare Verstehensresultate bestimmte Verwunderungsprozess zur reflexionsphänomenologischen Spiegelung Gottes gerät und eben als diese den „Sinn für die Unmittelbarkeit Gottes“ darstellt.

Bedingungen und Zustand der wirklichen Veränderung Die Veränderung zur Stille – Kierkegaard nennt sie auch die wirkliche Veränderung ¹⁶⁶ – wird durch den Prozess der sich vertiefenden Reflexion in das Nichtverstehenkönnen hinein (Verwunderung) bedingt. In dieser Reflexionsbewegung wird das Individuum verändert. Hierbei ist die erste Bedingung für die wirkliche Veränderung der Wunsch, zu Gott zu gelangen, womit Kierkegaard wiederum das Interesse als Ausgangspunkt jeglichen Gottes-Verhältnisses bestimmt.¹⁶⁷ Jedoch liegt die Krux des bloßen Wünschens darin, dass etwas zu wünschen bedeutet – und hier gibt Kierkegaard eine ebenso einfache wie geniale Definition –, etwas haben zu wollen, ohne etwas dafür tun zu wollen.¹⁶⁸ Das wünschende Individuum will zwar in Beziehung zu Gott treten, verkennt aber zwei Dinge: Erstens, dass Gottes Unmittelbarkeit, seine Nähe, zugleich eine nicht negierbare Entzogenheit bedeutet.¹⁶⁹ Damit verkennt er zweitens, dass das wirkliche Gottes-Verhältnis erst erarbeitet werden muss, womit es durch Einübung und damit durch eine Tätigkeit bestimmt ist, oder wie Kier-

 Vgl. unter anderem SKS 5, 401 / DRG, 126.  SKS 5, 403/ DRG, 129.  Und zwar ebenso absolut, wie es von Johannes de Silentio gesagt wird: dass es darum geht, „den ganzen Lebensinhalt und die Bedeutung der Wirklichkeit in einem Wunsch zu konzentrieren. Fehlt es einem Menschen an dieser Konzentration, dieser Geschlossenheit, ist seine Seele von Anfang an in die Vielfallt zersplittert, dann kommt er niemals dazu, die Bewegung zu machen …“ (SKS 4, 137/ DFZ, 221)  Vgl. SKS 5, 398/ DRG, 122. In der Grabrede spitzt Kierkegaard diese Auffassung des wünschenden Individuums zu, wenn er schreibt, dass „der durch das Wünschen Verhätschelte untätig dasitzt …“ (Vgl. SKS 5, 456/ DRG, 189) Und auch Climacus vermerkt: „Selbst das Wünschen, bei dem doch das Interesse, das Interesse des Subjekts weit deutlicher ist, ist kein Glauben, kein Handeln.“ (SKS 7, 311 / DUN, 506)  „Wer wünscht, der sucht auch, aber sein Suchen ist blindlings, nicht so sehr im Hinblick auf den Gegenstand des Wunsches, sondern im Hinblick darauf, dass er nicht weiß, ob er sich nähert oder entfernt.“ (SKS 5, 399/ DRG, 123) Wird diese Doppeldeutigkeit der Relation zu Gott nicht erkannt, bildet es sich der Wünschende bloß ein, in einem wirklichen, durch absolute Hingabe gekennzeichneten Gottes-Verhältnis zu sein. Der Wünschende erkennt nicht, dass das durch Verwunderung vergegenwärtigte, unmittelbare Verhältnis zu Gott immer ein – wie Kierkegaard es nennt – „gebrochenes Verhältnis“ (SKS 5, 400/ DRG, 125) ist.

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kegaard (ebenso wie Climacus) sagt: durch das „Streben“ beziehungsweise durch den „Weg“.¹⁷⁰ Denn gerade die Beschäftigung zeitigt die Veränderung. Die zweite Bedingung der wirklichen Veränderung ist das Nicht-Wissenkönnen. Denn etwas zu wissen bedeutet für Kierkegaard das Ende der Verwunderung.¹⁷¹ In seinem objektiv-resultativen Charakter spiegelt Wissen Erkenntnis vor,¹⁷² die für das Gottes-Verhältnis nicht trägt, weil etwas zu verstehen für Kierkegaard bedeutet, dass das Verstandene uninteressant wird. Da aber Gott „das Unbekannte“ ist, kann er weder verstanden noch uninteressant werden (sofern das Interesse als erste Bedingung des Gottes-Verhältnisses vorausgesetzt ist). Wird Gott also im fokussierten Wunsch mit wirklichem Interesse begegnet, so dass Gottes Wirklichkeit als evident erscheint, so setzt die Verwunderung ein.¹⁷³ Interesse und Verwunderung bedingen sich hierbei gegenseitig. Gott ist das Verwunderliche, weil er von Interesse ist und von Interesse ist er, weil er nicht verstanden und damit nichts über ihn gewusst werden kann. Die Pointe dieser Dialektik ist, dass wirkliche Hingabe nur gelingt, wenn der Gegenstand des Interesses rätselhaften Charakter hat (was für die Trauungsrede ein wichtiger Aspekt ist), dass also grundlegende Irritation ein Faszinosum darstellt.¹⁷⁴ In climacischer Terminologie hieße dies: „Gewissheit und Leidenschaft vertragen sich nicht.“¹⁷⁵

 SKS 5, 400/ DRG, 125. Deshalb ist der wirklich Wünschende keiner, der bloß den Wunsch des Gottes-Verhältnisses hegt, sondern einen – wie Climacus im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken es nennt – Plan verfolgt (vgl. SKS 4, 273/ DPB, 87; vgl. Kapitel 2.2.2.2); sich auf den Weg bzw. ins Werden begibt, eine teleologische Bewegung vollzieht: „Wenn der Suchende nicht blindlings geht, dann wünscht er nicht bloß, er strebt; denn das Streben ist der Weg zum Gesuchten.“ (SKS 5, 400/ DRG, 125) Wenn Kierkegaard kurz darauf anmerkt, dass im Streben „die Verwunderung auf dem Weg begegnet“ (SKS 5, 401 / DRG, 125), so bezeichnet das Streben das Vertiefen in das Gottes-Verhältnis.  Vgl. SKS 5, 401– 403/ DRG, 126 – 128.  Kierkegaard misst der Objektivität des Wissens über Gott ebenso wenig Relevanz zu wie Climacus, wenn er, wie Climacus in den Philosophischen Brocken (vgl. Kapitel 2.3.2.4.1), auf das Beweisen Gottes zu sprechen kommt und vermerkt: „[F]ür den Beweisenden ist die Sache leicht geworden, denn er kommt dazu außen vor zu stehen, er handelt nicht mit Gott, sondern handelt nur über Gott ab.“ (SKS 5, 404 / DRG, 130)  „[W]o der Wunsch am tiefsten Atem holt, wo das Unbekannte sich zu zeigen scheint, da ist Verwunderung …“ (SKS 5, 399/ DRG, 123)  Der dahinterstehende Gedanke Kierkegaards ist der, dass es nicht auf die Lösung eines Problems ankommt (was in die Kategorie des Wissens fallen würde), sondern auf die Beschäftigung mit demselben. Mögen auch – unabhängig von der Beichtrede gesehen – Zwischenlösungen gefunden werden, eröffnen diese doch nur neue aus dem ursprünglichen Problem hervorgehende Problemlagen, mit denen sich beschäftigt werden muss. In diesem Sinne soll das Individuum bei Kierkegaard eine als Existenz zu praktizierende philosophische Bewegung vornehmen: nichts als endgültig und fertig zu betrachten, sondern alles als immer wieder neu In-Frage-Stehendes zu

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Da die Verwunderung kein Wissen ist, liegt die Verwunderung nicht darin, Gott in irgendeiner gearteten Weise zu erahnen, was Kierkegaard als dichterische Verklärung aburteilt,¹⁷⁶ sondern darin, die „Not des Entbehrens“¹⁷⁷, also die Unbegreiflichkeit auszuhalten. ¹⁷⁸ Und eben weil Gott in der Welt nicht als ein Etwas ausgemacht werden kann, ist er nur als das für den Verstand Negative zugegen, als das Nichts. Die existenzielle Konsequenz dieser Verwunderung über das Nichts beziehungsweise Gott ist, dass Gott für die eigene Existenz von Bedeutung wird und sich das Individuum zu Gott ins Verhältnis bringt. Denn dem Unverstehbaren mit Hingabe zu begegnen, macht ja gerade das Gottes-Verhältnis in Verwunderung aus. Die Verwunderung wird von Kierkegaard schließlich konkret als Verzweiflung beschrieben.¹⁷⁹ Dabei versteht er unter Verzweiflung zunächst, ebenso wie Climacus, das Verstandesverhältnis des Individuums zum Ewigen, das verstehen will, erkennen – sowohl das eigene Leben, sich selbst und all das, was einem begegnet, als Aufforderung zur Auseinandersetzung zu betrachten.Wird dieses Primat der vita activa vom Individuum verstanden, so ist es die Beschäftigung mit dem Problem, die das Individuum in ein Verhältnis zum Problem setzt und es zu seiner Angelegenheit werden lässt. Durch die Beschäftigung wird das Problem zu einem, das das Individuum etwas angeht (von Interesse ist). Die Beschäftigung des Individuums zeugt eine Veränderung des Individuums (vergleiche die Ausführungen zur „Umbildung“ bei Climacus: Kapitel 2.3.3.1). Wenn Kierkegaard im Zusammenhang mit der Unzulänglichkeit des Wissens festhält, dass der Mensch nur langsam voranschreitet (vgl. SKS 5, 402 / DRG, 126), so ist damit festgehalten, dass in der Beschäftigung selbst die Bedeutung liegt. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass die Veränderung als Beschäftigung in Verwunderung auch Ausdruck für die Genese religiösen Bewusstseins ist (unter der systematischen Voraussetzung eines immer schon bestehenden Ewigkeitsbezugs des Menschen).  SKS 7, 36/ DUN, 156.  SKS 5, 399 f. / DRG, 124.  SKS 5, 402 / DRG, 127.  Kierkegaard verfolgt hierbei einen ähnlichen Gedanken wie später Climacus mit der Resignation, wenn er schreibt: „Lass nur den Verstand das Vergängliche beurteilen, lass ihn nur den Ort roden – da kommt die Verwunderung an den rechten Ort im Veränderten.“ (SKS 5, 405/ DRG, 131) Indem sich dem Verstand das Ewige entzieht, kann er es nicht im Vergänglichen, im Zeitlichen und Endlichen, im Irdischen, der Welt ausmachen, denn das Ewige ist ohne Relation zum Zeitlichen und Endlichen. Auch deshalb sagt Kierkegaard, dass Gott deshalb „das Unbekannte“ ist, weil er in keinem Verhältnis zu etwas anderem steht. (Vgl. SKS 5, 399/ DRG, 123)  Hierfür ist zu beachten, dass Kierkegaard zwei Formen der Verwunderung (über Gott) identifiziert. Die erste Verwunderung tritt mit dem Wünschen ein, dann, wenn das Interesse erwacht. Die zweite Verwunderung tritt mit dem Begreifen des Nichtverstehenkönnens ein. Von dieser zweiten Form hängt die Verzweiflung ab: „Aber du, der ja selbst in der Verwunderung bist, du weißt ja, dass diese Verwunderung entstand, als die erste in Verzweiflung verzehrt war.“ (SKS 5, 403/ DRG, 128) Zudem ist diese Stelle ein gutes Beispiel für die indirekte Mitteilung der Gelegenheitsrede. Man beachte, wie Kierkegaard den Leser anspricht: zur Selbstbefragung anleitend und gleichfalls als einen, der (angeblich) noch nicht im Glaubensvollzug ist.

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aber nicht verstehen kann und somit als ein interessiertes Verstehenwollen zu charakterisieren ist. Die Verzweiflung ist das Vorstoßen zur Grenze des Verstehens, an der das Individuum begreift, dass alles Verstehenwollen Gottes nur ein infiniter Regress (s.o.) des Nichtverstehens sein kann. Die Verwunderung der Verzweiflung ist in diesem Sinne „unendlich“¹⁸⁰, was aber von Kierkegaard durchaus doppeldeutig gemeint ist. Nicht nur ist das Nichtverstehen nicht auflösbar (sozusagen „unendlich“), sondern er meint auch, dass in der absoluten Nichtverstehbarkeit das Unendliche – Gott – erscheint. Gott tritt in der Ekstasis der Verwunderung (s.o.) hervor. Gleichfalls ist die Verwunderung als Verzweiflungsform nicht auf eine Ekstasis zu reduzieren. Denn Gott kann – der systematischen Struktur des Begriffs der Verzweiflung entsprechend – nur in Abhängigkeit zum Verstehen erscheinen, geht aber eben nicht im Verstehen auf. Die Entzogenheit Gottes (das Nichtverstehen) korreliert mit dem „Sinn der Unmittelbarkeit für Gott“ (s.o.). Die Verzweiflung ist somit der Zwischenzustand (bei Climacus: das Inter-esse) zwischen dem Festhalten und dem Nichthabhaftwerdenkönnen Gottes,¹⁸¹ zwischen Erfahrung und Erkennen, zwischen Nähe und Ferne. Diese Doppeldeutigkeit des Gottes-Verhältnisses in der Verzweiflung – die Unmittelbarkeit Gottes zu spüren, ihm aber nicht nahe sein zu können –,¹⁸² wird von Kierkegaard so konnotiert, dass es „die Verwunderung des ganzen Menschen“¹⁸³ ist. Verzweiflung ist demnach eine Existenzbestimmung, die das ganze Bewusstsein des Menschen umgreift,¹⁸⁴ ein Zustand, der – wie Kierkegaard betont – „wirklich erlebt“¹⁸⁵ wird und damit sowohl Affektion, Leiblichkeit („Zittern“) als auch Verstand umfasst. Die sich existenziell zeigende Spannung zwischen dem Regress des Nichtverstehens und dem Spüren Gottes als etwas Gegebenes – diese Spannung zwischen Verstand und Affektion zu erleben als etwas, in der Gott als das sich der Kontrolle Entziehende erfahren wird, ist das, was das Individuum durch die Verzweiflung verändern lässt.  SKS 5, 401/ DRG, 126.  „Aber wie fände sich ein würdigerer Gegenstand der Verwunderung, als wenn der im Wünschen und Streben Suchende, der in der Verzweiflung Umkommende plötzlich entdeckt, dass er das Gesuchte hat, aber das Unglück ist, dass er stehe und es verliere!“ (SKS 5, 403/ DRG, 128)  Die Doppeldeutigkeit der Verzweiflung unterscheidet sich von der der Angst also dadurch, dass in der Verzweiflung der Fokus auf Gott, in der Angst der Fokus auf dem Verhältnis zu Gott liegt. Beiden grundlegenden Existenzphänomenen ist jedoch gemeinsam, dass sie an die faktische Möglichkeit, dass Gott da ist, gebunden sind.  SKS 5, 403/ DRG, 128 (Hervorhebung d.Vf.).  Gerichtsrat Wilhelm intendiert dieselbe Bestimmung der Verzweiflung: SKS 3, 203/ DEO, 769.  SKS 5, 403/ DRG, 128.

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Die entscheidende Wendung dieses Gedankens liegt nicht darin, dass die Nichtverstehbarkeit Gottes akzeptiert wird, so dass es Kierkegaard darum ginge, die Verzweiflung zu beenden.¹⁸⁶ Die Wendung liegt vielmehr darin, dass das Individuum in der Verzweiflung so tief in die Verwunderung vordringt, dass es sich selbst als Ursache der Unerfassbarkeit Gottes erkennt. Es begreift seine Begrenztheit des Verstehens. Es versteht, dass Gott da ist, aber durch sich selbst wird es am Erreichen Gottes gehindert.¹⁸⁷ Diese Umkehr der Blickrichtung, dass der Grund der Unverstehbarkeit Gottes nicht in Gott liegt, sondern im Individuum selbst, macht die Veränderung aus.¹⁸⁸ Veränderung ist also immersive und grenzziehende (kritische) Selbst-Reflexion.

Das Wesen der wirklichen Veränderung Aus dieser Bestimmung folgt, dass sich das Individuum selbst überwinden müsste, um Gott nahe zu sein. Da sich das Individuum bei Kierkegaard aber unmöglich selbst überwinden kann,¹⁸⁹ tritt das unmittelbare Gottes-Verhältnis erst ein, wenn sich das Individuum von Gott überwinden lässt (Augenblick/Stille).¹⁹⁰ Das Verhältnis zu Gott hängt somit der Transformation der Einstellung ab: Statt forciertem Wollen geht es um die aktiv beibehaltene Passivität des Empfangens. Die wirkliche Veränderung liegt demnach in dem Umstand, dass das Individuum versteht, dass die Möglichkeit besteht, ein unmittelbares Gottes-Verhältnis einzugehen (sofern Gott entgegenkommt), um sich durch dieses Verstehen in diesem Möglichkeitszustand zu halten. Sie ist somit nichts anderes als die Bereitschaft, sich auf das  „[E]ndet aber der Verstand damit Aufruhr zu machen, so triumphiert er [der Mensch, d Vf.] nicht. Denn im Veränderten ist Verwunderung.“ (SKS 5, 406/ DRG, 131)  Bei Climacus wird dies im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken als Leiden begriffen (vgl. Kapitel 2.3.3.2.1) und in der Unwissenschaftlichen Nachschrift als elementare Voraussetzung der Erbauung (vgl. Kapitel 2.3.3.3.3).  Deshalb schreibt Kierkegaard: „[W]elchen stärkeren Ausdruck gibt es für die Verwunderung als den, dass der Wundernde verändert wird, … welchen stärkeren Ausdruck als den, dass er wirklich verändert wird! Und so ist es mit dieser Verwunderung, sie verändert den Suchenden …: zu suchen bedeutet, dass der Suchende selbst verändert wird. Er soll nicht den Ort finden, wo das Gesuchte ist, denn das liegt nahe bei ihm, er soll weder den Ort finden, wo Gott ist, noch soll er dorthin streben, denn Gott ist nahe bei ihm, ganz nah, überall nah, in jedem Augenblick am allernächsten, sondern er soll verändert werden, so dass er selbst zu dem Ort wird, wo Gott in Wahrheit ist.“ (SKS 5, 403 f. / DRG, 128 f.)  Vergleiche hierzu auch die Rede Gott zu bedürfen ist die höchste Vollkommenheit des Menschen: SKS 5, 310 f. /4R44, 27 f.  „[U]nd der, welcher sich überwinden ließe, bewiese damit gerade, dass er der Stärkere wäre.“ (SKS 5, 408/ DRG, 134) Die Stärke des Individuums ist hierbei nicht als Selbstbehauptung zu verstehen, sondern als der Wille zum Loslassen.

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Kontingente (also Gottes Entgegenkommen) einzulassen, dem vorausgeht, dass die Kontingenz erkannt (Verwunderung) und akzeptiert (Veränderung) wird. Religiosität wird so zu einem grundlegenden, von Selbstreflexion getragenen Umgang mit Kontingenz. Im Bewusstsein der Kontingenz ein Verharren im Zustand der Möglichkeit zu praktizieren, nennt Kierkegaard schließlich auch die wahre Verwunderung. ¹⁹¹ Diese ist strukturell durch einen „doppelte[n] Seelenzustand“¹⁹² beziehungsweise durch „doppelte Leidenschaft“¹⁹³ bestimmt, deren Zweideutigkeit in „Furcht und Seligkeit“¹⁹⁴ liegt.¹⁹⁵ Diese Ambivalenz bezeichnet das, was über die Stille als Angst gesagt wurde: das Individuum befindet sich in einem antipathetischsympathetischen Verhältnis zu Gott.¹⁹⁶ In der Unruhe eines solchen fiebrigen Oszillierens liegt für Kierkegaard die letzte Grenze, bevor das Individuum in ein unmittelbares Gottes-Verhältnis (durch Gott) tritt. Die wahre Verwunderung ist somit das höchste,vom Individuum selbst zu erreichende Verhältnis zu Gott:¹⁹⁷ der „Übergang zum Leben“ (s.o.).

3.2.2.3 Struktur religiöser Existenzpraxis Mit der wahren Verwunderung ist zum einen ein Zustand erreicht, in dem sich das Individuum unzweifelhaft vor Gott gestellt sieht, und zugleich, dass es sich vor Gott gestellt sieht. Sie ist die Vereinzelung vor Gott, die sowohl die Offenheit für

 Vgl. SKS 5, 405 f. / DRG, 130 f.  SKS 5, 399/ DRG, 123.  SKS 5, 404 / DRG, 129.  SKS 5, 399, 404 / DRG, 123, 129.  Seligkeit ist Signum emotionaler Leidenschaft; Furcht Signum für Reflexionsleidenschaft. Hierbei ist daran zu erinnern, dass Johannes de Silentio das von Kierkegaard über lange Zeit vorgesehene Pseudonym der Gelegenheitsreden war (vergleiche die Einleitung zu Kapitel 3.2). In Furcht und Zittern beschreibt die Furcht die reflexiv-affektive Grenze des Geistes, das Abgestoßenwerden vom Unverstehbaren, die Grenze vor dem Glauben, denn „der Glaube [fängt] eben da an[], wo das Denken aufhört“. (SKS 4, 147/ DFZ, 235) Das wird besonders im Abschnitt „Problemata II“ deutlich, wo von Johannes de Silentio der fehlende Mut betont wird.  Weil das Individuum in der wahren Verwunderung sich selbst und Gott im Blick hat, wird die Möglichkeit des wirklichen Gottes-Verhältnisses zur Möglichkeit für das Individuum selbst, das von der Offenheit der Möglichkeit sowohl angezogen (Seligkeit) als auch abgeschreckt (Furcht) ist. Diese Widersprüchlichkeit der wahren Verwunderung kennzeichnet sie als Zustand, der in sich die Unmittelbarkeit Gottes verhindert, in dem aber zugleich das stärkste Festhalten an Gott praktiziert wird.  Kierkegaard bezeichnet sie auch als „Anbetung“ (SKS 5, 399/ DRG, 123).

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Gott als auch die Einengung des Blicks auf das Individuum selbst impliziert.¹⁹⁸ Aus subjektstruktureller Perspektive bezeichnet sie das Selbst-Verhältnis vor Gott und damit existenzstrukturell die Innerlichkeit (im climacischen Sinne). Sodann ist die religiöse – und das heißt innerliche – Existenzpraxis wesentlich durch drei Existenzphänomene bestimmt, nämlich Schuld, Sorge und Aufrichtigkeit, durch deren genaue Bestimmung neben praxistheoretischen auch strukturtheoretische Merkmale eines religiösen Lebensvollzugs hervortreten.

Schuld und Zeitlichkeit In der wahren Verwunderung wird vom Individuum die wirkliche Veränderung verstanden, also der Umstand, dass das Individuum selbst die Ursache für die Entzogenheit Gottes ist.¹⁹⁹ Christlich-dogmatisch begreift es die Sünde, also seine Entzweiung von Gott.²⁰⁰ Und eben dies zu verstehen, ist christlich-dogmatisch die

 Deshalb schreibt Kierkegaard: „Nur wenn sie [die wahre Verwunderung, d.Vf.] deine Seele zusammenpresst und ausweitet, deine, nur deine, deine allein in der ganzen Welt, weil du einer geworden bist, der allein ist mit dem Allgegenwärtigen, nur dann ist sie in Wahrheit da für dich.“ (SKS 5, 405/ DRG, 130)  Deshalb schreibt Kierkegaard: „Die wahre Verwunderung und die wahre Furcht sind erst dann da, wenn er, nur er, sei er der Bescheidenste oder der Größte, einer wird, der mit dem Allgegenwärtigen allein ist. Die einfache [ligefremme] Größe der Kraft und der Weisheit und der Tat bestimmen nicht die Größe des Gottes-Verhältnisses. … [D]ie Furcht und die Verwunderung oder die Furcht der Verwunderung und ihre Seligkeit bestimmen die Größe des Gottes-Verhältnisses.“ (SKS 5, 405/ DRG, 131) Mit der von Kierkegaard qualitativ aufgefassten Größe des Gottes-Verhältnisses ist nichts anderes gemeint, als dass das Individuum Gott als nah und sich als von Gott entfernt begreift. Es sieht sich in einem Gottes-Verhältnis und begreift sich selbst als Hindernis für die Unmittelbarkeit zu Gott.  „Der Suchende sollte verändert werden, ach, und er war verändert – so geht es zurück. Und die Veränderung, in welcher er ist, nennen wir die Sünde. Nun ist das Gesuchte da, der Suchende ist der Ort, aber verändert und zwar dazu verändert, dass er einmal der Ort gewesen ist, wo das Gesuchte war. O, nun ist da keine Verwunderung, keine Doppeldeutigkeit!“ (SKS 5, 406 f. / DRG, 132) Die fehlende Doppeldeutigkeit ist gerade das konkrete Verständnis der Sünde als das Verhältnis zu Gott, in dem sich das Individuum von Gott getrennt sieht und sich dabei zu sich selbst abstößt, als eines, das in größter Hingabe und größtem Abstand zu Gott existiert. Und in diesem Sinne schreibt Kierkegaard ja auch, dass es mit dem Verstehen der Sünde „zurück geht“, nämlich in dem Sinne, dass das Individuum auf sich selbst zurückkommt als dasjenige, dem Gott einerseits nahe ist, es dem Individuum andererseits aber unmöglich ist, aus eigener Kraft zu Gott zu gelangen. Das „Zurückgehen“ ist somit das Vordringen zum Kern des Gottes-Verhältnisses: der Dialektik von Verwunderung und Veränderung, die gerade darin besteht, dass das Individuum mit dem Blick auf Gott sich selbst in den Blick rückt und dabei begreift, dass Gott die ganze Zeit da war, nur es selbst das Hindernis ist, zu Gott zu gelangen. Damit setzt gleichfalls das Verstehen ein, dass es an seinem Gottes-Verhältnis bisher vorbeigelebt hat. Es bewegte sich von sich selbst weg,weil es

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Schuld. Denn diese ist das Bewusstsein vom Sündenfall, also nicht nur das konkrete Bewusstsein der Sünde selbst, sondern auch die Erinnerung daran, dass es einen Zustand gibt, in dem das Individuum mit Gott vereint ist.²⁰¹ Dadurch ist die religiöse Existenzpraxis zwiefach gekennzeichnet: Zum einen ist das Individuum (danach) bestrebt, den Zustand der Vereinung zwischen Mensch und Gott wieder zu erlangen.²⁰² Es ist eine auf Zukunft ausgerichtete Existenzpraxis. Zugleich ist es auch eine auf Vergangenheit gerichtete Existenzpraxis. Denn durch die Schuld tritt das Bewusstsein dessen ein, immer schon in einem Gottes-Verhältnis gewesen zu sein, ohne in diesem gelebt zu haben.²⁰³

seine Konzentration nicht auf das Still-Werden und somit nicht auf das Selbst-Verhältnis vor Gott (Innerlichkeit) gelegt hat.  In Anbetracht der Sünde als Entzweiung des Menschen von Gott (vgl. auch Kapitel 3.2.2.1) ist die Schuld die auf Kontinuität gestellte Bewusstheit irreversibler Entzweiung – und damit das Bewusstsein der Sünde. Kierkegaard nimmt damit in Ansätzen das Schuldverständnis bei Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift vorweg. Denn auch bei Climacus ist das Schuldbewusstsein das Bewusstsein der Sünde (vgl. SKS 7, 483/ DUN, 731) und zugleich eine das ganze Individuum umfassende Bestimmung; Climacus nennt sie auch eine „Total-Bestimmung“ (SKS 7, 480/ DUN, 727) und als diese den „entscheidenden Ausdruck für das existenzielle Pathos in Bezug auf die ewige Seligkeit“ (SKS 7, 484/UN, 732; auch: 481 / 728). Die Schuld ist als Verhältnisbestimmung des Individuums eine konkrete Bestimmung (vgl. SKS 7, 479/ DUN, 726). Das Individuum versteht sich als schuldig und kann seine Existenz nur vor dem Bewusstsein des Schuldigseins zu wirklicher Religiosität führen, indem es sich durch die Schuld in unbedingtem Maße zum Ewigen verhält und von dort her versteht. Deshalb ist das Schuldigsein auch das „Sichvertiefen in Existenz“ (SKS 7, 481/ DUN, 729); das Sich-zu-sich-selbst-Vorarbeiten-vor-Gott. Schuldigsein ist Innerlich-Sein und zugleich das Innerlich(er)-Werden. Diese sich in sich vertiefende Innerlichkeit durch Schuld knüpft Climacus ebenso wie Kierkegaard an die Erinnerung der Ewigkeit (besonders SKS 7, 489, 500/ DUN, 739, 753), wobei die Erinnerung bei Climacus mit dem platonisch-sokratischen Verständnis der Erinnerung verwoben ist. Das Individuum dringt durch das Sich-Vertiefen-zu-sich (in der Abwendung von der Welt) zur Immanenz (vgl. SKS 7, 483/ DUN, 731) vor und damit zu der Ewigkeit, in der die Seele (platonisch verstanden) einstmals war, oder anders gesagt: zu der Ewigkeit, die im Individuum immer schon vorhanden ist und durch die es einen Bezug zur Ewigkeit immer schon besitzt. Im Beibehalten des Bewusstseins von der Ewigkeit im Individuum liegt die Innerlichkeit des Individuums; dem Bewusstsein, dass das Individuum immer schon vom Ewigen her bestimmt ist und es diese Bestimmung in der Existenz als Bewegung nach vorn, in die Zukunft hinein praktizieren soll – durch das Streben zu Gott, der die ewige Seligkeit ermöglicht.  Michael Bjergsø nennt diese Bewegung eine Bewegung „nach Hause“: ders., Kierkegaards deiktische Theologie, S. 88 ff. Dies entspricht dem Glauben als „Rückkehr in die Heimat“: vergleiche die Analyse der Schiffsmetapher in Kapitel 2.3.2.4.1.  Das Spüren dieses Verlustes nennt Kierkegaard die Reue (SKS 5, 413/ DRG, 140), die das Schuldigsein als ein Anders-gekonnt-haben-Können bewusst werden lässt. Das Bedürfnis hingegen, dies wieder gut zu machen, nennt Kierkegaard die Sorge (s.u.). So schreibt Kierkegaard: „[D]ie Veränderung, in welcher er ist, nennen wir die Sünde. Nun ist das Gesuchte da, der Suchende ist der Ort, aber verändert und zwar dazu verändert, dass er einmal der Ort gewesen ist, wo

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In der Schuld rückt somit das ganze Leben in den Blick, indem sowohl Vergangenheit als auch Zukunft vergegenwärtigt werden.²⁰⁴ Im Wesentlichen ist dabei eine Zukunft das Ziel der Existenzgestaltung, deren Ausprägung von der Vergangenheit abhängt. Denn die Zukunft wird in der Beichtrede als diejenige Zeitlichkeit verstanden, in der nicht nur die Erfüllung in der Zeit (Stille) liegt, sondern auch die Möglichkeit, die Fehler der Vergangenheit zu bereinigen. ²⁰⁵ Der Kern der durch Schuld bestimmten Existenzpraxis liegt also nicht nur darin, dass sich das Individuum als eine in die Zeit ausgedehnte Person begreift, sondern sich dadurch konkret wird, indem es sich sowohl seiner Fehlbarkeit als auch seiner Bestimmung bewusst wird. Und die eigene Fehlbarkeit überwinden zu wollen in der Hingabe an Gott, um sich von Gott überwinden zu lassen, ist gerade Bestimmung und Aufgabe des Individuums. Anders gesagt: Das StillWerden in Schuld zu vollziehen und damit gleichfalls das Sündenbewusstsein zu stabilisieren, macht die Innerlichkeit als Selbst-Verhältnis vor Gott aus. Die Innerlichkeit ist als diese Verhältnisbestimmung als Bewegung und als Zustand bestimmt. Die Bewegung liegt im Streben zu Gott; der Zustand im Bewusstsein des Getrenntseins von Gott.

Bewegungszirkel und Sorge Insofern Existieren im Allgemeinen und religiöses Existieren im Speziellen einen Handlungsvollzug und somit einen Prozess darstellt, kommt es systematisch auf die Kategorie der Bewegung an. Die Bewegungsdialektik der Beichtrede besteht darin, dass das Ziel der Bewegung in die Bewegung selbst eingeschrieben ist und auf die Bewegung selbst zurückwirkt.²⁰⁶ Kierkegaard betont diese Dialektik, wenn er schreibt, dass „das Wesentliche“ dann „das Eigentum des Einzelnen wird“, wenn „man es tut“.²⁰⁷ Die Aneignung und Einübung und Innerlichkeit der Schuld und Sünde sind durch deren Bewusstsein bedingt, so dass die Vertiefung in das Gottes-Verhältnis selbst schon die Existenzpraxis in Schuld und Sünde darstellt.²⁰⁸ das Gesuchte war. […] Der Zustand der Seele, wenn sie dies erfasst, ist Furcht und Zittern in dem Schuldigen, ist Leidenschaft in der Sorge nach Erinnerung, ist Liebe in der Reue des Verlorenen.“ (SKS 5, 406 f. / DRG, 132 (Hervorhebung d.Vf.)).  Vgl. Climacus: Kapitel 2.2.3 und 2.3.2.3.2.  Denn es ist eben dieses Bestreben nach „Reinheit“, das das Still-Werden bestimmt (s.o.).  Dies beschreibt auch die Bewegungsdialektik, die bei Climacus anhand der Wiederholungsbewegung dargestellt wird: vgl. Kapitel 2.3.2.2.2.  SKS 5, 416/ DRG, 144.  Mit dieser zirkulären Struktur zeigt sich erneut die Nähe der Beichtrede zu Vigilius Haufniensis, der von der sich selbst voraussetzenden Sünde spricht (vgl. DBA, Kap. I, § 2).Während aber Vigilius im Wesentlichen innerhalb christlich-dogmatischen Denkens eine anthropologisch-

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Dieser Zirkel erklärt, warum am Ende des Hauptteils schließlich die Sorge, die bei Kierkegaard das Bewusstsein von Sünde und Schuld voraussetzt, als Anfang allen religiösen Existierens bezeichnet wird. Denn nachdem er Schuld und Sünde als wirkliche Veränderung herausgestellt hat, schreibt er: „Sorge steht … am Anfang … [D]er Sorgende [ist] der Suchende …, der damit beginnt, Gott kennenzulernen.“²⁰⁹ Als Suchender ist der Sorgende einer, der sich schon von Gott getrennt weiß, also eine, der seine Fehlbarkeit begriffen hat deshalb mit teleologischem Interesse versucht, zu Gott zu gelangen. Die Sorge wird dabei nicht nur als maßgeblich religiöses Bedürfnis, sondern als anthropologische Bestimmung aufgefasst, da Sünde und Schuld (Fehlbarkeit) – christlich gesehen – grundsätzlich zum Menschen gehören.²¹⁰ Die Sorge ist also das Bewusstsein, sich um sich selbst vor Gott bemühen zu müssen.

psychologische Deutung des Sündenfalls verfolgt, will Kierkegaard in der Beichtrede eine existenziell-religiöse Deutung des Glaubens als im Menschen angelegtes Potenzial geben. Strukturell vereint beide Perspektiven, dass sowohl die Sünde als auch die Innerlichkeit allein durch den Sprung/Augenblick „in die Welt kommen“, womit sie einerseits vorausgesetzt sind, andererseits aber erst sind, wenn sie sind. Hier besteht, wie bei Climacus, die Frage nach dem Hineinkommen in den Glauben, indem sowohl die Sünde als dogmatische Bestimmung des Glaubens wie auch die Innerlichkeit als Vollzug des Glaubens ihre existenzrelevante Bedeutung bekommen.  SKS 5, 408/ DRG, 134.  Die Sorge ist, auch in ihrer vielfältigen Besprechung der erbaulichen Reden von 1843/44 (vergleiche die Einleitung zu Kapitel 3.3), systematisch eine dialektisch auf das christlich-religiöse Existieren bezogene Kategorie. Besonders deutlich wird dies in den Christlichen Reden von 1848, in denen Kierkegaard im ersten Teil „Die Sorgen der Heiden“ (SKS 10, 13 – 98/ CR, 5 – 96) bespricht und die Sorge als anthropologisches Datum des an die Ewigkeit verwiesenen Menschen herausstellt (in diesem Fall unter der Einschränkung, dass die Sorgen der Nicht-Christen sich an Maßstäben endlichen Lebens orientieren (ein Sorgebegriff, den Kierkegaard auch in der Grabrede verwendet: SKS 5, 461 / DRG, 196)), ohne Einbezug der Ewigkeit, von denen der christlich-religiös Existierende befreit, aber mit der Sorge um die Ewigkeit beschäftigt ist. (Vergleiche auch das zu Kierkegaards Sorge-Verständnis einführenden Kommentar in: Margarita Kranz, „Sorge“, in HWPh, Bd. 9, S. 1086 – 1090, hier S. 1086 f.) Als christlich-religiöses Bedürfnis für die Ewigkeit, das in seiner Bindung an Sünde und Schuld gleichfalls eine anthropologische Bestimmung darstellt, wird die Sorge auch bei Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift aufgegriffen: „[D]as Problem [betrifft] nicht die Wahrheit des Christentums …, sondern das Verhältnis des Individuums zum Christentum, … die Sorge des unendlich interessierten Individuums in Bezug auf sein Verhältnis zu solch einer Lehre.“ (SKS 7, 24 f. / DUN, 144) Die Sorge ist die auf das Christentum hin orientierte „conditio sine qua non“ (ebd.) des Interesses der erbaulichen Religiosität. Sie ist Bedingung der Möglichkeit christlich-religiösen Existierens und gleichfalls das Möglichkeitsbewusstsein einer ewigen Seligkeit: „Es ist nämlich nicht unmöglich, dass der, der für seine ewige Seligkeit unendlich interessiert ist, einmal ewig selig werden kann, dagegen ist es wohl unmöglich, dass der, der den Sinn dafür verloren hat (welcher doch nichts anderes als eine un-

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Aus diesem Bemühen heraus gerät die Sorge zur Bedingung der Möglichkeit der Innerlichkeit. Ist die Sorge somit der Anfang der Bewegung des Still-Werdens, ist sie nicht nur die Bedingung für das Erkennen der Möglichkeit (des GottesVerhältnisses), sondern die Bedingung für die existenzdialektische Überführung der Möglichkeit ins Handeln. Innerhalb der Systematik der Beichtrede bedeutet dies, dass die Sorge die Bedingung für die Veränderung vom bloß wünschenden zum strebenden Individuum ist, womit sie die Bedingung für die wirkliche Veränderung und wahre Verwunderung ist. Indem nun aber Veränderung und Verwunderung durch die Dialektik der Bewegung selbst wiederum Bedingung der Sorge sind, sind Anfang und Ende der religiösen Existenzbewegung unauflösbar verwickelt. Und das bedeutet letztlich nur, das die aus Sorge praktizierte Innerlichkeit die Erkenntnis des Individuums ist, in der es sich seiner Möglichkeiten und auch der Freiheit zu diesen Möglichkeiten bewusst wird: „[I]n Beziehung zum Wesentlichen bedeutet es zu können wesentlich es tun zu können.“²¹¹ Dieses existenzdialektische Können ist nicht nur das Streben zu Gott und sich dabei vor Gott zu begreifen, sondern sich zur Sünde und seiner Schuld zu bekennen und mit diesem Bekenntnis zu leben.

Beichte, Aufrichtigkeit und Ernst Die Sorge ist genau in diesem Sinne die Bedingung für die Möglichkeit der Beichte als das Eingeständnis der Sünde vor Gott, womit durch die (oben genannte) Dialektik von „Reinheit“ und Sündenbewusstsein gerade Gott vergegenwärtigt wird. So bestimmt Kierkegaard die Beichte als dasjenige Verstehen, in dem das Individuum „in das Verborgene sieht“.²¹² Und kurz darauf: „[D]ie Beichte ist der Weg, der ein Weg der Seligkeit ist, eine Einkehr, wo angehalten wird, wo die Besinnlichkeit den Sinn sammelt.“²¹³ Die Beichte ist in diesem Sinne der rituelle Prozess des „Versinkens“, der Absorption der Welt als „unendliche Verwunderung“ im Nichtverstehenkönnen Gottes. endliche Sorge sein kann), dass der ewig selig werden kann.“ (SKS 7, 25/ DUN, 145) Der existenzielle Kern der Sorge besteht darin, dass das Denken ein erfahrungsgebundenes wird; sich in Sorge zu bedenken heißt, eine „unvertretbare Betroffenheitsperspektive der ersten Person“ (Wesche, Kierkegaard, S. 22) einzunehmen. Die Fragen des Wie und des Was des eigenen Lebensumgangs fallen zusammen und werden in der Sorge an ein Ideal religiöser Lebensorientierung gebunden. Zur Sorge bei Climacus: Schäfer, Hermeneutische Ontologie, S. 37 f. Zur Sorge aus ideengeschichtlicher Blickrichtung, die unter anthropologischer Perspektive auf Kierkegaard bezogen wird: Wesche, Kierkegaard, S. 22– 30.  SKS 5, 416/ DRG, 143.  SKS 5, 392 / DRG, 115.  SKS 5, 393/ DRG, 117; auch: 396/120.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Strukturell ist die Beichte dann eine Bewegung des Individuums, in der das Ziel der Bewegung und die Bewegung selbst zusammenfallen, ist also die Innerlichkeit aus Sorge. Die Beichte bezeichnet demnach das Gelebtwerden und somit die Verwirklichung der Innerlichkeit als dialektische Bewegung zum GottesVerhältnis im Gottes-Verhältnis. Dies entspricht gerade der Praxis der Schuld (s.o.). Was die Beichtpraxis dann existenziell charakterisiert, ist die Aufrichtigkeit des Individuums.²¹⁴ Denn diese steht für die Stellungnahme²¹⁵ des Individuums zu sich und damit für das Eingeständnis in die Sünde. In diesem Sinne ist die Aufrichtigkeit wesentlich das auf Kontinuität gesetzte Bewusstsein der Schuld. Dabei soll vom Individuum nicht nur eine Position gegenüber der eigenen Person bezogen werden, sondern auch zu dieser Positionierung eine Position eingenommen werden, also eine Reflexion erreicht werden, die in die eigene Lebensgestaltung eingreift. Die Punkt ist der, dass die Aufrichtigkeit dann nichts anderes beschreibt, als dass das Individuum immer ehrlich sich selbst gegenüber ist,²¹⁶ dadurch, dass es sich immer in Frage stellt und sich darin hält und somit die eigenen Schwächen nicht von sich wegdrängt oder sie sogar durch ein Vergleichen mit anderen Menschen dadurch zu rechtfertigen versucht, dass andere Menschen gleichfalls

 Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass neben der Aufrichtigkeit auch die Selbstvernichtung ein Merkmal der Beichtbewegung ist. So schreibt Kierkegaard: „Je tiefer die Sorge ist, desto mehr fühlt sich der Mensch als ein Nichts, als weniger als nichts …“ (SKS 5, 408/ DRG, 134; wird genauso wiederholt: 408/135) „Werde erst einer, der allein ist, so lernst du wohl die rechte Gottesverehrung, dass du hoch von Gott und gering von dir selbst denkst – nicht geringer als dein Nachbar, als wärst du der Ausgezeichnete, sondern merke, dass du vor Gott bist – nicht geringer als dein Feind, als wärst du der Bessere, denn merke, du bist vor Gott; sondern gering von dir selbst.“ (SKS 5, 411 / DRG, 137) Versteht sich das Individuum als ein Nichts, begreift es sich in Relation zu Gott in seinem Unvermögen und seiner Fehlbarkeit, seiner Sünde und Schuld. Die Dialektik der Selbstvernichtung besteht hierbei darin, dass, je mehr sich das Individuum schuldig fühlt und somit als Hindernis versteht, Gott dialektisch zum Vorschein tritt (vgl. SKS 5, 409/ DRG, 135) – was eben die Dialektik zwischen „Reinheit“ und Sündenbewusstsein darstellt. Die Nichtswerdung bezeichnet das Im-Gottes-Verhältnis-Sein und das dabei einsetzende SelbstVerstehen in Schuld und Sünde (vgl. SKS 5, 410/ DRG, 136).  Kierkegaard bezeichnet die Aufrichtigkeit auch als „Pflicht“ (SKS 5, 412 / DRG, 138), vor Gott offenbar zu werden (SKS 5, 413/ DRG, 140) und dadurch sich selbst zu verstehen (SKS 5, 412 / DRG, 138).  Das Individuum gehört in diesem Sinne zu den Wenigen, die Kant, wie Hannah Arendt interpretiert, als „diejenigen, die sich selbst gegenüber ehrlich sind“, bestimmt. (Arendt, Das Urteilen, S. 48) Der Unterschied zwischen den Wenigen und den Vielen (oder in Kierkegaards Terminologie zwischen dem Einzelnen und der Menge) beruht dann auf dem Anspruch nach Sittlichkeit, d. h. in allem Handeln dem Lügen entgegenzuwirken.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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mit Verdrängung leben würden.²¹⁷ Keine Beruhigung, sondern den Willen zur unbedingten und auch unbequemen Selbstdurchleuchtung, fordert Kierkegaard, also nichts anderes als die Anerkennung der (eigenen) Wirklichkeit ohne Schein. ²¹⁸ Die existenzielle Einsicht liegt dann in dem Bewusstsein, dass die eigenen Schwächen als Teil der eigenen Person wahrgenommen werden und im Bewusstsein zu halten sind, weil durch die Entdeckung eigener Defizite näher zu sich selbst vorgedrungen wird. Das Bewusstsein des eigenen So-Seins, macht nicht nur das Bewusstsein dafür frei, die eigenen Stärken klarer zu erkennen, sondern etwas gegen die eigenen Schwächen zu tun. Im religiösen Kontext der Rede bedeutet das, dass Schuld und Sünde nicht einfach zu akzeptieren sind, sondern immer gleich auch eine Gegenreaktion fordern, nämlich Schuld und Sünde entgegenzuwirken. In diesem Sinne wird das Individuum in der Aufrichtigkeit von sich selbst abgestoßen, zu einer Bewegung zur „Reinheit“, eben der Beichte. Fasst man die religiöse Existenzpraxis aus Sorge und in Aufrichtigkeit des bekennenden Schuldbewusstseins strukturell zusammen, so beschreibt sie einen Existenzvollzug in Form einer sich immer weiter vertiefenden Spirale, hinein in eine Lebenshaltung, in der es dem Individuum schließlich nur noch um sich selbst vor Gott geht.²¹⁹ Eben diese Vereinzelung vor Gott, die Innerlichkeit, ist in der Beichtrede der Ernst: „[E]s [ist] der Ernst …, vor dem Heiligen einer zu werden …“²²⁰ Der Ernst ist also gerade das, was als praktische Lebenshaltung aus der Sorge (zur Stille) folgt: die Innerlichkeit als (aufrichtige) Lebensgestaltung vor dem Hintergrund des wahren²²¹ Verhältnisses zu Gott.²²²

 Würde sich das Individuum vor sich selbst rechtfertigen und sich nicht in Frage stellen, so wäre es in der von Kierkegaard als Übel angedeuteten „Eigengerechtigkeit“ (SKS 5, 394, 410/ DRG, 117, 136), in der sich mit willkürlichem und nicht mit absolutem Maß, nicht mit Blick auf Gott, sondern mit menschlichem Maßstab als dem absolutem Maß selbst begegnet wird. Von Climacus her würde die „Eigengerechtigkeit“ strukturell in die Kategorie der „Verrücktheit“ fallen (vgl. Kapitel 2.3.2.4.1), die darin besteht, das Relative als absoluten Maßstab zu betrachten.  Hermann Deuser bezeichnet das Anerkennen der Sünde mit dieser Formulierung (vgl. ders., Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 149).  „Soll ein Mensch seine Sünde wesentlich verstehen, dann muss er sie verstehen, weil er einer wird, … mit dem Heiligen, der alles weiß.“ (SKS 5, 407/ DRG, 133) „[N]ur mit sich selbst versteht doch ein Mensch, dass er schuldig ist.“ (SKS 5, 413 f. / DRG, 141)  SKS 5, 414/ DRG, 141.  Wahrheit ist in der Beichtrede als „wahre Verwunderung“ und somit durch das Selbstsein vor Gott bestimmt.  Kierkegaards Auffassung des Ernstes entspricht der von Vigilius Haufniensis, der die Innerlichkeit u. a. als Ernst und Wahrheit bestimmt und damit die Bewegung der Innerlichkeit sowohl als eine Bewegung zum Individuum selbst (Ernst) begreift wie auch als eine Bewegung, die erst durch das eigene Tun als Bewegung und damit als gelebtes Selbst-Verhältnis vor Gott bezeichnet werden kann (Wahrheit). Vgl. DBA, Viertes Kapitel, § 2, II, besonders Abschnitte a und c.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

3.2.2.4 Dialektik der Innerlichkeit In der Beichtrede wird das Gottes-Verhältnis – strukturell – als dialektische Bewegung beschrieben, in der das Ziel der Bewegung in die Bewegung selbst eingeschrieben ist, ohne dass das Ziel in der Bewegung aufgeht. Die Konzeption der Stille zeigt, dass das Still- und damit das Innerlich-Werden als Gottes-Verhältnis bestimmt ist, ohne dass das Gottes-Verhältnis seine höchste Potenzierung erreicht. Denn anhand der grundlegenden Thematisierung der Doppeldeutigkeit²²³ macht Kierkegaard deutlich, dass das Individuum lediglich die Möglichkeit zur höchsten Potenzierung, dem unmittelbaren Gottes-Verhältnis, besitzt.Wenn es Kierkegaard also letztlich darum geht, „die Stille zu verstehen, durch die man still zu werden vermag“²²⁴, so geht es ihm im Grunde nur um das Gottes-Verhältnis als eine durch sich selbst bedingte Bewegung, in der Anfang, Ende und Prozess verschränkt²²⁵ sind – um eine in sich selbst vertiefende Bewegung. Der Mensch wird dabei als ein Wesen beschrieben, dem es im Anstoßen an die Grenzen der Verstehbarkeit um sich selbst und den sich im Verborgenen zeigenden Grund des Seins geht. Kierkegaard zeigt in der Beichtrede diejenigen reflexionsphänomenologischen Erscheinungsweisen und anthropologischen Bedingungen auf, die den Menschen als einen nach universellem Sinn Suchenden bestimmen. Der Mensch wird bei Kierkegaard zu einem Wesen, das sich mit dem Unfassbaren beschäftigt, aber auch dazu gezwungen ist, weil nichts als eindeutig erscheint. Der Verstand drängt immerfort zur Frage, zur Reflexion, die unaufhörlich ergründen will und dabei doch nur feststellen kann, dass nicht der Grund,

 Es traten in der Analyse grundlegend zwei Doppeldeutigkeiten des existenziellen GottesVerhältnisses hervor. Zum einen die Stille als Angst (und gleichfalls auch als wahre Verwunderung), bei der der Fokus auf das Verhältnis zu Gott gelegt wird, indem dasselbe als ein antipathetischsympathetisches Verhältnis bestimmt ist. Zum anderen die Veränderung in Verzweiflung, in der der Fokus auf Gott gelegt wird, indem derselbe als unmittelbar, aber dennoch als das Entzogene vergegenwärtigt wird.  SKS 5, 416/ DRG, 144.  Sämtliche Beobachtungen Kierkegaards sind nur innerhalb dieser Voraussetzung zu sehen. Der Wunsch als Gewahrwerdung des Interesses; die Verwunderung als Hingabe an das Kontingente; die Angst als das Sich-Zeigen der Zweideutigkeit der Möglichkeit; die Furcht als Abgestoßenwerden von der Möglichkeit; die Seligkeit als Angezogenwerden; die Verzweiflung als selbstreflexive Gewahrwerdung der Unverstehbarkeit Gottes; die Schuld als Bewusstsein des Getrenntseins von Gott; die Sünde als Bestimmung der Fehlbarkeit des Individuums; die Beichte als Bekenntnis der Sünde; die Aufrichtigkeit als Abgestoßenwerden zur Reinheit; die Sorge als Bemühung des Sich-Haltens im Gottes-Verhältnis; all dies sind Zustandsbeschreibungen und existenzielle Bestimmungen, denen dialektisch die wirkliche Veränderung des Individuums (also das Bewusstsein der konkreten Möglichkeit eines Gottes-Verhältnisses) vorausgeht, dieselbe aber wiederum durch jene bedingt wird.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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sondern lediglich die Verhinderung des Vordringens zum Grund erkannt werden kann: die Reflexion selbst. Dieser grundsätzlichen Rückbezüglichkeit der Reflexion, in der sich die Reflexion nur selbst als unendliche Bewegung gewahr wird,²²⁶ setzt Kierkegaard das religiöse Bestreben entgegen, in dem es um nichts anderes geht, als dass die Reflexion am Ende zum Stillstand gelangt und sich der Mensch vor Eindeutigkeit gestellt sieht. In diesem Sinne ist die Innerlichkeit (Still-Werden) zwar eine Bewegung des Geistes und als diese auch durch die Dialektik der Bewegung als unendlich gekennzeichnet (Stichwort: unendliche Verwunderung), jedoch mit dem Ziel, die eigene Reflexion zu überwinden.²²⁷ Indem jedoch diese Überwindung von der Kontingenz abhängt, dass Gott entgegenkommt, bleibt die Innerlichkeit eine in sich kreisende Reflexion, die sich durch ihre eigene dialektische Bewegung so sehr perpetuiert, dass sie im Versuch, die Reflexion zu überwinden, nur sich selbst verstärkt. Diese Widersprüchlichkeit der Innerlichkeit als in sich gegenläufige Bewegung ist dann auch das Kennzeichen für das Gottes-Verhältnis. Gott ist von Kierkegaard als das Nahe bestimmt, aber zugleich ist er aufgrund des Individuums das Entzogene, weil die Reflexion sich weder selbst überwinden, noch die Unendlichkeit erfassen kann, sondern nur auf sich selbst zurückzukommen vermag.

 Bei Climacus wird dies eben durch die reflexionstheoretische Definition der Innerlichkeit abgedeckt: „die Reflexion in sich selbst“ (SKS 7, 397/ DUN, 618).  Kierkegaard hebt den Stillstand der Reflexion auch konkret hervor, wenn er schreibt, dass es um die „Einkehr“ und die „Sammlung des Sinns“ (vgl. SKS 5, 396/ DRG, 120), also die kontemplative Konzentration des Verstehens geht, damit „das Wesentliche Eigentum des einzelnen wird …“ (SKS 5, 416/ DRG, 144) Hierbei dient das Reflexionsziel, also die Kontemplation der Innerlichkeit, die durch geistige Weltabwendung und den Modus geistiger Entleerung (Selbstvernichtung) angestrebt wird, der existenziellen Verdopplung Gottes, der ja das Nicht-Denkbare (das „Unbekannte“ (s.o.)) ist. Über die Kontemplation wird Gott ange-eignet. Somit ist aus reflexionstheoretischer Sicht das existenzielle Ziel des Still-Werdens, die Stille, gerade die ins Subjekt hineinverlagerte Spiegelung Gottes (vergleiche auch die Bemerkungen zur „unendlichen“ Verwunderung in Kapitel 3.2.2.2). Bezüglich dieses Spiegelverhältnisses sei kurz eine der rhetorisch schönsten Stellen der erbaulichen Reden zitiert, in der sich die religiöse Auffassung des (auch mystisch zu verstehenden) Selbstseins sublimiert, wenn Kierkegaard in der unmittelbar vor der Beichtrede verfassten Rede Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, dass Gott siegt notiert: „Wenn das Meer all seine Kraft anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade nicht widerspiegeln, auch nur die mindeste Bewegung, so spiegelt es den Himmel nicht rein; doch wenn es stille wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts.“ (SKS 5, 380/4R44, 109) Das Loslassen und Empfangen, die Hingabe, Passivität und Nichtswerdung, kurz, die Stille, wird hier als ein Spiegelungsprozess des Ewigen im Subjekt veranschaulicht. Zum Aspekt der Spiegelung in den Gelegenheitsreden: vergleiche auch und besonders die Analyse der Grabrede (besonders Kapitel 3.2.4.3).

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

So ist die Innerlichkeit existenziell die Vereinzelung vor Gott, ohne zu Gott gelangen zu können. Indem so das Ziel der Bewegung (Gott) nur verfehlt werden kann, ergibt sich zugleich der existenziell auszuhaltende Widerspruch, dass die Innerlichkeit sowohl das Erarbeiten des Selbst-Verstehens ist, indem sich immer weiter ins Gottes-Verhältnis hineinbewegt wird, dabei aber verstanden wird, dass nur Gott das Selbst-Verstehen geben kann. Die Sünde ist diesbezüglich genau die Existenzkategorie der Beichtrede, in der das Individuum sowohl am genauesten bestimmt ist als auch dazu bestimmt ist, sich selbst nicht bestimmen zu können. Und der Grund für das Gefangensein in dieser unauflösbaren Zweideutigkeit liegt darin, dass das Gottes-Verhältnis seine eigene dialektische Voraussetzung ist; das Individuum also gerade immer durch das Gottes-Verhältnis am genauesten bestimmt ist. Zum einen ist das Individuum dann dadurch bestimmt, dass das eigene Selbst-Verstehen immer nur ungenügend ist, weil Sünde Fehlbarkeit und somit auch mangelnde und begrenzte Einsicht bedeutet. Selbst das wirkliche Verstehen der eigenen Sündhaftigkeit ist lediglich das Stehenbleiben vor dem eigentlichen, durchdringenden Selbst-Verstehen. Zum anderen ist das Individuum durch das Gottes-Verhältnis immer durch etwas anderes bestimmt. Das Selbstsein kann demnach niemals als eine durch sich selbst definierbare und autonome Essentialisierung des Individuums betrachtet werden, sondern immer nur als relationales Strukturgeflecht. Lediglich in der Ewigkeit, in Gott selbst, ist das Selbstsein nicht mehr relational, dann aber auch kein Selbstsein mehr, sondern jeder Bezüglichkeit und Eingrenzung entzogen. Als religiöse Existenzpraxis wird Innerlichkeit so ganz am Ende zu einem Streben, das die Selbst-Auflösung in der Ewigkeit fokussiert.²²⁸ Da es aber – wie Johannes de Silentio in Furcht und Zittern sagt²²⁹ – die Zeitlichkeit und Endlichkeit ist, worum sich alles existenziell-religiöse Denken dreht,²³⁰ zeigt sich diese Tendenz zur Selbst-Auflösung nicht nur existenzpragmatisch darin, dass die Selbstvernichtung (Abwendung) als Annäherungsbewegung an die Ewigkeit versucht wird, sondern auch dadurch, dass die Innerlichkeit ein Bestreben danach ist, von Gott im Leben getragen zu werden: „Lass Gott den Einen sein, er weiß ja am besten alles für den zu verrichten [at passe], der einer ist, um ihn zu suchen.“²³¹ Vor allem im Konzept der Stille tritt der Gedanke des Ge-

 Gerade diese Auflösung will reflexionsphänomenologisch durch den Stillstand der Reflexion und deren kontemplativ-entleerenden Selbstvernichtung (s.o.) im Dasein vorweggenommen werden.  Es sei daran erinnert, dass die Gelegenheitsreden in der Arbeitsphase unter diesem Pseudonym verfasst wurden: vergleiche die Einleitung zu Kapitel 3.2.  Vgl. SKS 4, 143/ DFZ, 229.  SKS 5, 414/ DRG, 141.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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tragenwerdenwollens, des Ergriffenseins, Verbundenseins hervor, indem es um die unbedingte Hingabe an Gott geht. Nun ist die unbedingte Hingabe aber durch zwei Sachverhalte charakterisiert. Einerseits ist die Hingabe eine auf Überwindung der Reflexion tendierende Bewegung (hin zur Überlassenheit im Getragenwerden), die nur durch Interesse und Verwunderung (Wille und Verstand) ist und sich damit durch das Festhalten am Gegenstand charakterisiert. Zugleich ist die Hingabe an Gott immer noch eine Form von Selbstbehauptung (wenn auch nicht in dem starken Sinne des Trotzes der Krankheit zum Tode), aus der das Individuum nicht herauskommen kann, weil es das Individuum ist, das sich hingibt. Es wird also weder der Gegenstand des Interesses losgelassen noch kann das Individuum von sich selbst loslassen. Indem in der Hingabe also eine Fixierung Gottes vom Individuum vorgenommen wird, geschieht genau das Gegenteil des existenz-religiösen Ziels, das im Bewusstsein der Fixierung des Individuums durch Gott liegt, was mit einer Transformation des Selbst-Verstehens einhergeht, in der das Individuum eben nicht sich, sondern das andere als maßgebend anerkennt. Solche Selbst-Überwindung durch Überwundenwerden zu erreichen, genau darum geht es Kierkegaard als religiöse Lebensanschauung in der Beichtrede, bei gleichzeitigem Verständnis dafür, dass der Mensch, weil er Wille und Verstand besitzt und durch sie in ein Selbst-Verhältnis gebunden ist, niemals selbst in einen Zustand gelangen kann, in dem er sich von sich befreit hat und damit wirklich frei für Gott ist. Das, wozu das Individuum aus sich selbst heraus gelangen kann, ist lediglich die durch Hingabe getragene Einsicht in die Kontingenz. Dem Individuum bleibt im Drängen nach Ergründung und Überwindung letztlich nur das Bekenntnis zum Unvermögen. Und es ist die Beichte, die die Innerlichkeit sublimiert, in der sich das Individuum dies aufrichtig und mit aller Klarheit eingesteht. Die Konsequenz dessen ist, mit diesem Bekenntnis in der Zeitlichkeit und Endlichkeit zu leben, ohne aber – und das macht Kierkegaard durch die dialektische Bewegung deutlich – an diesem Bekenntnis zu resignieren. So sind Suche und Bekenntnis ineinander verschränkt und die Innerlichkeit der unaufhörliche Versuch, zu sich selbst und Gott vorzudringen. Und als Ernst ist sie die konsequente Umsetzung dieser Verschränkung, ohne aber das wirkliche Ziel erreichen zu können. Diese Unabgeschlossenheit lässt die Innerlichkeit zu einer Bewegung werden, die ein Streben zu einem immer in der Zukunft verbleibenden Ziel ist. Sie beschreibt daher eine existenzpragmatische Wirklichkeit zur Möglichkeit, deren Wirklichkeit unauflösbar aussteht. Das macht die Möglichkeit selbst zum Fixpunkt für unausschöpfliche Potenzialität; doch mit diesem Bewusstsein setzt gleichfalls das Bewusstsein des praktischen Scheiterns an der Unrealisierbarkeit dieser Potenzialität ein.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Die Innerlichkeit ist in der Beichtrede also letztlich als ein Existenzvollzug zwischen Streben und Niemals-Ankommen, Wollen und Unrealisierbarkeit, Nichtaufgeben und Scheitern gekennzeichnet.

3.2.3 Anlässlich einer Trauung: Leben im Gottesverhältnis I

Einleitung (SKS ,  –  / DRG,  – ) a) Pastorale Exposition (SKS ,  / DRG, ) b) Thematische Hinführung (SKS ,  / DRG, ) II Hauptteil (SKS ,  –  / DRG,  – ) A) Exposition (SKS ,  / DRG, ) B) Liebe und Entschluss (SKS ,  / DRG, ) C) Bedingungen und Bestimmung des Entschlusses (SKS ,  –  / DRG,  – ) a) Wirkliche Vorstellung vom Leben und sich selbst (SKS ,  / DRG, ) b) Wirkliche Vorstellung von Gott (SKS ,  / DRG, ) III Koda (SKS ,  / DRG, )

Anlässlich einer Trauung handelt von dem Entschluss (dän. Beslutning) zur Bindung an einen anderen Menschen und von der Existenzpraxis der Liebe, in der „die Liebe alles überwindet“.²³² Systematisch geht es darum, wie das Individuum zum Entschluss gelangt, welche Bedingungen für das Sich-Entscheiden erforderlich sind und was der Entschluss bewirkt in Bezug auf den Bund zu einem anderen Menschen. Insofern die Trauungsrede auf die Beichtrede folgt, ist diejene in diese eingeschrieben und entfaltet ihre ganze Bedeutung nur vor dem Hintergrund derselben. Das bedeutet zum einen, dass sämtliche Ausführungen Kierkegaards nur vor dem Hintergrund zu verstehen sind, dass das Gottes-Verhältnis seine eigene dialektische Voraussetzung ist, in die sich im Entschluss hineingearbeitet werden soll. Zum anderen, dass die Ausführungen zum Entschluss von Anbeginn im Zusammenhang von Selbst- und Gottes-Verhältnis stehen. Hierbei legt die Trauungsrede den Fokus darauf, wie die Innerlichkeit in die äußere Praxis einwirkt und stellt heraus, dass das Selbst-Verhältnis vor Gott die unbedingte Voraussetzung dafür ist, das Leben in seinen Schwierigkeiten zu bewältigen. Der rote Faden der Trauungsrede besteht darin, das eigene SelbstVerhältnis vor Gott als konstitutive Bedingung für das eigene Leben und Zusammenleben herauszustellen.

 SKS 5, 422 / DRG, 150.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Im Folgenden wird ein Verständnis der Innerlichkeit erarbeitet – und darin liegt der eminente Anschluss- und Ergänzungswert der Trauungsrede zum climacischen Verständnis der Innerlichkeit –, in dem dieselbe sich erst durch ihre Wirkung im Äußeren als umfassend bestimmt zeigt.

3.2.3.1 Bedingungen des Entschlusses Kierkegaard gibt wesentlich drei Bedingungen an, die sowohl zum Entschluss hinführen und zugleich dem Entschluss und dem Ernst innewohnen. Dies sind die wirkliche Vorstellung vom Leben, sich selbst und Gott, wobei die Vorstellung von Gott von Kierkegaard als Bedingung der ersten beiden Vorstellungen benannt wird.²³³

Die wirkliche Vorstellung von Gott Zunächst ist zu fragen: Was bedeutet „wirkliche Vorstellung“?²³⁴ Wirklich ist nicht mit „real“, sondern mit „wirksam“ oder „bedeutsam“ zu übersetzen. Eine wirkliche Vorstellung von Gott ist eine zur Handlung orientierende Vergegenwärtigung Gottes. Dies beansprucht nicht, ein konkretes Bild zu besitzen, sondern die Bedeutung der Vorstellung für das eigene Leben und sich selbst zu erfassen.²³⁵ Eine wirkliche Vorstellung von Gott kann sodann nur dort gewonnen werden, wo Gott nicht objektiv feststellbar zu finden ist, also in der Existenz. Und das bedeutet für Kierkegaard konkret: Gott kann nur in Relation zu der Vorstellung vom Leben und der von sich selbst erfasst werden. Diese beiden Vorstellungen werden wiederum von der Gottes bedingt, diese von jenen, die wiederum auch

 „[D]ie … große Forderung, die gleichsam die erste ist: eine wirkliche Vorstellung von Gott.“ (SKS 5, 437/ DRG, 167)  Dazu: Harrits, „Wortwörtlichkeit des Geistes“, S. 122. Meine Deutung unterscheidet sich leicht von der Harritsʼ, der „Vorstellung“ als konkretes Bild geistiger Repräsentation versteht.  Dies könnte auch von Climacus her gesehen werden, bei dem die Bedeutung der Vorstellung der ewigen Seligkeit zur Handlung motiviert: vergleiche den Abschnitt zur Resignation in Kapitel 2.3.3.1.1. – Dass es sich bei der Vorstellung von Gott nicht um ein konkretes Bild im Geist handeln kann, zeigt sich an der Beichtrede. Dort ist Gott als „das Unbekannte“ gefasst, das nur als Negation dadurch vergegenwärtigt werden kann, dass Gott als Gegensatz zu dem Vorstellbaren und geistig Repräsentierbaren betrachtet wird: als Nichts. – Zudem macht Dorothea Glöckner darauf aufmerksam, dass Kierkegaard auch in der zweiten Rede der Drei erbaulichen Reden 1844 hervorhebt, dass das Individuum keine konkrete Vorstellung von der Ewigkeit haben soll: dies., Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 185 (Anm. 186).

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

einander bedingen.²³⁶ Für die Vorstellung von Gott gilt deshalb, dass Gott immer schon in das Verständnis von Leben und Selbst eingebettet ist. Die Vorstellung Gottes ist dann eine gesonderte, weil sie Bedingung und Folge der anderen beiden Vorstellungen ist. Und die existenzielle Bedeutung dieser dialektischen Abhängigkeit liegt darin, dass sich im Verstehen des Lebens und der eigenen Person in das vorausgesetzte Verhältnis zu Gott hineingearbeitet wird. Eine wirkliche Vorstellung zu haben heißt deshalb, diese Vorstellung zu erarbeiten. Auf struktureller Ebene fallen dabei das Ziel der Bewegung und Bewegung zusammen, ohne dass das Ziel in der Bewegung aufgeht – eine Dialektik, die schon der Beichtrede innewohnt. Die von hierher bedingte Dialektik zwischen Vorstellung und Bewegung ist dann als eine Wiederholung zu bestimmen. Die Bewegung ist eine Wiederholung der Vorstellung und diese ist die Wiederholung des Existenzvollzugs.²³⁷ Diese doppelte Wiederholung ist wiederum Ausdruck eines „transzendentalanalogen“²³⁸ Denkens, das die Thematisierung des Existenzvollzugs mit den Möglichkeitsbedingungen von Religiosität verschränkt.²³⁹ Als Bedingung der Möglichkeit ist die „wirkliche Vorstellung“ dann die Bedingung der – im Titel der drei Reden betonten – „gedachten Gelegenheit“. Denken und Sein sind durch „wirkliche Vorstellung“ und „gedachte Gelegenheit“ so ineinander verschränkt, dass das, was im Denken als wirklich erscheint, auch in der Praxis als Möglichkeit angenommen und durch Handeln in Wirklichkeit transformiert werden kann.²⁴⁰ So muss systematisch festgehalten werden, dass die wirkliche Vorstellung existenzdialektisch aufzufassen ist; dass also der Existenzvollzug am Denken orientiert und dieses gleichfalls in den Lebensvollzug integriert wird.²⁴¹ Als die konkrete Möglichkeit von Wirklichkeit wirkt die wirkliche Vorstellung auf den Existenzvollzug ein und ist demnach als Gegenteil der „gedachten Wirklichkeit“²⁴²

 „[N]iemand kann eine wirkliche Vorstellung von Gott haben, ohne eine entsprechende vom Leben und sich selbst zu haben, ebenfalls keine wirkliche Vorstellung von sich selbst, ohne eine wirkliche von Gott, und keine wirkliche Vorstellung vom Leben, ohne eine wirkliche von sich selbst.“ (SKS 5, 437/ DRG, 167 f.)  Auf die „Wiederholung“ wird im Zusammenhang mit dem „Entschluss“ zurückgekommen.  Dieser Begriff wird übernommen von: Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher, S. 311.  Für den vorliegenden Sachverhalt bedeutet das konkret: Die Erkenntnis Gottes liegt im Existenzvollzug, durch den Gott erst als Bedingung der Möglichkeit gewahr wird, der Existenzvollzug zugleich aber immer schon von Gott als Bedingung der Möglichkeit getragen ist.  Während bei der „wirklichen Vorstellung“ die Wirklichkeit der Möglichkeit betont wird, hebt die „gedachte Gelegenheit“ die Möglichkeit der Wirklichkeit (vgl. Kapitel 3.2.1.1.2) hervor.  Vgl. Climacus: Kapitel 2.2.4.1.  SKS 7, 292 / DUN, 486.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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bei Climacus zu verstehen, die als nicht-existenzdialektische Abstraktion begriffen wird. Für die wirkliche Vorstellung Gottes gilt dann, dass sie derjenige im Denken erfasste Fixpunkt ist, der von der Beichtrede her in der Sorge erfasst wird und damit Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit ist, was hier bedeutet zu verstehen, dass Gott der Grund des Lebens und des Selbst ist. Erst wenn Gott in diesem Sinne als evident erfasst wird, vermag das Individuum bei Kierkegaard das Leben und sich selbst wirklich zu be- und ergreifen.²⁴³ Das Individuum vergegenwärtigt also mit der wirklichen Vorstellung von Gott, dass das Leben und es selbst von Gott getragen sind. Je mehr sich in das Gottes-Verhältnis vertieft wird, umso mehr durchdringt Gott das Leben und das Individuum, weil das Individuum erkennt, dass Gott das Leben und das Individuum selbst immer schon durchdrungen hat. Im Erarbeiten der wirklichen Vorstellung legt das Individuum also sein Gottes-Verhältnis frei.

Die wirkliche Vorstellung vom Leben Durch das unmittelbare Verhältnis von Selbstsein und Leben ist Leben nicht als etwas Allgemeines, sondern als etwas Konkretes, nur als das vom Individuum selbst zu lebende Leben begriffen. In der Trauungsrede wird das so verstandene Leben anhand des Vollzugs der Ehe dargestellt. Kierkegaard gibt im Abschnitt zur Vorstellung vom Leben eine längere, phänomenologisch reiche Beschreibung eines Ehelebens, in dem das Auseinanderbrechen der Ehe keimt. Bevor Anhand dieser Darstellung die Eigenschaften existenzieller Lebensgestaltung destilliert werden wollen, soll die Stelle ausführlich zitiert sein. O, ob es wohl bloß die geschiedenen Ehepartner [Ægtefolk] sind, denen die Scheidung gegeben wurde, denen der besorgte Bund der Trauung zum Fluch wurde; ob bloß die dem Stand unwürdig sind, die den elenden Anfang gemacht haben, indem sie den Bund als weltliche Übereinkunft und irdischen Gewinn betrachtet haben, und enden wie sie begonnen haben, oder für die die eheliche Verbindung keine Freiheit wurde, sondern eine Falle, in der sich das Begehren der Sinne erhitzt hatte; ob bloß der ein schlechter Ehemann wäre, der feige und unmännlich die Schönheit der Frau angebetet und umworben hat, … bis er mit der Undankbarkeit … endet, weil über die Jahre die Jugend und die Schönheit von der genommen wurden – der er angetraut war? O nein, hier geht es wie es mit dem Tod im Leben geht. Es sind ja nicht bloß die die Beute des Todes, die auf dem Krankenlager liegen und dem Arzt übergeben sind: es geht Mancher

 „Die Vorstellung von Gott ist keine zufällige Beigabe [Tillæg] im Verhältnis zu der Vorstellung vom Leben und sich selbst, im Gegenteil, sie kommt und setzt die Krone auf und durchdringt alles, und war vorhanden bis sie klar wurde.“ (SKS 5, 437/ DRG, 168 (Hervorhebung d.Vf.)).

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unter uns umher, den der Tod gezeichnet hat. Und ebenfalls ist da manche Ehe, die die Scheidung gekennzeichnet hat. Sieh, diese ist nicht zwischen die Ehepartner getreten, aber eine gleichgültige Vornehmheit scheidet [adskiller] sie und macht sie füreinander fremd – und doch, denn deshalb wird hier darüber gesprochen, und doch sind aber vielleicht die alten Gefühle nicht ganz ausgestorben. Es gibt keinen Streit zwischen den Ehepartnern, keine feindselige Abrechnung, aber das Gefühl scheint sich aus dem Zusammenleben weit entfernt zu haben; doch vielleicht lieben sie einander, aber man wartet auf die eine Begebenheit, die den Bogen des Entschlusses spannt und das Gefühl vorwärts zur Äußerung locken soll, denn das Alltägliche ist dafür zu wenig; man schämt sich fast voreinander über die Kette von Unbedeutendheiten. Sie sehnen sich vielleicht nach Einverständnis, aber sie können einander nicht recht zum Sprechen bringen, gerade weil dazu jeden Tag Gelegenheit ist; und gerade weil die Gelegenheit ungenutzt vorbeigeht, fällt es umso schwerer sich gegenseitig offenbar zu werden. Sie waren einmal so glücklich, o, so glücklich, und dieses Bewusstsein, das sie stärken sollte, zumindest immer klarer sein sollte, das schwächt sie, sie verlieren die Lust und den Mut es zu wagen, und dieses verschwundene Glück bekommt einen überschwänglich kränklichen Glanz für die zwei Einsamen. Die Zeit vergeht so langsam, ein ganzes Leben liegt vor ihnen, sie fürchten sich davor, sich gegenseitig das erste Geständnis zu machen, das sie in kräftigem Entschluss vereinen könnte, Langeweile nimmt stattdessen den Platz der Einigkeit ein, und doch verabscheuen sie eine Scheidung als eine Sünde, aber das Leben ist so lang – da schleicht sich der Gedanke des Todes ein, denn der Tod löst ja alle Bande; man getraut es sich kaum einzugestehen, und doch ist es gerade das, man wünscht sich den Tod, als wäre dies keine Untreue – und doch lieben sie sich vielleicht immer noch gegenseitig, und der Tod bringt sie vielleicht dorthin, dies zu wahren [at sande det]. So sucht der eine den Fehler beim anderen, und anstatt der Verständigung der Aufrichtigkeit treibt das Missverständnis seinen traurigen Zwischenhandel und entfernt sie durch Schonungslosigkeit und Übereilung im Verdacht und im Misstrauen voneinander …; während sie sich vielleicht doch gegenseitig lieben.²⁴⁴

 SKS 5, 428 f. / DRG, 157 ff. Diese Stelle der Trauungsrede ist ein gutes Beispiel, wie Kierkegaard in den Reden seine Darstellung anhand von Phänomenen vorantreibt. Als Schriftsteller führt er in hoher Verdichtung und psychologischer Nuancierung eine Situation vor, die sowohl allgemein gehalten ist, aber zugleich äußerst konkret die Umstände und Bedingungen einer solchen Lebenssituation aufzeigt. Die Spannung zwischen allgemeiner und konkreter Darstellung eröffnet den Möglichkeitsraum für den Leser, sich unverfänglich in solche Beschreibungen hineinzubegeben, sein eigenes Leben daran abzugleichen und sich womöglich durch ähnlich erfahrene Situationen selbst zu entdecken. Der therapeutische Aspekt solcher Stellen in den Reden kann kaum genug betont werden. Immer dann, wenn Kierkegaards Darstellungskunst am stärksten ist, in den Phänomenbeschreibungen von Missständen und Krisis-Erfahrungen, geht es ihm um ein Wachrütteln des Lesers, der – hier im Kontext der Trauungsrede – solche Missstände überwinden soll, da die Rede davon handelt, dass „Liebe alles überwindet“. Das Wachrütteln des Lesers selbst zielt auf die Vergegenwärtigung des Könnens, nicht nur im Sinne des Handelns, sondern im Sinne des Durchstehens als Form von Situationsbewältigung. Und Kierkegaard gibt gerade anhand seiner Beschreibungen den Antizipationsraum von Möglichkeiten frei, der auch darin liegt, dass der Leser im Rückgriff auf gemachte Erfahrung zu Lösungsansätzen vordringt. Diese Dopplung von Vorschlag und Abgleichen ist die Bedingung der Selbsterprobung.

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Kierkegaard gibt mit der vorliegenden Beschreibung des Ehelebens eine Darstellung des Scheiternkönnens, dessen sich die Ehepartner bewusst sind, es sich aber nicht eingestehen, weder vor sich selbst, noch vor dem Anderen. Sie verschließen sich voreinander, indem sie sich vor sich selbst verschließen. Dies bezeichnet Kierkegaard als Scham. ²⁴⁵ Das Verschlossensein und die durch sie bedingte Entfremdung führen dazu, wie Kierkegaard klar herausstellt, dass die Zukunft nicht mehr als Raum der Möglichkeit gesehen wird, sondern als bloßer Schatten der Möglichkeit. So zeigt sich schließlich in der Langeweile die Abwesenheit von Möglichkeit als das Bewusstsein der Zukunft, indem dieselbe als ein Schon-gelebt-Haben nichts Neues mehr bietet. Schaffen es die Ehepartner nicht, sich selbst zu überwinden und auf den anderen zuzugehen, so wird der Tod als äußere in das Leben eingreifende Macht als die letzte Möglichkeit der Flucht voreinander benannt.²⁴⁶ Kierkegaard klagt also in dieser Passage zuallererst ein Verhalten des Individuums an, das sich in gehemmter Passivität ergibt und nicht zur eigenen Tat schreitet. Selbst zu handeln bedeutet dann und wesentlich, dass das Individuum Stellung zu sich bezieht, sich seine Situation ungeschönt vor Augen führt, um eine Veränderung einzuleiten. Nicht umsonst spricht Kierkegaard von Aufrichtigkeit und intendiert hierbei die in der Beichtrede gegebene Bedeutung derselben, wendet diese aber gleichfalls in Bezug auf den gegenüberstehenden Menschen an. Kierkegaard geht es um die in die Zukunft hinein durchzuhaltende Offenlegung der und dem Bekenntnis zu eigenen Schwächen zum Zweck der Selbstakzeptanz, durch die der andere einen selbst zu akzeptieren vermag. Aufrichtigkeit ist der Versuch der Tilgung eigener Fehlbarkeit zugunsten des Anderen, um das Gelingen des Zusammenlebens (Ehe) zu gewährleisten.²⁴⁷

 Auffällig ist hierbei, wie sehr die Sprache als die Verschließung lösender und die Ehepartner erlösender Aspekt thematisiert wird. Dies erinnert stark an Vigiliusʼ Thematisierung des Wortes als Durchbrechen der Verschlossenheit.  Das Bild, dass der Tod als Erlösung herbeigesehnt wird, was ein nicht endendes Leiden (im Leben) impliziert, ist nichts anderes als das christliche Bild der „Hölle“: vgl. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 322.  Weil die Beichtrede in die Trauungsrede eingeschrieben ist, besagt dies nichts anderes, als dass sich das Individuum selbst schon als schuldig zu verstehen hat, dessen Fehlbarkeit nicht im Gegenüberstehenden, sondern allein in sich selbst zu suchen ist. In diesem Sinne ist das gegebene Bild einer sukzessiv scheiternden Ehe ein Bild für die nicht vollzogene Bewegung der Beichtrede, was im Umkehrschluss bedeutet, dass ein Sich-Verstehen vor Gott in die Vorstellung des Lebens integriert ist.

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Hierbei spielt der Tod – wie schon angedeutet – eine zentrale Rolle. Denn er dient in der zitierten Stelle als Metapher für das Sich-selbst-Fremdwerden und der Entfremdung vom Gegenüberstehenden. Der Tod ist von Kierkegaard metaphorisch als „Scheidung“ verstanden (und zwar in ähnlich radikalem Sinne, wie er es in der Grabrede später ausführt), womit er als das Nichtleben des Lebens begriffen wird. Stirbt das Individuum in diesem von Kierkegaard negativ konnotierten Sinne im Leben, überlässt es sich äußeren Gegebenheiten und Geschehnissen und lässt das eigens zu gestaltende Leben verfließen. Zugleich wird der Tod auch in seiner existenziell-anthropologischen Bedeutung der Auslöschung als höchste Potenzierung des Geschiedenseins verstanden, nämlich als positiv konnotierte Möglichkeit der Befreiung des unaufrichtigen Individuums. Diese Befreiung ist ein passives Freisein von und nicht ein aktives Freisein für. ²⁴⁸ Letztere Freiheit ist es aber, worum es Kierkegaard mit dem Entschluss geht: sich zu sich selbst zu bekennen und sich für den Anderen zu entscheiden und konsequent an der Beziehung zu arbeiten und nicht darauf zu warten, dass etwas einfach von selbst, ohne eigenes Zutun, geschieht. Zur Freilegung dieses Bewusstseins gelangt das Individuum, so Kierkegaards eindeutige Aussage, wenn es sich den Tod als wirkliche Auslöschung und irreversible Scheidung vor Augen führt.²⁴⁹ Der Tod stößt ins Leben ab. Im Leben selbst liegt die Bedeutung, weshalb das Leben mit Hingabe genutzt werden soll. Hingabe setzt aber, wie die Beichtrede deutlich macht, Interesse voraus.²⁵⁰ Auch dieses wird von Kierkegaard in der zitierten Stelle angesprochen, wenn er im ersten Absatz über den Ehemann schreibt, der sich zu Beginn einzig aus ästhetischer Anziehung zur Ehe entscheidet, sich aber später von der Frau entfremdet, weil die Schönheit im Alter vergeht. Kierkegaard sieht hier zunächst klar, dass das eigene Interesse Anlässen unterliegt, von Unbeeinflussbarem abhängt und somit auch aus dem Ausgesetztsein an die Welt (und die – leibliche, soziale – Verwicklung in dieselbe) bestimmt ist. Zugleich sagt er eindeutig, dass das existenzpragmatische Interesse nicht auf ästhetische Erscheinungen, sondern auf den  Ich übernehme diese systematische Unterscheidung von Martin Heidegger: ders., Vom Wesen der Wahrheit, § 7, besonders S. 58 f. Zur existenziellen Bedeutung der „Freiheit von“: ebd., § 4, besonders S. 36.  „[U]nd doch lieben sie sich vielleicht immer noch gegenseitig, und der Tod bringt sie vielleicht dorthin, dies zu wahren.“ (s.o.)  Diesbezüglich ist es interessant zu sehen, dass Kierkegaard schreibt: „Die erste Bedingung für einen Entschluss ist, eine wirkliche Vorstellung vom Leben und von sich selbst zu haben, das heißt, haben zu wollen.“ (SKS 5, 427/ DRG, 156) Von Kierkegaard wird der Wille zur wirklichen Vorstellung betont, womit sowohl das Interesse als auch das Streben in den Blick rücken, was anhand der Ausführungen zur Beichtrede bedeutet, dass das Interesse als Bedingung und das Streben als Vollzug des Hineinarbeitens ins Gottes-Verhältnis gesehen werden.

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Charakter des Menschen zielt,²⁵¹ von dem her der Umgang mit dem anderen Menschen bestimmt sein soll. Da sich das Individuum dabei in einem Verhältnis zu Gott, dem Unveränderlichen, verstehen soll, liegt diesem gegenseitigen Umgang eben das Primat der Unveränderlichkeit zugrunde.²⁵² Das Individuum muss sich ständig als fehlbares verstehen und zugleich durch Aufrichtigkeit immer dieser Fehlbarkeit entgegenwirken. Die Konstanz dieser ständigen Selbstkorrektur dient letztlich einem Bewusstsein der Rücksichtnahme. Erst aus dieser kann wirkliches Interesse für den Anderen durch die Zeit hinweg bestehen bleiben. Die Voraussetzung der Begründung dessen liegt darin, dass die Rücksichtnahme das Bewusstsein ist, dass es in der Ehe zwar um das Zusammenleben geht, dieses aber von zwei Individuen gestaltet wird, die ihre Eigenständigkeit haben und wahren sollen.Wird sich hierbei vor Augen geführt, was in der Beichtrede zum Vorschein getreten ist, dass wirkliche Hingabe nur für einen rätselhaften Gegenstand aufgebracht werden kann,²⁵³ liegt hierin zum einen die Begründung für ein

 Der Begriff des Charakters steht bei Kierkegaard in engem Zusammenhang mit dem Aspekt der psychologischen Stabilität der Persönlichkeit und des Lebenszusammenhangs, also mit der Eigenschaft der Kontinuität, ist demnach ein ethisch-existenziell motivierter Begriff. Zur Erörterung des Charakter-Begriffs: vgl. Roberts, „Existence, Emotion and Virtue“, S. 270 – 272.  Gott wird in den Gelegenheitsreden von Kierkegaard an keiner Stelle als das Unveränderliche benannt. Ich übernehme hier das climacische Verständnis des „Notwendigen“ aus dem Paragraph 1 des „Zwischenspiels“ der Philosophischen Brocken in Verbindung mit der Auffassung Gottes in der „Spinoza-Anmerkung“ im Kap. III der Brocken. Gleichfalls könnte auf die zehn Jahre später erschienene Rede Gottes Unveränderlichkeit von 1855 (SKS 13, 319 – 339/ GU, 259 – 276) verwiesen werden, in der Kierkegaard, ausgehend von dem Gegensatz zwischen Werden (Mensch) und Beständigkeit (Gott), ebenfalls auf die Dialektik zwischen Verhältnis und Verhältnisgegenstand zurückkommt; in dem konkreten Sinne, dass die Unveränderlichkeit Gottes dem Menschen Stabilität und „Ruhe“ verleiht. (Vgl. SKS 13, 336 ff. / GU, 273 f.)  Gerade die Rätselhaftigkeit des Anderen hat religiöse Relevanz. So vermerkt Roland Barthes einmal: „[D]er Andere ist undurchdringlich, unauffindbar, unteilbar; ich kann ihn mir nicht öffnen, nicht in seinen Ursprung eindringen, das Rätsel nicht lösen. … Ich verfalle dann auf die Überspanntheit, im Grunde jemanden Unbekanntes zu lieben, der auch immer unbekannt bleiben wird: mystische Regung: ich gelange zur Erkenntnis der Unerkennbarkeit.“ (Ders., Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 217 f.) Das für den vorliegenden Sachverhalt Entscheidende ist, dass die Rätselhaftigkeit des Anderen eine in die Existenz verlagerte Verdopplung und Spiegelung der Rätselhaftigkeit Gottes ist. Wie die Unerkennbarkeit Gottes wirkt auch die Unerkennbarkeit des Gegenübers auf das Individuum selbst zurück. Nicht die Entzifferung und nicht die Gewissheit, sondern der Umgang mit Kontingenz wird relevant. Und eben gerade dadurch, dass die Kontingenz im zwischenmenschlichen Beisammensein – und durch sie auch im Selbst-Umgang – erfahren wird, öffnet existenziell den Blick für die Kontingenz an sich, also auch die Kontingenz des Transzendenten. Das religiöse Moment der Existenz rückt in den Blick.

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dauerhaftes Interesse am Gegenüberstehenden und fördert zugleich eine Spannung in der Betrachtung des Ehelebens bei Kierkegaard zutage. Einerseits soll der Andere als eigenständiges Individuum mit eigenem Freiraum anerkannt werden, um so größtmögliches, gegenseitiges Interesse zu gewährleisten; zum anderen soll sich in der Aufrichtigkeit der selbstgewählten Offenlegung der eigenen Person begegnet werden. Diese Spannung zwischen dem bewussten Aussetzen an den Gegenüberstehenden (und sich dabei in eine aktive Passivität zu begeben) und zugleich dem aktiven Arbeiten an der eigenen Person kennzeichnet die wirkliche Vorstellung vom Leben als Verstehen, das eigene Leben als Vollzug zwischen Passivität und Aktivität zu begreifen. In der Bewahrung von Rätselhaftigkeit und Gewährung der Offenheit liegt schließlich die Lösung für das, was Kierkegaard in der zitierten Stelle ebenfalls anklagt: das Scheitern am Alltag. Zu begreifen, dass das Leben sich aus Alltäglichkeiten zusammensetzt, die nicht als Kleinigkeiten und „Unbedeutendheiten“ abzutun sind, sondern in denen das Leben in seiner Ganzheit eingeschrieben ist, bedeutet, das Leben im Kleinen zu entdecken und zwar dadurch, dass man sich am Alltäglichen bewährt. Nicht allein die punktuellen, großen und außergewöhnlichen Ereignisse gehören zum Leben, sondern die Sukzession des Kleinen.²⁵⁴ Dies zu verstehen heißt, das Leben als stetigen Verlauf der Zeit zu begreifen, der nur dann zu bewältigen ist, wenn er kontinuierlich, durch die Zeit hindurch in seiner Zerbrechlichkeit (die in der Missachtung des Kleinen liegt) erkannt und dadurch als Herausforderung an einen selbst verstanden wird. Kierkegaard geht es dabei nicht nur darum, dass das Individuum das eigene Leben mit der Überzeugung lebt, jeden noch so kleinen Moment zu etwas Unvergänglichem zu machen, sondern auch darum, dass aus dem Leben als ganzheitlicher Prozess mit Ausdauer und Geduld Bedeutung herausgearbeitet wird.²⁵⁵ Somit soll es vom Individuum gewagt werden, hier und jetzt ganz da zu sein und sich darum zu bemühen, sich das Leben in aller Bewusstheit vor Augen zu führen, auch wenn dies bedeutet, dass Unschönes und Ungewolltes zum Vorschein kommt. Abschließend ist es auffällig, dass die Sätze in der zitierten Textstelle mehrmals damit beendet werden, dass sich die Ehepartner womöglich doch lieben, trotz aller Entfremdung. Dem Leben liegt, trotz aller Beschwerlichkeit, die Hoff-

 Climacus drückt dies ebenfalls einmal mit seiner humorvollen Eigenwilligkeit aus, wenn er in einer kurzen Fußnote vermerkt: „Der religiöse Vortrag darf … gern ein bisschen necken …; die Neckerei besteht nämlich darin, dass wir Menschen den Kopf voll von großen Vorstellungen haben, und dann kommt die Existenz und bietet uns das Alltägliche an.“ (SKS 7, 437 (Anm. 1) / DUN, 670 (Anm. 14))  Dazu ausführlich Kapitel 3.2.3.4.

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nung zugrunde, dass sich Probleme lösen lassen, wobei das Lösen der Probleme nicht darin besteht, zu einem Resultat zu kommen, sondern sich in der Auseinandersetzung mit ihnen in sie hineinzuarbeiten und ihnen – sozusagen von innen heraus – entgegenzuwirken. Das Leben wird also dadurch wirklich gelebt, indem es in seinen Ambivalenzen entdeckt wird und mit diesen gelebt wird, weshalb die Bedeutung des Lebens nicht in einer fertigen Vorstellung vom Leben besteht, sondern darin, diese Vorstellung beständig zu differenzieren und so das Leben als Reichtum von Möglichkeiten und Bedeutung zu begreifen. Das Leben zu leben heißt dann, die Bedeutung des Lebens durch sich selbst zu entdecken, aber dennoch zu begreifen, dass die Bedeutung nicht in dem eigenen Gelebtwerden aufgeht. Dies führt dazu, dass das Individuum ein Verhältnis zum Leben eingeht, indem dasselbe den einzelnen Menschen übersteigt. Die wirkliche Vorstellung vom Leben besteht darin, dass sie im Gelebtwerden des Lebens entsteht, aber dennoch einen das Individuum übersteigenden Bedeutungsraum vorgibt, der in der Existenz niemals einzuholen, aber permanent in sie eingeschrieben ist.²⁵⁶ Diese Differenz zwischen dem, was das Leben für das Individuum ist und dem, was das Leben noch sein kann, ist für Kierkegaard der modus operandi, das Leben weiter zu entdecken und nicht aufzuhören, es entdecken zu wollen. Die Dialektik besteht darin, dass die ausstehende Möglichkeit auf die Wirklichkeit zurückwirkt und diese zu einer Bewegung zur Möglichkeit werden lässt.²⁵⁷ Die wirkliche Vorstellung vom Leben ist demnach – ebenso wie die wirkliche Vorstellung von Gott – die Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit; existen-

 An einer zentralen Stelle in Der Liebe Tun, am Ende der ersten Rede, betont Kierkegaard diesen Sachverhalt, wenn er schreibt: „Denn das Leben der Liebe ist zwar an den Früchten kenntlich, die es offenbar machen, aber das Leben selbst ist doch mehr als die einzelne Frucht und mehr als die Früchte zusammen,wie du sie in einem Moment zählen könntest.“ (SKS 9, 24/ LT, 19 f.) Spannend ist hierbei nicht nur, dass das Leben als ein über den Moment hinausreichender Bedeutungs- und Potenzialitätsraum begriffen wird, sondern dass über den Begriff „Frucht“ erstens eine Rückbezüglichkeit zum Ursprung (biologisch: Pflanze; religiös: Gott), zweitens eine Prozesshaftigkeit des Entstehens und Vergehens und drittens auch ein Ersetzungsverhältnis und -prozess zwischen „Frucht“ und der diese bedingenden Blüte, Knospe (etc.) impliziert wird (zu diesem Ersetzungsprozess: vergleiche auch Hegel, Werke 3, S. 12). Über die „Frucht“ wird das Leben als organische Einheit gefasst, dessen Ganzheit sich auch – was im Vorhergehenden besprochen wurde – im Partikularen, der „Frucht“, dem Moment in der Zeit ausdrückt (zur „Frucht“ als Metapher der Ganzheit des Daseins: vergleiche auch Heidegger, Sein und Zeit, S. 244 f.).  Diese Dialektik ist die gleiche, die Climacus im „Zwischenspiel“ der Philosophischen Brocken gibt: Existenz ist Werden als Wirklichkeit; Wirklichkeit als Werden ist Bewegung; Bewegung ist nur, wenn Möglichkeit aussteht (vgl. Kapitel 2.2.2.2).

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ziell gewendet: die Bedingung dafür, dass das Leben als eines begriffen wird, dem ständig weiteres Verwirklichungspotenzial innewohnt. Wie anhand der wirklichen Vorstellung von Gott betont wurde, muss auch hier hervorgehoben werden, dass Denken und Wirklichkeit dialektisch voneinander abhängen. Die wirkliche Vorstellung vom Leben ist letztlich nur dann gegeben, wenn die Vorstellung durch die Wirklichkeit entsteht und sich die Wirklichkeit zugleich durch die Vorstellung leiten lässt. Es geht Kierkegaard somit nicht um die existenzielle Verwirklichung von phantastischen Vorstellungen,²⁵⁸ sondern um die existenzielle Reaktion auf das faktisch Gegebene, in dessen Rahmen existenzielle Wirklichkeit erst entstehen kann. Das Leben ist demnach nur im Rahmen anthropologischer Faktizität zu vollziehen, indem sich das Individuum vor Gott in Bezug zum Tod und zur Zeit setzt, es das Leben als Frist und als Bewegung begreift und in dieser Spannung das Leben als eines nutzt, in dem alles dafür getan wird, mit anderen Menschen aufrichtig umzugehen. Deshalb heißt das Leben selbst zu leben nicht etwa nur, auf sich selbst zu achten, sondern dass die Beachtung und Achtung der eigenen Person im Dienst der Achtung des anderen steht. Dass dabei das Bewusstsein vom eigenen Scheiternkönnen – also dem Faktum der Kontingenz – in den Blick des Individuums treten soll, zeigt, dass die Bedeutung des Lebens nicht in einem gelingenden Lebensvollzug liegt, sondern darin, dem Scheitern zu begegnen und zwar dadurch, dass das Individuum sich selbst als Grund des Scheiterns versteht und dieses Bewusstsein in eine Praxis für den Anderen integriert.

Die wirkliche Vorstellung von sich selbst Das Verständnis der wirklichen Vorstellung von sich selbst ist von den Ausführungen zum Leben durchdrungen. Wesentlich bringt Kierkegaard aber durch sie den Ernst ins Gespräch.²⁵⁹ Der Ernst ist der existenzdialektische Vollzug der wirklichen Vorstellung eigenen Selbstseins. In diesem Sinne ist der Ernst das Bewusstsein, sich selbst als Möglichkeit zu verstehen, d. h. Möglichkeiten zu haben, diese zu erkennen und sie auch zu verwirklichen. Als Verwirklichung der Möglichkeit eines Selbst-Bezugs ist der Ernst – phänomenologisch – das Sich-in-Erfahrung-Bringen.

 „Vielleicht gab es einen, der die spähenden Gedanken ausgesandt hat, um mannigfaltige Eindrücke vom Leben zu erhalten, aber nicht zu sich selbst zurückkommen konnte, er gab sich hin – ach, und verlor sich selbst.“ (SKS 5, 432 / DRG, 162 f.)  Vgl. SKS 5, 432– 435/ DRG, 162– 166.

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Davon ausgehend wird deutlich, dass Kierkegaard mit der Verschränkung der wirklichen Vorstellung vom Leben und von sich selbst kein weltloses Selbstsein im Blick hat. Das Selbstsein formt sich am Leben aus. Kierkegaard sagt dies auch ganz konkret: „Wo lernt man also den Ernst? Im Leben.“ Und wenn er kurz darauf schreibt, dass „der Ernst des Lebens“ den „Ernst voraussetzt“²⁶⁰, wird eine ganz einfache Dialektik beschrieben: Ernst zu werden heißt, den Ernst zu leben, und zu leben heißt, ernst zu werden. Selbstsein ist also gelebter Ernst, dadurch, dass man sich im Leben in den Ernst hineinarbeitet. Diese Bewegung des Individuums in sich hinein ist die konkrete Praxis der Aufrichtigkeit, sich selbst in den gelebten Situationen zu vergegenwärtigen und offenbar zu werden und Stellung zu sich zu beziehen. Systematisch beschreibt der Ernst also sowohl ein Verhältnis (Selbst-Verhältnis), einen Vollzug (Gelebtwerden) und eine Einstellung (Aufrichtigkeit).²⁶¹

Lebenspraxis zwischen Gott und Selbst Die wirkliche Vorstellung von Gott, vom Leben und sich selbst ergeben systematisch ein Existenzbild, in dem es um das Selbst-Verhältnis vor Gott im hier und jetzt zu lebenden Leben geht. Eben dies ist das Telos der existenzdialektischen Bewegung der wirklichen Vorstellung, die als Bedingung der Möglichkeit von Existenzwirklichkeit und deren impliziter Religiosität ein Selbst-Verstehen forcieren, das in Abhängigkeit zum Gottes-Bewusstsein in konkrete Praxis, den Ernst, überführt werden soll.²⁶²

 SKS 5, 434 / DRG, 164.  Damit beschreibt der Ernst die Innerlichkeit: vgl. Kapitel 3.2.3.3.  Hierbei ist interessant, was Climacus an einer Stelle der Unwissenschaftlichen Nachschrift schreibt: „Intellektuell muss ich eine völlig deutliche Vorstellung von Gott haben, von mir selbst und von meinem Verhältnis zu ihm und von der Dialektik des Verhältnisses, welche die des Gebets ist, damit ich nicht Gott mit etwas anderem verwechsele …“ (SKS 7, 150/ DUN, 298) Die Formulierung der „völlig deutliche[n] Vorstellung“ ist insofern irreführend, als dass Gott nicht vorgestellt und auch das Selbst niemals vollständig durchsichtig werden kann, wohingegen das dialektische Verhältnis als das Bezogensein im Getrenntsein durchaus zu vergegenwärtigen ist. Das Gebet als das Ansprechen und Bitten Gottes hängt davon ab, dass sich das Individuum nicht nur dieses Getrenntseins bewusst ist, sondern auch, dass es seine Bitte an „etwas“ richtet, das nicht näher qualifiziert zu werden vermag, außer der epistemologisch negativen Tatsache, dass es „das Unbekannte“ ist. Unter diesen Voraussetzungen ist das Gebet dann ein verwirklichter Bezug zu Gott, wenn das Individuum begreift, dass Gott als das Unerreichbare und Unbeeinflussbare nur entgegenkommen kann, wodurch das Individuum im Gebet auf sich selbst verwiesen wird als dasjenige, das in Ermangelung der Erfüllung der Bitte mit dem Unerfülltbleiben des Wunsches umgehen muss.

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Gegenüber der Beichtrede forciert die Trauungsrede den Aspekt des Lebens und integriert dieses systematisch in das Selbst-Verhältnis vor Gott. Interessant ist dabei zunächst das Verhältnis von Leben und Gott. Das Leben ist in seinen Möglichkeiten unerschöpflich; Gott in seiner Wirklichkeit unerreichbar. Die Wirklichkeit Gottes ist für Kierkegaard die Bedingung für die Möglichkeiten des eigenen Lebens. Als Grund des Daseins durchdringt Gott das Leben und trägt es. Das Leben in seiner Unerschöpflichkeit zu entdecken, heißt Gott zu entdecken. Jedoch besteht lediglich eine analoge Korrelation. Denn Gott ist das, was auch das Leben in seiner Fülle von Möglichkeiten und Bedeutung übersteigt. Demgegenüber zeigt sich im Verhältnis von Selbst und Leben eine nicht nur systematische Reziprozität. Denn das Leben ist all das, was dem Individuum begegnet; aber auch das, was erst durch das Individuum eine Form erhält. In der Subjektivierung des Lebens ist das Leben vom Individuum durchdrungen; zugleich formt sich das Individuum am Leben aus. Diese Dialektik wird vom Verhältnis zu Gott mitbestimmt. Das eigene Leben erhält seine Form durch das VorGott-Sein des Individuums; zugleich erhält das Individuum eine kontinuierliche Form durch das von Gott durchdrungene Leben. Aktivität und Passivität, Gestalten und Annehmen; Erschließen und Umgriffensein bestimmen die Existenzpraxis.²⁶³

3.2.3.2 Entschluss und Ernst Mit den Ausführungen zu den „wirklichen Vorstellungen“ kann nun der Entschluss in den Blick rücken. Kierkegaard betont, dass die wirklichen Vorstellungen die Voraussetzungen, also die Bedingung der Möglichkeit für den Entschluss sind. Die wesentliche Bedeutung des Entschlusses liegt darin, dass er der Anfang des eigentlichen Existierens ist. Kierkegaard legt den Fokus somit auf die Freiheit des Individuums,²⁶⁴ wählen zu können,²⁶⁵ so oder so zu leben. Dadurch ist der

 In der Trauungsrede wird mit diesen Ambivalenzen im Verhältnis von Selbstsein und Leben eine der Grundfragen von Kierkegaards gesamtem Werk in den Blick genommen; eine Frage, die vor allem von den Pseudonymen auf je eigene Weise immer wieder neu erfragt wird: Wie wird das Individuum zu dem, was es ist? Indem es Kierkegaard dabei nicht um die Erstarrung der Persönlichkeit geht, sondern um eine von ständiger Differenzierung geprägten Stabilität, kann für die Trauungsrede gesagt werden: Die Existenz ist vor dem Hintergrund der wirklichen Vorstellungen die lebendige Wirklichkeit potenzieller Wirklichkeit und somit – wie bei Climacus – eine unaufhörliche Bewegung des Entdeckens.  Zum Verhältnis von Freiheit und Anfangenkönnen, ausgehend von Augustinus bis hin zu Kant: vgl. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, besonders S. 219 – 225.  Der Aspekt der Wahl ist auch deshalb von Interesse, weil Kierkegaard von einem Bild der Ehe ausgeht, das seit dem 18. Jahrhundert immer mehr in den Fokus bürgerlicher Paarbeziehung rückt:

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Entschluss wesentlich eine existenzpragmatische Kategorie. Um wählen zu können, muss das Individuum wissen, was es wählen kann. In diesem Sinne sind die „wirklichen Vorstellungen“ die Bedingungen der Möglichkeit zu wählen. Jedoch werden die wirklichen Vorstellungen, wie oben erörtert, wesentlich im Existenzvollzug gewonnen. Dies zeigt, dass wirkliche Vorstellungen und Entschluss in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen.²⁶⁶ Davon ausgehend sind zwei Sachverhalte besonders hervorzuheben: Das Verhältnis von Entschluss und Leben und das Verhältnis von Entschluss und Ernst.

Entschluss und Leben Aber das Leben der Freiheit fordert einen Anfang, und ein Anfang ist hier ein Entschluss, und ein Entschluss hat seine Arbeit und seinen Schmerz, so wie der Anfang seine Schwierigkeit. Fertig kann der Entschlossene ja nicht sein, denn dann hätte er das erlebt, im Verhältnis zu dem der Entschluss der Anfang ist; wird aber kein Entschluss genommen, dann wird es so einem Menschen gehen, wie es manchmal einem Redner geht, der erst, wenn er fertig ist und geredet hat,weiß,was er hätte sagen sollen: erst nachdem er gelebt hat, erst dann weiß er,wie er hätte leben sollen (traurige Ausbeute des Lebens!) und wie er den Anfang mit dem guten Entschluss hätte machen sollen, bittere Weisheit, nun da ein Leben zwischen dem Anfang und dem Sterbenden liegt.²⁶⁷

Neben dem Aspekt der Freiheit, dem Anfangen, gibt Kierkegaard hier eine Umschreibung der „Wiederholung“, wie sie von Constantin Constantius vorgelegt wird: „Wer das Leben nicht umschifft hat, ehe er zu leben begann, der wird nie leben.“²⁶⁸ Das Leben muss in seiner Ganzheit vor Augen geführt werden: in all seiner Beschwerlichkeit, seiner Endlichkeit (Tod), als Ort des Scheiternkönnens; aber auch in all seiner Hoffnung, Möglichkeit und Bedeutung. Und es sind die wirklichen Vorstellungen, die dieses Bewusstsein geben. Doch auf das Bewusstsein kommt es existenziell nur zum Teil an. Denn es geht auch und wesentlich um das Erleben. Der Entschluss ist der Anfang dazu: Der „Liebe als Wahl des Ehepartners“ (Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung der Intimität, Frankfurt am Main 1994, S. 163). Die freie Entscheidung des Eingehens oder der Ablehnung wird zum konstitutiven Moment der „romantischen Liebe“ erhoben. Kierkegaard verknüpft diesen Aspekt mit der existenziellen Lebensbewältigung, so dass die Paarbeziehung bei ihm zum Ausdruck des Existierens selbst wird.  Denn die wirklichen Vorstellungen sind die Bedingung der Möglichkeit, durch den Entschluss ein Verhältnis zu sich selbst, dem Leben und Gott einzugehen; der Entschluss ist die Bedingung der Möglichkeit, die wirklichen Vorstellungen von sich selbst, dem Leben und Gott konkret auszuformen.  SKS 5, 423/ DRG, 151 f.  SKS 4, 10/ DW, 331.

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„Übergang zum Leben“ des Lebens (um die Beichtrede zu paraphrasieren²⁶⁹). So ist der Entschluss der Anfang zur Wiederholung der wirklichen Vorstellung in der Existenz, zugleich aber auch die Ausformung der wirklichen Vorstellung im Erleben. Diese Dialektik zwischen Bewusstsein und Erfahrung, zwischen Antizipation und Erleben lässt die wirkliche Vorstellung gerade nichts Endgültiges sein, sondern kennzeichnet sie eben als ein offenes, sich weiter differenzierendes Bewusstsein, das zugleich den (durch den Entschluss eingeschlagenen) Weg bestimmt. Kierkegaard verfolgt demnach einen einfachen Grundgedanken: Wer sein Leben lebt, sollte darauf gefasst sein, was alles passieren kann. Sich zu entschließen heißt eben immer auch, das Leben in seiner Kontingenz begreifen zu müssen. Es geht um Bewährung in kontinuierlicher und konsequenter Weise.

Entschluss und Ernst „Der Entschluss selbst ist der Ernst.“²⁷⁰ Kierkegaard setzt damit ebenfalls ein reziprokes Verhältnis zwischen Entschluss und Ernst, wobei der Entschluss des Individuums strukturell wesentlich ein Entschluss zum Ernst und damit ein Entschluss zum Sich-Entschließen darstellt. Diese iterative Struktur des Entschlusses kennzeichnet den Ernst als Haltung der Entschiedenheit und somit als Haltung kontinuierlichen und konsequenten Handelns.²⁷¹ Zu beachten ist dabei, dass der Ernst die zentrale existenzielle Bestimmung ist, durch die das Selbst-Verhältnis beschrieben wird, in dem sich das Individuum  Vgl. Kapitel 3.2.2.1.  SKS 5, 434 / DRG, 164.  Interessant ist dabei folgendes von Kierkegaard aufgeworfenes Problem: Er betont, dass die durch den Entschluss eingenommene Stellungnahme des Individuums zu sich selbst mit Ausdauer durchzuhalten ist, also mit der „Dimension der wirklichen Anstrengung“, wie Roland Barthes dieselbe definiert (Ders., Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 221). Das Problem, von dem Kierkegaard ausgeht, liegt in der Zeit selbst, darin, dass das Individuum in der Zeit sowohl dem Vergessen als auch dem Aufschieben ausgesetzt ist (vgl. SKS 5, 424/ DRG, 152). Deshalb bedeutet es, sich zu entschließen, permanent Stellung zu beziehen und nicht „missmutig über die geringe Aufgabe der Ausdauer“ (SKS 5, 426/ DRG, 155) zu sein. Kierkegaard eröffnet damit eine eigenartige Ambivalenz des Entschiedenseins. Denn einen Entschluss zu fassen, trägt in sich die Eigenschaft von Endgültigkeit und doch betont Kierkegaard die Brüchigkeit des Entschlusses (vgl. dazu auch Climacus: Kapitel 2.2.4.4). Worauf Kierkegaard eben aufmerksam macht, ist, dass es nicht ausreicht, sich einmal zu entscheiden und sich diese Entscheidung bewusst zu machen. Er zeigt, dass ein Entschluss nur dann wirksam ist, wenn man ihn wiederholt; die Entscheidung in die Zukunft hineingetragen wird; dass Entschiedenheit ein Prozess ist und man sich im Bewusstsein des Entschiedenseins an die sich daran knüpfenden Konsequenzen hält. Dieses Bewusstsein ist der Ernst.

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ins Verhältnis zu Leben und Gott stellt. Vom Entschluss her gesehen ist der Ernst somit diejenige existenzielle Haltung, in der das Selbst-Verhältnis vor Gott im Leben beibehalten wird. Es geht im Ernst um das konsequente Praktizieren der Innerlichkeit,²⁷² denn, so Kierkegaard, „die Handlung … hat den Ernst nicht darin, dass etwas im Äußeren geschieht …“²⁷³

Ernst und Leben Werden beide Betrachtungen zusammengeführt, so legt Kierkegaard mit dem Entschluss den Fokus auf folgende Gedankenfigur: Das Individuum soll sich im Leben dadurch bewähren, dass es trotz aller Kontingenz des Lebens im Ernst verbleibt und seine Innerlichkeit bewahrt.²⁷⁴ Seine umfängliche Bedeutung bekommt dies jedoch erst, wenn der Entschluss in Beziehung zur Beichtrede gesetzt wird. Fasst man dafür zunächst die Bestimmung des Entschlusses in dem oben abgesetzten Zitat (Entschluss und Leben) zusammen, so ist der Entschluss der Anfang des wirklichen Lebens (Erleben), durch den das Leben zu einem Weg wird, der im Nachhinein nicht als vergeudet erscheint. Von der Beichtrede her gesehen, ist der Entschluss dann die Gegenbewegung zu Schuld und Reue und damit die Gegenbewegung zum Bewusstsein verpasster Möglichkeiten; was bedeutet: die Möglichkeit eines Gottes-Verhältnisses durch den Entschluss zu erfassen und mit diesem zu leben, indem die Möglichkeit in Wirklichkeit transformiert wird. Entscheidend ist dabei, dass die Transformation der Möglichkeit in die Wirklichkeit nicht nur im Entschluss geschieht, sondern dass die Transformation das Individuum selbst betrifft. Denn sie besteht darin, wie Kierkegaard sagt, „sich selbst unverändert zu bewahren, … während sich alles verändert!“²⁷⁵, was bei Climacus ganz ähnlich aufgefasst wird, wenn er über die Entscheidung schreibt, dass das Individuum „dasselbe und doch verändert und doch dasselbe“ ist.²⁷⁶ Der Entschluss ist also das konkrete Instanziieren und der Ernst die konkrete

 Dass dem so ist, wird deutlich an zwei Stellen. In der Beichtrede heißt es: „[E]s [ist] der Ernst …, vor dem Heiligen einer zu werden …“ (SKS 5, 414 / DRG, 141) Und in der Trauungsrede: „[A]ber Gott ist nur in dem Innerlichen [Indvortes].“ (SKS 5, 438/ DRG, 169) Der Ernst als Vereinzelung vor Gott beschreibt die Innerlichkeit (vgl. auch Kapitel 3.2.2.3).  SKS 5, 421 / DRG, 149 f.  Bei Climacus kommt dies beispielsweise anhand der „Friedhof-Szene“ deutlich zum Ausdruck: vgl. Kapitel 2.1.3.4.  SKS 5, 426/ DRG, 155.  SKS 7, 261/ DUN, 443.

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Durchführung der „unveränderten“, kontinuierlichen Aufrichtigkeit zum eigenen Unvermögen.²⁷⁷ Der Entschluss bedeutet in seinem radikalen Perspektivwechsel²⁷⁸ einen „Bruch“²⁷⁹ mit dem bisherigen Leben,²⁸⁰ das dann vom Ernst als existenzstabili-

 Wenn Kierkegaard kurz davor vermerkt, dass es nicht darum gehe, die Welt verändern zu wollen (was im Übrigen auch von Climacus betont wird: vgl. SKS 7, 458/ DUN, 698), so hat er hier die gleiche Veränderung im Blick, wie in der Beichtrede: dass das Individuum eine Umkehr der Blickrichtung vollzieht. Deshalb schreibt Kierkegaard in diesem Zusammenhang auch, dass es im Entschiedensein darum gehe, sich mit seiner eigenen „Schwachheit“ (Svaghed) permanent auseinanderzusetzen, ebenso darum, sich wider alle Erwartung auf Besserung und ohne alle „Ausflüchte“ (SKS 5, 426/ DRG, 155) im „Misstrauen gegen sich selbst“ (SKS 5, 427/ DRG, 156) zu begegnen. Im Ernst begreift sich das Individuum also selbst als Ursache für die Unmöglichkeit der Unmittelbarkeit zu Gott.  Der Entschluss hat die Funktion, dass das sich immer schon zu sich selbst verhaltende Individuum neu zu sich verhält; nicht auf das Dass, sondern auf das Wie des Selbstseins kommt es an. Die Bedeutung des Entschlusses ist hierbei als ambivalent zu kennzeichnen. Einerseits ist er ein die Kontingenz einbeziehender Versuch von Stabilität, die dem Leben abgerungen werden will; andererseits ist er die Bedingung dafür, sich auch nicht gänzlich zu verhärten, sondern offen zu bleiben für das,was passiert. Dies wird besonders deutlich, wenn Trauungsrede und Beichtrede ins Verhältnis gesetzt werden. Von der Beichtrede her gesehen ist der Entschluss ein Entschluss aus Sorge; die Möglichkeit des Gottes-Verhältnisses in Wirklichkeit zu überführen. Hierbei geht es um das Erzeugen von Kohärenz und Kontinuität. Von der Trauungsrede her gesehen wird diese Bewegung aus Sorge zu einer Bewegung zur Dankbarkeit und schließlich zur Fürsorge. Der Entschluss aus Sorge ist die Bedingung für die Offenheit, das Gegebene anzunehmen, um dann das Gegebene von innen heraus zu gestalten. Der Entschluss ist demnach die Bedingung der Möglichkeit, dass das Verhältnis von Leben und Selbstsein als ein Amalgam aus Passivität und Aktivität verstanden wird und innerhalb dieses Rahmens realisiert wird.  Damit entsteht der Eindruck, dass der Entschluss des Individuums systematisch mit dem Augenblick (Beichtrede: Stille) zusammenfällt, was bedeuten würde, dass der Entschluss eigentlich ein Entschiedenwerden des Individuums ist; der Moment, in dem es durch Gott in ein GottesVerhältnis gebracht und dadurch auf die Zukunft hin bestimmt wird (was eben den „Bruch“ mit dem bisherigen Leben bezeichnet). Und dies kann – aus systematischer Perspektive – auch an einer kurzen Bemerkung deutlich gemacht werden, wenn Kierkegaard schreibt, dass „das Grauen des Entschlusses Mut gebe und das Beben des Entschlusses abhärte“. (Vgl. SKS 5, 427/ DRG, 156 f.) Der Entschluss ist als psychologisch doppeldeutiger Moment gekennzeichnet, der abschreckt und zugleich anziehend wirkt; ebenso wie der Augenblick der „Stille“ in der Beichtrede, der der Moment der Angst ist, die doppeldeutig – sympathetisch-antipathetisch – vom Individuum erfahren wird. Zudem: Wenn Kierkegaard den Entschluss als „höchste Seligkeit“ (SKS 5, 436/ DRG, 166 f.) bezeichnet, so entspricht der Entschluss gleichfalls der „Stille“ in der Beichtrede und dadurch auch dem „Augenblick“.  Systematisch ist hervorzuheben, dass der Entschluss wesentlich auf das Gottes-Verhältnis hingedacht wird. Interessant ist folgende Bemerkung Kierkegaards: „[D]as Grauen [Gysen] des Entschlusses gibt Mut, und das Beben des Entschlusses härtet ab …“ (SKS 5, 427/ DRG, 156 f.) Damit betont er zunächst, dass der Entschluss das Individuum vor die Möglichkeit stellt, ein neues Leben

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sierende Haltung durchdrungen wird.²⁸¹ Deshalb ist – wie Kierkegaard eben zitiert wurde – alles um das Individuum herum „verändert“; es erscheint in neuem Licht,

in Angriff zu nehmen. Diese Möglichkeit ist aber von „Furcht und Zittern“ (Schauer und Beben) begleitet. Gerade deshalb wird der Entschluss von Kierkegaard wesentlich auf die Möglichkeit eines Gottes-Verhältnisses hin gedacht. „Furcht und Zittern“ sind wie bei Johannes de Silentio die reflexiv-affektiven Reaktionen des Individuums, wenn es sich Gott gegenübergestellt sieht. Indem Kierkegaard betont, dass „Furcht und Zittern“ zu „Mut und Abhärtung“ führen, betont er, ebenso wie Johannes de Silentio, dass sich erst im gewillten Aushalten krisenhafter Erfahrung der wirkliche Wille des Individuums zeigt, seinen Glauben auch in die Existenz hineinzutragen und zu praktizieren. Sich der eigenen Ohnmacht und Fehlbarkeit bewusst zu sein und dennoch an Gott festzuhalten – dieses Trotzdem macht den Entschluss aus. Und das bedeutet eben letztlich: Im Entschluss wird das Leben durch die Ewigkeit getragen (weshalb Kierkegaard die „wirkliche Vorstellung von Gott“ als Hauptbedingung des Entschlusses setzt).  Die Veränderung der Perspektive (Entschluss) als auch das kontinuierliche Bewusstsein (Ernst) sind dabei durch Leidenschaft bestimmt; Kierkegaard nennt diese „Begeisterung“. Er zeigt damit, ebenso wie Climacus, dass Einstellungen und Überzeugungen nur dann existenzrelevant werden, wenn ihnen eine affektive Kraft innewohnt. Die Begeisterung ist so der modus operandi der Stabilität der Person. Hierbei betont Kierkegaard, dass sich das Individuum am Streit mit seiner „Schwachheit“ begeistern soll (SKS 5, 426/ DRG, 155); dass es darauf ankommt, „auf der Stelle zu bleiben und ungeachtet aller Anstrengung nicht von der Stelle zu kommen“; dass „es gilt die Ohnmacht zu spüren [at fornemme] und doch die Begeisterung nicht loszulassen [ikke slippe]“. (SKS 5, 427/ DRG, 156) Der im Entschluss gefasste Ernst ist somit eine konkrete Erfahrung der Ohnmacht und Begeisterung, in der es gilt „zu hoffen entgegen der Hoffnung“ (SKS 5, 427/ DRG, 156), also Halt in der Haltlosigkeit zu finden. In der Begeisterung des Ernstes liegt das Sich-Bewähren – weil ein Bewusstsein des Scheiterns vorliegt, womit das Scheiternkönnen existenziell anzunehmen ist, ohne aufzugeben. Deshalb spricht Kierkegaard sowohl in der Trauungs- als auch in der Grabrede auch vom Ernst als dem „veredelten Spiegelbild“ (SKS 5, 440/ DRG, 171; SKS 5, 445/ DRG, 176). Im Ernst wird die Wirklichkeit als Abstraktion (wirkliche Vorstellung) in den eigenen Blick auf die Welt so implementiert, dass das Individuum das Scheiternkönnen als konstitutives Merkmal des Lebenmüssens einbezieht. Die „Veredelung“ besteht darin, dass im Wissen um das Scheitern zwar der Umgang mit dem Leben nicht leichter wird, aber dennoch weniger verzweifelt. So betont Kierkegaard auch, dass durch die Entschiedenheit eine durch das Leben hindurchtragende Begeisterung entsteht, durch die „die selige Überraschung der Verwunderung gewonnen“ wird, die „von einem Jahr zum anderen und auch noch am Abend des Lebens“ vorhanden ist. (SKS 5, 430/ DRG, 160) Wird hierbei der Begriff Verwunderung beachtet und im Sinne der Beichtrede ausgelegt, so gelangt das Individuum in seiner ständigen Auseinandersetzung mit sich, dem Leben und Gott zwar zu der Einsicht, dass es selbst im eigenen Unvermögen (zu Gott zu gelangen) gefangen, Gott aber da und evident für das eigene Leben ist. Es ist somit der der Beichtrede entsprechende Wille zur Hingabe (Streben, Verbundenheit, bewusste Religiosität), um den es Kierkegaard in der Trauungsrede geht. Es zu wollen, dass das eigene Leben von Gott getragen ist, weil er als Grund des Daseins gleichermaßen Stabilität und Hoffnung in sich vereint, bedeutet, dass das Individuum in sich die Kraft entdeckt, jeglichem Scheitern begegnen zu können.

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weil das Individuum sich selbst neu sieht. Das Innen, die innere Haltung, prägt den Blick auf das Außen. Daran verdeutlicht sich, was anhand des Verhältnisses zwischen Selbstsein und Leben gesagt wurde: dass das Leben erst durch das Individuum seine Form erhält. Das Leben ist das, was es ist, auch dadurch, wie das Individuum ihm begegnet.

3.2.3.3 Bund und Innerlichkeit Im Kern geht es Kierkegaard in der Trauungsrede darum, dass das eigene SelbstVerhältnis vor Gott im Dienst der Gemeinschaft mit einem anderen Menschen steht. Es geht also um soziale Erfahrung.²⁸² Und der eigene Umgang mit sich wird zum Kriterium dafür, was für das Zusammenleben mit dem Anderen getan werden muss. Kierkegaard forciert dabei folgende Perspektive: Im Selbst-Verhältnis vor Gott mit dem anderen Menschen in ständig zu erarbeitender, immer im Entstehen begriffener und zu bewahrender Gemeinschaft zu leben. Insofern der Ehebund aus zwei Menschen besteht, gilt diese Prämisse für beide Ehepartner. Es geht darum, dass das eigene Handeln immer in Bezug zu als auch in Abhängigkeit von dem Gegenüberstehenden geschieht. Auf diesen doppelten Bezug, Aktivität und Passivität, soll im Folgenden der Fokus gelegt werden. Systematisch muss aber zuvor noch auf folgenden Sachverhalt aufmerksam gemacht werden:

Grund des Zusammenseins Das einzelne Individuum soll sich nicht nur in ein Verhältnis zum Gegenüberstehenden stellen, sondern auch zur Liebe selbst.²⁸³ Das Verhältnis zweier Menschen ist in der Trauungsrede immer durch ein Verhältnis zu etwas Drittem, einem beständigen Ideal, der Liebe als „Grund“²⁸⁴ bestimmt und getragen. Dieses Verständnis der Liebe ergibt sich aus folgender Anmerkung Kierkegaards: „[W]enn die Liebe erwacht, ist sie älter als alles, denn indem sie ist, ist sie, als wäre sie

 Die Ehe wird von Kierkegaard als soziale Aushandlung begriffen (s.u.); dies jedoch nicht in dem Rahmen, dass die Ehe ein sozial-kontextualisiertes Gefüge ist, sondern lediglich in ihrer binnenstrukturellen Erscheinung.  Zu dieser vor allem in den Der Liebe Tun entfalteten Auffassung der Liebe: Arne Grøn, „Gegenseitigkeit in Der Liebe Tun?“, in Kierkegaard Revisited. S. 223 – 237, besonders S. 228 f.  SKS 5, 420/ DRG, 148.

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lange gewesen, sie setzt sich selbst voraus, zurück bis in die Ferne, bis alles Forschen bei dem unerklärlichen Ursprung endet.“²⁸⁵ Indem Kierkegaard die Liebe als „Ursprung“ charakterisiert und sie sich „selbst voraussetzt“ und in (unerreichbarer) „Ferne“ liegt, besitzt die Liebe die Eigenschaften, die Kierkegaard in der Beichtrede Gott zuspricht. Die Korrelation zwischen Gott und Liebe kennzeichnet Gott als Liebe, womit derselbe in seiner Wesensstruktur als relational gefasst wird. Das Selbst-Verhältnis vor Gott ist dementsprechend nicht nur immer auch ein Selbst-Verhältnis zur Liebe, sondern ein Selbst-Verhältnis zur Relationalität an sich.²⁸⁶ Deshalb kann auch gesagt werden: Ist Gott der Grund des Daseins (Beichtrede), ist er als Liebe zugleich der Grund des Zusammenseins zweier Menschen. Indem die Liebe als „ewig“ bestimmt wird, wird sie von Kierkegaard – wie bei Platon der Eros – als etwas dem Menschen Vorausliegendes, etwas Unveränderliches und Gegebenes betrachtet, das immer schon da ist. Der existenzstrukturelle Aspekt dessen ist, dass der Bezug des Individuums zur Liebe das eigene Handeln ins Verhältnis zu etwas Unveränderlichem setzt: durch die Bezugnahme zur Liebe bekommt das eigene Handeln seine Kohärenz. Die existenzgenetische Dimension der ewigen Liebe besteht hingegen darin, dass das, was aus der Ewigkeit hervorgeht, mit dem Entschluss in die Welt gelangt. Und der anthropologische Aspekt der ewigen Liebe besteht schließlich darin, dass der Mensch immer schon in sozialer Verbindung und somit gar nicht ohne ein „inter homines esse“ gedacht werden kann. Im Hinblick auf die Trauungsrede bedeutet dies konkret, dass die beiden Ehepartner vom Ewigen her immer schon verbunden und füreinander bestimmt sind. Für Kierkegaard kommt es von daher allein darauf an, diesen gegebenen Bund durch den Entschluss zu besiegeln, also die Liebe anzunehmen, indem sich für den anderen Menschen entschieden wird. So ist die Liebe als „Grund“ die Bedingung der Möglichkeit, dass sich das Individuum aus Liebe in Liebe entscheiden kann, womit sie die Bedingung für die Möglichkeit eines durch Liebe bestimmten Handelns ist. Kierkegaard verfolgt somit auch den Gedanken: aus Liebe entsteht Liebe. Jedoch kommt es hierbei für Kierkegaard wesentlich darauf an, wie sich das Individuum in der Liebe verhält (vgl. die Ausführungen zur scheiternden Ehe). Liebe allein bewirkt nichts; erst wenn sich das Individuum von der Liebe her versteht, indem es in Liebe existiert, besteht die Möglichkeit, dass Liebe auch Liebe erzeugt. Gelingt es, die Möglichkeit in Wirklichkeit, also das Denken in Handlung zu transformieren, so bedeutet dies einen Bruch mit dem bisherigen Leben. Um dies

 SKS 5, 423/ DRG, 151.  Vgl. auch Kapitel 3.2.3.4.

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zu verdeutlichen, ist es interessant zu sehen, dass Kierkegaard in dem oben abgesetzten Zitat hervorhebt, dass der Liebe Ursprung „unerklärlich“ ist und damit alles „Erforschen“ und Ergründen der Liebe scheitern muss. Die Liebe ist als das Ewige zugleich das Rätselhafte. In Anbetracht der Beichtrede ist die Liebe dann das, was das Individuum „verwundern“ lässt.²⁸⁷ Und die Verwunderung ist jener Zustand des Individuums, in dem das Ewige bewusst wird und sich das Individuum dabei zugleich selbst zur Frage wird. Im Erleben der Liebe ist der Blick auf die Welt und sich selbst verändert und sie markiert für Kierkegaard demnach auf affektiver Ebene das, was der Entschluss auf kognitiver Ebene nur wiederholen kann: ein Bruch mit dem eigenen, bisher gelebten Leben. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen kann nun das Verhältnis von Bund und Innerlichkeit genauer aufgezeigt werden.

Innerlichkeit und Pflicht Der aber, der durch die Trauung [Vielsen] das Leben eines anderen Menschen an seines bindet, durch die Trauung eine Verpflichtung eingeht, die die Zeit nicht lösen soll und die täglich erfüllt werden soll, von ihm ist ja ein Entschluss gefordert, und in diesem Entschluss ebenso eine wirkliche Vorstellung von sich selbst. Und diese wirkliche Vorstellung von sich selbst, und die Innerlichkeit [Inderlighed] dieser Vorstellung, das ist der Ernst.²⁸⁸

Kierkegaard betont, dass der Ernst die Innerlichkeit der „Vorstellung von sich selbst“ ist. Die Innerlichkeit bezeichnet hierbei nicht bloß eine Eigenschaft des Ernstes, indem sie die Intensität desselben benennt, sondern die Innerlichkeit ist der Kern des Ernstes. Sie ist das Darin-Existieren im Ernst, was zweierlei bedeutet. Zum einen bezeichnet sie die durch den Entschluss bestimmte Stabilität, Kontinuität und Kohärenz der eigenen Person in dem durch den Entschluss eingeschlagenen Lebensweg. Zum anderen bezeichnet sie das entschiedene SelbstVerhältnis vor Gott und damit die beständige Haltung der „Aufrichtigkeit“ sich selbst gegenüber; das Bewusstsein eigener Schuld, Sünde und Fehlbarkeit. In der Innerlichkeit sublimieren sich Bewegung, Verhältnis und Einstellung des Individuums. Wichtig ist hierbei, dass Kierkegaard die Innerlichkeit nicht nur in Bezug zum Selbst-Verhältnis nennt, sondern im Zusammenhang mit dem Eingehen des Bundes zum gegenüberstehenden Menschen. Denn in dem Zitat wird deutlich, dass das Selbst-Verhältnis die Voraussetzung des Entschlusses und der Entschluss

 Vgl. auch SKS 5, 431 / DRG, 160.  SKS 5, 432 f. / DRG, 163.

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die Voraussetzung für den Ehebund ist. Die Innerlichkeit ist demnach nicht nur die Bindung des einzelnen Individuums an Gott, sondern auch die entschiedene, aus Liebe vollzogene Bindung an ein anderes Individuum. Kierkegaard nimmt mit der Innerlichkeit demnach die bewusste Hingabe an den anderen Menschen in den Blick, womit die Innerlichkeit in enger Verbindung zum zweiten zentralen Begriff der zitierten Stelle steht: der Verpflichtung. Die Verpflichtung ist die durch die Zeit hindurch tragende Forderung an das Individuum, ständig an sich selbst im Dienste des Ehebundes zu arbeiten.²⁸⁹ Systematisch steht daher aus struktureller Perspektive nicht der Partner, sondern die Beziehung selbst im Fokus. Indem die Beziehung selbst aber nur durch beide Partner entstehen und bestehen kann, ist der Blick auf die Relation zwischen ihnen sowohl durch einen Blick auf die Kommunikation als ein die Beziehung stabilisierender Faktor geprägt als auch durch den Blick auf die Verantwortung dafür, dass die Beziehung nicht an den Anderen delegiert werden kann. Diese ethische Dimension eigener Mitverantwortung geht aus dem SelbstVerhältnis vor Gott hervor und besteht darin, dass es aus dem Bewusstsein eigener Fehlbarkeit den Grund für die Möglichkeit eines misslingenden Zusammenlebens bei sich selbst suchen muss. Weil sich das Individuum unter der Prämisse eigener Unvollkommenheit betrachtet, bleibt das Gute und Vollkommene das immerzu Ausstehende und noch nicht Erreichte, wodurch die Pflicht selbst eine ständige Bewegung der Selbstkorrektur ist. Kierkegaard begründet diese Pflichtethik dementsprechend nicht dadurch, dass die Pflicht aus einer Forderung Gottes als richtende Instanz erwächst,²⁹⁰ sondern aus dem Menschen selbst, indem die Pflicht aus dem Bewusstsein eigener Schwäche hervorgeht. Der ethische Maßstab dieser radikalen Haltung gegen sich selbst entspringt der Aufrichtigkeit (Beichtrede) und der darin liegenden Umfassendheit des Sich-selbst-inFrage-Stehens. Die Pflicht entspringt somit aus der Innerlichkeit. Denn die Innerlichkeit ist sowohl das „aufrichtige“ Selbst-Verhältnis als auch die persönliche Verbundenheit mit dem gegenüberstehenden Menschen; und die Pflicht ist die Selbstkorrektur zugunsten desjenigen, dem mit Innerlichkeit begegnet wird. Die Inner-

 Die wichtigsten Stellen zur Pflicht in der Trauungsrede sind: SKS 5, 420, 430/ DRG, 148, 160.  Verwiesen sei hierbei auf den letzten Absatz der Beichtrede, wo es heißt: „Was Gott von jedem fordert, das wird wohl am besten Gott überlassen.“ (SKS 5, 418/ DRG, 146) Gott wird von Kierkegaard demnach nicht als Projektionsfläche menschlicher Ethik und nicht als normatives Diktat und Begründungsstruktur ethischer Gewalt betrachtet. Gott ist das, was immer unverständlich bleibt.

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lichkeit ist somit der strukturelle Ausgangspunkt für das eigene Verhalten im Umgang mit dem anderen Menschen (was der „Milde“ bei Climacus entspricht²⁹¹).

Dankbarkeit und Fürsorge als Sprache des Entschlusses Das durch Innerlichkeit und Pflicht bestimmte Verhältnis zum Bund wird neben der Aufrichtigkeit durch Dankbarkeit und Fürsorge charakterisiert. [E]s ist ein Verständnis zwischen Gott und dem Glücklichen gefordert, und somit ist ja eine Sprache gefordert, in der sie miteinander sprechen. Diese Sprache ist der Entschluss; die einzige Sprache, in der Gott sich mit dem Menschen einlassen will. … Der Entschluss soll ja den Glücklichen nicht undankbar machen, im Gegenteil, er soll ihn würdig machen, und erst im Entschluss ist der Ernst der Dankbarkeit. Deshalb ist sich die Danksagung des Entschlusses bewusst, dass das Glück eine Aufgabe ist, und dass der Dankende nun am Anfang steht. Deshalb ist die Danksagung des Entschlusses besinnlich; sie versteht, dass Gott zu dem Entschlossenen im Glück gesprochen hat …²⁹²

Dass der Entschluss eine Sprache ist, besagt zunächst, dass sich das Individuum im Gottes-Verhältnis von Gott gesehen weiß. Gott ist die schenkende Macht; der Mensch ist der, der annimmt; der Entschluss ist das Medium, durch das das Geben ins Bewusstsein tritt und das Annehmen in Form von Danksagung bestätigt wird. Die Frage ist, wie diese Danksagung verstanden werden muss. Mit Blick auf die obigen Anmerkungen zur ewigen Liebe liegt die Bedingung der hier angesprochenen Dankbarkeit zunächst darin, dass das Individuum in Bezug zur Ewigkeit steht. Die Liebe zwischen zwei Menschen wird als Geschenk erfahren, dessen Adressat im Bewusstsein der schenkenden Macht dieses Geschenk nicht als etwas Selbstverständliches wahrnimmt, sondern vielmehr bereit dazu ist, dieses Geschenk anzunehmen. In diesem Sinne entsteht durch den Entschluss ein Bewusstsein für den Bund mit dem anderen Menschen. Das eigene Leben wird von diesem Bewusstsein durchdrungen, so dass mit der Dankbarkeit eine Veränderung des Blicks auf das eigene Leben eintritt. Diese Veränderung wie auch das Annehmen beschreiben die Innerlichkeit, in der die persönliche Hingabe an den Gegenüber im Bewusstsein Gottes praktiziert wird. Das bedeutet zugleich, dass die Dankbarkeit vom Bewusstsein eigener Fehlbarkeit, also dem Scheiternkönnen, begleitet wird. Deshalb schreibt Kierkegaard: „O, manchmal passten die beiden doch ganz zueinander, dass es ihnen

 Vgl. Kapitel 2.3.3.4.2.  SKS 5, 437/ DRG, 168 f.

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bloß an Dankbarkeit mangelte, um glücklich zu sein.“ Und kurz darauf: „Die gute Saat fordert Fürsorge und Arbeit …“²⁹³ Dankbar zu sein bedeutet nicht, untätig zu sein, sondern das Geschenk zu bewahren, dadurch, dass die Liebe am Leben gehalten wird, im Bemühen der Fürsorge um den Anderen und in Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Dass Kierkegaard hierbei von Fürsorge spricht, ist insofern interessant, als dass diese eine Sorge für den Anderen ist, was nicht nur bedeuten kann, dass man sich konkret um den anderen bemüht, ihn in seinem eigenen Handeln berücksichtigt und an ihn denkt, sondern ebenfalls, dass man ihm zur Sorge verhilft.²⁹⁴ Die gegenseitige Fürsorge der Ehepartner wäre in diesem Sinne das gegenseitige Verhelfen dazu, dem Anderen durch das eigene Tun das Bewusstsein der Möglichkeit offenzulegen, dass Gott anwesend ist (was wiederum der „Milde“ bei Climacus entspricht); letztlich aber nur eins sagt: sich gegenseitig so zu begegnen, dass das Leben und das Zusammenleben wertgeschätzt wird. Und das auch auf konkreter, leiblicher Ebene, da Fürsorge bedeutet, sich dem Anderen im konkreten Handeln zuzuwenden, weshalb Kierkegaard, wie Emanuel Hirsch treffend übersetzt, die „zarte Liebe“ [Elskoven] – die Zärtlichkeit – als Ergebnis des Entschlusses heraushebt.²⁹⁵ Mit der Dankbarkeit und Fürsorge geht es am Ende um nichts anderes, als um das Ja-Sagen zum Leben und zum gegenüberstehenden Menschen. In diesem Sinne ist der Entschluss eine in Praxis transformierte Sprache, ein Darin-Existieren, weil durch ihn das Ja-Sagen als ein Sich-Öffnen für das, was einem begegnet – in Hingabe (Innerlichkeit) und Permanenz (Pflicht) – praktiziert wird. Die Liebe ist also nur,wenn sie im Zusammenleben ausgedrückt wird. Das,was durch die Liebe entsteht, wird durch den Entschluss fokussiert und auf Dauer gesetzt, wobei die Dialektik darin besteht, dass der Entschluss aus Liebe entsteht und die Liebe durch den Entschluss besteht. ²⁹⁶ Und eben dies bedeutet, dass die

 SKS 5, 429/ DRG, 159.  Hier ließen sich gut und eingehend Der Liebe Tun einbeziehen, sofern es in diesen auch und vor allem um das Verhelfen zum Gottes-Verhältnis geht: vgl. Fonnegra, Das gelingende Gutsein, S. 155 – 165.  Vgl. SKS 5, 430, 436/ DRG, 160, 167. In diesem auf äußere Konkretion zielenden Handlungsaspekt der Fürsorge wird der auf Weltbezogenheit zielende Handlungsaspekt der Milde bei Climacus schließlich überstiegen, weil die Milde zwar auch Konkretion im Äußeren bedeutet, aber systematisch die Intentionalität des äußeren Handelns stärker fokussiert. Mit der climacischen Milde geht es mehr um die Konkretion einer den Mitmenschen zugewandten Haltung.  „Selbst die glücklichste irdische Liebe bedarf [trænger] doch der Wiedergeburt im Entschluss …“ (SKS 5, 432 / DRG, 162) – Hierbei wäre zu fragen,worin die konkrete Praxis der durch den Entschluss auf Dauer gesetzten Liebe besteht. Ist der Entschluss die Wiederholung der Liebe, besteht die Praxis darin, dass das Ursprüngliche (Liebe) bewahrt wird. Allgemein könnten dann als

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Liebe einzig durch den handelnden Menschen ist, indem dieser sich im Entschluss für die Liebe entscheidet und aus der Innerlichkeit heraus Liebe konkret praktiziert. Damit zeigt sich deutlich, dass die Gemeinschaft mit einem anderen Menschen ständig als etwas im Entstehen Begriffenes ist, obwohl sie gleichzeitig als Geschenk wahrgenommen wird.²⁹⁷

Interdependenz und Interrelationalität²⁹⁸ Obwohl der Entschluss, der Ernst und somit die Innerlichkeit existenzielle Prozesse des einzelnen Individuums sind und damit im und durch das Individuum

Liebe – mit Ulrich Lincoln gefragt – „überhaupt nur diejenigen Beziehungen gelten, die prinzipiell unendlich sind und nicht irgendwann einmal zerbrechen oder beendet werden. Jedes Scheitern der Beziehung müßte demnach als Offenbarung ihrer Unwahrheit gedeutet werden. Das würde bedeuten, daß wahre Liebe nur einmal lieben kann. Ist das aber nicht eine unrealistische Sicht auf die Liebe …? (Ders., „Äußerung“, S. 289) Insofern es Kierkegaard in der Trauungsrede um die Liebe im Phänomenbereich der Ehe geht, der als ein Bund für die Ewigkeit gesehen wird, ist die Liebe in einem stark eingegrenzten Sinne verstanden und nicht auf verschiedene andere Formen des Liebenkönnens zu übertragen. Der ehelichen Liebe liegt bei Kierkegaard das Nicht-ScheiternSollen zugrunde. Indem Kierkegaard jedoch gerade dadurch die eheliche Liebe vor dem Hintergrund des Scheiterns reflektiert, bezieht er das Scheitern als grundsätzliche Möglichkeit in die eheliche Liebe ein. Die Integration eben dieser Möglichkeit absorbiert das Scheitern durch dessen Bewusstmachung, ohne es zu nivellieren. Daraus folgt, dass in die Praxis der „unendlichen Beziehung“ eine Vielzahl von möglichen Kompensationsstrategien einbezogen ist; dass die Bewahrung der Ursprünglichkeit keine starre Praxisform aufweisen muss. Ein strukturelles Merkmal der praxistheoretischen Betrachtung Kierkegaards liegt demnach darin, dass er die eheliche Liebe auf Grundlage von allgemeinen Erscheinungsformen (derselben), als eine Praxisform betrachtet, in die, das grundsätzliche Festhalten des Individuums an der ehelichen Beziehung vorausgesetzt, gleichfalls das Offenhalten für das Unkonventionelle einbezogen ist.  Diese Reziprozität zwischen Gegebensein und Erschaffen stellt an das Individuum zwei Aufgaben: das Annehmen und Hervorbringen. Beide beschreiben Tätigkeiten, wobei beim Hervorbringen der Fokus auf dem eigenen Gestalten in Bezug auf etwas liegt, beim Annehmen auf dem bewussten Aussetzen an etwas und damit auf dem eigenen Handeln in Abhängigkeit von etwas. Sowohl Gott wie die Liebe wie der andere Mensch müssen als solche angenommen werden, indem man sich ihnen bereitwillig aussetzt; man sich ihnen hin-gibt. In diesem hin-gebenden Annehmen, der Innerlichkeit, liegt auch das Hervorbringen der Fürsorge in Aufrichtigkeit und ständiger Arbeit (Pflicht) in Bezug auf den gegenüberstehenden Menschen. Die Verwobenheit von Annehmen und Hervorbringen besagt, dass erst im kontinuierlichen Hervorbringen die Liebe besteht und bewahrt werden kann und die Bewahrung der Liebe zugleich ein kontinuierliches Annehmen der Liebe als ein ständig im Entstehen begriffener Prozess ist.  Man beachte hierzu auch den Artikel von Pia Søltoft, „Anthropology and ethics“, in Søren Kierkegaard – Critical Assessments of Leading Philosophers, Vol. II, hg. von Daniel W. Conway, London und New York 2002, S. 277– 284. Søltoft diskutiert überblicksartig, aus exegetischer Analyse heraus (von der Ironieschrift bis zu Der Liebe Tun), wie Intersubjektivität und das sich

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selbst sind, macht Kierkegaard in der Trauungsrede deutlich, dass sie zugleich vom anderen Menschen abhängen. Kierkegaard verfolgt demnach ein Bild des Zusammenlebens, in dem die Autonomie des Einzelnen ein wesentlicher Bestandteil ist, diese Autonomie aber immer im Dienst für den Bund und damit für den gegenüberstehenden Menschen steht. Im Gegensatz zu Climacus gilt es, sich an den anderen zu binden und durch den anderen gebunden zu werden; es geht um das Selbst-Lieben als auch um das Sich-lieben-Lassen. ²⁹⁹ Nicht in der Vereinzelung, sondern im Eingeständnis der gegenseitigen Abhängigkeit und der daraus hervorgehenden, gemeinsamen Bewältigung des Lebens liegt die Bedeutung der Innerlichkeit, durch die der Bund existenziell getragen (durchdrungen) wird. Das Individuum ist also nicht nur wie bei Climacus der Ausgangspunkt, sondern gleichfalls der Endpunkt zwischenmenschlichen Handelns. Die existenzielle Aufgabe und Voraussetzung besteht also in der Bereitschaft zur Bindung.³⁰⁰ Sodann ist die Innerlichkeit zwar das eigene Selbst-Verhältnis vor Gott im Leben zum gegenüberstehenden Menschen, was jedoch im vorliegenden Kontext gleichfalls besagt, dass der Andere in die Innerlichkeit immer mit einbezogen ist.³⁰¹ Demnach ist die Innerlichkeit (und auch der Entschluss etc.) nichts, was das Individuum nur mit sich allein abmacht, sondern immer auch in sozialer Abhängigkeit von anderen Menschen entsteht, besteht und Wirkung zeigt. Innerlichkeit ist dann ein intersubjektiver Prozess, in dem die Erfahrung des Anderen als auch die Objektivierung eigener Erfahrung durch den Anderen in die Genese und Durchführung der Innerlichkeit einbezogen sind. Mit diesem Aspekt des gegenseitigen Einbeziehens geht die Konzeption der Innerlichkeit in der Trauungsrede über die der climacischen Innerlichkeit hinaus,

daraus ergebende Verhältnis zwischen Selbst und anderer Person (bzw. Selbst-Ständigkeit, Abhängigkeit und Aushandlung) bei Kierkegaard aufgefasst werden können.  Dorothea Glöckner stellt die gleiche Doppelperspektive des Liebens für die Vier erbaulichen Reden 1843 heraus: dies., Kierkegaards Begriff der Wiederholung, S. 94.  Diesbezüglich sei auf den hervorragenden Artikel von Arne Grøn hingewiesen, in dem er die Frage der „Gegenseitigkeit“ bei Kierkegaard exegetisch erörtert, kritisch ergänzt und als Bedingung der existenziellen Durchführung der (souveränen) Liebe bestimmt: ders., „Gegenseitigkeit in Der Liebe Tun?“, S. 223 – 237.  Zum Einbezogensein des Anderen: vgl. Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, besonders S. 98 f. In der Einübung im Christentum radikalisiert Anti-Climacus das Problem der Innerlichkeit im Verhältnis zu anderen Menschen. Zwar ist der Andere auch dort in die Innerlichkeit mit einbezogen, aber dass die Innerlichkeit dennoch ein nicht mitteilbarer und ein nicht mit dem Anderen teilbarer Zustand des Individuums ist, kennzeichnet das Leiden an der verborgenen Innerlichkeit. Vgl. DEC, Zweiter Teil, Abschnitt: Die Denkbestimmung des wesentlichen Ärgernisses, Punkt 4.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

in der zwar der Andere in das eigene Handeln ebenfalls einbezogen ist („Milde“), die persönliche Praxis der Innerlichkeit jedoch als solitärer Vollzug verstanden wird, in den der gegenüberstehende Mensch nicht als genetische und kontinuitätsstiftende Instanz mit einbezogen wird. Damit lässt sich nun eine vorläufige existenzsystematische Bestimmung der Innerlichkeit vornehmen. Innerlichkeit ist eine die (faktische, leibliche) Welt einbeziehende und eine weltbezogene Praxis, womit im Zusammenhang der Beichtrede eine systematische Doppel-Bewegung der Innerlichkeit ausgemacht werden kann:

Festzuhalten ist bei dieser Schematisierung (die bewusst systematische Äquivalenzen zu dem Schema im Kapitel 2.3.3.4.3 aufweist), dass die zweite Stufe der Innerlichkeit strukturell an die erste zurückgebunden bleibt; dass also die Innerlichkeit in sich selbst sowohl rückbezüglich wie prozesshaft verstanden wird und nicht als geradlinige Kontinuität, die sich nur durch den gegenwärtigen Zustand definiert (der das Vergangene aussondert). Gleichfalls ist festzuhalten, dass die erste Stufe zwar als Verinnerlichung (oder Ent-Äußerung) verstanden werden kann, die zweite Stufe aber nicht als Veräußerung (oder Ent-Innerlichung). Innerlichkeit ist und bleibt die das Handeln fundierende Einstellung und Haltung des Individuums, die sich durch das Handeln (die Fürsorge) im Äußeren zeigt. Die Ethik ist Ausdruck der Religiosität – und die Innerlichkeit ist somit (um die climacische Kategorisierung anzuwenden) klar als ethisch-religiös aufgefasst. Das climacische Kredo der Verborgenheit an der gesellschaftlichen Oberfläche wird dann zwar systematisch niemals verlassen, gestaltet sich aber so, dass die epidermale Glättung Risse bekommt, die den Blick auf das unter der Oberfläche liegende freigeben (ohne das dort zu Erblickende bloßzustellen).

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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3.2.3.4 Bedeutung und Innerlichkeit „[I]m Leben ist doch ein wenig Sinn …“³⁰²

Schließlich kann nun zu einem wichtigen Punkt innerhalb der Trauungsrede vorgedrungen werden, mit dem die vorhergehenden Ausführungen zusammengeführt und abstrahiert werden. Das Leben im Gottes-Verhältnis wird nicht nur unter der existenziellen Prämisse der Lebensbewältigung betrachtet,³⁰³ sondern auch unter der Bedingung von Bedeutsamkeit. Die Liebe bleibt; sie leitet durch das Leben, wenn der Entschluss mitgeht [følger med] …; sie gibt dem Leben Bedeutung, wenn der Entschluss sie Tag für Tag auslegt [fortolker] …³⁰⁴

Kierkegaard offeriert hier mehrere Bestimmungen von Bedeutung. Die erste und offensichtlichste ergibt sich aus dem Umstand, dass in der Liebe die Bedeutung

 SKS 4, 125 (Anm.) / DFZ, 205 (Anm.).  Ausgehend von der Lebensbewältigung kann kurz das Leitthema der Trauungsrede verständlich gemacht werden: „die Liebe überwindet alles“. Dies bedeutet zunächst nichts anderes, als im Bewusstsein des Scheiternkönnens zu leben und aus diesem Bewusstsein heraus die Liebe als das ständig Entstehende zu begreifen. Kierkegaard geht nämlich anfänglich auf ein mögliches Missverständnis ein, dass das von Liebe ergriffene Individuum das Thema der Rede so verstehen könnte, dass es, sobald es liebt, alles überwunden hat. (Vgl. SKS 5, 423 – 425/ DRG, 152– 154) Weil Kierkegaard gerade dies verneint, liegt also – wie in der Beichtrede – in der Beschäftigung und Bewegung selbst die Bewältigung und Bewährung. Dabei spielt der Entschluss eine entscheidende Rolle. Denn eine Ehe ohne Entschiedenheit ist für Kierkegaard eine missglückte Ehe, selbst wenn die beiden Eheleute glücklich sind (vgl. SKS 5, 440/ DRG, 171 f.). Kierkegaard verfolgt hierbei den Gedanken, dass ohne die Vertiefung in das Bewusstsein der Kontingenz – und nichts anderes geschieht reflexionsphänomenologisch im Entschluss – kein wirkliches Glück erfahren werden kann, weil sich dieses dialektisch am Scheitern misst. Der Entschluss wird so nicht nur zum Maß eines die Kontingenz einbeziehenden Stabilitätsanspruchs, sondern gleichfalls zum Maß qualitativer Beurteilung von Situationen. Gleichfalls bedeutet das Leitthema, dass die Überwindung im Überwundenwerden liegt. Denn Kierkegaard schreibt, dass die „Demut“ – also die von Climacus her bekannte Liebe zu Gott – „in heiliger Schwachheit stark“ macht (SKS 5, 428/ DRG, 157). Damit wird gleichfalls hervorgehoben, was schon in der Beichtrede eminent hervortrat, dass sich das Individuum in der Hingabe an Gott nicht nur selbst in seiner Fehlbarkeit annehmen soll, sondern sich letztlich von Gott überwinden lassen wollen soll. Kierkegaard hat dann in der Trauungsrede allgemeiner ein Lernen im Blick, durch das das Individuum dann am meisten es selbst ist, wenn es ohne Selbstbehauptung (der „Trotz“ im Sinne der Krankheit zum Tode), in Hingabe an eine Sache, einen Menschen, Gott (etc.) existiert. In diesem Sinne beschreibt gerade die soziale Erfahrung gegenseitiger Fürsorge sowohl die aktive Hingabe als auch den Willen, sich von dem anderen Menschen überwinden zu lassen.  SKS 5, 436/ DRG, 167.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

des Lebens liegt. Jedoch gibt die Liebe die Bedeutung erst preis, wenn sie auch aus dem Entschluss heraus praktiziert wird. Nicht die Liebe als ideale Abstraktion hat Bedeutung (womit die Liebe lediglich ein verstehbarer Inhalt des Denkens wäre), sondern allein das auf Kontinuität gesetzte Gelebtwerden der Liebe hat Bedeutung. Ein bedeutungsvolles Leben ist eines, dessen Telos (Liebe) beständig in die Praxis einbezogen bleibt. Deshalb: Die Liebe „leitet durch das Leben“, womit sich die Bedeutung (nur) aus der Wechselbeziehung von Praxis und Denken ergibt; wenn die Praxis am Denken orientiert ist und sich das Denken gleichfalls an der Praxis ausformt.³⁰⁵ In diesem Sinne gibt es keine Bedeutung an sich, sondern nur aus Intentionalität und praktizierter Haltung heraus.³⁰⁶ Wird dies konkret auf die Trauungsrede angewendet, entsteht die Bedeutung des Daseins, wenn die Verbundenheit zum anderen Menschen bejaht und ein Verhältnis zur Ewigkeit eingegangen wird. Hiervon ausgehend ergibt sich die zweite Bestimmung von Bedeutung. Indem das Zusammenleben auf interrellationaler und interdependaler Reziprozität beruht, ist das, was die Liebe als Bedeutung des Lebens ausmacht, nicht nur die eigene Zuwendung (Verbundenheit), sondern eben auch die eigene Abhängigkeit von anderem (Gott und/oder Menschen). Es sind die Fähigkeiten des Annehmens und Empfangens, die Bedeutung dadurch generieren, indem sie das Individuum an Bedeutung teilhaben lassen. Es geht also auch um das Entdecken von Bedeutung,³⁰⁷ womit diese doch und auch als etwas außerhalb des Individuums Bestehendes gefasst wird: als ein übergeordneter Zusammenhang. ³⁰⁸

 Es geht also nicht darum, dass Bedeutung nur dann erfahren wird, wenn schon eine im Denken vorgeformte Repräsentation von Bedeutung vorhanden ist. Diesbezüglich ist zu beachten, dass Kierkegaard die Liebe auch als „unerklärlich“ (SKS 5, 423/ DRG, 151) und somit als rätselhaft bestimmt. Und die Rätselhaftigkeit bezieht sie nicht nur aus dem Fakt, dass sie ewig ist und verwundern lässt (s.o.), sondern auch daraus, dass sie als das dem Denken Vorläufige erlebt werden muss. Die konkrete Bedeutung (Liebe) kann erst im Nachhinein aus der Erfahrungswirklichkeit heraus destilliert werden, womit Kierkegaards berühmte Sentenz zum Ausdruck kommt: vorwärts leben, rückwärts verstehen.  Eben aus dieser existenzdialektischen Perspektive heißt es im Vorwort der Gelegenheitsreden: „Die Bedeutung liegt in der Aneignung.“ (SKS 5, 389/ DRG, 113) Denn indem diese gerade die Ausbildung einer intentionalen Haltung darstellt, der Innerlichkeit, ist die Aneignung im Rahmen der Gelegenheitsreden die Übersetzung des Denkens in den Entschluss, durch den das durch Liebe „geleitete“ Leben in seiner Praxis bestimmt wird und gleichfalls Liebe und Leben als reziprok aufeinander bezogen verstanden werden.  Was diesbezüglich von mir nicht ausgeführt wird, aber (systematisch) nicht zu vernachlässigen ist, ist Kierkegaards implizite Bestimmung der Liebe als emphatische Erfahrung. Hierbei ist es aufschlussreich, dass die ersten Worte der Trauungsrede lauten: „Ungeklärte Stimmungen ruhen mit der schönen Zuversicht der Liebe [Elskoven] in der Tiefe der Seele …“ (SKS 5, 419/ DRG, 147) Zur Deutung gibt Climacus einen Hinweis, wenn er in der Unwissenschaftlichen Nachschrift

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Dies ist die von Kierkegaard als „ewig“³⁰⁹ bestimmte Liebe selbst, deren inhärentes Strukturmerkmal es ist, dass sie als Liebe in sich Relationalität impliziert. Und die weltliche Repräsentation dieser (übergeordneten) Ganzheit ist der Ehebund vor Gott. Denn er ist nicht nur die durch Ewigkeit getragene und durch interdependale Reziprozität bestimmte Interrelationalität selbst,³¹⁰ sondern tranzum Begriff „Stimmung“ schreibt: „Denn Stimmung ist wie der Nigerstrom in Afrika, niemand kennt seinen Ursprung, niemand kennt seinen Ausfluss, bekannt ist nur sein Lauf.“ (SKS 7, 216/ DUN, 384) In der Stimmung zeigt sich das Ewige, das keinen Anfang und kein Ende hat; nur dass es da ist. Die Stimmung steht demnach in direktem Bezug zur „Verwunderung“. Die Stimmung ist Ausdruck eines von Rätselhaftigkeit durchzogenen Blicks auf die Welt. (Zur Stimmung unter Bezugnahme auf die Unwissenschaftliche Nachschrift: Daniel Greenspan, The Passion of Infinity. Kierkegaard, Aristotle and the Rebirth of Tragedy, Berlin und New York 2008 (Kierkegaard Studies, Monograph Series, Bd. 19), 275 f.) Mit der Liebe als „ungeklärte Stimmung“ hat Kierkegaard also ein emphatisches Bild der Liebe vor Augen, in der sich das Individuum in einer diffusen Stimmung vollständig von Liebe durchdrungen fühlt und dabei der (eigene) Blick auf die Welt selbst verändert wird. In diesem Sinne legt die Emphase der Liebe Bedeutung frei – Bedeutung im Sinne des Bisher-nicht-Gesehenen, des Ungeahnten, das nun erfahren wird und so in ein direktes Verhältnis zum Individuum gebracht ist.  Dagegen könnte gut argumentiert werden, dass es mit dem Existenzdenken ja genau darum geht, in das Leben hineinverwickelt zu sein und keine Distanz dazu zu haben, also nicht das Ganze in den Blick zu bekommen und so eine abstrahierende Position zum Leben einzunehmen (was Kierkegaards berühmter Kritik am idealistischen Denken entspräche). Obwohl es Kierkegaard gerade um das Akteursein geht, wendet er sich dennoch nicht von einem reflexiven Bedeutungsverhältnis im Sinne der Ganzheit ab. Dies liegt an Kierkegaards Verhaftetbleiben in traditioneller Metaphysik. Zum Verhältnis von Bedeutsamkeit und Metaphysik: vgl. Kapitel 3.2.4.3.  SKS 5, 423/ DRG, 151.  Folgendes Schema versucht die Interrelationalität zu verdeutlichen:

Auf der ersten Ebene ist die Ewigkeit verankert als Ganzheit qua Transzendenz, die durch Gott als Grund des Daseins und der Liebe als Grund des Zusammenseins repräsentiert wird, wobei beide Repräsentationen wiederum inhärent aufeinander bezogen sind (vgl. Kapitel 3.2.3.3). Auf der zweiten Ebene ist der Ehebund selbst, also die eingewilligte Beziehung zwischen zwei Menschen verankert, die nicht nur als solche Reziprozität darstellt, sondern auch in Relation zum Ewigen steht – und das nicht nur in dem Sinne, dass das Ewige, die Liebe, den Bund bedingt. Deutlich wird die wechselseitige Beziehung von Bund und Ewigkeit durch die dritte Ebene, auf der

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

szendiert in seiner Struktur die Zweiheit der beiden Individuen in eine Einheit, die wiederum die höchstmögliche Annäherung an die ewige Liebe ist. Der Ehebund ist somit das Inter-esse zwischen Ewigkeit und Zeit/Welt und in diesem strukturellen Sinne die „Ewigkeit in der Zeit“.³¹¹ Liegt die Bedeutung des Lebens also im gelebten Entdecken der Liebe, die sich von dort her als übergeordnete Bedeutung zeigt, die wiederum durch den Ehebund selbst gespiegelt wird, so ist die Bedeutung eines in Liebe geführten Lebens ein sich in Wirklichkeit ausformendes Bedeutungsgeflecht, dessen innerer Strukturkern das Aufeinanderbezogensein darstellt. Liegt demnach also die Bedeutung des Lebens in der Existenzpraxis des Begegnens, wird klar, dass Bedeutung genau dann entsteht, entdeckt und erfahren wird, wenn das göttliche Prinzip der Interrelationalität (Liebe) in der Zeit entsteht, entdeckt und erfahren wird (oder, um eine oben verwendete Formulierung zu gebrauchen: wenn das in die Praxis einbezogene Telos realisiert wird).³¹² Das Ins-Leben-Treten dessen ist der Entschluss. Der reziproke Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bestimmungen von Bedeutung kann dann wie folgt benannt werden: Das Gelebtwerden ist Interrelationalität, die einerseits die Ganzheit existenzialisiert, sich andererseits im Ehebund transzendiert und als diese die Ganzheit in der Zeit spiegelnd strukturalisiert. In schematisierter Form:³¹³

die beiden Individuen (in der Welt), die den Bund konstituierend, über denselben aufeinander bezogen sind und zudem nicht nur einzeln, sondern auch über den Bund auf das Ewige bezogen sind. Auf der vierten Ebene ist schließlich der Entschluss aus Innerlichkeit (fünfte Ebene) verankert, der in Bezug auf den anderen und durch das Bezogensein des Anderen auf die eigene Person entsteht und den Ehebund gegen alle Kontingenz aus Freiheit mit ermöglicht.  SKS 5, 420/ DRG, 148. In Anbetracht des zentralen Topos des Bekenntnisses innerhalb der Gelegenheitsreden ist anzumerken: Wesentlich wird der Bund durch den Entschluss zum „Beginn der Ewigkeit in der Zeit“ (SKS 5, 420/ DRG, 148). Das heißt: Die Bejahung zur Bindung ist eine Form der Vervollkommnung und zwar deshalb,weil dem Immer-schon der gegenseitigen Verbundenheit durch das eigene Bekenntnis zu dieser Verbundenheit eine feste Form in der Welt gegeben wird.  Was die Abbildfunktion des Ehebundes angeht, zeigt sich dann, dass dieser lediglich die strukturelle Spiegelung des Ewigen in der Zeit darstellt. Existenziell beruht er auf der unbedingten Konkretion des Handelns, das eine Existenzialisierung des göttlichen Prinzips darstellt. Seine in sich geschlossene, vollkommene Form erhält das Handeln dennoch erst in seiner Abstraktion als Bund. In diesem Sinne ist die Praxis des Ehebundes gerade jene sozial bestimmte Spiegelung des Ewigen in der Welt, das das Göttliche in der sich dem Menschen zuwendenden Handlung abbildet – und zwar in genau dem strukturellen Sinne, wie Kierkegaard es in Der Liebe Tun sagt: „Mensch – Gott – Mensch“ (SKS 9, 111 / LT, 119).  Beziehung A↔Ay = Existenzialisierung; Ax↔Ay = Konkretion und Transzendierung; A↔Ax = Annäherung und Abbildung (Strukturalisierung).

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Dieses Schema öffnet nun auch, neben anderen Sachverhalten,³¹⁴ den Blick für das Verhältnis von Innerlichkeit und Bedeutung. Zunächst vereint die Innerlichkeit als existenzielles Verhältnis und Vollzug die verschiedenen Bestimmungen der Bedeutung, nämlich Kontinuität (Ganzheit), Relationalität (Ehebund) und das Handeln (Gelebtwerden). Gleichfalls sublimiert sie als Kontinuität (Stabilität), Verhältnis (Bezogensein und Bezugspunkt-Sein) und Haltung (Vor-Gott-Sein) die den Ehebund strukturell tragenden Kriterien im eigenen Existenzvollzug des Individuums. Und schließlich ist sie die Bedingung der Möglichkeit eines gelingenden und bedeutungsvollen Lebens. Denn aus ihr geht der Entschluss hervor, durch den die Praxis der Liebe nicht nur auf Kontinuität gesetzt, sondern Bedeutung durch die Praxis hindurch entdeckt und auch in die Zeit hineingetragen wird. Liegt demnach in der Liebe die Bedeutung des Lebens, so ist die Innerlichkeit die als ständige Bewegung begriffene Praxis, die die Bedeutung (durch das Begegnen) im Leben entfaltet. Sie ist also nicht nur der strukturelle Kern eines bedeutsamen Lebens, sondern das, was existenziell von Bedeutung ist, also das, was ernsthaft da sein muss, um Bedeutung im Leben zu finden. Durch die Innerlichkeit betont Kierkegaard einen Existenzvollzug, dessen Herausforderung darin besteht, das Göttliche und Ewige, die Liebe, im Leben auszudrücken. Sie ist somit systematisch eine an die äußeren Verhältnisse des Individuums gebundene (ethische) Religiosität,³¹⁵ die existenziell jedoch zugleich und unhintergehbar in der Verborgenheit innerer Haltung besteht.

 Soziologisiert man beispielsweise die Bestimmungen dieses Schemas, so stellt die unterste Ebene das Individuum, die mittlere Ebene die Sozialität (bzw. als Ehebund eine gesellschaftliche Institution) und die oberste Ebene eine Idealitätsvorstellung dar. Daraus ließen sich wiederum verschiedene Bedeutungen ableiten. Zum Beispiel, dass die gesellschaftliche Institution das Abbild der Beziehung zwischen dem Individuum und dem Ideal darstellt. Oder, dass zwischen dem Individuum und dem Ideal die Verwobenheit des Individuums in der Gesellschaft liegt, die – wenn man es auf die Beichtrede bezieht – negiert werden muss, damit eine unmittelbare Beziehung des Individuums zur Ewigkeit besteht (= Still-Werden).  Dieser Sachverhalt wird von Michael Olesen als das zentrale Merkmale der innerlichen Religiosität in den Reden herausgehoben: vgl. ders., „The Climacean Alphabet“, S. 290 – 293.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

3.2.4 An einem Grabe: Vermittlung des Gottesverhältnisses I

Einleitung (SKS ,  –  / DRG,  – ) a) Pastorale Exposition (SKS ,  / DRG, ) b) Thematische Hinführung (SKS ,  / DRG, ) II Hauptteil (SKS ,  –  / DRG,  – ) A) Exposition (SKS ,  / DRG, ) B) Das Verhältnis von Tod und Ernst (SKS ,  –  / DRG,  – ) a) Die Entscheidung des Todes ist entscheidend (SKS ,  / DRG, ) b) Die Entscheidung des Todes ist nicht bestimmbar (SKS ,  / DRG, ) [Absetzung] c) Die Entscheidung des Todes ist unerklärlich (SKS ,  / DRG, ) III Koda: Wissen und Aneignung (SKS ,  –  / DRG,  – )

An einem Grabe ist Kierkegaards Rede über den existenziellen Umgang mit dem eigenen Tod.³¹⁶ Sie steht in einem engen Verhältnis zu den beiden vorhergehenden Reden, schließt an diese an, erweitert sie und gibt eine rückwirkende Kommentierung. Das bedeutet im Hinblick auf die Innerlichkeit, dass dieselbe unweigerlich auch in die Grabrede eingeschrieben ist. Obwohl der Begriff Innerlichkeit in der Grabrede nicht genannt wird, ist sie von Kierkegaard sowohl im Hinblick auf das „Still-Werden“ (Beichtrede) als auch im Hinblick auf die in der Trauungsrede gegebenen Bezüge zu Gott, Selbst und Leben thematisiert. Den roten Faden der Grabrede bildet die Frage nach der Subjektivierung des Todes und dessen Verhältnis zum Leben und dessen existenzieller Gestaltung.

 Zur Rezeption der Grabrede in der Sekundärliteratur (in Auswahl): Eva Birkenstock liest die Grabrede als Entfaltung einer „basalen Theorie“ der Selbstverwirklichung und der Essentialisierung des Lebens. (Dies., Heißt philosophieren sterben lernen?, S. 25 – 56) Michael Bjergsø legt Wert auf die theologische Interpretation der Grabrede im Hinblick auf die existenzielle Bedeutung des Gottes-Verhältnisses im Angesicht des Todes. (Ders., Kierkegaards deiktische Theologie, besonders S. 102– 107) Walter Dietz verfolgt eine kritische Rekonstruktion der Grabrede im Hinblick auf die existenzielle Überforderung des Individuums durch die Todesreflexion. (Ders., Existenz und Freiheit, S. 367– 374) Albrecht Haizmann nimmt die Rede als Beispiel für Kierkegaards mäeutische Predigtpraxis und bettet sie vor allem in bibelexegetischen Kontext. (Ders., Indirekte Homiletik, S. 239 – 251) Marius G. Mjaaland betrachtet die Grabrede als eine komplexe Abhandlung zu aporetischem Denken und dessen Bezug zu existenzieller Wirklichkeit. (Ders., „Death and Aporia“, S. 395 – 418) Michael Theunissen betont die Essentialisierung des Lebens anhand der Besprechung der Vorwegnahme des Todes im „Gedanken an den Tod“ (ders., Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 140 – 147). In einem späteren Aufsatz greift Theunissen dies durch das Verhältnis der Grabrede zu Heideggers „Sein zum Tode“ und Hegels „Realdialektik“ erneut auf und charakterisiert die Grabrede von dort her als nicht-christliche „Antitodesrede“. (Ders., „Das Erbauliche im Gedanken an den Tod“, in KSYB 2000, S. 40 – 65) Hinzu kommt schließlich Theunissens starke Einbeziehung der Grabrede in seine Überlegungen über „Die Gegenwart des Todes im Leben“. (Ders., Negative Theologie der Zeit, S. 197– 215)

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Ich verfolge hierbei eine strukturell und ontologisch konnotierte Perspektive auf das Problem existenzdialektischer Vermittlung (Aneignung). Denn die Todesreflexion, so meine These, dient systematisch der Vermittlung des Gottesverhältnisses und schließlich auch einer Ontologie des Selbst. Dafür müssen zunächst die wesentlichen, letztlich auf eine existenziell-religiöse Perspektive tendierenden Gedankenfiguren der Grabrede freigelegt und zusammengeführt werden.

3.2.4.1 Tod und Leben „Der Tod … ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert.“³¹⁷

Um im nächsten Teilkapitel die zentralen, existenziell-religiösen Gedankengänge der Grabrede aufzuzeigen, muss vorher das Verhältnis von Tod und Leben betrachtet werden. Und um dieses genau zu verstehen, müssen Kierkegaards objektive Bestimmung des Todes beachtet werden. Als Phänomen geht es Kierkegaard nämlich nicht um den Tod im Sinne von Sterben, sondern um das Totsein, die Sterblichkeit und das Ableben,³¹⁸ die er der Reihe nach mit den systematischen Kategorien des Nichts, der Notwendigkeit und Möglichkeit besetzt.³¹⁹ Diese Bestimmungen sind elementar für die Betrachtung des systematisch zentralen „Gedankens an den Tod“.

 Hegel, Werke 3, S. 36.  Zu dieser vierfachen Phänomenunterscheidung des Todes als Sterblichkeit, Sterben, Ableben, Totsein: B. Schumacher, Der Tod in der Philosophie der Gegenwart, 25 ff.  Genauer: Als Totsein nimmt Kierkegaard den „Zustand“ des „Vernichtetseins“ (SKS 5, 455/ DRG, 189) in den Blick. Der Tod ist in diesem Sinne die Auslöschung des Lebendigseins, was Kierkegaard mit der Auslöschung des Bewusstseins gleichsetzt. (Unter anderem: „[I]m Tod [hört] alles auf[], was weltlich und irdisch die Sinne erfüllt …“ (SKS 5, 447/ DRG, 178) „[I]m Grab ist keine Erinnerung …“ (SKS 5, 443/ DRG, 174)) Von argumentativer Relevanz ist, dass Kierkegaard den Zustand des Totseins ontologisch begreift, wenn er diesen unter dem Begriff vom „Nichts des Todes“ (SKS 5, 465/ DRG, 200 (Hervorhebung d.Vf.)) sublimiert. – Als Sterblichkeit wird von Kierkegaard die conditio humana des Sterbenmüssens betont, durch das er die Notwendigkeit des Todes hervorhebt. (Unter anderem: „[D]er Tod [ist] das einzig Gewisse …“ (SKS 5, 446/ DRG, 177) „[A]lle haben sie schweigen müssen.“ (SKS 5, 455/ DRG, 188)) – Als Ableben nimmt Kierkegaard schließlich den Zeitpunkt des Eintretens des Todes in den Blick und betont in diesem Zusammenhang die Kontingenz (Ungewissheit) des Eintretens im Sinne der immer bestehenden Möglichkeit des Ablebens. (Kierkegaard verdeutlicht die kontingente Möglichkeit des Ablebens wesentlich in zwei kürzeren Passagen, wenn er das Ableben in Bezug zu den verschiedenen Lebensaltern des Menschen setzt: vgl. SKS 5, 450, 460/ DRG, 182 f., 194.)

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Mit dem „Gedanken an den Tod“, den Kierkegaard auch den Ernst³²⁰ nennt,³²¹ wird die Subjektivierung des Todes verfolgt.³²² Nicht nur soll sich dabei auf den eigenen Tod besonnen werden,³²³ sondern es geht darum, sich im Denken zum Nichts, das nicht gedacht oder verstanden werden kann, zu verhalten. Um dies herauszuarbeiten, muss zunächst die existenziell relevante Bestimmung des Todes, sodann die Implementierung des Todesbewusstseins ins Denken und schließlich das Sich-als-tot-Denken betrachtet werden.

 Angemerkt sei kurz, was in der Sekundärliteratur breit ausgeführt wird, dass der Ernst in der Grabrede ex negativo zum „Scherz“ steht, mit dem bei Kierkegaard verschiedenste Formen der Flucht vor dem Tod beschrieben werden. Die Entgegensetzung zwischen Flucht und Stellungnahme zum Tod hat nicht nur durch Kierkegaards Gespür für Dramatik, sondern auch aufgrund der augenscheinlichen Drastik der existenziellen Konsequenzen besonders starke Wirkung auf die Existenzthanatologie Heideggers gehabt. Außerdem wurde die Divergenz zwischen Flucht und Stellungnahme zum Tod vor Kierkegaard kaum mit solcher Deutlichkeit herausgestellt – abgesehen von Blaise Pascal (vgl. Albert Raffelt, „‚… daß der Mensch den Menschen unendlich übersteige’. Endlichkeit und Transzendenz bei Blaise Pascal“, in Endlichkeit und Transzendenz. Perspektiven einer Grundbeziehung, hg. von Jakub Sirovátk, Hamburg 2012, S. 67– 93, hier S. 68).  SKS 5, 445/ DRG, 177.  Es lassen sich hierbei mehrere Überschneidungspunkte zwischen der Grabrede und Climacus’ Auseinandersetzung mit dem Tod ausmachen: a) Im Vorwort der Philosophische Brocken spricht Climacus ebenfalls von dem „Gedanken an den Tod“ (SKS 4, 217/ DPB, 16) und impliziert eine ernste, auf das Leben zielende Haltung des Individuums. b) In der Unwissenschaftlichen Nachschrift geht es Climacus ebenfalls um die Subjektivierung des Todes (vgl. SKS 7, 153 – 158/ DUN, 302– 308). Auf weitere inhaltliche Übereinstimmungen zwischen der Grabrede und dem Abschnitt zum Tod in der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird im Verlauf des vorliegenden Kapitels hingewiesen. c) In der „Friedhof-Szene“ der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird eine strukturelle Äquivalenz zwischen Tod und Ewigkeit thematisiert (vgl. Kapitel 2.1.3.4 und die nachfolgenden Ausführungen zur Grabrede). d) Durch das Endlichkeitsbewusstsein tritt das Ewigkeitsbewusstsein verschärft in den Blick (vgl. „Friedhof-Szene“; die nicht ohne Bedacht gewählte sequenzielle Anordnung von Climacus’ Besprechung des Todes und der darauffolgenden Besprechung der Unsterblichkeit (SKS 7, 158 – 163/ DUN, 308 – 315) in der Unwissenschaftlichen Nachschrift; die nachfolgenden Ausführungen zur Grabrede). e) Die Beschreibung des Friedhofs in der „Friedhof-Szene“ und in der Grabrede (SKS 5, 447 f. / DRG, 179 f.). Bemerkenswert ist dabei nicht nur die zur Aneignung einladende Stimmung, die in beiden Texten zum Vorschein tritt. Die „Friedhof-Szene“ (1846) wirkt sowohl in ihrer Art und Weise der Situationsbeschreibung wie auch in ihrer inhaltlichen Übereinstimmung zur Grabrede (1845), der thematischen Forcierung der Innerlichkeit, wie ein nachträglicher Hinweis auf die Grabrede als Abhandlung zur Innerlichkeit.  Kierkegaard geht es dabei also nicht um die Betrachtung des Todes als etwas Allgemeines (er wehrt sich vehement gegen Epikurs sophistische Täuschung: SKS 5, 444 / DRG, 176): „Der Ernst ist, dass es der Tod ist, den du denkst, und dass du ihn denkst als dein Los …“ (SKS 5, 446/ DRG, 178)

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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Als ontologisch verstandenes Nichts ist der Tod (Totsein) von Kierkegaard als Gegensatz zum Leben, dem Sein, verstanden.³²⁴ Der Tod ist – und dabei nimmt Kierkegaard die eleatisch-ontologische Perspektive Epikurs ein – das dem lebenden Individuum Entzogene. Werden diesbezüglich die modal-ontologischen Kategorien des „Zwischenspiels“ der Philosophischen Brocken angesetzt und der Tod als eine Wirklichkeit bezeichnet, so ist er immer nur dann wirklich, wenn er eine noch ausstehende Möglichkeit ist, womit gilt, dass er nicht ist, wenn er ist, und sobald das Totsein eingetreten ist, nicht ist. ³²⁵ Als diese modal-ontologische Möglichkeit ist der Tod „das einzig Gewisse, und das einzige, bei dem nichts gewiss ist.“³²⁶ Der Tod ist so nicht einfach nur kontingent in seinem Eintreten, sondern eine permanent mögliche Notwendigkeit des Lebens. Und Kierkegaard geht es um das permanente Bewusstsein dessen. Die ständige Vergegenwärtigung des Todes³²⁷ zielt existenziell darauf, dass sich das Individuum die Kontingenz und Endgültigkeit der Vernichtung (Totsein) vor Augen führt.³²⁸ Von diesem Bewusstsein ausgehend, intendiert Kierkegaard nicht einfach nur eine Zusammenführung von Tod und Leben im Bewusstsein des

 „Aber gibt es denn keinen Unterschied zwischen dem Leben und dem Tod; und der Lebende, der seinen eigenen Tod bedenkt, er betrachte es anders.“ (SKS 5, 451/ DRG, 184)  Die Voraussetzung dafür ist das Vergegenwärtigenkönnen des eigenen Todes im Bewusstsein des Individuums. Aus der Perspektive des „Zwischenspiels“ bedeutet dies: als Möglichkeit ist der Tod eine Wirklichkeit als Nicht-Wirklichkeit. Die gleiche Perspektive wird bei Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift hervorgehoben: vgl. SKS 7, 155 f. / DUN, 305. Kierkegaard formuliert demnach eine antiepikureische Formel: Wenn ich bin, ist der Tod; wenn ich nicht bin, ist der Tod nicht – eine Auffassung, die vor Kierkegaard von Ludwig Feuerbach formuliert wurde. Dieser schreibt in seinen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit von 1830: „[D]er Tod ist so ein gespenstisches Wesen, daß er nur ist, wenn er nicht ist, und daß er nicht ist, wenn er ist. … [D]er Tod ist nur für den Lebenden, nicht für den Sterbenden …“ (ebd., 259) Diese antiepikureische Auffassung wurde später von Tolstoi wiederholt (vgl. ders., Der Tod des Iwan Iljitsch, übers. von Johannes von Guenther, Stuttgart 2008, S. 92) und ist in seinen bekanntesten Varianten bei Wittgenstein (vgl. ders., Logisch-philosophische Abhandlung, Satz 6.4311) und Heidegger (vgl. ders., Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, S. 433) zu finden.  SKS 5, 460/ DRG, 194. Kierkegaard greift hier eine rhetorische Wendung auf, die er schon in Seine Seele bewahren in Geduld verwendet: vgl. SKS 5, 198/ 2R44, 110.  Die dauerhafte Implementierung des Todesbewusstseins ins Denken hebt Kierkegaard anhand der mehrfachen Betonung der Einübung des Ernstes hervor. Vgl. SKS 5, 447 f., 468 f. / DRG, 179 f., 204 f.  Kierkegaard spricht auch vom „Unterricht der Ungewissheit“ (SKS 5, 469/ DRG, 205), womit die Aneignung der Reflexion auf den Tod (als kontingente Notwendigkeit) gemeint ist und in der es darum geht, „zu denken, dass es vorbei ist, dass eine Zeit kommt, in der es vorbei ist.“ (SKS 5, 449/ DRG, 182)

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Individuums,³²⁹ sondern eine existenzielle Umkehr des Blicks. Denn ist der Tod das Nichts, in dem das Leben irreversibel ausgelöscht ist, ist das Leben die einzige Wirklichkeit, die, solange sie ist, nicht nichts ist. Das Bewusstsein der kontingenten und definitiven Vernichtung stößt – (auch durch das Erschreckende dieses Bewusstseins)³³⁰ – ins Leben ab.³³¹ Im Sinne Montaignes geht es Kierkegaard um eine zur ars vivendi transformierten ars moriendi.³³² Dabei wird erstens die Frage nach dem Ende zur Frage nach dem Anfang (und somit zur Frage nach dem Entschluss der Trauungsrede).³³³ Zweitens wird eine Essentialisierung der Zeit,³³⁴  Diesbezüglich sagt Kierkegaard klar: „[A]ber der Ernste hat mit den Streitenden Freundschaft geschlossen, und sein Leben hat in dem ernsten Gedanken des Todes die treueste Vereinigung.“ (SKS 5, 454/ DRG, 187) Die hier hervortretende „Versöhnung“ mit dem Tod darf nicht innerhalb der Kategorie des „Scherzes“, sondern muss innerhalb des „Ernstes“ als das Sich-Aussetzen an den „Gedanken des Todes“ verstanden werden.  So schreibt Kierkegaard, dass „es jeden guten Geist vor dem leeren Raum [schaudert]“ (SKS 5, 458/ DRG, 192), dass es einen vor dem Nichts „graust“ (ebd., 451/184), dass der Tod nur „Todesschrecken“ (ebd., 454 /187), „Schauer“ (ebd., 460/194) und „Erschrecken“ (ebd., 469/205) hervorruft. Auch: „Denn der Ernste sieht nicht scheel, sondern ist mit dem Leben verglichen und weiß den Tod zu fürchten.“ (Ebd., 457/191)  Vergleiche unter anderem den letzten Satz vor der Koda der Rede: SKS 5, 468/ DRG, 204. Diese Abstoßungsbewegung ist wiederum die strukturelle Bedingung für das dauerhafte Todesbewusstsein, dem eine korrelativ-reziproke Bewegung zugrunde liegt. Denn die Todesreflexion zielt auf das Leben, in dem das Individuum notwendig wieder seine Sterblichkeit (Notwendigkeit) und damit implizit auch die Kontingenz (Möglichkeit) des Ablebens reflektiert. Todes- und Lebensreflexion/-Verhältnis bedingen einander (Lebensreflexion ↔ Todesreflexion), womit eine gleichzeitige Bewusstseinsbewegung auf den Tod und das Leben stattfindet, deren zirkuläre Struktur, das permanente Todesbewusstsein bedingt. Als strukturelles Schema:

 „Wer die Menschen sterben lehret, würde sie leben lehren …“ (Michel de Montaigne, Essais, Erster Theil, XIX. Hauptstück, übers.von Johann Daniel Tietz, Zürich 1992, S. 103 – 135, hier S. 121)  Ludwig Feuerbach hat diese existenzielle Umkehr schon vor Kierkegaard formuliert: „Nur wenn der Mensch wieder erkennt, daß es nicht bloß einen Scheintod, sondern einen wirklichen und wahrhaftigen Tod gibt, der vollständig das Leben des Individuums schließt, und einkehrt in das Bewusstsein seiner Endlichkeit, wird er den Mut fassen, ein neues Leben wieder zu beginnen …“ (Ders., „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“, S. 95 f.)  „[D]er Ernste vermag durch den Gedanken des Todes eine Teuerung [Dyrtid] zu machen, so dass Jahr und Tag unendlichen Wert bekommen …“ (SKS 5, 453/ DRG, 186) „[D]er Ernst des Todes hat geholfen eine letzte Stunde unendlich bedeutungsvoll zu machen, der Gedanke des Todes hat geholfen ein langes Leben bedeutungsvoll zu machen …“ (SKS 5, 454 / DRG, 187) Es ist der Zeithaushalt des Individuum, der durch das Todesbewusstsein als irreversibel erkannt und dadurch intensiviert wird. Kierkegaard impliziert somit ein Verständnis des Lebens als Frist, bei dem die

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der Arbeit und des Lebens im Angesicht des Todes betont.³³⁵ Dies führt drittens darauf hinaus, dass sich das Individuum aus dem Todesbewusstsein heraus in (ontologisch) entgegengesetzter Richtung in ein Verhältnis zum Leben vertieft. ³³⁶ Diesen existenziellen Perspektiven fügt Kierkegaard noch eine reflexionsphänomenologische hinzu. Denn das permanente Todesbewusstsein ist der Ausgangspunkt dafür, was Climacus das „ins Werden versetzte Denken“³³⁷ nennt, also eine auf die konkrete Existenz bezogene, ständige Bewusstseinsbewegung. Kierkegaard führt dies daran aus, dass der Ernst in einem ständigen Verhältnis zur Gewissheit (Notwendigkeit) und Ungewissheit (Möglichkeit) des Todes

Qualität der Zeit durch ihre begrenzte Quantität gesteigert wird. Die Unersetzlichkeit der Zeit und ihre Knappheit verändern die Art und Weise, wie sich der Mensch Zeit nimmt und wofür er sie nutzen will. Zum Verhältnis von endgültiger Endlichkeit und Zeitausnutzung (sehr erhellend, jedoch unter besonders Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs): Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S, 608 – 612; auch: Odo Marquard, „Zeit und Endlichkeit“, in Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen, hg. von Hans Michael Baumgartner, Freiburg und München 1993, S. 363 – 377, besonders S. 367 ff. Marquard betont aufgrund der durch den Tod bestimmten Frist des Lebens die daraus entspringende Ungeduld, die Begrenztheit neuer Erfahrung und das „temporale Doppelleben“, unter dem er ein sowohl zukunfts- wie vergangenheitsorientiertes, eine auf Schnelligkeit und Langsamkeit bezogene Lebensgestaltung versteht.  „[U]nterstützt von dem ernsten Gedanken an den Tod sagt der Ernste: es ist nicht vorbei.“ (SKS 5, 454/ DRG, 187) „Da ergreift der Ernste das Gegenwärtige noch heute, verschmäht keine Aufgabe als zu gering,verachtet keine Zeit als zu kurz, arbeitet mit äußerstem Vermögen …“ (SKS 5, 453/ DRG, 186) „Denn was wohl angewandte Zeit betrifft, ist es in Beziehung auf das Abbrechen des Todes nicht wesentlich, ob die Zeit lang gewesen ist oder kurz; und was die wesentliche Arbeit betrifft, ist es in Beziehung auf das Abbrechen des Todes nicht wesentlich, ob sie fertig geworden ist oder nur angefangen wurde. … [D]ie wesentliche Arbeit ist nicht wesentlich durch die Zeit und das Äußere bestimmt, sofern der Tod das Abbrechen ist. So wird es der Ernst sein, jeden Tag zu leben, als wäre es der letzte und zugleich der erste in einem langen Leben; und eine Arbeit zu wählen, die nicht abhängig davon ist, ob ein Menschenalter gegönnt ist, sie gut fertig zu stellen, oder nur eine kurze Zeit, sie gut begonnen zu haben.“ (SKS 5, 463 f. / DRG, 198 f.) Aus den hierbei präsentierten Verhältnissen von Zeit und Tod, Anfangen und Kontingenz, Arbeit und Stetigkeit folgt einerseits, dass es auf die Ausfüllung der Gegenwart ankommt; andererseits, dass diese Ausfüllung der Ernst ist, in dem, aus dem Kontext der Rede folgend, mit Hingabe ein Verhältnis zu Tod/Gott eingeübt wird (vgl. Kapitel 3.2.4.3). Es geht dabei um den Lebensvollzug und nicht um ein erreichbares Resultat. Ideengeschichtlich legt die Stelle eine Nähe zu Montaigne offen, der vor Kierkegaard am deutlichsten die Essentialisierung der Gegenwart und die Hingabe an das Leben betont hat: „Der Nutzen des Lebens kömmt nicht auf desselben Dauer, sondern auf den Gebrauch an. Mancher, der kurze Zeit gelebt hat, hat lange gelebt. … Es beruht auf eurem Willen, nicht auf der Anzahl der Jahre, die ihr gelebt habt.“ (Ders., Essais, Erster Theil, XIX. Hauptstück, S. 103 – 135, hier S. 131)  „Denn im Ernst gibt der Tod Lebenskraft wie nichts anderes, er macht wach wie nichts anderes.“ (SKS 5, 453/ DRG, 185)  Vgl. SKS 7, 85/ DUN, 215.

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steht.³³⁸ Hierbei betrachtet Kierkegaard die Möglichkeit der Vernichtung als modus operandi des ständigen Todesbewusstseins und die Notwendigkeit als den das Todesbewusstsein stabilisierenden Faktor. Aber erst zusammengefasst – als notwendige Möglichkeit (existenziell: ständige Bedrohung der definitiven Vernichtung) – ist der Tod das im Todesbewusstsein in den Blick genommene Telos, von dem her das Maß der Bewusstseinsbewegung bestimmt wird. Ebenso wie Climacus geht es Kierkegaard um ein stabiles, dem Telos der Bewegung entsprechendes Verhältnis zum Gegenstand des Verhältnisses. Jedoch ist dies nicht nur als ein permanentes Todesbewusstsein oder als eine ständige Vergegenwärtigung des Todes zu verstehen. Im Fokus steht auch, dass das ständige Verhältnis zur notwendigen Möglichkeit des Todes reziprok auf das Leben selbst übertragen wird: dass das Leben als Ort der Möglichkeit begriffen und ergriffen wird.³³⁹ Schließlich wird die Subjektivierung des Todes dadurch zugespitzt, dass sich das Individuum selbst als tot denken soll.³⁴⁰ Diese meditatio mortis ³⁴¹ dient zunächst ebenfalls der existenziellen Vergegenwärtigung der Endgültigkeit der Vernichtung – und somit auch dem Verständnis, dass das Leben als Ort der Möglichkeit ausgelöscht ist. Um die Endgültigkeit des Todes zu begreifen, verlangt Kierkegaard – neben dem permanenten Todesbewusstsein – ein Hineinreflektieren in den Zustand des Totseins. Dies führt zu dem epistemologischen Problem, dass das Nichts (Totsein) nicht gedacht werden kann,³⁴² womit das Sich-tot-

 Vgl. SKS 5, 462– 464/ DRG, 196 – 199.  Dies ist selbstverständlich die wesentliche Gedankenfigur bei Heideggers „Sein zum Tode“. Bei Kierkegaard stellt die Gewissheit des Todes einerseits das strukturelle Maß für die Lebensbejahung dar; andererseits – existenziell – ist die Ungewissheit des Todes reziprok auf das Leben als Ort der Möglichkeit zu übertragen (vergleiche auch Climacus: SKS 7, 154 f. / DUN, 304). Kierkegaard nimmt dies in den Blick, wenn er schreibt: „[D]em Ernsten gibt der Gedanken des Todes die rechte Fahrt ins Leben und das rechte Ziel [Maal], worauf er seine Fahrt richtet.“ (SKS 5, 453/ DRG, 186) Indem der dänische Begriff „Maal“ sowohl Ziel als auch Maß bedeutet (vergleiche die Anmerkung 637 zum Begriff „Maal“ in Kapitel 2.3.2.2.2.) und Kierkegaard hier von einer Bewegung („Fahrt“) spricht, sagt er, dass der Tod als Ziel der Bewegung zugleich das Maß derselben ist, sowohl für die Bewusstseinsbewegung zum Tod als auch die reziproke Bewegung ins Leben.  Unter anderem: „Sich selbst tot zu denken ist der Ernst …“ (SKS 5, 445/ DRG, 177)  Existenziell gesehen trägt die mediatio mortis dieselben Eigenschaften in sich, die Kierkegaard durch das memento mori (s.o.) herausstellt: die Essentialisierung der Zeit und des Lebens. Dazu, vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund der Stoa: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 581– 584.  Systematisch ist es hierbei wichtig zu sehen, dass das Nichts (Totsein) gerade deshalb nicht verstanden werden kann, weil der Tod nicht erfahren werden kann. Das gewinnt auch dadurch an Plausibilität, weil bei Kierkegaard, zumindest bei Climacus, Verstehen immer an Erfahrung gebunden ist: vgl. Kapitel 2.2.5

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Denken entweder bedeuten kann, sich selbst als verstorben vorzustellen,³⁴³ oder dass sich das Individuum unter dem Zustand des Totseins etwas vorstellt. Doch genau dagegen geht Kierkegaard an. Unter dem Tod soll sich gerade nichts vorgestellt werden.³⁴⁴ Einerseits wird diese Negation der Vorstellung von Kierkegaard zum Nichts des Todes essentialisiert; andererseits fordert Kierkegaard dazu auf, den Tod in seiner Bedeutung der Auslöschung des Lebens und des Bewusstseins stehen zu lassen. ³⁴⁵ Dies hat zur Folge, dass die Bewusstseinsbewegung zum Tod (s.o.) an kein Ende kommen kann, an dem der Tod irgendwann begriffen wäre. Die Unverstehbarkeit ist strukturell der Garant für die Vertiefung in das Bewusstsein der Auslöschung.³⁴⁶ Wesentlicher aber ist, dass das Nichts durch die meditatio mortis zum Zentrum der eigenen Betrachtung des Lebens gemacht wird.³⁴⁷ Dabei wird – ontologisch gesehen – der Tod als das dem Leben Entgegengesetzte ins Leben integriert,³⁴⁸ was existenzphänomenologisch nach sich zieht, dass das

 Kierkegaard spricht deshalb auch von der „Eindringlichkeit“ des Ernstes: SKS 5, 445/ DRG, 177.  „Da nun der Tod der Gegenstand des Ernstes ist, ist es ebenfalls der Ernst: dass man sich nicht übereilen soll damit, eine Meinung vom Tod zu bekommen.“ (SKS 5, 467/ DRG, 203) Der von Kierkegaard verfolgte Anti-Ikonoklasmus wird in der Sekundärliteratur ausführlich besprochen, besonders bei Eva Birkenstock und Michael Theunissen.  Deshalb schreibt Kierkegaard auch: „So lass den Tod seine Macht behalten, »dass alles vorbei ist« …“ (SKS 5, 454 / DRG, 187).  Und je stärker dieses Bewusstsein ausgeprägt ist, umso stärker ist reziprok das Bewusstsein des Am-Leben-Seins.  Diesbezüglich formuliert Kierkegaard ein ontologisches Paradox: „[D]ass du bist und der Tod auch ist.“ (SKS 5, 446/ DRG, 178) Das Individuum soll sich als lebendig begreifen, indem es sich zugleich radikal als tot denkt. Kierkegaard will dieses scheinbare Paradox aufrecht erhalten wissen.  Eine interessante Perspektive auf das Problem der Integration des Todes ins Leben gibt Climacus in Anbetracht der Ungewissheit des Todes, wenn er in der Unwissenschaftlichen Nachschrift schreibt: „[E]s [wird] für mich immer wichtiger, den Tod in jedem Augenblick meines Lebens hineinzudenken, denn da seine Ungewissheit in jedem Augenblick da ist, lässt sich diese Ungewissheit nur dadurch überwinden, dass ich sie jeden Augenblick überwinde.“ (SKS 7, 154 f. / DUN, 304) Die Implementierung der Möglichkeit („Ungewissheit“) des Todes ins Bewusstsein ist nicht nur die existenzielle Integration des Todes ins Leben (vgl. auch Kapitel 2.3.4), sondern auch die strukturelle „Überwindung“ des Todes als feste Grenze des Daseins. Die Subjektivierung der Kontingenz ist die Transzendierung in die Möglichkeit, wodurch der Tod nicht als ein feststehender Endpunkt, sondern als ein in die Fluidität des Werdens verlagertes Geschehen betrachtet wird. Das Leben wird dann zwar unter der anthropologischen Prämisse der Sterblichkeit als Frist begriffen, aber dennoch nicht als ein unabänderlicher, vorgegebener Zeitraum betrachtet. Die Dialektik besteht hierbei darin, dass das Leben als eine Möglichkeit verstanden wird, die zwar in Abhängigkeit zur Möglichkeit des Abbrechens (Tod) steht, aber aufgrund der Möglichkeit des Abbrechens gleichfalls die Möglichkeit in sich trägt, über die Möglichkeit des

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zukünftige Totsein (Nichts) in die Gegenwart hineintransferiert wird, so dass das eigene Leben – wie bei Climacus – eine von der Zukunft her bestimmte Gegenwart wird.³⁴⁹ Wird dementsprechend das Leben vom Tod her bestimmt, indem sich das Individuum im Hier und Jetzt als tot denkt und so das Nichts des Todes in die Gegenwart hineinholt, so verfolgt Kierkegaard den Gedanken, dass das Leben durch das Todesbewusstsein vom Nichts unterhöhlt wird.³⁵⁰ Es ist dadurch niemals vollständig zu verstehen, von Unbegründetheit, Nichtselbstverständlichkeit und Kontingenz wie auch von Welt- und Beziehungslosigkeit³⁵¹ durchzogen. Kierkegaard verfolgt demnach die Strategie, über das Todesbewusstsein das Nichts als Grund des Daseins herauszustellen. Werden die Ausführungen zur Subjektivierung des Todes zusammengefasst, so zeigt sich die existenzielle Bewegung des Individuums dadurch, dass das Todesbewusstsein in das Leben hineinstößt, in dem aber das Nichts zum Vorschein tritt. Dadurch bestimmt Kierkegaard eine ontologisch widersprüchliche Bewegung, weil das Individuum vom Nichts auf das Sein und im Sein wieder auf das Nichts gestoßen wird. Die Anschauung des Lebens als vom Tod her reziprok verstandenen Möglichkeitsraum dient dann der Existenzbewegung, dass im Leben die Möglichkeit zur Vertiefung ins Nichts ergriffen wird.

Abbrechens hinaus bestehen zu können. Climacus nimmt demnach, ebenfalls wie Kierkegaard in der Grabrede, keinen Alterstod in den Blick, sondern Formen des Ablebens, die durch Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit bestimmt sind.  Darin besteht die von Kierkegaard angesprochene „Verwandlung des Lebens“ (vgl. SKS 5, 465/ DRG, 200), also die Transformation des Blicks auf das Leben, weil das Verhältnis zum Tod „das Leben umbildend durchdringt.“ (SKS 5, 465/ DRG, 201; zur Umbildung als Transformationsprozess: Kapitel 2.3.3.1.1) Dies ist die in der Sekundärliteratur viel besprochene „rückwirkende Kraft des Todes“ (vgl. SKS 5, 466 – 468/ DRG, 200 – 204), die der Tod „nicht durch die Auffassung“ (SKS 5, 466/ DRG, 201) erhält, also nicht durch eine bestimmte Vorstellung, sondern allein durch die Betrachtung des Todes als unverstehbares Nichts der Auslöschung.  Deshalb schreibt er am Ende der Grabrede, dass der eigentliche Sinn des „Gedankens an den Tod“ der ist, dass „das Nichts des Todes … zu einer Wirklichkeit im Leben des Lebendigen wird …“ (SKS 5, 465/ DRG, 200) Und wenn es am Anfang der Grabrede heißt, dass der „Tod seine Arbeit im Leben vollbringt“ (SKS 5, 446/ DRG, 178), betont Kierkegaard dasselbe und verdeutlich die Integration des Todes als (ontologisches) Fundament zur Lebensbetrachtung.  Der Aspekt der Beziehungslosigkeit darf hierbei nicht als Gegensatz zur Trauungsrede aufgefasst werden, in der die Beziehungshaftigkeit als grundlegendes Strukturelement des Menschseins herausgestellt wurde. Während nämlich die Trauungsrede im Zuge einer sozialtheoretischen Perspektive spricht, stellt die hier genannte Beziehungslosigkeit keine sozialtheoretische Isolation dar, sondern ist nur in Bezug auf eine ontologische Perspektive zu verstehen – und zwar in Bezug auf das Selbst als abstrakt-substanzialisierten Kern des Individuums (vgl. Kapitel 3.2.4.3).

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3.2.4.2 Strukturelle Religiosität Mit den vorgenommenen Betrachtungen ist die religiöse Perspektive der Grabrede vorbereitet. Wird hierbei zunächst auf die Beichtrede geblickt, wird deutlich, dass mit der Vertiefung ins Nichts als Grund des Daseins die Vertiefung ins GottesVerhältnis gemeint ist (denn in der Beichtrede wird Gott systematisch ebenfalls als das Nichts begriffen). Das bedeutet nicht, dass Tod und Gott in der Grabrede synonym zu verstehen sind, sondern dass Kierkegaard lediglich eine strukturelle Äquivalenz zwischen Tod und Gott herausstellt zum Zweck der Aneignung des religiösen Existierens. Zur Präzisierung dessen muss sich zunächst kurz dem Leitthema der Grabrede gewidmet werden.

„Die Entscheidung des Todes“³⁵² Kierkegaard spricht nicht davon, dass sich das Individuum entscheidet, was er schon in der Trauungsrede unter dem Begriff des Entschlusses (Beslutning) behandelt hat, sondern davon, dass der Tod entscheidet. Er verwendet für „Entscheidung“ den dänischen Begriff Afgjørelse, der die Entscheidung mehr als eine Bestimmung oder Maßgabe betont. Das Bestimmtwerden durch den Tod kann dann, was am naheliegendsten wäre, als ein passives Ausgesetztsein des Menschen an anthropologische Bedingungen betrachtet werden (was in Bezug auf den Tod vor allem das Ausgesetztsein an dessen Notwendigkeit und Kontingenz bedeuten würde). Wichtiger aber ist, dass es Kierkegaard gerade mit der Subjektivierung des Todes um den existenzstrukturellen Sachverhalt geht, dass vom Individuum ein Verhältnis zum Bestimmtwerden eingegangen wird. Hierbei ist zu beachten, dass Kierkegaard den Tod selbst schon subjektiviert, wenn er von der „Entscheidung des Todes“ spricht. Der Tod wird als ein personifizierter Akteur qualifiziert, der in Bezug zum Leben steht.³⁵³ Somit meint die Subjektivierung des Todes nicht nur das Verhältnis des Individuums zum Tod, sondern zugleich auch das Verhältnis des Todes zum Individuum. Als dieser subjektivierte Tod wird er von Kierkegaard objektiviert und mit drei Eigenschaften versehen.

 SKS 5, 447/ DRG, 179.  Kierkegaard spricht auch vom „Lehrmeister des Ernstes“ (SKS 5, 469/ DRG, 205 und öfter). Zur Literarisierung des Todes als persona dramatis: vgl. Theunissen, „Das Erbauliche im Gedanken an den Tod“, S. 43. Zum literarischen Zweck der Personifizierung von (nicht-personifizierbaren) Konzepten, nämlich das Denken auf den Gegenstand des Interesses zu bannen und es zuallererst heraufzubeschwören (was Kierkegaard ja gerade selbst mit dem „Gedanken an den Tod“ heraushebt): vgl. Harrits, „Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst“, S. 256.

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1. Die Entscheidung des Todes ist „entscheidend“.³⁵⁴ Zunächst bedeutet dies, dass der Tod und das Bestimmtwerden durch ihn von richtungsweisender Bedeutung für das eigene Leben und dessen Gestaltung sind. Mit dem Adjektiv „entscheidend“ wird tautologisch das bestimmende, d. h. definitive Moment des Todes betont.³⁵⁵ Im Zuge dessen veranschaulicht Kierkegaard, dass der Tod der „Herr über die Zeit“ ist,³⁵⁶ womit dem Tod eine Eigenschaft zugesprochen wird, die dem Menschen – auch bei sämtlichen Pseudonymen Kierkegaards – versagt ist: die Zeit vollständig negieren zu können. Als In-der-Zeit-sein-Müssen steht der Mensch in absoluter Opposition zum Tod. Wird das Individuum also durch die Entscheidung des Todes „entscheidend“ bestimmt, wird es durch das ganz Andere definitiv bestimmt. 2. Die Entscheidung des Todes ist „unbestimmbar“.³⁵⁷ Kierkegaard unterteilt diese Eigenschaft nochmals und sagt, dass die Entscheidung des Todes unbestimmbar in Bezug auf die „Gleichheit“³⁵⁸ und unbestimmbar in Bezug auf die „Ungleichheit“³⁵⁹ ist. Er setzt also die Unbestimmbarkeit ins Verhältnis zu relationalen Bestimmungen. Die „Gleichheit“ wird bezüglich der Selbstbetrachtung des Individuums gesehen, wenn es sich selbst mit anderen Menschen im Leben vergleicht. Im Nichts des Todes (Totsein), gibt es dagegen keine Gleichheit. Der Tod ist als Nichts das Relationslose. Die „Ungleichheit“ wird hingegen anhand der Kontingenz des Eintretens des Todes betrachtet. Sie ist demnach eine Konvergenzbestimmung, weil jeder Mensch immer sterben kann (ständige Möglichkeit des Ablebens). Auch in diesem Sinne ist der Tod etwas Relationsloses, weil kein Mensch von der Notwendigkeit des Todes ausgeschlossen ist (Sterblichkeit). Ist die Entscheidung des Todes also „unbestimmbar“, wird das Individuum durch etwas bestimmt, das sich einer unmittelbaren Verhältnismöglichkeit entzieht. Dieses sich der Relation Entziehende ist aber dennoch voraussetzungslos da.

 SKS 5, 448/ DRG, 180.  In den darauffolgenden Ausführungen stellt Kierkegaard die Endgültigkeit der vollständigen Vernichtung des Menschen heraus. Dadurch ist die „Entscheidung des Todes“ in einen Gegensatz zum Entschluss in der Trauungsrede gestellt. Während der Entschluss gerade durch den Einbezug der Kontingenz von Brüchigkeit und keiner definitiven Endgültigkeit charakterisiert ist (denn er muss immer wieder wiederholt werden), ist die „Entscheidung des Todes“ das definitive Bestimmtwerden.  „[D]er Lebende hat es nicht in seiner Macht, die Zeit still stehen zu lassen … Der Tod hingegen hat diese Macht …“ (SKS 5, 449/ DRG, 181)  SKS 5, 454 / DRG, 188.  Vgl. ebd.  SKS 5, 459/ DRG, 194.

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3. Die Entscheidung des Todes ist „unerklärlich“.³⁶⁰ Indem der Tod sich dem Verstehen entzieht, kann er nicht durch sich selbst erklärt, sondern muss als das Undurchschaubare und Fremde akzeptiert werden³⁶¹ und bleibt von daher lediglich ein „wunderliche[s] Rätsel“.³⁶² Er ist somit auch – von der Beichtrede her gesehen – das „Verwunderliche“³⁶³, also das, was einerseits die Möglichkeit der Ewigkeit (Gott) ins Bewusstsein drängt und gleichfalls das, wodurch sich das Individuum zur Frage wird. Dabei hebt Kierkegaard hervor: „Aber der Lebende drängt auf Erklärungen, und warum? Um danach zu leben.“³⁶⁴ Der Mensch wird demnach als ein Wesen beschrieben, dem es in Anbetracht eigener Zukünftigkeit und seiner Geworfenheit (Lebenmüssen) um Entwürfe, Deutungen und Sinnzuschreibungen geht, um diese als Orientierungspunkt in die eigene Lebenspraxis zu integrieren.³⁶⁵ Ist der Tod jedoch das dem Menschen Fremde, liefert der Tod keine für das Leben sinnstiftende Bedeutung und bietet demnach keinen Orientierungspunkt für die eigene Lebenspraxis. Ist also die Entscheidung des Todes „unerklärlich“, wird das Individuum dadurch bestimmt, dass die Bedeutung (des Lebens) in keiner endgültigen und widerspruchsfreien Weise erfasst werden kann, ja vielmehr in der Unbegreiflichkeit verbleibt.³⁶⁶

 SKS 5, 464/ DRG, 199.  „Die Unerklärlichkeit ist die Grenze“ (SKS 5, 468/ DRG, 203); „[d]ie Unerklärlichkeit ist … keine Aufforderung dazu Rätsel zu raten“ (SKS 5, 468/ DRG, 203).  SKS 5, 460/ DRG, 194.  Anzumerken ist, dass Kierkegaard im Abschnitt SKS 5, 460 f. / DRG, 194 f. die Verwunderung über den Tod konkret hervorhebt, sich aber gleichfalls von dieser absetzt, da das Stehenlassen des Todes als Nichts der Vernichtung ins Leben treiben soll. Das Individuum soll nicht seine Lebenszeit damit vergeuden, über den Tod nachzudenken, womit Kierkegaard durchaus den Gedanken Spinozas verfolgt, der notiert: „Der freie Mensch denkt über nichts weniger als über den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondern über das Leben.“ (Ders., Ethik, Viertes Buch, übers. von Jacob Stern, hg. von Helmut Seidel, Leipzig 1975, 67. Lehrsatz, S. 332) Dennoch ist die Einübung des „Gedankens an den Tod“ bei Kierkegaard eine Form intensivster Reflexions-Hingabe. Dieser Widerspruch zwischen Distanzierung und ständiger Betrachtung lässt sich aus der Grabrede heraus nicht auflösen, zeigt aber letztlich, dass dem Tod als widersprüchliches Phänomen nur widersprüchlich begegnet werden kann.  SKS 5, 466/ DRG, 202.  Dabei ist hervorzuheben, dass Kierkegaard die Erklärung nicht nur als Ausgangspunkt, sondern als in die Lebenspraxis integriert betrachtet. Wie in der Schlusspassage der Beichtrede geht es Kierkegaard hierbei um die dialektische Verbindung von Wissen und Können, Denken und Praxis: Das Handeln ist am Wissen orientiert, das sich im Handeln ausformt. Ein Insistieren auf Erklärung kann demnach nur bedeuten, dass Erklärung als ein in der Existenz gewonnenes und für diese auch relevantes Wissen aufgefasst wird.  Und diese epistemologische Sichtweise trifft auch dann zu, wenn die Bedeutung des Lebens in der Liebe gesehen wird (Trauungsrede), weil auch die Liebe „unerklärlich[]“ (SKS 5, 423/ DRG, 151) ist. Zur Diskussion der Bedeutungsfrage in der Grabrede: Kapitel 3.2.4.3.

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Tod und Gott, dazwischen das Leben Anhand der Eigenschaften der „Entscheidung des Todes“ legt Kierkegaard die strukturelle Äquivalenz zwischen Tod und Gott offen dar, präziser: der Tod zeigt in seinen Eigenschaften auf das Religiöse. Als das ganz Andere, Entzogene, Relationslose, Undurchschaubare, Fremde, Rätselhafte entspricht der Tod dem, was Kierkegaard in der Beichtrede über Gott sagt: er ist „das Unbekannte“. Und ebenso wie Gott das dem Menschen Entgegengesetzte ist, das dennoch vorausgesetzt und da ist, gilt dies systematisch gleichfalls für den Tod. Hinzu kommt, dass Tod und Gott von Kierkegaard so aufgefasst werden, dass sie in der strukturellen Auffassung ihrer Zeitlichkeit einander entsprechen. Sowohl Tod als auch Gott sind das Unzeitliche, die Ewigkeit im Sinne der aeternitas, nicht im Sinne der sempiternitas, der unendlichen Dauer. Als diese Unzeitlichkeit ist der Tod, ebenso wie Gott, das Unveränderliche. ³⁶⁷ Zu dieser ontologisch-metaphysischen Äquivalenz tritt schließlich eine existenzielle hinzu. Auf den Tod kann zwar Bezug genommen werden, aber es ist kein unmittelbares Verhältnis durch das Individuum möglich. Ein solches ist erst dann möglich, wenn der Tod im Moment des Ablebens eintritt,was gleichfalls bedeuten würde, dass das Verhältnis aufgelöst wird. Beim Gottes-Verhältnis gilt zunächst auch, dass auf Gott Bezug genommen werden kann, ohne dass ein unmittelbares Verhältnis durch das Individuum eingegangen werden könnte. Erst wenn Gott dem Menschen im Augenblick entgegentritt, ist ein unmittelbares Verhältnis zur Ewigkeit gegeben, ohne aber – im Gegensatz zum Tod –, dass sich das Verhältnis auflöst. Dabei kommt hinzu, dass das unmittelbare Verhältnis zum Tod (im Augenblick des Ablebens) bedeutet, dass derselbe die Zeit zum Stehen bringt und somit in den Fluss der Zeit eingreift. Das unmittelbare Verhältnis zu Gott bedeutet analog, dass die Ewigkeit in die Zeit eindringt und somit ebenfalls in den Fluss der Zeit eingreift, aber nicht so, dass die Zeit abgebrochen wird, sondern so, dass der Zeit neue Bedeutung beigemessen wird – es finden ein Bruch und eine Umkehr der Blickrichtung des Individuums statt. Die Einwirkung Gottes hat subjektive Bedeutung für das Individuum. Dies trifft wiederum auch in Bezug auf den Tod zu. Indem der Tod durch die Subjektivierung in das Leben geholt werden soll, soll das definitive und endgültige Abbrechen des Lebens im Leben vergegenwärtigt werden. Der definitive Bruch des Todes mit dem Leben soll durch das Todesbewusstsein in einen definitiven Umbruch des Individuums transformiert werden.³⁶⁸  „[D]er Tod wird nicht bleicher und nicht älter.“ (SKS 5, 449/ DRG, 182)  Michael Bjergsø sieht ebenfalls in der Problematik des „Bruchs“ und der „Veränderung“ einen der wesentlichen Aspekte der Existenzthematisierung in den Gelegenheitsreden: vgl. ders., Kierkegaards deiktische Theologie, S. 118 – 121. Bjergsø legt dabei den Blickwinkel auf die mäeutische Initiierung der „Veränderung“ durch die Reden.

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Bei dieser subjektiven Bedeutung des Todes für das eigene Leben geht es Kierkegaard um die unumkehrbare Entscheidung des Individuums; eine Entscheidung, die sich das Individuum zwar zu Bewusstsein führen, aber selbst nicht fällen kann. Daran wird Kierkegaards Strategie, von der „Entscheidung des Todes“ zu sprechen, deutlich. Denn als personifizierter Akteur soll der Tod vom Individuum so in die eigene Subjektivität implementiert werden, dass er zur existenziell-religiösen Blaupause für das Gottes-Verhältnis wird. Im Todesbewusstsein soll sich das Individuum in einem Verhältnis zu einer es bestimmenden Macht gesetzt sehen, zu der es sich zu verhalten gilt, indem das eigene Bezugnehmen der bestimmenden Macht entspricht. Die Definitivität des Eingreifens von Tod und Gott in das eigene Leben soll im eigenen Verhältnis zu ihnen reproduziert (wiederholt) werden. So ist der Ernst in der Grabrede die das Leben durchwirkende Einstellung, sich zum Tod zu verhalten, im gleichen Sinne wie der Ernst in der Beicht- und Trauungsrede die das Leben durchwirkende Einstellung ist, sich zu Gott zu verhalten. In allen drei Gelegenheitsreden geht es demnach um das Anstreben (Hingabe) einer das Leben durchwirkenden Stabilität des Individuums, indem es sich einer es übersteigenden und unveränderlichen Größe ausgesetzt sieht und sich zugleich bewusst an diese aussetzt, sei es Gott, Liebe oder Tod (was Beicht-, Trauungs- und Grabrede zusammenführt). Der Brüchigkeit des Lebens kann bei Kierkegaard nur in Bezug zu etwas dem Leben Zugrundeliegendem begegnet werden. Einerseits geht es ihm somit auch in der Grabrede darum, dass sich das Individuum in ein vorausgesetztes Verhältnis vertieft. Denn das subjektive Bestimmtwerden durch den Tod ist Ausdruck für ein vom Individuum eingegangenes Verhältnis zu einem Verhältnis der bestimmenden Macht zum Individuum.³⁶⁹ Gleichfalls wird sich zum Tod als das im Leben immer Ausstehende und Entzogene verhalten. Indem sich das Individuum in den Grund des Daseins vertieft, stößt es nicht nur Welt von sich und negiert dabei auch sich selbst in Entsprechung zum Telos der Bewegung, sondern setzt sich in ein Verhältnis zu etwas, dass es im Leben niemals sein kann. Die Todesreflexion wird so zum Muster für eine Annäherung an das Un-Endliche.³⁷⁰

 Der Tod als strukturelle Äquivalenz für Gott dient dazu, dass das Vertiefen in ein Verhältnis zum Tod strukturell einem Vertiefen ins vorausgesetzte Gottes-Verhältnis gleicht, nämlich: sich zum Entzogenen zu verhalten.  Dabei ist anzumerken, dass Kierkegaard in der Grabrede davon spricht, dass der Tod in seiner permanenten Möglichkeit seines Eintretens vergegenwärtigt werden soll. Im Sinne der Beichtrede gilt das auch für die Vertiefung ins Gottes-Verhältnis (Erbauung), die aus der Möglichkeit heraus geschehen soll, dass Gott in die Zeit eintritt. In diesem Sinne beschreibt Kierkegaard auch in der

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Es muss jedoch dabei unbedingt betont werden, dass die Einübung des Todesbewusstseins nur strukturell, nicht existenziell, eine Einübung des GottesVerhältnisses bedeutet. Nur strukturell soll über die Todesreflexion das Nichts als vorausgesetzter Grund des Daseins ins Bewusstsein gedrängt werden, um damit Gott als Grund des Daseins zu vergegenwärtigen. Und nur in diesem strukturellen Sinne kann das Verhältnis des Individuums zu Gott über das Verhältnis zum Tod als eine in der Grabrede entfaltete Existenzialisierung der Metaphysik betrachtet werden. Aus dieser rein strukturellen Perspektive ist das existenzielle Verhältnis zum Tod einerseits der existenzielle Ausdruck für die Genese religiösen Bewusstseins; andererseits Ausdruck dafür, dass Tod und Gott in gleichwertigem Bezug zum Leben stehen. Sollen nämlich a) Leben und Tod im Bewusstsein zusammengeführt werden; b) der Tod ins Leben integriert werden; c) eine ständige Bewegung ins Leben vollzogen werden; d) das Leben als vom Nichts durchzogen gedacht werden – so sind dies alles auch existenziell-strukturelle Aussagen über das religiöse Verhältnis zu Gott: a) Leben und Gott sollen im Bewusstsein zusammengeführt werden (Trauungsrede); b) Gott soll bewusst ins Leben geholt werden (Beichtrede); c) vor Gott soll eine ständige Bewegung ins Leben vollzogen werden (Trauungsrede); d) das Leben soll als von Gott durchzogen gedacht werden (Beichtrede). Das Leben selbst wird hierbei als ein Zwischensein zwischen Nichts und Sein verstanden. Die ontologische Dimension dieses Inter-esses ist nicht nur Ausdruck für die unauflösbare Widersprüchlichkeit, dass das Leben in Bezug zu etwas Entzogenem steht, sondern aus existenziell-religiöser Perspektive Ausdruck für folgende (ontologische) Struktur der Existenz:

Entscheidend ist dabei, dass es Kierkegaard in der Grabrede um die Einübung des Todesbewusstseins geht; um einen kontinuierlichen Vollzug, in dem der Tod als integrierter Bestandteil des Lebens das eigene Verhältnis zum Leben prägt. Gleichfalls gilt dies für das Gottes-Verhältnis. Das Individuum soll sich sowohl zum Tod als auch zu Gott verhalten; es muss sich sowohl von der Ewigkeit als auch vom Nichts her bestimmt sehen (schematisch: Gott ↔ Leben ↔ Tod). Kierkegaard kommt es dabei auf das Gleichgewicht beider Bewegungen an. Es geht ihm Grabrede strukturell eine erbauliche Bewegung aus Sorge; eine Bewegung aus dem Bewusstsein der Möglichkeit heraus.

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um das Bewusstsein von Bedrohung und Hoffnung; Auslöschung und Unsterblichkeit. Kierkegaard präferiert also weder einen nihilistischen Blick auf das Leben noch einen christlichen Erlösungsglauben, sondern ein Verständnis des Lebens, das zwischen den entgegengesetzten Grenzen des menschlichen Daseins angelegt ist und das nur innerhalb dieser Grenzen verstanden und gestaltet werden kann. Von systematischer Relevanz ist dabei, dass Kierkegaard (aus existenziellstruktureller Perspektive) die Religiosität über die Anthropologie zur Sprache bringt. Er will nicht nur Religiosität und Anthropologie systematisch zusammenführen, sondern – wie Climacus – die Religiosität über die Anthropologie begründen und als conditio humana herausstellen. Und dass es ihm um die Begründung der Religiosität geht, zeigt gerade die strukturelle Äquivalenz zwischen Tod und Gott. Kierkegaard verfolgt, wie auch in der Trauungsrede ein transzendentalanaloges Denken. Nicht nur wird der Erkenntnis Gottes strukturell das Erkennen seines existenz-ontologischen Pendants vorgeschaltet, sondern der Tod dient als strukturelle Bedingung der Möglichkeit für das Verhältnis zu Gott.³⁷¹ In der Grabrede ist das Verhältnis zum eigenen Tod in diesem Sinne tatsächlich nur von strategischer Bedeutung, um in ein von Kierkegaard aneignungstheoretisch intendiertes, religiöses Verhältnis zur Ewigkeit zu gelangen.

3.2.4.3 Aneignung und Innerlichkeit „Gepriesen sei der Lebende, der … seine[] Innerlichkeit … bewahrt, … als das Ewige, das durch den Tod gewonnen ist.“³⁷²

Ausgehend von den bisherigen Überlegungen ist aus methodologischer Sicht zunächst festzuhalten, dass für eine schlüssige Interpretation der Grabrede, die rein strukturelle Perspektive auf das Verhältnis von Tod und Gott immer die ontologische hinzugefügt werden muss, in der Tod und Gott als gegenüberstehende Pole des Lebens aufgefasst werden. Aus existenzsystematischer Sicht hat dies die Konsequenz, dass sich die Ganzheit der existenziellen Bewegung der Grabrede – vom Tod auf das Leben zu Gott – strukturell als eine dreigliedrige Parallelität zwischen dem Vollzug des Todes-, Lebens- und Gottesverhältnisses darstellt. Eben

 Für Kierkegaard gilt somit, dass Gott nur aus der Existenz heraus erkannt werden kann. Der Gedanke ist dabei, dass Gott (ebenso wie der Tod) zwar nicht an sich erkannt werden kann, aber dass der Mensch, indem er sich zu etwas Unveränderlichem verhält, selbst Ausdruck für etwas ist, das trotz seiner Entzogenheit da ist. Im kontinuierlichen Vollzug, der Wiederholung der Ewigkeit in der Zeit liegt – wie bei Climacus – der existenzielle Beweis für die Ewigkeit.  SKS 7, 215/ DUN, 383.

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diese existenzielle Trias zu praktizieren, d. h. dass diese Verhältnisvollzüge aus und in Freiheit zu eigen werden (Inwendigkeit), ist das in der Grabrede implizit gestellte Ziel der Aneignung, die in der Einübung des Ernstes besteht,³⁷³ der – mit Blick auf alle drei Reden – gerade das Verhältnis zu Gott (Beichtrede), zum Leben (Trauungsrede) und zum Tod (Grabrede) darstellt. Für die Grabrede gilt dann aus existenzsystematischer Sicht das Gleiche wie für die beiden anderen Reden. Denn so, wie in das Verhältnis zu Gott und zum Leben, so ist auch in das Verhältnis zum Tod (womit implizit die beiden anderen Verhältnisse angesprochen sind) ein Selbst-Verhältnis eingebettet. Damit tritt aus der Problematik der Aneignung die Problematik der Innerlichkeit in den Blick, deren existenzielle Konkretion im Folgenden betrachtet werden soll. Dafür ist es zunächst notwendig, das unter existenz-religiösen Vorzeichen gestellte Aneignungsziel der Grabrede, die Nichtswerdung vor Gott, näher zu beleuchten.

Nichtswerdung Der Aneignungsprozess des Todesbewusstseins zielt für Kierkegaard auf die „Lebensweisheit“ des Sterbenkönnens,³⁷⁴ das im sokratischen Sinne darin besteht, im Leben zu sterben. Dies bedeutet aber nicht – entgegen dem Phaidon –, dass sich vom diesseitigen Leben abgewendet werden soll. Denn Kierkegaard betont ja gerade die Lebensbejahung. Vielmehr ist eine religiös gewendete Kunst des Sterbens impliziert, die – in der Terminologie der Beichtrede – im „StillWerden“ des Individuums besteht.³⁷⁵  Vgl. SKS 5, 445/ DRG, 177. Dass das An-Eignen, das Zu-eigen-Sein, die Inwendigkeit (Indvorteshed; vgl. Kapitel 1.3) grundlegend zum Begriff des Ernstes dazugehören, zeigt sich, wenn Kierkegaard notiert: „[D]er Ernst ist im inwendigen [indvortes] Menschen, nicht in der [äußeren, d.Vf.] Beschäftigung [Bestillingens].“ (SKS 5, 445/ DRG, 177; vgl. auch: 444 /175) Außerdem beachte man die eindrücklichen Beschreibungen in der Koda der Grabrede, in denen u. a. strenger Wille (Arbeit), Subjektivierung (kein objektives Wissen) und auch die Schwermut der Todesreflexion als Charakteristika der Aneignung hervorgehoben werden.  Vgl. SKS 5, 447/ DRG, 178.  So schreibt Kierkegaard in der pastoralen Exposition der Grabrede: „[I]m Grab ist Stille, und der Tote ist ein stiller [taus] Mann …“ (SKS 5, 442 / DRG, 173) Später kommt hinzu: „So ist die Entscheidung des Todes in ihrer Gleichheit wie der leere Raum und gleicht einer Stille [Taushed], ohne einen Klang, oder etwas milder, einer Stille, die nicht gestört wird.“ (SKS 5, 455/ DRG, 188) Obwohl Kierkegaard im Verlauf der Grabrede mehrfach darauf hinweist, dass solche subjektivierten Beschreibungen des Totseins kein Ernst sind, sondern „Stimmung“, in der der Tod immer auf irgendeine Art und Weise seines Schreckens der Auslöschung beraubt wird, ist es doch auffällig, dass Kierkegaard zweimal das Totsein als „Stille“ beschreibt. Durch die Verwendung dieses Begriffs wird die religiöse Intention der Todesreflexion deutlich, indem sie in einen durch die Beichtrede vorgegebenen Kontext gestellt wird.

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Das Still-Werden impliziert einen Prozess der Nichtswerdung vor Gott. Aus der Argumentationsstruktur der Grabrede heraus ist diese jedoch zunächst lediglich ein strukturell zu erklärender Prozess, der erstmal gar nicht so sehr religiös konnotiert ist, sondern nur den Umstand benennt, dass das Un-Endliche und UnZeitliche vom Individuum existenzrelevant fokussiert wird. Indem nämlich der Tod systematisch (und existenziell) ins Zentrum des Lebens gerückt wird, bekommt einerseits die ontologisch umgewendete Vernichtung des Lebendigseins als das Un-Endliche und Un-Zeitliche eine zentrale Stellung im Leben. Gleichfalls wird durch das Todesbewusstsein auch das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit forciert, die systematisch in einem ontologischen Gegensatz zum UnEndlichen und Un-Zeitlichen steht. Dieses Zusammenfallen der existenziellen Vergegenwärtigung von Un-Endlichkeit und Vergänglichkeit im Todesbewusstsein ist der Schlüssel zum Verständnis der Nichtswerdung. Auf struktureller Ebene beschreibt sie nämlich nichts anderes als einen existenziellen Relativierungsprozess des Individuums, in dem es sich ins Verhältnis zu dem setzt, was es im Leben nicht ist und niemals sein kann. Und die Aneignung dieser Relativierung gegenüber dem Unvergänglichen (dem Un-Endlichen), das aus den strukturellen Aspekten der Grabrede heraus sowohl der Tod als auch Gott sein kann, wird von Kierkegaard klar religiös aufgefasst, wenn er ausdrücklich festhält, dass die Vernichtung durch den Tod das Schreckliche ist, das dazu antreibt, Gott zu suchen.³⁷⁶ Damit wird deutlich, dass die strukturelle Perspektive der Grabrede in die ontologische hineingefaltet wird. Das Todesbewusstsein dient der Vermittlung der Durchführung des Nichtswerdens vor Gott. Und existenziell geht es dabei um einen Relativierungsprozess des Individuums, für den der Verhältnispol reziprok das Maß des Selbst-Verstehens vorgibt: „dass ein Mensch gar nichts ist“³⁷⁷ – wenn er sich in Relation zur Absolutheit Gottes setzt. Kierkegaard nennt diesen Zustand des Nichtigseins die „demütige Gleichheit vor Gott“³⁷⁸, mit der er die Einebnung sozialer Differenzen im Angesicht eines absoluten Maßstabes hervorhebt³⁷⁹ und hiervon ausgehend auch eine ethisch Vgl. SKS 5, 459/ DRG, 193 f.  SKS 5, 453/ DRG, 186.  SKS 5, 458/ DRG, 192.  „Er [der Ernste, d.Vf] versteht, dass der Tod alle gleich macht; und das hat er bereits verstanden, weil der Ernst ihn gelehrt hat, die Gleichheit vor Gott zu suchen, in welcher alle gleich sein können.“ (SKS 5, 458/ DRG, 191) Die „Gleichheit vor Gott“, die also eine Gleichheit der Menschen darstellt und somit das ethisch-humanitäre Ziel der Menschlichkeit in Kierkegaards religiösem Denken anzeigt, ist ein Motiv, das sich in einigen Reden zwischen 1843 und 1845 findet; beispielsweise in Die Erwartung des Glaubens (2R43) oder Die Erwartung einer ewigen Seligkeit (3R44). Außerdem beachte man die Diskussion der „Verschiedenheit“, der Kierkegaard die Attribute „begünstigende“ und „härteste“ voranstellt (vgl. SKS 5, 458 f. / DRG, 192 f.). Zur „Gleichheit“

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religiöse Nivellierung von Selbstbehauptung impliziert, durch die die Nichtswerdung der Grabrede der Bewegung zur „Reinheit“ und „Aufrichtigkeit“ gleicht (Beichtrede).³⁸⁰ Aus aneignungstheoretischer Perspektive ist dabei hervorzuheben, dass es in der Grabrede eben nicht nur darum geht, das Todesbewusstsein als strukturelle Vermittlung des Gottesbewusstseins zu begreifen,³⁸¹ sondern den Tod als existenzielles Faktum in das Verhältnis zu Leben und Gott konsequent zu integrieren.³⁸² Einerseits dient der Tod hierbei als modus operandi permanenter Lebens- und Ewigkeitsbejahung; gleichfalls ist die existenzielle Abstoßung vom Tod (ins Leben zu Gott) eine Bewegung, in der das In-der-Welt-Sein und dadurch auch das Getrenntsein von Gott manifestiert werden.³⁸³ Der Tod dient bei Kierkegaard systematisch sowohl der existenziellen Vermittlung des Ewigkeitsverhältnisses wie auch der bewussten Fixierung des Individuums in der Endlichkeit. Das Individuum vergegenwärtigt so „eine Verschiedenheit, seine eigene nämlich, von dem Ziel [Maal], das ihm gesetzt ist …“³⁸⁴ Und eben dieser Sachverhalt drängt nicht nur das eigene, ganz konkrete Menschsein ins Bewusstsein (eben als Gegensatz zum Absoluten und als Verortetsein in der Welt), sondern beschreibt auch das Leiden im climacischen Sinne: Die Unerreichbarkeit dessen, was gewollt wird.³⁸⁵ Die Nichtswerdung ist demnach als ein existenzieller Doppelzustand von Hingabe und Nichtkönnen aufzufassen, in dem sich das Individuum einerseits als Mensch vor Gott begreift und gleichzeitig „bereit ist, seine Ohnmacht zu verstehen …“³⁸⁶ Und genau in diesem Sinne ist das religiöse Ziel der Aneignung die „Erbauung“ (vgl. auch die Beichtrede). und „Verschiedenheit“ (mit besonderer Rücksicht auf die Grabrede): Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, S. 68 – 74 und S. 102– 107.  So heißt es in der Beichtrede eindeutig: „[J]e weniger ein Mensch von sich selber hält …, umso deutlicher wird ihm Gott.“ (SKS 5, 409/ DRG, 135)  Vgl. Kapitel 3.2.4.2.  Vgl. Kapitel 3.2.4.1.  Eben dies entspricht der ontologischen Dimension der Bewegung zu „Reinheit“ und „Aufrichtigkeit“.  SKS 5, 458/ DRG, 191.  Existenziell geht es Kierkegaard somit auch darum, über das Todesbewusstsein und die damit einhergehende Unmöglichkeit, das Nichts zu denken, die nicht-realisierbare Selbstaufhebung (als Bedingung selbsttätiger Gottesbegegnung) im Bewusstsein zu fixieren.  SKS 5, 453/ DRG, 186. Dieses Doppelverhältnis wird in der Grabrede auch in epistemologischer und schließlich in bedeutungslogischer Hinsicht aufgegriffen. So soll das Todesbewusstsein zunächst dahin führen, dass das Individuum „die rechte Gelegenheit dazu bekommt, sich über Gott zu verwundern.“ (SKS 5, 453/ DRG, 186) Die Terminologie der „Verwunderung“, die Interesse und Ohnmacht impliziert (Beichtrede), zeigt, dass das Individuum nicht nur in seinem existenziellen Doppelverhältnis zu Tod und Gott zwischen einem Seins- und Nichts-Bewusstsein oszil-

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liert, sondern dass es gegenüber Gott, ebenso wie beim Tod, vor die existenz-epistemologische Frage des (Nicht‐)Verstehenkönnens gestellt ist. Durch das Todes- und Gottesbewusstsein versteht das Individuum dann nicht nur sein Nichtverstehenkönnen, sondern ist davon ausgehend auch permanent zwischen die Bedeutsamkeit und die Sinnlosigkeit des Lebens gestellt. Und gerade auf diese Ambivalenz kommt es bezüglich der in der Grabrede entfalteten Lebensauffassung an, was kurz an folgendem Zitat erörtert werden soll: „Denn der, der ohne Gott in der Welt ist, der wird wohl bald sich selbst satt haben, und drückt dies vornehm aus, dass er das ganze Leben satt hat, der aber, der in der Gesellschaft Gottes lebt, der lebt ja mit dem zusammen, dessen Gegenwart selbst dem Unbedeutendsten unendliche Bedeutung gibt.“ (SKS 5, 448/ DRG, 180 (im Original nicht kursiv)) Zunächst wird mit dem „Sattsein“ einerseits eine Ermüdung am Leben und gleichfalls eine Verzweiflung benannt, die darin besteht, dass dem eigenen Leben und der eigenen Person Bedeutung beigemessen wird, diese aber durch den Tod in Frage gestellt ist. Daraus folgend geht es einerseits darum, im Leben den Sinn des Lebens zu finden, was zu einer Lebenseinstellung von permanenter Unruhe führt (Dazu: A. Hügli, „Grenzsituation oder: vom Sinn der Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz“, besonders S. 10 f.); andererseits werden alle Aufgaben und Tätigkeiten im Leben von dem Bewusstsein der Nichtigkeit desselben begleitet, was immerfort auf den Gedanken des Scheiterns stößt. Es wird die hinter den bloßen Zweckorientierungen liegende Leere des Lebens (die ontologische Unbegründetheit) erahnt, das sich nicht im Erreichen der Ziele erschöpft, aber auch nicht darüber hinausgehend mit Bedeutung gefüllt werden kann (vgl. Ernst Tugendhats Bemerkung zur Verzweiflung bei Kierkegaard: ders., Über den Tod, S. 39). Eben dies kann sich bis zu einer verzweifelten Unerträglichkeit steigern, durch die der Tod als Erlösung herbeigesehnt wird. (Man beachte hierbei Hans Blumenbergs Kritik an der existenzphilosophischen Vergegenwärtigung des Todes (bei Heidegger), die gegen jeden lebensbejahenden Instinkt geschieht: vgl. ders., Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt am Main 2005, S. 67.) Jedoch ergreift Kierkegaard in der Grabrede eindeutig Partei gegen den Tod als eine von der Leerheit des Lebens befreiende Erlösung. Denn der Endgültigkeit der Vernichtung wird ja mit der Essentialisierung des In-der-Welt-Seins begegnet. Dies geschieht wiederum im Rahmen von gelebter Religiosität. So setzt er im obigen Zitat dem „Sattsein“ die „Gegenwart Gottes“ gegenüber, wodurch das „Unbedeutendste unendliche Bedeutung“ bekommt (Climacus gibt ganz ähnliche Formulierungen: vgl. SKS 7, 183, 409/ DUN, 341, 633). Kierkegaard forciert hiermit eine Essentialisierung des Momentanen und des Lebens selbst (vgl. unter anderem SKS 5, 453, 454 / DRG, 186, 187). Sowohl der Gesamtzusammenhang als auch die einzelnen Situationen im Leben rücken als das Nichtselbstverständliche in den Blick des Individuums. Indem dabei jedoch Gott der übergeordnete Zusammenhang ist, der als Garant für die Bedeutung dient, wird die Bedeutungszuschreibung selbst als ambivalent gekennzeichnet. Denn Gott ist ja das Entzogene und Unverstehbare. Die systematische Konsequenz ist, dass das Individuum bei Kierkegaard lediglich zu der Grenze gelangen kann, dass Gott zwar im Leben ist, es aber trotzdem von höherer Sinnhaftigkeit abgeschnitten bleibt – und das nicht nur,weil der menschliche Verstand begrenzt ist, sondern weil der Mensch sterblich ist, womit er ja gerade von der Unendlichkeit und Unvergänglichkeit abgeschnitten ist. Um die Bedeutung des Lebens erfassen zu können, ist das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen und dabei gänzlich auf sich selbst verwiesen,weil es auf keinen, wenn auch erahnten, metaphysischen Sinn zurückgreifen kann. Die Bedeutung (des Lebens) ist somit nur im Sinne einer Möglichkeit verstanden, also nicht als subjektivierte Zuschreibung bestimmt (als ein bestimmter Blick des Individuums auf das Leben), sondern als ein Ziel, das entdeckt werden kann,

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Innerlichkeit Der Doppelblick auf die (religiöse) Daseinskonstituierung – als Wollen und Unvermögen – gibt den Blick auf das Verständnis der Innerlichkeit frei. Zu deren umfänglichem Verständnis muss aber zuvor die in der Grabrede entfaltete Auffassung des Selbstseins herausgearbeitet werden, womit der Ernst von Bedeutung wird, weil er – nicht nur in der Grabrede – dasjenige existenzdialektische Konzept benennt, durch das das Gelebtwerden des Lebens unter der Prämisse eines ständigen, prozesshaften, bewussten und reflexiven Selbstbezugs konnotiert wird. 1) Der Ernste betrachtet sich selbst, er weiß deshalb, wie der beschaffen ist, der hier die Beute des Todes würde [vilde], wenn dieser heute käme; er betrachtet sein eigenes Tun und weiß deshalb, welches Tun es wäre, das hier abbräche, wenn der Tod heute käme.³⁸⁷

wenn sich das Individuum in den Prozess des gelebten Gottesverhältnisses begibt. (Und eben in dieser Funktionalisierung des Lebens als Ort des Strebens zur Ganzheit besteht die Essentialisierung des Lebens, wobei es zudem aus textanalytischer Sicht interessant ist, dass das obige Zitat in einem Abschnitt der Grabrede verortet ist, in dem Kierkegaard die Einübung des Ernstes, also das Prozesshafte des Existierens betont.) So ist Gott bei Kierkegaard der Rest einer traditionellen Metaphysik, die in das Existieren hineingefaltet wird, womit er den berühmten Gedanken Constantin Constantiusʼ verfolgt, dass die Metaphysik am existenziellen Interesse scheitert (vgl. SKS 4, 25/ DW, 352). Indem nun aber die Sinn-Frage von Kierkegaard als eine Frage nach der Ganzheit betrachtet wird, wird die traditionelle Metaphysik nicht verlassen, sondern gestaltet sich als eine nachmetaphysische Metaphysik, in der der Mensch immer noch auf das Metaphysische bezogen bleibt. In Anbetracht dieser zugleich einfachen und doch komplexen Sicht auf die Bedeutung des Lebens ist das Leben genau dann sinnvoll, wenn es erstens nicht in den begrenzten Zwecken aufgeht und sich das Individuum nicht in diesen Zwecken verliert; sich das Individuum zweitens auf das Leben selbst bezieht und der Tod nicht als Erlösung angesehen wird; und drittens im Leben ein Bezug zur Ewigkeit (Gott) praktiziert wird und von dort her das Leben in seiner unmittelbaren Erfahrbarkeit als das über sich selbst Hinausweisende begriffen wird. Der Wert des Lebens kann also nur dann vom Individuum erkannt werden, wenn es in einem von Wollen und Hingabe geprägten verwirklichten Bezug zur Ganzheit steht. Die Bedeutung des Lebens liegt – wie in der Trauungsrede – in der Intensität und Permanenz, also dem Gelebtwerden dieses Bezogenseins verborgen. Und weil das Leben dabei in sich immer das Potenzial nach einem Mehr und Über-sich-hinaus trägt, soll das Leben als Ort dieser Möglichkeit (des Mehr-Seins) begriffen und ergriffen werden. Damit geht es Kierkegaard letztlich um die Freiheit des Individuums, sich selbst als Möglichkeit zu begreifen; nicht in den Grenzen der Gewohnheit zu bleiben, sondern über alle Konventionalität den Bruch mit dem Bisherigen zu wagen. Erst in der Freilegung dieses eigenen Potenzials und dem Realisieren dieses Möglichseins liegt für den Kierkegaard der Grabrede das Menschsein.  SKS 5, 462 / DRG, 197.

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2) [D]arin liegt gerade der Ernst, dass die Erklärung nicht den Tod erklärt, aber enthüllt, wie der Erklärende in seinem innersten Wesen ist.³⁸⁸

Neben dem formalen Aspekt der reflexiven Selbstbezüglichkeit (die im ersten Zitat durch das „Tun“ als ein Handlungsprozess bestimmt wird) zeigen beide Zitate, dass das Todesbewusstsein auch hier als ein bewusstseinsphänomenologischer Katalysator fungiert, durch den das Selbst-Verstehen ein grundsätzlich vermitteltes Verstehen der eigenen Person darstellt. Systematisch ist daher nicht nur entscheidend, dass das (auch systematische) Verständnis des Todes das Maß für das (auch systematische) Verständnis des Selbst ist, sondern ebenfalls die Problematik der Aneignung. So ist es zunächst wichtig, dass das erste Zitat im Kontext der Ungewissheit des Todes (Kontingenz) und das zweite Zitat im Kontext der Unerklärlichkeit des Todes (Nicht-Verstehen) steht. Davon ausgehend ist das über die Todesreflexion angeeignete Selbst weder gewiss noch verstehbar, sondern gerade das Sich-Entziehende und Fremde,³⁸⁹ womit Verunsicherung und Kontingenz konstitutiv zum Selbst-Verstehen gehören und dieses also zu keinem Ende kommen kann.³⁹⁰ Und genau dieses Bewusstsein ständigen Unvermögens wird dadurch bestätigt und auf forcierte Kontinuität gesetzt, wenn sich im Verhältnis zum Unbedingten das Bewusstsein eigener Relativierung ausbildet.³⁹¹

 SKS 5, 464/ DRG, 200.  Dies hat seinen systematischen Fluchtpunkt vor allem in der existenzstrukturellen Zentrierung des Todes im Leben, durch die die Ontologisierung des Todes als Nichts in epistemologischer Hinsicht das Verstehenkönnen des Lebens unterhöhlt (vgl. Kapitel 3.2.4.1). Davon ausgehend rückt das Nichtsverstehenkönnen und somit auch das Sich-Fremdbleibenmüssen ins Zentrum existenzieller Selbst-Betrachtung.  Aus existenzieller Hinsicht kommt hinzu, dass nicht nur das Unvermögen des Selbst-Verstehens konstitutiver Bestandteil des Lebens ist, sondern gleichfalls, dass das Individuum durch den Aneignungsprozess des Ernstes von Unverstehbarem umgeben ist, sofern Tod und Gott (das Unverstehbare par excellence) existenzrelevant in die Lebenshaltung (Ernst) eingreifen.  Von der Ausbildung dieses Bewusstseins spricht das erste Zitat, in dem zum einen das „Wissen um die Beschaffenheit“ sowie das „Wissen um das eigene Tun“ im Angesicht des kontingent eintretenden Todes („wenn der Tod heute käme“) hervorgehoben wird. Das „Wissen um die eigene Beschaffenheit“ steht für den Blick des Individuums auf sich selbst und zwar im Angesicht des eigenen Tuns, das der Ernst ist. Denn dieser wird auch in der Grabrede eindeutig als „Handlung“ (SKS 5, 453/ DRG, 185) verstanden, die wiederum in der Einübung des Ernstes besteht und somit den permanenten Aneignungsprozess des Todes-, Lebens- und Gottesverhältnisses benennt. Davon ausgehend ist das „Wissen um die eigene Beschaffenheit“ diejenige Auffassung eigenen Selbstseins, die durch eine bewusste Persönlichkeitsausformung vor dem Hintergrund des Unbedingten gewonnen wird und in eine Lebenshaltung mündet, in der Tod und Gott existenzrelevant eingreifen. Und weil dieser selbstbezügliche Prozess für Kierkegaard auf eine reli-

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Gleichfalls hat die Aneignung dieses bewussten Nichtigseins ihren Grund in der Freiheit, deren aneignungstheoretisches Ziel im konkret gelebten Ernst, also im durch den Tod gewonnenen Selbstsein vor Gott liegt. Und weil die Realisierung der Freiheit immer prozesshaft ist, sie also genau dann negiert ist, wenn ein Resultat erreicht wird,³⁹² ist das unbestimmbare Selbstsein vor Gott der Ausdruck dafür, dass der Mensch dazu gezwungen ist, Möglichkeit zu bleiben. ³⁹³ Dieses aus Aneignung gewonnene, in Freiheit bestehende und nicht letztgültig entzifferbare Selbst wird im zweiten Zitat ontologisiert und als „innerstes Wesen“³⁹⁴ bestimmt. Als Vereinigung von Freiheit und Unbestimmbarkeit bezeichnet das „innerste Wesen“ dann eine Substanzialisierung der ausformbaren und immer unfertig bleibenden Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen, wodurch es zwar als ontologische Stabilität konnotiert, jedoch nicht als starr begriffen wird.³⁹⁵

giöse Lebensanschauung zielt, lernt und versteht das Individuum in der das Gottes-Verhältnis vermittelnden Todesreflexion das Nichtigsein vor Gott, womit das betonte „Wissen um die eigene Beschaffenheit“ gerade das Verstehen eigener Relativierung ist. Aus umfangsstruktureller Perspektive persönlicher Wissensaneignung liegt darin – und nur darin – das eigentliche Ziel der Aneignung. Denn Kierkegaard betont – ebenso wie Climacus es mit der „gesünderen Diät“ (vgl. Kapitel 2.3.2.4.3) hervorhebt –, dass es „kein unbedingtes Gut“ wäre, „viel zu wissen.“ (SKS 5, 468/ DRG, 204). Für das religiöse Existieren gibt es wissenslogisch nur diesen Fluchtpunkt: ein Selbst-Verstehen, in dem sich das Individuum als das – in einem umfänglichen Sinne – unendliche Kleine gegenüber der absoluten Größe Gottes betrachtet.  Freiheit ist in diesem Sinne die Potenzialität der Überschreitung von Gegebenem, ohne das ein Ankommen impliziert ist. Exakt dieses Verständnis von Freiheit realisiert sich als (permanente) Hingabe zu Gott, im Vollzug der Nichtswerdung.  Wird das Selbst-Verstehen über die Todesreflexion gewonnen, ist das Möglichkeit-Bleiben gerade die Spiegelung des Todes als kontingentes Ereignis, das im Leben immer nur Möglichkeit bleibt (vgl. Kapitel 3.2.4.1). – Zum existenz-strukturellen, -systematischen und -pragmatischen Verständnis des Möglichkeit-Bleibens: vgl. die ausführliche Analyse in Kapitel 2.2.3.  Diese Terminologie findet sich weder in der Beicht- noch in der Trauungsrede.  Kierkegaard bietet hiermit eine hohe Anschlussfähigkeit an Georg Herbert Meads Theorie zur kreativen Ausformung der Individualität. Obwohl Kierkegaards subjektivistische Perspektive noch im metaphysischen Denkmodell verhaftet bleibt, er in diesem aber phänomenologisch-anthropologisch erörtert, so dass auch soziale Interaktion einbegriffen werden kann, wird bei Mead die fluide Ausformung des Individuums ausschließlich im Rahmen sozialer Bindung und sozialen Handelns als Spannung zwischen dem eigenen praktischen Vollzug („I“) und dem reflexiven Selbstbezug („Me“) begriffen (vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorsimus, hg. von Charles M. Morris, übers. von Ulf Pacher, Frankfurt am Main 1973, besonders Teil III, Kap. 25 und 28). Das Spannende wäre unter anderem, an welcher Stelle Meads Bestreben, die substanzialistische Bewusstseinsphilosophie verlassen zu wollen, an seine Grenzen zur Erklärung des Personseins stößt, die Kierkegaards existenzdialektische und damit auf die Praxis zurückgebeugte Bewusstseinsphilosophie abfangen könnte; was ebenso für eine

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

513

Für die systematische Bestimmung des Selbst kommt sodann offensichtlich hinzu, dass Kierkegaard vom „innersten Wesen“ spricht, wodurch in zweifacher Hinsicht die Problematik der „Verborgenheit“ relevant wird. Einerseits zeigt es sich nicht in der Welt, weil es eine im Subjekt liegende, ontologische Entität darstellt. Gleichfalls ist es das Verborgene im Sinne des Unbewussten, das durch Aneignung zu Bewusstsein geführt wird. Das „innerste Wesen“ ist also immer schon da, indem es – gerade als das Unbewusste – verborgen anwesend ist. Und es wird seiner Verborgenheit entrissen, wenn sich zu Unbedingtem verhalten wird, was im strukturell-religiösen Kontext der Grabrede bedeutet, sich zu Tod und/oder Gott zu verhalten (Ernst). Als das Sich-nicht-Zeigende (in der Welt), Unverstehbare, verborgen Anwesende und Immer-schon-Daseiende ist das „innerste Wesen“ dann gerade die Spiegelung des Unbedingten und Ewigen im Subjekt, das einerseits durch das Verhältnis zum Un-Endlichen und Un-Zeitlichen, Tod (existenziell) und Gott (religiös), gewonnen wird, durch diesen Aneignungsprozess aber gleichfalls als das vom Unbedingten Bedingte charakterisiert ist, womit das „innerste Wesen“ (lediglich) die existenzialisierte Ewigkeit im Subjekt darstellt.³⁹⁶ Dennoch: Indem das „innerste Wesen“ die in das Subjekt hineinverlagerten Eigenschaften Gottes (vgl. Beichtrede) und des subjektivierten Todes³⁹⁷ besitzt, zeigt sich die funktionale Bedeutung des (systematischen) Todesverständnisses für die Aneignung des (systematischen) Selbst-Verständnisses. Wenn Kierkegaard schreibt, dass sich das Individuum über die Todesreflexion selbst „erklärt“ (Zitat 2) und dabei versteht, wie es „beschaffen“ ist (Zitat 1), wird der Tod nicht nur zum Vermittler des Verständnisses des (ontologischen) Selbst als das (existenzialisierte) Ewige im Individuum, sondern fungiert gerade deshalb auch als Vermittler des Spiegelverhältnisses von Gott und Selbst. Weil dieses über den Tod vermittelte und angeeignete Selbst so eindeutig auf Climacusʼ Ausführungen in der „Friedhof-Szene“ der Unwissenschaftlichen Nachschrift verweist (vgl. das Motto dieses Teilkapitels), ist das „innerste Wesen“ ganz offensichtlich Ausdruck der „verborgene[n] Innerlichkeit“³⁹⁸, der in der

Grenzziehung für Kierkegaards Philosophie von Bedeutung wäre. Einen konstruktiven Vergleich zwischen Kierkegaard und Mead geben: Christian Hjortkjær und Søren Willert, „The Self as a Center of Ethical Gravity. A Constructive Dialoge Between Søren Kierkegaard and George Herbert Mead“, in KSYB 2013, S. 451– 471.  In diesem Sinne kann das „innerste Wesen“ auch als Essentialisierung der Nichtswerdung begriffen werden, die ja auch die (Bewusstheit der) Bedingtheit und Relativierung im Angesicht des Unbedingten und Nicht-Relativen darstellt.  Vgl. Kapitel 3.2.4.1/2.  SKS 7, 474/ DUN, 719.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Grabrede sowohl strukturelle als auch existenzpragmatische Bedeutungsschichten zukommen. Einerseits ist sie ein ontologisches Bild für die Verkapselung der Ewigkeit in der Zeit,³⁹⁹ womit die Innerlichkeit die in die Existenz und in die Immanenz hineingespiegelte Transzendenz ist.⁴⁰⁰ Dadurch ist sie einerseits die substanzialisierte Form der Selbstüberschreitung, die zwar Teil des Subjekts ist, aber nicht vom Subjekt vollzogen werden kann.⁴⁰¹ Gleichfalls ist die Innerlichkeit auch der existenz-religiöse Ausdruck dafür, dass Gott, der das Individuum in seinem religiösen Selbst-Vollzug trägt, vom Individuum mitgetragen wird.⁴⁰² Selbst- und Gottesverhältnis sind – wie in der Beichtrede – untrennbar verknüpft. In existenzpragmatischer Hinsicht ist die Innerlichkeit hingegen das gelebte und in Erfahrung gebrachte religiöse Selbstsein, bei dem das Individuum im Ausgesetztsein an Kontingenz und Freiheit permanent vor die eigenen Grenzen gestellt wird. Die Existenzwirklichkeit gestaltet sich so unter der Bedingung des Bewusstseins von Potenzialität und gleichzeitiger Begrenztheit.⁴⁰³ Und die darin existenziell implizierte Polarität zwischen Wollen und Unvermögen zeigt, dass die (religiöse) Nichtswerdung gerade Ausdruck der innerlichen Existenzpraxis und der darin bewusst gewordenen Daseinsvergegenwärtigung ist.

 Hermann Deuser stellt solch eine Zusammenführung von Zeit und Ewigkeit auch für die Auffassung der Zeit, wie sie bei Vigilius Haufniensis konzipiert ist, heraus: vgl. ders., Religionsphilosophie, S. 300.  Dass solche Spiegelungsprozesse an Meister Eckhart erinnern, ist einzusehen, aber systematisch nicht wirklich nachzuweisen. Bei Eckhart wird Gott in der Spiegelung durch den Menschen geboren (und reziprok der Mensch). Bei Kierkegaard ist Gott das Gegebene, das keiner Spiegelung bedarf. Die Spiegelung in der Welt ist lediglich ein Ab-bild. Kierkegaards Denken ist viel weniger einer theoretischen Anthropomorphisierung Gottes unterworfen als das Eckharts. Ein Versuch systematischer Betrachtung der Spiegelprozesse bei Kierkegaard unter Einbezug des Einflusses Eckharts: vgl. Becker, „Mirroring God.“  In diesem Sinne ist die Innerlichkeit nicht nur Ausdruck der Freiheit (s.o.), sondern Signum der Möglichkeit des Transzendiertwerdens (von der Beichtrede her: das in „Stille“ geschehende Überwundenwerden durch Gott), womit sie Eigenschaften der Bewegungsdialektik bei Climacus enthält: a) das Ziel (Gott) der Bewegung (Selbstsein) ist Teil der Bewegung, ohne es einholen zu können; b) das Ziel beeinflusst die Bewegung; c) wenn eine Annäherung an das Ziel geschieht, dann nur in unüberwindbarer Entzogenheit vom Ziel.  Dahinter steht der Gedanke der Wiederholung des Ewigen in der Zeit: vgl. Kapitel 3.2.4.2.  Zusätzlich ist zu beachten, dass durch die Nichtswerdung und deren Charakteristika des Wollens und Unvermögens – und der damit impliziten Prozesshaftigkeit des Strebens und der Haltung zu Gott – systematische Eigenschaften der Innerlichkeit aus der Perspektive der Beichtrede betont werden.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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3.2.5 Selbstsein und Innerlichkeit in den Gelegenheitsreden In den Gelegenheitsreden ist zunächst eine systematische Spannung zu beobachten. Erstens wird das Selbstsein von Kierkegaard ontologisiert und in Form des „innersten Wesens“ als (isolierte) Substanzialisierung verstanden (Grabrede). Gleichfalls wird das Selbstsein grundsätzlich unter der Bedingung von Interrelationalität begriffen, sowohl in sozial-interdependaler Hinsicht (Trauungsrede) wie auch in religiös-ekstatischer (Beichtrede).⁴⁰⁴ Beide Aspekte gehen unter religiösem Gesichtspunkt zusammen, indem sie strukturelle Spiegelungen von Gott und Liebe beschreiben.⁴⁰⁵ Für die Gelegenheitsreden im Ganzen ergibt sich somit, dass das Selbst das Ewige in der Zeit ist, das, verborgen von der Welt,⁴⁰⁶ in sich grundsätzlich verhältnishaft bestimmt ist⁴⁰⁷ (was an Vigilius Haufniensis, Cli-

 Vergleiche auch die Bemerkungen zum Selbst als Relationsgeflecht im letzten Punkt der Beichtrede (Kapitel 3.2.2.4).  Systematisch bleibt bezüglich der Existenz-Ewigkeits-Spiegelung festzuhalten, dass diese in den Gelegenheitsreden wesentlich in dreifacher Form angesprochen wird: a) reflexionsphänomenologisch („Verwunderung“; Beichtrede); b) existenzpragmatisch („Ehebund“; Trauungsrede); c) ontologisch („innerstes Wesen“; Grabrede).  Hierbei sei daran erinnert, dass die Charakteristika dieses von der Welt verborgene, ontologisierte Selbst die Unverstehbarkeit, das Immer-schon-Sein, das Nicht-Zeigen-in-der-Welt und die verborgene Anwesenheit sind, die eben auch die ontologischen Eigenschaften Gottes und des Todes sind,wodurch sowohl Tod und Selbst als auch Gott und Selbst (über das Todesbewusstsein) in einem Vermittlungsverhältnis stehen (vgl. Kapitel 3.2.4.3). Daher gilt folgendes Struktur-Abhängigkeitsschema:

 Der Ehebund, den Kierkegaard ja explizit als „Ewigkeit in der Zeit“ bestimmt (vgl. Kapitel 3.2.3.4), ist in diesem Sinne nicht nur strukturelles Ab-bild des ewigen Prinzips der Liebe, sondern auch die in die Welt verlagerte Ausformulierung und Praxis dessen, was der Mensch konstitutiv ist: nämlich verhältnishaft. In diesem Sinne gilt dann im Anschluss an Kapitel 3.2.3.4, dass der Ehebund nicht nur Annäherung und Abbild der Liebe, sondern auch des Selbst ist. In schematischer Form:

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

macus und Anti-Climacus erinnert). Und ausgehend von der zentralen Stelle zur Innerlichkeit (Inderlighed) in der Trauungsrede ⁴⁰⁸ zeigt sich, dass die Innerlichkeit genau jener existenzielle Vollzug ist, in dem das so verstandene Selbst bewusst und in eine prozessual-gelebte Haltung (Ernst) überführt wird. Die Innerlichkeit ist somit die Aneignung des Selbst, also ein Heraustreten aus der Unbewusstheit („Verborgenheit“) in das bewusste Zu-eigen-Sein, die Inwendigkeit (Indvorteshed).⁴⁰⁹ Für solch ein Hineingelangen in das (religiöse) Selbstsein sind die Todesreflexion und das anzustrebende Verhältnis zum Unbedingten, Gott und Liebe, die Bedingungen. Damit ist vor allem gesagt, dass die den Menschen beeinflussenden, auch religiösen Faktoren des Lebens, das Selbst und die Selbstwahrnehmung der Person prägen. In diesem Prozess wird nicht nur die Singularität der eigenen Person, sondern gleichfalls die umfassende und konstitutive Verflochtenheit vergegenwärtigt – und zwar nicht nur als onto-anthropologisches Faktum,⁴¹⁰ sondern vor allem in dem Sinne, dass das Ausgesetztsein an das existenzielle Bezogenseinmüssen fokussiert und das Bestimmtwerden-durch bereitwillig akzeptiert wird. Das mündet einerseits – in religiöser Hinsicht – in eine Lebenshaltung des Empfangen- und Überwundenwerdenwollens (Beichtrede). Gleichfalls gerät die zwischenmenschliche Aushandlung des eigenen Handelns und Wollens und gemeinsamen Gestaltens des Lebens zum existenzpragmatischen Ziel der durch Innerlichkeit forcierten Lebenshaltung (Trauungsrede).⁴¹¹ Aufgrund dieser genuinen, ganz konkreten Diesseits-, Lebens- und (ontologischen) Endlichkeitsbejahung stellt die Innerlichkeit keine sich absondernde Immunität gegen die Welt dar (Quietismus), sondern vielmehr das Bewusstsein der Notwendigkeit von Welt für das eigene Leben. Das dabei implizierte Bewusstsein interrelationaler Verflochtenheit wird nicht nur in den eigenen Lebensvollzug integriert, sondern schließlich auch existenziell auf Kontinuität ge-

 Vgl. Kapitel 3.2.3.3.  Für die Gelegenheitsreden kann dann aus ideengeschichtlicher Perspektive geltend gemacht werden, dass die in Innerlichkeit forcierte Aneignung des Selbstseins wie auch die durch das Selbst konstituierte Spiegelung des Ewigen durchaus dem platonischen Modell der Selbsterkenntnis entsprechen. Denn bei Platon geht es gerade darum, dass der eigenen Unwissenheit (vom Nichtkennen des Selbst) begegnet und gleichfalls das Selbst vom Ewigen und „Intelligiblen“ her verstanden wird. Dazu: Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 316 f.  Es kann durchaus gesagt werden, dass, ausgehend von dem Apriori des Ewigkeitsbezugs (Beichtrede) und dem Ausgesetztsein an Leben, Tod, Welt und Mitmenschen, das Selbst in seiner ontologischen Dimension gerade jener existenz-substanzialisierte Pol eines jeden Menschen ist, in dem sich sämtliche existenziellen Verhältnisse bündeln.  Das Handeln ist die Fürsorge, das Wollen der Entschluss und die Hingabe, das gemeinsame Gestalten die Ehe.

3.2 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845

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setzt. Denn ausgehend von einer das Individuum relativierenden Menschwerdung im Angesicht absoluter Maßstäbe (religiöse Nichtswerdung) zielt Kierkegaard letztlich auf eine Ethik des Begegnens.⁴¹² Die grundsätzlich existenzielle Bedingung für diese Bewusstseins- und Handlungsprozesse⁴¹³ ist die Freiheit, also einerseits die Fähigkeit anfangen zu können (Entschluss) und andererseits die Fähigkeit, sich im Prozess der Durchführung zu halten (Ernst). Beide Freiheitsaspekte zusammengenommen machen nicht nur systematisch die Aneignung aus, sondern kennzeichnen den verhältnishaften Lebensvollzug als einen, in dem einerseits ein existenzieller Bezug zur Zeit und deren Verlauf wie auch zur Möglichkeit und deren Ambivalenz von Potenzialität und Ungewissheit eingegangen wird. So gestaltet sich der Lebensvollzug unter dem Aspekt der Zeitlichkeit als Einheit von dem, was war, ist und sein kann, so dass das Gelebtwerden des Selbstseins gerade als Ausdehnung auf alle drei Zeitekstasen bestimmt ist. Ausgehend von den Einzelbetrachtungen der Reden, ist der Lebensvollzug dann als das in der Gegenwart vollzogene Hineinentwickeln in die Zukunft unter der Be-

 Die Ethik steht hierbei in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Religiosität, durch die das Individuum sozusagen hindurch muss, um im Sinne Kierkegaards genuin ethisch handeln zu können (vgl. auch Kapitel 3.2.3.3). Denn das Begegnen bedarf aus Kierkegaards Sicht gerade dss Bewusstseins eigener Nicht-Überhöhung, damit sich die Menschen auf gleicher Höhe, in Achtung und Dankbarkeit begegnen. Die Begegnung steht in diesem Sinne unter der Bedingung der Eliminierung von autoritativer Selbstbehauptung und zwischenmenschlichen Machtstrukturen (was sich beispielsweise gut, aber durchaus kritisch an Kierkegaards Ausführungen zum Begriff der „Gleichheit“ in der Grabrede zeigen ließe: vgl. besonders SKS 5, 457 ff. / DRG, 191 ff.). Die religiösen Ausführungen der Beicht- und Grabrede sind dann, ausgehend von den Ausführungen zur Sequenzanalyse (vgl. Kapitel 3.2.1.2), nicht nur Rahmung, sondern auch Bedingung der ethischen Ausführung Trauungsrede, die wiederum in ihrer ethischen Zielstellung das existenzpragmatische Zentrum der Gelegenheitsreden darstellt.  Werden sowohl die genannten Bedingungen wie der Prozess der Selbst-Aneignung als auch die zutage tretenden Charakteristika des Selbstseins und schließlich die aus der Aneignung folgende Praxis strukturell zusammengeführt, kann dies wie folgt veranschaulicht werden:

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

dingung der Vergangenheit bestimmt.⁴¹⁴ Für den Freiheitsbegriff hat dies aber die Konsequenz, dass er dann unter der Bedingung der Nicht-Souveränität steht. Denn das Vergangene ist das, was nicht ungeschehen gemacht werden kann und von woher gehandelt werden muss (Kierkegaard fasst dies in der Beichtrede unter der religiös-dogmatischen Kategorie der „Sünde“). Gleichfalls ist der Prozess der Freiheit zwar modal-ontologisch als Möglichkeit und somit als Werden im Sinne von Potenzialität bestimmt, zu dem aber konstitutiv die modallogische Ungewissheit des Noch-Kommenden (Kontingenz) gehört. Und das bedeutet in existenzieller Hinsicht wesentlich, dass das eigene Unvermögen (Nichtkönnen) und die Unbegründetheit von Geschehendem (Nichtverstehenkönnen⁴¹⁵) konstitutiv für die eigene Lebenshaltung werden. Existieren heißt dann, eine Haltung zum Leben, sich selbst und zu übergeordneten Zusammenhängen (Liebe, Gott, Tod) zu gewinnen, in der die eigene Fehlbarkeit und das konkrete Scheitern nicht nur akzeptiert, sondern durch einen konstitutiven Selbst-Zweifel, also durch das Sichzur-Frage-Werden durchsichtig gemacht werden sollen, um genau mit diesem Bewusstsein zu leben (es also in den Existenzvollzug zu integrieren).⁴¹⁶ In ihrer systematischen Überlappung zielen die systematischen Bestimmungen der Verflochtenheit und Freiheit und Potenzialität und Fehlbarkeit schließlich auf ein Verständnis der Innerlichkeit, deren existenzieller Kern die Transformation des Individuums im Sinne eines Anders- und Neuseins des Schon-Seins ist. Diesbezüglich darf nicht vergessen werden, dass die Aneignung des Selbst lediglich das Freilegen und In-Erfahrung-Bringen eines Immer-schon-Seins ist (Beichtrede). Um was es in der dabei zu gewinnenden Selbst- und Lebenshaltung geht, ist dann gerade (das Hineingelangen in) das Wie des Selbst-Verhältnisses, also nicht das Dass (denn das Individuum verhält sich immer schon zu sich selbst). Dieses Wie wird nicht nur durch Wollen, Hingabe und Engagement zugespitzt, sondern stellt über den Prozess der Aneignung eine (existenzielle) Umkehr (der Blickrichtung) dar. Durch religiöse Weltdistanzierung (Beichtrede), dem Bewusstsein ethischer Angewiesenheit (Trauungsrede) und dem Blick auf den de-

 Schematisch gibt die Trauungsrede die Gegenwartsorientierung (Ehe), die Beichtrede die Vergangenheitsorientierung (Sünde, Schuld) und die Grabrede die Zukunftsorientierung (Tod) als existenzrelevante Parameter an. Genau genommen werden in allen drei Reden alle drei Zeitekstasen für das Existieren herausgehoben und als existenzrelevantes Zeitlichkeitsgeflecht präsentiert; dennoch liegt die Gewichtung wie eben aufgezeigt vor.  Dieses gilt aus den vorgenommenen Analysen heraus selbstverständlich auch für das eigene Selbstsein. Denn es steht ja in einem Verhältnis zu ontologischen Bezugspunkten, deren Unverstehbarkeit in existenzepistemologischer Hinsicht auf das Selbst-Verstehen überträgen wird. Dies gilt vor allem für die Beicht- und Grabrede.  Dies entspricht allen drei Gelegenheitsreden.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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finitiven Tod (Grabrede) wird der Blick auf Welt, Leben und Mitmenschen verändert, aber auch die eigene Person – und nur diese – als Ort der Möglichkeit zur Veränderung ins Bewusstsein gedrängt. Dieses Primat des An-sich-Arbeitens, das in der Beichtrede als „Aufrichtigkeit“ gefasst wird, führt existenziell zu einer Stabilisierung der eigenen Person, die sich jedoch gleichfalls immer unter der Bedingung von Kontingenz und Welt begreifen muss und somit als das Immernoch-Veränderbare (das Andersseinkönnen) zu verstehen hat.⁴¹⁷ In diesem Sinne ist die Transformation nicht nur ein existenzielles Ziel, sondern gerade die Prämisse existenzieller Entwicklung. Und die Innerlichkeit ist die als Aneignung gewendete Umsetzung dieses auf Fluidität zielenden Personseins. Sie stellt also systematisch den Selbstbezug und ein auf Kontinuität gesetztes Bewusstsein dar, das nicht nur selbst als Handlung verstanden wird, sondern unter der Bedingung von Religiosität, Weltverwobenheit und Zusammenleben auch Ausgangspunkt für ein Handeln in der Welt ist. So kann für die Gelegenheitsreden allgemein festgehalten werden, dass die Innerlichkeit die im Bewusstsein geschehende (und dadurch von der Welt „verborgene“) Selbst-Vergegenwärtigung ist, die existenzdialektisch in die Welt hinein- und zurückwirkt.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44 Werden die 18 Erbaulichen Reden von 1843/44 (ohne das „Ultimatum“ am Ende von Entweder – Oder) in den Blick genommen, so lassen sich ausgehend von den Gelegenheitsreden drei aussichtsreiche, thematische Kandidaten zur Erschließung der Innerlichkeitsproblematik ausmachen.⁴¹⁸ Als Erstes wäre die Sorge zu nennen (die im Vorhergehenden besonders durch die Beichtrede thematisiert wurde). Vor allem in den Erbaulichen Reden 1843 ist

 Bezüglich der Trauungsrede und deren Entfaltung des Zusammenhangs zwischen SelbstVerhältnis und Paarbeziehung ist dann hervorzuheben, dass beide in einem reziproken Verhältnis stehen. Begreift sich das Individuum selbst als veränderbar, begreift es auch den anderen Menschen als eine in ihrer Eigenständigkeit veränderbare Person. Das Einbeziehen der Veränderung in das eigene Selbst- und Paar-Verhältnis prägt die über den Moment hinausreichende Stabilität beider Verhältnisse, weil nicht nur im existenziellen Sinne das Scheitern, sondern allgemeiner noch, jegliche Form von Irritation in den eigenen Blick einbegriffen sind, wodurch dieselbe absorbiert wird, ohne nivelliert zu werden. Verwiesen sei hierbei auf Niklas Luhmann, der in seinen Ausführungen über die „romantische Liebe“, die Kierkegaard im Blick hat, den Einbezug der Kontingenz als konstitutives Stabilisationsmerkmal der Paarbeziehung heraushebt: vgl. ders., Liebe als Passion, besonders S. 169 f.  Hierbei sei an die hermeneutischen Probleme im Zusammenhang von erbaulichen Reden und Gelegenheitsreden erinnert, wie sie in Kapitel 3.1.2 erläutert wurden.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

die Sorge ein zentraler Begriff. Prominent tritt sie unter anderem in der Rede Die Stärkung im inwendigen Menschen (3R43) hervor,⁴¹⁹ die exemplarisch die Innerlichkeitsthematik innerhalb der Erbaulichen Reden 1843 sublimiert. Der SorgeBegriff würde insofern hilfreich zur Erschließung der Innerlichkeit sein, weil durch ihn die conditio humana des Verwiesenseins des Menschen an das Ewige und Unbedingte thematisiert wird. Zugleich tritt die Freiheit des Menschen in den Blick, insofern die Sorge das Bewusstsein der Möglichkeit ist. Dementsprechend könnten über die Sorge die anthropologischen Dimensionen der Innerlichkeit und zugleich die widersprüchliche Existenzsituation des Menschen offen gelegt werden. Als Zweites würde sich das Verhältnis des Selbst- und Gottes-Verhältnisses anbieten, wie es in den Vier erbaulichen Reden 1844 thematisiert wird. Mit dem in der ersten Rede thematisierten „tiefen Selbst“⁴²⁰ könnte Bezug zum „innersten Wesen“ (Grabrede) genommen werden. Stärker noch als mit diesem könnten anhand des „tiefen Selbst“ die Aspekte der Weltverflechtung und Kontingenz allen Daseins und schließlich das Nichtigsein vor Gott als das grundlegende Verhältnis des Individuums zur Welt und zum „Grund des Daseins“ hervortreten. Zugleich würde durch die zweite und dritte Rede die Problematik der Freiheit, Entscheidung, Stellungnahme und Handlung forciert werden müssen, womit sich tendenziell Parallelen zur Trauungsrede ziehen lassen könnten. Schließlich könnte anhand der vierten Rede das Verhältnis zu Gott nicht nur als eine erbauliche Innerlichkeitsbewegung des Wagens und der Nichtswerdung (Stille) besprochen werden (entsprechend der Beicht- und Grabrede), sondern auch das schon in den Gelegenheitsreden bestimmte Spiegelverhältnis zwischen Selbst und Gott ließe sich noch eingehender thematisieren. In der Besprechung aller vier Reden könnte schließlich an das climacische Denken angeschlossen werden. Zeigen ließen sich dabei vor allem die systematisch-existenzstrukturelle Spannung (vor allem in Bezug auf die Innerlichkeit als leidenschaftlicher Reflexionsprozess zwischen Hingabe an Gott und dem Nichtverstehenkönnen Gottes), in der die Innerlichkeit als existenziell-religiöses Phänomen verortet ist. Insgesamt würde sich an den Vier

 Hermann Deuser untersucht diese Rede eingehend im Hinblick auf die Sorge: vgl. ders., „Die Inkommensurabilität des Kontingenten“, besonders S. 175 – 184. Zu dieser Rede ist außerdem auf die Interpretation von Michal Heymel zu verweisen: vgl. Michael Heymel / Christian Möller, Das Wagnis ein Einzelner zu sein. Glauben und Denken Søren Kierkegaards am Beispiel seiner Reden, Zürich 2013, S. 59 – 75.  SKS 5, 306/4R44, 22.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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erbaulichen Reden 1844 die Innerlichkeit als Selbst-Verhältnis vor Gott sehr gut diskutieren und in ihrer komplexen Struktur offen legen lassen.⁴²¹ Schließlich bietet sich Kierkegaards Besprechung der Geduld an, deren Konzeption im Übergang der 1843er zu den 1844er Reden vorgenommen wird. Im Verhältnis zu den Gelegenheitsreden ist die Geduld deshalb interessant, weil sie einerseits elementar in die Gelegenheitsreden eingeschrieben ist, sofern es in ihnen immer auch um die permanente Bewegung und die Stabilität und die Kohärenz des Verhältnisses des Individuums zu sich und zum Ewigen geht. Andererseits ist es bemerkenswert, dass die Geduld an keiner Stelle der Gelegenheitsreden – zumindest dem Begriff nach – genannt wird. Nur an einer Stelle der Trauungsrede spricht Kierkegaard von „Ausdauer“⁴²², womit aber lediglich eine Teilbestimmung der Geduld vorliegt. Die un-eindeutige Anschlussfähigkeit zwischen den Geduldsreden und den Gelegenheitsreden macht die Besprechung der Geduld spannend und relevant, weil sie nicht nur implizite Anschlussfähigkeit, sondern ebenfalls Differenzierung für das Verständnis der Innerlichkeit in den Reden bietet. Es wird sich im Folgenden auf die Geduldsreden konzentriert. In den Fokus rücken die Reden: a) Seine Seele erwerben in Geduld (4R43); b) Seine Seele bewahren in Geduld (2R44); c) Geduld in Erwartung (2R44).⁴²³

Bei näherer Betrachtung dieser drei Reden zeigt sich, warum die Besprechung der Geduld für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist. Zunächst sind die Geduldsreden ⁴²⁴ trotz ihrer phänomenologischen Darstellung schon Ausdruck für den methodologischen Wandel zu systematisierend aufgebauten Reden. Sie stehen den Vier erbaulichen Reden 1844 in dieser Beziehung in nichts nach und ähneln in ihrer Präsentation der Gedanken sehr stark den Gelegenheitsreden (besonders die Erwerbsrede).

 Eine auf die Thematik der Innerlichkeit tendierende Besprechung der vierten Rede Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, dass Gott siegt wird von Christian Möller vorgenommen: vgl. Heymel / Möller, Das Wagnis, ein Einzelner zu sein, S. 45 – 58.  SKS 5, 426/ DRG, 155.  Die Reden werden im Folgenden der Einfachheit halber Erwerbsrede, Bewahrungsrede und Erwartungsrede genannt.  Besonders Michael Bjergsø hat die drei Geduldsreden eingehend besprochen. Sein Fokus liegt dabei auf der durch Zeitlichkeit und Entscheidung geprägten Gestaltung des Lebens, in dem sich das Individuum als weltverwobener Mensch zur Ewigkeit verhält: vgl. ders., Kierkegaards deiktische Theologie, S. 26 – 53.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Daneben geben die intertextuellen Zusammenhänge Hinweise, warum sie für die Besprechung geeignet sind. Die Erwerbsrede (beziehungsweise sämtliche Vier erbauliche Reden 1843) ist im Zuge der Wiederholung (und von Furcht und Zittern) geschrieben worden.⁴²⁵ Dass dem so ist, zeigt schon ihr Inhalt, sofern nämlich die Wiederholungsbewegung die zentrale Gedankenfigur der Rede ist. Außerdem nimmt Kierkegaard in dieser Rede die Bestimmung des Menschen als Inter-esse vorweg – weit vor der Unwissenschaftlichen Nachschrift. Systematisch eröffnen diese beiden Merkmale nicht nur einen konkreten Bezug zur Innerlichkeitsdiskussion in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, sondern ebenfalls einen Bezug zu den Gelegenheitsreden, in denen sowohl Wiederholungsbewegung als auch Inter-esse tragende, systematische Merkmale von Existenz und Innerlichkeit sind. Die Zwei erbaulichen Reden 1844 sind wahrscheinlich im Anschluss an die Fertigstellung des Begriffs Angst geschrieben worden,⁴²⁶ stehen damit aber ebenfalls in Zusammenhang mit der Produktion der Philosophischen Brocken ⁴²⁷ – pseudonymen Werken, in denen die Innerlichkeitsthematik explizit thematisiert (Begriff Angst) beziehungsweise darauf hingeleitet wird (Brocken). Besonders die Bewahrungsrede besitzt offensichtliche Merkmale beider pseudonymen Schriften. Der climacische Einfluss kommt jedoch besonders in der Erwartungsrede zur Geltung, da es in ihr einerseits um modallogisches Denken im Sinne der Brocken als auch existenziell-religiös um die Erwartung einer ewigen Seligkeit geht, was diese Rede auf das Engste mit der Unwissenschaftlichen Nachschrift verbindet.⁴²⁸ Beim Lesen der beiden Reden scheint es fast so, als ob sie um das climacische Denken herum geschrieben sind, ohne jedoch ein Abbild desselben zu sein.⁴²⁹

 Vgl. SKS K5, 126.  Vgl. SKS K5, 188.  Das Verhältnis der Philosophische Brocken zu den Vier erbaulichen Reden 1843, den Zwei erbaulichen Reden 1844 und den Drei erbaulichen Reden 1844 wird von Andrew Burgees genauer erörtert: vgl. ders., „Patience and Expectancy in Kierkegaard’s Upbuilding Discourses 1843 – 44“, in KSYB 2000, S. 205 – 222, hier S. 211– 216.  Im Zuge dieser Rede könnte schließlich noch die Rede Die Erwartung einer ewigen Seligkeit (3R44) hinzugezogen werden, die rein thematisch unmittelbar anschließt und zudem in einem noch engeren textproduktiven Zusammenhang mit dem Begriff Angst und den Philosophischen Brocken steht (vgl. SKS K5, 231– 235; zum Verhältnis der Drei erbaulichen Reden 1844 zu den Philosophischen Brocken vergleiche auch: GW 5, Endnote 272, S. 213 f.). Sie wird jedoch ausgespart, weil in ihr die Sorge der Dreh- und Angelpunkt der Diskussion ist. Zur Besprechung dieser Rede im Hinblick auf die Sorge: vgl. Deuser, „Die Inkommensurabilität des Kontingenten“, besonders S. 184– 190.  Was das Verhältnis zwischen pseudonymen und erbaulichen Schriften Kierkegaards betrifft, ist in Erinnerung zu rufen, dass sie in einem dialektischen und nicht korrigierenden Verhältnis

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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Ohne Zweifel bereiten die Geduldsreden das durch Climacus später differenzierte Innerlichkeitskonzept vor.⁴³⁰ Es lässt sich somit sehr gut der Bogen zurück zu Climacus schlagen, wobei die Gelegenheitsreden vorsichtig einbezogen wie auch die Geduldsreden in ihrer Eigenständigkeit herausgestellt werden können.

3.3.1 Das Konzept der Geduld Werden die Titel der Geduldsreden betrachtet, so lassen sich folgende Beobachtungen machen: In Bezug auf die Erwerbsrede sind drei Schwerpunkte festzustellen: Seele; Erwerben; Geduld. Die Seele soll in Besitz gebracht werden in der Modulation der Geduld. Dass Kierkegaard von „Erwerben“ spricht, deutet nicht nur darauf hin, dass die Seele erst noch in Besitz zu bringen ist, sondern auch auf die Prozessualität dieses In-Besitz-Bringens. Die Geduld wird damit sowohl existenziell als Aneignung wie auch strukturell als fortdauernder Prozess konnotiert. Für die Bewahrungsrede tritt, dem Titel folgend, die Aneignung in den Hintergrund. Dem Begriff des „Bewahrens“ ist implizit, dass etwas geschützt und erhalten werden will, das in Gefahr steht verloren zu gehen. Zugleich wird mit Bewahren ebenfalls ein Prozess betont. Die Geduld wird als eine Beständigkeit konnotiert, die als Schutzmechanismus eine permanente Gegenbewegung zum Verlust der Seele in Unbeständigkeit darstellt. In der Erwartungsrede wird die Geduld schließlich in das Erwarten implementiert; die Geduld steht im Dienst des Erwartens von etwas Ausstehendem. Zugleich wird die Geduld als innerer Kern des Erwartens konnotiert, durch den das Erwarten erst als solches verstanden werden kann. Folgt man dieser kurzen Beobachtung zu den Titeln, so offenbart das Geduldskonzept eine Art und Weise des Existenzumgangs, die Aneignung, Beständigkeit und Bezogensein auf Nicht-Unmittelbares betont. Dies zeigt zunächst eindeutig auf existenziell-religiöse Charakteristika, die sich in allen drei Geduldsreden finden lassen: Selbstsein; existenz-religiöse Abwendung von der äußeren Welt; Hingabe an Gott. Im Folgenden werden die drei Geduldsreden einzeln

zueinander stehen. In dieser Beziehung spielen die Zwei erbaulichen Reden 1844 eine besondere Rolle, weil in deren Vorwort bezüglich Kierkegaards Gesamtwerk das erste Mal davon gesprochen wird, dass die Reden mit der „rechten Hand“, d. h. direkt gegeben werden (also keine indirekte Mitteilungsstrategie lanciert sei) und der Leser sie auch so zu lesen hat.  Diesbezüglich ist unter anderem in Erinnerung zur rufen, dass die Existenz bei Climacus als Geduldsprobe des Erwartens betrachtet wird und eben dies den existenziell-religiösen Kern der Innerlichkeit ausmacht (vgl. Kapitel 2.3.3.2.2).

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

und in chronologischer Reihenfolge analysiert, um schließlich das in ihnen aufgezeigte Verständnis der Innerlichkeit systematisch offen legen zu können.⁴³¹

3.3.1.1 Seine Seele erwerben in Geduld: Selbst-Werden und das Ewige im Menschen Seine Seele erwerben in Geduld ⁴³² folgt einer dreigliedrigen Struktur, in der es erstens um das Was des Erwerbens,⁴³³ zweitens um die Bedingung des Erwerbens⁴³⁴ und drittens um die Bedeutung des Erwerbens⁴³⁵ geht. Im Einzelnen werden die Abschnitte von Kierkegaard der Reihe nach durch Kursivsetzung folgender Sinnkomplexe gekennzeichnet: „Seine Seele erwerben“; „In Geduld“; „Seine Seele erwerben in Geduld“. Offensichtlich zerteilen die ersten beiden Abschnitte den Titel der Rede, während der dritte Abschnitt nicht nur die Zerteilung wieder zusammenführt, sondern schließlich auch den Titel abbildet. Dies verweist auf zwei Sachverhalte. Erstens, dass der dritte Abschnitt die beiden ersten einbezieht und in seiner Zusammenführung wiederholt, womit auf formaler Ebene offensichtlich eine Wiederholungsbewegung angedeutet wird. Zum Zweiten wird die Rede durch den dritten Abschnitt nicht nur weitergeführt, sondern in ihm liegt durch die inhaltliche Sublimierung der ersten beiden Abschnitte auch das, worum es Kierkegaard im Wesentlichen geht. Kierkegaard deutet auf formaler Ebene eine – systematisch vor allem anhand der Trauungsrede ausgeführte – Vertiefung in das Vorausgesetzte an (sofern die ersten beiden Abschnitte die Voraussetzungen darstellen, um den dritten erschließen zu können). Schließlich ist es auffällig, dass die Rede ohne eine abgesetzte Koda auskommt und damit in gewissem Sinne unabgeschlossen ist beziehungsweise zu keiner in sich geschlossenen Ganzheit geformt wird. Kierkegaard deutet auf formaler Ebene an, dass der Erwerbsprozess der Seele eine nicht abzuschließende existenzielle Aufgabe darstellt.⁴³⁶

 Zum methodischen Vorgehen ist kurz anzumerken, dass es die ausführliche Betrachtung der Unwissenschaftlichen Nachschrift und der Gelegenheitsreden erlauben, dass bekannte Gedankenfiguren in aller Kürze systematisch umrissen werden.  SKS 5, 159 – 174/4R43, 57– 74.  SKS 5, 160 – 166/4R43, 58 – 65.  SKS 5, 166 – 168/4R43, 66 f.  SKS 5, 168 – 174 /4R43, 67– 74.  Vergleiche auch die Anmerkungen zur Trauungsrede in Kapitel 3.2.1.2.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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Seele und Erwerben und Geduld Kierkegaards Ausführungen zur Bestimmung der Seele heben mit der gleichen Frage an, wie das Kapitel I der Philosophischen Brocken: Wie kann etwas (hier: die Seele) erworben werden, das schon besessen wird – und umgekehrt: wie kann etwas erworben werden, das nicht besessen wird?⁴³⁷ Diese Frage ist nur dann sinnvoll in dieser Form zu stellen, wenn von einer Notwendigkeit im aristotelischen Sinne und somit von der Ewigkeit ausgegangen wird. Ist die Seele das Ewige im Menschen, so besäße der Mensch dieselbe immer schon und müsste sie nicht erwerben, denn, so Kierkegaard, das Ewige kann weder erworben noch verloren, sondern einzig besessen werden.⁴³⁸ Ausgehend von dieser metaphysischen Prämisse ist der Gedanke der Rede nun aber der, dass die Seele, trotzdem sie das Ewige ist, erworben werden muss. Damit ist der Widerspruch zwischen Unvergänglichkeit und Entstehen impliziert (vgl. Paragraph 1 des „Zwischenspiels“ der Philosophischen Brocken), der auch so ausgedrückt werden kann, dass etwas Vorausgesetztes angeeignet werden muss.⁴³⁹ Kierkegaard geht es dabei offensichtlich nicht um die Frage, ob der Mensch eine Seele hat (denn das setzt er voraus), sondern darum, dass sich der Mensch bewusst wird, dass er eine Seele hat; was impliziert, dass das eigene Leben dazu genutzt werden soll, dieses Bewusstsein zu erlangen und zugleich, dass das eigene Leben in diesem Bewusstsein gelebt wird. Die dahinterstehende Dialektik bestimmt Kierkegaard, wenn er schreibt, dass die Seele nur dadurch erworben werden kann, indem sie besessen wird und nur dadurch besessen wird, indem sie erworben wird.⁴⁴⁰ Damit ist nicht nur eine – formal – zirkuläre Struktur, sondern eben eine Vertiefungsbewegung bestimmt, in der es eben darum geht, dass sich in das Vorausgesetzte hineingearbeitet wird (Aneignung). Dieses Hineinarbeiten muss als eine permanente Bewegung verstanden werden, womit die ständige Beschäftigung gerade die Kontinuität des Bewusstseins ausmacht. Und das eigene Leben dafür zu nutzen, in solch ein permanentes Seelen-Bewusstsein zu gelangen und von dort her sein Leben zu leben, bedeutet, dass das Individuum in der Zeit einen verwirklichten Bezug zum Ewigen praktiziert. Das Verhältnis zur Ewigkeit ist aber insofern gestört, als dass der Mensch ein zeitliches Wesen ist, für den das Ewige inkommensurabel ist. Gänzliche Inkommensurabilität würde aber bedeuten, dass die Seele als das Ewige überhaupt nicht zugänglich wäre. Die Seele muss demnach etwas sein, das dem Menschen zu Eigen sein kann, obwohl sie das Ewige ist. Deshalb nennt Kierkegaard die Seele den    

Vgl. SKS 5, 162 /4R43, 61. Vgl. SKS 5, 163/4R43, 61. Vgl. SKS 5, 168/4R43, 67. Vgl. SKS 5, 163/4R43, 62.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

„Widerspruch des Zeitlichen und des Ewigen“.⁴⁴¹ Sie ist zeitlich, sofern sie im Menschen ist; sie ist ewig, sofern sie göttlich ist. Ist sie zeitlich, ist sie an das Vergehen gebunden; ist sie ewig, ist sie das Beständige. Die „Seele ist ein Selbstwiderspruch zwischen dem Äußeren und dem Inneren, dem Zeitlichen und dem Ewigen.“⁴⁴² Die Seele ist somit Ausdruck dafür, dass der Mensch ein (climacisches) Inter-esse zwischen Zeit und Ewigkeit ist und demnach ein Verhältnis aus Leiblichkeit und Geist, Erscheinung und Wahrheit, Außen und Innen darstellt. Kierkegaard nimmt mit der Bestimmung der Seele nicht nur Climacusʼ (Nachschrift), sondern auch Vigilius’ (Begriff Angst),⁴⁴³ Anti-Climacus’ (Krankheit zum Tode) und seine eigene, in den Gelegenheitsreden ⁴⁴⁴ implizierten Bestimmungen des Selbst vorweg.⁴⁴⁵ Ist die Seele das Ewige, aber dennoch mit der Zeit verwoben, ist sie – so Kierkegaards Bestimmung – die „Unendlichkeit des Weltlebens in seiner Unterschiedlichkeit von sich selbst“⁴⁴⁶ und somit einerseits als „Unendlichkeit des Weltenlebens“ die Transzendierung des Lebens als ein das Individuum übersteigender Zusammenhang (vgl. auch die Trauungsrede); andererseits als „Unterschiedlichkeit von sich selbst“ die in der Zeit vorhandene Negation der Zeit beziehungsweise die Entsprechung des Ewigen im Gegensatz des Ewigen.⁴⁴⁷ Dies entspricht systematisch dem „innersten Wesen“ der Grabrede. Die Seele zu erwerben hieße dann, sich von der Ewigkeit her zu verstehen, indem man dieses in sich entdeckt.⁴⁴⁸ Aber eben genau das ist an die Komplikation gebunden, dass die Seele ein „Selbstwiderspruch“ ist, weil sie trotz ihrer Gegensätzlichkeit zur Zeit an die Zeit gebunden bleibt. Das Erwerben der Seele als das Erwerben des Ewigen im

 SKS 5, 163/4R43, 61.  SKS 5, 165/4R43, 64. Das Ewige verlegt Kierkegaard in das „Innere“ (vgl. SKS 5, 163/4R43, 61) und kennzeichnet es damit als Immanenz.  Ein kurzer Vergleich der Erwerbsrede in Bezug auf den Begriff Angst findet sich bei: Bösch, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, S. 330 f.  Vgl. Kapitel 3.2.5.  Die Seele ist demnach nur der theologisch motivierte Ausdruck für das existenzdialektische Selbst.  SKS 5, 165/4R43, 64.  Vgl. Climacus: Kapitel 2.3.3.3.  Mit dieser Bewegung zur Seele, dem Göttlichen im Menschen, ließe sich durchaus eine eckhartsche Bewegung der Innerlichkeit ausmachen, sofern diese bei Eckhart die Suche nach derjenigen Instanz bezeichnet, die sowohl zum Menschen gehört als auch göttlicher Natur ist – also gerade die Suche nach dem bezeichnet, was Kierkegaard die Seele nennt. Im Gegensatz zu Eckhart wird bei Kierkegaard dabei aber das Göttliche nicht „enthöht“, sondern bleibt uneinholbar für den Menschen. Zu Eckharts Innerlichkeitsverständnis genauer: Guerizoli, Die Verinnerlichung des Göttlichen, besonders S. 3 f. und 8 f.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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Menschen kann daher niemals vollständig gelingen. Und Kierkegaard unterstreicht dies durch die Weltverwobenheit des Individuums. Weil der Mensch leiblich, von der Welt und ihrer Unmittelbarkeit beeinflusst, in sozialen Gefügen verortet und an Erscheinungen, Meinungen, Eindrücke gebunden ist, ist er nicht nur ein durch die Welt geprägtes Wesen, sondern ist unreduzierbar weltverwoben und eben dadurch vom Ewigen, dem Nicht-Weltlichen, abgeschnitten. Für das Verhältnis zur Seele wird dies jedoch erst dann wirklich problematisch, wenn sich das Individuum nur aus der Welt heraus versteht; es an die Welt „verfallen“ ist (Heidegger); von ihr „besessen wird“, wie Kierkegaard selbst sagt.⁴⁴⁹ Denn damit wird – über die Möglichkeit der Zerstreuung und Desorientierung – nichts anderes als der Verlust des kontinuierlichen und kohärenten Selbst-Bezugs hervorgehoben (vgl. auch die Beichtrede), der für Kierkegaard unhintergehbar an die Fokussierung auf das Unvergängliche und Ewige gebunden ist. Solche Fokussierung zum Zweck des Seelenverhältnisses kann existenzpragmatisch schließlich nur bedeuten, sich von der Welt und ihren Erscheinungen abzuwenden. So schreibt Kierkegaard, dass die Seele „unrechtmäßig“ [ulovlig] zur Welt gehört, das „wahre Eigentum“ Gottes ist und genau dann des Menschen Eigentum wird, wenn er sie erwirbt, so dass das Individuum das Verhältnis zur Seele „aus der Welt [heraus], von Gott, bei sich selbst“⁴⁵⁰ an-eignet, also genau dann besitzt, wenn sich das Individuum im Leben, von den Erscheinungen abwendend, zu Gott verhält, über den es zur eigenen Seele vordringt. Das GottesVerhältnis wird so zur Bedingung für das Seelen-Verhältnis, das also grundsätzlich ein vermitteltes ist.⁴⁵¹ Aufgrund der Entzogenheit Gottes in der Welt impliziert dies in existenzpragmatischer Perspektive, dass der zu verwirklichende Bezug zur Seele nur eine kontinuierliche Beschäftigung darstellen kann. Die vertikale Bewegung der Aneignung (zu Gott) wird dabei horizontal (in die Zeit) gedehnt, womit gleichfalls das Telos der Bewegung (Ewigkeit) in die Bewegung selbst übersetzt wird. Das Erwerben der Seele ist demnach eine ständige Bewegung (im Leben, zum Ewigen), die im Sinne der (climacischen) Wiederholungsbewegung die Ewigkeit existenzialisiert und dadurch gerade – onto-strukturell – das Inter-esse (Seele) realisiert, weil sich in der Zeit konstant zum Ewigen verhalten wird. In existenzielle Terminologie übersetzt besagt dies, dass sich das Individuum zu sich selbst (Zeit) und  Vgl. SKS 5, 164 /4R43, 63.  SKS 5, 166/4R43, 65.  „Der, der seine Seele in Geduld erwerben will, er erkennt, dass ihm seine Seele nicht selbst gehört, dass da eine Macht ist, aus deren Hand er sie erwerben muss, eine Macht, von der er sie erwerben muss, und dass er sie selbst erwerben muss.“ (SKS 5, 172 f. /4R43, 72)

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

zu Gott (Ewigkeit) verhält. Das Erwerben der Seele ist also die Aneignung als Selbst-Verhältnis vor Gott (und in diesem Sinne die climacische Innerlichkeit). Damit kommt nun die Geduld ins Spiel. Denn sie bezeichnet gerade den existenzpragmatischen Aspekt, dass die Beschäftigung (des Erwerbens der Seele) mit Ausdauer, ohne unmittelbares Erreichen des Ziels, vorgenommen werden muss.⁴⁵² Sie ist der Prozess, in dem Selbstsein und Aneignung zusammenfallen;⁴⁵³ das Selbstsein (das Erwerben der Seele) also niemals abgeschlossen ist, womit die Geduld gerade ein fluides Selbst-Werden impliziert⁴⁵⁴.⁴⁵⁵ Deshalb spricht Kierkegaard auch von einer „Zweifachheit“ [Dobbeltheden] bei gleichzeitiger „Einheit“.⁴⁵⁶ Geduld und Selbstsein müssen zusammengedacht werden, ohne dass sie zusammenfallen. Dieser Sichtweise geht die Dialektik voraus, dass Geduld und Seelen-Erwerb sich gegenseitig bedingen: „[E]s ist die Geduld selbst, in der sich die Seele in Geduld entspinnt und dadurch diese und sich selbst erwirbt.“⁴⁵⁷ Eben diese Dialektik kennzeichnet die Geduld als eine Vertiefungsbewegung in ein vorausgesetztes Verhältnis (Seele).⁴⁵⁸ Die Geduld ist also das Erwerben der Seele; ist das Erarbeiten des Selbst-Verhältnisses vor Gott; ist der Prozess der Aneignung des Ewigen im Menschen.

Geduld als Selbst-Erschließung Besonders der Aspekt der Fluidität des Selbstseins ist von Interesse für die existenzielle Deutung der Geduld. Kierkegaard betont, dass die Geduld „nicht ist, sondern wird“⁴⁵⁹ und dass dieses Werden aus der Welt heraus geschehen muss, weil der Mensch weltverwoben ist. Daran anschließend hebt er hervor, dass jede Selbst-Erkenntnis, die nicht an ein Erwerben gebunden ist, „unvollständig und

 Vgl. SKS 5, 159 f. /4R43, 57 f.  Kierkegaard spricht davon, dass es in der Geduld darum gehe, das „Begehrte“ (SKS 5, 160/4R43, 58) zu erreichen. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass die Voraussetzung der Geduld das Interesse ist, womit das Individuum in der Geduld ein Verhältnis zum Inter-esse (Seele) eingeht. Als dieses Verhältnis zum Verhältnis (Interesse zum Inter-esse) wird das Selbst-Verhältnis auch bei Climacus bestimmt (Kapitel 2.2.2.1).  Vergleiche die Grabrede: Kapitel 3.2.4.3.  Geduld ist in diesem Sinne der Modus des Selbst im Sinne Hegels, nämlich das „entfaltete[] Werden“ (Hegel, Werke 3, S. 26).  Vgl. SKS 5, 168/4R43, 67.  SKS 5, 169/4R43, 69.  So heißt es auch: „Das Vollkommene kann ein Mensch besitzen, indem er sich zugleich selbst besitzt, ohne dass sein Besitzen zugleich ein Aufgeben ist, da es im Gegenteil ein Vertiefen in es ist.“ (SKS 5, 164 /4R43, 63)  SKS 5, 170/4R43, 70.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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mangelhaft“⁴⁶⁰ sei; dass es nicht auf „Vollständigkeit“ und Wissen ankommt, sondern auf die (Selbst‐)Erfahrung beim Erwerben.⁴⁶¹ Entscheidend ist schließlich, dass Kierkegaard sagt, dass das Individuum „Geduld [dazu] habe[] zu verstehen, dass e[s] sich nicht selbst besitzt …“⁴⁶² Es wird also betont, dass das Individuum zu keinem Zeitpunkt im Leben mit sich selbst identisch ist. Das Selbst ist vielmehr das, was sich in der Erfahrung ausformt und durch das Erleben der eigenen Person zu einem sinnhaften Bild der eigenen Person zusammengesetzt wird. Somit bezieht Kierkegaard in das Selbst-Verstehen nicht nur den konkreten Lebensvollzug ein, sondern ebenfalls kohärente Selbst-Interpretationen unter Einbezug kontingenter Entwicklungen des Individuums. Diese Deutung kann durch Kierkegaards Betonung bestärkt werden, dass die Geduld ein ständiges Werden ist. Die Geduld wird von Kierkegaard als bewusstes Hineinentwickeln in die Zukunft betrachtet.⁴⁶³ Das Existieren des Individuums läuft dann immerzu auf ein Selbst-Entdecken bei gleichzeitigem Selbst-Entstehen hinaus. Das Individuum wird, was es ist. In den Fokus rücken dabei die existenzielle Möglichkeit und das Offenbleiben für das, was geschehen kann.⁴⁶⁴ Die Einbeziehung des Kontingenten bei gleichzeitigem Verfolgen einer kontinuierlichen Aufgabe kennzeichnen das Selbst-Erschließen als eine Kohärenz, die Brüche einbezieht. Dadurch, dass Kierkegaard betont, dass die Selbst-Erschließung in Geduld aus der Welt heraus geschehen muss, impliziert er subtil, dass nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit in den Blick rückt: Sich als der, der man geworden ist, zu vergegenwärtigen und sich gleichfalls für die weitere Entwicklung offen zu halten. Sich-aufgegeben-Sein und Sich-Annehmen stehen in einem unmittelbaren Verhältnis zueinander. Die Geduld ist deshalb der Modus des Selbst-Erschließens, in dem sich das Individuum fernab von aller Zweckorientierung durch Handeln, Ausdauer und Einübung dadurch verstehen lernt, dass es sich aus dem, was war, unter gleichzeitigem Bezug auf das, was sein kann und möglich ist, als bestimmt-seiendes und doch freies Individuum begreift. Durch Kierkegaards Betonung des Nicht-Fertigseins und der Selbst-Wirklichwerdung in der eigenen Tätigkeit beschreibt die Geduld gleichzeitig Aufgabe, Einstellung und Existenzweise des Individuums, das wider alle Brüchigkeit des stabilen Selbst-Bezugs sich zu sich selbst verhält.

    

SKS 5, 171 /4R43, 71. Vgl. SKS 5, 172 /4R43, 72. SKS 5, 168/4R43, 67 f. Dazu ausführlich: Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, S. 48 f. Vergleiche auch Climacus: Kapitel 2.2.3.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Geduld als Sich-Verlieren Strukturell stellt die Geduld bei Kierkegaard wesentlich einen Bezug zur Ewigkeit dar. Bei allem Einbeziehen der Welt in die Selbst-Erschließung bedeutet das Erwerben der Seele dann eben eine Abstandnahme von der Welt. Und das heißt auch, dass das Individuum von sich selbst – als Teil der Welt – Abstand nimmt und sich selbst zur Frage wird. Dieses In-Frage-Stehen kennzeichnet die Geduld als einen Prozess des Suchens, bei dem ein Ziel angestrebt wird, das nicht als Resultat am Ende der Bewegung steht, sondern im Entfalten auf dem Weg zum Ziel liegt; die Seele gerade nichts ist, was irgendwann erreicht würde, sondern etwas, das nur in der Beschäftigung ist. Kierkegaard pointiert einen Existenzvollzug, in dem die Abstandname des Individuums von sich konstitutiv zum Erschließen der eigenen Person dazu gehört⁴⁶⁵.⁴⁶⁶ Das Loslassen von sich selbst geht dialektisch mit dem Selbst-Erschließen einher. Weil sich das Individuum nicht starr selbst behauptet, wird erst die Möglichkeit für Neues wirklich. In diesem Sinne schreibt Kierkegaard auch etwas erratisch, dass die Seele stärker ist als die Welt aufgrund ihrer Schwachheit und fügt hinzu, dass die Seele sich nur „durch Verlieren“ erwerben kann.⁴⁶⁷ Diese Selbst-Transformation durch das „Verlieren“ wird von Kierkegaard sogleich durch eine existenziell-religiöse Wendung konnotiert. Denn mit „Verlieren“ ist auch und wesentlich eine Überlassenheit an Gott gemeint. So heißt es: „Der, der seine Seele in Geduld erwerben will, er erkennt, dass ihm seine Seele nicht selbst gehört, dass da eine Macht ist, aus deren Hand er sie erwerben muss …“⁴⁶⁸ Es wird sowohl das Bezogensein des Individuums als auch das Annehmenwollen betont. Sich in dieser Hingabe an Gott zu „verlieren“ konnotiert die Geduld als eine existenziell-religiöse Nichtswerdung des Individuums, als eine Individuierung durch Deindividuierung, indem alles eigene Streben dazu dient, in eine gewollte Ohnmacht vor Gott zu gelangen, um passiv bestimmt zu werden (was der climacischen „Erbauung“ entspricht). Kierkegaard sagt dementsprechend im letzten Satz der Rede, dass das Individuum seine Seele

 Vergleiche auch Climacus: Kapitel 2.3.4.  „Ein Mensch kann es [das Unvollkommene; die Welt; die eigene Person, d.Vf.] nur dadurch in Wahrheit besitzen, indem er es aufgibt, was bedeutet, dass er es nicht besitzt, obwohl er es besitzt.“ (SKS 5, 164 /4R43, 63)  Vgl. SKS 5, 171 /4R43, 70. Zu beachten ist, dass Kierkegaard nicht von einem gänzlichen SelbstVerlust und der Auflösung des Selbst spricht, sondern das „Verlieren“ dialektisch an das „Erwerben“ knüpft. Ihm geht es um Transformation als immer unfertiger und widersprüchlicher Prozess (vgl. beispielsweise Erbauung bei Climacus).  SKS 5, 172 f. /4R43, 72.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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dadurch erwirbt, indem es „stirbt in der Geduld.“⁴⁶⁹ Eben in dieser erbaulichen Bewegung geht es darum, dass das Individuum eine Transformation seiner selbst erfährt, die es durch sich selbst nicht erreichen kann. Kierkegaard verdeutlicht demnach, dass der Mensch sich selbst nicht überwinden kann und dass jede wirkliche Veränderung eines äußeren Anstoßes bedarf. Das Individuum muss in die Veränderung „gesprungen werden“.⁴⁷⁰ Das „Verlieren“ bezeichnet dann nicht nur das Loslassen von sich und die Hingabe an Gott, sondern ebenfalls ein Entfremdetsein, denn das Individuum hat sich religiös-anthropologisch immer schon in einem doppelten Sinne „verloren“: durch sein Getrenntsein von Gott und durch seine Unfähigkeit, zu Gott zu gelangen.⁴⁷¹ Das „Verlieren“ ist somit auch Ausdruck eines Krisis-Zustands, der zugespitzt darin besteht, nicht man selbst sein zu können, es aber unbedingt zu wollen (bei Climacus wird dies als „Leiden“ gefasst), was ein so radikales In-FrageStehen dessen ist, der man denkt zu sein, dass alle Selbstzuschreibungen ihr Gewicht und ihre Bedeutung verlieren.⁴⁷² Und die Geduld ist nicht nur das vollständige Bewusstsein dieser Krisis, sondern das Aushalten derselben.⁴⁷³ Ist das Erwerben ein „Verlieren“, die Geduld ein „Sterben“, die Bewegung ein „Vertiefen“, so geht es Kierkegaard mit diesen dialektischen Bestimmungen letztlich darum, dass sich das Individuum von seinem Ursprung (Gott) her versteht, der aber als Grund unerreichbar bleibt.⁴⁷⁴ Aus dieser ontologischen Per-

 SKS 5, 174/4R43, 74.  Vergleiche bei Climacus: Kapitel 2.3.2.3.1.  Die Bedingung dessen ist sowohl bei Vigilius, Climacus und dem Kierkegaard der Beichtrede christlich-dogmatisch gesehen die Sünde.  Solcher aus einer idealen Vorstellung des Selbstseins gespeisten Desorientierung wohnt die dialektische Struktur inne, dass die Desorientierung das Individuum nach einem idealen Selbstsein streben lässt und zugleich das ideale Selbstsein das In-Frage-Stehen des bisher gelebten Lebens bedingt. Diese Dialektik betont Kierkegaard auch, wenn er schreibt, dass es im Leben darum gehe, die Voraussetzung des Lebens zu erwerben (vgl. SKS 5, 161 /4R43, 59 f.). Die sich dabei zeigende zirkuläre Struktur von Erwerben und Erreichen bestimmt die Geduld als einen Prozess, in dem das Ziel der Bewegung in die Bewegung eingeschrieben ist, ohne das Ziel erreichen zu können (vergleiche auch die Wiederholungsbewegung bei Climacus: Kapitel 2.3.2.2.2/ 3). In dieser existenziell-religiösen Vertiefungsbewegung besteht die Aufgabe des Individuums darin, die (von Gott her bedingte) Desorientierung in eine Hingabe an Gott zu transformieren. Kierkegaard beansprucht also, die Desorientierung auszuhalten und dabei gleichzeitig zu begreifen, dass man niemals mit sich selbst identisch sein wird, sondern sich dieser absoluten Identität immer nur mit unendlichem Abstand annähern kann.  Gleichzeitig muss auch gesagt werden, dass dem religiösen Bestreben der Geduld – die Einheit mit dem Ewigen – ohne Zweifel das Moment des Hyperbolischen innewohnt.  Hierbei sei an die Bestimmung der Seele als die „Unendlichkeit des Weltlebens in seiner Unterschiedlichkeit von sich selbst“ (SKS 5, 165/4R43, 64) erinnert. Als weltverwobener Mensch

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

spektive kann das Individuum existenziell gesehen immer nur ein Widerspruch zwischen Selbstbestimmung und Bestimmtwerden sein; ein Selbst-Verhältnis vor Gott, das kein Selbstsein, sondern eine Bewegung darstellt, in der das Vorausgesetzte (Seele) in gesteigerte Aktualität überführt beziehungsweise wieder(ge)holt werden will. Das, was ontologisch nur durch und von Gott her ist (Seele), kann also existenziell lediglich in der Bewegung abgebildet werden.

3.3.1.2 Seine Seele bewahren in Geduld: Widerstand gegen die Welt und Umkehr ins Leben Seine Seele bewahren in Geduld ⁴⁷⁵ besitzt eine fünfgliedrige Struktur. Nach der Exposition wird das Thema der Rede dreimal wiederholt; am Ende folgt eine Koda. In der Exposition⁴⁷⁶ gibt Kierkegaard den existenz-anthropologischen und existenzphänomenologischen Rahmen vor. Die Hauptabschnitte konnotieren das Thema auf unterschiedliche Weise. Im ersten Abschnitt⁴⁷⁷ wird die Geduld selbst wie auch die sich daran knüpfende existenzielle Aufgabe und Bewegung näher bestimmt. Der zweite Abschnitt⁴⁷⁸ stellt die Geduld in Beziehung zu ihrer Negation, der Ungeduld; der dritte Abschnitt⁴⁷⁹ stellt die Geduld in ihrer spezifischen Erbauung (Trost) heraus. Die Koda⁴⁸⁰ beschließt die Rede mit der „Mahnung“, dass die Geduld ein Vollzug des Individuums ist und bestimmt die Rede als eine zur eigenen Handlung anleitenden Aneignungsschrift. Inhaltlich sind die strukturellen Überlegungen der Erwerbsrede in die Bewahrungsrede eingeschrieben. Auch hier sind das Inter-esse, die Wiederholung, ein Verhältnis zur Seele einzugehen, heißt, ein Verhältnis zur Transzendierung des Lebens als den dem Menschen übergeordneten Zusammenhang einzugehen und von dort her zu verstehen. Indem die Seele „von Gott“ gegeben wird, ist die Seele der in die Immanenz verlagerte Grund des Daseins, ohne der Grund des Daseins zu sein. Denn die Seele ist zwar das Ewige im Menschen, aber gleichfalls an die Zeit und Endlichkeit gebunden. Die Seele ist lediglich das Abbild des Grundes, aber als solches der Zugang des Menschen zum Grund des Daseins (Gott). – Diese Mittlerfunktion der Seele zwischen Mensch und Gott wird bei Climacus in den Begriff der Innerlichkeit und damit in eine existenzielle Existenzweise implementiert. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass die Innerlichkeit bei Climacus Ausdruck des theologischen Begriffs Seele ist, wobei der strukturelle Unterschied darin besteht, dass die Innerlichkeit sich als existenzieller Vollzug durch Prozessualität und Fluidität charakterisiert, während die Seele nur im Zusammenhang mit dem existenziellen Vollzug der Geduld diese strukturelle Charakterisierung annimmt.  SKS 5, 185 – 205/ 2R44, 95 – 118.  SKS 5, 185 – 190/ 2R44, 95 – 101.  SKS 5, 190 – 195/ 2R44, 101– 107.  SKS 5, 195 – 201/ 2R44, 107– 114.  SKS 5, 201– 203/ 2R44, 114– 117.  SKS 5, 204 f. / 2R44, 117 f.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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das Gottes-Verhältnis zentral. Der Unterschied zur Erwerbsrede besteht vordergründig darin, dass die Thematik dessen, was die Seele ist, in den Hintergrund und die Geduld noch stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Diese Gewichtsverlagerung bringt es mit sich, dass weniger eine von ontologischen Grundannahmen her gedachte Anthropologie verfolgt wird, sondern – diese einbeziehend – eine existenzielle Deutung dessen vorgenommen wird, was es bedeutet, mit einem Selbst-Verhältnis vor Gott zu leben. Dabei geht Kierkegaard von der Prämisse aus, dass dieses existenziell-religiöse Verhältnis nichts ist, was beständig ist, sondern beständig erarbeitet werden muss. In diesem von verschiedenen komplexen Sachverhalten durchdrungenen Erarbeiten besteht die Aufgabe des Bewahrens. So heißt es in der Exposition: „[W]as man nicht bewahrt, das kann man ja verlieren.“⁴⁸¹ Kierkegaard gibt mit der Bewahrungsrede – unter der Voraussetzung einer existenziell-religiösen Engführung – eine Abhandlung darüber, was Verlust kennzeichnet, wie mit Verlust umzugehen ist und was durch das Bewusstsein des Verlieren-Könnens entstehen kann. Das schon für die Erwerbsrede wichtige Topos des „Verlierens“ wird also in der Bewahrungsrede nicht nur aufgegriffen, sondern unterstrichen und dabei als grundsätzliche Bedingung für eine bewusste Lebensgestaltung herausgehoben.

Gefahren des Verlustes Kierkegaard thematisiert die „Gefahr“ des Verlusts des existenziellen Selbst-Verhältnisses (Seele) anhand zweier Existenzphänomene: dem Augenblick und der Ungeduld. Der Augenblick wird als „Augenblick des Schreckens“⁴⁸² als „äußerste[r] Rand“ [Yderlighed] des Verstandes,⁴⁸³ als „Abgrund“⁴⁸⁴ und Moment der „Angst“⁴⁸⁵ bestimmt. Allgemein gesprochen, ist der Augenblick der Moment, in dem die Abhängigkeit des Selbst-Verhältnisses von einer das Selbst setzenden Macht bewusst wird.⁴⁸⁶ In der Bewahrungsrede gelingt dies im Bewusstsein der

 SKS 5, 189/ 2R44, 100.  SKS 5, 185/ 2R44, 95.  SKS 5, 187/ 2R44, 97.  SKS 5, 185/ 2R44, 95.  SKS 5, 187/ 2R44, 97 und öfter.  Diese existenzielle Funktion des Augenblicks gilt für die Bewahrungsrede gerade nicht, weil sie dort einsetzt, wo die Erwerbsrede aufhört: dass sich das Individuum von seinem Ursprung (Gott) her verstehen muss. Es muss kein Selbst-Verhältnis vor Gott eingegangen werden, weil es

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Kontingenz, womit die Möglichkeit des Verlusts des Selbst-Verhältnisses vergegenwärtigt wird und mithin das Abfallen von Gott.⁴⁸⁷ Die „Gefahr“ des Augenblicks ist dann das in die Zeit gedehnte Bewusstsein, dass das Individuum die Kontrolle darüber verlieren kann, sich in einem Selbst-Verhältnis vor Gott zu befinden. Die „Gefahr“ besteht demnach im Individuum selbst, das sich selbst als das Kontingente wahrnimmt und dabei vor den elementaren Krisis-Zustand der Verunsicherung gestellt wird, sich selbst verlieren zu können.⁴⁸⁸ Während der Augenblick systematisch mehr einer abstrakten, aber dennoch existenziellen Instanziierung der Möglichkeit des Selbst-Verlustes entspricht, bringt Kierkegaard mit der Ungeduld eine konkrete Verhaltensweise des alltäglichen Lebens als Ursache für den Selbst-Verlust zur Sprache. Er charakterisiert sie dabei nicht nur dem Begriff nach als Negation der Geduld, sondern ebenfalls in

schon besteht (denn es muss bewahrt werden). Das Individuum existiert schon im Bewusstsein der Abhängigkeit von Gott.  Diese Perspektive gründet in dem Umstand, dass die von Kierkegaard verwendete Terminologie offensichtliche Parallelen zu Vigilius Haufniensis zeigt. Der Augenblick ist von Vigilius her gleichzeitig als reflexionsphänomenologische Vergegenwärtigung von Möglichkeit und als existenzielles Verhältnis zum Ewigen (in der Zeit) charakterisiert. In ihm sublimiert sich die Freiheit des Individuums als auch das Verwiesensein des Individuums auf den Grund des Daseins (Gott). Der psychologische Zustand des Bewusstseins, wenn es vor den unverfügbaren Grund des Daseins gestellt ist, ist bei Vigilius die Angst, in der der Grund als „Abgrund“ und unverstehbares „Nichts“ erscheint, das durch keine Reflexion einzuholen ist, weil der Grund (Gott) das Denken übersteigt. In diesem Sinne ist der Moment des Augenblicks das Verhältnis zur Ewigkeit, in dem das Ewige das Individuum überwältigt. Diesen Kontrollverlust beugt Vigilius zugleich auf den existenziellen Umgang des Individuums (mit sich selbst) zurück. Das Nichts der Angst ist dann die Antizipation der Möglichkeit als doppeldeutige Verzerrung der ausstehenden Zukunft. Die Uneindeutigkeit eigener Zukunft wird als Möglichkeit des Gelingens und Scheiterns und somit als das Kontingente gegenwärtig. Im Augenblick wird diese doppeldeutige Möglichkeit in Abhängigkeit vom Grund des Daseins gedacht, so dass das existenzielle Nichts (Möglichkeit) wie auch das ontologische Nichts (Grund) zusammenfallen und die Freiheit des Individuums, es selbst sein zu können (SelbstVerhältnis), durch das Getragenwerden von Gott (aufgrund der Erfahrung des verbindlichen Ergriffenseins) bestimmt ist.  Anzumerken ist, dass Kierkegaard im Zuge der Thematisierung des Augenblicks auf den Tod zu sprechen kommt. Dabei wird die existenzielle Beschäftigung mit der „Gewissheit des Todes“ (SKS 5, 188/ 2R44, 98) betont, wobei es dabei wiederum um die Lebensintensivierung geht (vgl. SKS 5, 185 f. / 2R44, 95 f.), die implizit als reziproke Bewegung zur ständigen Möglichkeit des endgültigen Abbrechens des Lebens verstanden wird. Durch die Verbindung der Todesthematik mit dem Augenblick hebt Kierkegaard hervor, dass im Bewusstsein der Kontingenz eine ebensolche Lebensintensivierung impliziert ist wie bei der Beschäftigung mit dem Tod. Sich der eigenen Verunsicherung bewusst zu sein und dieser entgegenwirken zu wollen, bedeutet, alle Konzentration auf die Bewahrung des Verhältnisses zu Gott zu fokussieren; das also, worum es Kierkegaard schließlich mit der Geduld geht.

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ihrer existenzphänomenologischen Ausprägung.⁴⁸⁹ Denn die Ungeduld ist sowohl die Zerstreuung⁴⁹⁰ als auch das Weltverhältnis, in dem sich an dem orientiert wird, was aus Erfahrung und Gewohnheit gewiss erscheint.⁴⁹¹ So ist die Ungeduld das Verlangen nach Sicherheit mit der Konnotation der Unbeständigkeit. In ihr wollen aus Zweckorientierung heraus konkrete Ziele erreicht werden, ohne dass eine permanente Arbeit in den Fokus rückt. Sie ist damit gerade nicht Ausdruck des Strebens, sondern des Wünschens; also etwas ohne großen Aufwand haben zu wollen.⁴⁹² Daher ist die Ungeduld nicht auf das Gegenwärtige konzentriert, sondern beständig auf das Zukünftige, und in diesem Sinne die Flucht vor der Gegenwart, also in ihrer Unaufmerksamkeit die präexistenzielle Verhaltensweise vor allem (In-Erfahrung-Bringen des) Gottes-Verhältnisses. In ihr besteht demnach auch keine Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit des unbeeinflussbaren Geschehens des Augenblicks, in dem das Individuum durch einen „Bruch“ (Climacus) ins Gottes-Verhältnis gesetzt wird und damit auch keine Aufmerksamkeit auf das in Erfahrung zu bringende Selbst-Verhältnis, das durch Gott getragen ist. In diesem Sinne ist die Ungeduld nicht etwa als ein Fliehen vor der Verunsicherung (sich selbst verlieren zu können) zu verstehen, sondern als das Nicht-Bewusstsein der Verunsicherung und damit die Abwesenheit des von Kierkegaard intendierten Selbst-Verhältnisses.⁴⁹³

Das „Mittel“ zur Bewahrung⁴⁹⁴ Während jedoch ein Mensch dann, wenn alle von Frieden und Sicherheit sprechen, die Gefahr entdeckt, das Entsetzen erblickt, und nachdem er die gesundeste Kraft der Seele angewandt hat, um sich ihrer recht bewusst zu werden, nun wieder mit der Gefahr vor Augen die gleiche Seelenstärke entfaltet und bewahrt wie der, der in der Lebensgefahr kämpfte, die gleiche Innerlichkeit [Inderlighed] wie der, der mit dem Tod kämpfte, ja dann wollen wir ihn preisen.⁴⁹⁵

 Vgl. SKS 5, besonders 198/ 2R44, 110 f.  So heißt es, dass die Ungeduld das „Versteck … im Menschengewimmel“ (SKS 5, 187/2R44, 97) ist; das Teilnehmen „am Treiben …, ohne sich recht selbst zu verstehen.“ (SKS 5, 191/ 2R44, 102)  Vgl. SKS 5, 202 / 2R44, 115.  Vgl. SKS 5, 193/ 2R44, 104. Zum Wünschen: vgl. auch Kapitel 3.2.2.2. Ausgehend davon kann die Ungeduld im hegelschen Sinne verstanden werden: „die Erreichung des Ziels“ zu wollen, „ohne die Mittel zu akzeptieren“ (Hegel, Werke 3, S. 33). Demgegenüber besteht die Geduld bei Hegel in der „Arbeit“ (ebd., S. 16) und darin, „die Länge d[]es Weges zu ertragen …“ (ebd., S. 33) – also in dem, was Kierkegaard „Ausdauer“ (SKS 5, 426/ DRG, 155) nennt.  Vergleiche auch Kierkegaards Beispiele zum Verlust der Seele: SKS 5, 190 f. / 2R44, 101 f.  SKS 5, 190/ 2R44, 101.  SKS 5, 186/ 2R44, 96.

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Kierkegaard beschreibt hier einen Existenzumgang, bei dem es darum geht, das Ewige im Menschen (Seele) zu suchen, als wäre es das letzte, was im Angesicht des Todes getan werden kann. Die Innerlichkeit wird hierbei durch energetischen Aufwand und Bejahung als „Seelenstärke“ und somit als Intensität und Hingabe bestimmt, mit der die „Gefahr“ des Selbst- und Seelen-Verlustes ausgehalten wird. Sie ist somit dasjenige widerstandsfähige Bewusstsein, in das Kontingenz, Tod und Ungeduld bewusst gemacht und einbezogen sind. Ex negativo zeigt dies auf das Selbst-Verhältnis vor Gott, das dann einen Existenzumgang (Geduld) bestimmt, in dem die Gefahr das Individuum etwas „angeht“ (Interesse), so dass sich im „Ernst“ permanent die „Gefahr“ vor Augen geführt wird.⁴⁹⁶ Der Ernst ist somit gerade die „Seelenstärke“, die Innerlichkeit, deren Umsetzung die Geduld ist, die wiederum den existenzpragmatischen Vollzug des Verhältnisses zum Ewigen im Menschen, der Seele, beschreibt⁴⁹⁷ und somit als Bewusstseinshandlung zwischen Reflexion und Erfahrung verortet ist.⁴⁹⁸ Gegenüber der Erwerbsrede wird die Geduld dabei zusätzlich als Leiden bestimmt: Die „Geduld ist ebenso handelnd wie leidend und ebenso leidend wie handelnd.“⁴⁹⁹ Unter Einfassung der Unverfügbarkeit und Möglichkeit des Verlierens ist die Geduld dann das beständige Aushalten⁵⁰⁰ des Leidens und zugleich  Vgl. SKS 5, 187/ 2R44, 97.  Vgl. SKS 5, 189/ 2R44, 99. Wie in der Erwerbsrede sind dabei Anfang, Ende und Prozess miteinander verschränkt. Deshalb spricht Kierkegaard auch davon, dass „die Geduld das Erste und die Geduld das Letzte“ (SKS 5, 190/ 2R44, 101) ist und dass der Vollzug der Geduld sich so äußert, dass die Seele von Geduld „umschlungen“ [beknyttet] (SKS 5, 195/ 2R44, 107) ist. Die Geduld ist also gerade das existenzielle Abbild des Ewigen im Leben, der Seele, die das Abbild des Göttlichen ist. Und eben weil sie lediglich Abbild des Abbildes ist, steht sie in Gefahr des Verlustes, indem sich „die Zeit … scheidend zwischen das Letzte und das Erste [legt]“ (SKS 5, 191 / 2R44, 102). Die Zeit, das reine Vergehen, und die Ungeduld angesichts des Vergehens sind es, die das mögliche Ewige (Geduld) „gefährden“.  Kierkegaard notiert (vgl. SKS 5, 191/ 2R44, 102), dass das „Überlegen“, also die Reflexion, die Notwendigkeit für das Existieren darstellt – und dass die Reflexion unmittelbar mit der Geduld verknüpft ist, also mit der durch Interesse getragenen Beständigkeit der Durchführung. Hierbei wird nicht nur die Geduld als Bewusstseinshandlung, sondern auch das Verhältnis von Denken, Durchführung und Verbundenheit bestimmt. So ist Existieren, die Geduld, eben auch und vor allem ein beständiger Prozess des Geistes: Innerlichkeit, also eine auf Kontinuität gesetzte Durchführung verbindlicher Ewigkeits-und-Selbst-Zentrierung.  SKS 5, 190/ 2R44, 101.  Flemming Harrits macht darauf aufmerksam, dass das dänische Wort „Taalmod“ (Geduld) den Mut zum Leiden bzw. als „ein auf Ertragen eingestelltes Gemüt“ betont. Ders., „Wortwörtlichkeit des Geistes“, S. 127. Zudem zeigt sich an diesem formal-existenziellen Aspekt, dass die Geduld bei Kierkegaard durchaus im Sinne Hegels verstanden werden kann, nämlich als Ertragen und Beibehalten des Weges (vgl. Hegel, Werke 3, S. 33), was bei Kierkegaard gerade bedeutet, dass sich mit Reflexion und Erfahrung im Verhältnis zum Ewigen gehalten wird.

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eine Bewegung, das Leiden überwinden zu wollen und somit, durch das beständige Aufrechterhalten des verwirklichten Bezugs zum Ewigen, Ausdruck des Glaubens. ⁵⁰¹ Die Glaubensbewegung im Leiden der Geduld zielt auf ein gottdurchdrungenes Leben, das gerade daran kenntlich ist, indem gelitten wird. Das Leiden in der Geduld zeigt, dass Gott nicht unmittelbar gegenwärtig ist, so dass die Aufgabe darin besteht, das Bewusstsein von Gottes Gegenwart zu bewahren. Eben dieses Bewahren im ständigen Bewusstsein des Verlusts ist der Glaube.⁵⁰² In der Geduld geht es demnach nicht um das Erfüllen und Erreichen eines bestimmten Zwecks,⁵⁰³ auch nicht um Glückseligkeit,⁵⁰⁴ sondern um eine, wie Kierkegaard sagt, „kraftvolle Gegenwärtigkeit“⁵⁰⁵, die Climacus „das Pathos des großen Augenblicks“⁵⁰⁶ nennt. Das Sich-Halten im Krisis-Bewusstsein (beziehungsweise das beständige Sich-Zurückrufen in dasselbe) sowie die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt und die dabei in Erfahrung zu bringende Intensität und Hingabe sind dann ebenso Eigenschaften der Geduld wie das Bewusstsein, dass die Bedeutung des Lebens nicht nur im Kleinen liegt, sondern zuallererst durch das Kleine offenbar wird; „dass das Entscheidende sich langsam entscheidet, allmählich [lidt efter lidt], nicht in Eile und auf einmal …“⁵⁰⁷ Das Bestreben in dieser Essentialisierung des Momentanen (vgl. Trauungs- und Grabrede) besteht letztlich darin, ständig sich selbst und selbstständig offenbar zu werden als ein Offenbarwerden vor Gott; eine Bewegung der Aufrichtigkeit (vgl. Beichtrede), in der die eigene Fehlbarkeit angenommen und zugleich gegen sie opponiert wird.

Sich dem Leben zuwenden Die Konzentration auf sich selbst als von Gott abhängiges Individuum bestimmt sich dann einerseits dadurch, dass sich nicht an das, was in der Welt ist, gebunden wird (Kierkegaard spricht vom „Mut alles aufzugeben“⁵⁰⁸), andererseits aber dennoch, dass dem Leben und dem, was einem im Leben passieren und begegnen kann, offen entgegengetreten wird: „Nicht Misstrauen gegen das Leben ist es, was

       

Vgl. SKS 5, 195/ 2R44, 107. Vergleiche auch Climacus: Kapitel 2.3.2.4.1. Vgl. SKS 5, 193/ 2R44, 104. Vgl. SKS 5, 198/ 2R44, 110. SKS 5, 196/ 2R44, 108. SKS 7, 365/ DUN, 576. SKS 5, 201/ 2R44, 114. SKS 5, 196/ 2R44, 108.

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die Geduld lehrt“, sondern „Vertrauen zum Leben“.⁵⁰⁹ Die Absicht ist, dass das Leben nicht als zu verneinender Gegensatz zum Ewigen verstanden wird, sondern als etwas, von dem sich zwar zunächst distanziert werden muss, um das Ewige in den Blick zu bekommen, dann aber wieder darauf zurückgekommen wird, um das eigene Leben im Bezogensein auf das Ewige zu gestalten. Kierkegaard intendiert also eine Doppel-Bewegung, wie in Furcht und Zittern, der Trauungsrede und der Unwissenschaftlichen Nachschrift. Diese Rückbewegung in die Zeit ist davon begleitet, dass das Selbst-Verhältnis vor Gott zur Bedingung der Möglichkeit für die Bedeutung des Lebens wird. Denn das Bezogensein auf das Ewige, trotz aller damit einhergehenden existenziellen Schwierigkeiten, ent-leert (füllt) das Dasein.⁵¹⁰ Und diese Ent-leerung ist nicht, wie zu erwarten wäre, die Geduld, sondern – wie in der Trauungsrede – die Liebe: „[D]er, der Gott und die Menschen liebt, er hat beständig noch genug zu tun, selbst, wenn die Not am größten und die Verzweiflung am nächsten ist.“⁵¹¹ In diesem Sinne ist das Selbst-Verhältnis vor Gott die Bedingung für die Zuwendung zu den Menschen und die Geduld eine Existenzpraxis, die letztlich eine auf die Mitmenschen zielende Gestaltung des Lebens impliziert. Die geduldige Zuwendung ist dann eine, in die die eigene Auseinandersetzung mit der eigenen Person so eingeschrieben ist, dass den Mitmenschen mit Toleranz (in Anbetracht ihrer Fehlbarkeit) und Akzeptanz ihrer Eigenständigkeit begegnet wird (vgl. Trauungsrede).⁵¹² Sofern das eigene Dasein durch die Geduld als ein sinnvolles betrachtet und als solches behandelt und gelebt wird, liegt das Erbauliche der Geduld darin, dass der Mensch durch die Geduld für das Leben aufgebaut wird.⁵¹³ Die Handlung zeugt den Gedanken, so dass durch die Geduld das Leben unter veränderten Vorzeichen

 SKS 5, 195/ 2R44, 106.  Im Gegensatz dazu spricht Kierkegaard nämlich in Bezug auf das (entfremdende) Dahinleben – wie Sartre später – von „Ekel“ und „Verzweiflung“ (SKS 5, 200/ 2R44, 113) und meint damit – ebenso wie Constantin Constantius im „Brief vom 11. Oktober“ (Wiederholung) – das Entdecken der Leere, die sich hinter allen endlichen Zwecken, der Geschäftigkeit und bloßen Welt-Orientierung verbirgt.  SKS 5, 200/ 2R44, 113.  Deshalb verwundert es nicht, dass für Kierkegaard das Ziel der Bewegung darin besteht, „so zu sein, wie Gott es … bestimmt hat zu sein, weder größer noch geringer.“ (SKS 5, 193/ 2R44, 104) Der Mensch soll ohne Anmaßung, aber auch ohne Abwertung zu sich selbst finden – und sich in Anbetracht der Zuwendung zu anderen Menschen diesen ebenso begegnen.  Meines Erachtens liegt hierin am ehesten die etwas erratische Bedeutung des „Trostes“, zumindest, wenn die von Kierkegaard vorgenommene Kontextualisierung beachtet wird: vgl. SKS 5, 194, 201/ 2R44, 106, 114.

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gesehen wird. Sie liegt dann aller Erfahrung im Leben zugrunde⁵¹⁴ und begleitet die eigene Lebensgestaltung mit aller Aufmerksamkeit des Denkens. Ihre Beständigkeit zeugt einen Blick auf das Leben, der besonders durch das religiöse Existieren betont wird: das Leben als eine Aufgabe zu betrachten, die das einzelne Individuum übersteigt und unmöglich erfüllt werden kann,⁵¹⁵ aber dadurch die Gesamtsicht auf das Dasein verdichtet. Die massive Bündelung des Selbst- und Lebensverhältnisses kennzeichnet die Geduld dann als eine holistische Erfahrung, in der das Dasein nicht nur als Ganzheit in den Blick rückt, sondern von seinen Grenzen her betrachtet auch mit Intensität⁵¹⁶ genutzt wird. Und eben dieser bewusste Blick auf die Bedeutung des Daseins in seiner Zerbrechlichkeit, der „Gefahr“ des Verlustes, benennt die Innerlichkeit, die „Seelenstärke“ der Geduld, also das leidenschaftliche und auf Kontinuität gesetzte Bewusstsein vom Ewigen im Menschen, mit dem gegen die Welt opponiert wird. Innerlichkeit ist demnach jener Modus und Kern der Geduld, durch den zur „Wahrheit“⁵¹⁷ hinter den Erscheinungen und damit zum Leben im emphatischen Sinne vorgedrungen wird: das ewige Leben des reinen Geistes. – Allgemeiner ist dann die die Innerlichkeit einbeziehende Geduld jene Erfahrungskategorie des Geistes, in der die Fülle des Lebens entdeckt und freigelegt wird und sich diesem Leben zugewendet werden will.

3.3.1.3 Geduld in Erwartung: Vermittlung der Religiosität in Fürsorge Geduld in Erwartung ⁵¹⁸ folgt im Hauptteil einer dreigliedrigen Struktur (Exposition⁵¹⁹ und Koda⁵²⁰ sind im Verhältnis zur Bewahrungsrede kurz gehalten). Und sie weist dabei eine eigenwillige Dopplung auf. Kierkegaard stellt drei Fragen,⁵²¹ die er zunächst einzeln thematisiert, um sie dann aber in genau derselben Reihenfolge noch einmal zu stellen und erneut je für sich zu behandeln.⁵²² Aus dieser Strukturierung ist leicht zu erkennen, dass Kierkegaard auf formaler Ebene – ebenso

 „Sie [die Geduld, d.Vf.] sucht keine Bestätigung in jemandes Erfahrung,wird aber, spricht sie, jede Erfahrung hervorragend [herligen] bestätigen …“ (SKS 5, 204 / 2R44, 118)  Vgl. besonders SKS 5, 191 f. / 2R44, 101 f.  Vergleiche auch hier erneut Kierkegaards Bemerkungen zum Tod: besonders SKS 5, 185, 188, 200/ 2R44, 95, 98, 113.  Vgl. SKS 5, 189/ 2R44, 99.  SKS 5, 206 – 224/ 2R44, 119 – 140.  SKS 5, 206 – 209/ 2R44, 119 – 122.  SKS 5, 224/ 2R44, 140.  SKS 5, 211, 213, 215/ 2R44, 125, 127, 130.  SKS 5, 217, 219, 222 / 2R44, 132, 134, 138.

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wie in der Erwerbsrede – eine Wiederholung andeutet. Die Vertiefungsbewegung besteht wie in den beiden anderen Geduldsreden darin, dass die Rede auf das religiöse Existieren zugespitzt wird, hier jedoch unter der Prämisse, dass die dialektische Verknüpfung von Geduld und Erwartung in ihrer existenziellen Bedeutung herausgestellt wird. Der thematische Rahmen der Rede bildet die Figur der Anna.⁵²³ Gemeint ist die im Lukasevangelium genannte Prophetin, die als Bewacherin des Tempels auf den erhofften Messias wartet. Wird in der Bewahrungsrede anhand des Motivs des Leidens das christlich-religiöse Existieren schon in den Blick genommen, so verweist die Figur der Anna nun eindeutig auf die christliche Intention der Zwei erbaulichen Reden 1844. Dennoch muss daran erinnert werden, dass Kierkegaard in den erbaulichen Reden methodisch am ästhetisch-religiösen beziehungsweise an der „Religiosität A“ (Climacus) festhält.

Erwartung am Beispiel Annas Dass Kierkegaard anhand der Figur der Anna und ihrer Beschreibung durch das Lukasevangelium auslotet, was es bedeutet, etwas zu erwarten, weist zunächst auf den stark mäeutischen Charakter der Rede. Anna hat Vorbildfunktion.⁵²⁴ Die Mäeutik des Vorbilds besteht darin, dass von der ästhetischen Betrachtung des Vorbilds auf das eigene Können, von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, vom Denken auf das Sein verwiesen wird.⁵²⁵ Deshalb schreibt Kierkegaard über Anna:

 Emanuel Hirsch übersetzt die von Kierkegaard durchweg gebrauchte Form „Anna“ mit „Hanna“ (zu Hirschs Erläuterung: GW 5, Endnote 222, S. 211). Ich nehme Kierkegaards Formulierung auf.  Das Motiv des Vorbilds wird innerhalb der 18 erbaulichen Reden von 1843/44 häufig aufgenommen. Besonders in der Hiobsrede (erste Rede der Vier erbaulichen Reden 1843) und in der Johannesrede (dritte Rede der Drei erbaulichen Reden 1844) geht Kierkegaard ausführlich darauf ein, welche Funktion und aufbauende Wirkung ein Vorbild haben kann. Zur sokratischen Mäeutik der Hiobs-, Anna- und Johannesrede: Burgess, „Patience and Expectancy in Kierkegaard’s Upbuilding Discourses 1843 – 44“, S. 212– 214.  In der Unwissenschaftlichen Nachschrift vermerkt Climacus (unter Bezug auf Hiob): „Das ethische und religiöse Vorbild soll den Blick des Betrachters nach innen kehren [vende], soll abstoßen, was gerade dadurch geschieht, dass die Möglichkeit als die gemeinsame zwischen ihnen gesetzt wird …“ (SKS 7, 328/ DUN, 528) Das Vorbild ermöglicht nicht nur verborgene Lebenswünsche und damit den Möglichkeitsraum für das eigene Handeln offenbar werden zu lassen, sondern verweist durch sein eigenes Handeln darauf, dass dieses Handeln auch von jedem Einzelnen vollzogen werden kann. Deshalb spricht Climacus von „abstoßen“; das Vorbild stößt auf das eigene Handeln-Können ab, so, dass nicht bloße Imitatio betrieben wird, sondern dass die durch das Vorbild eröffnete Wirklichkeit als das eigene Handeln akzentuiert wird, das durch das Einbringen der eigenen Person bestimmt ist. Kierkegaard/Climacus hat demnach auch Kants

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„Sie ist ja der Gegenstand der Betrachtung, und da ist das im Leben, in das wir unsere Gedanken nicht hineindichten sollen, sondern davon wir selbst lernen sollen …“⁵²⁶ Für den Leser gilt es demnach, diese Mäeutik zu verstehen – und: dass die Rede auf die Betrachtung der konkreten Existenzpraxis abzielt. Dementsprechend sind Annas Eigenschaften der „Fürsorge“⁵²⁷, Milde und Demut⁵²⁸, also die Liebe, auf die eigene Person zu übertragen und als Ziel eigener Existenzgestaltung zu verstehen. Gleichfalls, in dem wesentlich komplexeren Sinne, gilt es, Annas Verhältnis zu ihrem verstorbenen Ehemann⁵²⁹ auf die eigene Person anzuwenden. Dass Kierkegaard gerade das Motiv des Verhältnisses zu einem Verstorbenen heraushebt, ist aus mehreren Gründen interessant. Intertextuell gesehen, wird der Tod nicht im Sinne der Bewahrungs- und Grabrede (der eigene Tod) besprochen, sondern im Sinne der 1847 verfassten Rede Der Liebe tun, eines Verstorbenen zu gedenken. ⁵³⁰ Im Gegensatz zu dieser stellt die Erwartungsrede weniger die Trauer,⁵³¹ sondern offensichtlich die Erwartung ins Zentrum. Systematisch werden dabei Zukünftigkeit und Ewigkeit als Beschreibungskriterien der Erwartung wichtig. Dass sich die Erwartung auf etwas Zukünftiges richtet, wird von Kierkegaard klar betont.⁵³² Der Mensch ist durch das Hinausstehen über die Gegenwart bestimmt; durch die Fähigkeit der Antizipation vor die Offenheit des Möglichen

Vorstellung eines Vorbilds im Blick. Denn bei Kant übernimmt das Vorbild gerade die Funktion eines „exemplarischen Urhebers“, der in der Religion nicht durch „allgemeine Vorschriften“, sondern als „Beispiel der Tugend und Heiligkeit“ zur „Nachfolge“ (und nicht zur „Nachahmung“) anleitet, was für Kant bedeutet, dass derjenige, der nachfolgt, „aus denselben Quellen schöpf[t]“ wie das Vorbild, also gerade das gemeinsame Potenzial des Handelnkönnens erkennt (vgl. ders., Kritik der Urteilskraft, § 32, B 139, S. 212 f.).  SKS 5, 210/ 2R44, 123 (Hervorhebung d.Vf.).  SKS 5, 209/ 2R44, 123.  SKS 5, 212 / 2R44, 126  Besonders SKS 5, 209 – 211 / 2R44, 123 – 125.  SKS 9, 339 – 352 / LT, 378 – 392.  Dazu ausführlich: Lincoln, „Äußerung“, S. 421– 433. Das Spannende an Lincolns Ausführungen ist (u. a.) seine implizite Korrektur an Adornos Verständnis der neunten Rede von Der Liebe Tun (ders., „Kierkegaards Lehre von der Liebe“, in ders., Kierkegaard, S. 217– 236); dass Kierkegaard keine auf Ontologie beruhende „inhumane Theorie“ im Sinne einer „paradoxen Lieblosigkeit“ verfolgt (Adorno; ebd., 228), sondern anhand der Trauer eine auf die konkrete Leiblichkeit bezogene Phänomenologie des Liebens im Blick hat (Lincoln).  Vgl. SKS 5, 219/ 2R44, 132. Die an dieser Stelle vorgenommene Formulierung steht in engem Verhältnis zur ersten Rede der Zwei erbaulichen Reden 1843 (Die Erwartung des Glaubens), in der die Erwartung und ihre existenzielle Bedeutung ausführlich mit der Zukunft in Verbindung gebracht werden: SKS 5, 26 f. /2R43, 394 f.

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gestellt.⁵³³ Indem das Erwarten aber zugleich ein in der Gegenwart praktiziertes Verhalten ist, wird eine durch die Zukunft bestimmte Gegenwärtigkeit herausgehoben (ebenfalls ein Motiv, das schon in der Bewahrungsrede anklingt⁵³⁴). Solches Einbeziehen der Zukunft bedeutet nicht nur, Möglichkeiten zu erkennen,⁵³⁵ sondern auch Kontingenz (Andersseinkönnen) einzubeziehen, womit das in den anderen zwei Geduldsreden schon hervorgehobene Krisis-Bewusstsein elementarer Teil der Erwartung ist.⁵³⁶ Gleichfalls ist die Erwartung auf etwas Ewiges gerichtet. Und dies wird besonders durch Annas Verhältnis zu ihrem verstorbenen Ehemann betont, insofern dadurch indirekt ein strukturelles Verhältnis zur Ewigkeit herausgehoben wird. Denn die Fokussierung auf das Verhältnis zu einem Verstorbenen bedeutet für Kierkegaard, sich zu etwas zu verhalten, das nicht gegenwärtig, entzogen, unvergänglich und unzeitlich ist. Indem Kierkegaard Anna hierbei als die Liebende charakterisiert, ist das Verhältnis zum Unzeitlichen ein zutiefst persönliches Verhältnis, das dadurch gekennzeichnet ist, dass das Unzeitliche in der Zeit präsent wird.⁵³⁷ Dies ist insofern von Bedeutung, weil Kierkegaard – wie in der Grabrede – über eine strukturelle Analogie das Verhältnis zur Ewigkeit charakterisiert: Zum Ewigen kann sich nur als das unmittelbar Entzogene verhalten werden, wodurch von Kierkegaard systematisch a) das Getrenntsein vom Ewigen herausgehoben wird; b) das Ewige durch das Verhältnis in der Zeit existenzrelevant wird; c) zwischen der Bedeutung der Ewigkeit und dem Verhältnis zum Ewigen ein dialektisches Verhältnis besteht. Denn das Ewige ist nur dadurch von

 Dazu: Grøn, „Temporality in Kierkegaard’s Edifying Discourses“, S. 198 – 201. Grøn nimmt dabei Bezug auf die Erwartungsrede.  Vgl. SKS 5, 196/ 2R44, 108.  Diesbezüglich ist es interessant, dass Kierkegaard dem Erwartenden folgende Worte in den Mund legt: „[I]ch erwarte, dass das Leben mich selbst lehren wird, wie viel mehr es zu erwarten gibt, als ich je geahnt hätte“. (SKS 5, 212 / 2R44, 126) Demnach ist Erwartung eine Existenzweise, in der das Leben in die Erwartung einbezogen wird, indem aus dem Lebensgeschehen und dem eigenen Umgang mit dem Leben zuallererst die Möglichkeit des Erwartens entsteht, ebenso wie sich erst aus dem Leben heraus die zu erwartenden Möglichkeiten ergeben.  Vgl. besonders SKS 5, 212 f. / 2R44, 126 f.  Ein weitreichender Gedanke ergibt sich hierbei, wenn beachtet wird, dass Kierkegaard das Verhältnis zu einem verstorbenen Menschen an das Erinnern bindet, durch das die Person als der „Verklärte“ im Leben gehalten wird (SKS 5, 211 / 2R44, 124); ein Gedanke, der später von Sartre stark betont wird: der Verstorbene ist den Lebenden ausgesetzt und kann als die Person, die er war, sowohl verklärt als auch deformiert werden.Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, besonders S. 933 f. und 940.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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Bedeutung, weil zu ihm ein Verhältnis eingegangen wird, und es wird ein Verhältnis eingegangen, weil das Ewige von Bedeutung ist.⁵³⁸

Geduld und Erwartung und Sorge Ausgehend von der im Vergleich zur Bewahrungsrede noch schärfer formulierten Abweisung der Ungeduld⁵³⁹ und der platonisch-ontologischen Prämisse, dass die Welt den Ort des Unsteten, Vergänglichen und Veränderlichen darstellt,⁵⁴⁰ ist die Zuwendung zum Ewigen beziehungsweise die „Erwartung auf das Ewige“⁵⁴¹ durch die Abwendung von der Welt bestimmt.⁵⁴² Nicht das Sich-Verlieren in weltlicher Vielfalt, sondern die Fokussierung auf das Beständige liegt der Geduld und Erwartung zugrunde. Kierkegaard betont hierbei sowohl ein onto-anthropologisch situiertes Interesse (dass der Gegenstand der Erwartung „jeden Menschen angeht“⁵⁴³) wie auch den „Ernst“⁵⁴⁴ und hebt damit sowohl die subjektive Bedeutung der Ewigkeit für das Existieren (Inter-esse) als auch die existenzdialektische Überführung des Denkens in das Sein (Ernst) heraus. Der Gegenstand des Interesses ist dabei zwar das Ewige, jedoch in doppelter Bestimmung: zum einen, wie bei Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, die „ewige Seligkeit“⁵⁴⁵, zum anderen die „Fülle der Zeit“⁵⁴⁶, also der „Augenblick“, wie er von Climacus in den Philosophischen Brocken bestimmt wird und den Kierkegaard hier den „Augenblick der Erfüllung“⁵⁴⁷ nennt. Es wird also insgesamt das unmittelbare Bewusstseins des ewigen Lebens betont, dass gerade durch die (existenziell vollzogene) Erwartung auf Kontinuität gesetzt wird.

 Ebenso bei Anna: Ihr verstorbener Ehemann ist für sie von Bedeutung, weil sie sich zu ihm in Liebe verhält, und sie verhält sich in Liebe zu ihm, weil er von Bedeutung (für sie) ist.  Besonders SKS 5, 215, 216, 218/ 2R44, 129, 131, 133.  Vgl. SKS 5, 215/ 2R44, 130.  SKS 5, 215/ 2R44, 129.  Vgl. SKS 5, 215 f. / 2R44, 130.  SKS 5, 216/ 2R44, 131.  SKS 5, 212 / 2R44, 125.  SKS 5, 216/ 2R44, 130.  SKS 5, 218/ 2R44, 134. Sofern Kierkegaard sagt, dass die „Fülle der Zeit“ „Annas Erwartung“ (SKS 5, 218/ 2R44, 134) ist, betont er auch das Paradox-Ereignis, wenn Christus als Sohn Gottes geboren wird, der als Mensch in sich Ewigkeit und Zeit vereint.Von daher muss die Erwartung als Zuwendung zum Ewigen auch unter der Voraussetzung eschatologischer Verheißung verstanden werden, denn das Telos der Erwartung, so Kierkegaard, besteht in der „Auferstehung“ (SKS 5, 216/ 2R44, 130).  SKS 5, 223/ 2R44, 139. Dieselbe Formulierung verwendet Kierkegaard in der Beichtrede: SKS 5, 399/ DRG, 123.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

Kierkegaard geht es in Anbetracht dessen nicht darum, dass auf das ewige Leben gehofft wird (und so ein imaginäres Verhältnis bestünde), sondern das eigene Leben in Anbetracht dieser Hoffnung zu leben. Wie in beiden anderen Geduldsreden kommt es auf den Vollzug, die Existenzialisierung des Ewigen an; eine Bewegung in der Zeit, in der das Ziel der Bewegung in die Bewegung selbst schon eingeschrieben ist, so dass das Leben von der Hoffnung auf Unsterblichkeit durchdrungen ist.⁵⁴⁸ Dabei kennzeichnet Kierkegaard die existenzielle Bewegung des Individuums zum Ewigen als ein dialektisches Verhältnis von Erwartung und Geduld. Denn, so Kierkegaard, „Geduld und Erwartung entsprechen einander [svare til hinanden].“⁵⁴⁹ Die Erwartung wird durch die Geduld ausgebildet und die Geduld durch die Erwartung⁵⁵⁰ – was dem schon erwähnten Verhältnis zwischen existenzieller Bedeutung des Ewigen und dem gelebten Bezug zum Ewigen entspricht. Die Hoffnung auf das ewige Leben ist dann ein als Prozess gefasstes Verhältnis zu Gott, in dem die Möglichkeit des ewigen Lebens von dem verwirklichten Bezug zu Gott abhängt, weil das ewige Leben nur durch diesen Bezug wirklich zu Bewusstsein kommt.⁵⁵¹ Dieser immanente Zirkel zeigt gerade die Reziprozität zwischen Sein und Bewusstsein, Wirklichkeit und Möglichkeit, Geduld und Erwartung und beschreibt – ebenso wie die climacische Innerlichkeit – das von der Intensität des Erwartens gekennzeichnete subjektive Glaubensverhältnis, in dem das ewige Leben durch Gott empfangen werden will.⁵⁵² Und in Anbetracht der permanenten Möglichkeit (von ausstehender Wirklichkeit) heißt geduldig erwarten dann: beständig warten. Die permanente oder, wie Kierkegaard sagt, die „tagtägliche“ Erwartung⁵⁵³ ist die von Zukunft geprägte Gegenwart, in der im Bewusstsein der Möglichkeit und auf deren Wirklichkeit hin existiert wird. Ausgehend von diesem Möglichkeitsbewusstsein verwundert es nicht, dass Kierkegaard in der Erwartungsrede, im Gegensatz zu den anderen Geduldsreden,

 Vgl. SKS 5, 214/ 2R44, 128.  SKS 5, 219/ 2R44, 135.  „Im tiefsten Verständnis ist es die Erwartung selbst, ihr Wesen, das entscheidet, ob ein Mensch geduldig ist oder nicht; denn dessen Erwartung in Wahrheit Erwartung ist, er ist durch sie geduldig … Nur die wahre Erwartung, ebenso wie die Geduld es fordert, bildet auch die Geduld aus.“ (SKS 5, 220/ 2R44, 135)  Kierkegaard beschreibt dies in negativer Form: „[D]ie Erfüllung wird niemals kommen, weil die Möglichkeit im selben Grad abstirbt, wie die Wirklichkeit der Erwartung abstirbt.“ (SKS 5, 220/ 2R44, 135 f.)  „[D]ie wahre Erwartung ist derart, dass sie einem Menschen wesentlich zukommt, und dass sie nicht aus eigener Kraft die Erfüllung bewirkt. Deshalb ist jeder in Wahrheit Erwartende im Verhältnis zu Gott.“ (SKS 5, 220/ 2R44, 135)  SKS 5, 221 / 2R44, 136.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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auf die „Sorge“ zu sprechen kommt.⁵⁵⁴ Denn sie ist Ausdruck für das Möglichkeitsbewusstsein, indem die Möglichkeit der Ewigkeit an den Existenzvollzug gebunden wird (vgl. Beichtrede). Zugleich ist die Sorge der Ausdruck für das SelbstVerhältnis im Verwiesensein an das Ewige (Grund), wodurch nicht nur die Thematik des Augenblicks, wie er besonders in der Bewahrungsrede thematisiert wird, zum Ausdruck kommt, sondern gleichfalls verdeutlich wird, dass die Grund-Erwartung (auf das Ewige) keiner Wahl unterliegt. Die conditio humana ist das Verwiesensein an das Ewige. Aus diesem Blickwinkel ergibt sich, dass Erwartung und Geduld als Verhältnis zum Ewigen durch die Sorge sublimiert werden. So spricht Kierkegaard davon, dass sich das Individuum aus der Sorge heraus in Hingabe zum Gegenstand der Sorge verhält,⁵⁵⁵ was er schließlich dadurch fasst, dass sich das Individuum in der Sorge der Liebe Gottes überlassen soll.⁵⁵⁶ Und eben diese Überlassenheit gibt nun den entscheidenden Hinweis darauf, was die in Geduld vollzogene Erwartung in existenzieller Hinsicht kennzeichnet: Das Loslassen vom Gegenstand der Erwartung bei gleichzeitigem Erwarten; was Kierkegaard (im Kontext der Sorge) selbst betont: „[I]n Geduld bringt er seine Erwartung dar, in Geduld opfert er sie, indem er sie Gott anheimstellt.“⁵⁵⁷ Ausschließlich durch Gott ist die eschatologische Verheißung zu erreichen.⁵⁵⁸ Und die Geduld ist dann also das Vertrauen, durch das das Erwarten gerechtfertigt ist, aber von der Ohnmacht gegenüber dem Gegenstand der Erwartung begleitet wird. So ist die Geduld das Erwarten, bei dem sich nicht auf das Erreichen des Ziels versteift wird.⁵⁵⁹

Selbst- und Fürsorge Werden nun die Bemerkungen zu Geduld und Erwartung an die Ausführungen zur Figur der Anna zurückgebunden, dann ist auffällig, dass Kierkegaard Anna durch Fürsorge charakterisiert, während er in Bezug auf das Individuum allein von

 Vgl. SKS 5, 207, 214 / 2R44, 121, 129.  Vgl. SKS 5, 207 f. / 2R44, 121.  Vgl. SKS 5, 214/ 2R44, 129.  SKS 5, 221 / 2R44, 136.  Vgl. SKS 5, 222 / 2R44, 137.  Ebenso wie bei Climacus ist dies nicht nur eine das Leben durchwirkende Einstellung, sondern zugleich eine erbauliche Bewegung. Denn nicht Selbstbehauptung, sondern die Nichtswerdung vor Gott ist das Ziel der Bewegung (vergleiche die Koda der Rede), also das Getragenwerdenwollen von Gott. Wird dies in Verbindung zur Figur der Anna gesetzt, so zeigt sich, dass eben die in Liebe zu Gott vollzogene Nichtswerdung eine mäeutisches Telos der Erwartungsrede ist, denn Annas „demütige Selbstverleugnung“ (SKS 5, 212 / 2R44, 126) ist ein durch das Vorbild gegebenes Aneignungsziel (für den Leser).

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

der Selbstsorge spricht. Bei aller mit der Figur der Anna einhergehenden Mäeutik verfolgt Kierkegaard dabei, gewissermaßen als Fortsetzung der Bewahrungsrede, folgenden Gedanken: Die Fürsorge ist Ziel allen Existierens,⁵⁶⁰ beruht aber auf der Voraussetzung der Selbstsorge. Dies hat zunächst zur Folge, dass jegliches ethisches Handeln unter der Voraussetzung geschieht, dass der andere ebenfalls zur Selbst- und Fürsorge fähig ist. Die eigene Selbstsorge wird so nicht nur zum Maß für den Umgang mit dem Anderen, sondern auch die eigene Fürsorge zum Maß des Umgangs der anderen mit mir. Wie die anderen auf mich, so bin ich auf die anderen angewiesen. Dieser Blick entspricht einer Entgrenzung der eigenen Person auf andere Menschen, ohne deren Eigenständigkeit zu nivellieren. Es zeigt Kierkegaards implizierte Hoffnung, dass alle Menschen zum gleichen ethischen Handeln fähig sind. Von dieser anthropo-ethischen Überlegung abgesehen, gilt in religiöser Hinsicht, dass die demütige Liebe zu Gott (Selbstsorge) als Bedingung der Zuwendung zu Mitmenschen betrachtet wird. Das heißt, dass die Verantwortung, die man für sich selbst aufbringt, um vor Gott offenbar zu werden, in die eigene Fürsorge übertragen wird. Es geht dann ebenso wie im Verhältnis zu Gott um das eigene Handeln, ohne das Widervergelten erwartet wird,⁵⁶¹ also um die reine Zuwendung (im Gottes-Verhältnis: Hingabe), die den Anderen nicht nur im Denken integriert, sondern ihn auch in seiner konkreten Wirklichkeit, Leiblichkeit erkennt und anerkennt. In dieses mitmenschliche Denken der Fürsorge und Nicht-Gleichgültigkeit⁵⁶² wirkt aus dem Kontext der Rede selbstverständlich die christlich-religiöse Vorstellung eines ewigen Lebens hinein – aber in einer ent-transzendierten Form. Denn es geht Kierkegaard um die Überwindung des Todes ⁵⁶³ – eben dadurch, dass jedes Individuum so in das Denken der anderen Individuen integriert ist, dass der Tod durch das Weiterleben der anderen kompensiert wird. Die Erwartungsrede offenbart ihr post-eschatologisches Potenzial. Die Religiosität in Fürsorge, also die enge Verquickung zwischen Ewigkeitsdenken und beständig fortdauernder Interrelationalität, bringt schließlich

 In Bezug auf Anna tritt damit eine große Nähe zur Figur Martha in Meister Eckharts Predigt 86 hervor. Zu Eckhart: Flasch, „Wert der Innerlichkeit“, S. 224– 233.  Vergleiche hierzu die Interpretation Sergio Munoz Fonnegras zu Kierkegaards Auffassung der fürsorglichen Liebe in Der Liebe Tun, die gleichfalls einen solchen mitmenschlichen Umgang betont: ders., Das Gelingende Gutsein, S. 155 – 165 (vgl. Kapitel 1.2.4).  Vgl. auch die Kapitel 2.3.3.4.2/3.  Ein offensichtlicher Hinweis dafür ist, dass Kierkegaard Annas Verhältnis zu ihrem verstorbenen Ehemann so stark betont. Die Überwindung des Todes (im Hier und Jetzt) ist als zentrales Motiv in der Erwartungsrede verankert.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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den Gedanken mit sich, dass das Gottes-Verhältnis in die Beziehung zwischen den Menschen hineinverlagert wird. Gott ist in der fürsorglichen Handlung; die Ewigkeit wird in die Zeit gespiegelt. Die immanente Handlungsstruktur der Fürsorge kann als eine beschrieben werden, die Kierkegaard später in Der Liebe Tun als „Mensch – Gott – Mensch“⁵⁶⁴ benennt, so dass Gott als Zwischenbestimmung zwischen den Menschen nicht nur in die Beziehung zum anderen Menschen hineinverlegt wird, sondern auch als Kommunikationsverhältnis bestimmt ist. Sich in Liebe zum anderen Menschen zu verhalten heißt, das Ewige im Menschen (Seele) zu erkennen und durch die fürsorgliche Handlung eine hypostasierte Kommunikation mit dem Ewigen zu vollziehen. Mit dem zutage tretenden, grundsätzlichen Verhältnis von Ewigkeitskonzentration und Lebenszuwendung sublimiert das Verhältnis von Selbst- und Fürsorge gerade das Verhältnis von Innerlichkeit und Geduld, wie es der Bewahrungsrede nach entwickelt wurde.

3.3.2 Geduld und Innerlichkeit Die Geduld ist ein erbaulicher Existenzvollzug des Individuums. Und eine bewusst allgemein gehaltene Definition könnte lauten: ein auf Offenheit tendierendes SichSammeln im Entschiedensein des in der Gegenwart forcierten und auf Zukunft hin orientierten Handelns. Die Innerlichkeit ist dabei systematischer Teil der Geduld. Was kennzeichnet sie? In der Bewahrungsrede ist die Innerlichkeit der durch energetischen Aufwand forcierte und durch Intensitätserfahrung gekennzeichnete Modus der Geduld, der eine Bewusstseinsbestimmung beschreibt, die nichts anderes als ein (akutes und zerbrechliches) Ewigkeitsverhältnis und gleichfalls die Emphase des Lebendigseins darstellt. Systematisch wird demnach die Aufmerksamkeit auf und Gegenwärtigkeit von Ewigkeit, Leben, Geist und Identität (Selbst) beschrieben.⁵⁶⁵ In der Erwartungsrede vermerkt Kierkegaard dann auch kurz, dass es dem Erwartenden darum gehen soll, dass er „die Innerlichkeit [Inderlighed] im Herzen [bewahre], und die Gegenwärtigkeit des Sinns und die Stille des Gedankens und die Zustimmung der Seele im Gebet …“⁵⁶⁶ Aufmerksamkeit und Gegenwärtigkeit werden hier zu leidenschaftlichem Interesse und religiöser Verbundenheit zugespitzt, was im Zusammenhang mit der Bewahrungsrede gerade bedeutet, dass die  SKS 9, 111 / LT, 119.  Kierkegaard spricht in der Bewahrungsrede von der „kraftvollen Gegenwärtigkeit“ (SKS 5, 196/ 2R44, 108).  SKS 5, 222 / 2R44, 138.

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Innerlichkeit in den Zwei erbaulichen Reden 1844 die Fokussierung und Rückwendung des Individuums auf sich selbst in der Gegenwart darstellt, also das Selbst-Verhältnis, in dem sowohl das Bezogensein auf Gott als auch das Einbezogensein von Gott inbegriffen sind. Die Innerlichkeit ist dann nicht nur das Wissen, von Gott gesehen zu werden und dadurch die existenzielle Bestimmung des Glaubens, sondern auch das Bewusstsein, im Hier und Jetzt verortet zu sein und in dieser Verortung auf sich selbst als ein über sich hinaus verwiesenes Individuum zurückzukommen. Climacus nennt dies das „Pathos des großen Augenblicks“⁵⁶⁷ und versteht darunter ebenso wie Kierkegaard in den Geduldsreden die aus freiwilliger Hingabe praktizierte Überlassenheit an Gott als Bewusstsein der Abhängigkeit von Gott.⁵⁶⁸ Die Innerlichkeit ist als dieser religiös-ekstatische Kern der Geduld ein wesentlicher Pol, von dem her und auf den hin Kierkegaard sein Geduldskonzept entwickelt. Nun geht die Geduld aber nicht in der Bestimmung der Innerlichkeit auf. Vielmehr lässt sie sich unter drei weitere strukturelle und existenzielle Sachkomplexe subsumieren. a) Geduld ist die Aneignung des Selbst-Verhältnisses vor Gott und somit die Aneignung der Innerlichkeit. Als durchzuhaltendes Erarbeiten und Bündeln der Konzentration (des verwirklichten Bezugs zur Ewigkeit) ist die Geduld eine lebenslange Aufgabe, in der das bewusst wird, was schon vorausgesetzt ist. b) Durch Geduld wird dabei nicht nur existenziell eine Transformation des Schon-Seins forciert. Denn als verwirklichter Bezug zum Ewigen ist die Geduld auch ein Krisis-Zustand, der durch das Getrenntsein von Gott als auch durch die Unmöglichkeit, von selbst bei Gott ankommen zu können, gekennzeichnet ist (Leiden). Verunsicherung und Desorientierung der eigenen Selbst-Bestimmung werden jedoch gleichfalls in der Geduld in ein Sich-Verlieren (an Gott) transformiert (Überlassenheit), durch das Gott als Grund des Daseins freigelegt und (sich) von ihm her verstanden wird. c) Als diese erbauliche Bewegung ist die Geduld zunächst eine Abwendung von der Orientierung an weltlichem Geschehen, in der aber das Zurückkommen auf die Welt maßgeblich eingeschrieben ist. Die DoppelBewegung der Geduld kennzeichnet sie als Existenzvollzug eines gottdurchdrungenen Lebens (also als Gegenwärtigkeit von Innerlichkeit) und wird dabei schließlich als Existenzumgang charakterisiert, in dem Selbstbestimmung und Bestimmtwerden, Wirklichkeit und Möglichkeit, Lebensgeschehen und Ewigkeitsbezug vereint und zu einer komplexen Praxis eigener Selbstsorge zusam-

 SKS 7, 365/ DUN, 576.  All dies sind Charakteristika, die grundsätzlich auch für die Bestimmung der Innerlichkeit in den Gelegenheitsreden zutreffen: vgl. Kapitel 3.2.5.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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mengeführt werden, die schließlich in eine über das Erwarten zu erlernende Existenzpraxis expressiver Liebe, der Fürsorge, mündet. Ausgehend von der vorgenommenen Bestimmung der Innerlichkeit zeigt sich die Geduld demnach durch Innerlichkeit getragen und auf Innerlichkeit hinorientiert, stellt aber dennoch die systematisch umfassendere Existenzbestimmung in den Geduldsreden dar. Wird der Blick hingegen von den Geduldsreden abgewendet und auf die climacische Innerlichkeit gerichtet, so zeigt sich, dass die systematischen Charakteristika der Geduld durchaus als Vorwegnahme von jener gelesen werden können. Denn zu deren Hauptmerkmalen gehören ebenfalls Aneignung, Krisis (Leiden) und Erbauung.⁵⁶⁹ Besonders deutlich wird diese Verbindung, wenn beachtet wird, dass die Geduld von Kierkegaard immer unter der Prämisse des persönlichen Bezogenseins auf das Ewige (im Menschen; der Seele) betrachtet wird; es auf die eigene Verbundenheit zum Gegenstand des Interesses ankommt (was ein grundlegendes Merkmal der Innerlichkeit als Selbst-Verhältnis vor Gott ist). Von Climacus her gesehen ist die Geduld dann die „verborgene Innerlichkeit“, die als existenzielle Aufgabe zugleich die eigene Einstellung zur Existenz als religiöse Lebensgestaltung benennt – und dabei die hinter den Erscheinungen verborgene Bedeutung des Lebens, also die Ewigkeit, vergegenwärtigt und in der Zeit abzubilden versucht. Gerade das Einbeziehen des Lebens als konstitutives Merkmal der Geduld charakterisiert sie als eine vom Leben her und auf das Leben hin orientierte Bestimmung des Existierens.Wichtig ist hierbei auch, dass das Individuum durch die Geduld (als die das Leben durchwirkende Praxis eines verwirklichten Bezugs zum Ewigen) einen neuen Blick auf das eigene Leben gewinnt. Weil nämlich sowohl Aneignung als auch Erwartung und damit sowohl das Schon-Sein (Vergangenheit) als auch das Sein-Können (Zukunft) durch die Geduld in der Gegenwart sublimiert werden, ist die Geduld die Bewusstwerdung der Fülle des Lebens, die sich im Moment des Erlebens zeigt. In der Geduld wird die Ganzheit des Lebens im Mo-

 Werden die Geduldsreden einzeln betrachtet, lassen sich systematisch folgende Überschneidungen zur climacischen Innerlichkeit feststellen: Die Erwerbsrede verhandelt das existenziell-religiöse Selbstsein a) unter Einbeziehung einer modallogischen Existenzperspektive (vgl. Kapitel 2.2.3) und b) unter religiös-ekstatischer Perspektive (vgl. Kapitel 2.3.2.2 und 2.3.3.3). Die Bewahrungsrede verhandelt die Geduld im Sinne der existenziell-religiösen Innerlichkeit, die in die existenz-religiösen Phänomene des Leidens und der Liebe dialektisch eingebettet ist (vgl. Kapitel 2.3.3.4). Die Erwartungsrede nimmt unter Aufnahme eines strukturellen Verhältnisses zwischen Tod und Ewigkeit (Grabrede) die Geduld als Doppel-Bewegung von der Bewahrungsrede auf und transformiert deren Struktur (von der Ewigkeit in die Zeit zurückzukommen) in einen ethischen Umgang, in dem das Verhältnis zum Ewigen ein konkretes Bezogensein (Fürsorge) zu Mitmenschen ist (vgl. Kapitel 2.3.3.4). – Demnach geben die Geduldsreden ein für die climacische Innerlichkeit in wesentlichen Punkten vorbereitendes Abbild.

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3 Ausgewählte Reden von 1843 bis 1845

mentanen essentialisiert; es scheint der Grund des Daseins auf. So ist die Geduld zwar ein in die Zeit gedehntes und ein das Leben durchwirkendes Handeln, dessen Ziel aber darin besteht, in die Ekstasis des Verwiesenseins zu gelangen. In solcher Erfahrung der Ohnmacht als Geborgensein wird sowohl die Bedeutung des Lebens als auch die eigene Verortung in diesem bewusst. Und eben dies ist existenzielle Transformation – oder: Erbauung. Hieran anschließend kann nun auch auf die Differenzierung des religiösen Existierens im Verhältnis zwischen den Gedulds- und Gelegenheitsreden hingewiesen werden. In beiden „Reden-Komplexen“ geht Kierkegaard zunächst von den gleichen existenz-systematischen Bestimmungen aus: unter anderem dienen Aneignung, Erbauung, existenzielle Doppel-Bewegung, Liebe, Transformation, Gegenwartsverortung als wesentliche Charakteristika des ethisch-religiösen Existierens und Handelns. Jedoch stehen in den Gelegenheitsreden die Bedingungen des (religiösen und ethischen) Handelns noch stärker im Vordergrund, während in den Geduldsreden die Handlung als funktionale Voraussetzung für den ekstatischen Existenzvollzug betont wird. So unterscheiden sich die beiden „Reden-Komplexe“ auch dadurch, dass die Gelegenheitsreden das Existieren in der Spannung zwischen Beständigkeit und Veränderung thematisieren, während die Geduldsreden es zwischen Ausdehnung (auf die gesamte Zeitlichkeit) und Punktualität („Augenblick“) in den Fokus rücken.⁵⁷⁰ In den Gelegenheitsreden geht es demnach stärker um das existenzdialektische Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, in den Geduldsreden stärker um das dialektische Verhältnis von existenzieller Kontinuität und Konzentration. Der systematische Unterschied besteht darin, dass in den Gelegenheitsreden stärker die Genese des Selbst-Verhältnisses vor Gott und in den Geduldsreden über die Genese das Im-VerhältnisStehen (zu sich selbst und zur Ewigkeit: der Seele) herausgehoben wird. Trotz der unterschiedlich konnotierten Betrachtungsperspektive geht es beide Male um die Ganzheit der existenziellen Wirklichkeit als Selbst-Verhältnis vor Gott (Innerlichkeit) und dabei immer auch um eine anthropologische Betrachtung der conditio humana als ein durch Widersprüche charakterisiertes Menschsein, das zwischen Zeit und Ewigkeit, Tod und Leben, Schuld und Hoffnung, Vergangenheit und Zukunft (etc.) steht. Und beide Male zeigt sich dabei, dass die (climacische) Bestimmung des Selbst-Verhältnisses vor Gott lediglich eine methodologisch zutreffende Beschreibungsmöglichkeit der religiösen Existenz darstellt, deren Wirklichkeit sich nur innerhalb der konkreten Phänomene zu zeigen vermag. Die Phänomene der Liebe, der Geduld, des Leidens (etc.) sind einerseits Ausdruck des An-sich-selbst-Ausgesetztseins unter Einbezug des Verwiesenseins

 Diese Perspektive der Geduldsreden findet sich auch bei Climacus: vgl. Kapitel 2.2.3.3.

3.3 Ausgewählte Erbauliche Reden von 1843/44

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auf das oder den anderen; andererseits Ausdruck für ein erfahrungsgebundenes Denken, in dem Reflexivität, Affektion und Leiblichkeit eine Einheit bilden. So ist die existenzielle Wirklichwerdung des Individuums in den Gelegenheits- und Geduldsreden (wie bei Climacus) auch an die konkrete, das Individuum umgebende und es beeinflussende Lebenswirklichkeit gebunden. Eine substanzielle Gemeinsamkeit zwischen den Gelegenheits- und den Geduldsreden liegt dann darin, dass die existenzielle Wirklichkeit an die Selbstbestimmung – und zwar nicht nur als aktive Selbstzuschreibung von Qualitäten und deren Durchführung, sondern vor allem als passives Bestimmtwerden – gebunden ist. Die damit einhergehende existenzielle Aufgabe besteht im verwirklichten Bezogensein (auf Gott und Menschen) und Empfangenwollen (Hingabe), kurz: dem Verbundensein (mit dem Ewigen).⁵⁷¹ Und dies ist es schließlich, was die betrachteten Reden systematisch in den engen Zusammenhang zur climacischen Innerlichkeit als erbaulichen Existenzvollzug (als Lebensform des Phänomens Religiosität) stellt.

 Hiervon ausgehend würde sich eine intertextuelle Interpretation zwischen den Geduldsreden, Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, dass Gott siegt (4R44) und der Beichtrede lohnen, in denen die Religiosität im Sinne der Verbundenheit zentral thematisiert wird.

4 Schluss: Definitionsversuch und Ausblick Die vorliegende Untersuchung hat in ihrer exegetisch-rekonstruierenden und unter der strukturell und kontextuell systematisierenden Herangehensweise die begriffsanalytische Komplexität, die bewusstseins- und praxisphänomenologische Betrachtung der Innerlichkeit bei Kierkegaard zusammengeführt. Es wurden dabei anthropologische, identitäts- und handlungstheoretische Bestimmungen sowie existenziell-religiöse Aspekte innerlicher Lebensgestaltung freigelegt. Der Begriff der Innerlichkeit hat sich – aus existenztheoretischem Blickwinkel – als ein philosophischer erwiesen, der das Ganze des menschlichen Verstehenkönnens¹ beschreibt. Ebenso hat sich die theoretische Konzeption der Innerlichkeit als eine philosophische erwiesen, indem sie sowohl auf systematisches Denken als auch auf Lebensorientierung bezogen ist.² Und schließlich hat sich die identitätstheoretische Praxis der Innerlichkeit selbst als eine philosophische Lebensgestaltung erwiesen, in der sich das Individuum zur Frage wird und das InFrage-Stehen aufrecht hält.³ Mit der achronologischen Betrachtung von Kierkegaards Schriften wurde sich in der Bestimmung des Begriffs und der Konzeption der Innerlichkeit von „hinten nach vorn“ vorgearbeitet.⁴ Während die pseudonyme Abhandlung der Innerlichkeit die Spannung von Theorie und Praxis deutlicher einbezieht, nehmen die Reden die Innerlichkeit als zu lebendes und vom Leben her zu beschreibendes

 Ich paraphrasiere: Ernst Tugendhat, „Überlegungen zur Methode der Philosophie aus analytischer Sicht“, in Zwischenbetrachtungen, S. 305 – 317, hier S. 305. Tugendhat hebt die Ganzheitlichkeit des in die philosophische Begrifflichkeit implizierten Verstehens gegenüber den „empirischen Begriffen“ heraus.  Zu dieser Charakterisierung des sowohl methodischen als auch inhaltlichen Umfangs philosophischer Analyse: Deuser, Religionsphilosophie, S. 31.  Zum Offenhalten der Frage als Hauptmerkmal allen Philosophierens: vgl. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, S. 481. Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Innerlichkeitspraxis nicht in dem identitätstheoretischen Aspekt erschöpft, sondern ebenso karitative wie relationstheoretische Aspekte einschließt. Besonders anhand der der Innerlichkeit impliziten Formen der Liebe zeigt sich die weltbezogene, auf den anderen Menschen zielende Praxis.  Die Reden haben sich dabei als ebenso philosophisch relevant erwiesen,weil in ihnen viele der in den pseudonymen Schriften theoretisierten Aspekte in ähnlich komplexer Weise vorliegen, nur dass der theoretisierende Zugang zu den Reden durch ihre existenz-phänomenologische Art und Weise der Präsentation (systematisch, narrativ etc.) erschwert wird. Die pseudonymen Schriften nehmen hingegen eine systematisierendere Perspektive ein, die zwar durch die Einbettung dieser Texte in einem aneignungstheoretischen Kontext immer wieder aufgebrochen wird, was aber dennoch nicht über die Abstraktheit und begriffliche Komplexität hinwegzutäuschen vermag. DOI 10.1515/9783110532036-005

Mitteilungs- und aneignungstheoretisch

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Phänomen wahr. Wird die Untersuchung der Innerlichkeit in die chronologische Reihenfolge der Schriften gebracht, ergibt sich folgende Entwicklung des Innerlichkeitsbegriffs: In den Geduldsreden (1843/44) ist die Innerlichkeit eine von Konzentration und Vergegenwärtigung geprägte Bewusstseinsbestimmung. Systematisch wird dabei eine Amalgamierung von Aktivität (Handlung), Passivität (Verwiesensein) und Emphase (Intensitätserfahrung) pointiert, die zur Beschreibung der Konkretion des Selbst- und Ewigkeitsverhältnisses dient. In den Gelegenheitsreden (1845) ist die Innerlichkeit ein durch „Verborgenheit“ und Weltverwobenheit bestimmter, existenzdialektischer und letztlich ethischer Aneignungs- und Praxisvollzug des Selbstseins (Ernst), das sowohl unter religiösen, sozialen als auch ontologischen Bedingungen steht. Als besondere, systematische Merkmale sind die reflexionsphänomenologische Prozessualität (Beichtrede), die sozial-interdependale Interrelationalität (Trauungsrede) und die Spiegelung des Ewigen im Subjekt (Grabrede) hervorzuheben. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift (1846) wird die Innerlichkeit als ganzheitliche Existenzbestimmung, existenzielles Metaphänomen und in ihrer religiösen Ausprägung als anthropologisches Datum menschlichen Daseins entworfen, in deren Konzeption zugleich das Verhältnis von Theorie und Praxis mitreflektiert wird. Bevor ein Definitionsversuch der Innerlichkeit gewagt wird, sollen die systematischen Bedeutungsebenen des existenzdialektischen Konzepts der Innerlichkeit (ausgehend von Climacus) kurz zusammengefasst werden:⁵

Mitteilungs- und aneignungstheoretisch Innerlichkeit ist ein theoretischer Hilfsbegriff, durch den auf Wirklichkeit verwiesen wird. Bedeutung und Zeichen überlappen sich dabei in ihrer Funktion des Verweisens, so dass Möglichkeiten von Wirklichkeit eröffnet werden (die in die Begriffskonzeption einbezogen sind). Dies geschieht existenziell durch die sozial bedingte, sich aber gleichfalls von forcierender Vermittlung ent-bindende Aneignung (u. a. durch Fiktionalität, systematischem Denken etc.). Strukturell ist sie der individuelle Prozess des Zurückkommens auf die konkrete Welt über den Umweg einer vorherigen Distanzierung von ihr. Die geschehende Katalyse des

 Dabei ist zu beachten, dass die subtilen Verwebungen der Bedeutungsschichten wie auch die praxisphilosophischen Nuancierungen, die vor allem durch die Analyse der Gelegenheits- und Geduldsreden zutage getreten sind, nicht nachgezeichnet werden können.

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4 Schluss: Definitionsversuch und Ausblick

Blicks wird zwar als teleologischer, jedoch nicht als resultativer Prozess (zum Selbst-Verhältnis) verstanden. In diesem Sinne stellt die als Aneignung verstandene Innerlichkeit existenziell das in Freiheit geschehende, permanente und sich stetig intensivierende In-Erfahrung-Bringen des Schon-Seins dar.

Handlungstheoretisch Innerlichkeit ist die Einheit von Absicht und Verwirklichung: die Praxis einer kontinuierlichen Einstellung, Haltung und Beurteilung. Sie beschreibt eine Identifikation mit dem, was getan wird und zwar als reziproke Struktur von Denken und Sein, indem das Denken als handlungsleitende Instanz anerkannt wird und gleichfalls aus dem Handeln Maßstäbe des Denkens gewonnen werden. Im Bereich des Religiösen zielt dies von den ins Bewusstsein verlagerten Aspekten der (durch Gott bedingten) Handlungsfreiheit (Entscheidung) und der Intentionalität (Interesse) auf die äußere Konkretion des Handelns, die der Zuwendung zu Mitmenschen gilt und durch die das Ewige im Handeln – gegen alle systematische Forcierung der „Verborgenheit“ – Ausdruck findet.

Anthropologisch Innerlichkeit beschreibt Weltverwobenheit und Im-Werden-Sein, unter Einbeziehung der conditio humana, verstanden als strukturelles, anthropo-ontologisches Inter-esse, durch das der Mensch als ein Wesen beschrieben wird, das sowohl sich selbst wie auch Unverfügbarem ausgesetzt ist. Durch das in der Innerlichkeit forcierte, bewusste Verwiesensein an die (entzogenen) Pole menschlichen Daseins, den Tod und die Ewigkeit, und die stetige Veränderlichkeit, die Bewegung des Daseins, wird das Wesen des Menschen ambivalent und transitiv begriffen – zwischen Nichts, Sein und Veränderung; Endlichkeit, Unsterblichkeit und Entwicklung. Menschsein ist so das Sein zwischen Aktivität und Passivität, Bezugnehmen und Angewiesensein, Stabilität und Kontingenz.

Identitätstheoretisch Die Innerlichkeit beschreibt einen individuationstheoretischen Vollzug des weltverwobenen Sich-zu-sich-Verhaltens unter Einbeziehung eines das eigene Leben übersteigenden Zusammenhangs, der nicht-religiös in das Korrelat von existenzieller Zeitlichkeit und Sozialität verlegt und religiös als Unsterblichkeit und Liebe

Existenziell-religiös

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bestimmt ist. Sowohl in nichtreligiöser als auch religiöser Hinsicht wird die Identität des Individuums als ein fluider, fragiler Zwischenzustand von Stabilität und Kontingenz, Ganzheit und Fragmentierung charakterisiert, der sich nichtreligiös wie religiös als bewusstes Akzeptieren eines Kontrollverlusts der SelbstBestimmung erweist. Identität kann dann nur paradox als gesammeltes Offensein und konzentrierte Durchlässigkeit bestimmt werden. Und die Innerlichkeit ist das Selbstsein (das in allen untersuchten Texten als ein Verhältnis zu sich selbst bestimmt wurde) – durch ein forciertes Sich-Loslassen und einen dadurch bedingten Transformationsprozess eigenen Personseins.

Existenziell-religiös Als Selbstverhältnis vor Gott⁶ ist die religiöse Innerlichkeit eine strukturtheoretisch hoch komplexe und als solche existenzdialektisch zu verstehende Bewegung: Wirklichkeit im Sinne eines selbst-bewussten, transitiven Existierens⁷ vor dem Hintergrund einer teleologisch zu fixierenden, die Existenz setzenden Macht (Grund). Konkret geht es dabei um eine Lebensgestaltung, die durch das Bewusstsein der eigenen Erlösung als auch des Erkanntwerdenwollens (von Gott) getragen wird. Allgemeiner geht es schlicht um einen durch einen Idealbezug getragenen Lebensvollzug, der sich nicht in der Absorption von Welt erschöpft. Denn insofern der Mensch an die Welt ausgesetzt ist, liegt die religiöse Existenzpraxis der Innerlichkeit darin, äußere Weltverwobenheit und persönlichen Idealbezug ineinander zu falten und deren Verhältnis in einer beständigen Bewegung auszuhandeln und auszubalancieren.⁸ Dabei wird nicht nur Religiosität

 Vgl. SKS 7, 397/ DUN, 618.  Darin liegt auch die reflexionstheoretische Bestimmung der Innerlichkeit. Denn als „Reflexion in sich selbst“ (vgl. SKS 7, 397/ DUN, 618) beschreibt die Innerlichkeit eine erfahrungsgebundene Reflexion des Individuums zu sich.  Als existenziell-religiöser Vollzug stellt die Innerlichkeit zwar eine distanzierende Befreiung von Weltprägung, aber keinen isolativen Quietismus weltloser Praxis dar. Sie beschreibt eine existenzielle Doppel-Bewegung: auf das Ewige hin (wobei die Welt in diese Bewegung dialektisch einbezogen bleibt); auf die Zeit und die Welt zurück. So ist die religiöse Innerlichkeit Ausdruck eines Sich-in-Einklang-Bringens mit dem Grundanliegen religiösen Existierens: den verwirklichten Ewigkeitsbezug in die Weltverwobenheit zu integrieren und in eine Haltung zu transformieren, von der aus im Äußeren gehandelt wird. Neben der Milde (in der Unwissenschaftlichen Nachschrift) zeigt sich dies in der Trauungsrede in seiner stärksten Zuspitzung: Innerlichkeit ist nur unter sozialpraktischen Vorzeichen, dem Einbezug des gegenüberstehenden Menschen (Interrelationalität), die wahre Innerlichkeit, nämlich innere Haltung und weltbezogenes Handeln im

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4 Schluss: Definitionsversuch und Ausblick

aus der Struktur der Existenz heraus verstanden und nicht nur das Menschsein an die Religiosität gebunden, sondern auch der Versuch unternommen, das AmLeben-Sein strukturell umfassend zu beschreiben. Denn religiöse Innerlichkeit ist gerade der Ausdruck für die Einheit von Selbst-,Welt- und Ewigkeits-Verhältnis, in deren Spannung sich das eigene Leben ausformt und von denen her das eigene Leben bestimmt wird.⁹ Indem in solcher Lebensausformung die Ungewissheit Gottes und durch diese die Selbst-Unverfügbarkeit elementare Bestandteile eigener Daseinserfahrung sind, ist das streng existenzielle Moment religiöser Innerlichkeit die Akzeptanz umfassender Ungewissheit und zwar als lebendiger Umgang mit Kontingenz, durch den Halt in der nicht negierbaren Haltlosigkeit gefunden werden will.

Existenzphänomenologisch Aus den die Innerlichkeit bedingenden Phänomenen der Verwunderung, Erwartung und Sorge heraus ist sie Ausdruck der Beschäftigung mit einem Gegenstand des Interesses und der sich durch die erlebte Beschäftigung zeitigenden Veränderung des Individuums (auch durch das, womit sich beschäftigt wird). Durch Leiden, Schweigen, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Dankbarkeit, Geduld sowie die Formen der Liebe (Demut, Milde, Zärtlichkeit, Fürsorge) zeigt sich die Innerlichkeit. Diese Phänomene drücken Einstellungen und Selbstbezüge aus, die unter den anthropologischen Voraussetzungen von Leiblichkeit, Denken, Interesse, Wille und Leidenschaft (Hingabe, Pathos) – und deren Struktureinheit – in die sowohl anthropologischen als auch individuell ausgeprägten Verhältnisse zu Welt und Ewigkeit eingreifen (auch und vor allem unter sozial-ethischen Vorzeichen). Das Erleben (dieser Phänomene) als die phänomenologisch umfassendste Bestimmung der Innerlichkeit, stellt die situationsgebundene und über die Si-

Außen. Innerlichkeit ist gerade keine bloße Innenwelt des Individuums (trotz Kierkegaards systematischer Forcierung der „Verborgenheit“).  Grundlegend ist hierbei, dass das Individuum in seinen kontingenzbehafteten Verhältnissen immer in der strukturellen Ambivalenz steht, auf etwas aktiv und direkt Bezug zu nehmen und gleichzeitig passiv und indirekt verwiesen zu sein. Kierkegaard überführt eben dies in ein komplexes Modell von Individuierung, bei dem Bezogensein und Verwiesensein nicht mediiert werden. Die Dialektik dessen besteht darin, dass sämtliche vom Individuum in der Praxis eingegangenen Verhältnisse von unsynthetisierbaren Widersprüchen geprägt sind und dass in dieser Widersprüchlichkeit sowohl die Erfahrung der Krisis als auch der Katharsis verborgen liegen – und das gleichzeitig, was entschieden betont werden muss.

Wissenschaftliche und methodologische Bedeutung

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tuation hinausweisende Einheit von Reflexion und Gefühl, Denken und Sein, Bewusstsein und Leiblichkeit dar.

Definitionsversuch Innerlichkeit ist ein systematisch auf (ontologisierender) Anthropologie beruhendes, sich im Handeln und in existenzdialektischen Phänomenen zeigendes und sich strukturell auf den Selbst-Bezug gründendes Verwiesensein des Menschen an konstitutive Unverfügbarkeit, das in den Erfahrungs-, Handlungs-, Lebensvollzug und deren Bewältigung verbindlich integriert wird. Indem dies auch und vor allem innerhalb einer subjekttheoretisch geleiteten Handlungstheorie mit normativem Anspruch der Individuation entfaltet wird, es also immer um das Selbst-Werden des einzelnen Menschen geht, das als ständiger Prozess und mit einem strengen Arbeitsethos verwirklicht werden soll, kann die Innerlichkeit als eine identitätsstiftende Lebensform struktureller Religiosität bestimmt werden, in der die Individuation durch Weltverortung und von übergeordneten Sinn-Zusammenhängen her vollzogen wird. Das existenz-systematische Merkmal der so bestimmten Innerlichkeit ist das aus der grundlegenden Erfahrung des Verwiesenseins hervorgehende und auf den eigenen Lebensvollzug zielende Denken in der äußersten Verbundenheit zum eigenen Dasein.

Wissenschaftliche und methodologische Bedeutung Die Innerlichkeit stellt den struktur- und praxistheoretischen Entwurf der systematischen Bestimmung eines existenzpragmatischen Vollzugs dar, der in sich Ausdruck von umfassender menschlicher Daseinserfahrung ist. Als Interpretant für die aus einem als unbedingt erfahrenen (wenn auch beispielsweise in Bezug auf Welt und des darin geschehenden eigenen Lebens noch als bedingt zu bestimmenden) Zusammenhang hervorgehende Individuation werden in die Innerlichkeit die objektiven und subjektiven Bedingungen menschlichen Daseins einbezogen. Unter der Voraussetzung, dass diese die Wirklichkeit menschlichen Lebens bestimmenden Bedingungen zwar theoretisch aufgelistet und zur Diskussion gestellt werden können, bleibt der Mensch dennoch an die nicht-theoretische Konkretion des Leben-Müssens gebunden. Und die Innerlichkeit ist die existenz-anthropologische Kategorie, die so als ein über sich selbst hinausweisender theoretischer Begriff fungiert. Sie stellt konzeptionell den modellartigen Versuch dar, über Handlungstheorie, Anthropologie, Identitätstheorie und existenzielle Phänomenologie nicht nur die conditio humana des vorwissenschaftli-

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chen In-Erfahrung-Stehens festzustellen und zu beschreiben, sondern vielmehr die konkrete Erfahrung als grundlegende Bedingung von „Lebenswelt“ (Husserl) als nicht-reduzierbaren Teil existenz-anthropologischer Theoriegewinnung in die theoretischen Bestimmungen einzubeziehen. Die methodologische Bedeutung liegt darin, dass das Konzept der Innerlichkeit lediglich die theoretische Abschattung umfassender Wirklichkeitskonkretion ist, wodurch das Konzept selbst Ausdruck einer wissenschaftlichen Theoretisierung ist, die nicht als hermetisch in sich abgeschlossen konzipiert wird, sondern das Noch-nicht-Festgestellte und Noch-nicht-Gedachte in die eigenen Aussagen einbezieht.¹⁰ Diese Methode des Sich-Offenhaltens spiegelt sich gleichfalls als grundlegende Erkenntnis existenzieller Lebensgestaltung. In diesem Sinne ist die Konzeption der Innerlichkeit nicht nur Ausdruck des methodischen Vorgehens Kierkegaards, sondern das methodische Vorgehen Ausdruck des Analysegegenstandes.

Ausblick Über die dialektische Verkopplung von Erkenntnis und Methode bei Kierkegaard wurde in der Kierkegaard-Forschung eingehend nachgedacht.¹¹ Dennoch wäre es eine weiterführende Aufgabe, über das Phänomen und Konzept der Innerlichkeit Überlegungen zur philosophischen Theoretisierung anzustellen, die Empirie, systematisches Denken und philosophisch-begriffliche Sublimierung vorwissenschaftlicher Weltverortung zusammenzuführen versucht (und sich dabei nicht nur auf die Mitteilungstheorie Kierkegaards beschränkt). Eine genauere Verhältnis-

 Die Innerlichkeit ist dann gleichfalls Ausdruck dafür, dass die durch Reflexion zutage tretende Widersprüchlichkeit einerseits in der Erfahrung abgebildet wird, und andererseits, dass die Reflexion durch die Erfahrung gespeist wird. In dieser Reziprozität liegt die für Kierkegaards Philosophie grundlegend festzuhaltende Einsicht, dass bei ihm abstrakte Ontologie in eine existenzielle Anthropologie und Phänomenologie überführt wird. So ist die Innerlichkeit Ausdruck einer Existenztheoretisierung, die die Beschreibungsmöglichkeit bietet, mit der menschliche Wirklichkeit als Prozess und Zustand von komplexen und hochgradigen Ambivalenzen erschlossen werden kann. Sie verspricht somit der Schlüssel für eine existenzdialektische Heuristik zu sein, durch die die reziproke Verwebung von Praxis und Theorie, Reflexion und Erfahrung weiträumig erfasst werden kann. Und das schließt ein, dass Religiosität als ein idealgebundener, unbedingter Erfahrungsvollzug nicht ausgespart werden braucht, sondern vielmehr als Möglichkeit menschlicher Wirklichkeit einbezogen bleiben muss.  Exemplarisch sei auf folgende Untersuchungen verwiesen: Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Deuser, Die Philosophie des religiösen Schriftstellers. Ringleben, Aneignung. Schäfer, Hermeneutische Ontologie.

Ausblick

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bestimmung zwischen Kierkegaards Durchführung solcher Theoretisierung und der metatheoretischen Theoriebeschreibung der Semiotik Charles Sanders Peirce’ wäre hierzu ein möglicher erster Schritt.¹² Ausgehend von der oben vorgenommenen These zur Innerlichkeit als strukturell-religiöses Phänomen könnte ein weiterer Schritt darin bestehen, Kierkegaards Konzeption eines religiösen Selbst-Verhältnisses aus der von Kierkegaard eigens lancierten, auf christliches Denken zielenden Theoretisierung noch stärker zu befreien. Hierbei böte die Komplexität von Kierkegaards Systematisierung und Beschreibung des Phänomens Religiosität gleichfalls die Möglichkeit, dasselbe in seinen strukturellen Grundelementen systematisch freizulegen und zur Beschreibung freizugeben. Strukturelle Religiosität könnte dann in der Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität, Unbedingtheit und Bedingtheit, Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, basalen und nicht-basalen Überzeugungen beschrieben werden. Weil Kierkegaards eigene Systematik von ontologisch-metaphysischen Aspekten und erfahrungsgebundener Reflexion des Individuums ausgeht, könnte sowohl die Genese individueller Religiosität als auch existenzielle Lebensorientierung einbezogen werden. Davon ausgehend könnte dann gefragt werden, ob Individuierung strukturell überhaupt ohne einen Idealbezug plausibel gedacht werden kann. Ein eingehender Vergleich zwischen Kierkegaard und den religionsphilosophischen Betrachtungen des amerikanischen Pragmatismus böte möglicherweise weiteres theoretisches Differenzierungspotenzial und könnte gleichfalls zum Ausweisen der Grenzen von Kierkegaards Betrachtung beitragen. Schließlich bleibt die exegetische Aufgabe, den Begriff und die Konzeption der Innerlichkeit in Kierkegaards Gesamtwerk weiter zu analysieren. In welchen Abschattungen liegt die Innerlichkeit in den nicht betrachteten erbaulichen Reden, in Entweder – Oder und vor allem in Kierkegaards Spätwerk, sowohl den AntiClimacus-Schriften als auch den Reden ab 1847 vor? Ist die dort forcierte „verborgene Innerlichkeit“ in dem gleichen systematischen Umfang wie beim „mittleren“ Kierkegaard (1845/46) konzipiert oder finden Zuspitzungen statt, die die Komplexität des in dieser Arbeit aufgezeigten Innerlichkeitsverständnisses unterlaufen oder auch erweitern? Ließen sich die in dieser Untersuchung herauskristallisierten systematischen Bestimmungen der Innerlichkeit auf den frühen

 Peirce würde sich deshalb gut eigenen, weil dessen semiotische Wirklichkeitserfassung die Welt nicht auf ein abstraktes Zeichen- und Codierungssystem reduziert. Denn Wirklichkeit wird erstens immer erfahrungs- und situationsabhängig gedacht und zweitens werden zur menschlichen Wirklichkeit auch Entitäten gezählt, die nicht beschrieben werden können, aber dennoch von unbedingter Relevanz sind (Stichwort: „Erstheit“ und „Zweitheit“). Auch bei Peirce wird das grundlegende Verwiesensein des Menschen ins Auge gefasst.

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4 Schluss: Definitionsversuch und Ausblick

und späten Kierkegaard überhaupt anwenden und wenn ja, in welchen Nuancierungen?

5 Zitation, Quellen und Siglen Die zitierten Stellen aus den Schriften Kierkegaards folgen den Søren Kierkegaards Skrifter (SKS), Redaktion: Niels Jørgen Cappelørn u. a., hg. vom Søren Kierkegaard Forskningscenteret, Kopenhagen: Gads Forlag, 1997 ff. Hervorhebungen und Sonderzeichen entsprechen, wenn nicht anders vermerkt, den SKS. Grundsätzlich sind die Übersetzungen meine eigenen. Zur Orientierung dienen die im Folgenden angeführten Siglen und Ausgaben von Kierkegaards Werken. Die Zitatangabe erfolgt standardgemäß: an erster Stelle die Angabe der SKSAusgabe (mit der Nennung des Bandes); an zweiter Stelle die Angabe der deutschsprachigen Quelle. Sofern bei der Angabe der deutschen Quelle keine der unten angegebenen Siglen zu den Schriften Kierkegaards vermerkt ist, sondern die Angabe DSKE (s.u.), wird die Nennung des Bandes hinzugefügt.

5.1 Deutsche Quellenkorpora von Kierkegaards Schriften In der vorliegenden Arbeit wurden mehrere Korpora von deutschen Quellen verwendet. Im Folgenden werden die einzelnen Korpora nach der Häufigkeit der Verwendung angeführt. a) Bei den folgenden Werken liegen der Übersetzung sowie der Angabe der Seitenzahl die Ausgaben des Deutschen Taschenbuch Verlags zugrunde. Die Siglen wurden zur Unterscheidung von den Siglen zur Standardausgabe (Gesammelte Werke; s.u.) modifiziert. DBA Der Begriff der Angst. In: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Walter Rest, Günther Jungbluth und Rosemarie Lögstrup, vollständige Ausgabe, 2. Aufl., S. 441– 640. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007. DBÜA Das Buch Adler. In: Sören Kierkegaard: Einübung im Christentum. Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen. Das Buch Adler. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. und eingel. von Walter Rest, aus dem Dänischen von Hans Winkler, Walter Rest und Theodor Haecker, vollständige Ausgabe, S. 317– 518. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005.

DOI 10.1515/9783110532036-006

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5 Zitation, Quellen und Siglen

Einübung im Christentum. In: Sören Kierkegaard: Einübung im Christentum. Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen. Das Buch Adler. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. und eingel. von Walter Rest, aus dem Dänischen von Hans Winkler, Walter Rest und Theodor Haecker, vollständige Ausgabe, S. 49 – 267. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. Entweder – Oder. In: Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. Teil I und II. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener KierkegaardGesellschaft, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck, vollständige Ausgabe, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. Furcht und Zittern. In: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Walter Rest, Günther Jungbluth und Rosemarie Lögstrup, vollständige Ausgabe, 2. Aufl., S. 179 – 326. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007. Die Krankheit zum Tode. In: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Walter Rest, Günther Jungbluth und Rosemarie Lögstrup, vollständige Ausgabe, 2. Aufl., S. 23 – 177. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007. Philosophische Brocken. In: Sören Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von B. und S. Diderichsen, vollständige Ausgabe, S. 11– 130. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. Die Wiederholung. In: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Walter Rest, Günther Jungbluth und Rosemarie Lögstrup, vollständige Ausgabe, 2. Aufl., S. 327– 440. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007. Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. In: Sören Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Unter Mitwirkung von Nils Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, hg. von Hermann Diem und

5.1 Deutsche Quellenkorpora von Kierkegaards Schriften

563

Walter Rest, aus dem Dänischen von B. und S. Diderichsen, vollständige Ausgabe, S. 131– 844. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. b) Bei den folgenden Werken liegt der Übersetzung und Seitenangabe die Ausgabe der Gesammelten Werke und Tagebücher (GW 1) zugrunde. Die GW 1 werden nach dem Neudruck des Grevenberg Verlags (Simmerath: 2003 f.) angegeben; seitengleich mit der ursprünglichen Ausgabe der GW, hg. und übers. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag, 1951 ff. Die Siglen folgen den Standardabkürzungen. AUN I – II Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. In: GW 1, 10 – 11. BI Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. In: GW 1, 21. CR Christliche Reden 1848. In: GW 1, 15. DRG Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten. In: GW 1, 8. ERG Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847. In: GW 1, 13. GU Gottes Unveränderlichkeit. In: GW 1, 24. JC Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. In: GW 1, 6. Eine literarische Anzeige. In: GW 1, 12. LA LT Der Liebe Tun. In: GW 1, 14. 2R43 Zwei erbauliche Reden 1843. In: GW 1, 2. 3R43 Drei erbauliche Reden 1843. In: GW 1, 4. 4R43 Vier erbauliche Reden 1843. In: GW 1, 5. 2R44 Zwei erbauliche Reden 1844. In: GW 1, 5. 3R44 Drei erbauliche Reden 1844. In: GW 1, 5. 4R44 Vier erbauliche Reden 1844. In: GW 1, 8. SLW Stadien auf des Lebens Weg. In: GW 1, 9. WS Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller. In: GW 1, 23. c) Den Journal-, NB- und Notizbuch-Aufzeichnungen liegt die Deutsche Sören Kierkegaard Edition (DSKE) zugrunde, hg. von Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser, Joachim Grage und Heiko Schulz, in Zusammenarbeit mit dem Søren Kierkegaard-Forschungszentrum in Kopenhagen, Berlin und Boston: De Gruyter, 2005 ff. d) Zudem wurden folgenden Übersetzungen und Ausgaben verwendet. – Sören Kierkegaard, Zur Rezeption der Nachschrift. In: Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards. Hg. und eingel. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, S. 140 – 147. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.

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5 Zitation, Quellen und Siglen

– Sören Kierkegaard, Die Wiederholung. Übers., mit Einl. und Komm. hg. von Hans Rochol, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2000.

5.2 Weitere Siglen Die vollständige Angabe der folgenden Siglen erfolgt im Literaturverzeichnis. HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie (zitiert mit der Angabe des Bandes). KSYB Kierkegaard Studies. Yearbook (zitiert mit Angabe der Jahreszahl). PJdG Philosophisches Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft (zitiert mit der Angabe der Jahreszahl). RGG Religion in Geschichte und Gegenwart (zitiert mit Angabe des Bandes). TRE Theologische Realenzyklopädie (zitiert mit der Angabe des Bandes).

6 Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. „Kierkegaard noch einmal.“ In Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards. Hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, S. 557 – 575. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979. Adorno, Theodor W. Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Adorno, Theodor W. „Kierkegaards Lehre von der Liebe.“ In Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 217 – 236. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Anderson, Raymond E. „Kierkegaards Theorie der Mitteilung.“ In Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards. Hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, S. 437 – 460. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979. Angermann, Asaf. Beschädigte Ironie. Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität. Kierkegaard Studies, Monograph Series 27. Berlin und Boston: De Gruyter, 2013. Anz, Wilhelm. „Zur Wirkungsgeschichte Kierkegaards in der deutschen Theologie und Philosophie.“ In Die Rezeption Søren Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie. Vorträge des Kolloquiums am 22. und 23. März 1982, hg. von Heinrich Anz, Poul Lübcke und Friedrich Schmöe, S. 11 – 29. Kopenhagen und München: Wilhelm Fink Verlag, 1983. Arendt, Hannah. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Ungekürzte Taschenbuchausgabe, 11. Aufl., München und Zürich: Piper, 2013. Arendt, Hannah. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, 3. Aufl., München und Zürich: Piper, 2015. Arendt, Hannah. Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Hg. von Mary McCarthy, aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter, 8. Aufl., München und Zürich: Piper, 2015. Arendt, Hannah. Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu „Vom Leben des Geistes“. Aus dem Nachlass hg. und mit einem Essay von Ronald Beiner, aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz, 3. Aufl., Berlin und Zürich: Piper, 2015. Arendt, Hannah. Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. von Ursula Ludz, Vorwort von Kurt Sontheimer, 5. Aufl., Berlin und Zürich: Piper, 2015. Aristoteles. Metaphysik, Schriften zur ersten Philosophie. Übers. und hg. von Franz F. Schwarz, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam, 2000. Aristoteles. Rhetorik. Übers. und hg. von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam, 2007. Augustinus. Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11). Latein – Deutsch, eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2000. Augustinus. Suche nach dem wahren Leben (Confessiones X / Bekenntnisse 10). Latein – Deutsch, eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2006. Augustinus. Confessiones / Bekenntnisse. Lateinisch / Deutsch, übers., hg. und komm. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, mit einer Einleitung von Kurt Flasch, Stuttgart: Reclam, 2009. Barthes, Roland. Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. von Hans-Horst Henschen, 16. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2014.

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Personenregister Adorno, Theodor W. 9, 23, 42, 51, 56, 61, 123, 129, 223, 258, 317, 344, 357, 377, 541, 558 Anti-Climacus (Pseudonym Kierkegaards) 141, 223, 283, 304 f., 483, 516, 526, 559 Arendt, Hannah 3, 7, 51, 162, 293, 317, 336, 364 f., 369, 373, 380, 387, 452, 463, 470 Aristoteles 4, 88, 124, 202, 241 f., 244, 251, 256, 322, 439 Augustinus 3 – 6, 43, 158 f., 169, 308, 336, 359, 362, 375, 430, 470 Barthes, Roland 195 f., 347, 373, 465, 472 Bast, Rainer 41 f., 48, 136 Beierwaltes, Werner 251, 256 f. Bjergsø, Michael O. 13, 388, 396, 402, 411, 421, 448, 483, 490, 502, 508, 521, 529 Bloch, Ernst 111 Blumenberg, Hans 5 f., 18, 51, 71, 74, 76, 85, 94 f., 127, 142, 145, 159, 161, 163 f., 167, 195, 209, 245, 317, 326, 336, 338 – 340, 355, 398, 437, 495, 509, 552 Boldt, Joachim 44 – 48, 52 Bösch, Michael 70, 162, 266, 328, 388, 396, 433, 526 Bowles, Paul 212 Buddha 85 Camus, Albert 81, 89 Cappelørn, Niels Jørgen 17, 55, 104, 221, 561, 563 Christoffel, Ulrich 55 f. Christus 99, 116, 119, 229, 284, 290, 292, 411, 543 Climacus, Johannes (Pseudonym Kierkegaards) 8, 21, 25 f., 32 f., 36 – 38, 46, 50, 54, 57 f., 60 f., 63 f., 66, 68, 70 – 81, 83 – 94, 96 – 128, 130 – 159, 161 f., 165, 168 – 170, 173 – 175, 177 – 188, 190 – 202, 204 f., 208 – 215, 217 – 223, 225 – 249, 251 – 263, 266 – 271, 273 – 275, 277 – 280, 282 – 295, 297 f., 300 – 302, 304 – 320, 322 – 347, 349 – 351, 353 – 361, 363 – 376, 378 – 385, 391, 393, 396,

400, 402, 405 f., 408, 410, 413, 420, 424 f., 428 f., 431 – 438, 441 – 445, 448 – 451, 453, 455, 459 – 461, 466 f., 469 f., 472 – 475, 480 f., 483, 485 f., 492 f., 495 – 498, 505, 509, 512, 514, 516, 523, 526, 528 – 532, 535, 537, 540, 543, 545, 548 – 551, 553, 563 Conrad, Joseph 439 Constantius, Constantin (Pseudonym Kierkegaards) 32, 37, 151, 159, 161, 176, 250, 271, 363, 372, 386, 471, 538 Cramer, Konrad 19 Czakó, István 18, 219, 222, 225, 294 Dalferth, Ingolf 220, 225, 262, 293 Dempf, Alois 13, 363 Derbolav, Joseph 152 Descartes, René 6, 10, 140, 145 Deuser, Hermann 4, 9, 13, 17, 25, 28, 35, 44, 52, 60 f., 72, 78 – 80, 85, 87 f., 94, 97, 99, 101 – 104, 111 f., 117, 123, 130, 135, 141 – 143, 161, 174, 182, 211, 213, 216, 230 f., 245, 256, 261, 263, 267, 273, 285, 287 f., 293, 336, 368, 377, 390, 392, 428, 439, 453, 514, 520, 522, 552, 558, 563 Dietz, Walter 266, 490 Dilthey, Wilhelm 13 f., 209 Dunning, Stephen N. 39 f., 48 Epiktet 3, 169, 216, 399 Epikur 423, 492 f. Evans, Stephen C. 8 f., 50, 72, 91, 104 f., 147, 232, 267, 294 Fahrenbach, Helmut 50, 132 f., 138, 219, 234 Feuerbach, Ludwig 143, 218, 225, 355, 493 – 495 Fichte, Immanuel Hermann 53 Fichte, Johann Gottlieb 53 Flasch, Kurt 1, 55, 546 Fonnegra, Sergio Munoz 9, 44, 47 f., 52, 481, 546

Personenregister

Foucault, Michel 8, 113, 149, 157, 217, 261, 280, 290, 320 – 322, 378, 399, 496, 516 Frankfurt, Harry G. 145, 168, 180, 184, 192 Furchert, Almut 5, 9, 132, 134, 254, 280, 300, 314, 328, 337, 392 f., 411 Garff, Joakim 16 f., 43, 70, 102 Gerhardt, Volker 150, 181, 380 Gerichtsrat Wilhelm (Pseudonym Kierkegaards) 133, 157, 166, 168, 184, 186, 249, 265, 302, 306, 354, 373, 390, 444 Glöckner, Dorothea 26, 30 – 39, 44 f., 47 f., 54, 59, 62, 77 f., 111, 147, 157, 172, 189, 213, 221, 242, 246, 294, 322, 459, 483 Gräb-Schmidt, Elisabeth 72, 89, 94, 163 Grøn, Arne 2, 36 f., 50, 61 f., 105, 133, 141 f., 157 f., 164, 169, 195, 206, 222, 259, 269, 293, 307 f., 337, 361, 392, 476, 483, 542 Guardini, Romano 154, 227, 326 Gundert, Wilhelm 80 Habermas, Jürgen 2 Haecker, Theodor 10 – 24, 26, 42, 44, 47 f., 52 f., 56 Hahn, Alois 175 Hannay, Alastair 89, 428 Harbsmeier, Eberhard 43 – 45, 47 – 49, 53, 156, 388, 398 Harrits, Flemming 82, 107, 391, 459, 499, 536 Haufniensis, Vigilius (Pseudonym Kierkegaards) 8, 38, 53 f., 57, 84, 104, 144, 151, 154, 174, 189, 195 f., 230, 251, 256 – 258, 260, 263, 265, 272 f., 278, 282, 299, 309, 315 f., 327, 353, 361, 393, 406, 420, 424, 433, 435, 437, 449, 453, 463, 514 f., 526, 531, 534 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 40, 44, 50 f., 53, 56, 61, 63 – 67, 76, 89, 93, 97, 100, 122, 134 f., 137, 149 f., 159, 165, 181, 203, 218, 236, 254 f., 290, 303, 343, 354 f., 386, 467, 490 f., 528, 535 f. Heidegger, Martin 4, 7, 18, 23, 30, 93, 133, 136, 141 f., 148, 161, 166, 171 f., 177, 219, 245, 247, 272 f., 304, 327, 361, 364, 378, 396, 427, 464, 467, 490, 492 f., 496, 509, 527 Henrich, Dieter 95 f., 264, 295

591

Herms, Eilert 185, 195, 202, 265 Herzog, Werner 191 Heydebrand, Renate von 1, 50, 55, 63, 317 Hirsch, Emanuel 16, 55, 71 f., 98, 101, 154, 391 f., 395, 481, 540 Höffding, Harald 23 f. Hügli, Anton 8, 32, 53, 94, 102, 138 f., 218, 234, 295, 509 Husserl, Edmund 81, 170 f., 199, 558 Jaeggi, Rahel 51 Jain, Krishna 81 f., 128 James, William 97 f., 209, 326, 385 Janke, Wolfgang 10 f., 26, 28, 35, 136 – 139, 156, 180, 203, 235, 293, 302, 326, 346, 365, 378, 439 Jaspers, Karl 137, 165 f., 218 f., 304 Jesus 99, 116, 119, 228 f., 290, 292 Joas, Hans 1, 326 Joyce, James 207 Jung, Matthias 14, 116, 118, 158, 209 Junghans, Hans Martin 153, 243, 248 Kant, Immanuel 6, 10, 28, 53, 71, 88, 90, 150, 162, 215, 284, 287 f., 295, 298, 355, 365, 452, 470, 540 f. Kierkegaard, Sören 1 f., 4 – 26, 29 – 45, 47 – 75, 77 – 108, 110 f., 113, 115 – 118, 121 – 133, 135 – 143, 145 – 147, 150, 154, 156 f., 160 – 162, 164 – 166, 168, 172, 176 f., 182, 184 f., 187 – 189, 201, 203, 206, 210 – 212, 218 – 225, 227 – 229, 231 f., 234, 236, 242 f., 245 – 247, 250 f., 253 f., 256 – 258, 262 f., 265 f f., 268, 272 f., 280, 283 f., 292 – 296, 299, 304 f., 307 f., 310 f., 314, 316 f., 322, 324, 327 f., 335, 337, 341, 344, 347 f., 350, 353 – 358, 361 – 367, 371, 377 f., 380 – 383, 385, 387 – 392, 394 – 455, 457 – 483, 485 – 515, 517 – 550, 552, 556, 558 – 560 Kim, Madeleine 70, 72, 79, 85, 88, 93 f., 138, 234 f., 304 Kleinert, Markus 13, 15, 17, 104, 355, 392 Kracauer, Siegfried 362

592

Personenregister

Krichbaum, Andreas 34, 45, 55, 221, 232, 246, 253 f., 263, 293, 308, 311, 328, 390, 460 Kühnlein, Michael 5 f. Law, David 5, 33, 35, 39 f., 43 f., 222 Leibniz, Gottfried Wilhelm 63, 76, 78 Lenz, Siegfried 336 Lévinas, Emmanuel 374, 380 Lincoln, Ulrich 2, 9, 43, 47 f., 59 f., 87, 102, 180, 312, 381, 482, 541 Luhmann, Niklas 471, 519 Malantschuk, Gregor 221, 381 Marc Aurel 217 Marquard, Odo 495 Martensen, Hans Lassen 353 f. Mead, George Herbert 2, 168, 512 f. Meister Eckhart 50, 55, 351 – 354, 514, 546 Montaigne, Michel de 7 f., 494 f. Niehues-Pröbsting, Heinrich 18, 378 Nietzsche, Friedrich 10, 63, 68, 385 Pascal, Blaise 10, 146, 154, 173, 297, 325 – 327, 492 Paulus 2 Peirce, Charles Sanders 78, 368, 559 Platon 2 – 5, 18, 60, 73, 98, 157, 193, 220, 236, 251, 256, 300, 321 f., 325 f., 345, 364, 373, 378, 399, 432, 439, 477, 516 Purkarthofer, Richard 35, 73, 284, 389 Ringleben, Joachim 8, 35, 72, 83, 141, 154, 176, 269, 305, 332, 558 Šajda, Peter 9, 353 Sartre, Jean-Paul 50, 81, 158, 167, 219, 427, 538, 542 Schäfer, Klaus 61, 70, 75, 101, 106, 139, 144, 151, 185, 228, 234, 285, 306 f., 355, 361, 365, 451, 558 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 53 Schenk, Richard 160, 296, 298, 378 Schleiermacher, Friedrich 4, 34, 37, 45, 54 f., 89, 111, 220 f., 224, 232, 246, 254, 262 f., 293, 308, 311, 328, 390, 460

Schlette, Magnus 104, 156, 168 Schmidinger, Heinrich 26, 45, 139 Schopenhauer, Arthur 10, 68, 83, 111, 257, 260, 280, 316, 330 f., 337 Schreiber, Gerhard 45, 53, 55, 78, 137, 211, 296, 357 Schrempf, Christoph 13, 24, 85 Schulz, Heiko 9, 16, 23, 35, 50, 70, 72, 84 f., 124, 132, 141 f., 182, 186, 206, 221, 225, 294, 371 Schwab, Philipp 43, 70 – 72, 89, 91 f., 94, 208, 388 Seneca, Lucius Annaeus 399 Silentio, Johannes de (Pseudonym Kierkegaards) 38, 145, 316 – 318, 356, 378, 395, 432, 441, 446, 456, 475 Simmel, Georg 172, 298, 355, 372, 385 Sisyphos 324 Sokrates 3, 11, 36, 73, 82, 98, 101 – 103, 119, 130, 176, 182, 220, 258, 284, 307, 321 f., 325 – 327, 345, 448, 506, 540 Søltoft, Pia 69, 81, 366, 388, 392, 482 Sommer, Manfred 6, 142, 172, 251, 257, 259 f., 272 f., 347 Spaemann, Robert 136, 160, 200 Spinoza, Baruch 136, 168, 233, 295, 465, 501 Stewart, Jon 13, 73, 98, 124, 137, 254, 353 Strittmatter, Eva 161, 219 Taciturnus, Frater (Pseudonym Kierkegaards) 54, 66, 137, 209, 279, 311, 361, 363 Taylor, Charles 1, 5 – 8, 64, 230, 236 Theunissen, Michael 23 – 30, 32, 36, 42 f., 48 f., 54, 56, 73, 92, 133, 147, 172, 234, 251, 257, 276, 344, 348, 378, 490, 497, 499 Thonhauser, Gerhard 142, 166, 245, 273 Tolstoi, Leo 10, 493 Tugendhat, Ernst 3, 18, 27, 102, 104, 136, 152, 164, 193, 231, 439, 509, 552 Vetter, Helmuth 344

3, 9, 38, 45, 53, 142, 221 f.,

Personenregister

Waldenfels, Bernhard 71 Wesche, Tilo 73, 83, 140, 162, 188, 327, 451 Wiebe, Christian 15, 17, 23

593

Wieland, Wolfgang 73, 75, 208 Wittgenstein, Ludwig 76, 81, 172 f., 201 f., 336, 388, 402, 493 Zhuangzi

216

Sachregister Abhängigkeit – Abhängigsein (Innerlichkeit) 223, 372 – Abhängigkeit von anderen Menschen 48, 308, 383, 425, 476, 482 f., 486 – Abhängigkeit von Gott 3, 65, 261, 268, 299, 306, 308, 313, 346, 354, 430, 469, 482, 486, 533 f., 537, 548 – Abhängigkeit von der Welt 65, 146, 202 Absolute, das 53, 66, 257, 265 f., 291, 304, 314, 320 – absolutes Telos 311 f., 316 – 318, 320, 330, 304, 314, 320 – absolutes Verhältnis 244, 314, 318 f., 324 Aktivität 22, 111, 151 – 153, 168, 178, 238, 277 – Aktivität und Passivität 35, 67, 130 f., 215, 262, 264, 280, 336, 386, 392, 399 – 401, 415, 425 f., 430, 466, 470, 474, 476, 553 f. Aneignung 4, 12, 14, 35 f., 65, 72, 75, 78 – 80, 82 f., 85 – 87, 89 – 101, 106 – 110, 112 – 114, 117 f., 120, 122 – 131, 165, 182, 201, 207, 212, 219, 224, 229, 256, 262, 264, 268, 283, 293, 306, 314, 319, 358, 374, 376, 389, 391 f., 399 – 401, 405 – 407, 410, 415, 417, 428 f., 449, 486, 491 – 493, 499, 505 – 508, 511 – 513, 516 – 519, 523, 525, 527 f., 548 – 550, 553 f. – Aneignung und Innerlichkeit 108 – 125, 392, 505 – 519, 528, 548, 554 – aneignungstheoretisch 81, 94 f., 97, 103, 125, 128 f., 131, 140, 342, 392, 402, 505, 508, 512, 552 – 554 – gesteigerte Aktualität 82 f., 118, 159 f., 175 f., 200 f., 229, 256, 262, 268, 297, 532 – Neusein desselben (s. auch Transformation) 83, 86, 130, 186, 379 Anfang, der / Anfangen, das 248, 258, 266 – 268, 304, 418, 420 f., 451, 454, 470 – 473 Angewiesensein / Angewiesenheit 45, 47 f., 77, 133, 165, 176, 386, 425, 518, 546, 554 Angst, die 36, 54, 57, 139, 164, 195 f., 260, 299, 310, 315 f., 327, 433 – 437, 444, 446, 454, 474, 533 f.

Annehmen – Annehmen und Innerlichkeit 32, 215, 288, 290, 294 f., 305, 308 – 310, 317, 327, 333 f., 340, 342, 349 f., 374, 386 f., 480 – Annehmen und Leben 32, 219, 372, 382 f., 385, 425 f., 470, 475, 480, 486 – Annehmen und eigene Person 163, 166, 168 – 172, 180 f., 199, 207, 214 f., 217, 219, 301, 305, 309, 355, 386, 482, 485, 529, 537 – Annehmen und Religiosität 105, 139, 264, 267 f., 286 f., 295, 299, 305, 307, 309, 315, 327, 334, 351, 353 – 355, 372, 530 Anstrengung 66 f., 115, 121, 216, 244, 246, 248, 279, 299, 310, 320 f., 323 – 327, 343 f., 352, 360 f., 370, 373, 382, 387, 472, 475 Anthropologie 7, 30, 99, 338, 352, 397, 411, 426, 505, 533, 557 f. – anthropologische Bedingung / Voraussetzung 93 f., 232, 299, 327, 381, 397, 412, 415, 423, 454, 499, 516, 556 – anthropologische Betrachtungsperspektive 41, 53, 141, 232 f., 286, 357, 417, 436, 450 f., 520, 550 – anthropologische Einheit 138, 157 – anthropologische Grundstruktur 93, 138, 144 – anthropo-ontologisch / onto-anthropologisch 61, 146, 231, 237, 276, 299, 314, 330, 339 – 341, 516, 543, 554 – existenz-anthropologisch 141, 213, 231, 280, 300, 336, 382, 532, 557 f. – existenziell-anthropologisch 2, 54, 159 f., 199, 232, 357, 464 – religions-anthropologisch 225, 308, 329, 385, 531 Antike 2, 319, 324, 326, 328, 351, 378 Apotheose 252 f., 256, 265, 269, 279, 296, 329, 345 f., 352, 385 Artikulation 207, 209 – 211, 398 – Sich-Artikulieren 210 – Sich-Hervorbringen 209 f., 219, 482 Askese 46, 68, 306, 337, 363 Aufklärung 53 f.

Sachregister

Aufrichtigkeit 406, 419, 447, 451 – 454, 462 f., 465 f., 469, 474, 478 – 482, 508, 519, 537, 556 Augenblick, der (s. auch Erlösung) 34, 38, 53, 154, 172, 174 f., 179, 186, 189, 245 – 251, 256 – 274, 277 – 281, 285, 291 f., 294 – 296, 300 f., 303 f., 307, 312, 315, 320, 334, 339 f., 342 f., 347 – 349, 351 f., 371, 373, 433 f., 436, 438, 445, 450, 474, 502, 533 – 535, 537, 543, 545, 548, 550 Ausdauer 115, 119, 173, 342, 466, 472, 521, 528 f., 535 Äußere, das 4, 16, 43, 46, 50 f., 69, 81, 84, 114, 168, 179, 187, 189 f., 202, 217, 356, 359 – 361, 364 f., 367, 381, 430, 432, 459, 473, 481, 484, 495, 526, 555 Ausgerichtetsein (s. auch Intentionalität) 27, 149, 152, 188, 247 f., 329 – Ausgereichtetwerden 262, 264 f., 312 Ausgesetztsein 130, 169 f., 316, 337, 384, 397, 399, 415, 424, 426, 464, 499, 514, 516, 550 Autonomie 187, 212, 456, 483 Bedürfnis 259, 331 f., 354, 385, 448, 450 Beichte 419 f., 451 – 454, 457 Bekenntnis 82, 119, 182, 187, 196, 403, 419 f., 425, 430, 451, 454, 457, 463, 488 – Sich-Bekennen 168, 206 f., 419 Bereitschaft 107, 130, 299, 308, 313, 340, 354 f., 382 f., 402, 404, 445, 483 Bescheidenheit 319, 324, 365 f., 385, 556 Bestimmtwerden 130, 170, 305, 312, 315, 351, 354 f., 362, 382, 386, 425, 499 f., 503, 516, 530, 532, 548, 551 Bewahrung 466, 482, 534 f. – bewahren 215, 324, 333, 398, 473, 476, 481, 523, 533, 537 Bewährung 16, 88, 472 f., 485 – bewähren 391, 466, 473 Bewegung (s. auch Kontinuität, Prozessualität, Streben, Werden) – Bewegungsstruktur / bewegungsstrukturell 148, 232 f., 252, 254, 256 f., 265, 269 – 275, 282, 348

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– Bewusstseinsbewegung 150 – 152, 180, 182 f., 200 f., 207, 223, 239, 241, 244, 250, 253 – 255, 284, 312, 406, 494 – 497 – dialektische Bewegung / bewegungsdialektisch 30, 32, 149, 192, 248, 254 f., 269, 278, 303, 343 – 345, 449, 452, 454 f., 457, 514 – Doppel-Bewegung 317 f., 377 f., 381, 484, 538, 548 – 550, 555 – erbauliche Bewegung 504, 531, 545, 548 – Existenzbewegung 153, 226, 242, 245, 249, 253, 271, 275, 319, 344, 378, 451, 498 – Glaubensbewegung 29, 241, 290, 318, 537 – Innerlichkeitsbewegung 453, 484, 520, 526 – kontinuierliche Bewegung 32, 34, 46, 245, 271, 345 – Konversionsbewegung 261, 322, 378 – Kreisbewegung 97, 255 – punktuelle Bewegung 252, 271 f. – reziproke Bewegung 183, 185, 424, 494, 496, 534 – Transformationsbewegung 147 f., 239 – Transzendenzbewegung 29 – vertikale Bewegung 249, 257, 527 – Wiederholungsbewegung (s. Wiederholung) Bewusst-Sein 139, 141, 224, 236 Biographie / biographisch 15 – 17, 39, 101, 113, 119, 157, 165, 167, 175, 210, 223, 230, 308, 410 Buddhismus 1, 80, 221 Conditio humana 1, 81, 83, 93– 95, 105, 125, 128, 138, 207, 222, 231 f., 238, 260, 310, 329 f., 340 f., 356 f., 374, 386, 410, 426, 436, 491, 505, 520, 545, 550, 554, 557 Conditio sine qua non 128, 140, 259, 297, 450 Dankbarkeit 371 f., 379, 385 f., 406, 410, 474, 480 f., 517, 556 Darin-Existieren 141, 151, 181, 183, 191, 197, 200, 213, 226, 236, 240, 277, 279, 314, 378, 407, 426, 430, 478, 481 Demut 370 – 374, 382 f., 485, 507, 541, 545 f., 556

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Sachregister

– demütig 370, 373, 382 f., 507, 545 f. Denken – abstraktes Denken 137, 142 f., 154, 157 – konkretes Denken 137, 142 – 144, 156, 179 f., 182, 199, 210 Dezentrierung (s. auch Zentrierung) 307, 342, 347 f., 356, 373 f., 377 Dialogizität 102 f., 106, 108, 389 Doppelreflexion 71, 80, 90, 95, 143, 208 Durchdrungensein 18, 34, 111, 115, 123, 181, 183, 206, 208, 213, 230, 250, 309, 313, 359, 367, 375, 470, 475, 480, 483, 487, 537, 544, 548 – durchdringen(d) 29, 111, 183, 220, 230, 276 f., 336, 356, 368, 391, 431, 456 Durchsichtigkeit / durchsichtig 22, 36, 42, 65, 110, 133, 165, 206, 214, 306 – Undurchsichtigkeit 167, 211, 219, 306, 469, 511, 518 Ego-Zentrizität 26, 68, 140, 337, 374, 382 Einheit der Persönlichkeit (s. auch Kontinuität) 32, 39, 53, 157, 160, 164 f., 178 Einsamkeit 56, 113, 116 f., 363, 365, 368 Einstellung (s. auch Haltung) 22, 62, 74, 78, 105, 107, 115, 1214, 145, 165, 168, 171, 191, 196, 210, 261, 281, 315, 364 f., 391, 404, 445, 469, 475, 478, 484, 503, 509, 529, 545, 554, 556 Einübung 113, 168, 256, 283, 295, 306 f., 309 f., 313, 316 f., 319, 324, 329, 332, 349 f., 352, 364, 374, 399, 401, 406, 418, 438, 441, 449, 483, 493, 501, 504, 506, 510 f., 529 Ekstase 66, 247, 250 – 253, 255, 260, 278, 281, 347, 351 f., 354, 362, 444, 550 – ekstatisch 22, 34, 67, 160, 177, 247, 249, 251, 253, 255, 257 f., 260, 270, 278, 303, 340, 352, 354, 373, 439, 515, 548 – 550 Empfangen 4 f., 67, 194, 279 f., 296, 299, 305, 308, 310, 323 f., 331, 335, 339, 345, 351 f., 362, 382, 399, 431 f., 438, 445, 455, 486, 516, 544 – Empfangenwollen (Innerlichkeit) 263, 280, 296 f., 299, 305, 331, 335, 338, 345, 347 f., 354 f., 371, 374, 385, 551

Emphase / emphatisch 11, 14, 18 – 22, 26, 29, 36, 52 f., 56, 191, 257 f., 260 – 262, 364, 387, 486 f., 539, 547, 553 Endlichkeit 29, 234, 238, 246, 263, 274 – 276, 284, 286, 300, 315 – 318, 320, 322 – 324, 326, 331 f., 350, 384 f., 397, 429, 456 f., 471, 492, 494 f., 507 f., 532, 554 Entscheidung 27, 83 f., 118, 121, 130 f., 184 – 187, 189, 193, 195 – 197, 211, 219, 228, 241, 245, 250, 258, 262 – 269, 300 – 302, 304, 400, 414 f., 471 – 473, 499, 506, 520 f., 554 – Entscheidung des Todes 415, 425, 499 – 503 – Entschiedenheit (s. auch Kontinuität) 35, 118 – 121, 125, 184 – 189, 191 – 195, 197, 214 f., 217, 238, 245, 250, 254 f., 265 f., 277 f., 281, 288, 291 f., 294, 297 f., 301 f., 305, 310, 324, 365, 472, 475, 485 – Entschiedenwerden 262, 264 f., 267, 301, 416, 474 Entschluss 27 f., 266 f., 401, 413 – 416, 418, 420 f., 425, 458 – 460, 462, 464, 470 – 475, 477 f., 480 – 483, 485 – 489, 494, 499 f., 516 f. Entzogenheit (s. auch Unverfügbarkeit) – Entzogenheit und Annäherung 34, 45, 246, 251, 255, 278, 347, 352, 514 – Entzogenheit des Ewigen 33 f., 38, 114, 122, 246, 253, 258, 270, 279, 292, 313, 330 f., 333, 335, 340, 345, 349, 353, 358, 360, 437, 542, 554 – Entzogenheit Gottes 5, 222, 332, 336, 343 – 345, 350 f., 354, 360, 428 f., 441, 444, 447, 505, 509, 514, 527 – Entzogenheit des Todes 502 – 505, 542, 554 – Entzogenheitsdialektik (s. auch Leidensdialektik) 279 f., 288, 314, 332, 344 f., 355, 359, 373, 385, 438 Epiphanie 258 f., 351 – 353, 386 Epoché 65, 343, 351, 353, 356, 361 f., 371, 386, 436 Erbauung 1, 65 – 67, 99, 233, 261, 281, 290, 304, 308, 327, 332, 343, 349 – 356, 361 f., 368, 371 – 373, 375, 381, 386,

Sachregister

391 f., 434 f., 438, 445, 503, 508, 530, 532, 538, 549 f. Ergriffensein 35, 118, 264, 351, 457, 534 – Ergriffenwerden 53, 263 f., 351, 373, 435 Erinnerung 19, 158 f., 163, 166 f., 176, 178, 199, 203, 206, 210, 338, 448 Erleben 4, 19 – 21, 74 f., 81, 119, 123, 164, 181, 198 – 214, 300 – 306, 392, 423, 444, 471 – 473, 529, 556 Erlösung 99, 105, 107, 116 f., 190, 237 f., 240, 259 f., 270, 274 – 276, 281, 284, 292, 297 – 299, 311 f., 315 – 318, 320 – 327, 331 f., 335, 337, 345, 348, 364, 385, 463, 505, 509 f., 555 – Erlösung in der Zeit (Augenblick) 281, 347 – Erlösungsvorstellung 237 f., 240, 260, 275 Ernst, der 24, 28 f., 38, 57, 66, 103, 107, 115, 183 f., 189 f., 193 f., 196 f., 202, 206, 215, 230, 260, 315, 358, 361, 365 – 367, 374, 403, 405 f., 415 f., 426 – 428, 451, 453, 457, 459, 468 – 475, 478, 480, 482, 492 – 497, 499, 503, 506 f., 510 – 513, 516 f., 536, 543, 553 Erwartung 169, 199, 204, 206, 244, 270, 281, 294, 298, 324, 333 – 335, 371, 474, 507, 521 f., 539 – 545, 547, 549, 556 Erwerben 208, 306, 314, 325, 523 – 531 Ethik 379 – 381, 397, 479, 484, 517 – Ethik der Angewiesenheit 45 – 47, 518 – Ethik des Begegnens 517 f. – Pflichtethik 479 Ethische, das 39, 47, 131 – 134, 138, 150, 180, 184, 222 f., 328 f. Ewigkeitsverhältnis 33, 67, 114 f., 222, 225 f., 237, 245, 248 – 250, 256, 258 – 260, 262, 264, 266, 269, 275, 277 f., 281, 283, 285, 287 f., 291. 293, 301 – 303, 305 f., 312 f., 316, 319, 324, 328, 330, 344, 378, 435, 437, 486, 502, 505, 525, 534, 536, 542, 545, 547, 549 – Existenzialisierung des Ewigen 245, 254, 313, 344 f., 378, 488, 513, 527, 544 Existenz – Existenzbegriff 9, 38, 84 – 87, 89, 91, 126 – 128, 134, 136, 144, 178, 182, 190, 192, 196, 219, 304

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– Existenzdenken 1, 35, 54 f., 79, 129, 355, 487 – Existenzdialektik / existenzdialektisch 27 – 29, 35 f., 49, 55, 60 f., 64 – 67, 69, 79, 86, 88 f., 97, 100, 102, 128 – 130, 132, 135, 137 – 141, 150 f., 155, 181 – 183, 189, 201, 206 f., 214, 224, 236, 253 – 256, 262, 283, 285, 319, 357, 359, 378, 380, 386, 391, 400, 404, 410 f., 415, 426, 451, 460 f., 468 f., 471, 486, 491, 510, 512, 519, 526, 543, 550, 553, 555, 557 f. – Existenz-Durchsichtigkeit 214, 306 – Existenz-Mitteilung 4, 88, 90, 95, 97, 211, 213 – Existenzontologie / existenzontologisch 23, 26, 42, 129, 201, 233, 319, 323, 351, 505 – Existenzpragmatik / existenzpragmatisch 131, 233, 277, 359, 363, 368, 394, 456 f., 464, 471, 514 – 517, 527 f., 536, 557 – Existenzpraxis 59, 68, 223, 377, 381, 446 – 449, 453, 456, 458, 470, 488, 514, 538, 541, 549, 555 – Existenzvollzug 30, 35, 41, 48, 79, 86, 90 f., 97, 115, 124, 126, 128, 130, 135 f., 153, 184, 195, 199, 205, 210 f., 218, 278, 282, 284, 287, 299, 308, 319, 341, 412, 453, 458, 460, 471, 489, 518, 530, 545, 547 f., 550 f. – Existenzsituation 387, 400, 520 – Existenzstruktur / existenzstrukturell 138, 148 f., 232, 245, 249, 255, 269, 271, 273, 275, 304, 311, 329, 344 f., 348, 447, 477, 499, 504, 511, 520, 556 – Existenzweise 86, 127, 132, 134, 186, 207 – 210, 213 f., 222, 225, 362 f., 529, 532, 542 Faktizität 96, 103, 138, 167, 235 f., 258, 275, 468 Fehlbarkeit 37, 319, 342, 375 f., 381, 420, 449 f., 452, 454, 456, 463, 465, 475, 478 – 480, 485, 518, 537 f. Fiktionalität 95 f., 103, 117, 125, 553 Fluidität 97, 154, 165, 253, 278, 309, 497, 519, 528, 532

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Sachregister

Freiheit 3, 30, 84, 130, 157, 165 f., 197, 216, 244 f., 249, 256 f., 263 – 268, 277, 281 f., 291 f., 294, 301 f., 305, 316, 319, 371, 385, 401, 418, 451, 461, 464, 470 f., 488, 506, 510, 512, 514, 517 f., 520, 534, 554 Fülle 24 – 26, 28 f., 224, 257, 470, 539, 543, 549 Ganzheit 28 f., 34, 48, 64 f., 96, 98, 135, 149, 155 – 161, 165, 167, 169 – 171, 176, 178, 198, 200, 203 f., 212, 214 f., 227, 235, 250 f., 254, 274, 276, 280, 302, 309, 342, 372, 426, 466 f., 471, 487 – 489, 505, 510, 524, 539, 549 f., 555 Geborgenheit 51, 116, 184, 290, 308 f., 355, 386, 550 Geduld 58, 64, 66, 331, 335, 466, 493, 521, 523 – 525, 527 – 540, 543 – 545, 547 – 550, 556 Gefühl 2 f., 14, 18 f., 23 f., 29, 35 f., 39, 42, 51, 53 – 57, 66 f., 111, 120, 156 f., 160, 164, 168, 200, 230, 250, 253, 371, 462, 557 Gegebensein 44, 354 f., 379, 386, 431, 482 Gegenwart 6, 17, 24, 28 f., 34, 50, 65, 119, 156, 158 f., 163, 170, 172 – 176, 201, 206, 210, 215, 230, 271 – 278, 282, 303, 317, 366, 373, 490 f., 495, 498, 509, 517, 535, 537, 541 f., 544, 547 – 549 Gelassenheit 216, 287, 310, 355, 365 Geschichte 119, 133, 135, 157, 162 – 164, 166 – 168, 171, 173, 175, 193, 206, 215, 217, 228 f., 493 – Geschichtlichkeit 135, 161, 166, 169, 171, 228 Gewissheit 7, 38, 45 f., 53, 55, 120, 137, 204, 228, 270, 287, 289 – 293, 296 – 298, 305, 327, 334, 337, 355, 357, 390, 416, 442, 465, 496, 534 – objektive Gewissheit 290 f., 405 – subjektive Gewissheit 287, 290, 309, 353 Glaube 266 – 268, 283 – 299 – Glaubensvollzug 65, 227, 266 – 268, 283, 327, 337, 343, 440, 443 – argumentationsloses Überzeugtsein 297 f.

Gleichzeitigkeit (s. auch Vergegenwärtigung) 149, 158 f., 174 f., 177 f., 273, 324, 383, 400 Gottes-Verhältnis 30, 32, 43, 52, 107, 223, 225 f., 231, 238, 261, 282 f., 288, 307, 313, 317, 319, 330, 332, 339, 343 – 346, 348, 350, 352, 358 – 360, 362, 370 f., 373 f., 376, 381, 390 f., 402 – 404, 406 f., 410 f., 413, 416, 418 – 425, 427 – 431, 434 f., 437 f., 441 – 449, 452, 454 – 456, 458, 460 f., 465 f., 470, 474, 480 f., 485, 490 f., 499, 501 – 506, 510 – 512, 514, 520, 527, 533, 535, 544, 546 f. – Getrenntsein von Gott (s. auch Entzogenheit) 430, 447, 449 f., 454, 469, 508, 531, 542, 548 Grund des Daseins 65, 291, 303 – 305, 385, 436, 455, 470, 475, 477, 487, 498 f., 503 f., 520, 532, 534, 548, 550 Haltung (s. auch Einstellung) 115, 124, 132, 141, 145 f., 157, 165 f., 168 f., 171, 173, 178, 180 – 182, 185, 187, 191, 194, 213 – 215, 219, 227, 280 f., 287, 296, 299, 309, 323 f., 331, 334 f., 338, 341, 353 f., 359, 364 f., 368, 374, 379, 382, 384, 387, 399, 438, 472 f., 475, 478 f., 481, 484, 486, 489, 492, 514, 516, 518, 554 f. – Haltung des Annehmens 334, 340 – Haltung des Empfangenwollens 296, 323 f., 331, 335, 338, 354, 516 Handlung 25, 27 – 29, 47, 60, 113, 135, 145 f., 151 f., 177 – 185, 187 – 197, 199, 201, 206, 210, 214 f., 219, 226, 236, 267, 276, 281, 288, 291 f., 298, 314 f., 319, 341, 344, 369 f., 377, 381, 385, 391, 403, 420, 428, 459, 477, 488, 511, 519 f., 532, 538, 547, 550, 553, 557 – Bewusstseinshandlung 179, 181, 369, 377, 536 – Handlungsbegriff 27, 60, 135, 177 – 181, 183, 188 – 190, 192, 196 f., 199, 341 – handlungstheoretisch 45, 48, 57, 92, 181, 197, 341, 552, 554 Hinduismus 221 Hingabe 166, 245, 306, 362, 371, 386, 399, 426, 432, 435, 441 – 443, 447, 449,

Sachregister

454 f., 457, 464 f., 479 – 481, 485, 495, 501, 503, 508, 510, 512, 516, 518, 520, 523, 530 f., 536 f., 545 f., 548, 551, 556 – Sich-Hingeben 64, 347, 354 Hoffnung 111, 296 – 299, 321, 323, 325, 333 f., 339, 385, 467, 471, 475, 505, 544, 546, 550 Hören (s. auch Zuhörer) 4, 110, 212, 360, 362, 398 – 400, 429 – Hin-Hören 362, 400 Humor 38, 105, 116, 122, 220, 311, 328, 359, 363, 367 f., 377, 380 Idealismus 61, 70, 75, 121 f., 137 f., 142, 156 f., 228, 238, 370 Identität 2, 5 – 8, 30, 32, 49, 64 f., 67, 132, 135, 142, 159, 166 – 168, 175, 186, 195, 197, 212, 220 f., 238, 260, 262 f., 302, 304, 347 f., 354, 356, 394, 512, 531, 547, 552, 555 – identitätstheoretisch 2, 8, 49, 52, 54, 57, 60, 67, 223, 343, 347 – 349, 354 – 356, 362, 385 f., 552, 554 Individualität 5, 16, 22, 31, 37, 100, 122, 132, 160, 196, 304, 348, 374, 376, 423, 512 Individuierung 60, 62 f., 135, 347, 356, 386, 435, 530, 556, 559 – Deindividuierung 347, 356, 386, 435, 530 – Individuation 61, 63, 68, 122, 225, 232, 557 – principium individuationis 68 Innen und Außen 2 f., 7, 25, 39 f., 43, 48 – 50, 52, 57, 63, 95, 104, 111, 113, 127, 135, 145, 168, 187, 199, 206, 214, 356, 359, 379, 426, 432, 526 – Innenperspektive 104, 263 Innerlichkeit – Begriff der Innerlichkeit 8, 43, 48 f., 58 f., 109, 127, 532, 552 f. – Deutsche Innerlichkeit 52, 55 f., 111 – Dialektik der Innerlichkeit 454 – 458 – Ent-Innerlichung 484 – Inderlighed (dän.) 25, 56, 173, 413, 478, 516, 535, 547 – Indvorteshed (dän.) 56, 157, 318 f., 506, 516

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– innere Haltung 115, 196, 364 – 367, 476, 489, 555 – innerer Ort 2 – innere Tat 27 – innerlicher Mensch 48, 56, 367 f. – innerliches Existieren 110, 112 f., 115 f., 118, 134 f., 153 f., 175 – 177, 179 – 181, 187 f., 200, 213, 215 – 217, 226, 284, 311, 322 f., 335, 339, 356, 403 – Innerlichkeitspraxis 127, 283, 297, 304, 332, 334, 364, 484, 552, 555 – innerstes Wesen 65, 511 – 513, 515, 520, 526 – Innigkeit 25, 56, 140, 153, 179, 181, 201 – Inwardness (engl.) 1, 5 – 7, 9, 12, 21, 23, 26, 35, 39 f., 377 – Inwendigkeit 56, 111, 309, 319, 506, 516 – Konzeption der Innerlichkeit 2, 4, 6, 8, 49, 51, 57 – 60, 62, 68, 110, 123, 317, 326, 345, 367, 377, 412, 427, 483, 523, 552, 558 f. – leidenschaftliche Innerlichkeit 21 f., 112, 154, 285, 292 f., 333, 372, 520 – religiöse Innerlichkeit 4 f., 50, 52, 54, 110, 114, 119, 121, 213, 216, 220, 223, 225 f., 232, 241, 309 – 311, 327 f., 346, 356, 363, 382 f., 385, 549, 555 f. – verborgene Innerlichkeit (s. auch Verborgenheit) 40, 79, 222, 357, 359, 365, 379, 483, 549, 559 – Verinnerlichung 37, 50, 79, 99, 154, 220, 222, 226, 400 f., 420 f., 431 f., 436, 438, 484, 526 Integrität 366, 380 Intensität 19, 26, 29, 43, 48, 56, 99, 112, 116, 119, 140, 153, 179, 181, 201, 248 f., 255, 279, 288 f., 314, 336, 341, 362, 366, 373 f., 424, 478, 510, 536 f., 539, 544 Intentionalität (s. auch Ausgerichtetsein) 3, 27, 139 f., 140, 150 f., 153, 155, 164, 177 f., 181, 188, 203, 240, 259 f., 274 f., 284, 341, 347, 381, 435, 481, 486, 554 – intentional 140, 150 f., 155, 164, 177 f., 188, 203, 240, 259, 486 Interesse 26, 35, 54, 67, 84, 99, 128, 139 – 144, 150 – 153, 163 f., 172 f., 176, 178 –

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Sachregister

181, 184 f., 188 f., 191 f., 211, 228, 238, 240, 247, 259, 261 – 264, 266 – 268, 270 f., 275, 277 – 279, 282, 284 – 287, 290, 297, 299 f., 303, 314, 330, 343 f., 351, 354, 404, 407, 410, 430 – 432, 434, 441, 443, 450, 454, 457, 464 – 466, 499, 508, 510, 536, 543, 547, 549, 554, 556 – Interesselosigkeit 27, 137, 157, 179, 432 Inter-esse (s. auch Zwischenzustand) 94, 115, 137 – 142, 144 f., 148, 150, 155, 157, 179, 181, 201, 208, 211, 223 f., 231 f., 235 – 237, 246, 252, 254, 256, 273 – 278, 299 – 303, 305, 314, 318, 330, 344, 351, 385, 410, 417, 429, 444, 488, 504, 522, 526 – 528, 532, 543, 554 Interrelationalität 482, 487 f., 515, 546, 553, 555 – interrelational 516 Intersubjektivität 44, 47, 94 f., 389, 482 – intersubjektiv 108, 375, 483 Introspektion 3 f. Islam 221 Jenseits 253, 270 f., 292, 311, 341, 384, 386 Judentum 221 Katharsis 67, 327, 351, 353, 556 Kommunikation 39, 43, 70, 72, 75 – 78, 80, 85 f., 90 f., 95, 101, 109, 124 f., 158, 165, 479, 547 Konformismus 366 f. – Nonkonformismus 216, 323, 368 Kontemplation 111, 123, 154, 278, 455 Kontingenz 161, 554 – 556 – Andersseinkönnen 161 f., 164, 169, 171, 519, 542 – Kontingenz und Innerlichkeit 65, 309, 323, 356, 446, 455, 473, 515 – Kontingenz und Persönlichkeit 83, 162 – 167, 169 – 171, 173, 186, 193 – 197, 217, 303, 309, 323, 337, 342, 356, 366, 457, 465, 468, 472, 519 f., 529, 534, 542 – ontologische Kontingenz 162, 234, 309, 372

Kontinuität – existenzielle Kontinuität 164, 178, 304, 369, 398, 403, 406, 472, 474 f., 484, 504 f., 527, 529, 550, 554 – kontinuierlicher Übergang 239 f., 253, 270 f., 274, 332 – Kontinuität und Ganzheit 160, 173, 203, 489 – Kontinuität und Bewegung 32, 34, 46, 48, 151, 239 – 245, 248, 250 – 253, 254, 270 f., 272, 274 – 276, 277, 287, 313, 345 – Kontinuität und Entscheidung 186 f., 194, 267, 270, 472, 474, 478, 489 – Kontinuität der Person 28, 39, 133, 151, 157 f., 160, 164, 166 f., 170, 175 f., 178, 184, 194, 202 f., 210, 303, 470, 519, 536 – Kontinuität und Lebensvollzug 28, 31 f., 34, 160, 200, 465, 486, 517, 539, 543 – Kontinuität und Zeit 172, 175 f., 186, 257 f., 268, 272, 472 – sublimierte Kontinuität 251, 257, 272 – zyklische Kontinuität 241, 250 f., 270 Kontrolle 7, 162, 309, 368, 425 f., 444, 534 – Kontrollverlust (s. auch Ohnmacht) 298 f., 323, 353, 534, 555 Konvention 132, 217, 364, 432 Konversion (s. auch Umkehr) 261, 322, 378 Konzentration 11, 36, 50, 60, 93, 96, 212, 216, 226, 246, 316 f., 324, 326, 328, 351, 365, 373, 398 – 401, 428, 441, 448, 455, 534, 537, 548, 550, 553 Krisis / Krise 67, 117 f., 121, 186, 192, 194, 309, 327, 336, 462, 531, 534, 537, 542, 548 f., 556 – Krisis-Erfahrung 336 f., 462, 475, 556 Langeweile 54, 132, 139, 164, 462 f. Leben – ewiges Leben 221 f., 230, 238, 316, 325, 384, 436, 539, 543 f., 546 – gottdurchdrungenes Leben 537 – Lebensanschauung 132, 172, 182, 329, 357, 385, 415, 417, 457, 512 – Lebensbejahung 496, 506 – Lebensführung 80, 85, 97, 118, 134, 138, 169, 184, 194, 322, 363

Sachregister

– Lebensform 36, 187, 221, 224 f., 233, 310 f., 329, 390, 551, 557 – Lebensgestaltung 22, 34, 52, 67, 104 f., 123, 145, 148, 162, 187, 193 f., 196, 224 f., 233, 275, 309, 319, 325, 335, 356, 372, 377, 383, 386 f., 391, 406, 410, 413, 415, 424, 429, 431, 433, 452 f., 461, 495, 533, 539, 549, 552, 555, 558 – Lebenshaltung 48, 56, 148, 363, 365, 453, 511, 516, 518 – Lebenspraxis 134, 154, 213, 226, 231, 311, 319 – 321, 323, 327 – 329, 346, 352, 364, 469, 501 – Lebensüberstieg 386 – Lebensumgang 223, 386, 451 – Lebensverhältnis 324, 416 f., 467, 490, 495, 504 – Lebensvollzug 16, 19 f., 28 f., 45, 49, 60, 64 f., 87 – 89, 97, 132, 140, 167, 198 – 200, 217, 237, 295, 315, 325, 332, 384 f., 414, 447, 460, 468, 495, 516, 529, 555, 557 – Lebenszusammenhang 88, 200, 262, 274, 276, 278, 465 – Lebenszuwendung 547 Leere 247, 433 f., 494, 506, 509, 538 Leiden 1, 5, 9, 50, 67 f., 88, 92, 105, 132, 134, 219, 233, 254, 260, 280, 287, 298, 300, 307, 310, 314, 316, 327 – 349, 353 – 355, 359 – 361, 367 f., 371, 374, 385 f., 392 – 394, 411, 438, 445, 463, 483, 508, 531, 536 f., 540, 548 – 550, 556 – Leidensdialektik (s. auch Entzogenheitsdialektik) 1, 5, 329, 332 – 335, 344 Leidenschaft 17 – 23, 33 – 36, 44, 54 f., 66 f., 87, 100, 107, 119, 123 f., 141, 146, 150, 152 – 154, 156 f., 160, 164, 181, 184 f., 187 – 189, 194 – 196, 199 f., 213, 224, 228 – 230, 238, 241 f., 245 – 258, 260 f., 271, 278 – 293, 300, 302 f., 305 f., 308, 310 f., 313, 330 f., 333, 336, 338, 351, 355 – 357, 362 f., 367 – 370, 373 f., 385, 406, 435, 442, 446, 449, 475, 556 – absolute Leidenschaft 222, 324 f., 357 – höchste Leidenschaft 84, 99, 184, 246 – 251, 260, 286, 289, 320 – idealisierende Leidenschaft 241, 245 – irdische Leidenschaft 245, 247

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– unendliche Leidenschaft 35, 247 f., 259, 265, 268, 279 – 281, 284 f., 302, 359 Lernen 38, 44, 102, 110, 113, 117, 165 f., 204, 214, 307, 335, 376, 383, 400 f., 541, 549 Liebe 41, 47, 74, 187, 199, 356, 370 f., 373 f., 376, 380 – 383, 385 f., 397, 406, 421, 424, 449, 458, 462, 464 – 467, 471, 476 – 483, 485 – 489, 501, 503, 515 f., 518 f., 538, 541, 543, 545 – 547, 549 f., 552, 554, 556 Loslassen 130, 270, 278, 280, 292, 294 – 296, 298, 307, 309 f., 335, 355, 371, 377, 385, 445, 455, 457, 530 f., 545 – Sich-Loslassen 347, 555 Mäeutik 11 f., 17, 72 f., 79 f., 82 – 86, 89 – 91, 94, 96 f., 100, 102 f., 105 f., 108, 110, 116 – 118, 123, 125, 127, 131, 224, 229, 306, 376, 378, 383, 389, 396, 402, 407, 490, 502, 540 f., 545 f. – mäeutisch 11 f., 17, 79 f., 85, 90 f., 96 f., 100, 102, 105, 108, 116 – 118, 127, 224, 227, 376, 382, 402, 490, 502, 540, 545 Menschsein 43, 94, 131, 207, 215, 231 – 233, 310, 319, 351, 356, 370, 381, 383, 498, 508, 510, 517, 550, 554, 556 Metanoia 261, 316 Metapher und Innerlichkeit – Grenzmetapher 3, 57 – Raummetapher 2, 57 – Schwangerschaftsmetapher 57, 359 – Wegmetapher 147, 269, 293 Metron (s. auch Telos) 243, 248 – 250, 253 f., 271 f., 276, 281, 294, 301, 321, 327, 345 Milde 318, 373 – 378, 380 – 382, 386, 413, 480 f., 484, 506, 541, 555 f. Mitteilungstheorie 117, 201, 558 – mitteilungstheoretisch 79, 85 f., 95, 108, 117, 124 f., 208, 360, 368 Moderne 5 – 8, 17, 104, 138, 175 Möglichkeit, existenzielle 155, 163, 187, 194, 214, 529 – Möglichkeit und Wirklichkeit 147 – 151, 155, 179, 215, 234, 407, 467 f., 544, 548, 550

602

Sachregister

Mönchtum 358 f., 364 Mystik 22, 55, 104, 154, 352 – 354, 439 – mystisch 1, 50, 258, 455, 465 Negation 84, 86, 197, 279, 281, 324, 326, 338, 343 – 349, 351, 354, 359 – 361, 366, 429 f., 434, 459, 497, 526, 532, 534 – Dialektik der Negation 280, 343 – 346, 348 – 350, 354, 358 – 361, 373, 385 f., 434 – Negation des Ausdrucks 356 – 370 – Negation des Willens 279, 337 Neuwerden (s. auch Aneignung) 64, 261 f. Neuzeit 6 f., 54 Nichtswerdung (vor Gott) 304, 310, 347, 349, 433, 452, 455, 506 – 508, 512 – 514, 517, 520, 530, 545 – Sich-Verneinen 37 – 39 Objektivität 45, 61, 70, 74 f., 85, 87, 91 f., 94, 100, 122, 137, 157, 179, 211, 213, 227 f., 309, 316, 350, 440, 442 – Objektivierung 7, 52, 70, 73, 95, 208, 225, 358, 440, 483 – Objektivität und Subjektivität 1, 291, 559 – Verzicht auf Objektivität 219, 233, 295, 309, 316, 350 Offenheit 47, 59, 65, 67, 78, 84 f., 87, 89, 91 f., 100, 109, 127, 140, 162, 164 – 167, 169, 171 f., 192 – 194, 215 f., 218 f., 224, 254, 299, 309, 316, 327, 373, 424, 426, 446, 466, 474, 541, 547 – Begriffsoffenheit 80 f., 88 – Sich-offen-Halten 163 f., 166, 169 f., 173, 178, 188, 194, 199, 204, 210, 215, 558 – Sich-Öffnen für 295, 309, 353, 391 Ohnmacht (s. auch Kontrollverlust) 287, 290, 308, 323, 331, 335, 355, 375, 392, 475, 508, 530, 545, 550 Ontologie (s. auch Existenzontologie) 23, 26, 42, 50, 61, 70, 75, 81, 88, 99, 101, 106, 144, 151, 185, 228, 234, 236, 253, 285, 306, 330, 341, 344, 355, 361, 365, 451, 491, 541, 558 – existenzialontologisch 28, 30, 48 – Fundamentalontologie 177 – modal-ontologisch 149, 222, 332, 493, 518

– ontologische Differenz 233 f., 252, 301, 317 – ontologische Doppelfokussierung 319 f., 323 – ontologische Doppelstruktur / Inter-esse 231, 234, 275, 554 – ontologischer Gegensatz / Hiatus / Unterschied 235, 238, 258, 284, 302, 332, 344 f., 360, 384, 432, 434, 507 – strukturontologisch 235, 238, 274 Paradox 40, 44, 99, 233, 246, 258, 284 f., 288 – 291, 307, 351 f., 355 f., 435, 497, 543 Passivität (s. auch Aktivität) 21, 35, 51, 67, 110 f., 130 f., 146, 166 – 172, 174, 200, 215, 257 f., 261 f., 264, 280 f.,282, 294, 309, 336, 351 f., 354, 371, 385 f., 392, 399 – 401, 415 f., 425 f., 430, 435, 438, 445, 455, 463 f., 466, 470, 474, 476, 499, 530, 551, 553 f., 556 Pathos 123 f., 153, 184, 311 – 316, 318 – 320, 328, 331, 337, 343, 345 f., 351, 448, 537, 548, 556 Permanenz 22, 87, 115, 160, 188, 197, 201, 244, 250, 314, 481, 510 Personsein 136, 155, 168, 191, 194, 196, 217, 233, 262, 309, 319 f., 356, 378, 425, 512, 519, 555 Persönlichkeit 18, 20, 22 f., 27, 31, 39, 66, 104, 135, 144, 157 – 161, 163 – 165, 169 f., 172, 175 f., 178, 183, 186, 189, 194, 200, 202 f., 205, 208, 210, 216, 265, 302, 356, 364, 366, 465, 470 Pflicht 132, 193, 452, 478 – 482 Phänomenologie – Bewusstseinsphänomenologie / bewusstseinsphänomenologisch 64, 97, 104, 190, 256, 341, 360, 406 f., 511 – Existenzphänomenologie / existenzphänomenologisch 338, 341,360, 383, 426, 497, 532, 535, 556 – Reflexionsphänomenologie / reflexionsphänomenologisch 150, 182, 213, 241, 331, 390, 393 f., 405, 418 f., 439, 441, 454, 456, 485, 495, 515, 534, 553

Sachregister

– Religionsphänomenologie / religionsphänomenologisch 292, 337, 345 f. Pietismus 50, 53 f., 104 Plötzliche, das 257 f., 260 f., 267 f., 272 f., 351 Potenzial / Potenzialität 37, 87, 96, 155 – 157, 170, 294, 342, 391, 437, 450, 457, 467 f., 510, 512, 514, 517 f., 541, 546 Pragmatismus 35, 104 f., 559 Praxis (s. auch Lebenspraxis und Existenzpraxis) – existenzielle Praxis 72, 316, 338, 416, 427 – idealbezogene Praxis 379 – konkrete Praxis 125 f., 131, 144, 275, 377 f., 368, 469, 481 – lebenslange Praxis 227, 403, 411, 548 – praxisphänomenologisch 61 f., 356, 552 – praxistheoretisch 8, 49, 60, 231, 282 f., 300, 318, 393, 404, 447, 482, 557 – religiöse Praxis 184, 222, 238 – weltbezogene Praxis 381, 413, 484 Propositionalisierung 73 – 76, 78, 80, 87, 92 – 94, 100, 207 – 210 Prozessualität / Prozesshaftigkeit 49, 97, 146, 151, 185, 199, 201, 210, 223, 306, 351, 369, 406, 467, 484, 510, 512, 514, 516, 523, 532, 553 Quietismus

516, 555

Rationalität 41 f., 56, 72, 94, 288, 292 Reinheit 354, 435, 437, 449, 451 – 454, 508 Relative, das 187, 229, 286, 318 – 320, 324, 331, 339, 421, 435, 453, 513 Religiosität 1, 5, 55, 60, 62 f., 67, 125, 229 – 233, 237, 245, 250, 262 f., 279, 292 f., 310, 319, 322, 327 f., 333 f., 336, 338 – 340, 357 – 360, 365 – 367, 369, 376, 379 f., 384, 389 – 392, 396 f., 417, 446, 448, 460, 469, 475, 484, 489, 505, 509, 517, 519, 539 f., 546, 551, 555 f. – erbauliche Religiosität 63, 233, 328, 391, 396, 450 – existenzielle Religiosität 65, 347 f., 426

603

– Religiosität A 35, 40, 131, 220 – 222, 224 f., 229, 241, 247, 263, 292, 328, 340, 350, 391, 407, 428 f., 540, 558 f. – Religiosität B 40, 131, 220 f., 230, 262, 293, 328, 350, 438, 557 – strukturelle Religiosität 499, 557, 559 Resignation 68, 261, 291, 295, 311, 315 – 320, 328, 330, 336 f., 343, 345 – 347, 350, 378, 429, 432, 443, 459 Reziprozität (s. auch Bewegung) 69, 267, 291, 421, 470, 482, 486 f., 544, 558 Rhetorik 12, 55, 122, 124, 228, 389, 399 Risiko 162, 292 f., 298, 327 Romantik 51, 55, 110 Scheitern 65, 457 f., 466, 468, 475, 478, 482, 485, 509, 518 f., 534 Schmerz 66, 186, 323, 332, 334, 336, 338, 342, 386, 471 Schuld 1, 41, 92, 109, 328, 447 – 454, 473, 478, 518, 550 Schweigen 45, 79, 110, 212, 259, 339, 359 – 363, 365 f., 368, 375, 419, 421, 431 f., 491, 556 Seele 56, 111, 144, 220, 236, 289, 296, 311, 315, 321 f., 325, 341, 353 f., 433, 435, 441, 447 – 449, 486, 493, 521, 523 – 528, 530 – 533, 535 f., 547, 549 f. Sein – faktisches Sein 136, 235 – 238, 254, 300, 344 – ideelles Sein 235, 237 f., 240, 275, 300 – Schon-Sein 64, 83, 86, 130 f., 186, 207, 210, 212, 215, 229, 256, 262, 268, 379, 433, 515, 518, 548 f., 554 – So-Sein 127 f., 148, 165, 453 Selbst – Selbstbehauptung 355, 371, 445, 457, 485, 508, 517, 545 – Selbstbestimmung 165, 205, 426, 532, 548, 551, 555 – Selbst-Bewusstsein 4, 27, 144, 150 f., 153 f., 178, 180, 184, 197, 200 – 202, 213 f., 223 – Selbst-Bezug 7, 31, 49, 133, 145, 183, 200, 202, 218, 220, 230 f., 285, 338, 347, 357, 381, 468, 510, 512, 519, 527, 529, 557

604

Sachregister

– Selbst-Durchsichtigkeit 36, 42, 65, 133, 206 – Selbst-Entdeckung 5, 7, 49, 87, 93 f., 169, 529 – Selbst-Entfremdung 225, 322, 368, 463 f. – Selbst-Entzogenheit 307 – Selbst-Erkenntnis 6, 8, 127, 142, 225, 231, 516, 528 – Selbst-Erschließung 391, 406, 528 – 530 – Selbst-Interesse 96, 103 – Selbst-Reflexion 2 f., 5 – 7, 49, 64, 67, 142, 144, 153, 205, 215, 445 f. – Selbst-Relativierung 320, 331, 346 f. – Selbsttätigkeit 48, 65, 85, 87, 290 – Selbst-Undurchsichtigkeit 306, 469, 518 – Selbst-Unverfügbarkeit 355 f., 556 – Selbst-Vergegenwärtigung 4, 21 f., 29, 133, 184, 201, 204, 519 – Selbst-Verhältnis 2, 25, 43, 48, 65, 71, 101, 109, 119, 134, 151, 183, 188, 190, 197, 199, 207, 213, 223, 225 f., 275, 282, 308, 324, 348, 380 f., 390, 401, 406, 408, 411, 413, 424, 429, 457, 469, 472, 477 – 479, 506, 519, 528, 534 f., 545, 548, 554 f. – Selbst-Verhältnis vor Gott (Innerlichkeit) 223, 226 f., 338, 363, 374, 381 f., 393, 396, 401 f., 406 – 408, 426, 447 – 449, 453, 458, 469 f., 473, 476 – 479, 483, 521, 528, 532 – 534, 536, 538, 549 f., 555 – Selbstvernichtung (s. auch Nichtswerdung) 80, 225, 261, 307, 310, 327, 343, 345 – 355, 358, 373, 377, 386, 434 f., 452, 455 f. – Selbst-Verstehen 31, 38, 42, 49, 65, 87, 126, 166, 158, 198 f., 206, 210, 212, 306 f., 309, 343, 348, 351, 392, 433, 452, 456 f., 469, 507, 511 f., 518, 529 – Selbstverwirklichung 88, 96, 165, 184, 201, 371, 490 – Selbst-Werden 44, 48, 80, 101, 524, 528, 557 – Selbstzentrierung 336 f., 347, 373, 536 – Selbst-Zuwendung 153, 377, 547 Seligkeit, ewige 1, 33 – 35, 99, 106, 114, 119, 221 – 223, 226, 228 – 231, 237 f., 240 f., 244, 259, 269 – 271, 277, 292, 296, 311 – 318, 324 f., 330 f., 333 f., 344 – 347, 360,

369, 372, 384, 419, 446 – 448, 450 f., 454, 459, 474, 507, 522, 543 Semiotik 78, 559 – semiotisch 80, 90, 97 f., 108, 126, 261, 559 Sich-zu-sich-Verhalten 22, 25 – 28, 31, 48 f., 61, 71, 86, 131 – 133, 135 f., 140 – 144, 146 f., 149 – 153, 155 f., 160, 166, 173, 177 – 180, 182 f., 185, 189 f., 192, 196 – 202, 205, 210, 213 f., 216, 223, 226, 260, 304, 329, 336 f., 410, 554 – Sich-zu-sich-vor-Gott-Verhalten 305, 319 f. Sorge 47, 103, 111, 128, 177, 180, 224, 259 – 264, 266 – 268, 280, 406, 419, 447 – 454, 461, 474, 481, 519 f., 522, 543, 545, 556 – Fürsorge 48, 80, 357, 474, 480 – 482, 484 f., 516, 539, 541, 545 – 547, 549, 556 – Selbstsorge 8, 140, 149, 157, 184 f., 194, 217, 321, 545 f., 548 Sprung 32, 53, 130, 261, 266 – 268, 278, 295, 310, 450 – Gesprungenwerden 130, 267, 278, 295, 312, 434, 531 Staunen 35, 326, 336, 378, 418, 439 f. Stellungnahme 12, 35, 96, 192 – 194, 196 – 198, 214, 217, 341, 374, 380, 452, 472, 492, 520 Sterben 158, 325, 414, 422, 427, 490 f., 494, 497, 500, 506, 531 Stille 64 f., 110, 361 f., 364 f., 380, 403, 410, 421, 427, 430 – 438, 440 f., 445 f., 449, 453 – 456, 474, 506, 514, 520, 547 – Konzeption der Stille 430, 432, 454 – Stillwerden 431, 438 – 440, 448 f., 451, 455, 489 f., 506 f. Stoa 3, 5, 496 Streben 24, 38 f., 46 f., 66, 112, 180, 222, 225, 238 – 240, 242, 249 – 251, 254, 260, 265, 270 f., 276 – 281, 284, 302 f., 312, 321, 330, 332, 354, 360 f., 364, 406, 431, 438, 442, 444 f., 448 f., 451, 455 – 458, 464, 475, 503, 510, 514, 530 f., 535 Strenge 108, 119, 179, 260, 374 – 376, 506, 557 Subjektivität 1, 35 – 37, 40 – 42, 45 f., 51, 56, 61, 63, 70, 73 – 75, 84 f., 90 – 94, 99 f.,

Sachregister

127, 132 f., 179, 184, 189, 196, 223, 226, 229 – 231, 270, 291, 309, 344, 351, 369, 392, 423, 503, 559 – subjektiver Denker 41, 89 f., 203, 208 – Subjektivierung 336, 401, 470, 490, 492, 496 – 499, 502, 506 – Subjektivismus 45, 82, 94, 304, 512 – Subjektivwerden 131 f., 226 Sünde 37, 403, 419 – 421, 428, 436 – 438, 447 – 454, 456, 462, 478, 518, 531 Tätigkeit 135, 151 f., 177 – 179, 181, 198 – 200, 205 Teleologie 149 f., 275 – teleologisch 27, 83, 120, 147 – 151, 240, 243, 247, 250, 253, 257, 262, 271, 274 f., 290, 430, 442, 450, 554 f. Telos 149 f., 206, 240, 243, 248 – 251, 253 f., 257, 259, 262, 264, 266, 270 – 273, 276, 279, 282, 292, 294, 296, 301, 304, 311 – 313, 317, 321, 324 f., 327, 345, 377 f., 469, 486, 503, 527, 543, 545 – Telos und Metron 254, 271, 279, 281, 296, 304, 312 Theorie und Praxis 60, 69, 94, 125 – 131, 391, 552 f. Tod 93, 110, 112 – 118, 122, 174, 321 f., 383 f., 386, 396, 400, 403, 405 f., 413 – 417, 421 – 426, 436, 440, 461 – 464, 468, 471, 490 – 513, 515 f., 518 f., 534 – 536, 539, 541, 546, 549 f., 554 – Dialektik von Gewissheit und Ungewissheit 416, 424, 493, 496 f. – Gedanke an den Tod 383, 422, 490, 492, 495, 499 – Kontingenz des Todes 383 f., 424 f., 493 – 495, 497 – 500, 511 f., 536 – Todesbewusstsein 384, 494 – 496, 498, 502 f., 507 f., 511, 515 – Totsein 113 – 115, 322, 422 f., 491, 493, 496 – 498, 500, 506 Transformation (s. auch Veränderung) 49, 147 f., 206, 264, 297, 309, 312, 371, 379, 392, 407, 438, 445, 457, 473, 498, 518 f., 530 f., 550 – Transformation des Bewusstseins 186, 191, 214

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– Transformation des Schon-Seins (s. auch Aneignung) 83, 86, 130, 186, 215, 433, 518, 548 Transzendenz 31, 66, 156, 165, 221 f., 259, 304, 487, 492, 514 Trost 17, 338 – 340, 362, 383, 532, 538 Überlassenheit 5, 299, 306, 457, 530, 545, 548 – Sich-Überlassen (an Gott) 95, 309, 353, 391 Überzeugung 6, 38, 145, 165, 181, 183, 191, 210, 286 f., 294 f., 297 f., 328, 334, 358, 360 f., 366 – 368, 466, 475, 559 Umbildung 5, 226, 261, 311 – 318, 320, 331, 343, 346, 378, 443, 498 Umkehr (s. auch Konversion) 6, 130, 261 – 264, 315, 348, 378, 445, 474, 494, 502, 518 Unabgeschlossenheit 46 f., 97, 149, 154, 217, 269, 277, 301 f., 418, 457, 524 Unbedingtheit 3, 35, 60, 119, 139, 193, 209, 227, 244, 261, 267 f., 279 f., 314, 333, 338, 374, 385, 387, 411, 423, 426, 435, 448, 453, 457 f., 488, 511 – 513, 516, 520, 558 f. Unendlichkeit 56, 107, 110 f., 124, 226, 238, 242, 246, 249, 286 f., 293, 300, 302, 305, 316, 318, 325, 333 f., 359 f., 372, 384, 429, 455, 509, 526, 531 Ungewissheit – objektive Ungewissheit 48, 67, 194, 218, 281, 287 – 291, 293 f., 297, 299, 305, 308 f., 327, 333, 342, 353 – Ungewissheit und Glaube 120, 228 f., 270, 287 – 294, 296 – 299, 305, 310, 327, 352 f., 355 – Ungewissheit und Innerlichkeit 308 f., 323, 333, 343, 349, 353, 355 f., 556 – Ungewissheit und Kontingenz 161, 164, 171, 205, 291, 293, 298, 323, 326 f., 356, 386, 436, 465, 491, 518 – Ungewissheit und Persönlichkeit 5, 38 f., 46 f., 162, 166, 170, 193 f., 203 f., 210, 217, 219, 308 f., 349, 517 Unmittelbarkeit 2, 4, 19, 75, 77 f., 87, 101, 153, 166, 200 f., 209, 211 – 213, 260, 313,

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Sachregister

315, 319 f., 341, 360, 362, 376, 382, 385, 423, 440 f., 444, 446 f., 474, 527, 559 Unsterblichkeit 18, 115, 143, 219, 225, 230 f., 294, 325, 384, 417, 492 – 494, 505, 554 Unverfügbarkeit (s. auch Entzogenheit) – Unverfügbarkeit und Innerlichkeit 35, 280, 309, 327, 333, 347, 372, 554, 557 – Unverfügbarkeit und eigene Person 195, 204, 262, 279, 305, 307, 309, 338, 355 f., 385, 536, 556 – Unverfügbarkeit und Religiosität 263, 270, 305, 309, 323 f., 333, 335, 337, 339, 344 f., 373, 425 f., 437, 534 – Unverfügbarkeit und Welt 31, 280, 309, 375, 424 Unvollkommenheit 289, 479 Urteilsenthaltung 47, 351, 375, 435 Vaishnavatum 1 Verähnlichung 252, 326, 345, 349 f., 358, 378, 434 Veränderung 31, 44, 49, 64, 121, 130, 147 f., 186 f., 191, 205, 209, 215, 218, 239, 242, 254, 259 – 264, 277, 293 f., 313, 337, 378, 399, 416, 427 f., 437 – 439, 441 – 443, 445 – 448, 450 f., 454, 463, 474 f., 480, 502, 519, 531, 550, 554, 556 – Verändertwerden 36, 186 f., 259, 262, 416, 445, 487 Verantwortung 15, 30, 51, 127, 157, 195 – 197, 215, 217, 277, 361, 374, 376, 381, 479, 546 Veräußerung 122, 359, 484 Verborgenheit 43, 50 – 52, 69, 114, 116, 121 – 123, 356 – 360, 363 f., 366 – 368, 374, 377, 380, 413, 420, 428, 484, 489, 513, 516, 553 f., 556 Verbundenheit 99, 145, 180, 230, 245, 250, 263, 265, 268, 279, 286 f., 293, 302 f., 355, 370, 372 f., 387, 413, 438, 457, 475, 479, 486, 488, 536, 547, 549, 551, 557 Vergangenheit 89, 113, 119, 158 f., 162 – 167, 170 – 176, 194, 198, 202 f., 206, 210 f., 215, 257, 269, 272 – 274, 277, 293, 303, 369, 373, 448 f., 463, 470, 518, 529, 549 f.

Vergegenwärtigung – Vergegenwärtigung und Aneignung 82 f., 178 – Vergegenwärtigung und Innerlichkeit 124, 276, 327, 349, 514, 553 – Vergegenwärtigung und eigene Person 3 f., 6, 19, 21 f., 29, 74, 133, 135, 155 – 157, 159 – 164, 166 – 168, 170, 173, 175 f., 178 – 184, 199, 201 – 204, 207, 229, 348, 361, 375, 461 f., 469, 516, 519, 529, 534 – Vergegenwärtigung und Religiosität 251, 259, 273, 278, 326 f., 343 f., 346, 353 f., 356, 441, 449, 451, 454, 459, 469, 504, 508, 549 – Vergegenwärtigung und Welt 3, 199, 369, 516 – Vergegenwärtigung und Zeit (s. auch Gleichzeitigkeit) 159, 166 f., 170, 173, 175 f., 178, 203, 251, 273, 276, 449 – Vergegenwärtigung des Todes 493, 496, 502 f., 507, 509 Versenkung 154, 351 f., 354, 391 – Absorbiertsein 247, 251, 306, 336, 355, 434 – Versinken 56, 65, 110, 352, 355, 433 f., 451 – Sich-Verlieren 530, 543, 548 – Sich-Vertiefen 306, 448 Versöhnung 383, 385 – 387, 494 Verstehen, das 22, 87, 203, 205 f., 284, 288, 306, 308 f., 342, 346, 401 f., 405, 427, 440, 443, 447, 511 f. – Grenze des Verstehens 440, 444 – Nicht-Verstehen-Können 362 – Sich-Verstehen 20, 22, 87, 136, 198, 202 – 214, 305 f., 308, 463 Vertrauen 160, 295 – 299, 307 f., 323, 360, 385, 538, 545 Verwiesensein 53, 79, 110, 131, 133, 145, 268, 520, 534, 545, 550, 553 f., 556 f., 559 Verwunderung 404, 406, 418, 427, 435, 439 – 447, 451, 453 – 455, 457, 475, 478, 486, 501, 508, 515, 556 Verzweiflung 9, 54, 67, 81, 133, 139, 164, 217, 283, 285 – 290, 292 – 294, 296, 299,

Sachregister

310, 331, 333, 335, 344, 353 f., 386, 406, 443 – 445, 454, 509, 538 Vita activa 55, 154, 330, 352, 443 Vita contemplativa 154, 352 Vollkommenheit 234, 307, 372, 445 Wagen, das 106, 193, 196, 292 – 294, 297 f., 309, 313, 324 f., 327, 345, 360, 383, 440, 462, 466, 510, 520 – Wagnis 290, 292 f., 325 f., 384, 520 f. Wahrheit 1, 3, 7, 35 – 37, 45 f., 112 f., 220, 283 f., 293, 308, 313, 321 f., 380 f., 431, 437, 453 – Erscheinung und Wahrheit 366, 380, 526, 539 – Tatsachenwahrheit 229 – Unwahrheit 37, 114 f., 164, 307 f., 437, 482 Welt – Außenwelt 56, 206, 336, 430 – Innenwelt 199, 556 – Mitwelt 93, 315, 336, 359 – Umwelt 167, 204, 368 – Weltabwendung 121, 217, 315 f., 320 – 322, 326, 345 f., 348, 352, 361, 364, 377, 380, 431 – 433, 435, 438, 448, 455 f., 523, 543, 548 – Weltbezogenheit 435, 481 – Weltdistanzierung 369, 518 – Weltentfremdung 323 f., 331 f., 348, 363 – Weltentsagung 379, 433, 435 – Weltlosigkeit 50, 354, 434, 469, 555 – Weltverwobenheit 127, 141, 191, 202, 204, 213, 215, 229, 306, 308, 315, 317, 331 f., 378, 519, 527, 553 – 555 – Weltzuwendung 380, 382 Werden 37, 64, 66, 143, 146 – 152, 154, 165, 173, 187, 203, 217, 220, 239, 254, 258, 262, 343, 385, 554 Wiederholung 28 f., 30, 32, 64 – 66, 112, 176, 241, 249 – 257, 261 – 265, 268 – 272, 274, 277 – 283, 291, 296, 302 – 305, 310, 327, 329, 339, 343, 345, 348, 351 f., 369, 385, 394, 449, 460, 471 f., 481, 514, 532, 540 – Erneuerung 250, 256, 262 f., 272, 274, 279, 303, 348

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– Wiederholungszyklen 252, 268, 272 – Wiederholungsbegriff 30, 62, 249, 254, 272 – Wiederholungsbewegung 240, 250 f., 253 – 255, 257, 262 – 264, 266, 268 – 275, 281 – 284, 290 f., 294, 296, 300, 303 f., 309, 313, 339 f., 352, 369, 449, 522, 524, 527, 531 – Phasen der Wiederholungsbewegung 300 Wille, der 3, 68, 80, 111, 120, 145, 160, 184, 187 f., 193 f., 197, 211, 253, 257, 260, 266 f., 279 f., 312, 324, 330 – 332, 337 f., 357, 371, 381, 401, 426, 431, 445, 453, 457, 464, 475, 485, 495, 506, 556 – als Ursache des Leidens 330 – Andersseinwollen 164, 169, 171, 185 – Wille zur Hingabe 438, 475 – Wollen, das 153, 188 f., 193 f., 238, 266 f., 281, 341, 516 Wirklichkeit, existenzielle (s. auch Möglichkeit) 101, 126, 135, 151, 153, 161, 182, 189, 200, 202, 205, 211, 237, 240, 295, 332, 390 f., 403, 409 f., 468, 490, 550 f. – Sich-in-Erfahrung-Bringen 201, 210, 212, 337, 468 – Sich-konkret-Werden 210, 219, 337 – Sich-wirklich-Werden 153, 183, 186, 201, 205, 210, 214 – Wirklichkeitserfahrung 64, 67, 79, 195, 245, 336, 338, 391 Zeitlichkeit 29, 36, 53, 93, 135, 171, 175, 177, 203, 223, 234 f., 238, 245 f., 249, 273 f., 286, 300, 316, 333, 429, 447, 449, 456 f., 502, 517, 521, 550, 554 – Zeitstruktur 269 – 274, 282 – Zeit und Ewigkeit 115, 122, 138, 174, 224, 232, 246, 258, 273, 278, 290, 300 – 302, 305, 319, 347, 351, 417, 432, 488, 514, 526, 543, 550 Zentrierung (s. auch Dezentrierung) 149 f., 323, 347, 356, 373, 511, 536 Zerstreuung 118, 120 – 122, 216 f., 362, 431 f., 527, 535 Zuhörer 397 – 401 Zukunft 29, 119, 148, 158 f., 162 f., 165 – 167, 169 – 176, 178, 193 f., 197 f., 206, 211,

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Sachregister

215, 257, 269 – 277, 282, 293, 296, 303, 324, 369, 373, 448 f., 457, 463, 470, 472, 474, 495, 498, 517, 529, 534, 541 f., 544, 547, 549 f. – Zukunft und Ungewissheit 171, 173, 175, 194, 270, 296, 334, 518 – zukünftig 29, 36, 119, 159, 161 – 163, 169, 171, 175 f., 196, 210, 270 – 273, 275 f., 292, 303, 334, 372, 498, 501, 535, 541

Zuwendung 385, 486 – Zuwendung zu Mitmenschen 374, 378, 380 – 383, 386, 538, 546, 554 Zweifel 1, 286 f., 292, 390, 440 – Sich-in-Frage-Stehen 39, 47, 163, 188, 217, 391, 437, 442, 452 f., 479, 530 f., 552 Zwischenzustand (s. auch Inter-esse) 138, 211, 235, 246, 287, 289, 299, 310, 320, 347, 351, 444, 555