Wissensästhetik: Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung 9783110209662, 9783110204919

The constitution, transmission and preservation of all knowledge about antiquity have always been highly mediated acts.

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German Pages 396 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Wahrnehmung antiker Überreste im Mittelalter
»Eine andere Antike«. Für ein ästhetisches Paradigma der Spätantike
Zweifelhafte Gestalt oder Inbegriff von virtus und sapientia. Odysseus in der lateinischen Spätantike
Wissen und Imagination – Distanzierung und Aneignung. Transformationen des Amazonenbildes in der Alexanderdichtung des 12. Jahrhunderts
Die Ästhetisierung der Zeitgeschichte aus dem Geist des antiken Epos – Begründungen lateinischer Panegyrik im frühen und hohen Mittelalter
Transformierte Transformation. Zur fortuna der Antikenstudien Maarten van Heemskercks im 17. Jahrhundert
Fortia facta cano Lodoici – Über die Heroisierung der Gegenwart durch das transformierte Epos der Antike im 17. Jahrhundert
Nathaniel Ingelos Bentivolio and Urania als philosophische romance. Aspekte antiker Philosophien in christlich-neuplatonischer Erbauungsliteratur
»Belehrende Unterhaltung«: Altertumskundliches Wissen im antiquarisch-philologischen Roman
Bildhauerische Technik und die Wahrnehmung antiker Skulptur: Francesco Carradoris Lehrbuch für Studenten der Bildhauerei von 1802
Kunstgeschichte als ästhetisches Ereignis. Die Kunst der Antike in deutschsprachigen wissenschaftlichen Monographien für ein bürgerliches Publikum im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Georg Ebers’ Kleopatra: Kompromiss zwischen Gelehrsamkeit und Popularität
Parade und Triumphzug im Monumentalfilm
Rom in der Postmoderne. Darstellungen der Antike in zwei historischen Romanen
Archiv und Kollektiv. Griechische Tragödien als chorisches Theater bei Einar Schleef, Theatercombinat und Theodoros Terzopoulos
Backmatter
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Wissensästhetik: Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung
 9783110209662, 9783110204919

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Wissensästhetik



Transformationen der Antike

Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Band 6

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Wissensästhetik Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Dieser Band ist aus einer Tagung des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ hervorgegangen und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm 앪 über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020491-9 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen

Vorwort

Stiftung, Tradierung und Bewahrung jeglichen Wissens über die Antike sind von jeher Akte hochgradiger Mittelbarkeit gewesen, dies in zweifacher Hinsicht: Einerseits konnte sich ein Wissen über die Antike als ein Vergangenes und damit Abwesendes stets allein durch die Vermittlung von Relikten, Texten, Monumenten und Traditionen konstituieren. Andererseits war die Weitergabe aller Kenntnisse über die Antike – sei es in akademisch institutionalisierter oder populärer Form, sei es in explizit didaktischer Absicht oder auf dem Weg eines impliziten Wissens – wiederum immer auf medien- und materialgestützte Vermittlung angewiesen. Sämtliche Träger des Wissens über die Antike aber, seien es Texte, seien es materiale Relikte, unterliegen dem Prinzip der ästhetischen Formung; alles Wissen über die Antike ist ästhetisch vermittelt. Die ästhetische Vermittlung des Wissens über die Antike bildet einen zentralen Faktor ihrer Transformation. Die Antike ist bis heute maßgeblich durch künstlerische Relikte und Texte präsent geblieben: Antike Bauten führten über die Jahrhunderte hinweg den Machtwillen untergegangener Reiche, die Kulte erloschener Religionen, die Unterhaltungsbedürfnisse gewaltiger städtischer Populationen vor Augen, die sonst keine Spuren hinterlassen hatten. Antike Skulpturen und Sarkophagreliefs erinnerten an die Götterwelt und demonstrierten die künstlerischen Idealitätsansprüche von Kulturen, von deren profaner Alltagswelt kaum etwas sichtbar geblieben war. Die Epen Homers und Vergils und die attischen Tragödien machten ihre Leser mit den antiken Mythen vertraut und lieferten Muster literarischer Darstellung. Die rhetorisch durchgestalteten Schriften der antiken Historiker bildeten die primäre Quelle für alles Wissen über die alte Geschichte. Immer ist die Gegenwärtigkeit der Antike eine vor allem künstlerisch vermittelte Gegenwärtigkeit geblieben, und bis heute gilt: Was über die Antike gewusst wird, wird primär aus der Begegnung mit Kunstwerken gewusst: aus der Aufführung einer Tragödie, aus der Lektüre Homers, aus der Besichtigung der Porta Nigra oder dem Besuch des Cortile del Belvedere im Vatikan. Jahrhundertelang wurde die monumentale Überlieferung der Antike als Quelle für die antiquarische Erschließung der antiken Geschichte und Kultur genutzt. In dem gigantischen Antikenkompendium des Bernard de Montfaucon L’Antiquité expliquée et représentée en Figures (1719– 1724) mit seinen vielen tausend Abbildungen kommt einer Öllampe prinzipiell der gleiche historische Zeugniswert zu wie dem Apoll vom Belvedere und einem Gemmenring der gleiche kulturelle Quellencharakter wie der Statue des Mark Aurel; ihre spezifische ästhetische Formung bleibt dabei jedoch unberücksichtigt.

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Vorwort

Natürlich haben sich die Altertumswissenschaften dieser methodischen Naivität im Zugang zur antiken Lebenswelt längst entledigt; für das Alltagsbewusstsein freilich bleibt die antike Kunst auch heute noch das evidenzstiftende Medium der Erschließung antiker Lebensrealität, wie etwa die Illustrationen zu populärwissenschaftlichen Darstellungen antiker Themen zeigen. Nicht zuletzt aufgrund der in diversen Renaissancen erstarkenden antiken Formtradition – insbesondere auf dem Felde der Rhetorik, der bildenden Künste, der Literatur und des Theaters – schrieb sich diese ästhetische Dimension der vermittelten Antike dabei auch der Gestalt des Wissens über sie ein. Mehr als die in vielfacher Hinsicht noch mittelalterlichen Traditionen verpflichteten mythologischen Handbücher des 16. Jahrhunderts haben die durch ihr Antikenstudium geschulten Maler und Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts das Wissen weiter Kreise über die antiken Mythen geprägt. Der barocke Himmel füllte sich mit den olympischen Göttern; wer immer zu ihm emporblickte, eignete sich antikes Wissen und Wissen über die Antike an. Wie schon die Alexanderromane des 12. Jahrhunderts bildeten die voluminösen höfisch-historischen Romane der Frühen Neuzeit – John Barclays Argenis und Philip Sidneys Arcadia, Daniel Casper von Lohensteins Großmütiger Feldherr Arminius und Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel Durchleuchtige Syrerin Aramena und seine Römische Octavia – gigantische Wissensspeicher, aus denen die zeitgenössischen Leser ihr Wissen über die Antike abriefen. Die um 1600 aus den Versuchen der Florentiner Camerata, die Form der antiken Tragödie wiederherzustellen, hervorgegangene moderne Kunstgattung Oper hat seit ihren Anfängen das Wissen über die Antike inkorporiert und ihren dramaturgischen Zwecken gemäß transformiert: von Monteverdis Orfeo, Poppea und Il ritorno d’Ulisse in patria bis zu Hans Werner Henzes im Jahre 2007 uraufgeführter Phaedra. Seit der Renaissance speist sich die Geschichte des Dramas aus antiken Stoffen und transformiert sie im Zeichen der je aktuellen Problemhorizonte kultureller Vergesellschaftung; wer Cleopatra war, wusste Shakespeare aus Plutarch und wussten nach ihm viele Generationen von Shakespearelesern nur aus Shakespeares Antony and Cleopatra. Seit der Erfindung des Films transformiert sich das Wissen über die Antike mehr und mehr im Zeichen filmischer Techniken der ästhetischen Simulation, wobei bemerkenswert ist, dass die Bedürfnisse nach wissenschaftlicher Beglaubigung umso mehr zu wachsen scheinen, je avancierter die Techniken zur Simulation fiktiver Welten sind. Man kann sich davon anhand der wissenschaftlichen Mitarbeiterstäbe von Ridley Scotts Gladiator (2000), Oliver Stones Alexander (2004) und der so kostspieligen wie erfolgreichen Fernsehserie Rome, die gemeinsam von HBO, BBC und RAI produziert worden ist, leicht überzeugen. Es waren im Laufe der Jahrhunderte also immer wieder die Künste, die das jeweils historisch greifbare Wissen über die Antike aufnahmen, transportierten, transformierten und nicht selten auch in epistemologische Konkurrenz zu ihm traten. Mit der Verwissenschaftlichung der Antike im 19. Jahrhundert im Zuge der raschen Erkenntnisfortschritte der Altertumswissenschaften und ihrer disziplinären Ausdifferenzierung und institutionellen Verankerung an den Universitä-

Vorwort

VII

ten hat sich das Problem der ästhetischen Vermittlung der Antike keineswegs erledigt, sondern allenfalls verkompliziert. Jede Form der ästhetischen Vermittlung des Wissens über die Antike hatte sich seitdem zu positionieren im Spannungsfeld zwischen einer konsequenten Idealisierung der Antike im Zeichen des humanistischen Bildungskonzepts, an dem die Bildungspolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert festhielt, und einer ebenso konsequenten Entidealisierung der Antike durch deren historische Erforschung und die neuen Techniken ihrer medialen Präsentation. Die Frage nach der ästhetischen Vermittlung des Wissens über die Antike, sei es in der Schule oder in der Universität, im Journalismus oder im Roman, in den bildenden Künsten oder in der Oper, hat also bildungshistorische und wissenschaftsgeschichtliche, gattungstheoretische und mediengeschichtliche Aspekte. In diesem Spannungsfeld wird das Verhältnis von Imagination und Wissen im Hinblick auf die Transformation der Antike bis heute stets aufs neue ausgehandelt. Schon das 19. Jahrhundert war ausgesprochen erfindungsreich darin, die Strategien der ästhetischen Wissenspräsentation immer wieder neu festzulegen. Dabei kam, von Lord Lyttons The Last Days of Pompeii bis zu Felix Dahns Ein Kampf um Rom, dem historischen Roman eine Schlüsselstellung bei der Bestimmung der darstellerischen Verfahren zu, einen Ausgleich zwischen historischer Wissensvermittlung und ästhetischer Wissenstransformation zu finden. Der historische Roman ist eine Lieblingsgattung des Historismus; er vergegenwärtigt eine abgeschlossene Vergangenheit im Licht des Wissens der Gegenwart mit der Lizenz zur Individualisierung und damit Fiktionalisierung der historischen Konflikte. So reagiert er einerseits auf die mit der Verwissenschaftlichung der Antike rapide gestiegenen Authentizitätsansprüche seiner Leserschaft und verwandelt andererseits seine Akteure zu Zeitgenossen des Lesers. Das ist schon in Lord Lyttons Roman so, der pompejanische Häuser schildert, als seien es die Stadtwohnungen von Junggesellen »in Mayfair«. Damit schlägt er den ästhetisch und geschichtstheoretisch prekären Spagat zwischen dem Anspruch, die Antike auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Einsichten zu zeichnen, und dem Leitmotiv philiströser Geschichtsbanalisierung, »that under the sun there is nothing new«. Diesen Spagat schlagen – freilich im Zeichen einer fortgeschrittenen Verwissenschaftlichung der Antike und eines unter dem Druck der medialen Möglichkeiten ständig wachsenden Authentizitätsverlangens – bis heute die anspruchsvollsten künstlerischen Vergegenwärtigungen der Antike; sie wappnen sich, wie exemplarisch Robert Harris’ Roman Pompeii (2003) vor Augen führt, einerseits mit gewaltigen Listen wissenschaftlicher Referenzen, um andererseits ihre Akteure als unsere katastrophenerfahrenen Zeitgenossen reden und handeln zu lassen. Der Bedeutung der Ästhetik in der Vermittlung des Wissens über die Antike und damit der Transformation der Antike selbst widmete sich die Jahrestagung 2006 des Sonderforschungsbereichs 644 »Transformationen der Antike«, die unter dem Titel Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung vom 7. bis zum 9. Dezember 2006 im Leibnizsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Als Motto stand über der

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Vorwort

Tagung eine Reflexion des Novalis, die Hartmut Böhme als Sprecher des SFB in seinen Begrüßungsworten zitierte: »man irrt sehr, wenn man glaubt, dass es Antiken gibt. Erst jetzt fängt die Antike an zu entstehen. Sie wird unter den Augen der Seele des Künstlers. Die Reste des Altertums sind nur die spezifischen Reize zur Bildung der Antike. Nicht mit Händen wird die Antike gemacht. Der Geist bringt sie durch das Auge hervor – und der gehaune Stein ist nur der Körper, der erst durch sie Bedeutung erhält, und zur Erscheinung derselben wird«. Wie sich das Wissen über die Antike vermittelt über die künstlerische »Bildung der Antike« ist das Thema der in diesem Band versammelten Studien, die aus den während der Tagung diskutierten Vorträgen hervorgegangen sind. Die Veranstalter haben sich bei der Konzeption der Tagung von zwei grundsätzlichen Überlegungen leiten lassen: Zum einen war es aufgrund der Fülle des Materials ausgeschlossen, exemplarische Studien zur Wissensästhetik aus allen Epochen der Nachantike vorzulegen. Aus diesem Grund haben sie sich dazu entschlossen, im Hinblick auf die ästhetische Vermittlung des Wissens über die Antike besonders gut erforschte Epochen wie die Renaissance, die Aufklärung und den Klassizismus unberücksichtigt zu lassen und stattdessen Modellanalysen zum Mittelalter, zum Barock, zum 19. Jahrhundert und zu neohistoristischen Tendenzen in der Gegenwart vorzulegen. Zum anderen war es ihnen aufgrund der Einsicht, dass der Prozess der Transformation der Antike in der Antike selbst beginnt, besonders wichtig, den historischen Durchgang durch die Probleme der Wissensästhetik mit exemplarischen Studien zur Spätantike beginnen zu lassen; schon die Spätantike transformierte das Wissen über die Antike mit Hilfe spezifischer ästhetischer Verfahren (etwa im Typus der Cento-Dichtung, wie der zweite Beitrag in diesem Band zeigt), wobei mediale Unterschiede und schichtenspezifische Differenzierungen zu berücksichtigen sind (wie exemplarisch die Studie zur Transformation des Odysseusmythos in Literatur und bildender Kunst der Spätantike vor Augen führt). Von hier spannt sich in den Beiträgen dieses Bandes ein großer historischer Bogen bis zu den Antike-Imaginationen im zeitgenössischen Film und Roman, die das Bild der Antike mit den avanciertesten ästhetischen Verfahren und medialen Möglichkeiten gerade deshalb nachhaltig zu transformieren vermögen, weil sie sich der verwissenschaftlichen Antike souverän bemächtigen und sie in eine imaginäre Antike retransformieren. Die Sektionen fanden unter der Leitung von Johannes Helmrath, Henning Wrede, Ernst Osterkamp und Erika Fischer-Lichte statt. Der Herausgeber dankt Georg Toepfer für seinen großen Einsatz bei der organisatorischen Durchführung der Tagung und Kerstin Kaufmann bei der redaktionellen Betreuung und Drucklegung dieses Bandes. Wir danken den externen Gutachtern für die kritische Lektüre des Manuskripts. Ernst Osterkamp

Inhalt Spätantike und Mittelalter: Die erste transformative Epoche von »Antike« ARNOLD ESCH Wahrnehmung antiker Überreste im Mittelalter .............................................

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MARCO FORMISANO »Eine andere Antike«. Für ein ästhetisches Paradigma der Spätantike ..........

41

SUSANNE MORAW Zweifelhafte Gestalt oder Inbegriff von virtus und sapientia. Odysseus in der lateinischen Spätantike ...................................................................................

59

URSULA ROMBACH Wissen und Imagination – Distanzierung und Aneignung. Transformationen des Amazonenbildes in der Alexanderdichtung des 12. Jahrhunderts ............

79

THOMAS HAYE Die Ästhetisierung der Zeitgeschichte aus dem Geist des antiken Epos – Begründungen lateinischer Panegyrik im frühen und hohen Mittelalter ........

97

Barock: Rekonstruktion und Repräsentation TATJANA BARTSCH Transformierte Transformation. Zur fortuna der Antikenstudien Maarten van Heemskercks im 17. Jahrhundert .................................................................... 113 LUDWIG BRAUN Fortia facta cano Lodoici – Über die Heroisierung der Gegenwart durch das transformierte Epos der Antike im 17. Jahrhundert ........................................

161

CORNELIA WILDE Nathaniel Ingelos Bentivolio and Urania als philosophische romance. Aspekte antiker Philosophien in christlich-neuplatonischer Erbauungsliteratur .......... 171

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Inhalt

Historismus: Ausdifferenzierung und Eklektizismus im »Jahrhundert der Archäologie« MARTIN DÖNIKE »Belehrende Unterhaltung«: Altertumskundliches Wissen im antiquarischphilologischen Roman ....................................................................................

201

CHARLOTTE SCHREITER Bildhauerische Technik und die Wahrnehmung antiker Skulptur: Francesco Carradoris Lehrbuch für Studenten der Bildhauerei von 1802 ......

239

ADOLF H. BORBEIN Kunstgeschichte als ästhetisches Ereignis. Die Kunst der Antike in deutschsprachigen wissenschaftlichen Monographien für ein bürgerliches Publikum im 19. und frühen 20. Jahrhundert ..................................................................

267

ACHIM AURNHAMMER Georg Ebers’ Kleopatra: Kompromiss zwischen Gelehrsamkeit und Popularität .......................................................................................................

283

Neo-Historismus: Antike unter den Bedingungen moderner Massenmedien und Simulationstechniken MARCUS JUNKELMANN Parade und Triumphzug im Monumentalfilm .................................................

309

CRAIG WILLIAMS Rom in der Postmoderne. Darstellungen der Antike in zwei historischen Romanen .........................................................................................................

325

MATTHIAS DREYER Archiv und Kollektiv. Griechische Tragödien als chorisches Theater bei Einar Schleef, Theatercombinat und Theodoros Terzopoulos ........................

345

Autorenverzeichnis .........................................................................................

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Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................

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Personenregister ..............................................................................................

377

Sachregister .....................................................................................................

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Spätantike und Mittelalter: Die erste transformative Epoche von »Antike«

Wahrnehmung antiker Überreste im Mittelalter ARNOLD ESCH a Salvatore Settis

I. Begonnen sei, um möglichst rasch in das Thema hineinzufinden, mit einer Feststellung über das – für unsere Fragestellung zentrale – 12. Jahrhundert und mit einem ersten Durchgang durch die Wahrnehmungen von Antike in einem sehr konkreten, materiellen Sinn. Denn nicht die hohe, gebildete, reflektierte Ebene der Antiken-Rezeption soll hier im Mittelpunkt stehen: Wir wollen sie auch auf niedrigerer Ebene zu fassen kriegen. Das 12. Jahrhundert ist eines der großen Jahrhunderte der Weltgeschichte: In der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts kommt in Europa vieles in Bewegung, das sich dann im 12. Jahrhundert durchsetzt. Damals entsteht die Kommune, die politische Stadtgemeinde; damals entsteht die Universität – auch das ein Ereignis von großer emanzipatorischer Wirkung. Und damals wächst eine neue Empfänglichkeit für die Antike: Kein Jahrhundert vor der Renaissance, das so antikennah gewesen wäre wie das zwölfte! Das römische Recht wird wiederentdeckt, der Kreis der rezipierten antiken Autoren weitet sich, die Spolienverwendung wird gezielt und wählerisch.1 Doch wird es im Folgenden nicht um die literarische Antiken-Rezeption gehen, sondern ganz konkret um die Wahrnehmung sichtbarer, anfassbarer Antike. Dabei sei mit dem Begriff »Wahrnehmung« hier etwas anspruchsvoll umgegangen und nicht jedes Vorkommen von idolum oder Capitolium in HeiligenViten schon als »Antiken-Wahrnehmung« aufgefasst; auch bei HinfälligkeitsMetaphern kommen den Autoren ganz von selbst Ruinen in den Sinn, ohne dass sie da immer antike Überreste leibhaftig vor Augen gehabt hätten. Und auch die Erwähnung antiker Steine in Mirakelberichten vom Typ »Der Heilige ließ uns heidnische Bausteine auffinden, so dass wir unsere Kirche zu Ende bauen konnten«, sei hier nicht unter »Wahrnehmung« gerechnet, selbst wenn sie sich oft auf wirkliche römische Steinlagen bezogen haben dürfte. _____________ 1

Die Elemente dieser neuen Dynamik in knappem Überblick bei Esch (2006), 709–740.

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Arnold Esch

Das Antiken-Interesse ist damals nicht mehr nur eine Sache einiger gebildeter Kleriker, sondern ergreift weitere Kreise. Oder um es nun an der Wahrnehmung von Antike festzumachen: Jetzt äußert man sich sogar über bloße Quadern, bloßes Mauerwerk. Nicht weil man die Quadern brauchte, sondern weil man die Quadern bewunderte: murus in quadris lapidibus, modernorum parcitatem accusans, »eine Mauer aus Quadern, die die Schäbigkeit (parcitas) der heutigen [Erbauer oder Mauern] bloßstellt«, formuliert, um 1130, die Chronique des comtes d’Anjou den Eindruck, den antike Quadern, vielleicht als untere Lagen einer Bruchsteinmauer, mit ihrem präzisen Steinschnitt und ihren monumentalen Dimensionen machten.2 Oder wenn der Tractatus über die Kirche von Oudenburg in Flandern (um 1084) präzise Beobachtungen an der Mauerwerksstruktur des dortigen römischen Kastells anstellt: Die Fundamentquadern seien ferro et plumbo firmiter infixis (also mörtellos durch »Metallklammern mit Bleiverguss« verbunden) – und dann folgt eine regelrechte Baustoffanalyse: Die Blöcke im Fundament seien damals wohl in der Gegend von Boulogne-sur-Mer gebrochen worden, die im aufgehenden Mauerwerk eher in der Gegend von Tournai.3 Oder Rahewins Beschreibung des römischen Bogens in Mailand: ex quadris lapidibus solido opere compacta, »aus Quadern fest gefügt, die Blöcke gewaltig groß; und nicht aus irgendwelchen Steinen (nec enim ex vulgaribus saxis), sondern kunstvoll gehauen (manibus artificum formata), so dass man kaum Fugen erkennen kann (vix aut numquam in ea iunctura compaginis apparet)«.4 Was an diesen bloßen Quadern als »antik« wahrgenommen wurde (oder sagen wir vorsichtiger: als ›nicht von uns gemacht‹, doch war die römische Herkunft in der Regel bekannt), war – neben dem sorgfältigen Schnitt, dem beinahe fugenlosen Verbund, der imposanten Größe – auch das Material selbst.5 So ist von lapis de Pario die Rede, obwohl solche Quadern natürlich nicht aus »parischem Marmor« und meist nicht einmal aus Marmor waren, sondern aus irgendeinem lokalen Stein. Aber wenn die Form anzog, genügte ein Hauch kristallinen Schimmers auf gut geschnittener Oberfläche, um das bewunderte Stück noch weiter zu adeln. Der Eindruck antiker Quadermauer, den wir oben in Worten wiedergegeben sahen, wird im späten Mittelalter dann auch in der Malerei ausgedrückt werden, ja sogar einzelne Blöcke im Verbund einer Bruchsteinmauer werden nun als antik kenntlich gemacht6 (Abb. 1 und 2). Hingegen ist andere antike Mauerwerksstruktur wie das verbreitete opus reticulatum, das, wenn intakt, doch auch recht ansehnlich (allerdings nicht wieder verwendbar) war, nicht beschrieben, vielleicht gar nicht als antik wahrgenommen, _____________ 2 3 4 5 6

Chronique des comtes d’Anjou, 336 (ad 1149). Tractatus de ecclesia sancti Petri Aldenburgensi, 871; vgl. Clemens (2003), 388 f. Rahewin, Gesta Frederici III 46 (ad 1158). Weigel (1996), 117–154. Esch (2007).

Wahrnehmung antiker Überreste im Mittelalter

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Abb. 1: Was wird an einer Mauer als antik wahrgenommen? Woran erkennt man, dass sie more romano, oder tempore Romanorum erbaut wurde? Und wie wird dann Mauerwerk als »antik« dargestellt? Hier: unten Quaderwand mit glatter Oberfläche, oben Bossenquadern, die raue Oberfläche der Bosse körnig aufleuchtend zwischen dem glatten Randschlag. Fra Angelico, I Santi Cosma e Damiano condannati al rogo (Ausschnitt): Pala di S. Marco (ca. 1438–1440), Predellenteil in Dublin, National Gallery of Ireland.

und äußerst selten – und dann nur als Dekorationsmuster, nicht als Technik – imitiert worden.7 Dass sogar bloße antike Mauer, schmuckloses Quaderwerk wahrgenommen und beschrieben wurde, sei hier an den Anfang gestellt, um deutlich zu machen, mit welchem Interesse und in welcher Breite sich das 12. Jahrhundert den antiken Überresten zuwandte. Das ist Wahrnehmung von Antike unscheinbarer als die – gewiss beredteren, damals gleichfalls gehäuft einsetzenden – Aussagen über antike Statuen. Aber es ist gerade unsere Absicht, sie auch auf dieser Ebene zu fassen. _____________ 7

Pagliara (1998–1999), besonders 240 ff. Dass auch antike Ziegel im Mittelalter massiv wiederverwendet wurden, ist eine neue Erkenntnis der Spolien-Forschung und kann hier – da es (im Unterschied zum wahrgenommenen Quader) bloßes Recycling von Material ist – außer Betracht bleiben.

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Arnold Esch

Abb. 2: Wahrnehmung antiker Stücke in einer Bruchsteinmauer: Bossenquader mit Randschlag, Altar mit Inschrift und Profil, Tafel mit Rahmung (siehe Pfeile). Andrea Mantegna, S. Sebastiano, Louvre (um 1480), Ausschnitt Hintergrund.

Das antike Monument auch an der Perfektion des Details zu erkennen, ist ein für dieses Jahrhundert kennzeichnender, weiterer Schritt, dem die Wahrnehmung des Ganzen natürlich voraufging. Wie antike Monumente als Ganzes, in ihrer Gestalt, in ihrem Zusammenhang wahrgenommen wurden, dazu nur eine Episode, die solche Wahrnehmung in ungewöhnlicher Weise zum Ausdruck bringt. Normannische Geschichtsschreibung berichtet zum Jahr 860, ein Wikingerhäuptling, der mit seinen Drachenschiffen ins Mittelmeer vorgedrungen war, habe bei Eroberung des kleinen Luni bei Pisa schon geglaubt, er habe Rom erobert: ratus cepisse Romam caput mundi.8 Ob es sich tatsächlich so verhielt, lässt sich natürlich nicht feststellen: Hier genüge, dass man in der frühesten normannischen Historiographie das jedenfalls für möglich hielt. Und das erlaubt die Frage: Was mag einem solchen Barbaren, mit römischer Architektur gänzlich unvertraut, beim Anblick einer verfallenden römischen Provinzstadt (Abb. 3) davon überzeugt haben, dies müsse wohl Rom sein? Eine Stadt ganz aus Stein und nicht aus Holz wie an den heimatlichen Küsten, gewiss; die Säulen doppelt so hoch und doppelt so dick wie die der zuletzt im Norden geplünderten Klöster, usw. Aber reichte das schon an das Rom-Bild, das dieser Barbar offensichtlich in seinem schlichten Gemüt trug? _____________ 8

Dudo von St-Quentin, De moribus et actis primorum Normanniae ducum, col. 625.

Wahrnehmung antiker Überreste im Mittelalter

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Abb. 3: Wahrnehmung monumentaler Überreste. Schon der Eindruck dieser verfallenden römischen Provinzstadt, Luni bei Pisa, hat 860 einen Wikingerhäuptling angeblich glauben lassen, er habe Rom vor sich.

Vielleicht war es das erste Amphitheater seines Lebens, das ihm diesen Eindruck machte? (Noch in einer Urkunde Barbarossas wird Lunis Amphitheater eigens als edificium quod circulum vocatur aut arena hervorgehoben9). Gewiss war es eines: Monumentalität! Was immer da geschehen (oder behauptet worden) sein mag: Was hier beschrieben wird, ist Wahrnehmung von Antike zugleich mit dem inneren (Rom-Bild) und dem äußeren Auge. Doch zurück zu systematischerer Behandlung unseres Themas. _____________ 9

Diplomata Friderici I, 4, Nr. 911 (1185 Juli 29). – Grabungen haben ergeben, dass der Verfall von Luni früh begann, und schon im späten 4. Jahrhundert Via Aurelia bzw. Via Aemilii Scauri im Innern der Stadt ihres Pflasters beraubt wurden. Die Stadt war im Frühmittelalter noch bewohnt, litt aber stark unter normannischen und sarazenischen Plünderungen. Die Verlegung des Bischofssitzes 1204 nach Sarzana ist nur noch die letzte Folge dieser Entwicklung. Zum Ende der Stadt Conti (1967), cap. 5. Schon für Dante (Par. XVI 73–74) ist Luni das Beispiel einer vergangenen Stadt.

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Arnold Esch

Was alles an antiken Resten über der Erde wahrgenommen werden konnte, das waren – so könnte man den Bestand ganz grob einteilen – einmal die Bauwerke in situ; und dann Skulpturen (Statuen, Reliefs, Sarkophage), aber auch die den antiken Bauten entnommenen und wiederverwendeten Stücke, die so genannten Spolien, die wir auch bei diesem Thema immer zu beachten haben. Denn mangels schriftlicher Äußerungen sagt oft nur die Spolie selbst – durch ihre Auswahl und durch die Art ihrer Wiederverwendung – etwas darüber aus, wie Antike wahrgenommen wurde und was man mit ihr anzufangen wusste.10 Dass man ein antikes Stück damals anders wahrnahm als ein Archäologe heute, versteht sich. Umso nachdrücklicher sei hervorgehoben, dass die Stücke, die mit erkennbarer Absicht – also an hervorragender Stelle – wiederverwendet worden sind, sich tatsächlich fast alle als antike Stücke erweisen. Das ist ja nicht selbstverständlich, und man ist bei oberflächlicher Betrachtung leicht versucht zu sagen: »antikes Stück oder was man damals dafür hielt«. Aber nein, es sind (fast) alles Stücke, die auch die heutige Wissenschaft als eindeutig antik bezeichnen würde. Und das ist doch bemerkenswert. Man sollte sich darum bei »Wahrnehmung von Antike« fragen, was einen mittelalterlichen Menschen dazu vermochte, ein antikes Stück als solches zu erkennen: am Relief vielleicht die feine Ausarbeitung und die fremde Thematik, die manchmal sogar jeder christlichen Ausdeutung widerstand (und dennoch genommen wurde); am Gesims die akkurate Arbeit der Zierstäbe und deren fremdartige Gestalt (ein Eierstab ist doch so anders als ein langobardisches Flechtband), um deren Nachahmung oder Umspielung man sich – mit wechselndem Erfolg – manchmal bemühte11 (Abb. 4a und 4b); am bloßen Mauerwerk der monumentale Quader, am Quader der sorgfältige Steinschnitt (wie schon gezeigt wurde). Das sei hier nicht weiter ausgeführt, nur zur Formulierung solcher Kriterien angeregt, weil sie uns in die Tiefe der Wahrnehmung führen. Der kleinste gemeinsame Nenner solcher Antikenwahrnehmung war vielleicht: »Seltsam schön, fremdartig schön; jedenfalls nicht von uns gemacht«. Wie aber hat man die empfundene Fremdheit, die eigene Befremdung artikuliert? Was fremd ist und nicht vertraut, ist von weit her: entweder in der Zeit (dann kann man es als »sehr alt«, »heidnisch« o. ä. bezeichnen); oder von weit her im Raum (dann kann man es als »sarazenisch« auf Abstand bringen, wofür es im 13. Jahrhundert viele Belege gibt, vor allem im Wirkungsbereich der Chansons de geste). Und wenn »alt«, »ehrwürdig«: Ließ man diese Stücke oder Monumente dann aus einer historischen _____________ 10 Daraus ergeben sich hier und da Überschneidungen mit der Analyse mittelalterlicher Spolienverwendung in Esch (2005). Zur Spolienverwendung und ihrer Aussage etwa Settis (1984– 1986), Bd. 3, 375–486 und (1988), 157–179; Greenhalgh (1989); De Lachenal (1995); Kinney (2006), 233–252; und die Beiträge in den Sammelbänden Antike Spolien (1996); Ideologie e pratiche del reimpiego (1999). 11 Am Beispiel verschiedener Kymatien Müller (2002), besonders 26 ff.; am Beispiel von Akanthusfriesen Peroni (1993), 313–326.

Wahrnehmung antiker Überreste im Mittelalter

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Abb. 4: Wahrnehmung antiker Bauornamentik, 4a: Zahnstab und Perlstab: Versuch einer neuen Anordnung, S. Domenico bei Sora (13. Jahrhundert).

oder aus einer mythischen Zeit kommen?12 (Wobei sogar Caesar oder Karl der Große nicht die historischen Personen sein mussten, sondern als mythische Stifterheroen aufgefasst sein konnten). Dabei sei von vornherein daran erinnert, dass ›Wahrnehmung‹ nicht ein bloß optischer, sozusagen photographischer Vorgang, nicht eine Sache nur der Netzhaut ist: Der auf das antike Stück gerichtete mittelalterliche Blick sieht nicht nur ein Stück gestaltete Materie, er legt auch Bedeutung hinein, sieht Bezüge, ahnt

_____________ 12 Belege zu Chansons de geste und Sarazenen bei Clemens (2003), 418 ff.; vgl. Esch (2005), 32 f.; Schwarz (1992), 31–40.

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Arnold Esch

Abb. 4b: Ein antikes Gesims musste zur Wiederverwendung ergänzt werden: Hier sind die Zierstäbe in getreuer Imitation an der – in erster Verwendung nicht sichtbaren – Seite nun weitergeführt, wenn auch vereinfacht (der Eierstab nicht hinterarbeitet, der Zahnschnitt ohne die seit den Flaviern auftretenden ›Brillen‹). Rom, S. Prassede, Cappella di S. Zenone (um 820).

magische Kräfte, erkennt Möglichkeiten der Instrumentalisierung und des Recyclings, Verwendbarkeiten und Verwertbarkeiten. Was selbstverständlich nicht ausschließt, dass die reine Bewunderung, das Staunen über die seltsame Schönheit des antiken Stückes oft völlig hinreichte, um es zu schonen oder wiederzuverwenden: Ein Motiv, dem im breiten Spektrum der Spolienverwertung13 nicht immer der angemessene Rang gegeben wird. Aber wer im Halbrund eines römischen Theaters nicht funktional die Ausrichtung der Zuschauer auf das Bühnengeschehen, sondern allegorisch den Anfangsbuchstaben des angeblichen Erbauers CAESAR sieht (palacium autem Cesaris edificatum ad modum unius C propter primam litteram nominis sui)14, der sieht eben anders. Nur eines müssen wir von vornherein ausschließen: Dass alles und jedes wichtig sei, weil es antik ist, ja dass alles und jedes gleich wichtig ist (ob es nun eine monumentale Kaiserstatue oder nur ein kümmerliches Grabmal am Straßenrand, oder ein bemaltes Vasen-Fragment ist). Das so zu sehen ist in mittelalter_____________ 13 Zum Spektrum der Spolienverwendung Esch (1969), besonders 42 ff. 14 Wie die Colonna bei ihrer Klage gegen Bonifaz VIII., der habe ihnen in Palestrina mutwillig ihre grandiosen antiken Bauten zerstört (gemeint sind die Substruktionen des Fortuna Primigenia-Heiligtums mit dem Theater oben vor dem Tempel): Klageschrift in Petrini (1795), 430; zum Monument: Zevi (1979), 2–22.

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licher Zeit nicht vorstellbar; das so zu sehen, reicht auch der Humanismus nicht – dafür muss man schon historistisch durchtränkt sein. Man kann sich den jungen Kaiser Otto III. auf seinem letzten Ritt über die alte Via Flaminia vorstellen,15 die zahlreichen antiken Reste am Straßenrand gewiss interessierter betrachtend als alle seine Vorgänger und Nachfolger – aber eine Bedeutung, einen Bezug mussten sie doch haben: mussten Zeichen sein für die Größe der Römer (ein monumentales antikes Stadttor, oder ein Amphitheater am Wege wie in Spoleto, oder ein Meilenstein – nicht schon weil seine Inschrift antik war, sondern weil darauf das eine Wort CAESAR zu entziffern war); mussten Zeugnis sein für den herrscherlichen Willen der Römer (wie die unbeirrbare, das Gelände rücksichtslos zerteilende Geradheit eines massiven Straßenkörpers – zumal für jemanden, der zwischen sächsischen Feldwegen aufgewachsen war). Sie mussten einen Bezug ermöglichen auf die eigene Person, das eigene Programm, etwa: vorn über der via Flaminia hoch oben auf dem Monte Soratte die Einsiedelei jenes Papstes zu sehen, der den großen Konstantin erst zum christlichen Kaiser gemacht hatte, das war so ein Bezug: da oben jener Silvester I. mit Konstantin, hier ich Otto III. mit Silvester II. nun gemeinsam gegen Rom reitend. Das ist selektive Wahrnehmung von Antike, selektiv nach empfundener Bedeutung und möglichem Bezug – denen ist nicht alle Antike gleichwertig Dissertationsthema wie uns. Doch sei die Antiken-Wahrnehmung und Antiken-Instrumentalisierung von Kaiser und Papst (das antike Stück als sichtbares Zeichen legitimer Nachfolge im universalen Herrschaftsanspruch des römischen Kaisertums) hier beiseite gelassen – nur bemerkt, dass nicht nur das vielzitierte Aachen Karls des Großen, sondern auch das Magdeburg Ottos I. römische Spolien enthält,16 die offensichtlich nicht aus dem nahen römischen Rheinland, sondern aus Italien herbeigeschafft worden waren. Denn die legitimierende Kraft konnte nur von dort kommen: Die Wahrnehmung der Antike galt hier nicht der antiken Form, sondern der römischen Herkunft. Aber nicht nur Kaiser und Papst, auch die Kommunen besannen sich auf die Antike, und das sei hier verfolgt, da es uns leichter hinab auf die Ebene führt, auf die wir es hier abgesehen haben. Besannen sich auf die Antike, kaum dass sie zu politischem Bewusstsein gekommen waren, und das geschah, wie so vieles Neue, in der zweiten Hälfte des 11. und im 12. Jahrhundert. Was der Papst konnte, der sich die Rechte Konstantins anmaßte; was die deutschen Könige konnten, die sich – diese Barbaren – die Nachfolge der römischen Kaiser anmaßten: Das konnten die italienischen Stadtgemeinden schon lange! Schließlich saßen sie noch an _____________ 15 Regesta Imperii II 3, 2, nr. 1434–1439 (Dez. 1001/Jan. 1002); zu dieser Strecke Esch (1997), besonders 66 ff. Zu Ottos III. renovatio-Gedanken weiterhin Schramm (1929), und zuletzt Dormeier (2002), 163–189. 16 Thietmar von Merseburg, Chronicon II 17; dazu Meckseper (1996), 179–204.

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ihrem alten Fleck, in ihrem (wenn auch heruntergekommenen) antiken Gehäuse, trugen noch ihre alten Namen. Ihre Antike war etwas anders akzentuiert als die von Kaiser und Papst – weniger imperial, mehr republikanisch17 –, aber der Vorrat an Antikenbezügen war so unerschöpflich, dass er jedem jedes gab: Man musste nur hineinlangen. Nun sagten den Bürgern die römischen Überreste in ihren Mauern wieder etwas – ja da gab es sogar in nördlichen Städten Familien, die sich nach »ihren« antiken Monumenten nannten: des Arènes (weil sie in Le Mans im Amphitheater wohnten), de Aquaductu (Mainz, Köln), de Ponte (Trier).18 Nun erinnerten sie sich wieder ihrer großen römischen Söhne (und wer keinen Virgil, Livius, Plinius oder Ovid hatte, der erfand sich eben einen römischen – oder noch besser: vorrömischen, trojanischen – Stadtgründer). Nun nahmen sie irgendein antikes Stück als städtisches Hoheitszeichen: Eine Säule oder sonst etwas Antikes versetzt an eine zentrale Stelle der Stadt, um dort Recht zu sprechen, Gesetze zu verkünden, den Podestà zu vereidigen, die städtischen Maße zu eichen19 (Abb. 5) – eine Säule oder auch nur einen Säulenstumpf, eine Statue oder auch nur ein Statuenfragment, also nicht notwendig die »schönsten« verfügbaren antiken Stücke, aber doch solche, die erkennbar antik waren und für die Bürger eine – uns nicht immer nachvollziehbare – Bedeutung hatten: Antike wahrgenommen eben nicht nur mit dem Auge! So wurden antike Stücke – ansehnliche wie die Reiterstatuen des Regisole in Pavia oder des Mark Aurel in Rom,20 unansehnliche wie das Weinmaß in Rom oder die Pietra del bando in Venedig – zu Hoheitszeichen, gehörten zum Inventar der städtischen Identität. Und weil das so war, sah man es auf sie ab, wenn man die eroberte gegnerische Stadt treffen wollte: nahm als beste Beute ihre Glocken, Hafenketten, Dom-Türen – oder eben ihre Antiken,21 nicht weil sie »schön« waren, sondern weil sie dem Gegner etwas bedeuteten (was übrigens auf den ursprünglichen Sinn von »Spolie« zurückführt: »Beute«, spolia opima »ansehnlichste Beute«). Bei literarischen Selbstdarstellungen solcher Städte mit ihren Antikenbeteuerungen (wie der Eulistea in Perugia, in Auftrag gegeben um antiquitatem reducere in memoriam, der erfundene Trojaner Eulistes mit eigener Ikonographie22) kann man bisweilen seine Zweifel haben, ob das nicht bloß rhetorisches Gekräusel war: Wenn aber nicht ein auftragsuchender Poet, sondern der _____________ 17 Memoria dell’antico nell’arte italiana, die Beiträge von Chiara Frugoni und Massimo Miglio; Esch (2001), 3–25, mit Nachweis der lokalen Forschungsliteratur. 18 Clemens (2003), 372 f., mit weiteren Beispielen. 19 Beispiele in Esch (2001). 20 Heydenreich (1959), 146–152; Saletti (1997); Marco Aurelio (1989). Siehe auch Anm. 27. 21 Dazu zuletzt Müller (2002); vgl. Kunstchronik 57 (2004), 521–525. 22 Zur Eulistea (1294) und der Darstellung an der Fontana Maggiore siehe Gramaccini (1996), 186 ff., besonders 199 f. Zur Gattung des so genannten Städtelobs – nämlich Städteselbstlobs – Classen (1980); und zuletzt Haye (1997), 283 ff.

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Abb. 5: Das offizielle Wein-Maß der Kommune Rom. Um die antike Herkunft des Stückes wahrnehmbar zu machen, ließ man an der wiederverwendeten Säule unten die (gefüllten) Kanneluren stehen, während die Löwenköpfe oben aus der Substanz des Säulenschaftes herausgeholt wurden. Auch für die anderen Eichmaße wählte die römische Kommune Stücke, die erkennbar antik waren. Rom, Konservatorenpalast (14. Jahrhundert).

Feind die Antike dieser Stadt ins Auge fasst, dann ist es ernst, dann muss sie ihr wirklich etwas bedeutet haben! In die Nähe solcher Antiken-Auffassung aus dem Innern selbstbewusster Städte wäre auch die so genannte Mirabilien-Literatur zu setzen: Am bekanntesten die Mirabilia Urbis Romae, die »Wunder der Stadt Rom«, deren Entstehung mit den Anfängen der römischen Kommune 1143 – also wieder: mit den Anfängen der sich im 12. Jahrhundert emanzipierenden politischen Stadtgemeinde – in

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Verbindung zu bringen ist.23 Schon die erste Fassung, einem Benedetto Kanoniker von St. Peter zugeschrieben, gilt weniger den christlichen Kirchen als den antiken Monumenten (den christlichen Kirchen eher insofern, als sie oft über heidnischen Tempeln errichtet seien, ja eine Kirche postuliert geradezu den überwundenen Tempel darunter): antiken Monumenten von respektablen Dimensionen und wunderbarer Schönheit (mirae pulchritudinis ist ein hervorgehobener Zug), die man aus ihrem antiken Kontext zu erklären versucht, wobei auch antike Schriftquellen herangezogen werden, wie der Autor beteuert (sicut in priscis annalibus legimus24), und nicht nur der Augenschein (et oculis nostris vidimus). Nur dass die Identifizierung (»Identifizierung« im wörtlichen Sinne: Zu welchem Überrest gehört welche Textstelle?) oft nicht gelang. Und ob die Mirabilia tatsächlich ausgehen von dem, was vor Augen war, oder manchmal nicht eher von dem, was man wusste und glaubte, und sich dazu einen ansehnlichen Überrest suchten, ist oft zweifelhaft. Sie wollten ja auch nicht eigentlich Monumente beschreiben, sondern Deutungen geben, Bezüge herstellen. Denn das Vorgefundene war so erstaunlich, dass es unmöglich nur sich selbst bedeuten konnte. Mirabilien deuten die antiken Monumente, mit denen man alltäglich zusammenlebte, legendarisch aus, versuchen deren unvertraute Gestalt und rätselhafte Bestimmung, die beide den Verdacht innewohnender magischer Kräfte erwecken, einleuchtend zu erklären. Etwa so: In Räumlichkeiten auf dem Kapitol standen Statuen, die die einzelnen Provinzen darstellten, jede mit einem Glöckchen um den Hals. Rebellierte nun eine Provinz, dann ertönte das Glöckchen der entsprechenden Statue, und die Legionen wussten sogleich, wohin sie zu marschieren hatten (uniuscuiusque regni totius orbis erat statua in Capitolio cum tintinnabulo ad collum; statim ut sonabat tintinnabulum, cognoscebant illud regnum esse rebelle).25 Da sagte sich der Hörer: Ja dann erklärt sich alles leicht, mit so einem Alarm-Mechanismus sollte man wohl ein Weltreich zusammenhalten können – mit dieser Fabel erklärten sich die Statuenfragmente und die Weltherrschaft! Oder die Mirabilia berichteten, der metallene Knauf auf dem Vatikanischen Obelisken enthalte die Asche Cäsars, denn wie er im Leben hoch über aller Welt stand, so eben auch im Tode (ut sicut eo vivente totus mundus ei subiectus fuit, ita eo mortuo usque in finem saeculi subicietur).26 Das ließ sich begreifen, denn das leuchtete dem bloßen Auge ein. Und weiter in diesem Sinn. Die Mirabilia sind nun nicht, wie man leicht annehmen könnte, Antikenwahrnehmung aus der Tiefe der Volksseele, sondern durchaus verfasst von einem _____________ 23 Codice topografico (1946), 3–65; zu ihrer Wirkung auf die späteren Rom-Pilgerführer zuletzt Miedema (2003): Mirabilia Romae vel potius Historia et descriptio urbis Romae, 223–294. 24 Doch lässt sich da nicht viel feststellen (Ovids Fasti und Regionenverzeichnisse des 4. Jahrhunderts). Zu den antiken Monumenten in den Mirabilia zuletzt Nardella (2001), 423–447. 25 Mirabilia, cap. 16, in Codice topografico, 34; weitere Versionen dieser so genannten Salvatio Romae oder Salvatio civium ebd., 87, 127, 151, 192. 26 Mirabilia, cap. 19.

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gelehrten Autor, der Texte wenigstens zur Hand nehmen konnte, und wohl auch politische Absichten des Augenblicks in diesen Rom-Führer einfließen ließ, um die Entstehung der römischen Kommune in der so genannten renovatio senatus, der »Erneuerung des Senats« 1143, historisch-ideologisch zu untermauern. Die »Zeit der Konsuln und Senatoren« (tempore consulum et senatorum) ist hier denn auch der große Horizont, auf den Bezug genommen wird mehr noch als auf die Kaiserzeit,27 und dass das 12. Jahrhundert gerade in Rom bewusst Antiken-Nähe zeigte (bis in die Ausstattung bloßer Straßen-Portiken), ist unverkennbar.28 Auch die Gesta Treverorum, sozusagen die »Mirabilia« der Stadt Trier, sind, bei aller phantastischen Deutung (eine Merkurstatue frei schwebend zwischen zwei Magneten, goldene Sterne den nächtlichen Hafenbetrieb beleuchtend, das städtische Kapitol mit seinen über 100 idola Götterstatuen, die unterirdische Wein-Pipeline nach Köln, subterraneum viniductum a Treberi usque Coloniam, usw.), nicht die Antikenauffassung der Trierer Hafenarbeiter oder Marktfrauen, sondern gleichfalls ein Gelehrtenprodukt, vielleicht sogar eines Römers: Ein Petrus Romanus wird damals, um 1100, als (und das war damals die höchste denkbare Bildungsfunktion:) scolasticus et bibliothecarius der Trierer Domschule genannt.29 Auch mit diesen Trierer ›Mirabilien‹ wurden zugleich wohl wiederum Gegenwartszwecke verfolgt, etwa: wer sichtlich römische, ja vorrömische Ursprünge hatte wie Trier, der sollte wohl einen Primat über die benachbarten Metropolitensitze wie Reims und Mainz beanspruchen dürfen. Die Mirabilia gelten als Stadtführer für Pilger, als Rom-Führer, aber ein Fremder dürfte seine Schwierigkeit gehabt haben, sich damit in Rom zurechtzufinden. Ganz anders noch der Rom-Führer des Codex Einsidlensis (eine karolingische Handschrift aus dem Kloster Einsiedeln), der eine wohl um 800 entstandene Beschreibung Roms – seiner christlichen Kirchen und antiken Monumente – in mehreren Itineraren bietet.30 Anders als die Mirabilien ist der Einsidlensis durchaus als Stadtführer praktikabel, indem er, ohne nach Sinn oder Hintersinn der Monumente zu fragen, das Sehenswürdige nach Routen anordnet, deren Anfang und Endpunkt genau bezeichnet (z. B. »Von der Porta S. Petri bis zur Porta Asinaria«) und dann in Gehrichtung die Bauwerke benennt (Abb. 6): Linker Hand sieht man (und das wird in die linke Textspalte gesetzt) erst die Alexanderthermen, dann S. Eustachio und Pantheon, rechter Hand – einigermaßen gegenüber – S. Lorenzo in Damaso, dann _____________ 27 Auch dass die Mirabilia z. B. die Identifizierung des Mark Aurel als Konstantin verwerfen und eine stadtnähere, sozusagen »kommunale« Deutung vorziehen, ist der Forschung immer schon aufgefallen. Zuletzt Kinney (2002), 372–398; Herklotz (2006), 90 f. Zu den Rossebändigern des Quirinal Thielemann (1993), 85–131. 28 Noehles (1966), 17–37; Claussen (1987); Pensabene/Pomponi (1991/1992), 305–346. 29 Gesta Treverorum, besonders cap. 3–6. Dazu Thomas (1968); Clemens (2003), 322 ff. 30 Neben den (immer noch grundlegenden) frühen Studien von Giovanni Battista De Rossi, Rodolfo Lanciani, Christian Hülsen zuletzt vor allem Walser (1987) mit neuer Edition (und Faksimile) des Textes, nach der hier zitiert wird; Bauer (1997), 190–228.

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das Pompeiustheater usw. (für die Archäologen und ihre jüngsten ergebnisreichen Ausgrabungen im Bereich der Crypta Balbi und der Kaiser-Foren ist dabei die Frage interessant, ob der Einsidlensis nicht stellenweise schon nachantike Straßenzüge, sozusagen Trümmerpfade, gegangen ist31). Und so in 12 Routen kreuz und quer durch die Stadt. Natürlich haben die Itinerare ihre Versehen und Unstimmigkeiten, mit denen sich die Forschung eingehend auseinandergesetzt hat. Aber hier geht es um den Ansatz, die Anlage des Textes, und wie er mit den antiken Bauwerken – ihrer Benennung, ihrer Lokalisierung – umgeht. Beigegeben ist ein epigraphischer Teil mit rund 80 teilweise schwierigen Inschriften, die korrekt und noch in Kenntnis der wichtigsten Abkürzungen zu transkribieren eine bemerkenswerte Leistung war: Dazu werden die folgenden Jahrhunderte nicht mehr in der Lage sein. Die topographische Herkunft dieser Inschriften, auf einem Rom-Plan kartiert, deckt sich oft mit den beschriebenen Routen. Man wird daraus schließen dürfen, dass der Verfasser diese Routen wirklich gegangen ist (das scheint selbstverständlich, ist es aber nicht, und bedarf solcher zusätzlichen Beweise). Und dass er dabei vermutlich nicht nur Pilger im Auge hatte, verrät schon die oft unerbauliche Auswahl seiner Inschriften (etwa der Siegespreis des Rennfahrers Gutta (»Für die blaue Partei habe ich mit dem afrikanischen Rappen Geminatus 92mal gesiegt, mit dem afrikanischen Fuchs Silvanus 105mal […]«).32 Die Siegespalme auf der Inschrift des Rennfahrers wird man beim besten Willen nicht mit der Siegespalme des Märtyrers in Verbindung bringen und so dem Pilger genießbar machen können (obwohl Gelehrte auch auf solche interpretatio christiana verfallen sind).

Abb. 6: Die Rom-Itinerare des Codex Einsidlensis (um 800) noch mit nüchterner Benennung und topographisch korrekter Lokalisierung der Monumente, was dann für lange Zeit von den Mirabilia verdrängt werden wird. Die Monumente links der Route (hier: »Von der Porta S. Petri zur Porta Asinaria«) kommen in die linke Spalte, die rechts am Wege in die rechte Spalte, ein dabei zu passierender antiker Bogen wird folgerichtig über beide Spalten gesetzt (hier erst der Gratian-ValentinianTheodosius-Bogen an der Engelsbrücke, dann der Septimius Severus-Bogen am Forum).

_____________ 31 Manacorda (2001), cap. 4 mit Abb. 49, 55, 72. 32 CIL VI 10047 a–c; Walser (1987), 113–116.

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Dem Einsidlensis sei hier nicht weiter gefolgt, für die Zwecke unseres Themas nur festgehalten: Was daran – in Gegenüberstellung zu den Mirabilia – auffällt (zumal dem darin nicht verwöhnten Mediävisten auffällt), ist die nüchterne Darbietung der antiken Monumente in der Tradition der Notitiae, rational nach Straßenzügen organisiert und nicht nach hintersinnigen Bedeutungen angeordnet; bezeichnet mit ihren alten – noch nicht mit phantastischen – Namen und in ihrer Lage fast immer korrekt lokalisiert, ja eindeutig zu identifizieren auch dann, wenn Name oder Lage einmal irrig sind. Das wird sich, mit den Mirabilia, bald ändern. Die Mirabilien sehen aus den antiken Monumenten nicht Geschichte heraus, sondern Sinn hinein. Das Problem der Mirabilien-Literatur ist im Grunde nicht, dass sie zu wenig weiß, sondern dass sie zu viel weiß (wie manchmal noch heute bei dilettierender Wissenschaft); dass sie ein nescio nicht kennt und für alles eine Erklärung hat. Diese Sicht der Dinge – die sehr wohl ›Wahrnehmung‹ ist, aber eine völlig andere, als wir sie heute unterstellen – hatte eine große Faszination, sie fand große Verbreitung, wie wir auch in den Berichten spätmittelalterlicher Reisender erkennen, die zudem ja in die Erzählkreise der besuchten Städte gerieten und den Ausdeutungen der dortigen Ciceroni, der lokalen Fremdenführer anheimfielen. Darum ein kurzer Blick auf die Gattung der Reiseberichte. Reiseberichte lassen persönliche Begegnung mit dem antiken Monument erwarten – und enttäuschen dann doch oft. Es ist schon viel, wenn sich, vor antiken Monumenten, in solchen Texten Elemente eigener Beobachtung überhaupt erkennen lassen und nicht alles gleich unter die Decke mirabilischer Ausdeutung gerät:33 die antiken Bauwerke nicht eigentlich wahrgenommen in ihrer Gestalt, sondern bloß Anlass zu deutender Erzählung in der üblichen Mischung von Legendarischem, Allegorischem, Etymologischem (Colosseum von colis eum, »Du verehrst ihn« = den Teufel, nein, besser: colis deum!), Heilsgeschichtlichem (»stürzte ein am Tage von Christi Geburt«), der Bauvorgang nicht technisch, sondern magisch erklärt. Und wo einmal eine monumentale Fassade (das Kolosseum, das Septizonium) mit eigenen Worten beschrieben wird, da kann ein mit Fachsprache nicht vertrauter Mund das nur ganz additiv tun: 100 Bogen nebeneinander, darüber wieder Bogen und noch mal Bogen, darinnen noch ein Bogenring, und dann noch einer.34 In der Fachsprache würde der eine Begriff ›Amphitheater‹ genügen, und schon hätte man, heute (aber auch schon im Italien der Humanisten), Aufriss und Grundriss des Bauwerks vor Augen: So wichtig ist, bei der Vermittlung von Wahrnehmung, der Begriff, dessen Kenntnis wir beim andern voraussetzen können!35 Sonst geht es nur additiv. _____________ 33 Beispiele bei Esch (2004), 115–127. 34 So um 1450 der englische Prior John Capgrave, Ye Solace of Pilgrimes, I 18 zum Septizonium; so 1497 der Luzerner Ratsherr Hans Schürpf, 5, zum Amphitheater von Pula. 35 Esch (1991), 281–312.

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In aller Regel wird man in den Reiseberichten die lokalen Deutungen antreffen, mit denen in den einzelnen Städten die antiken Monumente belegt wurden. Diese lokalen Traditionen – mit dem Mirabilienblick als gemeinsamem Nenner und doch auch spezifischen Besonderheiten – sind für manche Städte untersucht worden und seien hier nur am Beispiel eines Bautyps kurz verfolgt, der schlechthin unübersehbar war: eben das Amphitheater.36 Bisweilen waren sogar diese gigantischen Bauten vollständig im städtischen Siedlungsgewebe aufgegangen: zur internen Zitadelle geworden wie in Tours, zum geschlossenen Wohnquartier geworden wie in Arles37 (Abb. 7).

Abb. 7: Selbst der monumentalste aller Bautypen, das Amphitheater, konnte sich im Siedlungsgewebe einer Stadt (links: Lucca) oder in der Landschaft (rechts: Augst vor der Entdeckung des Baus) so verflüchtigen, dass es, obwohl weitgehend noch erhalten, nicht recht wahrgenommen wurde.

Aber wo sie – als Ruine, als Steinbruch oder gar als (durch die Sitzstufen gut terrassierter) Weinberg – erkennbar geblieben waren, da gaben ihre Ausmaße, ihre gekurvte Fassade, ihre gewaltigen Substruktionen Rätsel auf. Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, wie lange sie, etwa in Frankreich, noch als amphitheatrum oder als arenae bezeichnet werden, so als habe man noch eine Vorstellung von ihrer ursprünglichen Funktion gehabt. Bis dann, spätestens im 13. Jahrhundert, die fabulöse lokale Namengebung einsetzte, die den labyrinthi_____________ 36 Zum Nachleben dieses Bautyps vor allem Clemens (2003), 82–111; Basso (1999). Benennung am Beispiel von Luni siehe oben Anm. 9. 37 Von den beiden deutschen Provence-Reisenden mit Reisebericht (Hans von Waltheym 1474 und Hieronymus Müntzer 1494/95) hat Waltheym das Monument nicht einmal wahrgenommen.

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schen Bau nun zum Palast eines mythischen Fürsten, einer sarazenischen Prinzessin usw. machte. Das Amphitheater und seine Wahrnehmung geht eben mit der Zeit: Im frühen 16. Jahrhundert kann dann auch eine ›Geburt Christi‹ in die Ruinen eines Amphitheaters verlegt werden.38 Zurück zu den Reiseberichten. Die von den Mirabilia geprägte, vom Humanismus noch unberührte Antikenwahrnehmung findet man in Reiseberichten überall, auch in Griechenland – schließlich hatte auch Athen seine Mirabilia (über die schon Ferdinand Gregorovius eine schöne Abhandlung vorgelegt hat39). Aber was am Südhang der Akropolis ein Athen-Besucher 1395 noch mit Bestimmtheit als Podest eines Götzenbildes, das ein feindliches Schiff fernhin vernichten konnte, gedeutet hatte, weil die Mirabilien es so wollten, das wird 75 Jahre später in einem anderen Bericht als nicht deutbar weil nicht erkennbar bezeichnet: »weil ich nicht näher herankommen konnte, habe ich nicht begriffen, worum es sich dabei handelt« (per non haver potuto acostarme non ho compreso quello che sia).40 Das unerhörte Eingeständnis eines Mannes – vermutlich ein venezianischer Ingenieur, um 1470 – der sich nicht vom lokalen Cicerone sagen lässt, was er alles zu sehen hat, sondern selber hinschaut! Und so auch im Weiteren, mit Fragen und Beobachtungen, auf die die Mirabilien nie verfallen würden, etwa: Warum fehlt im Olympieion jede Spur einer Cella-Mauer? Zwar geht seine Deutung völlig fehl, aber er sieht wenigstens hin und stellt die richtige Frage. Mit diesem Selber-Hinschauen, mit diesem Bekenntnis des Nicht-Wissens beginnt etwas Neues, enden die Mirabilien. Aber nicht für jeden. Denn AntikenWahrnehmung nach Art der Mirabilia ist nicht nur eine zeitlich eingrenzbare Phase der Antiken-Wahrnehmung, sondern auch eine Sehweise (der man in gemäßigter Dosierung auch heute begegnen kann: Manche Touristenführer in Rom können noch heute so reden), also eher ein anthropologisches als ein historisches Phänomen. Das lässt sich mit einer einfachen Versuchsanordnung demonstrieren: Man führe mehrere Betrachter aus (nicht verschiedenen Jahrhunderten, sondern:) denselben Jahren vor (nicht irgendein antikes Bauwerk, sondern:) ein und dasselbe Bauwerk und lasse sich dann von ihnen erzählen, was sie sehen. Drei Personen (ein italienischer Humanist, Flavio Biondo; ein Florentiner Kaufmann, Giovanni Rucellai; ein Nürnberger Patrizier, Nikolaus Muffel) stehen, um 1450, fast gleichzeitig vor dem Pantheon – und doch sollte man nicht glauben, dass sie dasselbe Bauwerk beschreiben!41 _____________ 38 Marcello Fogolino, Natività (ca. 1520–1530): Memoria dell’antico (1984–1986), Bd. 3, Abb. 352. 39 Gregorovius (1887), 75–115. 40 Ziebarth (1899), 76. – Auf einer anderen Ebene (und darum hier nicht behandelt) die Berichte von Cyriacus von Ancona und Cristoforo Buondelmonti, auf deren jüngste Ausgaben jedenfalls hingewiesen sei: Cyriac of Ancona (2003); Cristoforo Buondelmonti, Liber insularum Archipelagi (2005). 41 Esch (2004), 117 f.

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Das gilt natürlich nicht nur für die beschreibende, sondern auch für die abbildende Wiedergabe der antiken Monumente oder ganzer Monumenten-Ensembles in Stadtbildern. Etwa eines der Rom-Tondi des frühen 15. Jahrhunderts (Abb. 8),42 das man dem Rom-Plan von Alessandro Strozzi von 1474 gegenüberstellen könnte – ein instruktiver Vergleich hier einmal nicht, um daraus den Fortschritt der inzwischen von Humanisten wie Flavio Biondo geschärften, architektonisch und topographisch exakten Sehweise zu demonstrieren, sondern umgekehrt: um den voraufgehenden, so ganz anderen Blick auf die antiken Monumente vor Augen zu führen.

Abb. 8: Rom-Bild in einer Buchminiatur von etwa 1420 (Sallust-Handschrift, Ausschnitt). Die antiken Bauwerke – hier: zwischen Engelsburg und Kolosseum (Norden ist unten) – sind noch ohne das Verständnis gesehen, das schon eine Generation später die Humanisten entwickelten.

_____________ 42 Miniatur (um 1420) zu Sallust, Verschwörung des Catilina, Ms. in Privatbesitz: Frutaz (1962), tav. 150 (der Plan des Alessandro Strozzi ebd., tav. 159). Zur Rom-Darstellung vgl. Maddalo (1990).

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Da zeigt sich: Wer die Typologie antiker Bauwerke nicht kennt, macht aus dem Augustus-Mausoleum einen Kuppelbau, gibt dem Pantheon Fensteröffnungen im Tambour. Wer nicht weiß, dass die Bauten an der Piazza Navona auf den Substruktionen eines Stadions stehen, sieht nur eine formlose Anhäufung von Gebäuden. ›Turm‹ bedeutet einfach ›befestigt‹: so beim Marcellustheater, so auf dem Kapitol; der Strozzi-Plan hingegen bringt dort, statt der Sigle ›Turm‹, die (von Bonifaz IX. und Martin V. tatsächlich errichteten) Ecktürme des Senatorenpalastes und verzichtet auf Galgen und Pranger. Die Gestalt der Bauwerke ist weniger wichtig als ihre Bedeutung. Aber wir halten ein, bevor die italienischen Humanisten die Antike neu sehen lehrten: nicht »die« Humanisten (denn es gab Gelehrte, die die Antike nur literarisch, nur durch das Medium von Texten aufzunehmen verstanden ohne jeden Blick für die Monumente, wie Richard Krautheimer mit Recht hervorgehoben hat43); wohl aber Männer wie eben Flavio Biondo, der in seiner spezifischen Verbindung von Kenntnis antiker Autoren, Heranziehung zugehöriger Inschriften, Beherrschung der antiken Fachsprache und nicht zuletzt: der eigenen Beobachtung die Archäologie zu einer Wissenschaft machte. Nun schrieb man auf Spolien bisweilen sogar, von wo man sie wann geholt hatte (Abb. 9).44

Abb. 9: [VIA]E APPIE IN LUCEM VENIMUS 1478, »An der Via Appia kamen wir ans Licht, 1478«, ist über die Büsten eines Freigelassenen-Grabsteins gemeißelt, der damals in Rom in die antikisierende Fassade des Hauses von Lorenzo Manili vermauert wurde. Die meist unbesehen antransportierten Spolien werden nun bisweilen sogar lokalisiert und datiert.

_____________ 43 Krautheimer (1988), 299–319. 44 Mit weiteren Beispielen bei Esch (1996b), 41–58.

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II. In einem weiteren Schritt soll versucht werden, mit einigen Überlegungen die Frage nach der Wahrnehmung antiker Überreste auch auf einer möglichst niederen Ebene zu erkunden: Nicht auf der Ebene von Bildung und Gelehrsamkeit (da begegnet man unvermeidlich den immer wieder zitierten Fällen, was Suger von St-Denis beim Anblick der monumentalen Säulen in den Diokletiansthermen dachte; oder dass Guibert von Nogent, gleichfalls 12. Jahrhundert, es sich schon zutraute, allein nach dem Befund heidnische und christliche Bestattungen voneinander zu unterscheiden) – also einmal nicht auf dieser Ebene von Bildung und Reflexion, sondern mit den Augen gewöhnlicher Menschen in unmittelbarer Begegnung, um auf diese Weise womöglich Elementares im mittelalterlichen Umgang mit der Antike zu fassen zu kriegen. Machen wir uns auf der sozialen Ebene, auf die wir uns begeben wollen, zunächst einmal mit Menschen bekannt, mit Menschen in ihren Namen. Namensgebung gilt als aussagekräftig, und tatsächlich wird man etwa in den Namen, die Fürsten oder Humanisten in der Renaissance erhielten oder annahmen, ein Bekenntnis zur Antike sehen dürfen. Auf niederer Ebene wird man das nicht erwarten, ist auch Namens-Material so nicht verfügbar, denn selbst die in Notarsprotokollen erfassten Namen gehören meist nicht der untersten Schicht an. Umso willkommener, dass die römischen Zollregister der Frührenaissance jeden kleinen Händler, jede kleine Bäuerin mit Namen verzeichnen, wenn sie ihren Flachs, ihre Feigen, ihre Waren alltäglich in die Stadt bringen. Und da hören wir mehr klassische Namen, als wir erwartet hätten: Priamo da Tivoli bringt Papier, Ulisse aus Mazzano Leinen, Diomede Leim; Palamede aus Velletri liefert Käse, Parisse aus Bassano Wachs, Cassandra aus Nepi Leinen, Achilleus aus Magliano Rosinen, Hektor Schrott.45 Man glaubt sich im Trojanischen Krieg – und man fragt sich unwillkürlich: Wusste Priamos von Tivoli eigentlich, wer Priamos von Troja war? Und fühlte er sich sozusagen persönlich angesprochen, wenn er daheim in Tivoli antike Tempelreste sah? Aber auch wo die Antike nicht im Bewußtsein war: Hier war sie untergründig präsent und alltäglich vor Augen. Darum ist das Mittelalter südlich der Alpen auch ein anderes als das Mittelalter nördlich der Alpen, und erfordert andere Mediävisten. Erstaunlicher noch der Fall des kleinen Händlers aus Magliano, der 1465 vergammelten Käse ausführt (»caso tristo […] et vechissimo«, notiert der Zöllner) und den Namen Taliarcho trägt.46 Dieser singuläre Name kann nur aus Horaz sein, Carmen I 9, den bekannten Versen über den Soracte (»Sieh den Soracte weiß von Schnee […] Du, Thaliarch, leg Holz aufs Feuer und schenk uns aus dem sabinischen Krug reichlich Wein ein […]« usw.) – und tatsächlich lebt dieser _____________ 45 Archivio di Stato Roma, Camera Urbis, reg. 26–42, 48–58. 46 Ebd., reg. 37 fol. 117 v.

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Taliarcho in der Sabina, in Magliano in Sichtweite des Soracte, fährt per fiume, auf dem Tiber, immer unmittelbar am Soracte vorbei. Was solche gewöhnlichen Menschen – mochten ihre Namen auch noch so antikisch klingen und ihre Landschaften noch so vollgestellt sein mit allgegenwärtiger Antike – an Antikem wahrnahmen, ist schwer zu erkunden. Das Problem eines solchen Vorhabens liegt natürlich darin, dass wir, was ihre Augen sahen, aus ihrem Munde nicht vernehmen können. Denn der gemeine Mann hat wenig Aussicht, mit seinen Beobachtungen in eine historische Quelle hineinzufinden und sich uns Historikern vernehmlich zu machen, es sei denn, er werde – etwa im Verhör, als Angeklagter oder als Zeuge – zum Reden genötigt. Überlieferungschance ist eben auch sozial bedingt. So müssen wir es, mit List, auf anderem, indirekten Weg versuchen. Aber wenigstens versuchen sollte man es. Zum Beispiel mit unscheinbaren Notarsurkunden wie Landkauf oder Landpacht, die mit der Antike absolut nichts im Sinn haben, aber nicht um sie herumkommen, einfach weil Landschaften wie die früh- und hochmittelalterliche Sabina nördlich von Rom dermaßen mit römischen Ruinen durchsetzt waren, dass sie sich bei der Bestimmung von Grenzverläufen geradezu aufdrängten.47 Denn ein monumentales römisches Turmgrab überragte hoch und leuchtend jeden nachantiken ländlichen Bau, und selbst wenn seine Marmorverkleidung gefallen und nur der zementene Kern geblieben war, so blieb es doch ansehnlich und war auch nicht in einer Nacht beiseite zu räumen wie ein Grenzstein. Ansehnlich und unzerstörbar waren die antiken Reste, unübersehbar gliederten sie die Landschaft – und so können wir die umwohnenden Menschen bei der Grenzbegehung nun fragen, wie sie die antiken Reste wahrnahmen bzw. benannten; können die Landnotare, Klosterverwalter, ländlichen Grundbesitzer, ortskundigen Bauern befragen: hier in der Sabina, oder bei Grenzbegehungen an der Via Appia, oder im Ruinengelände von Porto, usw. Und so erzählen sie uns (und nur der Gegenwartszweck bringt sie zum Sprechen, nur der Rechtsakt – nicht »ästhetische Wahrnehmung« – bringt die Antiken in den Blick!) von Überresten wie monumentum album, mausoleum, balneum Veneris, columnae marmoreae, leones marmorei usw.: Reste antiker Monumente, oder antikenhaltige Flurnamen wie Cento archi, Ad centum muros, Sette camere.48 Dabei muss, wohlgemerkt, balneum nicht eine Thermenanlage sein und mausoleum nicht ein Mausoleum. Aber irgendetwas Antikes wird es gewesen sein: das Außergewöhnliche bezeichnet mit dem außergewöhnlichen Wort. Oder man könnte versuchen, der Antikenbegegnung einfacher Menschen über die Spolien-Verwendung an Pieven, an Landkirchen näher zu kommen. Nicht an städtischen Kathedralen wie Pisa: Da war der Umgang mit der Antike etwas sehr _____________ 47 Esch (1996a), 61–65; vgl. Sommerlechner (2001), 311–354. 48 Il regesto di Farfa, z. B. Nr. 66, 93, 404, 586, 775, 803; Il Chronicon Farfense, z. B. I: S. 159, 305, II: S. 53, 115; Il Regesto Sublacense, z. B. Nr. 10, 12, 17, 21, 37, 39, 52, 53, 105, 121, 122, 216.

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Bewusstes, da sollten die Spolien möglichst aus Rom sein; da wurden (wie der stilkritische Befund, Inschriften, aber auch ein Liefervertrag zeigen) ganze Schiffsladungen antiker Kapitelle, Reliefs, Sarkophage, Inschriftblöcke aus Rom und Ostia nach Pisa transportiert49; da wurden die herangeschafften Spoliensäulen nach ihrer Größe kunstvoll unter die Giebelschrägen der Fassade verteilt (was Vasari am Dom von Pisa vor allem bewunderte). Man denke vielmehr an ländliche Pieven, wie man sie etwa im nördlichen Latium oder im südlichen Umbrien in der Landschaft findet: am Portal und an den Fassadenkanten kunstlos mit Spolien bestückt, das Biforienfenster von antiken Inschriften gerahmt, an der Apsis ein irgendwoher abgeschnittener Löwenkopf oder eine Stierprotome, im Innern ein reliefverzierter heidnischer Altar ausgehöhlt zum Weihwasserbecken (Abb. 10). Man kann sich die Erklärungsnot eines Landpriesters vorstellen, der vor seiner Pieve von den Gläubigen nach der Bedeutung der vermauerten Spolien gefragt wurde. Natürlich wurde er gefragt, und natürlich wusste er eine Antwort.50 Die Eberjagd dort über dem Portal? (Reliefs von Meleager-Sarkophagen oder ihre Kopien, siehe Abb. 11). Vielleicht antwortete er: »Unser Ortsheiliger verjagt das Böse aus unserem Dorf«. Der Löwenkopf dort an der Apsis? (die gern verwendeten Löwen-Protomen): »Das ist die Stärke, die Stärke des Glaubens«. Und der seltsame steinerne Mann dort? Wenn er dann mit christlicher Umdeutung nicht mehr weiterkam, sagte der Pfarrer vielleicht: »Man hat ihn hier in geweihter Kirche vermauert, damit er Euren Feldern nicht mehr schaden kann«. Mit diesem fiktiven Dialog zwischen Landpfarrer und Gläubigen sei nur versucht, das Problem von Fremdartigkeit und Aneignung auf niederer Ebene zu erfassen. Um ästhetische Wahrnehmung geht es da nicht, oder nur insofern, als es das auslösende Moment für die weiteren, eigentlichen Fragen ist: Man erkennt das antike Stück an seiner fremdartigen Schönheit, und das löst die beunruhigte Frage nach der Bedeutung aus – nicht nach dem Alter, auch nicht ob heidnisch oder christlich (was in geweihter Mauer steckte, war sozusagen ›entschärft‹, konnte nicht mehr heidnisch sein und magische Kräfte ausstrahlen – doch in die Mauer musste es erst einmal hineinkommen). Aber eben die Frage nach der Bedeutung. Und darauf wusste vor allem die interpretatio christiana eine Antwort. Sie lässt sich vor allem an Sarkophagreliefs nachvollziehen, da durch häufige Wiederverwendung die ansehnlichen Sarkophagbehälter ja immer vor Augen waren und darum am ehesten nach [Um-]Deutung verlangten (überhaupt scheinen figürliche Reliefs ›gebundener‹, weniger provokant als freistehende Figuren gewirkt zu haben, waren leichter anzueignen). Bei einem Hadestür-Sarkophag (Papst _____________ 49 Il Duomo di Pisa (1995); Tedeschi Grisanti (1995) (mit der zahlreichen voraufgehenden Literatur); Liefervertrag von 1158: Regesto delle Chiese di Pisa (1938), Nr. 460; zuletzt Von der Höh (2006). Vasari: Le opere di Giorgio Vasari (1906), 237. 50 Vgl. Esch (2005), 38, 58.

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Abb. 10: Die mit Spolien übersäte Fassade einer kleinen Pieve (S. Martino bei Poggio Moiano, Sabina): Rosetten, Akanthus, Kassettierungen, Inschriften, Stierkopf. Gewiss wurde der Landpfarrer von den Gläubigen nach der Bedeutung der fremdartig schönen Stücke gefragt, und gewiss wusste er eine Antwort.

Clemens IV. 1268), einem Musensarkophag (die Schwägerin Bonifaz’ IX. 1398), einem Hochzeitssarkophag (Kardinal Guglielmo Fieschi 1256) konnte man sich ja auch noch etwas denken – aber bei einem Frauenraub-(Proserpina-)Sarkophag?51 Was wahrgenommen wurde, erkennt man am besten bei wörtlichen oder freien Kopien antiker Stücke, und tatsächlich hat man neue Sarkophage all’antica gearbeitet; ja es konnte geschehen, dass man, wie schon antike Sarkophage, so auch

_____________ 51 Zur Wiederverwendung von Sarkophagen siehe Colloquio sul reimpiego dei sarcofagi (1984); Motive wiederverwendeter Sarkophage siehe Esch (1969), 49 f.; siehe auch Herklotz (1990).

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Abb. 11: Unbeholfene Kopie der Frontseite eines römischen Eberjagd-Sarkophags als Türsturz an der Pieve S. Giovanni bei Campiglia Marittima (12. Jahrhundert). Das auf dem Vorbild wahrgenommene Jagdgetümmel wurde auseinandergezogen, so dass der Reliefhintergrund sichtbar wird, und die Figuren eigene Umrisse erhalten. Sarkophagreliefs finden sich auch sonst, in Original oder mittelalterlicher Kopie, an Kirchen versetzt.

all’antica neugefertigte Sarkophagreliefs als Türsturz an Kirchen verwendete!52 (Abb. 11). Was immer man sich bei Meerwesen, Kentauren, Jagdszenen, Hippolytos usw. dachte: So ließen sich Könige, Bischöfe, Grafen, Kaufleute in schönen antiken Reliefsarkophagen bestatten (darüber ist zum Thema »Nachleben der Antike« schon viel gesagt worden). Auch für die Gebeine des Stadtheiligen konnte man einen antiken Sarkophag vorsehen: Denn für den Heiligen war nur das Beste gut genug, und das Beste konnte nur ein antiker Sarkophag sein. Interpretatio christiana war jedenfalls nicht nur eine Sache der Armen im Geiste. Denn um aus einer Muse eine Heilige mit passendem Attribut zu machen, aus einem Endymion einen Jonas, aus einem Philosophen einen lehrenden Christus, braucht es (außer dem Bedürfnis, das zu tun) doch ein Bildungswissen, dem überzeugende Entsprechungen zwischen heidnischer und christlicher Welt überhaupt einfallen. Aber wer bei seiner Begegnung mit einer antiken Gestalt mehr die magische Ausstrahlung als die ästhetische Schönheit empfand, für den war die _____________ 52 Am Beispiel der Eberjagd (z. B. im Tympanon von St.-Ursins in Bourges, zu der man auch das Vorbild im nahen Déols kennt) Settis (1984–1986), Bd. 3, 401 f.; ein anderer Fall siehe Esch (2005), Abb. 9.

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christliche Umdeutung gewiss der wirksamste Schutz. Und das galt vor allem bei Statuen. Wie Vollplastik im Mittelalter wahrgenommen und beschrieben wurde, ist oft behandelt worden.53 Dass ein Magister Gregorius in seiner außergewöhnlichen Narratio de mirabilibus Romae (1. Hälfte 13. Jahrhundert), die sichtlich von den klassischen Monumenten selbst ausgeht und nicht überall sogleich Dämonen sieht, freimütig und ohne jede interpretatio christiana vom Anblick einer Venusstatue in Rom und ihrer lebendigen Nacktheit spricht (ja bekennt, er habe geradezu zwanghaft dreimal wieder zu ihr hingehen müssen: ter coactus sum revisere)54, ist die – darum vielzitierte – Ausnahme. Die Regel war ganz anders. Kaum eine antike Statue hat sich im Mittelalter auf Dauer über der Erde erhalten55 (die Statuenwälder unserer Museen stammen aus nachmittelalterlichen Ausgrabungen), sie wurden zerschlagen, vergraben, zu Kalk gebrannt: Die schönen Köpfe von Trajan und Hadrian aus Ostia fand man dort im Kalkofen bereits aufgeschichtet zum Brand.56 Denn was sollte man mit Statuen oder gar ihren Porträtköpfen sonst machen? Zwar gibt es Adaptionen antiker Statuen, kühne Umarbeitungen, die zu erkennen es einigen Scharfsinn gekostet hat (da werden aus römischen Grabreliefs Ehrenbilder, wird unter Benedetto Antelamis Händen aus der Statue eines römischen togatus ein imposanter Erzengel (Abb. 12), wird unter Arnolfo di Cambios Händen aus einer Tyche eine Madonna, nur das Jesuskind musste neu gefertigt werden). Aber solche Fälle57 – gewiss die interessanteren des Spolienmaterials – sind doch vergleichsweise selten, der Aussage über den mittelalterlichen Umgang mit der antiken Statue fügen sie, wenn es um die Proportionen geht, nur ein wichtiges Detail hinzu. Und selbst hier gilt (denn die antike Provenienz sollte bei Madonna oder Erzengel wohl nicht erkennbar bleiben): Der wahrnehmende Blick des Mittelalters auf die Antike ist immer auch ein verwertender Blick. Freilich: Ob die abgegriffene antichità italienischer Marktplätze, der von Kindern blank gerittene Marmorlöwe, der von Eimer-Seilen zerfurchte Rand eines aus antiker Säulenbasis gemeißelten Brunnenmunds, der von tausend Frauenhänden völlig abgegriffene (weil für einen Engel gehaltene) Putto eines zum Reliquienbehälter erhobenen antiken Sarkophags – ob das alles als »antik« wahrgenommen wurde, ist sehr zu bezweifeln. Und doch ist es Aneignung von Antike. _____________ 53 Zuletzt Gramaccini (1996); Wiegartz (2004), mit der voraufgehenden Literatur. 54 Magister Gregorius (1970), cap. 12; die Forschungsliteratur zuletzt bei Wiegartz (2004) ad indicem. 55 Das wird etwas positiver gesehen bei Wiegartz (2004), 164 ff. nach sorgfältiger Untersuchung von rund 40 Fällen; doch geht es immer um die Proportionen der Überlieferung, und daran gemessen ist die Zahl gering. 56 Lenzi (1998), 247–263, 260; weitere Beispiele Esch (1969), 31 f. 57 Beispiele bei Esch (1969), 35 f.; mit weiteren Fällen zuletzt Wiegartz (2004), cap. VI (S. Michele in Parma: 264 ff.); Peroni (2006), 243–256 (S. Michele: 248 ff.).

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Außerhalb der Städte wird man sich erst recht zu fragen haben, wie diese Begegnung mit den Überresten der Antike gelebt und bewältigt wurde, in einer Welt ohne ästhetisch (oder sonstwie) vermitteltes Wissen über die Antike; vor jeder Trennung in Schauen und Wissen und ähnliche Kategorien, die nur wir unterscheiden wollen; unberührt von allmählichem Zuwachs an gelehrter Erkenntnis.

Abb. 12: Mittelalterliche Neuschöpfungen durch Umarbeitung antiker Statuen. Von den beiden Erzengeln des Baptisteriums von Parma (Benedetto Antelami oder Werkstatt, frühes 13. Jahrhundert), ist S. Michele, wie Material und Rückenpartie bei der jüngsten Restaurierung ergaben, durch radikale Überarbeitung eines verbreiteten Statuentyps (togatus mit Einsatzkopf) gewonnen. Jedenfalls sollte die antike Herkunft nicht wahrnehmbar bleiben: Sie war Substanz und Inspiration (für das Pendant Gabriel nur Inspiration).

Die Frage, wie man der Antike wohl unterhalb der Bildungsschicht und außerhalb der städtischen Gesellschaft begegnet sei, hat ihren Sinn auch darin, dass man von heidnischen Statuen ja keineswegs nur in der Stadt umgeben war. Wer heute auch

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nur durch Latium fährt, macht sich beim Anblick der zahlreichen Kastellorte droben, die erst der drastische Siedlungswandel nach dem Ende der Pax Romana (und der Pax Carolingia) da hinauf in die schützenden Höhenlagen getrieben hatte,58 keine Vorstellung davon, wie dicht in römischer Zeit die Ebenen, die Talsohlen, von großen Villen und Gutsbetrieben bedeckt waren. Was es allein in der Sabina, im Bereich der Via Salaria zwischen Rieti und dem Tiber, an Villen gab, wissen wir sogar aus literarischen Quellen, so wenn Varro, zur Zeit Caesars, die Gutsbetriebe auch nur seines engeren Kreises beschreibt: die von Pinien umgebene Villa seiner Frau (ut habet uxor in Sabinis); das Gut seiner Tante (mit hochrentabler Delikateßgeflügelzucht für die Staatsbankette in Rom) am 24. Meilenstein der Salaria; die hochgestylte Villa seines Freundes Axius, illa perpolita in Reatino, wenn auch »ohne erstklassige Skulpturen und Bilder«, vestigium ubi sit nullum Lysippi aut Antiphili, und diejenigen weiterer Freunde.59 Die flächige Erkundung mit modernen Prospektionsmethoden hat auch archäologisch ergeben, dass es von solchen Villen noch weit mehr gab, als man ohnehin schon wusste. Und viele hatten ihre Statuenausstattung. Da gibt es in der Sabina Villen, die schon bei frühen Grabungen eine Unmenge von Statuen hergaben (darunter Stücke von Rang wie die Hera Borghese, der so genannten Anakreon, der so genannten »Kopenhagener Dichter«, alle aus ein und derselben Villa): Götter und Göttinnen, Musen und Dichter, dazu die ländliche Götter-Halbwelt mit Faunen und faunetti, Satyrn und Silenen. Was hätte man mit ihnen anfangen sollen? (Später geht das bei Statuenfunden hier anders zu, entscheidet über das Schicksal dann eine päpstliche Kommission: ›Musen alle neun, sogar noch mit ihren Attributen, also Exportverbot‹).60 An solchen arkadischen Plätzen der Sabina, wo noch heute Herden geweidet werden, fühlten sich Hirten und Bauern darum von der Antike aus hundert Augen angestarrt. Wie sollte man mit solchen Gestalten zusammenleben? Wenn es da nicht gelang, in einer Pan-Statue einen Johannes den Täufer zu sehen (beide draußen in der Landschaft struppig geworden und darum ähnlich), oder in einem Satyrn einen Hl. Rochus (wie noch im 18. Jahrhundert über dalmatinische Hirten berichtet wird61), dann blieb nichts anderes übrig, als diese Statuen zu zerschlagen. Abb. 13 lässt den Schrecken ahnen, der Menschen überkommen konnte, wenn eine nackte antike Statue zutage trat. Wozu solche Statuen fähig waren, wenn man sich mit ihnen einließ, das erzählt – um von den Episoden magischer Statuenfurcht nur diese eine zu berichten – eine Geschichte aus dem Rom des 12. Jahrhunderts. An seinem Hochzeitstag _____________ 58 Zum Siedlungswandel des so genannten incastellamento vor allem Toubert (1973), mit anhaltender Diskussion. 59 Varro, Rerum rusticarum libri (1929), I 15; III 2, 14–16; III 2, 3 und 5. 60 Zu dieser Villa bei Meile 32 der Via Salaria, die bei Grabungen zwischen 1824 und 1839 fast 80 Statuen ergab (die hier, wegen der Hanglage, bald unter die schützende Erde geraten waren), siehe Esch (1997), 104–106 mit der Literatur und den zitierten Akten der Kommission (der auch Thorvaldsen angehörte); Inventar bei Neudecker (1988), 180–183, Nr. 35. 61 Kutschera (1918), 7.

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steckt ein junger Mann, während des Ballspiels mit seinen Gästen, gedankenlos seinen Ehering einer dort stehenden weiblichen Bronzestatue an (interim anulum sposalitium digito extento statuae aereae quae proxime astabat, composuit). Als er nach dem Spiel den Ring wieder an sich nehmen will, hat die Statue die Finger gekrümmt und gibt den Ring nicht mehr her. In der folgenden Nacht, der Hochzeitsnacht, erscheint der – der Statue innewohnende – Dämon, legt sich zwischen die Liebenden und spricht zum Bräutigam: mecum concumbe quia hodie me desponsasti: ego sum Venus, cuius digito apposuisti anulum; habeo illum, nec reddam:62 »Schlafe mit mir, denn mich hast du heute geheiratet: ich bin Venus, der Du Deinen Ring an den Finger gesteckt hast. Ich habe ihn, und gebe ihn nicht heraus«.

Abb. 13: Eine nackte weibliche Statue tritt zutage. Was sollte das Mittelalter damit anfangen? Solche Statuen verschwanden meist im nächsten Kalkofen, von denen allein in Ostia jetzt 19 nachgewiesen sind (Venus inv. 1239 bei ihrer Auffindung in Ostia 1939).

_____________ 62 William of Malmesbury, Gesta regum Anglorum, col. 1190 f.; vgl. Gramaccini (1996), 39 f.

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Diese gegen 1125 von William von Malmesbury aus Rom berichtete Geschichte ist die früheste Fassung eines literarischen Stoffes, der dann in zahllosen Umspielungen, von deutschen Romantikern bis zu Gabriele D’Annunzio, aufgegriffen wurde, am eindrucksvollsten von Prosper Mérimée (damals übrigens Inspektor über die französischen Altertümer) in seiner bekannten Novelle La Vénus d’Ille von 1837, der den jungen Mann in der Hochzeitsnacht in der Umarmung der schweren Bronzestatue sterben lässt.63 Konfrontieren wir diesem scheuen – zugleich bewundernden wie furchtsamen – Blick auf die heidnische Statue nun den Blick, den, in dieser gleichen Zeit, der Künstler auf die antike Statue richtete, wenn er sie darzustellen hatte. Viel Gelegenheit hatte er dazu nicht, schon die Darstellung des nackten Menschen – und nackt musste die heidnische Statue sein, um sie als solche erkennbar zu machen – hatte in der christlichen Kunst ein enges, genau bestimmtes Repertoire: Adam und Eva vor dem Sündenfall, Isaak in Abrahams Opfer, Menschen in Sintflut und Jüngstem Gericht, und (abgesehen natürlich von Christus bei Taufe und Kreuzigung) wenige weitere Motive, bei denen Nacktheit zulässig war. Sonst aber war sie scham-los, eben heidnisch.64 So zeigten sich idola und simulacra, besonders schamlos der ›Dornauszieher‹ durch seine offene Beinstellung. Seit dem 13. Jahrhundert, mit den großartigen antikischen Figuren von Nicola und Giovanni Pisano, verliert die nackte Figur an Anstößigkeit soweit sie christliche Tugenden darstellt. Weitere Tugenden entkleiden sich im Trecento, und am Ende dieses Jahrhunderts ist, bei den antikischen Figuren der Porta della Mandorla des Florentiner Doms, schon in der Forschung strittig, ob sie noch durch interpretatio christiana ausgewiesen sind (so Panofsky) oder schon ganz ohne sie auskommen, sozusagen florentinischer Humanisten-Einfall sind (so Krautheimer, dem gewiss zuzustimmen ist). Doch führt uns das bereits aus unserer Zeit heraus.65 Mindestens eine Gelegenheit gab es schon früh, heidnische Götterstatuen darstellen zu müssen (oder zu dürfen): Vor heidnischen Idolen hatte man Heilige vor ihrem Martyrium zum Opfer zwingen wollen; im Umwerfen von heidnischen Idolen hatten Heilige ihre Kraft demonstriert. So kommt die Apollon-Statue in die Mosaiken von Monreale bei Palermo (12. Jahrhundert, Abb. 14), denn sie illustriert, von den Heiligen Castus und Cassius umgestürzt, deren Vita; so kommt die Mars-Statue in die Mosaiken von S. Marco in Venedig (13. Jahrhundert), denn sie zeigt, vom Hl. Philippus zerbrochen, dessen Leistung.66 Einzelne Heilige wie der Hl. Stephanus hatten es sogar geschafft, Götzenstatuen gleich reihenweise umzulegen: für den Maler eine schöne Herausforderung. _____________ 63 64 65 66

Frenzel (1976), 700–703 (»Statuenverlobung«). Zu dieser Thematik materialreich Himmelmann (1986) und (1984–1986), besonders 222 ff. Zur Porta della Mandorla, mit der anhaltenden Diskussion, ebd., 233–252. Mit weiteren Beispielen Haftmann (1939), besonders 83 ff.; Himmelmann (1986), Tafel 7–9; Gramaccini (1996), Abb. 3–9; Esch (2005), Abb. 18.

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Abb. 14: Die Gelegenheit, antike Statuen darzustellen, ergab sich bei der Aufgabe, das Leben von Heiligen zu illustrieren, die heidnische Götterbilder umgeworfen hatten. So stürzt hier, in den Mosaiken von Monreale bei Palermo (12. Jahrhundert), das idolum Apolis vor den Heiligen Castus und Cassius, und zeigt selbst in zerbrochenem Zustand noch deutlich die Elemente, an denen man eine Statue als antik erkannte: Nacktheit, Binnenzeichnung des Körpers, Kontrapost.

Als Martino di Bartolomeo von Siena diese Szene malte (Abb. 15), war die Aufregung um die Sieneser Venusstatue dort noch in breiter Erinnerung: erst triumphale Aufstellung des Antikenfundes auf dem Hauptbrunnen, dann nach einer Niederlage gegen die Florentiner die reumütige Zerstörung 1357,67 tollatur exinde cum inhonestum videbatur (der entsprechende Stadtratsbeschluss ist erhalten).

_____________ 67 Die bekannte Episode ist überliefert bei Lorenzo Ghiberti, I Commentarii, III 3, der sie sich noch von einem Augenzeugen in Siena erzählen ließ; statt der umfangreichen Literatur nur der Ratsbeschluss: Schlosser (1903), 149 f.

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Abb. 15: Zu den Heiligen, die antike Götterstatuen angeblich gleich reihenweise umgelegt hatten, gehörte der Hl. Stephanus: hier in der Darstellung des Sienesen Martino di Bartolomeo (nachweisbar 1389–1434), dem Torsi von erstaunlicher Körperlichkeit gelangen. In Siena war die Auffindung einer weiblichen Statue – erst triumphal auf dem Hauptbrunnen aufgestellt, dann reumütig zerstört (1357) – noch in breiter Erinnerung. Frankfurt, Staedel Nr. 990.

Oder die stürzenden Götzenstatuen, wenn die Flucht nach Ägypten darzustellen war (wegen Jesaja 19,1 movebuntur simulacra Egypti); oder intakte Statuen, wenn der Amtssitz des das Urteil sprechenden römischen Gouverneurs auszustatten war, usw. Und so lässt sich hier »Wahrnehmung von Antike« einmal präzise erkennen: lässt sich in Erfahrung bringen, was diese Künstler als spezifisch antik und heidnisch wahrnahmen und dann überdeutlich wiedergaben, um es als antikheidnisch wahrnehmbar zu machen. Es ist, einmal, die Nacktheit der Statue, mit scharfer Binnenzeichnung des athletischen Körpers (Rippenbogen, Bauchmusku-

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Abb. 16: Nacktheit, scharfe Binnenzeichnung des Körpers, ausladende Gestik, deutlicher Kontrapost: Das sind regelmäßig wiederkehrende Elemente bei der Kennzeichnung einer antiken, nämlich heidnischen Statue. Prudentius-Handschrift der Burgerbibliothek Bern, cod. 264, Ende 9. Jahrhundert.

latur) und ausladender Gestik. Und es ist, zweitens, der Kontrapost, die überbetonte Unterscheidung von Standbein und Spielbein (Abb. 16), erkennbar noch bei zerbrochenen Gliedmaßen. Da musste auch ein schlichtes Gemüt erkennen: So steht kein vernünftiger Christenmensch! Uns befremdet die antike Statue weniger als ihre mittelalterliche Wiedergabe. Die Wahrnehmung der Antike ist – vor allem seit dem Quattrocento, und dann in immer neuen Schüben, die Thema dieser Tagung sind – eine andere geworden, und damit auch die Antike selbst: »Transformationen der Antike«. So treten wir der Antike anders gegenüber. In einer wissenschaftlichen Gipssammlung heute können Sie ohne weiteres Ihren Ring einer Statue an den Finger stecken: Da passiert nichts. Aber wenn einem im mittelalterlichen Alltag eine antike Statue entgegentrat, dann wurde es ernst.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3:

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»Eine andere Antike«. Für ein ästhetisches Paradigma der Spätantike* MARCO FORMISANO

Man sollte endlich zugeben, dass die Spätantike nicht nur die letzte Phase einer kontinuierlichen Entwicklung ist; sie ist eine andere Antike, eine andere Kultur [une autre antiquité, une autre civilisation], die man versuchen sollte, in ihrer Originalität zu erkennen und per se, nicht durch die Maßstäbe der vergangenen Epochen, zu bewerten.

Diese für die Debatte über die Spätantike wichtigen Worte wurden schon vor 30 Jahren von Henri-Irénée Marrou in seinem berühmten Büchlein Décadence romaine ou antiquité Tardive?1 geschrieben. Obwohl sie die Forschung zu einem neuen Verständnis dieses änigmatischen Zeitalters geführt haben und die Frage nach einer »anderen Antike« zu einem Topos im heutigen historiographischen Diskurs geworden ist, hat sich dies nicht in gleicher Weise fruchtbar auf die Analyse der literarischen Ästhetik ausgewirkt. Die Spätantike stellt – wie schon Reinhart Herzog richtig betont hatte – noch immer die »ungelesenste Epoche Europas« überhaupt dar.2 In diesem Beitrag geht es darum, einige mögliche Antworten auf die schwierige Frage nach einer Ästhetik dieser »anderen Antike« vorzuschlagen und einige Überlegungen anzustellen, die sich direkt mit dem Thema dieses Sammelbandes verbinden lassen.

Die unwiderstehliche Dekadenz Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Verständnis der Spätantike und obwohl Forscher anderer Bereiche der Geistes- und hier insbesondere der Alter_____________ *

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Für inhaltliche sowie stilistische Anregungen, Verbesserungen und Korrekturen möchte ich mich bei David Konstan, Martin Dönike, Nora Hammerschmidt, Julia Weitbrecht sowie einem anonymen Gutachter herzlich bedanken. Marrou (1977), 13. Herzog (1977), 379. Für einen geschichtlichen Abriss zum allgemeinen Urteil über die Spätantike in der Kulturgeschichte Europas sei auf den grundlegenden Band von Demandt (1984) hingewiesen.

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tumswissenschaften dieser Epoche Respekt und Beachtung zukommen lassen, bleibt die Tatsache bestehen, dass für die meisten noch immer die größte Faszination von dem beliebten Klischee eines Niedergangs Roms ausgeht.3 Das breite Publikum scheint gegen jede Rehabilitierung der Spätantike immun zu sein, und im Allgemeinen bleibt es schwierig, sich von dem Gefühl zu befreien, dass diese Epoche ein »anthropologisches Desaster« und ein »totales Finale« darstellt.4 Wer von uns hat sich nicht von der Sehnsucht nach dem Untergang im goldenen adagio von Verlaine: »Je suis l’Empire à la fin de la décadence« verzaubern lassen? Bekanntlich lässt sich einer der Ursprünge dieses Gedankens »Untergang« schon bei Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire im 18. Jahrhundert finden. Das Bild vom Untergang verbreitet sich seither im kollektiven Imaginären, das wiederum die europäische Malerei beeinflusst hat (man denke an Der Künstler verzweifelt angesichts der Größe der antiken Trümmer von Johann Heinrich Füssli, 1779 oder an Les Romains de la décadence von Thomas Couture, 1847). Sogar in der Philosophie ist das Stereotyp eines Niedergangs der Antike ein oft behandeltes Thema. Es sei hier an das kanonische Beispiel der Prophezeiung von Oswald Spengler erinnert, der die Spätantike in seinem Untergang des Abendlandes (1918–1922) zum »Archetyp jedes Endes der Welt« macht.5 Im Ende der Antike hat die westliche Kultur also in einer konsequenten Projektionskette ihr eigenes supponiertes Ende identifizieren und repräsentieren wollen. Insbesondere in den letzten 200 Jahren haben Autoren ihre eigene Zeit »als eine Spätantike, wie sie historisch nicht verlaufen ist«, geschildert und beschrieben »so die eigene Zukunft; sie gewinnt also durch eine Form der historischen Korrektur, ja der historischen Fiktion futurischen Charakter«.6 Auch hat Luciano Canfora richtig betont: Das Motiv des ›Endes der Antike‹ ist beinahe ein locus classicus, dem gegenüber offensichtlich ideologische Voraussetzungen zutage treten und dabei nicht selten Trost im Nebel des Irrationalen gesucht wird.7

Diese Projektionen haben nicht nur die ästhetische Vermittlung der Spätantike, sondern auch den wissenschaftlichen Diskurs über die Spätantike zutiefst geprägt. Hier haben wir offensichtlich einen Fall, in dem die Ästhetisierungsprozesse die historiographische Wahrnehmung stark beeinflusst haben. Dass die Moderne dieser Epoche die Rolle eines Spiegels ihrer eigenen Unruhe gerne und oft zugedacht hat, ist nichts Neues, so wenig wie die Tatsache, dass _____________ 3

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Wie Farrell (2001), 117 betont, geschieht es oft in der Forschung, dass wichtige Ergebnisse, obwohl sie von den meisten akzeptiert werden, nicht wirklich in den Nachschlagewerken registriert werden. Dazu auch Carrié (1999), 11: »Non que cette réhabilitation soit allée sans mal: il n’est pas certain qu’elle ait déjà atteint le grand public«. Herzog (1987), 3. Carrié (1999), 13. So auch Liebeschuetz (2004), 256 f. Herzog (1987), 4. Canfora (1980), 240.

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die Forschung seit ungefähr 50 Jahren darauf insistiert, aus der Spätantike eine Periode zu machen, »die weder das Ende der Welt, noch der Anfang einer anderen, sondern all dies gleichzeitig, aber vor allem, eine Epoche [darstellt], die ihre eigene Identität und ihre nicht zu verachtende Einzigartigkeit besitzt, die für sich analysiert werden muss«.8 Der positive Wert der spätantiken Krise und der daraus resultierenden Veränderungen wird auch schon von Marrou hervorgehoben. Die Spätantike habe wichtige Innovationen im menschlichen Leben hervorgebracht: Die Papyrusrolle wird nun vom codex ersetzt, der ja als Antesignanus des Buchs gilt,9 und die alten Bekleidungen bzw. die toga werden zugunsten einer praktischeren und am Körper festeren, aus Zentralasien kommenden Bekleidungsart abgelegt.10 Aber die größte Rolle unter den Faktoren der sich abzeichnenden Veränderungen spielt natürlich die »neue Religiosität«, die sowohl die Christen als auch die Heiden inspiriert.11 Das schon mehrmals erwähnte Büchlein von Marrou zeigt die Spätantike im Allgemeinen zwar als eine Epoche der Krise, dies aber im Sinne der Innovation und der positiven Entwicklungen wie Veränderungen.12 Doch bleibt die Spätantike eine Domäne der Geschichtswissenschaft, und das wissenschaftliche Engagement, diese »andere Antike« in ihrer Vielfalt zu beleuchten und zu analysieren, hat den Forschungen der Alten Geschichte neue Vitalität verliehen. Hier genügt es, auf einige Namen hinzuweisen, die die Wahrnehmung der Spätantike verändert haben: Santo Mazzarino, Arnaldo Momigliano, Peter Brown, Glen Bowersock und in den letzten Jahren Averil Cameron und Elizabeth Clark.13 Sie alle sind Historiker, so wie sich auch die internationale Zeitschrift Antiquité Tardive, deren erster Band erst im Jahr 1993 erschienen ist, hauptsächlich an Historiker und Archäologen wendet.14 Eine Frage im Bereich _____________ 8 9 10 11 12

Carrié (1999), 25. Marrou (1977), 13. Ebd., 15–20. Ebd., 42–52. Es soll an dieser Stelle daran erinnert werden, dass einige Historiker sich auch heutzutage auf das Modell der Krise und des Untergangs berufen. Das betrifft etwa Giardina (1999), der betont, wie sich die Spätantike chronologisch ausbreiten konnte, da sie sich als privilegiertes Gebiet religionshistorischer und sozialer Forschung auf Kosten der politischen und institutionellen Geschichte etablieren konnte, und Schiavone (1996), der in seinem Buch La storia spezzata (Die ›gebrochene‹ Geschichte) auf die Notwendigkeit eines historischen Abbruchs bzw. einer Zäsur nach der Antike hinweist. Dazu siehe Bowersock in Straw/Lim (2004) und Cameron (2002). Auf dem Konzept des Untergangs beharrt Ward-Perkins (2005) (dt. 2007), der sogar das Wort »decline« in Bezug auf historische Prozesse rehabilitieren möchte, indem er »decline« »rise« entgegensetzt – ein Konzept, das normalerweise ohne Diskussion in der Forschung akzeptiert wird. 13 Zu erwähnen ist auch die von Peter Brown herausgegebene Reihe »The Transformation of the Classical Heritage«. 14 Es sei hier auch die italienische »Società di Studi Tardoantichi« an der Universität Neapel Federico II (unter http://www.studitardoantichi.org) erwähnt.

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der Spätantike-Forschung ist dabei charakteristisch: Die nach der Ursache des Untergangs Roms, und eine damit verwandte Frage geht dem Kontinuitätsproblem gegenüber der klassischen Antike nach. In den letzten Jahren hat sich eine Debatte auch darüber entwickelt, inwiefern es richtig ist, der Spätantike eine so lange Zeitspanne zuzuschreiben. Man hat von der »Elephantiasis« und »Explosion«15 der Spätantike oder von einer »Long Late Antiquity«16 geredet. Und es hat sogar eine (hoffentlich!) isolierte Stimme gegeben, die den Terminus Spätantike für einen bestimmten Zeitraum als unnötig bezeichnet. Sie sei eher eine »Erfindung der Altertumswissenschaftler und ihrer Adepten«17, wobei die Tatsache bemerkenswert ist, dass der Mittelalterforscher in diesem Fall die Debatte über die Spätantike auf das Niveau eines rein akademischen Kampfes zwischen klassischen Philologen und Mediävisten reduziert. Es ist diesbezüglich interessant, wie Jean-Michel Carrié, Mitherausgeber von Antiquité Tardive, in der Einleitung seines Bandes L’Empire romain en mutation, die »neue Ansicht« (vision nouvelle) des von uns diskutierten Zeitalters beschreibt. Er lässt seine Betrachtung von drei Feststellungen ausgehen: 1. Heute hat die Spätantike den negativen Beigeschmack der Dekadenz verloren; 2. Die Spätantike als wissenschaftliches Gebiet ist nicht älter als 50 Jahre; 3. Die Spätantike-Forschung ist durch jüngst erschienene Arbeiten im Bereich der ökonomischen und sozialen Geschichte und der Anthropologie tief greifend erneuert worden.18 Tatsächlich muss man fast ausschließlich der historischen Forschung das Verdienst zuerkennen, ein neues, unter dem Einfluss der jüngsten theoretischen Tendenzen erfrischendes Licht auf die Periode geworfen zu haben. Wie aber auch jüngst betont worden ist, hat die Tendenz, die Spätantike als eine verschiedenartige, entscheidende und unabhängige Epoche zu betrachten, ihre Wurzeln schon am Anfang des 20. Jahrhunderts.19 Allgemein bekannt ist die Tatsache, dass der Terminus »Spätantike« im deutschsprachigen Raum auf das bahnbrechende Werk Spätrömische Kunstindustrie (1901) von Alois Riegl zurückgeht. Dem Wiener Kunsthistoriker verdanken wir somit das Konzept, dass die spätantike Kunst keinen Niedergang im eigentlichen Sinne darstellt. Denn in dieser Epoche entstehe ein neues »Kunstwollen«, das neue Energien der Kunst zum Ausdruck bringe. Riegls Analyse der »spätrömischen Kunstindustrie« stellt den einzigen komplexen Versuch dar, spezifische Züge einer Ästhetik der Spätantike zu beleuchten und zu analysieren. Dabei hat er sich nicht den traditionellen repräsentativen Kunstformen zugewandt, sondern sich auf das Ornament und die Dekoration konzentriert, die bis dato keine zentrale Rolle in der Kunstgeschichte gespielt hatten. Es ist hier nicht _____________ 15 16 17 18 19

Giardina (1999). Cameron (2002). Leonardi (2002), X. Carrié (1999), 20 f. Liebeschuetz (2004).

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mein Ziel, Riegls Ergebnisse zu diskutieren (es ist mir jedoch nicht unbekannt, dass die von ihm eingeführten formalen und abstrakten Kategorien der Kunstgeschichte problematisch sind). Was uns hier an seiner Arbeit interessieren soll, ist die Tatsache, dass Riegl feststellen konnte, dass, indem sich das Kunstwollen umwandelt, sich auch die Formen der Darstellung bzw. das Objekt der Untersuchung verändern. Das Ornament wird für ihn also zum zentralen Aspekt der spätrömischen Kunstproduktion. Dieser kurze Hinweis auf Riegl muss genügen, um auf einen Sachverhalt aufmerksam zu machen: Nach ihm wurde nicht mehr versucht, eine solche Gesamtkonzeption der spätantiken Ästhetik herauszuarbeiten. Man kann dafür verschiedene Begründungen nennen. Eine besteht in der communis opinio, nach der diese Zeit vom Irrationalismus geprägt war, der die jeweiligen Formen der Kultur auf ein niedriges bzw. volkstümliches Niveau gebracht habe. Diese Mentalitätsprozesse wurden aus verschiedenen Forschungsrichtungen analysiert. Und diesbezüglich sei hier nur kurz an die von Mazzarino eingeführte, kontroverse Kategorie der »Demokratisierung der Kultur« erinnert, über die sich in den letzten Jahren eine rege Diskussion entwickelt hat.20 Zudem hat der der Spätantike zugeschriebene Irrationalismus oft auch die ästhetische und wissenschaftshistorische Bewertung der spätantiken Kultur stark geprägt.21 Seltener wird die literarische Ästhetik der Spätantike zum eigentlichen Gegenstand der Forschung und, wenn das passiert, wird nur kursorisch auf sehr allgemeine Aspekte hingewiesen.22 Ein Versuch auf literarischem Gebiet (speziell die Dichtung betreffend) ist Michael Roberts zu verdanken, der, in einem der Spätantike-Forschung erstaunlicherweise nicht besonders präsenten Buch, auf eine spezifische Poetik dieses Zeitalters hinweist und somit dazu auffordert, sich den Gedichten eines Claudian oder eines Ausonius nicht aus der Perspektive der klassischen literarischen Ästhetik zuzuwenden. Roberts beruft sich in diesem Versuch auf Marrous berühmte Retractatio, die der französische Historiker als Anhang an sein Werk über Augustin nachgetragen hat, und auf die Kunstgeschichte, der das Verdienst zuzuschreiben sei, die Erbschaft Riegls und seine _____________ 20 Vgl. den von Mazzarino 1960 in Stockholm gehaltenen Vortrag, »La democratizzazione della cultura nel Basso Impero«, in: Rapports du XIe Congrès International des Sciences Historique, Stockholm (1960), wieder abgedruckt (1974). Der Kontroverse über die Mazzarinische Kategorie wurde ein Band von Antiquité Tardive gewidmet (9, 2001). Siehe insbesondere den einleitenden Beitrag von Carrié, 27–46 und das Schlusswort von Giardina, 289–295. 21 Z. B. MacMullen (1972). Das Problem hat weitere Implikationen. Es sei nur darauf hingewiesen, dass die Sekundärliteratur im klassisch-philologischen Bereich oft auf eine irrationale und ästhetisch minderwertige Spätantike hinweist. Als Beispiel einer solchen Haltung sei hier Beagon (1992) erwähnt. Die Plinius-Forscherin weist, indem sie versucht, ein neues Licht auf die Naturalis Historia zu werfen, bezüglich der späteren Rezeption des römischen Autors auf die Spätantike als eine »less rational era« hin, 232. Dazu auch Formisano (2001), 83 Anm. 64. 22 Cameron (1988), 707: »Only very rarely as yet, if at all, have any late antique writers been subjected to a genuinely literary-critical approach. Yet this is the challenge that would move the subject on from literary history to the history of culture«.

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positive Bewertung der spätrömischen Kunst weiterverfolgt zu haben.23 Roberts beklagt auch die Tatsache, dass die Literaturwissenschaft im Gegensatz zu den Geschichts- und Kunstwissenschaften sich eines »unexamined classicism« in der Analyse der Texte dieser Zeit bediene und sich somit als impermeabel für eine neue Bewertung der spätantiken Kultur erweise. Allerdings zielt Roberts dabei auf poetische Texte und ihre stilistischen Aspekte ab. Das Hauptmerkmal der spätantiken Poetik besteht ihm zufolge in einer Veränderung des Geschmacks, der nicht mehr auf die klassische »unity of the whole« angewiesen bleibe und daher eher eine Fragmentierung der einzelnen Glieder eines Gedichts bevorzuge.24 Diese Tendenz zur Fragmentierung des literarischen Diskurses stellt sicherlich eine wichtige Entwicklung dar, auf die ich später zurückkommen werde. Man muss in diesem Zusammenhang auch auf eine andere wichtige Etappe der Reflexion über die spätantike literarische Produktion kurz eingehen: In einem wichtigen, wenn auch eher selten zitierten Aufsatz, diskutierte der klassische Philologe Manfred Fuhrmann das Kontinuitätsproblem, das sich in der Auseinandersetzung mit Antike, Spätantike und Mittelalter (und den entsprechenden akademischen Fächern) ergibt. Fuhrmann machte vor allem darauf aufmerksam, wie bei den Nachschlagewerken der antiken Literaturgeschichte die Neigung zu registrieren sei, »die Spätantike als eine Art Appendix abzutun«25 und sie als »ein literaturhistorisches Niemandsland« zu bezeichnen,26 weil ja die gesamte Literatur nirgends um ihrer selbst willen Forschungsobjekt gewesen sei.27 Eine subtilere Kritik richtet Fuhrmann gegen jene Arbeiten, die sich zwar der Spätantike widmen, gleichzeitig aber die Kategorien der klassisch-philologischen Textanalyse auch auf diese Texte anwenden und das Spezifikum jenes Zeitalters außer Acht lassen.28 Es sind bereits 40 Jahre seit Fuhrmanns ›mise au point‹ vergangen, und trotzdem bleiben viele seiner Argumente noch gültig. Dabei muss ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass von der Spätantike-Forschung in den letzten Dezennien erzielte wichtige Ergebnisse nicht nur in den Handbüchern der Literaturgeschichte vernachlässigt werden, sondern auch sehr selten in der klassischen Philologie rezipiert wurden. _____________ 23 Vor allem die Arbeiten von Gerhart Rodenwaldt »Römische Reliefs: Vorstufen zur Spätantike« (1940), 10–43 und »Zur Begrenzung und Gliederung der Spätantike« (1944–1947), 82–87. 24 Dazu die Kommentare von Farrell (2002), 116 f. 25 Fuhrmann (1967), 64. Eine solche Haltung wird auch heutzutage immer wieder beobachtet: Der literarischen Produktion der Spätantike wird in den meisten auch teilweise sonst innovativen Handbüchern für lateinische Literatur höchstens die Rolle eines Anhangs reserviert. Einerseits ist es quasi abhängig von der Mode zu einer Pflicht geworden, diese Epoche in die Betrachtung mit einzuschließen, andererseits taucht das Wort »Untergang« unvermeidlich auf. Siehe beispielsweise Dewar (2000), 527. 26 Fuhrmann (1967), 65. 27 Ebd., 64 f. 28 »[…] Man widmet sich erlesenen Einzelheiten, z. B. dem hervorragenden Individuum wie Augustin, dem besonders gelungenen Werk wie der Consolatio des Boethius, der großen Idee wie dem Romgedanken oder einem symbolhaften Ereignis wie dem Streit um den VictoriaAltar«, Fuhrmann (1967), 65.

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Von dem Dekadenzgefühl ist die (klassisch-philologische) Forschung in einen Zustand von unerklärlichem Desinteresse geraten.29 Ich möchte im Folgenden insbesondere auf zwei Faktoren verweisen, die den Weg zu einem ästhetischen Paradigma der Spätantike innerhalb der Literaturwissenschaft schwierig machen. Der erste Faktor hat institutionellen Charakter und betrifft einen akademischen Sachverhalt, der sich aber direkt in der wissenschaftlichen Produktion niederschlägt. Wer sich mit den Texten dieser Epoche befasst, hat in der Regel einen klassisch-philologischen Hintergrund. Das heißt, der Forscher oder die Forscherin kommt normalerweise im Rahmen einer Ausbildung zur Spätantike, die nur sehr selten und immer in einer höchst besonderen Form eine Beschäftigung mit diesem Zeitalter mit einschließt. Er oder sie trägt unbewusst – aber fast unvermeidlich – in die Untersuchung das Gefühl hinein, sich mit der epigonalen Phase der klassischen Literatur zu befassen, höchstens mit deren Fortsetzung, und eben nicht mit einer »anderen Antike«. Im besten Fall wird den Texten attestiert, dass es einen allgemeinen »taste of the period« gibt. Das hat aber eine weitere Implikation, auf die ich später zurückkommen werde. Andererseits sind die spätantiken Texte Objekt der Untersuchung jenes Zweigs der Theologie, der sich dem Studium der frühchristlichen Literatur widmet, der Patristik. Auf diesem Gebiet sind viele Forschungsrichtungen entwickelt worden, je nachdem, in welchem Land oder in welcher Institution man tätig ist.30 Die derzeit »Religionswissenschaft« (engl. religious studies) genannte Disziplin ist ein Produkt des politisch motivierten Engagements der sechziger Jahre, die Religion als soziales und historisches Phänomen zu analysieren. In diesem Fall also stehen nicht ästhetische und literarische Qualitäten der Werke im Zentrum der Forschung, sondern eher einerseits die sozial-historischen und andererseits die anthropologischen Aspekte des Frühen Christentums. Wie auch Dale Martin hervorgehoben hat, ist social history (einschließlich Anthropologie) zur prima donna der Geschichtswissenschaft,31 und somit auch der historiographischen Debatte über die Spätantike geworden. Das historische Paradigma spielt also hier eine so große Rolle, dass die Historiker der Spätantike sich fast unbewusst dazu berechtigt fühlen, literaturwissenschaftliche Studien zur Spätantike als Mittel ihrer eigenen historischen Forschung zu betrachten.32 Natürlich haben anthropologische _____________ 29 Obwohl jährlich eine bedeutende Anzahl an Sammelbänden mit viel versprechenden Titeln zur Spätantike hervorgebracht wurde, bleiben diese meist bei traditionellen Interpretationsmodellen, die keinen Beitrag zum allgemeinen Verständnis der literarischen Ästhetik der Spätantike liefern. 30 Für die Lage in den USA verweise ich hier auf die Einleitung von Dale Martin zu dem von ihm mitherausgegebenen Band (Cox Miller/Martin [2005]). Auf eine grundsätzliche akademische Inkompatibilität zwischen Klassischen Philologen und Theologen verweist schon Schmeling (1998). 31 Cox Miller/Martin (2005), 4. 32 Selbstverständlich spielt der linguistic turn (vgl. dazu Harlan [1989]) hier wie überall sonst in den Geisteswissenschaften eine Rolle, die aber in der oben skizzierten Konstellation der Spätan-

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Ansätze die »classics« in den letzten Dezennien im Allgemeinen stark geprägt. Und dennoch beherrschen ästhetische Diskurse unbestritten große Forschungsbereiche, vor allem der Latinistik: Man denke etwa an die Intertextualität und Allusion.

Ästhetische Pseudomorphose: Wissen über die Antike Bisher habe ich mich damit befasst, die wissenschaftliche Debatte zu beleuchten, in deren Rahmen ich diesen Beitrag positionieren möchte. Aus den oben erwähnten Gründen ergibt sich die formale grundsätzliche Schwierigkeit, bestimmte ästhetische Aspekte der spätantiken literarischen Produktion zu bewerten. Der substanzielle Grund aber, der gerade diese Aspekte verschleiert, liegt in der engen Verbindung der spätantiken Kultur mit der klassischen Tradition und besonders an deren stärkerer Symbolkraft in der Spätantike im Vergleich zu anderen Epochen. Die Tatsache, dass die Spätantike die Funktion eines »Filters« der klassischen Überlieferung angenommen hat, ist nicht sekundär, sondern erweist sich vielmehr für die kulturellen Strukturen dieser Epoche als prägend. Und richtigerweise haben viele Historiker darauf hingewiesen, dass sich die Identität dieses Zeitalters gerade durch den ständigen Vergleich mit der Vergangenheit konstituiert. Schon Marrou führt in seinem von mir schon mehrmals erwähnten Buch eine Kategorie ein, die ununterbrochen die Debatte beeinflusst hat: die »Pseudomorphose«. Mit diesem derzeit in der Forschung etwas strapazierten und aus der Kristallographie abgeleiteten Terminus bezeichnete bereits Spengler den Prozess der Verwandlung historischer und künstlerischer Phänomene ohne Veränderung ihrer formalen Struktur. Nach Marrou wird also das Paradoxon der Spätantike am besten als Pseudomorphose beschrieben, indem eine Erneuerung immer nur im Zeichen der Tradition geschehen konnte.33 Averil Cameron legt den Akzent genau auf diesen Prozess und benennt ihren einführenden Essay deshalb Remaking _____________ tike-Forschung eine akutere Valenz annimmt. Symptomatisch ist dafür, was Straw/Lim (2004), 12, betonen, indem sie auf die Verschiedenheit der auf die Spätantike angewandten neuen Methoden und Ansätze hinweisen: »The latest influence, from literary criticism, is just beginning to leave its mark. This is not to say that the fundamentals of historical research have changed, but rather that historians have recognized the usefulness of certain analytical concepts and categories for their work«. Aber schon Cameron (1998), 705, hatte ebenfalls Ähnliches betont: »But just as ancient historians are becoming accustomed to giving importance to the power of images from visual art, so it is opportune now to extend that approach to the role played by literature, cognitive processes and communication in bringing about cultural changes«. Man gewinnt somit den Eindruck, dass die Spätantike-Forscher sich quasi dazu zwingen, die Literatur als Beweis der kulturellen Veränderungen vielmehr als Text an sich zu lesen und zu interpretieren. 33 Marrou (1977), 23.

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the Past.34 Die klassische Tradition wird somit zum Protagonisten, sie scheint jeden Bereich der kulturellen Produktion, der politischen Sprache, der Religion und des Imaginären zu durchdringen. Cameron beschreibt sehr treffend die ständige Präsenz der Vergangenheit im Alltag, auch in praktischen Aspekten der Adaption und Aneignung: Men and women of late antiquity did not romanticize the past, nor were they conscious of a sense of modernity. Rather, they wished devoutly to connect with a past which they still saw as part of their own experience and their own world […] The past was very real to the men and women of late antiquity; as they saw it, it had not so much to be remade as to be reasserted.35

Es muss an dieser Stelle nochmals betont werden, dass, obwohl solche historischen Prozesse selbstverständlich nicht nur die Kunst, sondern auch die Literatur der Spätantike stark geprägt haben, eine paradigmatische Reflexion innerhalb der Literaturwissenschaft fehlt, die diese ästhetischen Implikationen beleuchtet, während beispielsweise die Kunsthistoriker mit den Mechanismen der Adaption der klassischen Tradition seit langem vertraut sind. Eine exemplarische Darstellung ist der Konstantinsbogen in Rom, der bekanntlich mit den spolia aus verschiedenen Monumenten aus der Zeit Trajans, Hadrians und Marcus Aurelius’ ausgestattet wurde. Einige Forscher haben sich systematisch darum bemüht, einzelne Aspekte einer spätantiken literarischen Ästhetik zu beleuchten. Richtig betont Michael Roberts, dass es schwierig ist, von einer einzigen Ästhetik der Spätantike zu reden.36 Auf eine stärkere Metaphorik der Texte und gleichzeitig auf eine bestimmte Konkretisierung der literarischen Sprache verweist überzeugend Averil Cameron in ihren 1990 veröffentlichten Sather Lectures.37 Man muss sich dennoch vergegenwärtigen, dass im Allgemeinen die interessantesten Ansätze in diesem Gebiet auf christliche Texte angewendet werden und an deren spezifische Züge anknüpfen.38 _____________ 34 35 36 37

Bowersock (1999), 1–20. Cameron (1999), 1–2. Roberts (1989), 6. Von einer »Umstrukturierung des lateinischen Literatursystems« im 3. Jahrhundert spricht Kirsch (1988), der in fünf Punkten seine Argumentation zusammenfasst, 16 f.: 1. »Die künstlerische Literatur tritt zurück«; 2. »Die Prosa wird die zentrale Darstellungsform«; 3. »Das Volk wird wieder als Adressat der Literatur entdeckt«; 4. »Ins Zentrum des Gattungssystems rücken operative Gattungen«; 5. Zentralität der christlichen Religion in der literarischen Produktion. Kirschs systematische, obwohl vom marxistischen Ansatz geprägte, knappe Darstellung ist meines Wissens einer der wenigen Versuche, Licht auf die Unterschiede zwischen spätantiker Literatur und der vergangener Epochen zu werfen. 38 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die für die Spätantike-Forschung bahnbrechende amerikanische Zeitschrift Journal of Early Christian Studies (1993 von Elizabeth Clark und Everett Ferguson gegründet) eher die christlichen Texte in den Blickpunkt nimmt. Siehe dazu Cox Miller/Martin (1999), 9. Ebenso ist eine in der Spätantike-Forschung wichtige Stimme, auch wenn vielleicht etwas isoliert, Reinhart Herzog gewesen, der sich bei verschiedenen wich-

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Das Zeitalter der Spätantike profiliert sich allerdings sowohl politisch und sozial als auch kulturell als extrem vielfältig und »pluralistisch« (um eine moderne Kategorie zu verwenden). Es ist daher unmöglich, von einer einzigen spätantiken Kultur oder Identität zu reden.39 Dass die klassische Tradition als Thema oder Motiv der spätantiken literarischen Produktion immer wieder auftaucht, sollte unumstritten sein. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es dabei nicht unbedingt darum geht, zu beobachten, inwiefern traditionelle Muster bearbeitet oder gar reproduziert werden. Ich möchte die Aufmerksamkeit eher darauf richten, wie nicht bloß die Vergangenheit, sondern das eigene Verhältnis zur Vergangenheit thematisiert wird und im Zentrum der literarischen Kultur steht. Das ist noch ein Beweis dafür, dass diese Epoche im Sinne einer intellectual history sich als höchst selbst reflektierende Kultur enthüllt, wie sich an einigen Elementen wie etwa erhöhter Allegorik, Symbolik, Metaphorik und Textualität beobachten lässt. Wie Averil Cameron deutlich macht, führt die Beschäftigung mit spätantiken Texten also dazu, das Konzept von »Literatur« vor allem im Vergleich mit der griechisch-römischen Tradition zu erweitern und zu revidieren.40 Einerseits muss hervorgehoben werden, dass diese Tatsache der Spätantike eine originelle und alternative Position innerhalb der Altertumswissenschaften verleiht, die wiederum der klassischen Philologie viele neue methodische Anregungen schenken kann. Der Spätantikeforscher wird dazu gezwungen, seine Methode immer wieder zu diskutieren und ins Verhältnis zu derjenigen der klassischen Philologie bzw. der Patristik zu setzen. Diese innere Problematik zwingt ihn, sich wissenschaftlich selbst zu definieren und zu positio_____________ tigen Beiträgen mit der Problematik der Spätantike in einer speziellen theoretischen Intensität auseinandergesetzt hat. In einem 1977 erschienenen Aufsatz weist er auf die Tatsache hin, dass jeder Spätantike-Forscher im Bereich der Literatur grundsätzlich auf die Modellkategorien »Dekadenz« und »Säkularisierung« angewiesen bleibt. Er schreibt dazu: »Sie tragen sämtlich zwei Eigentümlichkeiten an sich, die sie als Erbstücke eines komplexen neuzeitlichen Verhältnisses zur Spätantike aufweisen: 1) Sie führen zumeist positive und negative literarische Wertungen mit sich; in ihnen stecken, bei näherem Hinsehen, literarkritische Optionen, die der heutige Spätantike-Forscher außerhalb seiner Interpretation zumeist nicht teilt; 2) Sie setzen sämtlich ein Konfrontations- und Kontinuitätsschema zwischen den als vergleichbar hypostasierten Begriffen ›Christentum‹ und ›Antike‹ voraus« (374). Die Wurzeln dieses Problems versucht Herzog allerdings darin zu finden, dass unsere Sicht eine Dichotomie zwischen einer als Form gedachten Antike einerseits und der Reduktion des Christlichen auf den nachantiken Inhalt der Literatur andererseits projiziert, wie man es schon bei Schlegel findet. Herzog, Salvatore D’Elia (1967) folgend, macht auch darauf aufmerksam, dass die negative literarische Wertung sich nicht im Humanismus, sondern erst im 16. Jahrhundert und besonders am Ende des 18. Jahrhunderts herauskristallisiert hat. In seinem Aufsatz beschränkt Herzog aber seine Analyse auf christliche Texte, nämlich auf Gedichte von Paulinus von Nola. 39 Costructing Identities in Late Antiquity ist der Titel eines Sammelbandes (Miles 1999), in dessen Einleitung einerseits argumentiert wird, dass die Einwohner des römischen Reichs des 4. oder des 5. Jahrhunderts sich natürlich nicht als »spätantike Menschen« gefühlt haben, andererseits, dass es eine einzige spätantike Kultur gegeben hat. Siehe auch Seite 3. 40 Cameron (1991), 45 f.

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nieren, und das macht die Spätantike-Forschung zu einem »vast field of experimentation«.41 Andererseits gilt für die Forschung in diesem Bereich mehr als in anderen der von Marrou angestrebte »polyphonische« Ansatz – nach Marrou muss der Historiker die verschiedenen Stimmen der Geschichte Gehör schenken. Die Spätantike wird also als Kreuzungspunkt von verschiedenen Disziplinen und unterschiedlichen Methoden angesehen.42

Neue Texte Obwohl in den letzten 30 Jahren einige Beiträge darauf abzielten, das Neue in der lateinischen Literatur der Spätantike zu beleuchten, bleibt die Diskussion oft unbefriedigend, da man sich auf die Suche nach einer Originalität der »literarischen Formen«43 macht, die sich sehr schwer durch die Brille der klassischen Gattungen aufzeigen lässt. In der Forschung tendiert man traditionell eher dazu, die von der christlichen Religion in die antike Kultur eingeführten Aspekte zu betonen, anstatt den differenzierten kognitiven Stil der spätrömischen Literatur im Allgemeinen zu beleuchten.44 Der Versuch, in die »Umstrukturierung« dieses literarischen Systems Licht zu werfen, kann steril erscheinen, wenn man überwiegend nur auf die traditionellen literarischen Gattungen insistiert. Wie einige Forscher betont haben, wird in der Spätantike der Begriff »Gattung« selbst problematisch45, daher sollte man meines Erachtens versuchen, die klassischen Gattungskategorien zu überwinden, und sich auf einige allgemeine den Gattungsbegriff übersteigende Aspekte konzentrieren, um auf diese Weise die literarische Ästhetik dieses Zeitalters neu bewerten zu können. Die für die Spätantike typische Emphase auf Wörtlichkeit und Textualität (von »Freude am geschriebenen Wort« spricht beispielsweise Döpp46, Cameron von »verbal formulation« und »textuality«47), entfaltet sich auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Gattungen. Ich möchte aber die Aufmerksamkeit auf einige _____________ 41 Cameron (2004), 77. 42 Schon Fuhrmann (1967), 56, wies auf die wichtige Rolle der »benachbarten Disziplinen« innerhalb der Spätantike-Debatte hin. Vgl. auch Straw/Lim (2004), 12. 43 Christianisme et formes littéraires de l’Antiquité tardive en Occident lautet der Titel des wichtigen 1977 erschienenen Bandes der Fondation Hardt (Reverdin 1977). Es sei an dieser Stelle ebenfalls an den 1988 erschienenen Philologus-Sammelband und jüngst an Consolino (2003 und 2005) erinnert. 44 Sehr wichtig auf diesem Gebiet sind die Arbeiten von Jacques Fontaine (z. B. 1977, 1982 und 1988). Cameron (1998) konzentriert sich auf »literary culture and on the cognitive aspects of cultural systems« der Spätantike, 667. 45 Z. B. nochmals Fontaine (1988) und Moretti (2003). 46 Döpp (1988), 27 ff. Ähnlich Gualandri (1995), 155: »compiacimento per il possesso delle parole«. 47 Cameron (1991), 19 und 110.

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»Gattungen« oder eher textuelle Dimensionen richten, die in der Forschung, abgesehen von wenigen Ausnahmen, normalerweise nur marginal oder als Quellen gelesen werden. Und dennoch spielt hier die Vergangenheit eher auf der formalen Ebene der Komposition eine Rolle als bei der Themenwahl. Exemplarisch dafür sind Werke wie exegetische Arbeiten und Kommentare im weitesten Sinne. Hier wird die klassische Tradition analysiert, demontiert, dekodiert und in einer neuen Form zusammengesetzt. In der spätantiken Phase der abendländischen Kultur geschieht also etwas sehr besonderes: Die Unterscheidung zwischen einer – wie man es heute nennt – »wissenschaftlichen« Beschäftigung mit der Literatur und der Produktion von Texten mit ästhetischen Ansprüchen wird problematischer. Wie Robert Browning in einem der byzantinischen literarischen Kultur gewidmeten Aufsatz betont: In der Spätantike waren Dichter gleichzeitig auch scholars.48 Dieser Aspekt wird von der allgemeinen Tendenz zur Prosa, oder – um eine neu eingeführte, glückliche Formulierung zu benutzen – zur Prosographie, die nicht nur als Prosa, sondern darüber hinaus als bewusster Träger von kulturellen und politischen Instanzen zu verstehen ist, begleitet.49 Diese Attitüde gegenüber der Literatur spiegelt sich auch in anderen Gattungen, wie der Hagiographie und der Panegyrik, wider. Sie lässt sich am deutlichsten aber bei den epitomai, den centones, den Kommentaren, den Übersetzungen und den so genannten dichterischen biblischen Paraphrasen50 wieder erkennen. Kurzum: bei allen möglichen Formen der Korrektur und der Reinterpretation der traditionellen Modelle.51 In all diesen Gattungen ist die Form dem Inhalt überlegen, wobei aber diese Form gerade aus einem schon gegebenen Inhalt besteht: Eine literarische Tradition, die eine bereits existierende und kodifizierte Sprache bietet. Die Konstituierung eines Textes hängt also von einer sehr analytischen Annäherung an die Literatur ab. Gerade diese Fähigkeit, ein Werk – sei es Vergil, sei es die Bibel, seien es auch »wissenschaftliche« Texte – analytisch zu lesen und zu dekodieren, stellt ein Charakteristikum der Spätantike dar: Die Textur der Tradition wird als Vorlage für eine neue Schöpfung benutzt, die ohne jene Form nicht zu denken wäre. Es wurde bereits behauptet, dass die Modi der Exegese, und zwar die Art und Weise wie die Grammatiker einen Text kommentiert haben, in dieser Zeit eine zentrale Rolle auch für die Bildung des literarischen Stils gespielt haben. Isabella Gualandri betont, dass die Praxis, die Texte analytisch zu _____________ 48 Browning (1995), 17 f. 49 Whitmarsh (2006), 357, wo sich der Autor auf Foucaults Ordnung der Dinge beruft. Hier hat sich der französische Theoretiker insbesondere auf das 16. Jahrhundert konzentriert. Viele seiner Argumente könnten allerdings auch für die Spätantike gelten. 50 Für eine akkurate und aktualisierte Diskussion der biblischen Paraphrase als literarische Gattung vgl. Consolino (2005), die sich insbesondere auf die »Auseinandersetzung mit der Vergangenheit« (senso del passato) als Basis der Interpretation und Textanalyse konzentriert. 51 Herzog (1987), 32, der unter den »charakteristischen Merkmalen« der lateinischen Spätantike unter dem dritten Punkt sagt: »Als literarische Leitformen können gelten: das Breviarium, die Chronik, die Epitome, das Florileg, Scholien und Kommentar.«

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kommentieren, sich wiederum in einer bestimmten Fragmentierung des literarischen Stils widerspiegelt.52 Gerade in dieser Fragmentierung ist sicherlich ein Hauptmerkmal der spätlateinischen literarischen Kultur zu sehen. Ein derartiges Charakteristikum müsste man meines Erachtens mit dem von mir hier genannten ›kognitiven Stil‹ jener Kultur interagieren lassen, damit ein vollständigerer Blick auf die spätantike Ästhetik geworfen werden kann. Wie lassen sich aber die Gattungen definieren, die ich gerade kurz erwähnt habe? Heute sind für die Meisten epitomai, centones, exegetische Werke (sowohl von christlichen als auch von heidnischen Texten) oder Paraphrasen bloße Termini der Altertumswissenschaft; sie evozieren die staubigen Regale der Gelehrten oder die Langeweile der pedantischen Arbeit des Kommentators viel mehr als die Kreativität des Schriftstellers. Sie werden meist als »Mittel der Gliederung und Tradierung enzyklopädischen Wissens« in den Literaturgeschichten registriert.53 Der engen Korrelation zwischen Kommentar und Textproduktion sowie der innovativen Kraft des Kommentars innerhalb eines literarischen Systems wurde jedoch in den letzten Jahren immer größere Aufmerksamkeit geschenkt. Glenn Most erinnert daran, dass normalerweise das Phänomen des Kommentierens sich hauptsächlich bei »stark traditionellen Kulturen« beobachten lässt, obwohl es oft ein Potential an Subversivität enthalten kann.54 Jan Assmann macht deutlich, wie das Verhältnis Text-Kommentar zwei Entwicklungslinien hat: einerseits die Tätigkeit des homo interpres und der »Deutungswissenschaft«, andererseits die Entstehung und Entfaltung einer Textwissenschaft.55 Die Spätantike bietet hier ein herausragendes Beobachtungsfeld, indem sie sich als das Zeitalter des Kommentars erweist und diese beiden Dimensionen verbindet und produktiv miteinander reagieren lässt. Die »Kommentar-Dimension« – so wie ich sie nenne – verkörpert in einem breiteren Sinne die Hauptinstanz dieses Zeitalters, und zwar das symbolische Verhältnis zu der aus der Antike stammenden Tradition. In dieser Hinsicht darf man den Kommentar als eine Metapher des literarischen Systems dieses Zeitalters verstehen. In dieser Kommentar-Dimension lasse ich auch die oben erwähnten Gattungen zusammentreffen. Epitomai, centones und Paraphrasen sind die literarischen und ästhetischen originellen Produkte einer emphatischen Zugehörigkeit zur Tradition, und nicht nur Emanation einer Schulbeschäftigung mit den klassischen Autoren. Diese Werke stellen insofern nicht _____________ 52 Gualandri (1995), 148, 156 und 172, wo sogar die Bibel ein zergliederbarer Text zu sein scheint. Auf das Merkmal der Fragmentierung des spätlateinischen literarischen Diskurses haben auch Fontaine (1977), 440 ff. (der von einer »miniaturization« spricht), Roberts (1988), 189 ff. (»[…] the tendency to break a subject up into discrete compositional units.«) und Charlet (1988), 78 (»[…] late Latin poetry prefers a mode of fragmented composition which breaks the whole up into small independent pictures.«) hingewiesen. 53 Beispielsweise Dihle (1989), 482, in Bezug auf die Vergil-Exgese. 54 Most (1999), X. 55 Assmann (1995), 12.

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einen »Substanzverlust«, sondern eher eine neue Konfigurierung des literarischen Wissens im breitesten Sinne dar.56 Eine Metapher, die in der kaiserzeitlichen Literatur häufig verwendet wird, kann diesen Punkt erhellen: Die Zerstückelung des Körpers (dismemberment) bietet sich als Metapher für die Auflösung des literarischen Stils, zugleich aber auch der menschlichen Kultur überhaupt an, wie Glenn Most in einem wichtigen Beitrag aufgezeigt hat.57 Das Bild der Zusammensetzung eines zerstreuten Körpers taucht in symbolischer Form in einigen spätantiken Werken auf, die ich hier nur kurz erwähnen darf: accipe igitur opusculum de inconexis continuum, de diversis unum, de seriis ludicrum, de alieno nostrum, ne in sacris et fabulis aut Thyonianum mireris aut Virbium, illum de Dionyso, hunc de Hippolyto reformatum. (Ausonius, cento nuptialis, 24–28)

In einer Epistel an den Freund Axius Paulus erklärt der Dichter Ausonius Methode und Ziele des von ihm aus Vergilischen Versen bestehenden Cento nuptialis und des cento als Gattung überhaupt (wie jüngst von Scott McGill dargelegt wurde). Er fordert von seinem Leser, dass dieser das kleine Werk empfängt, so wie es aus zerstreuten Teilen zu einem kohärenten Text (opusculum de inconnexis continuum, de diversis unum), aus dem Besitz eines anderen zum eigenen Werk (de alieno nostrum) gemacht wurde, damit der Leser angesichts der mythischen Erzählungen über Thyones Sohn oder Virbius, die aus Dionysos bzw. aus Hippolytus wieder zusammengeformt wurden (reformatum), nicht ins Staunen gerät. Aber was für eine Textart ist ein cento? Es handelt sich um eine originelle Komposition, die ausschließlich aus kleineren Elementen – meist Halbversen – besteht, die einem anderen einzigen Text entnommen werden. Das Wort cento (aus dem gr. kentron) selbst bezeichnet eine aus Stoffresten zusammengenähte Decke, ein Patchwork. Also ein »Flickgedicht«. Der lateinischen Spätantike hat Vergils Werk den Text zur Verfügung gestellt, dem die jeweiligen Dichter – meist Christen – ihre carmina entliehen. Der cento erweist sich somit als eine extreme Gattung, die in einem Spannungsfeld zwischen dem strengsten Respekt vor der Sprache des Vergilischen Texts und dem höchsten Innovationsanspruch in der Konstruktion des Inhalts steht. Der Cento-Dichter wird zum intellektuellen Bricoleur, der sein Produkt an die Teile, die er schon besitzt, anpasst, indem er sich dafür entscheidet, mit der parole statt mit der langue zu arbeiten. So beschreibt McGill die Modalität des Centos: Dismembering and reconstructing Vergil through memory becomes a means of remaking rather then restoring that model. What remains of Vergil are his individual verse units, the membra that come to constitute a new poetic harmony.58

_____________ 56 Herzog (1989) weist darauf hin, dass die »Epitomierungen, exzerpierenden Übersetzungen aus dem Griechischen und lemmatisierte Sammlungen« einen »Substanzverlust« aufweisen. 57 Most (1992). 58 McGill (2005), 11.

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Dieselbe Metapher taucht bei einem anderen weniger bekannten Autor am Ende des 4. Jahrhunderts auf. Im Vorwort zu seiner medizinischen epitome De medicamentis beschreibt Marcellus Empiricus die von ihm angewendete Methode: Er sei mit großer Sorgfalt und Umsicht den Bestrebungen anderer Gelehrter gefolgt. Er habe das, was verstreut und ungeordnet (sparsum inconditumque) war, gesammelt und, genau so wie Asklepios, habe er die zerstreuten und zerfleischten Glieder des Virbius zu einem Körper zusammengefügt (et in unum corpus quasi disiecta et lacera Asclepius Virbii membra conposui). Claudia Moatti hat in ihrer Studie La raison de Rome darauf hingewiesen, wie die Schrift schon im republikanischen Rom als Mittel des Zusammenstellens bzw. des Klassifizierens galt. Selbst die res publica bzw. die civitas schafft eine soziale Ordnung gegenüber der Streuung des natürlichen Status. Und Athenaeus von Naukratis hat im 3. Jahrhundert Rom als ԚʍțijȡȞռ ij‫׆‬ȣ ȆԼȜȡȤȞȒȟșȣ, »epitome der Welt«, bezeichnet, da es ja alle anderen Kulturen in sich enthalte. Wie schon gesehen, konkretisiert sich diese Instanz in der Spätantike in einer totalisierenden Verbindung zur Vergangenheit, und die epitome konstituiert sich entsprechend als Gattung oder eher textuelle Dimension. Sie wird zur Modalität des literarischen Ausdrucks und Mittel der Erkenntnis. Sie ist ein Produkt einer neuen Kultur und zeichnet eine andere Geometrie des Wissens, indem sie den aus der Tradition stammenden Materialien eine originelle Form verleiht. Die epitome verkörpert die Selektionsprozesse, schafft neue Modelle in alten Mustern, vermittelt ein bestimmtes Bild der vergangenen Kultur, die als ein neuer Körper präsentiert wird. »Das Archiv« – so Aleida Assmann – »ist nicht nur ein Ort, wo Dokumente aus der Vergangenheit aufbewahrt werden, sondern auch ein Ort, wo Vergangenheit konstruiert, produziert wird.«59

Schlusswort Die Spätantike als »andere Antike« bietet andere Modelle, die wiederum andere ästhetische Erfahrungen vermitteln. Diese Erfahrungen lassen sich aus der Perspektive unserer Erwartungen einfach bestimmen. Diese »andere« Antike bietet nicht nur gegenüber der klassischen Antike unterschiedliche Inhalte, sondern nicht zuletzt auch unterschiedliche ästhetische Modelle. Somit besteht die Schwierigkeit für die modernen Leser und Interpreten der Spätantike darin, sich von einer Ästhetik des Verfalls der Antike frei zu machen. Diesbezüglich ist der Hinweis auf Riegl und auf die Entstehung der »Spätantike« als wissenschaftlicher Diskurs keineswegs banal. Es erweist sich als notwendig, an die Wurzeln des Problems zurückzugehen, sie mit den jüngeren Entwicklungen der Forschung neu zu interpretieren, damit die literarische Ästhetik der Spätantike aus einer umfas_____________ 59 Vgl. Assmann (1999), 21.

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senderen Perspektive erforscht werden kann. So kann vielleicht in unserer Zeit die scheinbare Unmöglichkeit, die in der Spätantike herausgearbeiteten Mechanismen einer Aneignung und Transformation der Antike ästhetisch wahrzunehmen, überwunden werden.

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Zweifelhafte Gestalt oder Inbegriff von virtus und sapientia. Odysseus in der lateinischen Spätantike SUSANNE MORAW

Das Abenteuer bei den Kyklopen, mit dem menschenfressenden Riesen Polyphem, war keine Tat, bei der sich Odysseus mit Ruhm bedeckte.1 Es sei kurz an die entsprechende Passage von Homers Odyssee erinnert:2 Auf der Heimfahrt von Troja landet Odysseus mit mehreren Schiffen auf einer dem Land der Kyklopen vorgelagerten Insel und unternimmt von dort mit nur einem Schiff eine Erkundungsfahrt zum Festland. Hier stoßen die Männer auf die Höhle des gerade abwesenden Polyphem. Während die Gefährten auf einen schnellen und diskreten Raubzug drängen, besteht Odysseus darauf, in der Höhle zu warten und von deren Bewohner Gastgeschenke einzufordern. In Antizipation dieser Geschenke bedienen sich die Griechen unaufgefordert an den Vorräten des abwesenden Hausherrn. Nach seiner Rückkehr denkt Polyphem jedoch gar nicht daran, sich diesem sozusagen erschlichenen Gastrecht verpflichtet zu fühlen. Stattdessen schließt er die ungebetenen Gäste in seiner Höhle ein und beginnt, sie nach und nach zu töten und roh zu verspeisen. Um aus dieser tödlichen Gefahr zu entkommen, greift Odysseus zu der bekannten List. Er macht den Riesen mit Wein derart betrunken, dass er halb besinnungslos in Schlaf fällt. Dann stechen ihm die Griechen mit einem im Feuer angespitzten Pfahl das einzige Auge aus. Als am nächsten Morgen der Geblendete den Türstein zur Seite wälzt, um seine Schafe auf die Weide zu lassen, bindet Odysseus seine Männer unter den Tieren fest und krallt sich anschließend selbst in das Bauchfell des Leitwidders. Auf diese Weise entkommen die Griechen aus der Höhle. Als sie bereits auf den Schiffen und fast in Sicherheit sind, kann Odysseus nicht an sich halten und verhöhnt laut den Kyklopen. Die Felsbrocken, die Polyphem daraufhin nach ihm schleudert, bringen den Fliehenden beinahe den Untergang. Zudem verflucht Polyphem Odysseus und bittet seinen Vater Poseidon, ihm die Heimkehr so schwer wie nur irgend möglich zu gestalten: Ein Wunsch, den der Gott ihm – wie jeder Leser der Odyssee weiß – erfüllen wird. _____________ 1 2

Zur Analyse dieser Episode siehe Rutherford (1986), 150 f. Homer, Od., 9, 105–566.

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Die folgenden Erörterungen gelten der Frage, was die Spätantike mit dieser Geschichte anfing, in welcher Form sie eine der zentralen Gestalten des antiken Mythos, Odysseus, bildlich und literarisch vermittelte. Dazu werden zunächst die Werke der bildenden Kunst diskutiert, um sie dann in einem zweiten Schritt von der zeitgleichen literarischen Rezeption abzusetzen. Abschließend soll ein kurzer Blick auf die Rezeption im 16. Jahrhundert geworfen werden. Dies kann noch einmal die spezifische Rolle verdeutlichen, welche der Spätantike bei der Transformation des antiken Mythos zukam.

1) Die spätantiken bildlichen Darstellungen Spätantike Darstellungen des Polyphemabenteuers sind bislang nur aus dem Westen des imperium Romanum bekannt; im griechischen Osten war man an der künstlerischen Umsetzung dieser Thematik – im deutlichen Gegensatz zur bis ins 12. Jahrhundert lebendigen literarischen Rezeption – anscheinend nicht mehr interessiert.3 Die ausschließlich weströmische Herkunft der Kunstwerke ermöglicht einen methodisch unproblematischen Vergleich mit der lateinischen Literatur4 und der Rezeption in der abendländischen Kunst des 16. Jahrhunderts. Ein seit dem Hellenismus populäres Bildthema war die Darreichung des Weines. Sie wurde mit nur geringen Variationen jahrhundertelang in den verschiedensten Gattungen dargestellt.5 Als spätantikes Beispiel für das geläufige Schema mag eine so genannte Kuchenform aus gebranntem Ton dienen.6 Man erkennt die mit einer Art Noppen angegebene Decke der Höhle und den frontal darin sitzen_____________ 3

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Zur griechischen literarischen Rezeption siehe Pontani (2005): Die letzten bedeutenden byzantinischen Homerphilologen, Tzetzes und Eustathios, lebten im 12. Jahrhundert; Odyssee-Manuskripte wurden im Osten vermutlich bis zur Eroberung von Byzanz 1453 angefertigt. Die bildliche Rezeption der Odyssee in der Spätantike und ihre Beziehung zur zeitgleichen literarischen Rezeption ist Thema des Habilitationsvorhabens der Verfasserin. Nur kurz zu einem weiteren Aspekt, den es gleichfalls zu bedenken gilt: Die Kennntnis des Griechischen ging im Westen im Verlauf der Spätantike kontinuierlich zurück (Liebeschuetz [2001], 318–341). Die große Mehrheit der dortigen Bevölkerung – und das gilt für die Produzenten von Texten oder Kunstwerken ebenso wie für deren Rezipienten – kannte die Odyssee nicht im Original, sondern aus mythographischen Handbüchern, den Adaptionen bei Vergil oder Ovid und ähnlichem (Cameron [2004]). Für einen Überblick siehe Touchefeu-Meynier (1992), 954–956, Nr. 67–87. Das Motiv der Weinreichung wurde – nach zögerlichen und nicht weitergeführten Versuchen in der schwarzfigurigen Vasenmalerei des 6. Jahrhunderts v. Chr. – in der Epoche des Hellenismus neu entworfen und gelangte zu großer Beliebtheit. Ehemals vielleicht Berlin, Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, heutiger Verbleib unbekannt; 200–250 n. Chr.; Fundort und -datum unbekannt; Erstpublikation Müller (1913), 19. Möglicherweise aus den Grabungen von Pasqui um 1900 in Ostia, wo über 400 derartiger Formen gefunden wurden: Pasqui (1906).

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Abb. 1: Kuchenform aus gebranntem Ton, ehemals Berlin, Antikensammlung; 200–250 n. Chr.

den Polyphem. Rechts von Polyphem befindet sich ein Schaf aus seiner Herde. Entsprechend den Angaben bei Homer ist der Kyklop riesenhaft groß; horizontale Falten am Bauch deuten seine Beleibtheit an. Struppiges Haar und Bart weisen ebenso auf seine Monströsität wie das zusätzliche dritte Auge auf der Stirn. Gemäß der Logik der Erzählung, nach der Polyphem nach dem Ausbrennen des Auges blind und hilflos wurde, dürfte er nur ein Auge haben. Wie es scheint, folgten die Künstler hier und in den anderen Formulierungen des Themas statt dessen einer bildimmanenten Logik, die nach größtmöglicher Integrität der menschlichen Gestalt strebt.7 Mit der linken Hand hält der Riese eine kleine, schlaff herabhängende Gestalt: Einen ermordeten Gefährten des Odysseus, den er im nächsten Moment roh verschlingen wird. Mit der Rechten greift Polyphem nach einem Becher mit Wein, den ihm Odysseus – erkennbar an seiner kegelförmigen Kopfbedeckung, dem Pilos – entgegenstreckt. Hinter Odysseus steht ein weiterer Gefährte mit einem großen Gefäß in den Händen zum Nachfüllen bereit. Beide Männer schauen mit angstverzerrtem Gesicht aus dem Bild heraus; ihre Körperhaltung verrät den Wunsch, dem Ungeheuer bloß nicht zu nahe zu kommen. _____________ 7

Psychoneurologische Untersuchungen haben ergeben, dass das menschliche Sehvermögen darauf ausgerichtet ist, vollständige Körper oder Gegenstände zu erfassen; notfalls komplettiert es selbst: Elkins (1997), 125–200. Dieser Wunsch nach Integrität ist beim Betrachten eines Gesichts besonders ausgeprägt; entstellte (oder ausdruckslose) Gesichter verstören den Betrachter.

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Odysseus ist in diesem Bild nicht als großer Held im kriegerischen Sinne charakterisiert. Er tritt vielmehr auf als jemand, der trotz Übermacht des Gegners nicht aufgibt, sondern versucht, sich durch List aus einer furchtbaren Situation herauszuwinden. Wie der mythenkundige Betrachter wusste, wird ihm das auch gelingen. Es ist hier nicht der Ort, um ausführlicher über diese raffinierte Bildfindung zu sprechen, die genau jenen Moment zeigt, in dem sich die Rollen von Überlegenem und Unterlegenen in ihr Gegenteil zu verkehren beginnen: In dem Augenblick, in dem Polyphem nach dem berauschenden Getränk greift, ist sein Schicksal im Grunde schon besiegelt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Pointe des Bildes – die Überwindung des menschenfressenden Riesen durch den Winzling Odysseus – sich nur dem erschließt, der die Geschichte tatsächlich kennt. Diese Kenntnis ist nach dem Zeugnis der Denkmäler auch noch für das 3. und 4. Jahrhundert vorauszusetzen. Zudem befinden sich viele Darstellungen auf billigen Tonprodukten, also auf breiteren Bevölkerungsschichten zugänglicher ›Massenware‹. Diese Bildträger erweisen Odysseus als eine Art Identifikationsfigur für jedermann, für den Durchschnittsbürger des spätantiken imperium Romanum, der sich mit Ausdauer und Schlauheit durchs Leben schlägt.

Abb. 2: Mosaik in der Villa von Piazza Armerina; 350–400 n. Chr.

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Als Kontrast zu dieser gängigen Auffassung der Weinreichung zeige ich nun eine ungewöhnliche Formulierung des Themas aus der Villa von Piazza Armerina.8 Entsprechend dem luxuriösen Ambiente ist die Qualität dieses Bildes ungleich höher. Das Mosaik schmückt den Boden eines Raumes, der vermutlich zu den privateren Gemächern dieser ausgedehnten, sich über 3 500 m2 erstreckenden Villa gehörte. Wir sehen wiederum Polyphem in seiner Höhle sitzen, hier inmitten einer lieblichen italischen Landschaft; vor ihm seine Schafe und Ziegen; links die ihm den Wein darreichenden Griechen. Der wichtigste Unterschied zu der zuvor betrachteten Darstellung besteht darin, dass Polyphem hier deutlich weniger monströs charakterisiert ist: Sein Haar fällt in wohlgeordneten Wellen in den Nacken, der Bart ist sorgfältig gestutzt; zudem ist er nicht vollständig nackt, sondern hat das Fell eines Huftieres gleich einem Mantel umgehängt. Sein Körper ist nicht fett und verweichlicht, sondern der eines reiferen aber muskulösen Mannes. Seine Haltung ließe sich als eine Art souveräner Entspanntheit bezeichnen. Polyphems rechte, im Redegestus ausgestreckte Hand weist befehlend auf Odysseus. Dieser tritt beflissen mit schmeichlerischem Lächeln heran, um den verderblichen Wein darzureichen. Die beiden Gefährten im Hintergrund füllen bereits ein zweites Gefäß. Vor allem Odysseus’ fortgeschrittenes, für einen Schenkknaben untypisches Alter sowie sein roter Offiziersmantel unterscheiden diese Szene von den in der Spätantike häufigen Aufwartungsszenen beim herrschaftlichen Gelage.9 Wesentlich für die vom damaligen Betrachter vorgenommene Bewertung der Szene ist der Umstand, dass Polyphem auf diesem Mosaik keinen getöteten Gefährten verschlingt, sondern einen Widder: Damit entfällt auf der bildimmanten Ebene jede Begründung und Legitimation für die nach der Weinreichung zwingend mitzudenkende Blendung des Polyphem! Die sonst für die Polyphembilder explizit gemachte inhaltliche Verbindung zwischen menschenfressendem Ungeheuer und verdienter Strafe wurde vom Mosaizisten nicht gezogen. Dieses Mosaik ist in seiner Charakterisierung und Wertung der Protagonisten weitaus weniger eindeutig als das Gros der spätantiken Polyphembilder. Vielmehr setzt es diese als bekannt voraus, um sie dann in einem raffinierten Spiel verschiedener ikonographischer Versatzstücke zu konterkarieren. Polyphem erscheint eher als ein vornehmer Herr, der durch eine Intrige von Untergebenen elend zugrunde geht, denn als abscheuliches Monster, das von den heldenhaften Griechen zu Recht geblendet werden wird. Ob Odysseus hier den Betrachtern – dem Villenbesitzer oder seinen vornehmen Freunden – als Identifikationsfigur dienen konnte, ist fraglich. Die Vertreter der Oberschicht wollten sich eher in solchen mythischen Gestalten gespiegelt sehen, deren körperliche und moralische Überlegenheit über den Gegner über _____________ 8

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Carandini/Ricci/de Vos (1982), 238 f.; Datierung der Mosaiken: 350–400 n. Chr.; vereinzelte Grabungen im Bereich der Villa gab es seit dem 19. Jahrhundert, im großen Stil ausgegraben wurde sie in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zu regulären spätantiken Gelageszenen siehe Dunbabin (2003), 150–156.

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jeden Zweifel erhaben war. Bestes Beispiel für einen solchen Helden ist Herakles. Dessen Taten wurden beispielsweise auf dem Fußbodenmosaik eines prunkvollen Gelageraums derselben Villa präsentiert.10 Herakles’ überwundene Gegner, die Giganten, winden sich dort sterbend am Boden. Der Held selbst ist nicht dargestellt. So blieb es jedem Betrachter frei, sich oder den Gastgeber in dieser Rolle zu imaginieren.11 Die zweite Espisode des Polyphemabenteuers, von der sich eine größere Menge an Darstellungen erhalten hat, ist die Flucht aus der Höhle des geblendeten Riesen. Auch hier greifen die spätantiken Künstler auf ältere Vorbilder zurück12 und wandeln sie entsprechend ihren Bedürfnissen um. Zunächst sei eine Darstellung aus dem früheren 5. Jahrhundert, auf einem Kontorniatmedaillon, besprochen.13 Blickfang des Bildes ist ein großer, nach rechts schreitender Widder. In dessen wolliges Fell krallt sich von unten eine winzige Gestalt mit Pilos, Odysseus. Um über die Identität des Dargestellten keine Zweifel zu lassen, hat der Stempelschneider in lateinischen Buchstaben die umlaufende Inschrift OLEX–EUS, eine Vulgärform von Ulixes, angebracht. Der Widder befindet sich im Freien, die Flucht aus der Höhle ist also bereits erfolgreich durchgeführt. Gezeigt wird die glücklich vollbrachte Rettung aus höchster Gefahr, die auch hier wieder der Schlauheit des Protagonisten sowie einer guten Portion Glück zu verdanken war. Rechts im Bild befindet sich ein rauchender Altar – ein Verweis darauf, dass Odysseus das Tier in Kürze als Dank für die gelungene Rettung dem Zeus opfern wird. Im Bildhintergrund rankt sich ein Weinstock empor – er weist zurück auf den Wein, mit dem Polyphem betrunken gemacht wurde. Noch im frühen 5. Jahrhundert war also in Rom, dort lag die Prägestätte der Kontorniaten,14 die Geschichte von Polyphem und Odysseus so bekannt, dass sie mitsamt Vor- und Rückverweisen vom Betrachter verstanden wurde. Die aus einer Kupferlegierung geprägten münzähnlichen Kontorniaten waren beliebte Geschenke und Glücksbringer. Das hier gezeigte Exemplar ist oben und unten durchbohrt, das bedeutet, es wurde als dämonenwehrendes Amulett getra_____________ 10 Carandini/Ricci/de Vos (1982), 311–325, Bl. 49–52. 11 Vgl. Ellis (1991), 129: »If the Christian emperor on ceremonial occasions could be seen as the statue of a god, then an aristocrat who hosted lavish formal banquets could be easily compared with a mythological hero.« 12 Touchefeu-Meynier (1992), 957–960, Nr. 100–137. Im Hellenismus wird das Motiv, vergleichbar dem Motiv der Weinreichung, neu formuliert: Wichtig ist jetzt nur noch die Flucht des Odysseus, nicht mehr die der gesamten Gruppe. 13 London, British Museum; auf der Vorderseite Porträt des Caracalla; Alföldi/Alföldi (1976), 142, Nr. 422,5 (VS) und 200, Nr. 82 (RS); Alföldi/Alföldi (1990), 155 f.; Laufzeit dieses Motivs: 355–423 n. Chr.; Fundort und -datum bei Alföldi nicht überliefert. Viele der heute bekannten Kontorniaten wurden seit der Renaissance in Sammlungen aufbewahrt, ihre Herkunft ist meist nicht mehr zu ermitteln. 14 Zum folgenden Mittag (1999), 34–47, 148–171, 199–214.

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gen. Der Besitzer eines solchen Amuletts konnte sich sagen: »So wie Odysseus aus der Höhle des Kyklopen entkam, so entkomme ich mithilfe dieses Amuletts jedem Übel.« Da es sich bei den Kontorniaten um relativ preiswerte Gegenstände handelte, werden sie von breiteren Schichten der Bevölkerung genutzt worden sein. Odysseus ist also auch hier, wie bei den zuerst behandelten Tongefäßen mit der Darstellung der Weinreichung, eher ein Held des Durchschnittsrömers, dem wenig Heroisches oder Aristokratisches eignet.15

Abb. 3: Kontorniatmedaillon, London, British Museum; 355–423 n. Chr.

_____________ 15 Dass man die Flucht aus der Höhle auch anders hätte gestalten können, lehrt ein Blick auf ältere Formulierungen des Themas. Auf einem attischen Tongefäß aus der Zeit um 500 v. Chr. beispielsweise hatte der Vasenmaler Odysseus im Verhältnis zum Widder weitaus größer gestaltet. Zudem hat der Held ein Schwert gezückt und blickt wachsam nach vorne, wenn auch mit anatomisch unkorrekt verdrehtem Kopf: attisch-schwarzfiguriger Krater Karlsruhe, Badisches Landesmuseum; Touchefeu-Meynier (1992), 958, Nr. 105; Andreae (1999), Abb. Nr. 42. Odysseus wird hier, entsprechend dem zeitgenössischen aristokratischen Ideal und im Unterschied zur Darstellung auf dem spätantiken Kontorniaten, präsentiert als jemand, der die gefährliche Situation im Griff hat und notfalls auch mit dem Schwert auf Polyphem losgehen würde.

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Werfen wir, um dieses Bild zu präzisieren, einen Blick auf die Präsentation des Odysseus im spätantiken Villenkontext. Als übereinstimmend mit der Darstellung auf den Kontorniaten erweist sich, dass Odysseus auch hier nicht als großer Held erscheint. Dies mag eine Marmorskulptur verdeutlichen, die sich heute in der Galleria Doria Pamphilj in Rom befindet.16

Abb. 4: Marmorskulptur, Rom, Galleria Doria Pamphilj; Anfang 3. Jahrhundert n. Chr.

Zu sehen ist ein winziger Mann, der ein wenig ungeschickt unter einem robusten und deutlich größeren Widder hängt. Realistisch betrachtet, müsste er jeden Moment herunterfallen. Das zum Betrachter gewandte Gesicht erscheint leidend und angestrengt, die Brauen sind über der Nasenwurzel kontrahiert. Der Saum des Gewandes ist, entsprechend den hochgezogenen Oberschenkeln, nach unten verrutscht und entblößt die Glutäen. Die restlichen Gewandfalten hingegen folgen der Schwerkraft nicht – was dafür spricht, dass das Verrutschen des ›Röckchens‹ ein vom Künstler intendierter Effekt ist. Odysseus wird hier präsentiert als eine _____________ 16 Rom, Galleria Doria Pamphilj; Calza (1977), 78, Nr. 83; Anfang 3. Jahrhundert. Fundort und -datum sind unbekannt. Erste Erwähnung bei Winckelmann (1767), Nr. 155; zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Skulptur bereits in der Villa Pamphilj.

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traurige bis komische Gestalt, die sich mit nacktem Hintern und erbarmungswürdiger Miene an einen Riesenwidder klammert. Über den originalen Aufstellungsort dieser Skulptur des frühen 3. Jahrhunderts ist nichts bekannt. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie einst eine italische Villa schmückte, eventuell eine zu einer solchen Villa gehörige Grotte.17 Was den Rezipientenkreis anbelangt, so gilt das schon zur Villa von Piazza Armerina Gesagte. Auch hier wird es sich um den Villenbesitzer und seinen Freundeskreis gehandelt haben. Dass den Betreffenden nicht daran lag, Odysseus in einer möglichst heroischen Pose vor Augen zu haben, dürfte klar geworden sein. Ebensowenig konnte der derart charakterisierte Odysseus als eine mythische Überhöhung des Hausherren dienen, wie dies möglicherweise bei den in der Spätantike populären Heraklesskulpturen der Fall war. In der Villa von Chiragan beispielsweise, deren Statuenausstattung ins 4. Jahrhundert datiert, waren in einem der Repräsentation dienenden Saal großformatige Reliefs angebracht, welche die zwölf Taten des Herakles thematisierten.18 Herakles erscheint dort als ein heldenhafter Überwinder von Ungeheuern wie dem dreileibigen Riesen Geryoneus oder der vielköpfigen Schlange Hydra. Er vernichtet seine Gegner durch überlegene Körperkraft und muss sich nicht wie Odysseus mit List und Tücke aus schwierigen Situationen herauswinden. _____________ 17 Ein ebenfalls aus dem frühen 3. Jahrhundert stammendes Mosaikemblem mit einer vergleichbaren Darstellung von Odysseus unter dem Widder, hier zusätzlich mit dem den Ausgang der Höhle bewachenden geblendeten Polyphem, schmückte einst einen repräsentativen Raum einer Villa bei Baccano: Rom, Museo Nazionale Romano; Andreae (2003), 294–307, Abb. 294 und 301. Aus der frühen Kaiserzeit sind für manche besonders prächtige Villen künstlich ausgebaute Grotten mit Skulpturen unter anderem zum Themenkreis der Odyssee überliefert. Bekanntestes Beispiel ist die Villa von Sperlonga, unter deren zahlreichen Skulpturen sich auch eine Darstellung der Blendung des Polyphem und des Kampfes gegen Skylla befand: Neudecker (1988), 220–223, Nr. 62 Fundstücke Nr. 62.1 und 62.2. Eine Skulptur des trunken in Schlaf gefallenen Polyphem sowie Reste der Skulptur eines Widders, allerdings ohne daran hängenden Odysseus, fanden sich in der Grotte der Villa des Domitian bei Castel Gandolfo: Neudecker (1988), 139– 144, Nr. 9 Fundstücke Nr. 9.4 und 9.5. Was die Charakterisierung des Odysseus anbelangt, so unterscheiden sich diese frühkaiserzeitlichen Befunde deutlich von den hier diskutierten spätantiken Beispielen: In Sperlonga wird Odysseus als Held inszeniert, der sich tapfer in der physischen Überwindung, oder in Skyllas Fall zumindest Bekämpfung, schrecklicher Ungeheuer bewährt. In Castel Gandolfo hat sich keine Odysseusskulptur erhalten, es lässt sich also nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er dort gleichfalls im Akt der Blendung des Polyphem dargestellt war. Sicher ist jedoch, dass er dort nicht in unwürdiger Pose unter dem Widder hängend gezeigt wurde – die erhaltene Widderskulptur war eher eine Chiffre für die Herde des Kyklopen und sollte ein bukolisches Element in die Inszenierung bringen. 18 Heute Toulouse, Musée Saint-Raymond; Bergmann (1999), 32 f.; Geryoneus: Taf. 1–3; Hydra: Taf. 4,1. Auch aus anderen spätantiken Kontexten repräsentativen Wohnens sind Heraklesskulpturen bekannt: 1. ein Herkules unter den Skulpturen vom Esquilin, einst Ausstattung eines luxuriösen Stadthauses (Bergmann [1999], 14–17) 2. ein weiterer unter den Skulpturen von Silahtaraga, vielleicht einst Ausstattung einer Villa bei Konstantinopel (Bergmann [1999], 7–29) 3. eine Herme mit Herkuleskopf in dem Hermenzaun um die piscina der Villa von Welschbillig (Wrede [1972], 82, Nr. 61).

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Derjenige Moment des Polyphemabenteuers, der im traditionellen Sinne eine heroische Aktion beinhaltet, ist die Blendung des Riesen. Sie jedoch wird in der Spätantike so gut wie nie dargestellt,19 obwohl dafür eine etablierte ikonographische Tradition existierte.20 Dieser Befund bestätigt die aus der Analyse der Weinreichungs- und Fluchtbilder gewonnene Erkenntnis, dass Odysseus in der Spätantike nicht als eine Gestalt angesehen wurde, in deren ›Bild‹, und dieser Begriff ist hier wörtlich zu verstehen, sich ein Angehöriger der Aristokratie hätte wiederfinden können. Die bildlichen Darstellungen des Odysseus im Kontext repräsentativen Wohnens zeichnen vielmehr eine eher zweifelhafte Gestalt, die entweder lächerlich – wie im Fall der Widderskulptur – oder servil und tückisch – wie auf dem Mosaik von Piazza Armerina – erscheint. Bei den Texten sieht das völlig anders aus, darüber wird im Anschluss zu sprechen sein. Wofür sich Odysseus auf den Denkmälern eignete, verdeutlichen die Produkte der so genannten Massenware, die Tongefäße und die Kontorniaten. Sie zeigen Odysseus als eine Art Identifikationsfigur für jedermann, für den Durchschnittsbürger, der sich mit Schlauheit und Ausdauer den Widrigkeiten des Lebens entgegenstellt.

2) Die spätantiken Texte Die literarische Rezeption der Polyphemepisode entwirft nicht nur eine anders geartete Charakterisierung des Odysseus; sie setzt auch – und natürlich hängt das eine mit dem anderen zusammen – einen vollkommen anderen Akzent. Beinahe alle spätantiken lateinischen Texte zum Thema konzentrieren sich auf den Moment der Blendung beziehungsweise inszenieren diese als den Höhe- und Endpunkt der Episode. Die Blendung erscheint dort als gerechte Strafe für die Hybris und Grausamkeit des Kyklopen. Eine wohl fälschlich dem Ausonius zugeschriebene lateinische Inhaltsangabe der Odyssee fasst das Geschehen prägnant zusammen.21 _____________ 19 Die einzige derzeit bekannte Ausnahme bildet ein wohl um 300 n. Chr. zu datierender stadtrömischer Sarkophag, der zusätzlich die Weinreichung thematisiert: Neapel, Museo Nazionale; Robert (1890), 159–161, Nr. 148; Andreae (1999), Abb. Nr. 67; im 18. Jahrhundert in der Umgebung von Neapel gefunden. 20 Touchefeu-Meynier (1992), 956 f., Nr. 88–99. Die wohl älteste bekannte Darstellung befindet sich auf einer Amphora des früheren 7. Jahrhunderts v. Chr.: Eleusis, Museum; TouchefeuMeynier (1992), 957 Nr. 94; Andreae (1999), Abb. Seite 110. Entsprechend der archaischen Adelsethik wird hier die Blendung präsentiert als die heldenhafte Tat eines Kollektivs vornehmer Männer. Odysseus, der Anführer, wird allein durch seine Stellung ganz vorne, nahe am Riesen, sowie durch seine weiße Hautfarbe hervorgehoben. Nach italischen und etruskischen Vorläufern klassischer Zeit (Camporeale [1992], 973, Nr. 58–59) wird dann das Motiv der Blendung im Hellenismus neu formuliert, mit einer pointierten Hervorhebung des Odysseus als des Anführers des Geschehens (bestes Beispiel: Sperlonga, vgl. Anm. 17). 21 Ps.-Ausonius, Periocha Odyssiae 9,8–14; Datierung ungeklärt, vermutlich 4. Jahrhundert n. Chr.; Übersetzung (Verf.): »Wie er (sc. Odysseus) bald darauf mit einem einzigen Schiff zur

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Mox ad Cyclopum insulam, quae Lotophagis obiacebat, cum una nave processerit, eaque sedulo occultata ipse cum duodecim sociis in antrum Polyphemi penetraverit. qui cruentis dapibus expletus, quas caede sociorum eius instruxerat, vino etiam quod Ulixes ingesserat temulentus cum in somnum procubuisset, ab Ulixe caecatus poenas immanitatis exsolvit.

Der Verfasser berichtet, wie Odysseus mit seinem Schiff an der Insel der Kyklopen anlegt und mit seinem Erkundungstrupp in die Höhle des Polyphem gelangt. Der ganze dramatische Rest der Geschichte wird in einem einzigen Satz erzählt: Als der (sc. Polyphem) – angefüllt mit bluttriefenden Mählern, die er sich aus der Schlachtung von dessen Gefährten bereitet hatte, und auch trunken von dem Wein, den ihm Odysseus eingeschenkt hatte – in Schlaf gefallen sei, habe er, von Odysseus geblendet, die Strafe für seine Unmenschlichkeit erlitten.

Entsprechend dieser Auffassung verklären viele Autoren den Vollstrecker der Tat, Odysseus, zu einem Vorbild an Tapferkeit, Tugend und Weisheit. Das zwiespältige bis negative Odysseusbild, das sowohl Vergil als auch Ovid in ihren Adaptionen der Odyssee gezeichnet hatten,22 blieb ohne Einfluss auf die Wahrnehmung des Oysseus in der spätantiken lateinischen Literatur. Im vierten Buch des Trosts der Philosophie des Boethius etwa geht es um das Problem des widrigen Geschicks.23 Das Schicksal ist, wie die Personifikation der Philosophie dem Boethius erklärt, grundsätzlich gut. Selbst wenn es widrig erscheine, so habe es doch den Zweck, die Bösen zu bestrafen oder zu bessern, die Guten hingegen zu prüfen. Ein widriges Geschick sei die Bewährungsprobe des Weisen, so wie das Kampfgetümmel die Bewährungsprobe des Tapferen sei. Ein glückliches Bestehen dieser Proben führe zu Tugend und Glückseligkeit. Das abschließende Gedicht nennt drei mythische Exempel für diese These. Eines davon bezieht sich auf Odysseus, der zunächst mitansehen musste, wie seine Gefährten vom Kyklopen ermordet und gefressen wurden, bevor er schließlich Rache an dem Frevler nehmen konnte.24 Flevit amissos Ithacus sodales, quos ferus vasto recubans in antro mersit immani Polyphemus alvo.

_____________ Insel der Kyklopen, die vor dem Land der Lotophagen lag, vorgestoßen sei; wie er dieses vorsätzlich versteckt habe und selbst mit zwölf Gefährten in die Höhle des Polyphem eingedrungen sei. Als der – angefüllt mit bluttriefenden Mählern, die er sich aus der Schlachtung von dessen Gefährten bereitet hatte, und auch trunken von dem Wein, den ihm Odysseus eingeschenkt hatte – in Schlaf gefallen sei, habe er, von Odysseus geblendet, die Strafe für seine Unmenschlichkeit erlitten.« 22 Vgl. Stanford (1954), 128–143. 23 Zum folgenden siehe O’Daly (1991), 220–235. 24 Boethius, Consolatio Philosophiae IV 7. c. 8–12; um 524 n. Chr.; Übersetzung (Ernst Gegenschatz/Olof Gigon): »Es beweint’ Uliss den Verlust der Freunde,/ Polyphem hat sie, lagernd in der Höhle,/ wild in sich versenkt im gewaltgen Schlunde./ Doch der Wütrich hat dann, beraubt des Auges,/ bald die Lust gebüßt mit den bittern Tränen.«

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Susanne Moraw sed tamen caeco furibundus ore gaudium maestis lacrimis rependit.

Auch hier erscheint die Blendung des Polyphem als Höhepunkt der Geschichte und logische Konsequenz seiner Tat, Odysseus als der heroische Vollstrecker einer gerechten Strafe. Eine kühne moralische Allegorese der Polyphemepisode unternimmt Fulgentius in seinem Werk zu Vergils Aeneis.25 Wir haben es hier also nicht mit einer Rezeption des Homerischen Originals zu tun, sondern – wie wohl meist in der lateinischen Literatur – mit einem Rekurs auf die Bearbeitung der Geschichte durch Vergil (oder Ovid).26 Fulgentius unternimmt, grob gesprochen, den Versuch, die gesamte Aeneis als eine Allegorie des menschlichen Lebens zu interpretieren. Vergils Protagonist Aeneas durchläuft ihmzufolge im Verlauf des Epos alle Stadien vom Kleinkind bis zum charakterlich gereiften Mann. Der Kyklop versinnbildlicht dabei das Stadium des zum Übermut neigenden Knabenalters.27 Ob hanc rem etiam Cyclops unum oculum in fronte habere dicitur, quia nec plenum nec rationalem visum puerilis vagina portat et omnis aetas puerilis in superbia erigitur ut Cyclops. ideo in capite oculum, quod nihil nisi superbum et videat et sentiat. quem sapientissimus Ulixes extinguit, id est: igne ingenii vana gloria caecatur. ideo eum et Polyphemum diximus quasi apolunta femen, quod nos Latine perdentem famam dicimus.

Die Tatsache, dass der Kyklop mit nur einem Auge imaginiert wird, hängt laut Fulgentius damit zusammen, das er nur Übermütiges zu sehen und zu denken vermag. Er ist die Verkörperung von superbia (Hybris) und vana gloria (eitlem Ruhm). Odysseus hingegen wird eingeführt als der sapientissimus, der höchst Weise, der mit dem Feuer seines Verstandes die Torheit und Eitelkeit des Kyklopen ausgelöscht habe. Der Held der Odyssee wird von Fulgentius und anderen Autoren zum Exempel von Tugend und Weisheit stilisiert. Er kann damit als Vorbild für den philosophisch gebildeten, der spätantiken Elite zugehörigen Leser dienen. Vom Odysseusbild der zeitgleichen bildenden Kunst, wie es zuvor skizziert wurde, sind wir hier weit entfernt. _____________ 25 Die so genannte Expositio Virgilianae continentiae, vgl. die Erläuterungen bei Agozzino/Zanlucchi (1972); ein moderner Leser dieses Werkes wird vermutlich geneigt sein, der Meinung von Lamberton (1989), 280 zuzustimmen: »that these are among the most outrageous specimens of a class of speculation in which extravagant free association is the norm.« 26 Vgl. Anm. 4. 27 Fulgentius, Expositio Virgilianae continentiae, 151; vermutlich 6. Jahrhundert n. Chr.; Übersetzung (Verf.): »Deshalb soll auch der Kyklop nur ein Auge auf der Stirn haben, weil das knabenhafte Umherschweifen weder ein vollständiges noch ein rationales Sehen mit sich bringt und weil das gesamte Knabenalter sich zum Übermut versteigt, wie der Kyklop. Daher hat er am Kopf [nur] ein Auge, weil er außer Übermütigem nichts sieht oder denkt. Das löschte der höchst weise Odysseus aus, das bedeutet: Eitler Ruhm wird vom Feuer des Verstandes dunkel gemacht. Deshalb haben wir ihn auch Polyphem genannt, gleichsam apolunta femen, was wir auf Latein ›den, der seinen guten Ruf verliert‹ nennen.«

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Für die Spätantike lassen sich demnach, abhängig vom Medium der Vermittlung und der mittels dieses Mediums intendierten Aussage, mindestens zwei Entwürfe des Odysseus, zwei verschiedene Arten von »Wissen« über ihn, festhalten. Während die Texte, wie erwähnt, Odysseus eher eindimensional als eine Art philosophisch inspirierten großen Helden propagieren, werden die Bildwerke dem Zwiespältigen seines Wesens – das natürlich der gesamten Antike bewusst war – besser gerecht. Diese spätantiken Erzeugnisse der bildenden Kunst stehen in einer langen, mehr oder weniger ungebrochenen Tradition,28 deren Endpunkt sie darstellen. Mit dem Ende des weströmischen Reiches im Verlauf des 5. Jahrhunderts endet auch die Produktion von Mythenbildern. Von dort führt keine direkte Traditionslinie in die Kunst der Neuzeit. Anders verhält es sich mit den spätantiken Texten. Diese gehen natürlich zum einen gleichfalls auf ältere Vorbilder zurück. Zum anderen werden sie jedoch, ungleich den Bildwerken, über die Spätantike hinaus tradiert: Mythographische Lexika vermitteln auch den mittelalterlichen Lesern die Grundzüge der Mythen;29 Boethius’ Trost der Philosophie war eines der meistgelesenen Bücher des Mittelalters;30 Fulgentius’ moralische Allegorese der Aeneis war dem Mittelalter bekannt und in der frühen Neuzeit so populär, dass sie vielen Ausgaben der Aeneis beigefügt wurde.31

3) Die Rezeption in der Renaissance Um zu verdeutlichen, was genau die transformatorische Leistung der Spätantike in Bezug auf den Mythos war, sei ein kurzer Blick vorausgeworfen auf das 16. Jahrhundert. Die Renaissance übernahm von der lateinischen Spätantike die allegorische Deutung der Odyssee und die dort vorherrschende positive Bewertung des Protagonisten Odysseus als eines exemplum virtutis.32 _____________ 28 Betrachtet man die spätantiken Odysseebilder, dann überrascht, dass sich im Vergleich zu früheren Jahrhunderten so wenig verändert hat: Es gibt eine gewisse Modernisierung bei antiquarischen Details wie Tracht oder Waffen sowie stilistische Konzessionen an den Zeitgeschmack wie etwa die Zunahme von Frontalität. Das ikonographische Schema an sich wird jedoch nur leicht variiert, entsprechend den Erfordernissen der jeweils intendierten Aussage. 29 Die wohl bekanntesten Werke, die allerdings beide die Polyphemgeschichte nicht thematiseren, sind die Etymologiae des Isidor von Sevilla (ed. Lindsay 1911) und der so genannte Mythographus Vaticanus I (ed. Zorzetti/Berlioz 1995). 30 Vgl. ed. Gegenschatz/Gigon (1998), 306. 31 Vgl. ed. Agozzino/Zanlucchi (1972), 13, Anm. 12: »Il salvaggio della mitologia antica, prima avversata dalla nuova chiesa, deve non poco a Fulgenzio, che è l’autore sul quale s’è formata la survivance della mitologia pagana nel Medioevo christiano.« 1589 wurde die Expositio Virgilianae continentiae erstmals gedruckt und von da an vielen Ausgaben der Aeneis angefügt: Allen (1970), 137–139. 32 Allen (1970), 94–98; diese allegorische Tradition lebt, trotz gelegentlicher ›wissenschaftlicher‹ Ansätze im 17. Jahrhundert, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein fort. Ein mit der Popularität der

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Abb. 5: Emblem aus dem Emblematum liber des Andreas Alciatus, 1531.

Iusta Vindicta, »Gerechte Rache«, steht als Motto über einer Darstellung des geblendeten Polyphem im Emblembuch des Andreas Alciatus von 1531.33 Der Gedanke, dass Polyphems Blendung die logische und gerechte Konsequenz seiner Taten war, fand sich bereits in den spätantiken Texten. Hier wird dieser Gedanke umgesetzt in die Ikonographie des 16. Jahrhunderts. Der Riese steht, in der Pose eines zeitgenössischen Landsknechts, aufrecht, die linke Hand in die Hüfte gestützt. Die rechte hält einen überdimensionierten Hirtenstab. Zu seinen Füßen tummeln sich Schafe. Der Körper ist behaart, um seine Lenden hat der Künstler – _____________ Allegorese zusammenhängender Aspekt ist die Wiederentdeckung und Bedeutung des (Neu) Platonismus in der Renaissance: Allen (1970), 21–51. 33 Alciatus (1531), B 7 b. Vgl. Henkel/Schöne (1996), Sp. 1692 f. Ein Emblem setzt sich zusammen aus Bild (pictura), kurzer Überschrift (inscriptio) und erläuterndem Epigramm (subscriptio). Das Emblembild weist mittels der beigegebenen Texte über das unmittelbar Dargestellte hinaus auf einen grundsätzlicheren und abstrakten Sachverhalt; wir fassen hier also eine Spielart der Allegorie (vgl. Henkel/Schöne [1996], XII f.). Das Emblembuch des Alciatus war ungemein erfolgreich und inspirierte eine große Zahl von weiteren Ausgaben, nationalsprachlichen Übersetzungen und Nachahmern. Die Mode der Emblembücher bestand bis ins 18. Jahrhundert.

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entsprechend den Anstandserfordernissen seiner eigenen Zeit – eine Art Schurz gelegt. Haar- und Barttracht entsprechen dem 16. Jahrhundert. Ein winziger Pflock in Polyphems Stirn verweist auf die vorangegangene Blendung. Nach der Betrachtung der antiken und spätantiken Kunstwerke zum Polyphemmythos sollte klar sein, dass von dort keine ikonographische Tradition zu diesem Bild führt.34 Antik beziehungsweise spätantik ist allein die mit dem Geschehen verbundene und in den Texten überlieferte moralisch-allegorische Aussage. Der auf dem Emblembild nicht dargestellte Odysseus ist, gleichfalls in spätantiker literarischer Tradition, als der tugendhafte und ruhmreiche Vollstrecker dieser »gerechten Rache« zu denken. Dies scheint die Hauptströmung der Rezeption des homerischen Helden in der Renaissance gewesen zu sein. Angereichert und differenziert wurde die Vorstellung von Odysseus im Verlauf der Zeit durch die Wiederentdeckung beziehungsweise lateinische Übersetzung des Originaltextes der Odyssee sowie griechischer Homerkommentatoren wie Heraklit oder Porphyrios.35 Dieser mit gewissen macchiavellistischen Zügen ausgestattete Held36 konnte nun auch als Identifikationsfigur für Fürsten und Könige dienen. Unter Heinrich II. wurde in Schloss Fontainebleau eine Galerie mit insgesamt 58 Szenen aus der Odyssee dekoriert, von der Abfahrt vom eroberten Troja bis hin zur Wiedereinsetzung des Odysseus als Herrscher von Ithaka.37 Vier dieser _____________ 34 Das gilt ebenso für die anderen Emblembilder, die Abenteuer aus der Odyssee thematisieren: Das Abenteuer bei den Lotophagen (Henkel/Schöne [1996], Sp. 1691 f.) wurde in der Antike unseres Wissens gar nicht dargestellt; die Kirkebilder (Henkel/Schöne [1996], Sp. 1694 f. und 1696) entsprechen nicht genau der antiken Ikonographie, eine Darstellung von Odysseus im Gespräch mit Gryllos (Henkel/Schöne [1996], Sp. 1695 f.; nach der großartigen Parodie der Episode bei Plutarch, mor. 988 D–992 E) gibt es antik nicht. Die Sirenen der Emblembücher (Henkel/ Schöne [1996], Sp. 1697–1699) haben nicht die antike Vogelgestalt, sondern sind in der Art der antiken Skylla, d. h. mit Fischbeinen und Flossenschurz, gebildet. Skylla hingegen (Henkel/ Schöne [1996], Sp. 1699–1701) hat zwar die aus der Antike bekannten Hundeprotome an den Hüften, schwimmt aber nicht im Meer, sondern sitzt auf einem Felsen. (Was nicht der antiken Ikonographie, stattdessen jedoch der Beschreibung bei Homer entspricht.) Die Beispiele ließen sich fortführen. 35 Auflistungen aller im 16. Jahrhundert bekannten Texte, die sich in irgendeiner Weise auf Odysseus beziehen, finden sich in den einzelnen Kapiteln bei Lorandi (1996). Die erste lateinische Homerübersetzung, der im Verlauf der Renaissance weitere folgten, durch Leonzio Pilato fand bereits um 1360 auf Betreiben Boccaccios statt. Durch die Lehrtätigkeit des Manuel Chrysoloras um 1400 in Florenz begannen sich griechische Sprache und Literatur in Italien zu verbreiten. Mit der Erfindung des Buchdrucks wird Homer Ende des 15. Jahrhunderts Gemeingut: Finsler (1912), 16–47. Die Werke des Porphyrios wurden 1521 gedruckt, die des Eustathios 1542, des Heraklit 1554: Allen (1970), 84 f. Die griechischsprachige spätantike Rezeption der Polyphemepisode war – darauf kann hier nur kurz verwiesen werden – in der Charakterisierung und Bewertung der beiden Antagonisten weitaus differenzierter als ihr lateinisches Pendant. 36 »Fraude an virtute plus valens incertum« schreibt Giovanni Boccaccio in seinen Genealogie deorum gentilium über ihn: Buch 11, Kapitel 40; zitiert nach Stoschek (1999), 195. 37 Die ersten 29 Fresken, angebracht entlang der einen Seite der Galerie, thematisierten die Abenteuer der Heimfahrt; die zweiten 29, auf der gegenüberliegenden Wand, die Ereignisse auf Ithaka. Die Fresken wurden nach 1556 nach den Entwürfen von Francesco Primaticcio ausgeführt.

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Fresken, die im 18. Jahrhundert einem Umbau zum Opfer fielen, thematisierten das Polyphemabenteuer.38 Das erste Fresko zeigte die Landung auf der Insel der Kyklopen, das zweite die Blendung. Die davor zu denkende Weinreichung – die es notwendig gemacht hätte, Odysseus in einer heuchlerisch servilen Haltung abzubilden – war bezeichnenderweise nicht dargestellt.39 Stattdessen wird das heroische Motiv der Blendung gewählt: Odysseus und zwei Gefährten rammen einem gigantisch großen, in kühner Verkürzung präsentierten Polyphem den glühenden Pfahl ins Auge. Das dritte Fresko thematisierte die Flucht.

Abb. 6: Zeichnung Theodor van Thuldens nach Francesco Primaticcio um 1560, Wien, Albertina.

Der geblendete Riese blockiert den Ausgang aus seiner Höhle und tastet alle hinausgehenden Schafe ab. Links unten im Bild erkennt man die auf dem Boden schleifenden Beine zweier Gefährten, die – unter die Tiere gebunden – heimlich die Höhle verlassen. Odysseus selbst wird, im deutlichen Gegensatz zu den spät_____________ Vgl. Béguin/Giullaume/Roy (1985); weiterhin wichtig für Odysseezyklen des Cinquecento: Stoschek (1999), Höltge (1996), Lorandi (1996). 38 Béguin/Giullaume/Roy (1985), 219–227, Abb. 162–177: Ankunft auf der Insel der Kyklopen; Blendung; Flucht; Verhöhnung des Geblendeten. 39 Und wird das auch nicht in den anderen Odysseezyklen der Zeit. Einzige Ausnahme, bei der die Weinreichung allerdings als höfische Begegnung unter Gleichrangigen inszeniert wird, ist der Zyklus in der Villa della Meridiana in Genua: Höltge (1996), 85–91; Lorandi (1996), Abb. 115.

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antiken Formulierungen der Flucht, nicht in einer solch unwürdigen Pose gezeigt. Er erscheint vielmehr (rechts unten) als der tatkräftige Organisator der Flucht, der seinen Männern erklärt, was sie zu tun haben. Sollten spätantike Darstellungen, etwa auf den in diversen Sammlungen zirkulierenden Kontorniaten, dem Künstler bekannt gewesen sein,40 so hatten sie zumindest keinen Einfluss auf seine Art der Darstellung. Fassen wir zusammen. In der bildenden Kunst der Spätantike war Odysseus keine Identifikationsfigur für Männer der Oberschicht. Erscheint er doch einmal als Dekoration einer Villa, dann wird seine Person problematisiert. Odysseus kann eher als Held der kleinen Leute bezeichnet werden, ein Jedermann, der sich irgendwie durchs Leben schlägt. Dieser Rezeptionsstrang endet mit dem Auslaufen der mythologischen Themen in der Kunst des ehemaligen weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert. Was hingegen die Spätantike überdauert, ist die Charakterisierung des Odysseus in der lateinischen Literatur. In der dort vorherrschenden moralischen Allegorese wird er zum heldenhaften und weisen Kämpfer gegen Laster aller Art verklärt.

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_____________ 40 Zum Stand der archäologischen Forschung bzw. der Antikenkenntnisse in der Renaissance siehe Starck (1969), 80–108. Für keines der hier vorgestellten spätantiken Denkmäler mit Darstellung des Polyphemmythos lässt sich eine Auffindung bereits im oder vor dem 16. Jahrhundert nachweisen, vgl. die Angaben zu Fundort und -datum in den entsprechenden Anmerkungen.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6:

Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Neg. Nr. Ant 2867; Fotograf unbekannt. Fratelli Alinari, aca-f-055466-0000. © Copyright the Trustees of the British Museum. Fratelli Alinari, aca-f-029773-0000. Alciatus (1531), B 7 b. Albertina, Wien.

Wissen und Imagination – Distanzierung und Aneignung. Transformationen des Amazonenbildes in der Alexanderdichtung des 12. Jahrhunderts URSULA ROMBACH

Die Darstellungen des Lebens und der Taten Alexanders des Großen in Wort und Bild bilden eine komplexe, hoch differenzierte Reihe von Transformationsprozessen, die von den Lebzeiten des Protagonisten im vierten Jahrhundert vor Christus bis zu den Medienerzeugnissen der Gegenwart reicht. Unter den heute bekannten und überlieferten rund 200 Textfassungen in 30 Sprachen finden sich bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts jedoch ausschließlich Prosaversionen.1 Die formale Ästhetisierung des Stoffes in dichterischer Form setzt um 1100 in Frankreich ein und bringt in einer West-Ost-Bewegung bis 1300 32 Alexanderdichtungen in dem heute als Europa bezeichneten geographischen Raum hervor. Es lässt sich zeigen, dass diese Blütezeit der Alexanderdichtung nicht zufällig mit der Zeit der Kreuzzüge und der Entwicklung und Verbreitung höfischer Lebensideale kongruiert.2 Hierzu stimmt, dass nur zwei dieser Alexanderdichtungen wie ihre Prosaquellen in lateinischer Sprache verfasst sind, sich alle anderen Werke aber der verschiedenen Volkssprachen vom Altfranzösischen oder Mittelhochdeutschen zum Altspanischen oder Alttschechischen bedienen.3 Mit seiner Alexandreis schuf in Frankreich Walter von Châtillon, der sich selbst in die Nachfolge Vergils und in die Konkurrenz zu Lukan stellt,4 um 11805 die erste und auch berühmteste lateinische Alexanderdichtung und somit das Epos der _____________ 1 2 3 4 5

Pfister (1975), 1–16, hier 2–3. Bumke (1992), Bd. 1, 92 f. und 120 ff. und Bumke (1993), 56 f. Einen vorzüglichen Überblick bietet Ross (1988). Zu Walters Selbstpositionierung gegenüber Vergil und Lukan sieheWulfram (2000), 222–245. Die beste Darstellung der Datierungsproblematik bietet Lafferty (1998), Apendix I, 183–189, in der sie als Zeitfenster für die von Walter selbst benannte fünfjährige Schaffensphase an seinem Epos die Jahre zwischen 1171 und 1181 in Betracht zieht. Für die Fertigstellung der Dichtung im Umfeld des Herrschaftswechsels von Ludwig VII. zu Philipp August II. und den ›Kreuzzug‹ gegen die Juden 1179/1180 lassen sich jedoch meines Erachtens zahlreiche inhaltliche Indizien aufweisen.

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Gesta ducis Macedum,6 das die antike Dichtung aus mittelalterlicher Perspektive schuldig geblieben war. In seiner nach antikem Muster ausgeführten und an seine Leser gerichteten captatio benevolentiae betont Walter nicht nur die Kürze der von ihm benötigten Zeit, in der das Epos entstand, sondern vor allem, dass es, bezeugt durch Servius, in der Antike niemand gewagt habe, das AlexanderThema, das der Topik der captatio gemäß als besonders schwierig klassifiziert wird, in poetischer Form zu behandeln.7 Diese Rolle als protos heuretes gilt freilich nur für die Alexanderdichtung in lateinischer Sprache. Die dichterische Transformation in die Volkssprache hatte bereits im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts begonnen.8 Nach 1180 kompilierte schließlich Alexandre de Bernay, gen. de Paris, seinen altfranzösischen Roman d’Alixandre, indem er bereits vorhandene, volkssprachliche Alexanderdichtungen mit eigener Neudichtung zu einem Ganzen vereinte.9 Er folgt in großen Teilen der Tradition der chanson de _____________ 6

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Galteri de Castellione Alexandreis (1978); Walter v. Châtillon, Alexandreis (im Folgenden Alex.; Ausg. 1990); Christensen (1905, ND 1969); Stiene/Grub (1985); Zwierlein (1987), 2; Harich (1987); Ratkowitsch (1996); Lafferty (1998); Rombach (1997/1998), 45–70; Wiener (2001). Walter v. Châtillon, Alex., Prol. 30–36: »lectores huius opusculi […] considerent arti temporis brevitatem qua scripsimus et altitudinem materiae, quam nullus veterum poetarum teste Servio ausus fuit aggredi perscribendam.« Dass er mit seinem Werk etwas Neues schafft, betont Walter schon im ersten Satz seines Prologs: Walter v. Châtillon, Alex., Prol. 1–3. Dass diese Positionierung gegenüber den antiken Autoren auch von den Rezipienten der Alexandreis thematisiert wurde, zeigen Scholien, die seit dem 13. Jahrhundert eine Begründung für das Fehlen einer antiken Alexanderdichtung suchen. So Scholia ex codice Vindobonensi Nationalbibl. 568 im Accessus: zitiert nach Colker (1978), 349: »Hanc vero hystoriam antiqui poete reliquerunt intactam vel propter invidiam vel propter odium vel propter Romani nominis lesionem vel propter materiae difficultatem.« Den ersten Ansatz zur Untersuchung einer möglichen Beeinflussung Walters durch die volkssprachige Alexanderdichtung bietet Kullmann (2000), 53–72. Diese Dependenz kommt für die Amazonenepisode zwar nicht in Betracht, lässt sich aber über den Befund von Kullmann hinaus an signifikanten Passagen wahrscheinlich machen. Der Roman d’Alixandre des Alexandre de Paris entstand wohl nach 1180 und bildet den Höhepunkt einer Tradition, die im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts mit dem Werk des Alberic von Pisançon, der ersten Alexanderdichtung überhaupt, ihren Ausgang genommen hatte. Von diesem in provençalischem Dialekt verfassten Achtsilbler sind nur 105 Verse erhalten. Das Fragment des Alberic von Pisançon in: The Medieval French Roman d’Alexandre (1942/ND 1965). Meyer (1886), Bd. II, 69–101. Um 1160 formte ein Kleriker aus der Gegend von Poitiers das Werk Alberics in Zehnsilblerlaissen (Arsenal /Venedig A /B) um. The Text of the Arsenal and Venice Versions (1937/Neudruck 1965). Meyer (1886), Bd. II, 102–132. In den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts erscheinen drei neue zwölfsilbige Alexandergedichte: Le Fuerre de Gadre des Eustache von Kent, der Alexandre en Orient des Lambert le Tors de Châteaudun, sowie ein weiteres unabhängiges Gedicht eines Anonymus über Tod, Totenklagen und Beisetzung Alexanders. Diese Texte sind jedoch nur noch aus der Version des Alexandre de Paris zu rekonstruieren. Gosman (1988), 25–44. Alexandre de Paris schließlich kompilierte, überarbeitete und ergänzte diese einzelnen Teile zu einem 16 000 Verse umfassenden Roman in Zwölfsilblern. Dieses Werk, das wie seine Vorgänger den Alexanderroman – z. B. Valerius Epitome, Epistola ad Aristotelem, HdP J² – zur Quelle hat, umfasst das gesamte Leben des Helden einschließlich

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geste, fügt aber auch stark höfisch überformte Passagen hinzu und stilisiert den Heiden Alexander zum vollkommenen Ritter und Herrscher.10 Obwohl im selben Zeit- und Kulturraum entstanden, stehen sich in der Alexandreis und dem Roman d’Alixandre zwei völlig verschiedene Konzepte dichterischer Ästhetisierung des Alexanderstoffes gegenüber, aus deren Vergleich sich nicht nur Erkenntnisse zu den formal-ästhetischen Transformationsprozessen gewinnen lassen, sondern auch zu deren Bedingtheit durch Rezipientenbezug und Aussageintention. Die beiden Transformationsresultate, d. h. Alexanderdichtungen, vermitteln nicht nur Wissen von der Antike, sondern transportieren in einer Junktur von prodesse und delectare auch zeitgenössische Diskurse sowie kollektive Wert- und Normvorstellungen. Exemplifiziert werden soll dieser Befund, der sich an allen Kernbereichen der beiden Alexanderdichtungen aufzeigen ließe, an der Begegnung Alexanders mit den Amazonen, einer Episode, die nicht nur auf eine eigene literarische Tradition verweist, sondern auch Fragen nach Fremdheit und Selbstvergewisserung thematisiert.11 Zunächst sollen die Amazonenepisoden beider Werke formal und inhaltlich analysiert werden, um im anschließenden Vergleich die Interdependenz inhaltlicher Aussage und ästhetischer Vermittlung in den Blick zu nehmen. Dass die Alexandreis des Walter von Châtillon häufig als antikisierend charakterisiert wird, hat – wie ihre Aufnahme in den Lehrkanon der Lateinschulen des 13. Jahrhunderts unterstreicht – zunächst formale Gründe. Mit der Perfektion der rund 5500 daktylischen Hexameter seines Epos und der an den römischen Epikern geschulten Disposition des Stoffes gab Walter eine Probe seiner auf elaborierter, geistlicher Bildung und Antikenkenntnis basierenden Dichtkunst, die von den Zeitgenossen der antiken Überlieferung als ebenbürtig erachtet wurde.12 Zur ästhetischen Umsetzung seiner Hauptquelle, der Historiae Alexandri Magni Macedonis des Curtius Rufus, treten zahllose Zitate aus oder Anspielungen auf antike Literatur und Philosophie, die sich freilich nur einem Rezipientenkreis von litterati erschließen konnten. _____________ der im Brief Alexanders an Aristoteles überlieferten Wunder Indiens. The Medieval French Roman d’Alexandre (1937/Neudruck 1965). Alexandre de Paris, Le Roman d’Alexandre (1994). Meyer (1886), 133–253. Einführung und Anmerkungen zu Branche III: Foulet (1976). 10 Suard (1989), 77–87. 11 Zu den Fremdheitsdiskursen in der Alexanderdichtung siehe Kragl (2005), der die Brahmanenund Gymnosophisten-Episoden verschiedener Alexanderdichtungen untersucht, und Röcke (1997), 355–359, der eine Analyse der Blumenmädchen-Episode im Strassburger Alexander und bei Hartlieb bietet. 12 Hugo von Trimberg erwähnt die Alexandreis in seinem Registrum multorum auctorum und Heinrich von Ghent bemerkt, dass aufgrund der Alexandreis-Lektüre sogar die Lektüre antiker Autoren vernachlässigt werde: »Alexandreis in scholis grammaticorum tantae dignitatis est ut prae ipsa veterum poetarum lectio negligatur.« Vgl. hierzu Colker (1978), XX.

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Dieser in den Überlieferungen der Antike wurzelnde Wissens- und Bildungshorizont verband ihn mit seinem Dienstherrn und Gönner, dem Onkel des neuen französischen Königs, Philipp II. August, dem Erzbischof Wilhelm von Reims, dem er sein Werk widmet. Auf diese unmittelbare Nähe zur politischen Macht gehen die tagespolitischen Bezüge des Werkes zurück, die jedoch für die Transformation der Amazonenepisode keine Rolle spielen. Diese schöpfte Walter aus dem sechsten Buch des Curtius Rufus, wo sie im Rahmen des Hyrkanienfeldzuges berichtet wird und der Klage über die fortschreitende Dekadenz Alexanders vorausgeht, die in der Tradition der peripatetischen Alexander-Historiographie steht.13 Nach einer Beschreibung des Amazonenreiches erscheint dessen Königin Thalestris in der für dieses Frauenvolk typischen und bei Curtius ausführlich beschriebenen Tracht mit 300 Amazonen im Lager Alexanders, um sich von ihm schwängern zu lassen. Obwohl Alexander zögert, da Thalestris jede Waffenhilfe ablehnt, setzt sie sich durch, und er verbringt die nächsten 13 Tage mit ihr.14 Bei Walter steht die Episode am Beginn des achten Buches und umfasst nur 43 Verse, da er die ohnehin knappe Darstellung des Curtius nochmals strafft.15 Die Ekphrasis zum Lebensraum der Amazonen wird verkürzt, die Erwähnung von Boten, die Alexander die Ankunft der Königin melden sollen, entfällt, konstatiert wird nur die Herrschaft einer Frau über die Völker zwischen Kaukasus und Phasis, was mit der Lokalisierung des Reiches am Rand der Oikumene zugleich die Andersartigkeit der Herrschaftsstruktur akzentuiert: Omnibus hec populis, dorso quos Caucasus illinc circuit, hinc rapidi circumdat Phasidos amnis iura dabat mulier.16

Walter, der sonst frei und produktiv mit seinen Vorlagen verfährt, folgt auffallend eng seiner Quelle, indem er sie bisweilen wörtlich versifiziert. Hierbei wird gerade die Fremdheit der Amazonen betont, die in kriegstauglicher Kleidung, ausgebrannter rechter Brust, der Gewandtheit zu Pferd sowie der Bewaffnung ihren Ausdruck findet. Verstärkend wirkt das hohe Maß an Dynamik, mit dem die Königin köcherbewehrt und mit zwei Speeren in einer Hand auf Alexander zustürmt: […] Cui primo ut copia facta est regis, equo rapide descendit, spicula dextra

_____________ 13 Q. Curtius Rufus, Historiae Alexandri Magni (1908/ND 1927). Quintus Curtius, History of Alexander (1946/ND 1971). Quinte-Curce, Histoires (1961). Einen Teilkommentar bietet Atkinson (1980). Zur Einführung siehe Cary (1967), 16 f.; Will (1986), 21 ff.; Ross (1988), 67 ff. 14 Curt. 6, 5, 24–36. 15 Walter v. Châtillon, Alex. 8, 6–48. 16 Ebd., Alex. 8, 11–13. Die vergilische Wendung des iura dare, in der die Legislative als pars pro toto die Herrscherfunktionen repräsentiert, verweist auch auf das achte Buch, in dem am Prozess gegen Philotas die Monarchenrolle Alexanders als Gesetzgeber und Richter problematisiert wird.

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bina ferens, levo pharetram suspensa lacerto. Vestis Amazonibus non totum corpus obumbrat. Pectoris a leva nudatur, cetera vestis occupat et celat celanda, nichil tamen infra iuncturam genuum descendit mollis amictus.17

In seiner Charakterisierung der kämpfenden Herrscherin Thalestris als Barbarin geht Walter über die bei Curtius vorhandene Distanzierung des Fremden noch hinaus. Sie kehrt nicht nur mit ihrer Offensive in der Sexualität die Geschlechterrollen um, sondern wird auch bezüglich ihrer fehlenden Bildung gegenüber dem griechischen Kosmos Alexanders abgewertet. Schon bei Curtius findet sich ihre erstaunte Reaktion auf die geringe Körpergröße Alexanders, die nicht mit seinem Kriegsruhm korrespondiere: Interrito vultu regem Thalestris intuebatur, habitum eius haudquaquam rerum famae parem oculis perlustrans; quippe omnibus barbaris in corporum maiestate veneratio est, magnorumque operum non alios capaces putant, quam quos eximia specie donare natura dignata est.18

Walter wertet diese Denkweise als barbara simplicitas,19 die – einem Defizit philosophischer Bildung entsprungen – sogleich mit der philosophischen Sentenz widerlegt wird, dass in einem mittelmäßigen Körper bisweilen ein größerer und starker Geist regiere, und in dunklen Gliedern eine hellstrahlende Macht herrsche, die den Rahmen des Körpers überschreite. Sed modico prestat interdum corpore maior magnipotens animus, transgressaque corporis artus regnat in obscuris preclara potentia membris.20

Zur philosophischen Untermauerung bemüht Walter den platonischen Antagonismus von Körper und Geist. In Stichworttechnik wird die Vorstellung, dass der inkarnierte Geist im dunklen Gefängnis des Körpers eingeschlossen ist, ebenso evoziert wie das Wissen, dass dieser Geist über den Körper hinaus wirken und sich letztlich von ihm befreien kann. Hier wird – wie an zahlreichen anderen Stellen – Walters Vertrautheit mit dem platonischen Gedankengut des 12. Jahrhunderts ebenso deutlich wie das Bestreben, philosophische Erkenntnisse und ethische Normen in sentenzenhafter Form protreptisch und didaktisch aufzubereiten. Das prodesse vermittels der Sentenz steht gleichberechtigt neben dem delectare, das durch die Alterität der Amazonen und ihrer Lebensweise ausgelöst wird. Verschiedene Bereiche antiker Wissensbestände aus Geschichte und Philosophie werden abgerufen und in der Transformation miteinander verbunden. _____________ 17 Walter v. Châtillon, Alex. 8, 13–23. 18 Curt. 6, 5, 29. 19 Walter v. Châtillon, Alex. 8, 28–32: »Barbara simplicitas a maiestate venusti / corporis atque habitu veneratur et estimat omnes, / magnorumque operum nullos putat esse capaces / preter eos, conferre quibus natura decorum / dignata est corpus specieque beare venusta.« 20 Ebd., Alex. 8, 33–35.

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Die konstitutiven Merkmale des Typus der Amazone bleiben gegenüber der antiken Vorlage unverändert, die Distanz zu ihrer Gegenwelt wird eher verstärkt. Die Basis bildet der Rollenwechsel zwischen den Geschlechtern. Thalestris besetzt mit Herrschaft und Kampf maskuline Felder mit den dazugehörenden Eigenschaften. Weibliche Attribute wie z. B. die Schönheit werden geopfert. Auch in der Relation der Geschlechter zueinander sind die Rollen vertauscht. Die Amazone nähert sich selbstinitiativ mit dem Ziel der Fortpflanzung Alexander, um den Fortbestand ihrer Lebensform zu sichern, und setzt sich auch bei Walter mit ihrem Begehren durch: […] tandem pro munere noctem ter deciesque tulit, et quod querebat adepta ad solium regni patriasque revertitur urbes.21

Der wesentliche Akt der Transformation dieser Episode bei Walter besteht in der Überführung des lateinischen Prosatextes in das heroische Versmaß des lateinischen Hexameters. Dabei konstruiert er keine Amazone des 12. Jahrhunderts, sondern seine Amazonenepisode ist durch direkte intertextuelle Bezüge zur Vorlage und das Einkleiden seiner philosophischen Sentenz in den antiken Kontext geprägt. Hinzu tritt der Befund, dass die Rolle aller Frauenfiguren bei Walter gegenüber Curtius eine deutliche Minderung erfahren hat. Es erscheint signifikant, dass nicht einmal Roxane oder Olympias geschweige denn Stateira oder Kandake mit Namen erwähnt werden, obwohl sie alle namentlich bei Curtius erscheinen. Gerade die Mutterrolle der Olympias wurde so stark reduziert, dass vermutet wurde, dies könnte ein Reflex innerhöfischer Spannungen zwischen dem Erzbischof von Reims und seiner Schwester, der Königinmutter Adelheid sein, die eine allzu deutliche Herausstellung der Mutter Alexanders hätten inopportun erscheinen lassen.22 Auch wenn unmittelbare Bezüge zwischen historischen Zusammenhängen und literarischer Fiktion nicht leicht zweifelsfrei nachweisbar sind, scheint man bei Walter grundsätzlich ein Desinteresse an den Frauenfiguren der Alexandergeschichte konstatieren zu können.23 Ihm geht es nicht um eine höfische Überformung und Ästhetisierung des Stoffes, bei der den Frauenbildern eine zentrale Rolle zukäme, sondern wenn Walter die Figuren für aktuelle Fragestellungen in Dienst nimmt, so sind diese – auf die Interessenschwerpunkte seines Adressaten bezogen – politisch-kirchenpolitischer oder ethischer Natur, wie im Fürstenspiegel des ersten Buches24 oder beim impliziten Kreuzzugsaufruf in der Mitte des Werkes.25 _____________ 21 22 23 24 25

Walter v. Châtillon, Alex. 8, 46–48. Siehe hierzu in kritischer Auseinandersetzung Wiener (2001), 107. Glock (2000), 294–295. Walter v. Châtillon, Alex. 1, 82–183. Ebd., Alex. 5, 510–520.

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Ganz anders präsentiert sich die Amazonenepisode im Roman d’Alixandre, die zu den von Alexandre de Paris neugedichteten Passagen des Werkes gehört und sich zusammen mit überarbeiteten Textpassagen des Lambert le Tors in Branch III des Roman findet.26 Inhaltlich gehört der Roman d’Alixandre wie der Roman de Thèbes, der Roman de Troie oder der Roman d’Enéas zu den romans antiques, verweist jedoch mit den zahlreichen der chanson de geste zugehörigen Strukturelementen seiner älteren Schichten auf eine Übergangsphase der französischen Literatur in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Der Roman d’Alixandre umfasst insgesamt rund 16 000 Zwölfsilbler, die nach diesem Werk ihren Namen ›Alexandriner‹ erhielten, und von denen immerhin rund 500, das entspricht 26 Laissen, auf die Amazonenepisode entfallen.27 Diese schließt im Roman d’Alixandre an die Eroberung Babylons an und ist die letzte von vier ausführlich erzählten, phantastischen Frauenbegegnungen des Orientfeldzuges: den Wassermädchen28, den Blumenmädchen,29 und der Königin Kandake.30 Sie bildet zugleich das letzte retardierende Moment vor der Krönung Alexanders zum Weltherrscher und seiner anschließenden Ermordung. Als Quelle für die Grundzüge dieser stark erweiterten Fassung kommt wohl die interpolierte Version J³ der Historia de Preliis in Betracht, da hier der bis dahin in der Romantradition übliche Briefwechsel zwischen der Königin und dem König erstmals durch ein Treffen der Beiden ergänzt wird.31 Im Roman d’Alixandre ist die Briefform ganz aufgegeben und die Handlung subtil inszeniert, indem sich die Protagonisten von zwei Polen aus in einem geschachtelten Handlungsablauf aufeinander zu bewegen. Hierbei werden die Initiierung des Handlungsablaufes sowie seine Vollendung – das Treffen Alexanders mit der Amazonenkönigin selbst – in die Rahmenhandlung verlegt, in der überhaupt antikes Wissenssubstrat über die Amazonen Verwendung findet. Während der Vorbereitungen zur Krönung zum Herren der Welt erfährt Alexander durch den Babylonier Samson von den wehrhaften Amazonen, ihrer heldenhaften Königin, ihren Lebensgewohnheiten und ihrem Reich, das es noch zu erobern gelte. encor sai je tel terre, ce est la verités ains que l’aiés conquise a faire avrés assées […]

_____________ 26 Eine systematische Übersicht zu den verschiedenen Ebenen der Autorschaft siehe bei Foulet (1976), 3–17. 27 Alexandre de Paris, Roman d’Alixandre III, 7212–7707 (im Folgenden Roman d’Alix.). 28 Ebd., 2896–2932. 29 Ebd., 3286–3550. Vgl. hierzu Anm. 8. Friede (2003), 20–83 passim, ordnet die Blumenmädchen-Episode der Kategorie des »märchenhaft Wunderbaren« zu und analysiert sie als Erzählung von der erotischen Verlockung von Feenwesen. 30 Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 4429–4864. 31 Die Historia de Preliis Alexandri Magni (Rez. J³) (1975); Historia de Preliis (Rez. J³), in: Quilichinus de Spoleto, Historia Alexandri Magni, nebst dem Text der Zwickauer Handschrift der Historia de Preliis (Rez. J³) (1971), Kap. 82–84.

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Ursula Rombach Amazoine est, uns regnes d’un flueve avironés, et est tous li païs de femes abités.32

Diese seien eine wildes Volk von Frauen hoher Abkunft, voll kampferprobtem Heldenmut, das sich nur einmal im Jahr mit Männern verbinde.33 Ihr Land sei von einem reißenden Strom umgeben und aus all diesen Gründen nur unter großen Verlusten zu erobern, womit auf Seiten Alexanders die Entscheidung für den Zug gegen die Amazonen provoziert wird. Mit dem Vasallen, der den Herrscher auf das nächste zu erobernde Land hinweist und damit einen neuen Handlungsstrang eröffnet, bedient sich Alexandre eines gängigen Kunstgriffes der chanson de geste. Dass der erste der Handlungsschritte – anders als bei Walter – von Alexander ausgeht, entspricht der Vorgabe in Historia de Preliis J³, nur dass Alexander hier der Königin einen Drohbrief schreibt und sie zur Tributzahlung auffordert. Im Roman d’Alixandre wird dies elegant durch einen Perspektivwechsel ersetzt, womit sich der Autor endgültig von seiner lateinischen Vorlage löst. In den verschlüsselten Bildern eines Traumes, der vor einem Konflikt mit einem fremden König warnt, lässt er die Amazonenkönigin die Gefahr vorausahnen.34 Als eine junge Amazone tatsächlich das Heranrücken des Welteroberers Alexander meldet, entschließt sich die Königin, deren Name »Amable«35 bereits den Paradigmenwechsel gegenüber den Vorlagen andeutet, auf Rat der Traumdeuterin zur Tributzahlung und schickt Alexander eine mit Geschenken beladene Gesandtschaft von tausend Mädchen über den ihr Land umgebenden Fluss entgegen, die beiden wunderschönen Jungfrauen mit den ebenfalls sprechenden Namen »Biautés« und »Florés« an ihrer Spitze.36 Die beiden jungen Amazonen entsprechen in jeder Hinsicht dem idealisierten Bild des höfischen Edelfräuleins: Sie sind wunderschön, von hoher Abkunft »de haut parage«, gebildet, und vor allem sind sie jungfräulich: Deus puceles apele, plaines de grans biautés; onques encor li fluns ne d’eles passés n’onques encor ne fu fraite lor chasteés.37

_____________ 32 33 34 35

Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7231–7236. Ebd., 7237–7270. Ebd., 7307–7334. Ebd., 7655–7657. Schon im Zehnsilbler Alexander der Handschriften A und B (Venedig, Museo Correr VI 665) wird eine Amazone als Vorbesitzerin des Schwertes erwähnt, das Alexander von seinem Vater Philipp erhält. Sie trägt jedoch, zum militärischen Fokus passend, den an den Troja-Stoff gebundenen Namen »Pantalee« bzw. Pantesilee. Diesen Namen verwendet auch Benoît de Sainte-Maure für seine Amazonenkönigin im Roman de Troie; siehe hierzu Friede (2000), 33–34. 36 Die hier einsetzende Binnenhandlung erinnert an die Gesandtschaft der Jocasta und ihrer Töchter Ismène und Antigoné im Roman de Thèbes (1968), 4045–4100; siehe hierzu auch Foulet (1976), Anm. zu 435–449. 37 Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7395–7397.

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Die aus der Marienverehrung resultierende, auf das Ideal der höfischen Dame übertragene Hochschätzung der Keuschheit und Verehrung der Jungfräulichkeit bildet einen Anknüpfungspunkt zum Bild der Amazone und ermöglicht zusammen mit Bezügen auf das Buch Salomon38 und die mehrfache Erwähnung der Amazonen bei Isidor von Sevilla39 die Funktionalisierung dieses literarischen Frauentypus im höfischen Kontext der romans antiques des 12. Jahrhunderts.40 Schönheit und Jungfräulichkeit werden unterstrichen durch kostbare und elegante Kleidung sowie aufwendige Zäumung der kostbaren Pferde; Details, deren Ekphrasis das Publikum nicht nur unterhält, sondern die personae durch ihre Ausstattung als den Zuhörern im gesellschaftlichen Status ebenbürtig ausweist.41 Als letztes Relikt des weiblichen Kriegervolkes erscheint die Fähigkeit, dass die Damen ihr Pferd ohne Steigbügel besteigen können.42 Das selbständige Reiten, für eine Amazone selbstverständlich, wird zur Chiffre, die im Fortgang der Handlung noch von Bedeutung sein wird. Ihre adaequate Bildung stellen die Damen durch ihren Gesang unter Beweis, der nicht nur wunderschön, sondern auch antiken Inhalts ist: sie besingen den auf die Metamorphosen43 Ovids zurückgehenden Mythos des Narziss: Chantent une chançon o son de grant douçor d’un vallet qui ja fu, ce content li auctor onques tant bel ne virent trestout nostre ancisor; por ce que de biauté avoit si grant valor,

_____________ 38 Sprüche 31, 10. 39 Isidor, Etymologiae 9, 2, 64. Zur Erwähnung im Chronicon siehe Petit (1983), 71, Anm. 40. 40 Als erster führt der Roman d’Eneas das Amazonenthema in die französische Literatur ein, indem das in Vergils Aeneis mit Penthesilea und Hippolyte verglichene literarische Vorbild der Amazone Camilla transformiert wird. Vgl. Vergil, Aen. 11, 648 ff. und Petit (1983), 65–67, mit Kurzanalyse und weiterführender Literatur. Zum Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure, in dem die Beschreibung des Königreiches der Amazonen sowie Kampf und Tod ihrer Königin Panthesilee rund 1000 Verse umfasst, siehe ebd., 67–69, zu den Amazonen im Roman d’Alixandre siehe ebd., 69 f. 41 Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7404–7462. 42 Ebd., 7412: »Florés i est montee, q’a estrier ne s’i prent.« Ebd., 7419: »Biautés i est monte molt acesmeement.« 43 Ovid, met., 339–510. Schon Foulet (1976), Anm. zu 7452 macht Ovid als Quelle wahrscheinlich, da die Metamorphose des Narziss zur Blume, wie die Mädchen sie besingen, in der anderen möglichen Vorlage, dem altfranzösischen Lai de Narcisse, nicht vorkommt. Friede (2000) weist zu Recht auf weitere Unterschiede hin, die eine Abhängigkeit der Episode von diesem Text unwahrscheinlich machen. Hinzu tritt der interessante Befund, dass eine Interpolation in HS A mit der Arachne-Geschichte einen weiteren Mythos enthält, der ein Pendant zum Narcissus-Stoff bieten sollte; siehe Foulet (1976), Anm. zu 435.1 Dass das Schicksal des Narziss – wie Friede (2000), 32 f. annimmt – als Spiegel des Schicksals Alexanders gelesen werden sollte, erscheint wenig überzeugend, da es die sonst positive Wertung Alexanders konterkarieren würde. Die Auslagerung der in der Ehe mündenden Liebesgeschichte auf frei imaginierte Amazonen und historisch undeterminierte Pairs Alexanders vermeidet vor allem die Kollision mit den bekannten historischen ›Fakten‹.

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Ursula Rombach amer nule pucele ne degna par amor. Une mesaventure li avint a un jor: vint a une fontaine, tous las de son labor, en l’eaue vit son ombre, d’amor ot tel tenror que plus le covoita que chevaliers s’oissor; Tant jut la fontaine et mena sa dolor que li dieu le müerent en une bele flor.44

Als einen Reflex der aetas ovidiana »li auctor« mit Ovid zu identifizieren scheint dabei legitim;45 ebenso die Beobachtung, dass der gepflegte Gesang und die Kenntnis des antiken Stoffes als Chiffre für die Bildung der Damen aufgefasst werden dürfen. Dramaturgisch leitet die akustische Inszenierung des NarzissMythos in einem erneuten Perspektivwechsel zur männlichen Sphäre über, denn von der anderen Seite nähern sich mit ihrem Gefolge Dans Clins und Aristés, zwei Barone Alexanders, die als Vorhut die Lage sondieren sollen und die schon von Ferne vom wunderbaren, sirenengleichen Gesang bezaubert sind. Jeder ahnt, was geschehen wird. Doch die Handlung wird nochmals retardiert, höfische Etikette wird eingehalten: die Barone schicken ihrerseits Boten den Damen entgegen, um diese zu ihnen zu geleiten. Als die Damen schließlich in Sichtweite sind, steigen die Herren ab, schreiten auf diese zu und nehmen deren edle Rösser beim Zügel, um sie im Minnedienst wie ein Knappe zu führen: Dans Clins vint a Floré, par la resne la prent, el ne fu pas vilaine, volentiers le consent. Aristés prist Biauté par la resne d’argent, cele fu preus et sage, que pas ne li deffent.46

Jenseits des Grenzflusses, den sie anders als die Thalestris Walters nicht aus Begierde, sondern in diplomatischer Mission überschritten haben, geben die Damen, die noch selbständig ihr Pferd bestiegen haben, bereitwillig die Zügel aus der Hand: beide Seiten befinden sich über die höfische Wertewelt der Minne im Konsens. Der aus der Antike tradierte Wissensbestand zu den Amazonen wird durch die ästhetische Ausgestaltung einer Minneszene ersetzt: Transformation durch substituierende Neuschöpfung. Es entspinnen sich galante, höfische Dialoge,47 in deren Verlauf die beiden Herren Biautés und Florés ihre Liebe gestehen. Die Begegnung gerät nicht zur Konfrontation mit einer Gegenwelt, sondern dient der Affirmation akzeptierter gesellschaftlicher Ideale. Treffen Damen und Herren des gleichen, hohen adeligen Standes »de haut parage« aufeinander, ist Liebe nur im Rahmen vor Gott gelobter Treue denkbar. Biautés genügt nicht die edle Herkunft ihres Ritters, sondern sie _____________ 44 Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7452–7462. 45 Literatur zum Narcissus-Stoff und seiner großen Popularität in der französischen Literatur des Mittelalters siehe Friede (2000) 19, Anm. 1. 46 Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7534–7537. 47 Ebd., 7539: »li uns parole a l’autre d’amor et de jovent.«

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willigt erst dann in ein Verlöbnis ein, als Aristés sich in einem vor Gott und den Menschen verbindlichen Schwur zu Liebe und Treue bekennt: Bele, dist Aristés, nos somes d’une loi loiaument je vos jur par le dieu ou je croi que je por vostre amor sui mis en grant effroi Sire, dist la pucele, n’en sai autre conroi, toute ma drüerie et m’amor vos otroi; se je fail a la vostre, malement m’i foloi, et se la puis avoir, la moie bien enploi.48

Die gemeinsame Bindung an Gesetz und Glaube ist konstitutiv für die höfische Liebe. Mit Küssen besiegeln die Vier ihre Verlöbnisse und begeben sich zum Heer Alexanders. An eine weitere Annäherung ist im höfischen Ideal ohne Eheschließung nicht zu denken. Auch die Alexander nun endlich überbrachte Botschaft der Amazonenkönigin wird in die Sphäre eines auf Treu- und Naheverhältnissen basierenden Feudalsystems transponiert. Zusammen mit dem in höfischer Pracht beschriebenen Tribut legt die Königin ihr Reich in Alexanders Hände, um es von ihm zu Lehen zurückzuerhalten, und verpflichtet sich zugleich zur Heeresfolge.49 Die Einigung vollzieht sich friedlich in gegenseitiger Anerkenntnis des Lehensrechts als Basis des adeligen Personenverbandsstaates. Das Eroberungswerk Alexanders endet damit in Recht und Frieden, was zum ausschließlich positiven Alexanderbild des Roman d’Alixandre vorzüglich stimmt und seine heimtückische Ermordung durch eigene Lehensleute noch perfider erscheinen lässt. Die friedliche Atmosphäre der Gesandtschaft nutzen Dans Clins und Aristés, um bei ihrem Herren um die Erlaubnis zur Heirat zu bitten; Alexander, der hohe Achtung vor den Damen bekundet: Certes, dist Alixandres, vostre dame est molt sage, qui si beles puceles tramet en son message, cortoises et proisies et de molt bel aage, et si semblés molt bien femes de haut parage50

gewährt dies, und ein Kapelan soll mit dem Segen der Kirche die beiden Eheversprechen besiegeln und die Brautleute in dem Glauben, den sie alle teilen, verbinden: Es vos le chapelain, qui de ce se manoie: a la loi que il tienent ensemble les aloie.51

_____________ 48 Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7566–7572: »Meine Schöne, sagt Aristé, wir haben dasselbe göttliche Recht, und ich schwöre euch getreulich bei dem Gott, an den ich glaube, dass ich ganz ergriffen bin von der Liebe zu dir. Mein Herr, sagt das junge Fräulein, mehr verlange ich nicht, ich gebe euch meine Liebe und mein Vertrauen […].« 49 Ebd., 7600–7602. 50 Ebd., 7617–7620.

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Die höfisch-christliche Transformation des heidnischen Stoffes ist vollkommen: vom Heidentum Alexanders, das Alexandre de Paris an anderer Stelle klar apostrophiert, bleibt die Szene mit Rücksicht auf ihren Funktionszusammenhang unberührt. Die Rahmenhandlung beschließt die Episode im Zusammentreffen der Amazonenkönigin mit Alexander. Auch sie wird als schön und edel gekleidet beschrieben,52 erscheint aber vor allem als Herrscherin. Dem Ruhm des Rittertums als höchstem Lebensglück verpflichtet car mieus aiment le pris de la chevalerie que nule riens qui soit en ceste mortel vie53

lässt sie als Probe ihres Könnens ihre bewaffneten Damen zu einem Schaureiten antreten, an dem sie auch selbst mit großer Geschicklichkeit teilnimmt. So wird zum Abschluss nochmals das Bild der wehrhaften Amazone evoziert: Ses puceles commande d’une part atorner et les armes a prendre et es chevaus monter. Qui veïst les puceles des armes adouber et poindre ces chevaus et guenchir et torner.54

Das Schauturnier jedoch und der kurze Ärger der Königin, ihre beiden Damen an die Barone Alexanders für immer verloren zu haben, sind nur noch Reminiszenzen eines im höfischen Ideal aufgegangenen antiken Frauentypus. Der antike Alexanderstoff wird in Dienst genommen für die kollektiven Vorstellungen höfischer Liebe, das Frauenbild ist Teil der kulturellen Identität und dient damit der Selbstvergewisserung der sozialen Gruppe des Adels, die sich in ihren Lebensidealen widergespiegelt und in ihrer Sprache gefeiert sehen möchte. Dabei markiert der Roman d’Alixandre eine Weiterentwicklung des Frauenbildes der Amazonen in den romans antiques: denn während die Camille des Roman d’Enéas, die nur einmal in Frauenkleidern und sonst in Rüstung auftritt, noch für jede Liebe unempfänglich ist, zieht die Panthesilée im Roman de Troie des Bênoit de Sainte-Maures für ihren geliebten, toten Hektor in die Schlacht, während schließlich Biautés und Florés gar nicht mehr kämpfen, sondern als Edelfräulein den ebenbürtigen Gatten in die Ehe folgen. Zudem bilden die Amazonen im Roman d’Alixandre den Schlusspunkt einer dreiteiligen Klimax von Erzählungen, die verschiedene Formen der Liebe im Rahmen wunderbarer Abenteuer zum Gegenstand haben. Diese führt von der lustorientierten Sexualität der Wassermädchen, die zu Tod und Verderben führt, über die freie, aber vergängliche Liebe der Blumenmädchen zur durch kirchliche und gesellschaftliche Normen sanktionierten in der christlichen Ehe gipfelnden höfischen Liebe, die die Partner in einem Gesetz und einem Glauben vereint. Da allein ein Ehebund auch König und _____________ 51 52 53 54

Alexandre de Paris, Roman d’Alix. III, 7640–7641. Ebd., 7646–7657. Ebd., 7609–7610. Ebd., 7692–7695.

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Königin zukäme, dieser der estoire aber widerspricht, übernehmen neu imaginierte Personen die Minnehandlung, was nicht nur der Rolle der douze pair im Roman d’Alixandre entspricht, sondern auch große Freiheit in Gestaltung und Ästhetisierung der Szene ermöglicht, die zu deren höfischer Überformung genutzt wird. Das für sein Werk intendierte Publikum benennt Alexandre de Paris explizit: Könige und Prinzen, Herren von hoher Geburt, die ein Land beherrschen, Eroberer mit Heldenmut, adelige Ritter, gute und weise Kleriker, Damen und Fräulein, die dem Minnedienst den rechten Lohn zu geben wissen, ihnen allen soll die estoire von Alexander Beispiel der Herrscherweisheit55 sein und der Verwirklichung höfischer Tugenden. Segnor, ceste raison devroient cil oïr qui sont de haut parage et ont terre a baillir. […] Princes qui terre tient a envis doit mentir, mais proëce et largesce font bienn terre tenir. […] Li gentil chevalier et li clerc sage et bon, les dames, les puceles, qui ont clere façon, qui sevent de service rendre le guerredon, cil doivent d’Alixandre escouter la chançon. […] ci doivent prendre essample li prince et li baron. […] Li rois qui son roiaume veut par droit governer et li prince e li duc qui terre ont a garder et cil qui par proëce veulent riens conquester, cil dovroient la vie d’Alixandre escouter.56

Alexandre ist bemüht, vor allem die höheren Ebenen der Adelshierarchie als sein verständiges Zielpublikum anzusprechen.57 Indem der Autor die ethischen Normen der eigenen Zeit auf das historische exemplum projiziert, generiert er in der Transformation einen neuen Alexander, der eben diese Vorbildfunktion übernehmen kann, die allein durch sein Heidentum, das Alexandre de Paris nicht verschweigt, eine Relativierung erfährt.58 Um sein Publikum zu erreichen, bedient sich Alexandre der Volkssprache, zugleich Ausdruck kollektiven Selbstbewusstseins des Laienadels gegenüber dem Latein der gebildeten Kleriker: _____________ 55 Alexander de Paris, Roman d’Alix. IV, 1638: »Molt par i ot sage home […].« 56 Ebd., 1630–1635; 1652–1654; 1668; 1675–1678. 57 Ebd., 1620–1622: »Por ce le di, segnor, se Dieus me beneïe, ne veul que ma raisons soit de tel gent oïe qui bien ne sache entendre que ele senefie.« 58 Ebd., 1679–1680: »Se il fust crestïens, onques ne fu teus ber. Rois ne fu plus hardis, ne mieus seüst parler.«

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l’estoire d’Alixandre vos veul par vers traitier en romans qu’a gent laie diove auques portifier59

und mit der chanson einer vertrauten Vortragsform, die der Erwartungshaltung der Zuhörer entspricht.60 Ihre stark performativen Züge korrespondieren auf der Inhaltsebene mit dem auf Unterhaltung des Publikums zielenden Fokus auf Schlachtbeschreibungen und exotische, wunderbare Abenteuer. Im Falle der Amazonen, die durch die Imagination des Dichters von Kriegerinnen in Edelfräulein transformiert werden, wird das Fremde dem Eigenen anverwandelt, um in der Aneignung als Projektionsfläche von Werten und Normen, die für die Selbstvergewisserung der adressierten sozialen Gruppe konstitutiv sind, dienen zu können, wobei die Vermittlung von antiken Wissensbeständen in den Hintergrund tritt. Die Ebenen der Transformation im Zuge der ästhetischen Vermittlung sind vielfältig und reichen von der Übersetzung, Kompilation und Versifikation der Referenztexte zur inventio völlig neuer Handlungsverläufe und ihrer formalen wie inhaltlichen Ausgestaltung. Auch bei Walter von Châtillon sind die Formen der Ästhetisierung bedingt durch die auf den Erwartungshorizont eines intendierten Rezipientenkreises rekurrierende Aussageabsicht des Textes. Das Ergebnis ist ein grundlegend verschiedenes. Der Performativität der chanson d’Alixandre steht die Textualität der Alexandreis gegenüber. Walter apostrophiert explizit seine Leser, die lectores huius opusculi, eine Rezipientengruppe, die sich zunächst durch ihren hohen Bildungsstand definiert.61 Als exponiertes Exemplum kann der Adressat Walters, Erzbischof Wilhelm von Reims verstanden werden, den Walter in seiner Widmung nicht nur durch seine hohe Abkunft und seine kirchlichen Würden, sondern vor allem durch seine Bildung charakterisiert und damit zugleich als intendierten Leser vorstellt: […] quo tandem regimen kathedrae Remensis adepto duriciae nomen amisit bellica tellus, quem partu effusum gremio suscepit alendum philosophia suo totumque Elycona propinans doctrinae sacram patefecit pectoris aulam, excoctumque diu studii fornace, fugata rerum nube, dedit causas penetrare latentes […].62

Eine an der antiken, lateinischen Literatur geschulte Bildung allein ermöglicht prodesse und delectare bei der Aufdeckung intertextueller Bezüge der Alexandreis in Historiographie, Philosophie und Zeitgeschichte. Denn rekurriert der _____________ 59 60 61 62

Alexander de Paris, Roman d’Alix. I, 30–31. Ebd., IV, 1655 »escouter«; 1622 »entendre«. Walter v. Châtillon, Alex., Prol. 30–40. Ebd., Alex. 1, 17–26.

Wissen und Imagination – Distanzierung und Aneignung

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Roman d’Alixandre allein auf der Stoffebene auf die Antike, bedient sich Walter mehrerer antiker Referenzebenen: für Inhalt und Form entstammen die Referenztexte der Antike: er verbindet die ästhetische Formensprache der römischen Epik eines Vergil oder Lukan mit der Historiographie des Curtius Rufus. Die Amazonen verbleiben in ihrer durch den antiken Text vermittelten Distanz und Fremdheit, die sich nicht zuletzt durch Nichtpartizipation an Wissen manifestiert. Während Alexandre de Paris das antike Referenzmaterial auf der sprachlichen wie inhaltlichen Ebene ins 12. Jahrhundert überführt und durch Imagination in ihm aufgehen lässt, wählt Walter den umgekehrten Ansatz der Transformation und überführt auch die zahlreichen tagespolitischen und gesellschaftlichen Bezüge sowie christlichen Moralvorstellungen in die Ästhetik der Antike,63 die er als literarisch vorbildhaft erkennt und mit der er sich durch sein Werk im Plan der Heilsgeschichte unauflöslich verbunden sieht.

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_____________ 63 Zur »Ritterlichkeit in antikem Gewand« siehe Glock (2000), 293 f.

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Wissen und Imagination – Distanzierung und Aneignung

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Die Ästhetisierung der Zeitgeschichte aus dem Geist des antiken Epos – Begründungen lateinischer Panegyrik im frühen und hohen Mittelalter THOMAS HAYE

Im frühen und hohen Mittelalter gab es ›die Antike‹ noch nicht. Die Antike als eine gedankliche Figur, als ein ideelles Konstrukt zur Beschreibung einer kulturell und zivilisatorisch kohärenten Epoche, die sich eindeutig auf der weltgeschichtlichen Zeitachse lokalisieren und mit spezifischen Inhalten füllen ließe: eine solche Antike hat es in der Zeit zwischen dem sechsten und dem zwölften Jahrhundert in den Köpfen der damals lebenden Menschen noch nicht gegeben.1 Selbstverständlich existierte die Idee eines »Früher«, die Idee einer »alten Zeit«, die Idee einer »fernen Vergangenheit«, doch waren diese Vorstellungen nur rudimentär ausgeprägt und recht diffus. Erst am Ende des hier betrachteten Zeitraums, d. h. im ausgehenden 12. Jahrhundert, wird die »Antike« zumindest ansatzweise mit kulturhistorischen Wertungen aufgeladen; ihre Ausbildung zu einem kohärenten Konstrukt bleibt jedoch der Renaissance des 14. Jahrhunderts vorbehalten.2 Sehr wohl existiert hingegen innerhalb der Literatur des frühen und hohen Mittelalters die personelle Opposition von antiqui und moderni, d. h. die Unterscheidung zwischen jenen Menschen, die früher gelebt haben, und solchen, die in der Jetztzeit des jeweiligen Sprechers angesiedelt sind. Und mit diesen Personen ist nicht etwa die in einer bestimmten Epoche lebende Gesamtbevölkerung gemeint, sondern gedacht wird stets an Autoren und Schriftsteller, insbesondere an Historiographen und Dichter. Eine solche Opposition eignet sich im Übrigen hervorragend zur Zeitklage und laudatio temporis acti, weshalb sie tatsächlich häufig in Satiren und in poetologisch bestimmten Pro- und Epilogen größerer Werke zu finden ist. Sie steht jedoch vielfach im Schatten einer wirkungsmächtigeren, ebenfalls personal gedachten Opposition, die zwischen nos und illi, zwi_____________ 1

2

Vgl. Curtius (1961), 30: »Antike, Mittelalter, Neuzeit sind Namen für drei Epochen der europäischen Geschichte […]. Am sinnlosesten ist der Begriff des Mittelalters – eine Prägung des italienischen Humanismus und nur aus dessen Perspektive erklärlich.« Vgl. von Moos (1991), 1–18.

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schen dem »wir« und »jenen anderen« unterscheidet. »Wir« – das sind die christlichen Autoren, und zwar keineswegs nur des Mittelalters, das ja zu dieser Zeit ebenfalls noch nicht erfunden war, sondern hierunter werden selbstverständlich auch alle christlichen Autoren des zweiten, dritten, vierten und fünften Jahrhunderts subsumiert, mithin ein erheblicher Teil der so genannten antiken Literatur. »Jene anderen« – dies sind die heidnischen Autoren, von denen das Mittelalter einige bedeutende – wie etwa Vergil, Ovid, Seneca und Statius – ebenfalls als Kryptochristen für sich reklamiert hat. Diese zweite Opposition ist somit ideologisch und theologisch, nicht etwa über Chronologie und Ereignisgeschichte definiert. Für die literarisch tätigen Intellektuellen des frühen und hohen Mittelalters, und nur deren Imaginationen sind für die moderne Literaturwissenschaft greifbar, war die Gegenwart der alten Autoren (vulgo: die »Antike«) eine nur schwer vorstellbare und daher kaum darstellbare Größe, da die Informationen über diese Zeit recht spärlich flossen. Sichtbar für das Mittelalter war hingegen, in welchen Medien und mit welchen literarischen Techniken die ferne Vergangenheit von den damals zeitgenössischen Autoren verarbeitet wurde. Man könnte pointiert sagen: Das frühe und hohe Mittelalter lernte nicht die Antike kennen, wohl aber den literarischen Umgang einer vergangenen und kulturell differenten Epoche mit der jeweils eigenen Gegenwart. Stellt man die Frage, in welchen Texten die Epoche vom 9. bis zum 12. Jahrhundert etwas über die antike Geschichte lernen konnte, so zeigt sich: Ihre primären Quellen bildeten erstens einige wenige Weltgeschichten und Darstellungen zu Teilabschnitten römischer und griechischer Geschichte in Prosa, zweitens die Exempla-Sammlung des Valerius Maximus, drittens und zwar vor allem: historische und zeitgeschichtlich bedeutsame, daher auch mit Panegyrik angereicherte lateinische Epen (insbesondere Vergil, Lucan, Claudian und die Ilias Latina).3 Diese waren als Teil der Schullektüre spätestens seit dem 11. Jahrhundert nahezu jedem Knaben, der in einer geistlichen Einrichtung ausgebildet wurde, textuell und mental präsent. Jeder dieser Knaben wurde im Rahmen des Unterrichts, welcher stets auch die Produktion eigener Gedichte beinhaltete,4 zu der (nicht weiter reflektierten) Erkenntnis geführt, dass Versifizierung, Poetisierung, Rhetorisierung und Heroisierung, kurz gesagt: literarische Ästhetisierung,5 den angemessenen Umgang mit der eigenen Historie und Zeitgeschichte darstellt. Es wäre also falsch anzunehmen, dass das Mittelalter innerhalb der epi_____________ 3 4 5

Für die karolingische Zeit stellt ferner das literarische Werk des Coripp ein weiteres Modell dar. Vgl. Stotz (1981), 1–16. Der Begriff der Ästhetik kann hier nicht nach den Kategorien des 18. Jahrhunderts definiert werden, sondern nur in Anlehnung an die vielschichtige und in sich widersprüchliche Vorstellungswelt des Mittelalters. Diese Epoche hat zweifellos kein philosophisch kohärentes System zur Erfassung des Schönen hervorgebracht, allerdings zahlreiche Ideen über das künstlerisch und speziell literarisch Hochwertige. Die zeitgenössischen Poetiken und Accessus kennen keine Kategorie des pulchrum, jedoch sehr wohl jene des delectabile. Zum Begriff des Schönen in der mittelalterlichen Poetik vgl. einführend Eco (1991), 162–186; Jauß (1977).

Ästhetisierung der Zeitgeschichte im Geiste des antiken Epos

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schen Gattung in erster Linie eine Ästhetisierung der »Antike« vorgenommen habe. Eine solche Maßnahme war nicht notwendig, da die »Antike«, soweit sie überhaupt bekannt war, bereits als voll ästhetisiertes Produkt vorlag. Die Frage lautet hingegen: Wie ging das Mittelalter mit diesem Produkt um?6 Grundsätzlich sind vier Strategien erkennbar:7 Erstens: Die pagane Geschichte kann zwar zum Gegenstand eines mittelalterlichen Epos avancieren, doch wird in ihm die Antike moralisiert und somit deästhetisiert, so etwa dadurch, dass der Autor ankündigt, endlich die Wahrheit schreiben zu wollen, und deshalb das antike Epos zur versifizierten Geschichtsschreibung umformt.8 Die heidnischen Götter werden dabei entdeifiziert und humanisiert, ja mitunter sogar zu erbärmlichen Figuren degradiert, die antiken Heroen als fehlbare und schwache Kreaturen dargestellt. Die von Homer und Vergil vorgenommene Ästhetisierung der eigenen Geschichte wird auf diese Weise im Mittelalter rückgängig gemacht, das ästhetische Produkt dekonstruiert. Stichwort: Korrektur. Zweitens eine gegenteilige Strategie: Man sucht gerade nicht die schon in antiken Epen behandelten Stoffe erneut aufzugreifen, sondern wählt eine bisher noch nicht episierte Figur der griechisch-römischen Epoche aus. Personen wie Achill und Aeneas, die bereits in der Antike eine literarische Berücksichtigung erfahren haben, sind als Objekte gleichsam blockiert, weshalb man nach einer poetischen Lücke sucht, welche die Chance eines unbelasteten und ungehinderten Zugangs bietet. Von einem solchen Motiv wird etwa Walter von Châtillon bei der literarischen Behandlung Alexanders des Großen geleitet9 oder Petrarca bei der Wahl seines Protagonisten Scipio Africanus. Stichwort: Komplementierung. Drittens: Die literarischen Vorlagen der Antike werden demonstrativ ignoriert und mit einem lauten Schweigen bedacht. So hat etwa Quilichinus von Spoleto in seiner 1236 vollendeten Historia Alexandri Magni allenfalls dem Zeitgenossen Walter von Châtillon indirekt seine Reverenz erwiesen, die Epen eines Vergil oder Lucan jedoch mit keinem Wort erwähnt.10 Stichwort: Ausblendung. Viertens (und dieses ist die häufigste Strategie, weshalb sie im Folgenden ausführlich behandelt werden soll): Mittelalterliche Epiker verweisen ausdrücklich darauf, dass antike Autoren ihre eigene Gegenwart episiert, heroisiert und panegyrisch dargestellt hätten, und sie benutzen diese Beobachtung als Rechtfertigung, um in derselben Weise zeitgenössische Ereignisse und Figuren zu traktie_____________ 6 7

Vgl. Rädle (1997), 221–234. Zur mittellateinischen Epik vgl. Schaller (1993), 9–42; Schaller (1989), 355–379; Mertens/ Müller (1989); Victorio/Payen (1988); Kirsch (1982), 265–288. 8 Vgl. Haye (2003), 203–228. 9 Vgl. Walter von Châtillon, Alexandreis, Prolog: »In hoc tamen lectores huius opusculi […] considerent arti temporis brevitatem qua scripsimus et altitudinem materiae, quam nullus veterum poetarum teste Servio ausus fuit aggredi perscribendam.« Ed. Colker (1978), 3. 10 Quilichinus von Spoleto, Historia Alexandri Magni, v. 3902: »Gesta ducis Macedum versibus ipse docens« (auf Alexandreis, I 1, anspielend); ed. Kirsch (1971); vgl. Rädle (2000), 332–354.

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ren.11 Auch hier handelt es sich also nicht um eine Ästhetisierung der Antike, sondern die Antike, welche ihre eigene Geschichte bereits selbst ästhetisiert hat, dient dem Mittelalter als legitimierende Vorlage, um etwas Vergleichbares zu tun, nämlich die poetische Verarbeitung eines zeitgenössischen Stoffes. Nicht das Wissen über die Antike wird ästhetisch vermittelt, sondern das antike Wissen um die Ästhetisierung der Gegenwart wird im Mittelalter nachgeahmt (insofern findet auch keine »Transformation der Antike«, sondern nur ein stofflicher Austausch statt). Stichwort: Methodenimitation. Wie häufig dieser Weg im frühen und hohen Mittelalter beschritten worden ist, zeigen bereits die nackten Zahlen:12 Im Rahmen eines antikisierenden Epos ist der Troja-Stoff viermal13 und die Figur Alexanders des Großen zweimal14 behandelt worden; eine fernere, jedoch mittelalterliche Sagen- bzw. Geschichtswelt wird außerdem in fünf weiteren Texten verherrlicht.15 Hiermit ist die Zahl jener primär zeitgenössisch-panegyrischen Epen zu vergleichen, in denen lebende Herrscher und regierende Dynastien glorifiziert werden: Sie beträgt etwa zwei Dutzend.16 Das breite Spektrum epischen Erzählens wurde im Mittelalter somit vielfach auf den Typus der Gegenwartspanegyrik reduziert. Hier ist es interessant zu beobachten, wie die Verfasser solcher Werke die Ästhetisierung ihrer eigenen Zeit begründen und dabei mit der epischen Tradition der Antike argumentieren. Das poetologische Fundament für den neuen Typus des so genannten christlichen Epos wird in der Spätantike durch die Dichter Juvencus, Sedulius, Alcimus Avitus und Arator gelegt.17 Das auffälligste Kennzeichen dieses Typs ist der radi_____________ 11 Zur panegyrischen Darstellung vgl. Bittner (1962); Georgi (1969). 12 Die Zuordnung einzelner Texte mag umstritten sein, in der Summe ist die Gewichtung jedoch eindeutig. Die nicht erhaltenen und nur als Titel bezeugten Epen werden hier ignoriert. 13 Anonymus: Historia Troyana; Simon Aurea Capra: Ylias; Joseph Iscanus: Ylias; Albert von Stade: Troilus. 14 Walter von Châtillon: Alexandreis; Quilichinus von Spoleto: Historia Alexandri Magni. 15 Anonymus: Waltharius; Anonymus: Karolellus; Aegidius von Paris: Karolinus; Odo von Magdeburg: Gesta ducis Ernesti; Anonymus: Gesta regum Britanniae. 16 Anonymus: Karolus Magnus et Leo Papa; Hibernicus Exul; Ermoldus Nigellus: In honorem Hludowici; Abbo von S. Germain: Bella Parisiacae urbis; Poeta Saxo; Anonymus: Gesta Berengarii imperatoris; Hrotsvith von Gandersheim: Gesta Oddonis; Anonymus: Carmen de bello Saxonico; Donizo von Canossa: Vita Mathildis; Wido von Amiens: Carmen de Hastingae proelio; Wilhelm von Apulien: Gesta Roberti Wiscardi; Anonymus: Carmen de gestis Friderici; Gunther: Ligurinus; Gottfried von Viterbo: Gesta Friderici; Petrus von Eboli: Carmen de rebus Siculis; Wilhelm von Bretagne: Philippis; Nicolaus de Braia: Gesta Ludovici VIII; Anonymus: Liber Maiolichinus; Anonymus: Carmen Campidoctoris; Stephan von Rouen: Draco Normannicus; Justinus von Lippstadt: Lippiflorium. Zu dieser panegyrischen Serie muss man als Variante auch noch das Kreuzzugsepos rechnen, in dem ebenfalls stets zeitgenössische Ereignisse behandelt werden. – Fulco: Historia gestorum vie nostri temporis Jerosolymitane; Gilo von Paris: Historia de via Hierosolymitana; Metellus von Tegernsee: Expeditio Jerosolimitana; Gunther: Solimarius; Joseph Iscanus: Antiocheis; Haymarus: Liber de expugnata Accone; Johannes de Garlandia: De triumphis ecclesie. 17 Vgl. Klopsch (1980), 1–37; Kirsch (1989); Herzog (1975).

Ästhetisierung der Zeitgeschichte im Geiste des antiken Epos

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kale Austausch des im Epos agierenden Personals, welches Horaz in seiner Ars poetica mit der allgemeinen Formel reges et duces umschrieben hat.18 In den spätantiken Bibelepen werden die heroischen Kämpfer und Götter der paganen Dichtung durch unzweideutig christliche Protagonisten ersetzt, d. h. durch Christus und seine Apostel. So komponiert der aus Südgallien oder Italien stammende Sedulius in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts ein hexametrisches Carmen paschale, in dessen Prolog es heißt: Cum sua gentiles studeant figmenta poetae Grandisonis pompare modis, […] […] Cur ego, […] […] Clara salutiferi taceam miracula Christi? (Sedulius, I, 17 f., 23, 26)19

Im Mittelpunkt der neuen, christlichen Dichtung stehen somit die in der Bibel dokumentierten Taten des Heilands (miracula Christi). Jesus und seine Apostel bilden das heroische Personal dieses Typs.20 Der Gedanke der Fokussierung auf Christus und die Jünger erfährt allerdings schon im frühen Mittelalter dadurch eine partielle Revision, dass das auf den Gottessohn konzentrierte poetische Konzept mehrfach zu einer banalen Herrscherpanegyrik verwässert wird. – Gelobt werden kann jeder weltliche Potentat, sofern er nur dem christlichen Glauben angehört. Deutlich wird die panegyrische Reduktion etwa in den so genannten Gesta Berengarii imperatoris, die zwischen 915 und 924 von einem unbekannten Italiener verfasst worden sind. In diesem Epos berichtet der Autor, wie Berengar I., König von Italien (887 bis 924) und seit 915 römischer Kaiser, seinen schärfsten Konkurrenten, den Herzog Wido von Spoleto, besiegt. Dass sich der Autor in der epischen Tradition stehen sieht, zeigt bereits der Beginn des ersten Buches:21 _____________ 18 Horaz, ars poet., vv. 73 f.: »res gestae regumque ducumque et tristia bella // quo scribi possent numero, monstravit Homerus.« 19 Ed. Huemer (1885); Übersetzung: »Wenn selbst die heidnischen Dichter sich darum bemühen, ihre Lügen in großartig klingenden Liedern vorzuführen, warum soll dann ich die strahlenden Wunder des heilsbringenden Christus verschweigen?« 20 In einem hochmittelalterlichen Accessus zum Werk des Sedulius heißt es daher: »Qualitas carminis in hoc dinoscitur, quia heroico carmine compositum [Konj. Haye] esse dicitur – heroico enim carmine gesta regum et ducum scribebantur antiquitus – quo miracula summi regis composuit.« (ed. R. B. C. Huygens [1970], 29). – Übersetzung: »Die Art der Dichtung lässt sich daran erkennen, dass diese, wie es heißt, im heroischen Versmaß komponiert worden ist. – In der alten Zeit [d. h. in der Antike] pflegte man nämlich die Taten von Königen und Fürsten im heroischen Versmaß [oder: im heroischen Lied] darzustellen. In diesem Versmaß [oder: in dieser Dichtungsart, d. h. im heroischen Epos] hat Sedulius die Wundertaten des höchsten Königs poetisch beschrieben.« 21 Vgl. Giovini (2000), 295–315.

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Thomas Haye Graecia quaesitis cecinit si regna loquelis Moribus insulsos et relligione tirannos, Tolleret ut quosdam immerito super astra beandos, Quos Lachesis nigro satius damnavit Averno; Roma suos vario vexit si figmine post haec Augustos ad tecta poli radiata perenni Vibratu, simul hos Stigio sorbente baratro: Induperatorem pigeat laudare nitentem, Christicolas (quid enim?), caelum reserantibus undis, Quodque replet domini mundum spiramine totum? Ergo Berengarium genesi factisque legendum Rite canam […] (I, vv. 1–12)22

Der Dichter stellt sich hier ausdrücklich in die antik-pagane, d. h. griechische und römische Tradition und leitet aus ihr sein eigenes panegyrisches Unterfangen ab: Wenn schon die heidnischen Völker ihre Führer in Epen verherrlicht und zu Göttern erhoben haben, dann ist das Christenvolk erst recht legitimiert, die eigenen, d. h. christlichen Herrscher in Epen zu rühmen. Syntax und Logik dieser Verse sind offenkundig entscheidend durch Sedulius geprägt. Das vom spätantiken Dichter entwickelte Konzept des christlichen Epos wird hier allerdings transformiert, um nicht zu sagen: banalisiert und intellektuell degradiert. Im Rahmen einer poetischen Translatio wird das spätantike Epos-Konzept vom Gottessohn und seinen Aposteln auf einzelne christliche Herrscher, Dynastien und Völker aus der Gegenwart der mittelalterlichen Autoren übertragen. Christliche Könige, so die sich seit dem frühen Mittelalter durchsetzende Auffassung, verdienen selbst dann eine literarische Verherrlichung, wenn sie nicht ständig gegen Heiden oder Ketzer kämpfen und sich somit nicht permanent in ihrem Christsein bewähren müssen. Die in der Spätantike durchgeführte theologisch-ideologische Metamorphose des Epos wird somit rückgängig gemacht und in eine literarische Legitimation jeglicher politischen Herrschaft verwandelt. Neben Sedulius und Arator treten wieder Claudian und Coripp als texttypologische Modelle.23 Noch deutlicher ist dieser Prozess im Werk des Wilhelm von Bretagne sichtbar (ca. 1165 bis 1226), eines Kaplans des französischen Königs Philipp II. August. Im Prolog _____________ 22 Ed. Winterfeld (1889), 354–401; Übersetzung: »Wenn Griechenland in gesuchter Sprache Königreiche und Tyrannen, die weder rechtes Verhalten noch Gottesfurcht zeigten, besungen hat, um einige von ihnen zu Unrecht als Selige unter die Sterne zu erheben, welche Lachesis doch besser zur schwarzen Hölle verurteilt hat; wenn hierauf Rom in bunten Lügengeschichten seine Kaiser zu dem in ewigem Glanz erstrahlenden Himmelsdach erhoben hat, obwohl doch die Hölle der Styx diese Kaiser eingeschlürft hat, soll dann etwa ich davon Abstand nehmen, den strahlenden Kaiser und die Christus-Verehrer zu loben, da doch die Fluten [sc. der Taufe] ihnen den Himmel eröffnen, und zu loben alles das, was die ganze Welt mit dem Atem des Herrn [sc. mit dem Heiligen Geist] erfüllt? Also will ich in angemessener Weise Berengar besingen, der aufgrund seiner Herkunft und seiner Taten lesenswert ist.« 23 Zu der seit dem 11. Jahrhundert parallel zur panegyrischen Epik entwickelten Bibelepik, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. Haye (2002), 398–409.

Ästhetisierung der Zeitgeschichte im Geiste des antiken Epos

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seines zwischen 1214 und 1224 komponierten zeitgeschichtlichen Epos, das gemäß der Gattungskonvention den Titel Philippis trägt, verkündet der Autor das folgende poetologische Programm:24 Ad laudes, Ludovice, tuas magnique Philippi, Quo genitore tibi, sibi principe Francia gaudet, Pocula Castaliis mihi Musa liquoribus offert. (Nuncupatio, vv. 1–3)25

Das primäre Ziel des Werks besteht somit in der Verherrlichung der herrschenden Dynastie (laudes). In den weiteren Versen führt Wilhelm zudem eine aufschlussreiche Serie unterschiedlicher Epostypen an: Gesta ducis Macedum celebri describere versu Si licuit, Galtere, tibi, que sola relatu Multivago docuit te vociferatio fame, […]. (Nuncupatio, vv. 9–11)26

Als erstes wird hier das antikisierende Epos des Mittelalters genannt, in dem Stoffe der griechisch-römischen Geschichte eine poetische Behandlung finden. Dieser Epos-Typ beruht nach Wilhelms Meinung aufgrund der großen zeitlichen Distanz und unzureichenden Quellenlage nur auf dem Hörensagen und ist daher dem zeitgeschichtlichen Epos hinsichtlich des Wahrheitsgehalts unterlegen.27 Des Weiteren heißt es bei Wilhelm: Si sua gentili mendacia cuique poete Grandisonante fuit licitum pompare boatu, […]. (Nuncupatio, vv. 12f.)28

Zweitens wird hier das pagane, mythisierende Epos der Antike erwähnt (Homer, Statius, Vergil). Dieser Typ ist ideologisch fragwürdig, da er mit den Lügen (mendacia) eines heidnischen Götterapparats arbeitet und letztlich nur auf Sagen beruht. Wilhelm greift hier die Kritik des Sedulius am paganen Epos unmittelbar auf.29 Sodann erwähnt er eine dritte Variante: _____________ 24 Vgl. Orth (2005), 975–986. 25 Ed. Delaborde (1885); Übersetzung: »Die Muse reicht mir Gefäße mit kastalischem Nass zu deinem Lobe, Ludwig [sc. Ludwig VIII., 1223–1226, Sohn Philipps, der Thronfolger], und zum Lobe des großen Philipp. Frankreich freut sich für dich, dass er dein Vater ist, und es freut sich für sich selbst, dass er sein Fürst ist.« 26 Übersetzung: »Wenn es dir, Walter, erlaubt war, im berühmten Vers die Taten des Makedonenfürsten darzustellen, welche dich allein das Getöse der Fama aufgrund ungenauen Hörensagens gelehrt hat […]«. 27 Deutlich spielt Wilhelm hier auf das Initium der Alexandreis des Walter von Châtillon an: »Gesta ducis Macedum« (I 1). 28 Übersetzung: »Wenn es jedem heidnischen Dichter erlaubt gewesen ist, mit hochtönendem Lärm triumphierend Lügen zu verbreiten […]«. 29 Vgl. Sedulius, I, v. 18: Grandisonis pompare modis, tragicoque boatu.

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Thomas Haye Si tibi, Petre Riga, vitium non esse putavi Ubere de legis occultos suggere sensus, Quos facis, ut levibus verbis elegia cantet, Forcia facta virum numero breviore coarctans, Que potius pede Meonio referenda fuerunt, […]. (Nuncupatio, vv. 14–18)30

Hiermit ist das allegorisierende Bibelepos gemeint. Als Beispiel führt Wilhelm die Aurora des 1209 in Reims gestorbenen Kanonikers Petrus Riga an. Dieser wird kritisiert, weil er statt des obligatorischen, durch Homer etablierten Hexameters, welcher bei Horaz für das Epos vorgeschrieben ist, einer zeitgenössischen Mode folgend Distichen verwendet hat. Die texttypologische Rückbindung des Bibelepos an das heroische Epos der heidnischen Antike erfolgt bei Wilhelm durch die Formulierung Forcia facta virum, mit der die oben erwähnte EposDefinition des Horaz aufgegriffen wird. Nach seiner Revue der verschiedenen epischen Varianten stellt Wilhelm abschließend einen vierten Epos-Typ vor: Cur ego, que novi, proprio que lumine vidi, Non ausim magni magnalia scribere regis, Qui nec Alexandro minor est virtute nec illo, Urbi Romulee totum qui subdidit orbem? (Nuncupatio, vv. 19–22)31

In poetischer Umschreibung stellt der Verfasser hier die These auf, dass König Philipp dieselbe historische Bedeutung besitze wie der (von Walter beschriebene) Makedonenfürst Alexander und der von Lucan behandelte Caesar. Aus dem komparatistisch angelegten Prolog der Philippis ergibt sich, dass Wilhelm alle drei Typen (mythisches Epos der Antike, antikisierendes Epos des Mittelalters und allegorisches Bibelepos) derselben literarischen Tradition zuordnet. Die Rechtfertigung des vierten Epostyps, jenes zeitgeschichtlich-panegyrischen Herrscherepos, wie es in der Philippis repräsentiert ist, ergibt sich aus dem kritischen Vergleich mit den drei übrigen Epos-Typen. Wenn die drei anderen Varianten erlaubt sein sollten (obwohl sie doch offenkundig mit ideologischen und poetologischen Fehlern behaftet sind), dann ist erst recht die vierte Variante erlaubt! Die Legitimation des panegyrischen Herrscherepos erfolgt somit logisch aus einer Überbietung, vielleicht sogar einer Überwindung der anderen epischen Formen. _____________ 30 Übersetzung: »Wenn es dir, Petrus Riga, wie ich meine, nicht zum Schaden gereichte, einen verborgenen Sinn aus dem Euter des Gesetzes [sc. AT und NT] zu saugen, einen Sinn, welchen du so gestaltest, dass ihn eine Elegie in leichten Worten besingt und dabei die tapferen Taten der Männer in kürzerem Verse zusammendrängt, obwohl dies doch eher im homerischen Versmaß hätte dargestellt werden müssen […]«. 31 Übersetzung: »[sc. Wenn alle diese anderen Epostypen erlaubt waren,] warum soll ich es dann nicht wagen, die großen Taten des großen Königs zu beschreiben, welche ich selbst miterlebt habe, welche ich mit eigenen Augen gesehen habe, jenes Königs, der hinsichtlich seiner Tapferkeit nicht geringer als Alexander und auch nicht geringer als jener Mann ist, welcher der Romulus-Stadt die ganze Welt unterworfen hat?«

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Zu Beginn des ersten Buches geht Wilhelm näher auf die großen Taten des Königs Philipp ein und lässt eine noch detailliertere Rechtfertigung des panegyrischen Epentyps folgen: Non indigna foret istis vel musa Maronis Theologi, cineres Troje qui vexit ad astra, Vel qui supposuit Trojam victoribus Argis Erroresque vagi digne celebravit Ulixis, Non his sufficeret fame Lucanus amator, Aut qui tam sapido Thebaida carmine scripsit, Ut queat ad plenum digno memorare relatu Tot victos hostes, tot bella, tot obsidiones, Tot bene gesta domi, tot militiae probitates. (Buch I, vv. 7–15)32

Die hier greifbare Kontrastierungsstopik operiert mit vier Vergleichfiguren der antiken Dichtung (mittelalterliche Autoren finden keine Erwähnung): Wilhelm nennt Vergil als Theologen (d. h. im wörtlichen Sinne als den über Gott Sprechenden) und Verfasser der Aeneis, Homer als Dichter der Ilias (sc. die so genannte Ilias Latina) und der Odyssee, Lucan und seine Pharsalia sowie Statius als Dichter der Thebais. Alle diese antiken Epiker, so die These Wilhelms, hätten die Darstellung der Taten Philipps als eine würdige Materie ansehen müssen, und doch wären sie einer solchen poetischen Herausforderung nicht gerecht geworden. Entscheidend ist hier somit das dignitas-Argument: Die historischen Leistungen Philipps verdienen es, in einem lateinischen Epos verherrlicht zu werden, das mit den paganen Vorbildern konkurrieren kann. Der politisch-militärischen aemulatio des französischen Königs entspricht die literarische aemulatio des Epikers Wilhelm. Man muss nicht lange über die Frage spekulieren, weshalb es die meisten mittelalterlichen Epiker vorgezogen haben, statt einer fernen Vergangenheit die eigene Gegenwart zu ästhetisieren. Die Produktion zeitgeschichtlich panegyrischer Epik stellte für viele von ihnen eine Möglichkeit dar, ein mäzenatisches Verhältnis zu einem Herrscherhaus entweder zu begründen oder zu pflegen.33 Es ist in der Regel einträglicher, einen lebenden als einen toten Fürsten zu verherrlichen (diese Erkenntnis konnte das Mittelalter bereits aus der Lektüre der Viten eines Vergil oder Horaz gewinnen). Man sollte auch nicht annehmen, dass die Bevor_____________ 32 Übersetzung: »Dieser Taten wäre nicht unwürdig die Muse des Theologen Maro, welcher die Asche Trojas zu den Sternen erhoben hat, oder die Muse jenes Mannes, der Troja den siegreichen Griechen unterworfen und die Irrfahrten des unsteten Odysseus in angemessenen Worten gefeiert hat. Diesen Taten würde selbst ein Lucan, der Liebhaber des Ruhmes, nicht gerecht werden, und auch nicht jener, der die Thebais in so geschmackvollem Liede geschrieben hat. Alle diese Dichter würden es nicht schaffen, so viele besiegte Feinde, so viele Kriege, so viele Belagerungen, so viele im Innern vollbrachte Taten, so viele Leistungen im Kriege vollständig in einem angemessenen Bericht darzustellen.« 33 Vgl. Haye (2004), 203–227.

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zugung der Gegenwartsästhetisierung gegenüber einer ebenfalls möglichen Vergangenheitsästhetisierung ein exklusives Proprium des so genannten Mittelalters gewesen sei. Als nach einer Pause von etwa einhundert Jahren in der Mitte des 14. Jahrhunderts Petrarca bei der Abfassung der Africa mit Scipio d. Ä. erstmals wieder eine Figur der antiken Geschichte auf der Basis intensiver Livius-Lektüre in einem lateinischen Epos verherrlicht, läutet er damit keineswegs das neue Zeitalter einer Reästhetisierung der Antike ein. Mit ihrem primär patriotischen Impuls bildet die Africa ohnehin eine italienische, lediglich mit Verspätung einsetzende Parallele zu den auf französische und deutsche Herrschergestalten ausgerichteten Epen des 12. und 13. Jahrhunderts. Zudem ist die auf Petrarca folgende, insgesamt monumentale Epik der italienischen Renaissance keineswegs primär durch eine solche Reästhetisierung bestimmt. Zwar findet man im 15. und 16. Jahrhundert – neben den poetischen Supplementen zu antiken Epen (Pier Candido Decembrio, Maffeo Vegio etc.) – auch nicht wenige Versifizierungen antiker Prosa-Erzählungen zur Mythologie und Geschichte, doch werden diese numerisch und quantitativ von den vielen zeitgeschichtlich-panegyrischen Epen weit übertroffen.34 Auch den Dichtern der italienischen Renaissance lag die literarische Ästhetisierung der Gegenwart – zumeist aus egoistisch-materiellen Gründen – sehr viel näher als die methodisch vergleichbare Behandlung einer fernen Antike.35 Abschließend sei noch einmal ein Blick auf die Literatur des frühen und hohen Mittelalters geworfen. Die eingangs getroffene Feststellung, dass die Epiker jener Epoche eine Ästhetisierung der Antike nicht zuletzt deshalb vermieden haben, weil viele prominente Stoffe, Themen und Figuren bereits in ästhetisierter Gestalt vorlagen, lässt sich auch auf andere Gattungen übertragen. Aus mittelalterlicher Perspektive präsentierte sich nicht nur die antike Geschichte als schon weitgehend episch verarbeitet, sondern überhaupt war aufgrund der texttypologisch geleiteten Selektion des vierten und fünften nachchristlichen Jahrhunderts ein erheblicher Teil jenes antiken Wissens, das dem zeitlich folgenden Mittelalter zur Verfügung stand, bereits auf hohem Niveau literarisch und dichterisch geformt. Diese Epoche hat die Antike im hohen Maße durch die Lektüre poetischer Kunstprodukte kennengelernt: durch Horaz, Persius, Juvenal, Vergil, Ovid, Lucan, Statius, Terenz, die Ilias Latina etc. Ein Bedarf an einer weiteren literarischen Erhöhung dieser kunstvoll vermittelten Antike ergab sich somit in der Regel gar nicht. Zwar erfolgten insbesondere innerhalb der Gattung des mittelalterlichen Lehrgedichts eine Versifizierung und somit auch eine Ästhetisierung antiker _____________ 34 Vgl. die Übersicht bei Hofmann (2001), 130–182; vgl. dort 146: »Von wesentlich größerer Bedeutung sind dagegen die unzähligen historisch-zeitgeschichtlichen Epen, die stets auch einen panegyrischen Bezug auf den jeweiligen Herrscher haben.« 35 Vgl. die beiden von Wilkins/Wilkins (1981) und Lytle/Orgel (1981) herausgegebenen Sammelbände.

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Prosa-Quellen (so etwa des Donat und des Priscian im Bereich der Grammatik),36 doch stellten solche Fälle eher die Ausnahme dar. Weitaus häufiger wurden zeitgenössische Prosa-Traktate versifiziert, es wurde somit eine Ästhetisierung jener Epoche vorgenommen, die heute als Mittelalter definiert ist. Man könnte diese Bemerkung sogar noch zuspitzen: Ein umfangreiches Wissen über die Antike erlangte das Mittelalter gerade dadurch, dass es die vielen aus jener kulturell so fernen Epoche überlieferten Gedichte mangels Alternative wie Sachliteratur behandelte, d. h. im Hinblick auf jede noch so kleine Information und für jede noch so fern liegende Fragestellung auswertete, ja geradezu auspresste und wie Fachprosa behandelte: Vergils Georgica konnte man gleichsam als Anleitung zum Ackerbau nutzen, die Komödien des Terenz dienten zum Trainieren dialogischer Techniken und Ovids Liebespoesie zur moralischen Erbauung. Trotz einer offenkundigen Wertschätzung der literarischen Qualität dieser Texte war der mittelalterlichen Lektüre funktional somit stets auch eine unausgesprochene De-Ästhetisierung inhärent.

Literatur Quellen Accessus ad auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau, Dialogus super auctores, hg. v. Robert B. C. Huygens, Leiden 1970. Gesta Berengarii imperatoris, in: Poetae Latini aevi Carolini, Bd. IV, 1, hg. v. Paul von Winterfeld, Berlin 1889 (= MGH Poetae Latini medii aevi, 4,1), 354–403. Quilichinus de Spoleto, Historia Alexandri Magni, hg. v. Wolfgang Kirsch, Skopje 1971. Sedulius, Opera omnia, hg. v. Johannes Huemer, Wien 1885 (= Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, 10). Walter von Châtillon, Alexandreis, hg. v. Marvin L. Colker: Galteri de Castellione Alexandreis, Padua 1978 (= Thesaurus mundi, 17). Wilhelm von Bretagne, Philippis, hg. v. H.-François Delaborde: Œuvres de Rigord et de Guillaume le Breton, Bd. II: Philippide de Guillaume le Breton, Paris 1885. Literatur Bittner, Franz, Studien zum Herrscherlob in der mittellateinischen Dichtung, Diss. phil. Würzburg 1962. Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3. Aufl. Bern/ München 1961. Eco, Umberto, Kunst und Schönheit im Mittelalter, Wien 1991.

_____________ 36 Vgl. Haye (1997), 77–93.

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Thomas Haye

Georgi, Annette, Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters, Berlin 1969 (= Philologische Studien und Quellen, 48). Giovini, Marco, »Il ›prologus‹ dei ›Gesta Berengarii Imperatoris‹«, in: Maia 52 (2000), 295–315. Haye, Thomas, »Christliche und pagane Dichtung bei Fulcoius von Beauvais«, in: Latin Culture in the Eleventh Century. Proceedings of the Third International Conference on Medieval Latin Studies, Cambridge, September 9–12 1998, ed. Michael W. Herren/Christopher J. McDonough/Ross G. Arthur, vol. 1, Turnhout 2002 (= Publications of the Journal of Medieval Latin, 5), 398–409. Haye, Thomas, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung, Köln/ Leiden 1997 (= Mittellateinische Studien und Texte, 22). Haye, Thomas, »Legitimationsstrategien mittellateinischer Troja-Epiker«, in: Wiener Studien 116 (2003), 203–228. Haye, Thomas, »›Nemo Mecenas, nemo modo Cesar‹. Die Idee der Literaturförderung in der lateinischen Dichtung des hohen Mittelalters«, in: Classica et Mediaevalia 55 (2004), 203–227. Herzog, Reinhart, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, Bd. 1, München 1975. Hofmann, Heinz, »Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur«, in: Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, hg. v. Jörg Rüpke, Stuttgart 2001 (= Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, 4). Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977. Kirsch, Wolfgang, Die lateinische Versepik des 4. Jahrhunderts, Berlin 1989. Kirsch, Wolfgang, »Probleme der Gattungsentwicklung am Beispiel des Epos«, in: Philologus 126 (1982), 265–288. Klopsch, Paul, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980. Lytle, Guy Fitch/Orgel, Stephen (ed.), Patronage in the Renaissance, Princeton 1981. Mertens, Volker/Müller, Ulrich (Hg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1989. Moos, Peter von, »Das 12. Jahrhundert – eine ›Renaissance‹ oder vielmehr ein ›Aufklärungszeitalter‹«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 23 (1991), 1–18. Orth, Peter, »Panegyrik durch Imitation. Die ›Philippis‹ Wilhelms des Bretonen«, in: Poesía latina medieval (siglos V–XV), hg. v. Manuel Cecilio Díaz y Díaz/José Manuel Díaz de Bustamante, Florenz 2005 (= Millennio Medievale, 55), 975–986. Rädle, Fidel, »Literarische Selbstkonstituierung oder Kulturautomatik: Das Alexanderepos des Quilichinus von Spoleto«, in: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, hg. v. Jan Cölln/Susanne Friede/Hartmut Wulfram, Göttingen 2000, 332–354. Rädle, Fidel, »Literatur gegen Literaturtheorie? Überlegungen zu Gattungsgehorsam und Gattungsverweigerung bei lateinischen Autoren des Mittelalters«, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. v. Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke, Tübingen 1997 (= ScriptOralia, 99), 221–234. Schaller, Dieter, »Das mittellateinische Epos im Gattungssystem«, in: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, hg. v. Willi Erzgräber, Sigmaringen 1989, 355–379.

Ästhetisierung der Zeitgeschichte im Geiste des antiken Epos

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Schaller, Dieter, »La poesia epica«, in: Lo spazio letterario del Medioevo, I: Il Medioevo latino, Direttori: Guglielmo Cavallo/Claudio Leonardi/Enrico Menestò, Bd. I: La produzione del testo, Teil II, Rom 1993, 9–42. Stotz, Peter, »Dichten als Schulfach – Aspekte mittelalterlicher Schuldichtung«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 16 (1981), 1–16. Victorio, Juan/Payen, Jean Charles (Hg.), L’Épopée, Turnhout 1988 (= Typologie des Sources du Moyen Age Occidental, 49). Wilkins, David G./Wilkins, Rebecca L. (ed.), The Search for a Patron in the Middle Ages and the Renaissance, Lewiston, N. Y. 1996 (= Medieval and Renaissance Studies, 12).

Barock: Rekonstruktion und Repräsentation

Transformierte Transformation. Zur fortuna der Antikenstudien Maarten van Heemskercks im 17. Jahrhundert TATJANA BARTSCH

Seit dem frühen 16. Jahrhundert reisten nichtitalienische Künstler und Gelehrte aus den Ländern nördlich der Alpen verstärkt nach Italien, speziell nach Rom, um vor Ort antike Bau- und Bildwerke im Original studieren zu können. Von dort brachten sie ihre selbst angefertigten Zeichnungen und Beschreibungen, ihre gekauften Stichsammlungen, Gipsabgüsse und antiquarischen Schriften mit.1 Antikenstudium war im Norden verstärkt ein Studium nach solchen sekundären Quellen. Romreisende werteten ihren eigenen Fundus aus; Künstler, die selbst keine solche Fahrt gemacht hatten, nutzten die Überlieferungen im Medium der Druckgraphik oder die Hinterlassenschaften anderer Kollegen. Das römische Zeichnungsbuch Maarten van Heemskercks, das im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen wird, fungierte ebenfalls nicht nur für ihn selbst als reichhaltiges Motivreservoir, sondern lieferte seit seiner Entstehung zwischen 1532 und 1536/1537 über 150 Jahre hindurch niederländischen Künstlern Vorlagen und Anregungen für eine Reihe von Werken.2 So lassen sich an der Rezeption der Heemskerckzeichnungen durch Cornelis van Haarlem, Hendrick Goltzius, Jacob Matham, Pieter Saenredam und Jan De Bisschop auf exemplarische Weise verschiedene Facetten künstlerischen Kopienwesens sowie Typen der künstlerischen Antikentransformation beleuchten, die bis hin zum formalen und _____________ 1

2

Zum Phänomen der Italienreisen insbesondere niederländischer Künstler im 16. Jahrhundert vgl. Ausstellungskatalog Rom und Brüssel (1995) und Publikationen von Tagungen, die anlässlich dieser Ausstellung stattfanden: Fiamminghi a Roma 1999 (Brüssel), Fiamminghi a Roma 1999 (Utrecht), des weiteren Plagemann (2002). Den Großteil der heute noch erhaltenen Zeichnungen dieses Zeichnungsbuches, die von einheitlichem Format von ca. 135 × 210 mm sind, verwahren die Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Sammlung der Zeichnungen und Druckgraphik, im Album Inv. 79 D 2, publiziert von Hülsen/Egger (1913–1916), Bd. 1 (1913). Dazu die Rezension von Ilja M. Veldman (1977). Wenn Zeichnungen Heemskercks im Folgenden nur mit einer Folionummer zitiert erscheinen, so waren sie Teil des Zeichnungsbuches und befinden sich heute in Inv. 79 D 2.

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inhaltlichen Verlust des antiken Referenzobjektes führen können. Die Künstler zogen dabei jeweils verschiedene Motivkomplexe aus dem Zeichnungsbuch heran. Denn Heemskercks Interessensspektrum war weit gefächert; der Fokus lag jedoch eindeutig auf den antiken Hinterlassenschaften der Ewigen Stadt.3

Die römischen Zeichnungen Studien nach figürlichen Skulpturen überwiegen. Heemskerck zeichnete die Statuen sowohl in ihren Sammlungskontexten als auch in Einzel- und Detailaufnahmen. Großfigurigen, vollplastischen Skulpturen, bekleidet und unbekleidet, gab er den Vorzug gegenüber Reliefdarstellungen, die seltener vorhanden sind. Dabei ging er selektiv vor und ließ sich weniger von ikonographischen oder rekonstruktiven Absichten leiten denn vom Interesse für menschliche Proportionen, Muskelbildung, Körperhaltung und anatomische Details. Die Identität der Skulptur wird oftmals absichtlich verunklärt, indem Heemskerck Ausschnitte wählte, die ihre wesentlichen Merkmale nicht berücksichtigen. Ungewöhnliche Blickwinkel – von schräg unten oder oben, von hinten – zeichnen seine Studien aus. Für die sieben erhaltenen Studien nach den Rossebändigern vom Monte Cavallo, allesamt Detailaufnahmen, hat er sich den kolossalen Statuengruppen stark angenähert, was bedeutet, dass er ihre Sockel bestiegen haben und zwischen den Skulpturen herumgeklettert sein muss. Bei den Rötelstudien von Fol. 43 verso nach dem Opus Fidiae-Rossebändiger und seinem Pferd galt sein besonderes Augenmerk der Po- bzw. Rückenpartie (Abb. 1).4 Die linke Hälfte des Dioskuren hat er dabei nicht willkürlich ausgespart, etwa um der Kruppe des Pferdes mehr Platz einzuräumen, sondern exakt am Verlauf des über die linke Schulter herabgezogenen Umhanges begrenzt. Das rechte Bein und die rechte Hand werden aus diesem Blickwinkel von dem am Boden stehenden Harnisch verdeckt, den Heemskerck gleichfalls ausgeblendet hat. Römische Architektur sah er ebenfalls mit den Augen des Malers; so zeichnete er die Bauten vornehmlich in ruinösem Zustand, eingebettet in und wieder in Besitz genommen von der sie umgebenden Natur. Diese Ansichten zählen zu den frühesten Romveduten überhaupt und determinieren nachdrücklich unser heutiges Bild vom Rom der Renaissance. _____________ 3

4

Zur Vita Heemskercks vgl. Mander (1604), Fol. 244 verso–247 recto; s. v. Heemskerck, Maarten van, in: The Dictionary of Art (1996), Bd. 14, 291–294 (Ilja M. Veldman); den kritischen Kommentar Hessel Miedemas zum Vitentext van Manders in Miedema (1994–1999), Bd. 4 (1997), 67–94. Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance, online publiziert unter www.census.de [25.6.2007], CensusID 61492. Die Zeichnungen können in der CensusDatenbank mit ihren Abbildungen direkt aufgerufen werden, indem man ihre ID in das »jump to CensusID«-Feld in der oberen blauen Menüleiste eingibt.

Zur fortuna der Antikenstudien Maarten van Heemskercks

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Abb. 1: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Eine Ansicht aus dem kleinen Zeichnungsbuch zeigt den Blick aus der Vorhalle von S. Giorgio in Velabro auf den so genannten ›Ianus Quadrifons‹ (Abb. 2).5 Charakteristisch für Heemskercks Standortwahl ist das Einfangen zusätzlicher Ein- und Ausblicke wie hier die Durchschau durch das Bogenmonument auf den Hercules Victor-Tempel; sowie der kompositorische Aufbau in zwei Bildhälften in extremer Weitwinkelperspektive, die durch vertikale Trenner wie Pfeiler oder Säulen optisch zusammengehalten werden. Hier schiebt sich zusätzlich der Argentarierbogen, der eigentlich in einer Flucht mit der Kirchenfassade steht, in den Ausblick durch die Vorhallenstirnseite hinein. Neben antiker Skulptur und Architektur stand Heemskerck aber auch der zeitgenössischen Kunst, insbesondere der Malerei Michelangelos und der Raffaelnachfolge, aufgeschlossen gegenüber. Mehrere Kopien sowohl nach ausgeführten Werken als auch nach vorbereitenden Studien von Hand der italienischen Kollegen sind in seinem römischen Oeuvre zu finden. Ferner beachtete er Monumente der Grabmalsskulptur der Frührenaissance wie die beiden Papstgrabmäler Pollaiuolos aus Skt. Peter und die zwei Mino da Fiesole zugeschriebenen Tornabuoni-Grabmäler aus der Cappella di S. Giovanni Battista aus S. Maria sopra Minerva.6 _____________ 5 6

Feder in Bister, 138 × 198 mm, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. 21803 recto. CensusID 10000583. Grabmal Papst Sixtus’ IV.: Fol. 71 recto. Grabmal Papst Innozenz’ VIII.: Feder in Bister, graubraun laviert, 285 × 210 mm, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kupfer-

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Abb. 2: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Heemskerck zurück in Haarlem Nach seiner Rückkehr war Heemskerck über lange Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1574 der einflussreichste Haarlemer Künstler. Er war im Vorstand der städtischen Lukasgilde, 1554 auch ihr Dekan.7 Den führenden humanistischen Gelehrten Haarlems dieser Zeit, dem Juristen, Dichter und Kupferstecher Dirck Volkertsz Coornhert und dem Arzt, Schriftsteller und Fürstenerzieher Hadrianus Junius, war er freundschaftlich verbunden. Diesen Beziehungen verdanken wir eine große Zahl religiöser und mythologischer Kupferstiche und Radierungen mit dezidierter moralischer Botschaft.8 Hier und in vielen seiner zahlreichen Gemälde hat er seine eigenen Antikenstudien wiederholt aufs Neue rezipiert und transformiert. _____________ 7 8

stichkabinett, Inv. 79 D 2a, Fol. 22 recto. Grabmäler Francesca und Francesco Tornabuonis: Fol. 40 verso; CensusID 61551. Miedema (1980), Bd. 2, 416, Nr. B 3. Ausstellungskatalog Haarlem (1986); Veldman (1987) (Geloof); Wagner-Douglas (1999), 226– 230.

Zur fortuna der Antikenstudien Maarten van Heemskercks

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Diese Weiterverarbeitung erfolgte selten 1:1, sondern in Einzelmotiven, Detailzitaten oder -adaptionen, Modifikationen und Montagen. Ein beliebiges Beispiel, die Innenflügel für den Altar der Tuchwebergilde in Sint Bavo in Haarlem von 1546, mag die für Heemskerck typische, freie Motivkombinatorik veranschaulichen (Abb. 3). Auf der Anbetung der Könige rechts übernimmt der am linken Bildrand stehende König Gewand und Standmotiv einer römischen Togastatue von Fol. 35 verso;9 Maria zeigt in Körperhaltung und Gewandbehandlung weitgehende Übereinstimmungen mit einer weiblichen Gewandstatue auf Fol. 52 recto links.10 Der Kopf des Lastenelefanten ist dem vom Elefantenbrunnen der Villa Madama nachempfunden (Fol. 40 recto);11 zwei Pferde aus dem Gefolge halten die ihrigen wie zwei der Pferde von Fol. 47 verso, eines davon seitenverkehrt.12 Auf der Anbetung der Hirten vom linken Innenflügel entstand der Widderkopf nach der Studie einer Kandelaberbasis aus der Villa Madama (Abb. 4).13 Für weitere auffällige Übereinstimmungen mit antiker Skulptur oder Architektur fehlen die vermittelnden Studien. So knien der Hirte vorn rechts auf der linken Tafel wie aber auch der die Krone haltende Knabe am unteren Bildrand der rechten Tafel beide in einer dem sterbenden Gallier aus dem hinteren Hof des Palazzo Medici-Madama nachempfundenen Weise. Heemskerck hat dort ebenfalls gezeichnet, zwei Gesamtansichten des Hofs sowie Detailstudien anderer Skulpturen haben sind überliefert.14 Die Motivübernahmen aus dem Zeichnungsbuch haben – vor allem in der Druckgraphik – oft mehr als nur eine Füllfunktion, indem sie, wie Rainald Grosshans bemerkte, »weit über die Funktion eines gelehrten Zitats der in Rom gesammelten Eindrücke hinausgehen«15 und für die Formulierung der oftmals komplexen Bildaussagen eine wesentliche Rolle spielen.16

_____________ 9

10 11 12 13

14 15 16

Seitenflügel des Tuchmacheraltars: Haarlem, Frans Hals Museum. Öl auf Holz, je 261,5 × 122,5 cm, Inv. os I–136 a–b. Grosshans (1980), 171–176, Kat. 55. Heemskerckzeichnung: CensusID 56108. CensusID 53841. CensusID 61509. CensusID 61537. Feder in Bister, 129 × 206 mm, Amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinett, Inv. 20: 60 recto; Bestandskatalog Amsterdam (1978), Bd. 1, 110, Bd. 2, 115, Kat. 313. CensusID 10000587. Folia 5 recto, 6 verso, 66 recto; Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv. 79 D 2a, Fol. 48 recto. CensusID 45965, 61519, 61505, 46003. Grosshans (1980), 39. Lothar Sickel hat dies exemplarisch mit der Analyse des Kupferstiches MARIA MATER DEI aus der Folge der acht tugendhaften Frauen von 1560 nachgewiesen: Sickel (1998); NHD (Heemskerck) (1993/1994), Bd. 1, 222, Kat. 271.

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Abb. 3: Maarten van Heemskerck, Innenflügel des Tuchmacheraltars, 1546.

Auch wenn schon in Karel van Manders Lebensbeschreibung aus dem Malerbuch von 1604 Kritik an Heemskercks malerischem Stil zu vernehmen ist, da er die beleuchteten Partien zu kontrastreich absetze, so nannte dieser ihn doch »ein besonderes Licht für die Kunst.«17 Gerade in der Auseinandersetzung mit der Antike sollten Heemskercks Bilder, vor allem aber seine römischen Zeichnungen, für mehrere Generationen Haarlemer Künstler vorbildlich werden. Aspekte formaler künstlerischer Antikentransformation in den Werken einiger ihrer Protagonisten – das Arbeiten mit motivischen Zitaten, das Kopieren vollständiger Kompositionen, _____________ 17 Mander (1604), Fol. 247 recto; deutsche Übersetzung nach Mander (2000), 204.

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Abb. 4: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Phänomene wie Adaption und Transformation in den Medien Zeichnung, Malerei und Druckgraphik – können exemplarisch an Beispielen aus den Werken Cornelis van Haarlems, Hendrick Goltzius’, Jacob Mathams, Pieter Saenredams und Jan De Bisschops aufgezeigt und in ihren historischen und funktionalen Kontext gestellt werden.

Cornelis van Haarlem Die künstlerische Auseinandersetzung mit Heemskercks Erbe setzte in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts in Haarlem ein. Nach dem Bildersturm 1566, der spanischen Belagerung 1573, den darauffolgenden vier Jahren andauernder Plünderungen, nach Feuer und Pest, dem Tod von Heemskerck und Junius – kurz: nach Ereignissen, die das schöngeistige und intellektuelle Leben der Stadt vollständig zum Erliegen gebracht hatten, bedeutete der Zuzug bzw. die Rückkehr der jungen Künstler Hendrik Goltzius und Cornelis Cornelisz 1577 und 1580 nach Haarlem quasi einen künstlerischen Neuanfang, der zugleich an alte, bessere Zeiten anknüpfen sollte.18 Beider Mentoren und Förderer waren erneut Dirck Coorn_____________ 18 Zur Geschichte Haarlems und seiner Kunst am Ausgang des 16. Jahrhunderts vgl. Hofrichter (1983); De Bavo te boek (1985), Kloek (1993).

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Abb. 5: Pieter Saenredam, Exlibris für Heemskercks Römisches Zeichnungsbuch, 1639.

hert, der zuvor im Xantener Exil der Lehrer von Goltzius war, sowie der vermögende Amsterdamer Kaufmann und bedeutende Kunstsammler Jacob Rauwaert, selbst ein ehemaliger Schüler Heemskercks.19 Speziell den Studien aus dem römischen Zeichnungsbuch soll die weitere Aufmerksamkeit gelten, da alle hier angesprochenen holländischen Künstler der nachfolgenden Generationen aus dessen Fundus schöpften und es überdies auch in den dazugehörigen schriftlichen Quellen nachweisbar ist. Nach Heemskercks Tod 1574 erbte es der genannte Jacob Rauwaert. Ein Exlibris aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, das separat überliefert ist, listet alle weiteren Besitzer bis zu diesem Zeitpunkt auf (Abb. 5). Die ersten drei Absätze lauten: Andenken. Personen, die dieses Buch, das weitergereicht wurde, aufbewahrt haben. Zunächst gehörte es

_____________ 19 Thiel (1985); McGee (1991), 101–106; Bok (1993), 147–149 und 159; Thiel (1999), 27–30.

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1. Maarten van Heemskerck selbst, der es in Ehren hielt bis zu seinem Tode im Jahr 1574, am ersten Oktobertag, nach 76 Lebensjahren. Er wurde in Haarlem in der Großen Kirche, in der er fast 22 Jahre lang Gemeindevorsteher gewesen war, beerdigt. 2. Jacob Rauwaert, ein Malschüler Heemskercks und großer Kunstliebhaber, erwarb dieses Buch nach dem Ableben seines Meisters, da die beiden sehr gute Freunde gewesen waren: denn Heemskerck wohnte bei Rauwaert in Amsterdam, nachdem er (mit Erlaubnis des Magistrats) aus der Stadt Haarlem während der Besatzung in den Jahren 1572 und 1573 geflohen war. 3. Cornelis Cornelisz, Maler aus Haarlem, hatte dieses Buch von dem oben erwähnten Rauwaert ausgeliehen, unternahm anschließend große Anstrengungen, es für sich selbst zu erwerben, malte etwas dafür (im Tausch) und hielt es stets in so hohen Ehren, dass es zu seinen Lebzeiten nie zum Verkauf angeboten wurde. Sein Leben endete am 11. Tag des November 1638 im Alter von 76 Jahren. […]20

Der 1562 geborene van Haarlem betrieb in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts gemeinsam mit Karel van Mander und Hendrick Goltzius intensives Körperund Proportionsstudium nach antiken Vorbildern im Gipsabguss und nach graphischen Vorlagen.21 Van Manders diesbezügliche Passage aus der Lebensbeschreibung van Haarlems lautet: Cornelis [kam] seiner ihn anspornenden Natur außerordentlich zu Hilfe, indem er äußerst fleißig und viel nach dem Leben zeichnete, wozu er sich die besten beweglichen und lebendigen Antiken auswählte, deren wir hier zulande eine genügende Anzahl besitzen, als dem sichersten und besten Studium, das es gibt, wenn man ein so vollkommenes Urteil hat, daß man das Schönste vom Schönen zu unterscheiden vermag. […] Denn er hat in dieser Zeit vornehmlich auf die Kunst des Zeichnens, auf die Bewegung, die Proportionen und ähnliches sehr genau Bedacht genommen.22

»Nae t’leven« zu zeichnen darf in diesem Zusammenhang weniger als Studium nach lebenden Modellen verstanden werden, sondern – im Gegensatz zum Entwerfen »nae t’gheest«, dem Festhalten selbst erdachter Einfälle – ganz generell als Zeichnen nach existierenden Vorlagen jedweder Art. Und auch die hierzulande reichlich vorhandenen lebendigen Antiken, auf die van Mander abhebt, stellten kaum originale Monumente, sondern bildliche Vorlagen wie Abgüsse oder Re-

_____________ 20 Feder in brauner Tinte auf Papier, 308 × 227 mm. Transkription im Originalwortlaut bei Kramm (1857–1864), Bd. 6 (1864), 66–67. Deutsche Übersetzung durch die Verfasserin. Das Exlibris ist heute in ein Exemplar der französischen Ausgabe von Hubert Goltz’ Vivae omnivm fere imperatorvm imagines (Les images presqve de tovs les emperevrs) von 1557 eingebunden. Es befindet sich in der Sammlung der Erben von I. Q. van Regteren Altena. Siehe Anm. 66. 21 Zur Vita Cornelis van Haarlems vgl. Mander (1604), fol. 292 recto–293 verso; McGee (1991); s. v. Cornelisz. van Haarlem, Cornelis, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 21 (1999), 238–240 (G. Seeling); Thiel (1999). 22 Mander (1604), Fol. 292 verso; deutsche Übersetzung nach Mander (2000), 368 (außer: »nach der Natur« ersetzt durch »nach dem Leben«).

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Abb. 6: Cornelis van Haarlem, Die Gefährten des Cadmus werden vom Drachen getötet, 1588.

duktionen dar, von denen van Haarlem eine große Anzahl selbst besaß.23 Eines seiner ersten Gemälde, Die Gefährten des Cadmus werden vom Drachen getötet, von 1588 aus der Londoner National Gallery24 (Abb. 6), zeigt deutlich van Haarlems Bemühen um die Beherrschung des menschlichen Körpers auch in den ungewöhnlichsten Posen; seine Absicht, anatomisch exakt das Verhalten jedes einzelnen Muskels in der spezifischen Bewegung der Glieder wiederzugeben. Als graphisches Vorbild für die Rückenansicht des Liegenden, dem der Drachen ins Gesicht beißt, hat Pieter van Thiel in seiner Monographie des Künstlers eine Zeichnung Heemskercks auf Fol. 63 recto des kleinen Büchleins vorgeschlagen, die den damals noch auf dem Boden des päpstlichen Cortile delle Statue liegenden Torso Belvedere zeigt (Abb. 7).25 _____________ 23 45 Posten mit mindestens 75 rundplastischen Objekten, aus Gips, Wachs und Stein, darunter neun Abgüsse nach Köpfen antiker Skulpturen, werden in seinem Nachlassinventar aufgeführt; vgl. Bredius (1915–1922), Bd. 7 (1921), 77–99. Zum Zeichenstudium van Manders, Goltzius’ und van Haarlems im Rahmen der so genannten Haarlemer Akademie vgl. Thiel (1999), 60–90. 24 Öl auf Leinwand, auf Holz übertragen, 148,5 × 195,5 cm, London, National Gallery, Inv. NG1893; Thiel (1999), 340–341, Kat. 120. 25 CensusID 61556.

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Abb. 7: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Das Cadmus-Bild hat Hendrick Goltzius noch im gleichen Jahr im Kupferstich seitenverkehrt reproduziert.26 Überdies hat er, ebenfalls 1588, das Motiv der Rückenansicht des am Boden liegenden Mannes erneut variiert und in seinem Farbholzschnitt von Herkules und Cacus wiederholt.27 Der Rückgriff van Haarlems auf den Torso Belvedere, auch wenn er zunächst naheliegend erscheinen mag, ist dennoch nicht auf »direktem« Wege, über die Studie des Monuments aus Heemskercks Zeichnungsbuch herzustellen. Van Haarlems Rückenfigur ist hierfür zu aufgerichtet dargestellt; vor allem aber entspricht die rechte Schulterpartie mit dem stark nach hinten gedrehten und am Ellbogen angewinkelten Arm, auf den sich der vom Drachen Gepeinigte zu stützen versucht, nicht den anatomischen Vorgaben des Torso Belvedere. Diese Pose ist eindeutig einem anderen Künstler zugehörig, dessen Werke Heemskerck wie auch Cornelis van Haarlem mindestens ebenso wie die antiken Skulpturen selbst verehrten und rezipierten: Michelangelo, der sich seinerseits am liegenden wie auch am aufgestellten Torso inspirierte. Als halb liegender, halb aufgerichteter

_____________ 26 Strauss (1980), 228, Nr. 262 (79), Commentary 296–297, Nr. 296; Ausstellungskatalog Hamburg (2002), 96–97, Kat. 26. 27 Strauss (1980), 200, Nr. 231 (72), Commentary 256–258, Nr. 231; Ausstellungskatalog Hamburg (2002), 82–83, Kat. 20.

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Abb. 8: Michelangelo, Die Aufrichtung der Ehernen Schlange, 1508–1511.

Rückenakt mit nach hinten abgestütztem Arm ist beispielsweise die Figur des Giorno vom Grabmal Giuliano de’Medicis in der Neuen Sakristei von San Lorenzo in Florenz ausgebildet, oder auch die Gestalt eines Israeliten aus dem Eckzwickelfresko der Ehernen Schlange am Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (Abb. 8).28 Genau diese Figur aber konnte Cornelis ebenfalls in Heemskercks Zeichnungsbuch finden.29 Als flüchtige Rötelstudie mit deutlicher Konzentration auf die Wiedergabe der Rückenpartie erscheint sie mit einer Studie nach dem Elefantenbrunnen aus der Villa Madama vom Monte Mario gemeinsam auf einem Blatt (Abb. 9).30 Doch nicht nur in der Gestaltung der Arm-, Kopf- und Rückenpartien kommen sich der Gefährte des Cadmus und der Israelit aus Michelangelos Fresko außerordentlich nahe, selbst das Motiv des Kopfbisses durch die Schlange wird von Cornelis wieder aufgegriffen. Dieser Zusammenhang macht verständlich, warum van Mander das Bild, das er in der Sammlung Jacob Rauwaerts sah, als _____________ 28 De Vecchi (2001), 212; Poeschke (1990/1992), Bd. 2 (1992), T. 79. 29 Fol. 19 recto (Hülsen/Egger [1913–1916]: Fol. 19 verso). 30 Die Studie des Elefantenbrunnens verwendete van Haarlem auf seinem fast 40 Jahre später entstandenen Bild der Bathseba im Bade von 1627 wieder: Öl auf Holz, 25 × 35 cm, Privatsammlung; Thiel (1999), 301, Kat. 28.

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Abb. 9: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

»serpent-bijtinghe«, also dem römischen Vorbild Michelangelos entsprechend identifizierte,31 obgleich der Reproduktionsstich des Goltzius den richtigen Titel auch des Gemäldes in der subscriptio trägt: »Der grausige Drache zerfleischt die Gefährten des Agenorsohnes Cadmus, dieser kommt als Rächer und fordert vom Feinde vom Feinde Genugtuung.«32 Karel van Mander sah noch ein zweites Gemälde van Haarlems in der Sammlung Rauwaert, das er als »val van Lucifer«33 titulierte. Es entstand im selben Jahr 1588 und hängt, am oberen Bildrand um den Erzengel Michael und die Engelschöre beschnitten, heute im Statens Museum for Kunst Kopenhagen (Abb. 10).34 Wie bereits im Cadmusbild lässt sich auch hier Cornelis’ aufmerksames Studium Heemskerckscher Vorlagen beobachten. Die in den unterschiedlichsten Posen und _____________ 31 Mander (1604), Fol. 293 recto. 32 Siehe Anm. 26. Deutsche Übersetzung nach Ausstellungskatalog Hamburg (2002), 96. Van Haarlem und Goltzius widmeten den Stich ihrem Förderer, dem ehemaligen HeemskerckSchüler und -Freund Jacob Rauwaert: »Hasce artis primitias CC [lig.] Pictor Invent.[or], / simulque HGoltz. [lig.] Sculpt.[or] D.[omino] Iacob.[o] Raeuwerdo / singulari Picturae alumno, et chalcographiae / admiratori amicitiae ergo D.[ono] D.[edit]«. 33 Mander (1604), Fol. 293 recto. 34 Der Fall Luzifers (ehemals Titanomachia), Öl auf Leinwand, 239 × 307 cm, Inv. KMS1; Thiel (1999), 325–327, Kat. 87; Ausstellungskatalog Amsterdam (1993–1994), 335, Kat. 5.

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Abb. 10: Cornelis van Haarlem, Der Fall Luzifers, 1588.

Drehungen durch die Mitte des Bildes schwebenden gefallenen Engel haben ihren Ursprung in dem Kupferstich Dirck Coornherts nach einem Entwurf Heemskercks von 1549, der die Gefahren des menschlichen Ehrgeizes zum Thema hat (Abb. 11).35 Vor eindeutig römischer Kulisse erklimmen hier Scharen von Männern verschiedenster Herkunft und Berufe einen steilen Felsen, um über ein schmales langes Brett zur gegenüberliegenden Wand zu gelangen. Unwillkürlich stürzt ein Teil von ihnen auf der Mitte des Wegs in die Tiefe, seine Krone, sein Szepter, seine Bischofsmütze verlierend, um in einer Senke auf die gekrümmten Leiber der bereits Gefallenen zu treffen, zu Füßen der Ursachen des falschen Ehrgeizes: Trunksucht, Weibeslust, Gesang und Tanz, aber auch Kriegsführung. Van Haarlem hat das Motiv der stürzenden Körper in seinem Bild virtuos weiterentwickelt und sich in den Details vielfältiger Anregungen und Vorlagen bedient. Drei der Fallenden variieren die aus dem Cadmusbild bekannte Rückenposition, wobei hier im Einzelnen nicht mehr zu unterscheiden ist, ob nun der _____________ 35 NHD (Heemskerck) (1993/1994), Bd. 2 (1994), 143, Kat. 455.

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Abb. 11: Maarten van Heemskerck (Entwerfer), Dirck Coornhert (Stecher), Die Gefahren des menschlichen Ehrgeizes, 1549.

Torso Belvedere als antikes Monument direkt oder indirekt Pate stand, beide Male jedoch vermittelt über Heemskercks Zeichnungen. Schließlich begegnen die Fallenden in der Stichserie der vier Himmelsstürmer oder geschlagenen Titanen, die Hendrick Goltzius 1588 erneut nach Vorlagen des Cornelis schuf, ein letztes Mal wieder. Das Rundbild mit dem Fall des Phaeton rekurriert diesmal ganz deutlich auf Fol. 63 recto des Zeichnungsbuches (Abb. 12, 7).36 Doch auch für die Figuren mit Bodenhaftung im Luzifer-Bild griff Cornelis van Haarlem auf Heemskerck-Zeichnungen zurück. Der kraftvoll gestreckte Körper des links im Vordergrund stehenden nackten Mannes geht auf einen antiken Torso aus der römischen Sammlung Santacroce zurück, den Heemskerck verschiedentlich zeichnete; hier bildete die Darstellung auf Fol. 60 verso die Vorlage.37

_____________ 36 Strauss (1980), 226, Nr. 260 (79), Commentary 293–294, Nr. 260. Ausstellungskatalog Hamburg (2002), 90–92, Kat. 24.3. 37 CensusID 61496.

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Abb. 12: Cornelis van Haarlem (Entwerfer), Hendrick Goltzius (Stecher), Phaeton, 1588.

Der rechts neben ihm am Boden Lagernde ist wieder von hinten zu sehen, diesmal in stärker aufrechter Haltung und mit aufgestützter rechter Handfläche. Dieses Motiv führt vom Torso weg und hin zu einer anderen Rückenstudie des Zeichnungsbuches, der des Flussgottes Nil, den Heemskerck in der Mitte des päpstlichen Statuenhofes aufgestellt sah; diese Vorlage hat van Haarlem in seitenverkehrter Ansicht benutzt.38 Ein letztes Beispiel aus einem Werk des Cornelis van Haarlem, das seine Vorgehensweise bei der Verwertung von Motiven fremder Provenienz besonders augenscheinlich zeigt, soll hier zur Sprache kommen. Es handelt sich zugleich um einen seiner prestigeträchtigsten Aufträge, die große Leinwand mit dem Bethlehemitischen Kindermord von 1591, ausgeführt für die Ausstattung des neuen Prinsenhofs (Abb. 13).39 Die Räumlichkeiten im ehemaligen Haarlemer Dominikanerkloster wurden für den Statthalter der sieben nördlichen Provinzen der Niederlande, die sich 1579 im Unabhängigkeitskrieg von der spanischen Herrschaft lossagten, eingerichtet und mit Gemälden, die dem Bildersturm von 1566 entgangen waren und nun in städtischem Besitz waren, ausgestattet. _____________ 38 Fol. 53 recto; CensusID 46055. 39 Öl auf Leinwand, 268 × 257 cm, Haarlem, Frans Hals Museum, Inv. 49. Thiel (1999), 307–309, Kat. 42.

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Abb. 13: Cornelis van Haarlem, Der Bethlehemitische Kindermord, 1591.

Unter diesen Stücken befanden sich auch Heemskercks Abschiedsgeschenk an die Lukasgilde vor seiner Abfahrt nach Italien, die Lukasmadonna von 1532, die ursprünglich den gleichnamigen Altar von Sint Bavo schmückte, sowie aus derselben Kirche die eingangs gezeigten Flügel des Tuchmacheraltars mit den beiden Anbetungsszenen auf den Innenseiten (Abb. 3).40 Das Mittelstück, wohl eine Schnitzarbeit, war verloren gegangen, so dass der noch nicht dreißigjährige Cor_____________ 40 Beide heute Haarlem, Frans Hals Museum. Lukasmadonna: Öl auf Holz, 168 × 235 cm, Inv. os I–134. Öl auf Holz, je 261,5 × 122,5 cm, Inv. os I–136 a–d. Grosshans (1980), 109–116, Kat. 18. Seitenflügel des Tuchmacheraltars: siehe Anm. 9.

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nelis den Auftrag bekam, für den Prinsenhof ein neues Mittelbild mit dem Kindermord zu gestalten. Dies war die Gelegenheit, sich konkret in einem Werk mit dem verehrten Vorbild auseinanderzusetzen. Cornelis erweiterte die Seitenflügel im oberen Bereich um größere Himmelsausblicke mit Mauer- und Buschwerk sowie schwebenden Engeln, indem er den Dreipass auf ein rechteckiges Format ergänzte, und fügte die Episode des Kindermords als neue Mittelkomposition ein. Dabei gestaltete er die nach links und rechts drängenden Menschenmassen, sowohl was die Maßstäblichkeit als auch die Bewegungsrichtung anbelangt, in fließendem Übergang zu den Gefolgen der beiden Anbetungen auf den Innenflügeln. Ins krasse Gegenteil hingegen sind die emotionalen Äußerungen der Beteiligten verkehrt: Während links und rechts feierlich freudige Erwartung und religiöse Hingabe den Menschen ins Gesicht geschrieben steht, so dominieren im Zentrum des Altars Gewalt und Schrecken. »Es ist ein vortreffliches Stück voll starker Bewegung unter den nackten Kinderschlächtern«, beschrieb Karel van Mander Cornelis’ neues Mittelteil: Bemerkenswert ist auch die Entschlossenheit, mit der die Mütter ihre Kinder verteidigen, ebenso die Charakterisierung der Karnation der verschiedenen Lebensalter, bei Männern sowohl wie bei Frauen sowie die des zarten jungen Kinderfleisches und ihre Veränderung durch den Tod an den verblutenden Leichen.41

Deutlich ist hier zu erkennen, wie der junge Cornelis sich selbstbewusst als Heemskercks Nachfolger innerhalb der Haarlemer Malerszene präsentiert, ja, wie er sogar auf die Kritik am kontrastreichen Stil mit scharf abgesetzten Höhungen des älteren Meisters zu reagieren vermochte,42 indem er seinen gutproportionierten Figuren eine klare Farbgebung mit weichen, verschatteten Konturen verlieh. Wenden wir uns schließlich dem vorn rechts stehenden Schergen zu, der mit außerordentlich brutaler Gewalt eine Mutter mit einem Tritt in den Leib zu Boden zwingt und ihr dabei den Sohn entreißt, dem er auf seinem angespannten Schenkel sogleich das Rückgrat zu brechen droht. Das Detail seines nach hinten gestreckten linken Armes einschließlich der daran ansetzenden Schulter- und Nackenpartie sowie die davor sichtbar werdende Konturlinie seiner Brust- und Bauchmuskulatur entsprechen der Kreideskizze von Fol. 22 verso aus Heemskercks Zeichnungsbuch so detailgetreu, dass an ihrer Vorbildlichkeit im Werkprozess kein Zweifel besteht (Abb. 14). Mehr noch – mit großer Wahrscheinlichkeit war es Cornelis selbst, der im Zeichnungsbuch den breiten grauen Rahmen um die zarte Skizze getuscht hat, um das Motiv für seine Zwecke noch prägnanter herauszustellen. Pieter van Thiel vermutete, den Editoren der Heemskerck-Alben Hülsen und Egger folgend, auch hier einen antiken Torso als Vorbild.43 Doch wie beim Cadmusbild hat Cornelis _____________ 41 Mander (1604), Fol. 293 recto; deutsche Übersetzung nach Mander (2000), 369. 42 Vgl. Mander (1604), Fol. 245 verso. 43 Thiel (1999), 82 und 85; Hülsen/Egger (1913–1916), Bd. 1 (1913), 13.

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Abb. 14: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

auch hier nicht auf eine Antikennachzeichnung Heemskercks zurückgegriffen, sondern auf eine Antikenverarbeitung Michelangelos, den sitzenden Ignudo links über dem Propheten Joel vom ersten Spannbogen der Sixtinischen Decke (Abb. 15).44 Heemskerck dokumentierte ihn auf Fol. 22 verso seitenverkehrt und somit seinerseits vielleicht nach vermittelnden Zeichnungen. Ob sich van Haarlem in seinen Motivassimilationen hier und im Cadmusbild bewusst für zwei Beispiele von Antikenrezeption entschieden hat, die zusätzlich die Affirmation Michelangelos besaßen, oder ob er sich der bereits zweifach erfolgten Transformation nicht gewahr war, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Die Ignudi der Sixtina wurden erstmals im Jahre 1551 vollständig von Dirck Coornhert in Kupfer gestochen.45 _____________ 44 De Vecchi (2001), 110. 45 NHD (Heemskerck) (1993/1994), Bd. 2 (1994), 229–233, Nr. 553–572.

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Abb. 15: Michelangelo, Ignudo, 1508–1511.

Obgleich sich die Vorzeichnungen dafür nicht erhalten haben und Heemskercks Name oder Monogramm nicht auf den Stichen erscheint, kann als sicher gelten, dass er für ihre Vorlagen verantwortlich war.46 Man kann davon ausgehen, dass _____________ 46 Als »Inventor« konnte er die Zeichnungen nicht signieren, da es sich um Kopien nach Werken eines anderen Künstlers handelte. Formal wie auch stilistisch stehen Coornherts Ignudi aber den von Heemskerck ein Jahr später als Entwerfer signierten und datierten, von Cornelis Bos und Coornhert gestochenen und radierten Serien der nackten Ringer und Fechter so nahe, dass an der Autorschaft Heemskercks auch der Ignudi-Serie kein Zweifel besteht. Coornhert war selbst nie in Rom; die Ignudi aber entstanden in den ersten Jahren seiner Stechertätigkeit (ab 1547), in denen er ausschließlich mit Heemskerck zusammenarbeitete. Erst nach 1554 stach und radierte er auch nach Vorlagen anderer Künstler, vgl. Veldman (1989), 116–130; Coelen (1995), 137– 138; Bonger (2004), 19.

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van Haarlem die Ignudi der von ihm verehrten Vorbilder Coornhert und Heemskerck vertraut waren und er somit auch das Vorbild von Fol. 22 verso richtig erkannte. Deshalb sei die These formuliert, dass van Manders Feststellung, Cornelis habe ein so vollkommenes Urteil gehabt, dass er das Schönste vom Schönen zu unterscheiden vermochte, hier ihre Bestätigung findet, da er offensichtlich befähigt war, aus den Hunderten von Darstellungen zielsicher zwei der heute noch vier im Zeichnungsbuch enthaltenen Studien in seine Gemälde zu implementieren, die keine Antikentransformationen von Heemskerck, sondern von Michelangelo darstellen.

Jacob Matham Hendrick Goltzius schien nach seiner eigenen Romreise 1590/1591 keinen Bedarf mehr an den älteren Zeichnungen in der Sammlung seines Freundes gehabt zu haben. Sein Stiefsohn und Schüler Jacob Matham, Kupferstecher und Verleger, geboren 1571, hatte aber seinerseits Zugang zu Heemskercks Büchlein.47 Um 1610 publizierte Matham ein gedrucktes Vorlagen- oder Musterbuch mit dem Titel Antiquae aliquot elegantiae Romanae urbis, omnibus artium studiosis utiles (Verschiedene Ausschmückungen nach der Antike zu Rom, zum Nutzen aller Künstler und Liebhaber), der auf dem Titelblatt in holländischer und französischer Sprache in erweiterter Form wiederholt wird.48 Zwei Künstler sind hier zu sehen, die eine in eine Rüstung gewandete und von Fackeln beleuchtete Personifikation der Roma zeichnen; im Hintergrund gibt ein geöffneter Vorhang den Blick auf ein Rompanorama frei (Abb. 16). Auf 36 Tafeln sind, nach Gegenständen thematisch sortiert, eine Vielzahl antiker Objekte und Kunstwerke gruppiert, die untereinander jedoch keiner Ordnung folgen. Die Auswahl reicht von antikem Schuhwerk, Helmen und Rüstungen über Kandelaber, Grabaltäre, Sphingen bis hin zu verschiedenen Friesdekorationen, Schalen, Frauenbüsten mit kunstvollen Frisuren, Karyatidenfiguren und römischen Schiffen. Peter Fuhring, der das Musterbuch 1992 erstmals vollständig publizierte, erkannte für nur sechs der Radierungen die Vorlagen, u. a. von Giulio Romano, Peter Flötner, Hans Vredemann de Vries und von Matham selbst.49 Ihm _____________ 47 Zu Matham vgl. Widerkehr (1999); Widerkehr (1991/1992); s. v. Matham, Jacob, in: The Dictionary of Art (1996), Bd. 20, 812 (Dorothy Limouze). 48 »Verscheijden Cierage na het Antijck tot Romen, dienstich alle Constenaers ende beminders. Certaine ornemens apres L’Antique a Rome servant a tous Artisanes et amateurs«, 36 Tafeln mit Radierungen, nummeriert von 2–36, 180 × 125 mm (Plattenabdruck), 242 × 164 mm (Papier). Nur drei erhaltene Exemplare lassen sich nachweisen. Von mir konsultiert wurde: Amsterdam, Rijksmuseum Research Library: nummer C/RM0086.ASC/30 * 1; standplaats 327 J 3. 49 Fuhring (1992), 59 und 64–66.

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Abb. 16: Jacob Matham, Antiquae aliquot elegantiae Romanae urbis, omnibus artium studiosis utiles, Titelblatt, ca. 1610.

ist entgangen, dass für 15 der Tafeln Zeichnungen aus dem Skizzenbuch eines anonymen Künstlers die Vorlagen bildeten, dessen Reste heute im so genannten zweiten Heemskerck-Album in Berlin eingebunden sind und Kopien nach Entwürfen Giulio Romanos, aber auch nach römischen Zeichnungen Heemskercks enthalten.50 Die Tafel 21 aus Mathams Publikation schließlich hat Motive aus _____________ 50 Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Sammlung der Zeichnungen und Druckgraphik, Inv. 79 D 2a, Folia 3–6, 8, 10, 11, 13, 15, 17, 18, 23–35, 58, 73, 81–90; publiziert von Hülsen/Egger (1913–1916), Bd. 2 (1916), VII–XIII. Zu den verschiedenen Identifizierungen des so genannten Anonymus Mantovanus A vgl. Bukovinská u. a.

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Abb. 17: Jacob Matham, Antiquae aliquot elegantiae Romanae urbis, omnibus artium studiosis utiles, Tafel 21, ca. 1610.

Heemskercks eigenem Zeichnungsbuch zur Grundlage (Abb. 17). Der Kandelaber ganz rechts ist von Fol. 43 recto übernommen (Abb. 18).51 Gemeinsam mit dem stieropfernden Amor daneben kopierte ihn Heemskerck von einem Fragment, das ursprünglich zu einem Fries von der Außenwand des Venus Genetrix-Tempels auf dem Caesarforum in Rom gehörte.52 An diese Provenienz erinnert auf Mathams Tafel nichts mehr. Der Kandelaber wird hier willkürlich mit einer Ge_____________ (1984); Raffaello Architetto (1984), Kat. Nr. 3.5.9., 441–442 (Arnold Nesselrath); Dacos (1989); Boon (1991). 51 CensusID 61528. 52 Ein erhaltenes Stück befindet sich heute in Neapel, Museo Archeologico Nazionale, Inv. 6718; Borbein (1968), 95–96, T. 21,3.

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Abb. 18: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

bälkecke unten links sowie drei Grabaltären, einem Sarkophag und zwei Hermen kombiniert. Die letztgenannten Monumente erscheinen gemeinsam auf Fol. 47 recto des Heemskerckschen Zeichnungsbuches53 (Abb. 19). Sie befanden sich in einem heute unbekannten römischen Antikengarten; erhalten hat sich lediglich das um den Baumstamm gestellte so genannte kapitolinische Zwölfgötterputeal.54 Die Zeichnungen Heemskercks wie auch die des Anonymus stellten für Mathams Radierungen direkte Vorlagen dar. Das zeigen Details der Wiedergabe wie Aufnahmewinkel, Genauigkeit in vielen Einzelheiten, wie z. B. Auslassungen bei der Vorlage, geschlossene Übernahme mehrerer Motive in derselben oder ähnlichen, allerdings seitenverkehrten Anordnung, so dass davon auszugehen ist, dass es keine Zwischenstationen oder andere Quellen mit gleichen Motiven gegeben hat. Mathams Publikation bezeugt, dass die Zeichnungsbücher von Heemskercks und des Anonymus schon im ausgehenden 16. Jahrhundert gemeinsam in Haarlem zugänglich waren, jedes wahrscheinlich noch in seiner originalen Bindung.

_____________ 53 CensusID 53284. 54 Rom, Musei Capitolini, Museo Capitolino, Galleria, Inv. S 01919 (ex Inv. Albani D 5), vgl. Golda (1997), 92–93, Kat. 34, T. 16–17; Beil. 17.3.

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Abb. 19: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Sie macht auch die Aufgabe deutlich, um deretwillen viele der Zeichnungsbücher nach der Antike von ihren Künstlern angelegt wurden – als Vorrat ungewöhnlicher und merkwürdiger Formen, als visuelle Wissensspeicher, als Anregung zur Weiterverwendung für bildende Künstler und zeichnende Gelehrte. Der heterogene Inhalt weist die Antiquae aliquot elegantiae Romanae urbis vielleicht noch stärker in die Musterbuchtradition der Künstlerwerkstätten des Mittelalters und der Renaissance zurück; ihr modernes Auftreten im Medium der schnellen Radierung reagiert jedoch auf die großen Sammelwerke antiker Statuen und Architektur, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Rom und im restlichen Europa erschienen sind – man denke etwa an die Serien von Cock 1550 und 1552–1561, Dosio/De Cavallerijs 1569, Du Pérac 1575, De Cavallerijs 1584 und 1593, Vaccario ab 1584, Thomassin ab 1608, Perrier ab 1638.55 _____________ 55 Hieronymus Cock: Praecipua Aliquot Romanae Antiquitatis Ruinarum Monimenta (1551, 2. Ausg. 1552–1561), Operum antiquorum Romanorum (1562); Giovanni Antonio Dosio, Giovanni Battista De Cavallerijs: Urbis Romae aedificorum illustriumquae supersunt reliquiae (1569); Étienne Du Pérac: I vestigi dell’antichità di Roma (1575); Giovanni Battista De Cavallerijs: Antiquarum Statuarum Urbis Romae Primus et Secundus Liber (1584), Antiquarum Statuarum Urbis Romae Tertius et Quartus Liber (1593); Lorenzo Vaccario: Antiquarum statuarum urbis Romae (1584); Philippe Thomassin: Antiquarum statuarum urbis Romae quae in publicis privatisque locis visuntur icones (1608–1615 ca.); François Perrier: Icones et segmenta nobilium signorum et statuarum quae Romae extant (1638). Zu den Stichwerken vgl. Ausstellungskatalog Wolfenbüttel (1994).

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Pieter Saenredam Nach Cornelis van Haarlems Tod 1638 kam Heemskercks Zeichnungsbuch in den Besitz seines Schwiegersohnes Pieter Jansz Begijn.56 Ein Jahr später kaufte es Pieter Jansz Saenredam, der durch seine Innenansichten reformierter Kirchen, die den Großteil seines Œuvres ausmachen, als der Erfinder des so genannten holländischen Kirchenstücks als eigener Gattung in die Kunstgeschichte eingegangen ist.57 Das zu Beginn zitierte Exlibris stammt aus seiner Feder, es besagt weiterhin: 5. Pieter Saenredam, Maler, kaufte dieses Buch von dem oben erwähnten Pieter Begijn im Jahre 1639, ließ es neu binden und ergriff Maßnahmen, um es vor weiteren Schmutzflecken und anderen Verschmutzungen zu schützen.

Wie Cornelis van Haarlem vor ihm hielt also auch Saenredam, geboren 1597, das kleine Buch in hohen Ehren. Er verwahrte es nicht nur und kümmerte sich um seine Erhaltung, sondern schöpfte ebenfalls künstlerisch aus ihm, und zwar noch bevor er es selbst besaß. Saenredam, der wie Cornelis selbst nie in Rom war, malte mindestens vier signierte und datierte Romansichten mit antiken Monumenten: 1629 eine Ansicht von S. Maria della Febbre mit dem Vatikanischen Obelisken58; 1631 das Kolosseum von Süden mit den Trajansthermen und der Torre delle Milizie im Hintergrund59; 1633 den Ausblick auf das Forum Romanum von S. Maria in Aracoeli aus60 und 1643 die Pantheonvorhalle von Westen (Abb. 20– 21).61 Ein fünftes, heute bildlich nicht überliefertes Gemälde, wurde als Ruinenlandschaft in einem Sammlungsinventar von 1658 genannt.62 Außer für das Kolos_____________ 56 Ihn nennt das Exlibris an vierter Stelle: »4. Pieter Jansz. Begijn, Silberschmied (verheiratet mit der leiblichen Tochter des zuvor genannten Meisters Cornelis, Maler) erbte dieses und verkaufte es wieder, zusammen mit vielen anderen Kunstwerken – Gemälde, Zeichnungen und Drucke – im Jahr 1639.« (Vgl. Anm. 67). Auch das von Begijn zusammengestellte Nachlassinventar Cornelis van Haarlems führt das Zeichnungsbuch unter der Nr. 212 auf: »Het treffelyck getekent boeckie van Mr. Maertyn Heemskerck nae alle de fraiste antique van Roma.« Bredius (1915– 1922), Bd. 7 (1921), 81. 57 Zu Saenredam vgl. Swillens (1935); Ausstellungskatalog Utrecht (1961); Ruurs (1987); Schwartz/Bok (1990); Ausstellungskatalog Rotterdam (1991), 98–161; s. v. Saenredam, Pieter Jansz, in: The Dictionary of Art (1996), Bd. 27, 507–511 (Walter Liedke); The paintings of Pieter Jansz Saenredam (2000); Ausstellungskatalog Utrecht (2000–2001). 58 Öl auf Holz, 37,8 × 70,5 cm. Washington, National Gallery, S. H. Kress Collection, Inv. 1961.9.34; Bestandskatalog Washington (1995), 349–353. 59 Öl auf Holz, 42,5 × 72 cm. Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie (Dauerleihgabe aus Privatbesitz); Ausstellungskatalog Köln und Rotterdam (1970), Nr. 48. 60 Öl auf Holz, 26,5 × 47,5 cm. Früher Orléans, Musée des Beaux-Arts (zerstört im Jahr 1940). 61 Öl auf Holz, 58 × 38 cm. Privatsammlung (früher: Edward Speelman Ltd. London). 62 Gemeentearchief, Utrecht, Nederland, Stadsarchief II, 3182, Inventaris van 31 Aug. 1658, Pos. 8: »Een ruyntgen van Serdam«, vgl. Calkoen (1921), 118–120; Archivdokument online publiziert unter http://piweb.getty.edu/cgi-bin/starfinder/12085/collab.txt [25.06.2007].

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Abb. 20: Pieter Saenredam, S. Maria della Febbre und der Vatikanische Obelisk, 1629.

seumsbild lassen sich für die drei erstgenannten Gemälde die zeichnerischen Vorlagen ermitteln.63 Sie entstammen alle den beiden so genannten HeemskerckAlben aus dem Berliner Kupferstichkabinett: Zwei befinden sich heute im zweiten Album, das neben dem bereits genannten anonymen Skizzenbuch noch eine Anzahl ehemals loser Zeichnungen Heemskercks und anderer Künstler enthält, und eines im kleinen Zeichnungsbuch des ersten Albums: Fol. 11 recto (Abb. 22 und 23).64 Saenredam hat demnach über das kleine Zeichnungsbuch hinaus noch mehr Zeichnungen Heemskercks und anderer Künstler gesammelt. Diese Vermutung wird durch die Überlieferung von weiteren drei Exlibris für Zeichnungsalben aus seinem Besitz bestätigt.65 _____________ 63 Konkret zu Saenredams Gemälden nach Heemskerckzeichnungen vgl.: Regteren Altena (1931); Günther (1977); Schwartz/Bok (1990), 76, 105, 185–187, 298–299. 64 CensusID 43828, der Blick auf das Forum Romanum von S. Maria in Aracoeli aus. Dem Gemälde der Pantheonvorhalle sowie demjenigen mit S. Maria della Febbre und dem Vatikanischen Obelisken liegen die Blätter 2 recto und 7 recto des zweiten Berliner Heemskerck-Albums (Inv. 79 D 2a) zugrunde, die über lange Zeit ebenfalls Heemskerck zugeschrieben, beide jedoch von einem zweiten anonymen Künstler, dem so genannten Anonymus B, gezeichnet wurden (vgl. Veldman 1987 [Anonymus B]). 65 Ebenfalls aus dem Besitz Saenredams stammt der so genannte Kasseler Sammelband (Staatliche Museen Kassel, Museum Schloss Wilhelmshöhe, Graphische Sammlung, Inv. Fol. A 45, vgl. Günther [1988], 354–373), der Architektur- und Antikennachzeichnungen vereint, die überwiegend vom Anonymus Mantovanus A gezeichnet wurden. Sein Exlibris (Feder in brauner Tinte auf Papier, 227 × 165 mm, eingeklebt im Spiegel des Vorsatzes) lautet wie folgt: »Dieses Buch mit Zeichnungen von verschiedenen Meistern, sowohl Baukunst nach der Antike als noch mehr andere Dinge, ausgeführt von Heemskerck, David Joris und auch Lucas [van Leyden], Geertje van St. Jan, Willem Tijboudt, und anderen. Von dem der größte Teil von Herrn Willem Tijboudt

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Keines von ihnen aber lässt sich den sonstigen erhaltenen Heemskerck-Zeichnungen mehr zuweisen.66

_____________ an seinen Schüler Claes Abrams in seinem Testament vermacht und von dessen Witwe Catalijntje nach einer Schätzung an Pieter Saenredam verkauft wurde, wie ausführlicher einzusehen ist in Aufzeichnungen von Heemskercks anderen Büchern.« Transkription im Originalwortlaut bei Günther (1988), 356. Deutsche Übersetzung durch die Verfasserin. Ein drittes Exlibris ist einzeln im Noord Hollands Archief Haarlem überliefert (Feder in brauner Tinte auf Papier, 203 × 168 mm): »Erinnerung. Von wem, bis jetzt, diese Raritäten (+) aufbewahrt wurden und wem diese gehörten. Zunächst 1. Willem Tijboudt, berühmter Glasmaler, und Kunstliebhaber, der diese von Heemskerck erhalten hatte, und nebst all seinen anderen Kunstwerken, wie im Testament versprochen, an seinen Schüler weitergab, dem er gewogen war. 2. Claes Abrams van Chijsberghen, auch ein Glasmaler, der diese mit großer Ehrfurcht bis zu seinem Tode bewahrte. Sie wurden danach von seiner Frau und Witwe, die es vorzog Geld zu haben, nach einer Schätzung durch zwei Meistermaler (als Vormunde) verkauft an 3. Pieter Saenredam, Maler, der diese wiederum neu einbinden ließ (da sie auseinandergefallen waren), so dass ihr gegenwärtiger Zustand nun gefälliger ist. [Nachtrag in einer unregelmäßigen Handschrift des 18. Jahrhunderts:] ((+) Hier die Große Kirche in Haarlem betreffend. Sie wurden in mehreren Bänden gebunden und enthielten einige schöne Zeichnungen.)« Transkription im Originalwortlaut bei Schwartz/ Bok (1990), 298, Kat. 245b. Deutsche Übersetzung durch die Verfasserin. Das vierte Exlibris Saenredams ist heute nicht mehr nachweisbar. Es gehörte zu einem Zeichnungsalbum aus dem Besitz des holländischen Historikers und Kunstkenners Adriaan van der Willigen jun. (1810–1876), das 1874 aufgelöst und verkauft wurde und seitdem verschollen ist. Nach Willigens eigener Angabe befanden sich in diesem Album auch Zeichnungen Heemskercks, was aus dem Wortlaut des Exlibris von Saenredam jedoch nicht hervorgeht: »Memorije. Von wem diese Zeichnungen alle verwahrt wurden. Zunächst von dem Herrn 1. Jacob Jansz. Guldewaghen, Bürgermeister der Stadt Haarlem, in seiner Jugend auch Maler und unermüdlicher Kunstliebhaber, bis nach dessen Ableben sein Sohn 2. Jan Jacobsz. Guldewaghen, außerordentlicher Landschaftsmaler, sie in seinem Besitz hatte, bis zu seinem Tode, in dessen Folge sie von seinen Erben verkauft wurden an 3. Pieter Saenredam, Maler, am 4. Februar im Jahre 1641, der dieselben in Ordnung und Bequemlichkeit so in dieses Buch zusammenbrachte, wie man es hier sieht.« Transkription im Originalwortlaut bei Van der Willigen 1866, 115. Deutsche Übersetzung durch die Verfasserin. 66 In der bisherigen Forschungsliteratur wurde die Zugehörigkeit des Exlibris aus der Slg. van Regteren Altena (siehe Anm. 20) zum kleinen Zeichnungsband Heemskercks übersehen (Six [1910]; Regteren Altena [1931]; Swillens [1935], 26; Ausstellungskatalog Utrecht [1961], 294, Kat. 245; Günther [1977]) bzw. negiert (Thiel [1999]). Stets ging man davon aus, dass das Exlibris von Saenredam für die Kaiserbildnisse von Hubert Goltz geschrieben worden war. Einzig Schwartz und Bok stellten die Vermutung auf, das Exlibris könnte erst nachträglich in dieses Buch eingeklebt worden sein, ohne diese These jedoch weiter zu verfolgen (Schwartz/Bok [1990], 185). Vier Indizien sprechen jedoch dafür, dass dieses Exlibris für Heemskercks römisches Zeichnungsbuch bestimmt war: 1. Die Koinzidenz der schriftlichen Quellen: Saenredam kaufte das »Buch des Exlibris« 1639 aus dem Nachlass von Cornelis van Haarlem, in dessen Inventar Heemskercks Zeichnungsbuch explizit aufgeführt ist (siehe Anm. 23);

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Abb. 21: Pieter Saenredam, Ausblick auf das Forum Romanum, 1633.

Bis auf wenige Ausnahmen übernahm Saenredam die Vorlagen detailgetreu. Auf dem Ausblick auf das Forum Romanum verbarg er am linken Bildrand die südliche Vorhalle von S. Maria in Aracoeli durch Baum- und Buschwerk. Das Pantheonbild gestaltete er als Hochformat und glich das Bodenniveau von Piazza und Tempelvorhalle an, indem er die gegen den Platz zwischen die Säulen gesetzte Mauer mit der herabführenden Treppe wegließ und den Lichteinfall veränderte.

_____________ 2. Die Bestätigung durch die bildlichen Quellen: Wie seine Gemälde zeigen, hatte Saenredam tatsächlich Zugang zu Zeichnungen Heemskercks bzw. aus dessen Besitz, die er, wie die anderen Exlibris bezeugen, auch nach und nach aufkaufte; 3. Die Übereinstimmungen mit den anderen drei Exlibris, die sich, auch wenn von »boeck« die Rede ist, eindeutig auf Zeichnungsalben beziehen, die Saenredam überdies nicht nur erwarb, sondern auch neu ordnete und binden ließ. Wenn er hier nicht explizit von Zeichnungen Heemskercks spricht, dann deshalb, weil er es hier mit einem homogenen Bestand von einer Hand zu tun hatte, dessen Autor er dennoch implizit nennt, indem er betont, dass es erst Heemskerck selbst gehört hat, der es bis zu seinem Tod in Ehren hielt; und schließlich 4. Der Umstand, dass Saenredam gar keine französische Ausgabe des Buches von Hubert Goltz besessen hatte, sondern eine deutsche (»Lebendige Bilder gar nach aller Keysern«), wie aus dem Inventar von Saenredams Bibliothek, das anlässlich ihrer Versteigerung am 20. April 1667 gedruckt wurde, eindeutig hervorgeht (Catalogus [1667], [5], Nr. 52, zu Saenredams nicht vorhandenen Fremdsprachenkenntnissen vgl. Selm [1988], 17–18) und durch die Beschreibung dieses deutschen Exemplars durch den Haarlemer Buchhändler Isaak van der Vinne (1665–1740), der es 1723 im Haus von Saenredams Erben begutachtete, nachträglich bestätigt wird (Kramm [1857–1864], Bd. 6 [1864], 66–68). Eine ausführliche Rekonstruktion der Provenienzen von Heemskercks römischem Zeichnungsbuch nehme ich in meiner Dissertation vor.

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Abb. 22: So genannter Anonymus B: S. Maria della Febbre und der Vatikanische Obelisk, ca. 1538.

Abb. 23: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

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Für die Ansicht von S. Maria della Febbre mit dem Vatikanischen Obelisken vereinfachte er das Konglomerat von Anbauten an der Südseite Alt-Skt. Peters; so vernachlässigte er die Mehrstufigkeit der Kuppel des spätantiken Mausoleums ebenso wie die flache Kalotte der Grabkapelle Sixtus IV., die auf der Zeichnung über der Kapellenwand hervorschaut. Anstelle der kleinen Häuser links führt ein breiter Fahrweg am Obelisk vorbei, der sich in einen Landschaftsausschnitt öffnet. Damit kommen wir zu seinen eigenen Zutaten, die im Wesentlichen aus Staffagefiguren in der Mode des 17. Jahrhunderts bestehen, die den Vordergrund der Bilder bevölkern. Zweimal ziehen zeitgenössische, d.h. barocke Kutschen durchs Bild; vor der Vatikanischen Kulisse mit einem Kardinal im Fond, vor dem Kolosseum findet ein Überfall einer bewaffneten Bande auf einen eleganten Herrn und sein Gefolge statt. Insbesondere das Washingtoner Gemälde birgt somit einen Anachronismus: Die Rotunde stand 1629 zwar noch, doch der Vatikanische Obelisk war schon 1586 auf den Petersplatz versetzt worden und der Neubau von Skt. Peter seit drei Jahren vollendet und geweiht. Saenredams Bild hingegen bezeugt den Fortschritt der Bautätigkeiten und die verbliebenen Nebengebäude und Anbauten der frühchristlichen Basilika zu einem Zeitpunkt vor der Wiederaufnahme der Arbeiten unter Papst Paul III. im Jahre 1538. Die Rombilder stehen isoliert im Schaffen Saenredams, weshalb die Umstände ihrer Entstehung die Forschung mehrfach beschäftigt haben. Gary Schwartz und Jan Bok lenkten den Blick auf das persönliche und institutionelle Umfeld Saenredams und konnten veranschaulichen, dass der Maler persönlich in Reformbewegungen der von katholischen Künstlern dominierten Haarlemer Lukasgilde involviert war.67 Diese waren deutlich von restaurativen Tendenzen zur Wiederherstellung bewährter Strukturen geprägt, die als Reaktion auf zunehmende Verlotterung der Sitten in der Gilde mit Auswüchsen wie Lotteriespiel und Tombolaverkauf von Bildern begannen und in dem Entwurf einer neuen Gildencharta gipfelten, die dem Haarlemer Bürgermeister 1632 von Dekan, Findern und ehrwürdigsten Gildenmitgliedern vorgelegt wurde.68 Zu den ersten Schritten gehörte die Einführung des neuen Amtes des Sekretärs, das Saenredam von 1633 bis 1637 ausübte; 1642–1643 war er selbst Dekan der Gilde.69 Die Lukasgilde war ursprünglich mehr als nur eine Berufsvereinigung, da sie auch religiöse Funktionen besaß, die mit der calvinistischen Reformation gekappt wurden. Ihr Altar, den einst die berühmte Lukasmadonna Heemskercks schmückte und der Reliquien des Heiligen beherbergte, verfügte seit 1518 über einen Ablass von 100 Tagen Fegefeuer für ein vor ihm gebetetes Vaterunser oder Avemaria.70 Diesen Ablass gewährte damals der Titelkardinal von S. Maria in Aracoeli, _____________ 67 Schwartz/Bok (1990), 101–104. 68 Unter den Unterzeichnern befand sich auch der siebzigjährige Cornelis van Haarlem. Vgl. Miedema (1980), Bd. 1, 91–135, Nr. A 42; 138–139, Nr. A 46. 69 Miedema (1980), Bd. 2, 579–582, Nr. B 11; 1057–1059. 70 Vgl. Miedema (1980), Bd. 1, 36–37, Nr. A 5.

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Cristoforo Numai da Forlì. 1627 hatte die Gilde die Reliquien des Lukasaltars nach Brügge weggegeben und 1633 von dort zurückgeholt.71 Aus diesem Anlass wurde die alte Zunftlade instand gesetzt und neu bestückt.72 Das von Saenredam geschriebene neue Inventar der Zunftlade verzeichnet neben den wieder gewonnenen Altarreliquien u. a. auch die Ablassbriefe des Aracoelikardinals und eine neu angefertigte Abschrift der Stiftungsinschrift der inzwischen nicht mehr als Altarbild dienenden Lukasmadonna.73 Außer diesen Dokumenten lag ein Ausschnitt des Grundrisses von Sint Bavo in der Lade, auf dem der ehemalige Standort des Lukasaltars am nordwestlichen Vierungspfeiler sowie Heemskercks Grab in der an das nördliche Querhaus angrenzenden Christuskapelle sorgfältig vermerkt waren.74 Die Erinnerung an ihr seit 60 Jahren verstorbenes Mitglied wurde demnach in der Haarlemer Malergilde beständig wach gehalten. Im Jahr der Reliquienrückführung 1633 und außerdem ziemlich genau 100 Jahre nach Heemskercks Abreise nach Rom malte Saenredam den Ausblick von S. Maria in Aracoeli als eine doppelte Hommage an die einstige Bedeutung des Lukasaltars mit der Ablasskonzession des Aracoelikardinals und an eines ihrer prominentesten Mitglieder des 16. Jahrhunderts, dessen Name eng mit dem Altar verbunden war. Darum ist es mehr als wahrscheinlich, dass Saenredams Aracoelibild direkt von der Lukasgilde oder einem ihrer führenden Köpfe in Auftrag gegeben wurde, wie auch die anderen Rombilder wohl für die Gilde oder den kleinen Kreis der Haarlemer Katholiken entstanden sind. 1637 fand überdies der schon länger geplante Umzug der Gilde in einen repräsentativen Raum in den Prinsenhof statt, in dessen Ausstattung und Ausgestaltung Saenredam involviert war.75 Das neue Geschäftszimmer der Lukasgilde wäre ein idealer Platz für die neuen alten Rombilder von Saenredam und Heemskerck gewesen.76 _____________ 71 Miedema (1980), Bd. 1, 146–148, Nr. A 59–A 60; 203–206, Nr. A 102. 72 Miedema (1980), Bd. 1, 179–185, Nr. A 81. 73 Als außerhalb der Lade befindliches Gildeninventar (»goederen en meubelen geleegen ende bewaardt buyten de kiste«, Miedema [1980], Bd. 1, 184) wird auch die Lukasmadonna selbst aufgeführt, die seit 1581 im Prinsenhof hing (siehe Anm. 40). 74 Miedema (1980), Bd. 1, 186–189, Nr. A 82. Die nebenstehenden Erläuterungen verfasste der Gildendekan Salomon de Bray; die Beschriftungen in der Grundrisszeichnung tragen die Handschrift Pieter Saenredams. Vgl. auch Taverne (1972/1973). 75 Miedema (1980), Bd. 1, 196, Nr. A 89; Bd. 2, 434–439, Nr. B 9. Die Gilde folgte quasi ihrem alten Altarbild in den Prinsenhof nach. 76 Katholische Reminiszenzen sind weiterhin auch in Saenredams ureigenem Metier, den Kirchenstücken, mehrfach zu beobachten. Es gibt eine Innenansicht von Sint Bavo mit einem Bischofsgrab, das nie dort stand (1630, Öl auf Holz, 41 × 37,5 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. R.F. 1983–100; Schwartz/Bok [1990], Kat. 49, Abb. 72), eine weitere, in der eine katholische Taufe stattfindet (1633, Öl auf Holz, 42,8 × 33,6 cm, Glasgow Art Gallery and Museum; Inv. 383; Schwartz/Bok [1990], Kat. 63, Abb. 77), eine dritte der S. Laurenskerk Alkmaar mit einem betenden Gläubigen vor einem fiktiven katholischen Altar, der zu Saenredams Zeiten dort schon lange nicht mehr vorhanden war (1635, Öl auf Holz, 45 × 36 cm, Utrecht, Rijksmuseum Het

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Abb. 24: Pieter Saenredam, Ansicht des Lateransplatzes, 2. Viertel des 17. Jahrhunderts.

Unabhängig vom Bildinhalt wusste Saenredam aber auch den präzisen, klaren und gleichzeitig harmonischen und ästhetisch ansprechenden Zeichenstil Heemskercks wie auch sein Verfahren, Architektur in ihrem räumlichen Kontext in Szene zu setzen, offenbar so zu schätzen, dass er, nachdem er die Zeichnungen im selben Medium genau kopierte und sich auf diese Weise sowohl mit Heemskercks Stil als auch seinen Kompositionsprinzipien vertraut gemacht hatte, seine eigenen Kircheninterieurs in frappierend ähnlichen räumlichen Dispositionen ins Bild setzte. Das Museo Horne in Florenz besitzt eine Vedute des Lateransplatzes,77 die exakt nach der doppelseitigen Ansicht Heemskercks kopiert ist, die heute in zwei Hälften getrennt auf den Folia 71 verso und 12 recto eingebunden ist (Abb. 24).78 Sie wird bislang einem anonymen Kopisten des 17. Jahrhunderts zugeschrieben. Maße, Proportionen und nahezu alle Details stimmen überein. Nur der Kopf des Pferdes ist etwas kleiner, und die Lavierungen sind nicht in demselben zarten Braunton des Bisters, sondern mit Rußtinte in Dunkelgrau und mit einem breiteren Pinsel ausgeführt. Technisch und stilistisch kommt der Kopie in Florenz eine zweite, in Privatbesitz befindliche, sehr nahe: hier war Fol. 8 recto, eine Aufnahme aus der Baustelle von Skt. Peter, vorbildlich (Abb. 25).79 Sie zeigt einen Blick aus der Südnische des südwestlichen Kuppelpfeilers in die Nische im gegenüberliegenden Konterpfeiler; links dahinter ist das aufgehende Mauerwerk des südlichen Querarmes des Neubaues zu erkennen. Die Zeichnung weist die gleiche Kombination _____________ Catharijneconvent; Schwartz/Bok [1990], Kat. 4, Abb. 114). Eventuell nutzte er auch hier die Zeichnungen Heemskercks von Sint Bavo aus seiner Sammlung, von denen das dritte Exlibris (siehe Anm. 65) berichtet. Dezidiert prostestantische Interieurs, wie das überall neu installierte feste Kirchengestühl, sind auf Saenredams Gemälden dagegen meist nicht vorhanden. 77 Feder in Bister, grau aquarelliert, 136 × 412 mm, Florenz, Museo della Fondazione Horne, Inv. 5699 recto; Ausstellungskatalog Rom (1988), 238, Kat. 85; Ausstellungskatalog Paris (2000– 2001), 194, Kat. 42; CensusID 66582. 78 CensusID 46620. 79 Feder in Bister, grau aquarelliert, 142 × 215 mm; Raffaello architetto (1984), 304, Nr. 2.15.45 b.

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Abb. 25: Pieter Saenredam, Ansicht der Baustelle von Skt. Peter, 2. Viertel des 17. Jahrhunderts.

von Federzeichnung in brauner Tinte, wahrscheinlich Bister, mit Lavierungen in nerofumo auf wie das Blatt in Florenz. Die Lavierungen treten an die Stelle der feinen Schraffuren auf Heemskercks Vorlage. Das mittig im Vordergrund sichtbare Buschwerk, das Heemskerck nur andeutete, ist auf der Kopie ausgeführt, ebenso dasjenige auf dem Mauerrand. Vergleicht man das Florentiner und das römische Blatt mit den Vorzeichnungen für Saenredams Kirchenbilder, so sind ihre zeichentechnischen Merkmale dort ebenso präsent. Als Beispiel sei auf ein Blatt von 1635 mit einem Blick durch das Hauptschiff Sint Bavos vom Chor aus nach Westen verwiesen (Abb. 26).80 Auch Eigenschaften des persönlichen Zeichenstils Saenredams lassen sich auf den beiden Kopien nach Heemskerck erkennen: neben der erwähnten Eigenart, verschattete Bereiche nicht schraffiert, sondern mit grauen Lavierungen zu gestalten, seien noch die von ihm freihändig gezogenen Linien genannt, die stets leicht verzittert daherkommen, ohne dabei etwas von ihrer Präzision einzubüßen. Die Zuschreibung der beiden bislang anonymen Kopien in Florenz und aus Privatbesitz an Saenredam erscheint daher plausibel. _____________ 80 Feder in Braun, grau aquarelliert, 490 × 390 mm, New York, Ian Woodner Family Collection Inc.; Schwartz/Bok (1990), Kat. 61, Abb. 126.

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Abb. 26: Pieter Saenredam, Innenansicht von Sint Bavo in Haarlem, 1635.

Saenredam hatte Heemskercks Aneignung der römischen Architektur so verinnerlicht, dass er ihre Darstellungsprinzipien auch in seinen eigenen Bildern, die stets auf den ersten Blick Zufälligkeit in der Ausschnittwahl suggerieren, auf den zweiten oder dritten jedoch das genaue Gegenteil offenbaren, anwandte. Hans Joachim Kunst hat das Motiv der Säule als zentrales Element in Saenredams Kirchenstücken beschrieben und es – vor allem in der Zusammenschau mit den oft an ihr haftenden Totenschilden – als klassisches Motiv der Gedenksäule interpretiert.81 Das Prinzip der vertikalen Spaltung des Bildraums in zwei sich perspektivisch voneinander lösende Hälften durch ein im Vordergrund eingerücktes frontales Bauteil, meist eben eine Säule oder ein Pfeiler, hat Saenredam ebenfalls aus _____________ 81 Kunst (1986), 128–130.

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Abb. 27: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Heemskercks Romansichten entlehnt. Als Beispiele sei hier noch einmal auf die Ansicht aus der Vorhalle von S. Giorgio in Velabro verwiesen (Abb. 2), ferner auf Fol. 56 verso des zweiten Albums mit dem Blick aus dem Konstantinsbogen heraus, das das Kolosseum links und das Septizonium rechts in extremer Weitwinkelperspektive mit einem Bildausschnitt von ca. 180° umreißt.82 Eine Zeichnung Heemskercks, die atmosphärische Hofansicht der Casa Maffei (erneut wie im Fisheye-Modus aufgenommen aus der Tordurchfahrt unter dem Gewölbe der Eingangsloggia, Abb. 28),83 soll einem Gemälde Saenredams, dem Durchblick durch das Mittelschiff der Marienkirche zu Utrecht (Abb. 28), aufgenommen aus dem südlichen Seitenschiff,84 schließlich direkt gegenüber gestellt werden. Hier wie dort haben wir es mit einem Blick durch zwei gestauchte Rundbogen zu tun, die auf einer leicht außermittig links stehenden Säule lasten. Auf beiden Bildern sind die Bögen am oberen Rand in etwa der gleichen Höhe beschnitten. Selbst der sehr weite Bildwinkel auf Heemskercks Zeichnung, der dazu _____________ 82 Siehe Anm. 5. – Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv. 79 D 2a, Fol. 56 verso. CensusID 43844. 83 Fol. 3 verso. CensusID 54212. 84 1638, Öl auf Holz, 69, 7 × 105 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Inv. 424; Schwartz/Bok (1990), Kat. 160, Abb. 145.

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Abb. 28: Pieter Saenredam, Innenansicht der Marienkirche in Utrecht, 1638.

führt, dass beide Wandkonsolen der Loggienbögen mit aufs Bild kommen und die Längswände derart überzogen zusammenfluchten, dass der Hof den Anschein erweckt, über trapezförmigem Grundriss erbaut zu sein, findet auf Saenredams Bild Parallelen. Die kurvilineare Perspektive des umherschweifenden Blickes ist auf dem Gemälde im Vergleich zu seiner vor Ort entstandenen Vorzeichnung85 zwar bereits korrigiert, aber durch den vor dem rechten Pfeiler schräg zum Betrachter stehenden Pilaster dennoch angedeutet.86

Jan De Bisschop Nach Saenredams Tod sind seine Heemskerckzeichnungen im Jahre 1667 versteigert worden. Vier Jahre später wirkten sie ein letztes Mal im Werk eines holländischen Künstlers des 17. Jahrhundert nach. Jan De Bisschop, geboren 1628, Jurist, talentierter Amateurzeichner und Radierer, veröffentlichte 1668/1669 die zweibändigen Signorum veterum icones sowie 1671 die Paradigmata graphices variorum artificum: voorbeelden der tekenkonst van verscheyde meesters, seine beiden _____________ 85 Feder in Braun, weißer und schwarzer Stift, 303 × 403 mm, Het Utrechts Archief, Inv. 28607; Schwartz/Bok (1990), Kat. 161, Abb. 143. 86 Vgl. Elkins (1988), 264–266.

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Hauptwerke.87 Die Signorum veterum icones enthalten insgesamt 100 Tafeln mit antiken Skulpturen. Die bekanntesten davon, 19 Stück, sind in mehreren Ansichten abgebildet. Das Gliederungsschema folgt nicht inhaltlichen, ikonographischen, sondern formalen, am äußeren Erscheinungsbild der Skulpturen orientierten Aspekten: Auf männliche folgen weibliche Statuen; auf Aktdarstellungen Gewandfiguren. Die Paradigmata Graphices waren ebenfalls auf 100 Tafeln in vier Teilen angelegt, die aber durch den frühen Tod De Bisschops 1671 nicht mehr in der geplanten Form erscheinen konnten. Die erste Ausgabe bestand zunächst aus 25 Tafeln, die in einer zweiten posthum erschienenen um 32 Tafeln erweitert wurde – sie zeigen Reproduktionen vorrangig von italienischen Meisterzeichnungen sowie von Zeichnungen nach italienischen Tafelbildern, Fresken und Skulpturen, jeweils mit Angabe des Künstlers. Eine ausführliche Vorrede, dem bedeutenden Amsterdamer Sammler Jan Six gewidmet, der auch der Besitzer der meisten von De Bisschop benutzten Handzeichnungen war, erklärt den didaktischen Charakter der Paradigmata: Sie sollten Dilettanten und Künstler zu decorum, iudicium und selectio erziehen. Den schlechten Geschmack seiner Landsleute beklagend, die »alles, was abstoßend und absonderlich sei, für darstellenswert hielten«88, stellte De Bisschop die italienische Kunst als legitimierte Nachfolgerin der Antike und Vorbild hin, die »die größte Vollkommenheit in der Kunst erreicht hatte und für den Lehrling das allerbeste Vorbild sei«.89 Gegliedert werden sollten die Paradigmata in Radierungen nach menschlichen Körpern im Ganzen und in Details, nach Gesten und Haltungsmotiven sowie Gruppen vollendeter Kompositionen; somit schlossen sie methodisch an die Signorum veterum icones an. In der erweiterten posthumen Ausgabe erschienen auch zwei Tafeln mit der Beischrift Heemskerck ex marmore antiquo. Heemskerck ist einer von nur vier Holländern, die in die Paradigmata aufgenommen wurden; alle vier sind mit Zeichnungen nach antiker oder italienischer Skulptur vertreten, so dass der Italienbezug auch hier vorhanden ist.90 Die Tafel 37 zeigt ausschließlich vollständig erhaltene oder ergänzte Statuen, darunter den Florentiner Orpheus von Baccio Bandinelli und einige Stücke, die heute in der Villa Borghese ausgestellt sind (Abb. 29).

_____________ 87 Zu De Bisschop vgl. Gelder/Jost (1985); Ausstellungskatalog Amsterdam (1992); Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 11 (1995), 227–229 (G. Valerius). 88 »[...] en dat meer schilderachtich sii en voor de konst verkieselijck een mismaeckt, out, verrimpelt mensch, als een welgemaeckt, fris en jeugdigh [...]«: de Bisschop (1671), o. S. (Widmung an Jan Six); deutsche Übersetzung durch die Verfasserin. 89 »[...] van de grootste voolmaktheyt in de konst en voor de leerlingen het allerbeste voorbelt«: Bisschop (1671), o. S. (Widmung an Jan Six); deutsche Übersetzung durch die Verfasserin. 90 Im Einzelnen waren das Zeichnungen von Willem Doudijns, Jacob Matham, Maerten van Heemskerck und Cornelis Poelenburgh, vgl. Gelder/Jost (1985), 61.

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Abb. 29: Jan de Bisschop, Paradigmata graphices variorum artificium, Tafel 37, 1671.

Vorbildliche Zeichnungen Heemskercks für diese Darstellungen sind nicht bekannt. Da keine der antiken Skulpturen aber bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisbar ist und es für einen Aufenthalt Heemskercks in Florenz keinerlei Anhaltspunkte gibt, muss die Richtigkeit der Beischrift in Zwei-

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Abb. 30: Jan de Bisschop, Paradigmata graphices variorum artificium, Tafel 36, 1671.

fel gezogen werden. Gleiches gilt für die drei in der oberen Reihe von Tafel 36 ebenso vollständig dargestellten weiblichen Figuren (Abb. 30). Die im unteren Register gezeigten Torsi weiblicher Gewandstatuen hingegen sind nach zwei

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Abb. 31: Maarten van Heemskerck, Blatt aus dem Römischen Zeichnungsbuch, 1532–1536/1537.

Seiten aus Heemskercks römischem Zeichnungsbuch seitenverkehrt kopiert:91 Die erste, die dritte und die vierte Figur, die eine Frontalansicht der dritten darstellt, von Fol. 33 recto,92 die zweite Figur von dem schon erwähnten Blatt des Zeichnungsbuchs, das heute in Amsterdam aufbewahrt wird (Abb. 31 und 4).93 Schon Fol. 33 recto (Abb. 31) vermittelt den Eindruck, dass hier äußere vergleichbare Merkmale wie der ähnliche Erhaltungszustand, das Interesse an lebhaft flatternden Gewandpartien oder selbst die kleine Gemeinsamkeit der nackten Füße, die am unteren Bildrand unter dem Gewandsaum hervorschauen, die Zusammenfügung der einzelnen Darstellungen auf dem Blatt bewirkte. Die ganz rechts noch vorhandene Seitenansicht einer Statue der ägyptischen Löwengöttin Sekhmet hat De Bisschop zugunsten einer weiteren Gewandfigur ersetzt und alle vier Motive neu angeordnet. Diese Maßnahme, wie auch ihre Platzierung in den Paradigmata, wo die Tafel wohl zu Teil III der Gesten und Haltungsmotive gehörte, machen deutlich, dass Heemskercks Zeichnungen hier nicht mehr primär als Vermittlungsmedium antiker Kunst und Architektur wertvoll erschienen, wie dies noch bei Matham der Fall war, sondern vorbildlich auch hinsichtlich ihres eigenen, den Vorstellungen De Bisschops von einer klassizistischen, an Italien geschulten Kunst nahekom_____________ 91 Gelder/Jost (1985), Bd. 1, 260–262. 92 CensusID 61541. 93 Siehe Anm. 13.

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menden Stils. Unter den vielen antiken Statuen der Signorum veterum icones hat De Bisschop dagegen keine einzige nach einer Heemskerckvorlage kopiert, obgleich viele dieser Monumente auch im Zeichnungsbuch vertreten waren. Hier griff De Bisschop, der selbst nie in Italien war, auf aktuelle, frische Zeichnungen holländischer Zeitgenossen zurück, die diese von ihren Romreisen um die Mitte des 17. Jahrhunderts mitgebracht hatten.94

Resümee Im Holland des 17. Jahrhunderts war das Studium antiker Kunst und Architektur nach wie vor eng mit dem Sammeln und Kopieren von Zeichnungen nach den Antiken verbunden, weniger mit dem Sammeln von Antiken selbst.95 Neu hinzu kamen Druckwerke speziell nach antiker Skulptur wie diejenigen von Matham und De Bisschop, die Künstlern als Vorlagenwerke und deren Auftraggebern als Studienobjekte dienten. Die Reisetätigkeit niederländischer Künstler nach Italien ist seit Heemskercks Jahren in Rom nicht mehr abgeebbt, so dass ständig neue und aktuelle Dokumentationen der fernen Kunstwerke in Holland zirkulierten. Heemskercks Zeichnungsbuch musste daher bald selbst als Antiquität, als frühes und speziell für die Werke der italienischen Hochrenaissance in besonderem Maße authentisches Zeugnis gelten. Seine Zeichnungen wirkten solange lebendig nach, solange sie in Haarlem unter Künstlern zirkulierten, die mit dem Werk und seinem Autor vertraut waren – sei es über Erzählungen Dritter oder, wie in Saenredams Fall, über eine Institution wie die Lukasgilde, und die so ihr eigenes Werk zu dem ihres Vorgängers in eine persönliche Beziehung setzen konnten. Vermittlungspersonen konnten befreundete Sammler oder Humanisten, aber auch Verwandte sein. Dies schließt gewisse historische Determinanten mit ein, die das Wiederaufgreifen antiker Motive gerade in der Version und dem Stil der Heemskerckschen Studien begünstigten. Cornelis van Haarlem legte den Fokus ausschließlich auf Heemskercks Körper- und Proportionsstudien; Jacob Matham eher auf die Katalogisierung antiquarischer Elemente. Pieter Saenredam goutierte Heemskercks feinsinnige römische Veduten und perspektivische Darstellungen, während Jan De Bisschop an den Zeichnungen nicht mehr primär den Antikenbezug schätzte, sondern Heemskercks strikte Schulung an italienischen Vorbildern. So liegt auch in dem römischen Zeichenwerk selbst ein Schlüssel für seine spätere fortuna – aufgrund seiner thematischen, stilistischen wie auch zeichen_____________ 94 Die meisten Vorlagen für die Icones bildeten Zeichnungen von Cornelis Poelenburgh, Adriaen Bakker, Herman Mijnerts Doncker, Willem Doudijns sowie Jacques de Gheyn III, vgl. Gelder/ Jost (1985), Bd. 1, 55–59. 95 Zu niederländischen Antikensammlungen im 17. Jahrhundert, die Einzelerscheinungen blieben, vgl. Gelder/Jost (1985), Bd. 1, 35–50; Boschung (2006).

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technischen Vielseitigkeit eröffnete es jedem der genannten Künstler eigene Möglichkeiten der Inspiration. Das nächste Mal tauchten Heemskercks Zeichnungen erst in der Mitte des 18. Jahrhundert in Paris wieder auf, wo sie nicht mehr von Künstlern, sondern von Kunstkennern und Gelehrten gesammelt wurden, so dass sie ihre Spuren nicht mehr in bildlichen, sondern nurmehr schriftlichen Zeugnissen der Zeit hinterließen.

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Abbildungsnachweis Abb. 1, 7, 9, 14, 18, 19, 22, 23, 27, 31: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett; © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin; Foto: Volker-H. Schneider. Abb. 2: Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett; Hamburger Kunsthalle / bpk; Foto: Elke Walford. Abb. 3: Haarlem, Frans Hals Museum; Foto: Grosshans (1980), Abb. 84, 85. Abb. 4: Amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinet; Copyright © Rijksmuseum Amsterdam. Abb. 5: Privatsammlung; Foto: Regteren Altena (1931), 6. Abb. 6: London, National Gallery; Foto: Thiel (1999), Abb. 11. Abb. 8: Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle; Foto: De Vecchi (2001), 212. Abb. 10: Kopenhagen, Statens Museum for Kunst; Foto: Thiel (1999), T. I. Abb. 11: Foto: Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. Abb. 12: Foto: Ausstellungskatalog Hamburg (2002), 92. Abb. 13: Haarlem, Frans Hals Museum; Foto: Thiel (1999), T. VI. Abb. 15: Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle; Foto: De Vecchi (2001), 110. Abb. 16, 17: Copyright © Rijksmuseum Amsterdam. Abb. 20: Washington, National Gallery; Foto: Bestandskatalog Washington (1995), 351. Abb. 21: Ehemals Orleans, Musée des Beaux-Arts; Foto: Schwartz/Bok (1990), Abb. 80. Abb. 24: Florenz, Museo della Fondazione Horne; Foto: Soprintendenza Speciale per il Polo Museale Fiorentino, Gabinetto Fotografico. Abb. 25, 29, 30: Foto: privat. Abb. 26: New York, Ian Woodner Family Collection Inc.; Foto: Schwartz/Bok (1990), Abb. 126. Abb. 28: Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum; Foto: Schwartz/Bok (1990), Abb. 145.

Fortia facta cano Lodoici* – Über die Heroisierung der Gegenwart durch das transformierte Epos der Antike im 17. Jahrhundert LUDWIG BRAUN

Beginnen wir mit einem Ereignis aus dem zehnten Hugenottenkrieg, im Zusammenhang mit der berühmten Belagerung von La Rochelle. Wir befinden uns im Oktober des Jahres 1627, die Engländer sind vor gut zwei Monaten auf der vorgelagerten Insel Ré gelandet und haben die Truppen des französischen Königs, die dort liegen, in dem Fort St-Martin eingeschlossen. Die Vorräte der Franzosen sind bereits äußerst knapp, zudem müßte dringend überhaupt eine Nachrichtenverbindung zwischen den Belagerten und dem Oberkommando, dem Kardinal Richelieu, hergestellt werden. Da sendet Toiras, der Kommandant von St-Martin, drei besonders geübte Schwimmer im Schutze der Nacht aus, die eine geheime Nachricht auf das Festland bringen sollen. Einer von den dreien erlag der Erschöpfung halbwegs zwischen Insel und Ufer und ertrank, einer wurde von den Engländern gefaßt, einer kam durch, lange verfolgt, tauchend, unter Wasser schwimmend, nach übermenschlichen Anstrengungen.

So berichtet die neuere Geschichtsschreibung.1 Das Ereignis ist durch zeitgenössische Erwähnungen gut bezeugt, z. B. von Pierre de Boissat, einem Offizier, der an dem Feldzug teilnahm, und von Philibertus Monetus, einem Jesuitenpater, der 1630 eine Darstellung des Krieges um La Rochelle veröffentlichte.2 Beide berichten zwar durchaus voller Bewunderung, aber beschränken sich doch auf die Tatsachen. Ganz anders zwei Darstellungen, die zur Form eines Epos gegriffen haben, nach dem Muster der Aeneis Vergils, in lateinischen Hexametern. Erstens die Rupellais von einem Paul Thomas, Paris 1630, ein Gedicht, das _____________ * 1 2

Anfangsworte der Rupellais des Paul Thomas. Hier Carl Jakob Burckhardt (1935), 311 f. Petri de Boissat Opera seu Operum Fragmenta, s.l. s.d. (Lyon? 1649?), 51–62: Anglorum ad Rheam exscensio et Rupella obsessa. Relatio quarta, hier 58 f.; Philibertus Monetus, Capta Rupecula, Cracina Servata […] descripta utraque ab (1630), 103 ff.

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den gesamten Feldzug von La Rochelle in sechs Büchern darstellt,3 zweitens die Rhea Liberata von dem Jesuiten Jean de Bussières, der lediglich die Kämpfe auf der Insel Ré schildert, in drei Büchern, Lyon 1655. Die Rupellais gestaltet das Ereignis im ganzen Verlauf, soweit möglich, und in zahlreichen sprachlichen Wendungen nach dem Muster der berühmten Episode von Nisus und Euryalus im neunten Buch der Aeneis. Auch diese, zwei Trojaner, brechen bei Nacht auf, um zu dem fern weilenden Aeneas zu gelangen und ihn zu unterrichten, daß das trojanische Lager von den italischen Völkern unter Turnus hart bedrängt wird. Sie bitten die Kommandierenden, daß man ihnen trotz ihrer Jugend dieses Unternehmen anvertraue, und werden für ihre Entschlossenheit hoch gerühmt, mit den Worten: di patrii, quorum semper sub numine Troia est, non tamen omnino Teucros delere paratis, cum talis animos iuvenum et tam certa tulistis pectora.4 (Verg., Aen. 9, 247–250)

Ganz ähnlich reagiert Toiras in der Rupellais: Summe pater, cuius Gallum sub numine sceptrum est, Non penitus miseram statuisti exscindere gentem, Qui tales animos et vivida corda tulisti.5 (Thomas, Rup., 73)

Den kühnen Jünglingen wird jeweils reiche Belohnung versprochen, und zwar in beiden Fällen aufgeteilt in eine vorläufige und eine spätere, die nach erfolgreichem Abschluß des Krieges zugemessen werden soll (Aen. 9, 263–274; Rup., 74 f.). Nisus und Euryalus schleichen sich, allerdings zu Lande, in das Lager der Feinde, richten dort ein fürchterliches Blutbad unter den Schlafenden an, werden dann aber entdeckt und fallen beide, zuerst der jüngere Euryalus, dann auch Nisus, der sich hätte retten können, jedoch den Verlust des geliebten Euryalus nicht ertragen kann. Vergil schließt diese Episode mit dem berühmten Makarismos: Fortunati ambo! si quid mea carmina possunt, nulla dies umquam memori vos eximet aevo, dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum accolet imperiumque pater Romanus habebit.6 (Aen. 9, 446–449)

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Einige kurze Bemerkungen zu diesem Gedicht in der grundlegenden Darstellung der historischen Epik in Frankreich von David Maskell (1973), 61 f. »Heimische Mächt’, ihr, deren Gewalt stets Troja behütet! Doch nicht ganz zu vertilgen den Stamm der Teukrer gedenkt ihr, Da ihr so feurigen Mut, so entschlossene Jünglingesherzen, Sendetet!« (Voß [1824]; so im Folgenden für Vergil immer). »Vater im Himmel, in dessen Gewalt das Szepter Frankreichs steht! Nicht ganz und gar auszulöschen hast du doch beschlossen dieses Geschlecht, da du solche Kühnheit und so feurige Herzen schenktest.«

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Im gleichen Ton schließt die Episode in der Rupellais: Vasconiae immortale decus, clarique Garumnae Accola sis felix, magnus iam numine dextro Nuntius i Regi, et mandata ingentia perfer. Dum tuus undantes spumosa per ora Garumna Volvet aquas pelago, coelum dum sydera pascet, Si quid apud seros possit mea Musa nepotes, Usque tuus florebit honos, et gloria facti.7 (Rup., 76 f.)

Der bescheidene Hinweis auf die Macht des Dichters, Ruhm zu verbürgen, und die Verknüpfung des heldischen Nachruhmes mit der Ewigkeit bestimmter Gegebenheiten in der Welt stellen hier die jeweils gleichen Elemente dar.8 Trotz der Unterschiede im Verlauf der nächtlichen Abenteuer hat der Dichter des 17. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit einen Passus der Aeneis aufgegriffen und transformiert, um den Ruhm seiner Helden zu erhöhen. Umgekehrt hat er aber auch das historische Ereignis transformiert, es seinerseits an das antike Vorbild angeglichen. Noch entschiedener hat denselben Weg verfolgt der schon erwähnte de Bussières in seinem Epos Rhea Liberata. Er gleicht das Ereignis an den bekannten Mythos von Daedalus und Icarus an, nach dem Muster der Metamorphosen Ovids. Bei ihm sind es nur zwei Helden, die sich auf den gefährlichen Weg machen, ein Vater und ein Sohn, und wie Icarus, so wird auch der Sohn des Meisterschwimmers alsbald übermütig, bleibt nicht mehr hinter seinem Vater, sondern sucht eigene Bahnen und eilt voraus, trotz eindringlicher Warnungen durch den Vater: Cum puer audaci coepit gaudere volatu Deseruitque ducem caelique cupidine tractus Altius egit iter.9 (Ovid, met., 8, 223–325) Vgl.: Exultat iuvenis fluctuque innantia pulso Membra ferens patris post se vestigia linquit.10 (de Bussières, Rhea Lib., 55)

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»O glückseliges Paar! wenn meine Gesäng’ es vermögen, Euch raubt nimmer ein Tag andenkendem Preise der Nachwelt; Weil des Aeneas Stamm Capitoliums ewigen Felsberg Anwohnt, und mit Gewalt obherrscht der romanische Vater.« »Unsterbliche Zierde der Gascogne und glückseliger Anwohner der klaren Garonne mögest du sein; geh nun mit göttlichem Segen und melde dem König und bring ihm die mächtige Botschaft. Solange deine Garonne die wogenden Fluten im Schaum ihrer Mündung zum Meer wälzt, solange der Himmel die Gestirne nährt, fortdauernd wird, wenn denn bei späten Enkeln meine Dichtkunst noch Gewicht hat, deine Ehre blühen und der Ruhm deiner Tat.« Die imitatio der Aeneis im vierten Buch der Rupellais wurde geklärt durch Jorit Wintjes (1999), 49–60, 109–114. »Da begann der Knabe sich am kühnen Flug zu ergötzen und entfernte sich von seinem Führer und zog, vom Verlangen nach dem Himmel verleitet, höher seine Bahn.«

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Und wie Icarus der Sonne zu nahe kommt und seine Flügel verliert, so verschwendet der Schwimmersohn im Übermut seine Kräfte und ist, als ein Sturm aufzieht, nicht mehr fähig, sich über Wasser zu halten. Beide Söhne rufen zuletzt verzweifelt ihren Vater an und versinken in den Fluten: Oraque caerulea patrium clamantia nomen Excipiuntur aqua11 (Ovid, met., 8, 229 f.), Vgl. ›O pater‹ exclamat, vocem mugitibus aequor Opprimit et fluctu clamantem abiungit amaro.12 (de Bussières, Rhea Lib., 56)

Und groß ist der Jammer der Väter. Die Kühnheit des nächtlichen Unternehmens allein genügt diesen Dichtern nicht; in ihrem Trachten, den Ruhm der verwegenen Schwimmer zu erhöhen, gleichen sie diese den Taten und Schicksalen mythischer Helden an – und verändern zugleich den tatsächlichen Hergang. Dies gilt natürlich genauso für die gesamten epischen Dichtungen Rupellais und Rhea Liberata. Um nur einige markante Beispiele zu nennen: Es ist historisch, daß Ludwig XIII. im Juli des Jahres 1627 durch einen längeren MalariaAnfall nicht imstande war, sich auf den Kriegsschauplatz nach La Rochelle zu begeben. Thomas in der Rupellais läßt ihm Heilung durch direktes Eingreifen des Himmels zuteil werden: Der Heilige Ludwig, als Ludwig IX. von Frankreich Vorgänger auf dem Königsthron und zugleich Vorfahre, bittet in einer Himmelsszene Gottvater, dem König in seinem gerechten Krieg gegen die häretischen Hugenotten beizustehen, und Gottvater stattet den Heiligen mit einer himmlischen Panacee aus, die er zur Erde hinabträgt und zur umgehenden Heilung des Königs verwendet. Diese Heilung wiederum geschieht nach dem Muster des zwölften Aeneis-Buches, wo Venus persönlich auf Erden eingreift, um ihren Sohn Aeneas von seiner Verwundung durch einen Pfeilschuß zu heilen, natürlich jeweils mit augenblicklichem Erfolg: […] subitoque omnis de corpore fugit quippe dolor13 (Verg., Aen. 12, 421 f.), Vgl. Protinus ex omni decessit corpore languor14 (Thomas, Rup., 83).

_____________ 10 »Da jauchzt der Jüngling, er regt seine Glieder, schwimmend in der durchteilten Flut, und läßt die Bahn seines Vaters hinter sich.« 11 »Und sein Mund, der den Namen des Vaters ruft, versinkt in den blauen Fluten.« 12 »›Ach Vater‹ ruft er, aber das Meer übertönt mit seinem Brausen die Stimme und reißt ihn davon in der bitteren Flut, da er noch ruft.« 13 »[…] und sogleich war all aus dem Leibe geflohen, Siehe, der Schmerz.« 14 »Augenblicklich wich aus allen Gliedern die Mattigkeit.« – Auch für diesen Zusammenhang der Krankenheilung durch einen Abgesandten des Himmels sowie für die gleich noch näher zu betrachtende Himmelsszene mit Fürbitte und Prophezeiung sind die grundlegenden Hinweise auf

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Auch de Bussières läßt zur Heilung des Königs eine himmlische Macht eigens auf Erden eingreifen, er allerdings weniger beziehungsreich den Erzengel Michael. Dies führt uns auf einen weiteren Punkt: Könige sind Herrscher von Gottes Gnaden und unmittelbar zu Gott. Ihr Handeln und ihre Geschicke stehen durchwegs in direkter Verbindung zu den Mächten des Himmels. Genügt bei kleineren Helden wie den kühnen Schwimmern von La Rochelle noch oftmals eine einfache Anlehnung an heroische Gestalten des Mythos, so kann, wenn es um den Fürsten selber geht, nur das ganze Gewicht des übernatürlichen Apparats eingesetzt werden. Dies zeigt sich auch weiterhin in der soeben betrachteten Himmelsszene der Rupellais: Auf die besorgte Bitte Ludwigs IX. erfolgt noch vor der eigentlichen Maßnahme zur Heilung des kranken Ludwig XIII. eine Prophezeiung aus dem Munde Gottes, die den baldigen Sieg über die Hugenotten sicherstellt. Alles dies ist wiederum in Wirklichkeit natürlich nicht so gewesen, überhöht vielmehr das historische Geschehen in Formen des antiken Epos und transformiert es, in diesem Fall in die Szene zwischen Venus und Jupiter im ersten Aeneis-Buch. Und wiederum ist dieses Modell seinerseits verwandelt, vor allem wird der antike Olymp zum christlichen Himmel. Zum Epos gehört, zu jeder Zeit, das Ringen gegensätzlicher Mächte. In der Antike hat dabei jede Partei einen oder mehrere olympische Götter auf ihrer Seite: In der Ilias stehen Aphrodite und Apollo gegen Hera und Athene, in der Odyssee Poseidon gegen Athene und Zeus, in der Aeneis Juno gegen Venus und Jupiter. Es bleibt damit aber alles sozusagen in der Familie, der Familie der Olympier. Im christlichen Zusammenhang tritt an die Stelle der letzten Endes doch moderaten Olympier-Parteiungen der absolute Gegensatz zwischen Himmel und Hölle, und so hilft stets der Himmel dem guten Helden,15 z. B. Ludwig XIII. vor La Rochelle, die Hölle hingegen mit allen ihren Schreckensgeistern unterstützt – natürlich vergebens – den Gegner, z. B. die Hugenotten – die Rupellais bietet dazu eine grauenerregende Versammlung der höllischen Geister zu Beginn des ersten Buches, in der Satan sich in seiner Herrschaft über die Menschen bedroht sieht durch den französischen König, den Streiter für den wahren Glauben: Iam vero sceptro excutior, profugumque latebras Quaerere Rex adigit Gallus16 (Thomas, Rup., 5)

und einen Dämon aussendet, der Krieg von Engländern und Hugenotten gegen Franzosen erregen soll: […] sere semina belli. Incute vim populis, Gallis immitte Britannos,

_____________ die Elemente, die aus der Aeneis einwirken, der Arbeit von Wintjes (1999) zu danken, hier 65– 76, 119–132. 15 Vgl. Maskell (1973), 186. 16 »Schon werde ich vom Thron gestürzt, und der König von Frankreich zwingt mich, zu fliehen und ein Versteck zu suchen.«

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Ludwig Braun Inque vicem Gallos, nostramque ulciscere causam.17 (Thomas, Rup., 6)

Auch dies nicht ohne antike Anregung: Trotz mannigfacher Veränderungen steht zuletzt dahinter die empörte Juno des siebten Aeneis-Buches mit ihrem Befehl an die Furie Allecto, vgl. besonders […] sere crimina belli; arma velit poscatque simul rapiatque iuventus.18 (Aen. 7, 339 f.)

Durch diese Wandlung gewinnen aber die Fronten eine neue Radikalität. Die Hugenotten, in anderen derartigen Epen die Lutheraner, oder auch, je nach Konfession des Dichters und seines Fürsten, die Katholiken sind eine reine Ausgeburt der Hölle, von jeglicher moralischer Verwerflichkeit durchdrungen, Empörer gegen den göttlichen Heilsplan.19 Wer hingegen im antiken Epos einen Gott zum Feind hat, verdankt dies lediglich der Tatsache, daß er eine Gottheit beleidigt hat: Hera und Athene in der Ilias unterstützen die Achäer und bekämpfen die Trojaner, weil Paris sie beim Schönheitsurteil beleidigt hat; Poseidon will die Heimkehr des Odysseus unmöglich machen, weil dieser seinen Sohn Polyphem geblendet hat, Juno in der Aeneis ist gleichfalls immer noch über das Parisurteil erbittert, will zugleich verhindern, daß mit Rom eine Macht entsteht, die ihr geliebtes Karthago überwinden würde. Damit ist freilich in der Aeneis ein erster Schritt auf die Ausweitung zum Grundsätzlichen getan: Juno widersetzt sich ja somit in der Aeneis der Weltordnung, die Jupiter errichten will, also einer Art von Heilsplan. Gleichwohl ist Turnus, der Gegenheld der Aeneis, da er unter dem Einfluß Junos steht, doch nicht eine Verkörperung des Bösen schlechthin. Dieser Schritt wird dann allerdings bereits in der Spätantike vollzogen, in Claudians epischer Invective In Rufinum. Nur ist es hier die heidnische Unterwelt mit ihren neidischen Mächten, noch nicht die christliche Hölle, die diesen Bösewicht zu ihrem Werkzeug macht, um die Menschheit mit Plagen heimzusuchen. In der dargestellten Weise überhöht das Epos des 17. Jahrhunderts durchgehend das Bild und die Taten seiner Helden, zumeist seiner Fürsten, durch Angleichung an das heroische Epos der Antike. Aber es wird auch etwas Neues daraus: Der Held ist nun ein christlicher Held, seine Taten haben nicht nur weltgeschichtliche Bedeutung, sondern sind zugleich Bestandteil des göttlichen Heilsplanes. Diese Elemente verbinden sich sodann oftmals in besonders wirksamer Weise mit dem wegweisenden Entwurf der Aeneis. Ich habe bisher nur zwei Epen für Einzelheiten herangezogen, die zeitgenössische Ereignisse schildern und den regierenden oder auch erst unlängst verstorbenen König zu ihrem Helden haben _____________ 17 »Streue aus die Saat des Krieges. Flöße den Völkern Gewalt ein, auf die Franzosen hetze die Briten, auch die Franzosen gegeneinander, und räche mein Reich.« 18 »Streu Hader des Krieges! Waffen begehr’ und fodre zugleich und ergreife die Jugend!« 19 Maskell (1999), 186: »Whereas the party which Jupiter or Neptun favoured or opposed did not thereby become good or bad, it is clear that with the Christian supernatural whoever God favoured was automatically good and whoever Satan favoured was automatically bad.«

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(Ludwig XIII. stirbt 1643). Der geniale Gedanke der Aeneis hingegen war es ja, den gegenwärtigen Herrscher nicht direkt zu verherrlichen, sondern den Augustus durch seine Ahnen zu rühmen: Im Schicksal des Aeneas kündigt sich die späte Vollendung der römischen Weltherrschaft unter Augustus an, diese wird aber nur in den drei berühmten prophetischen Durchblicken angekündigt, der JupiterProphezeiung im ersten Buch, der Heldenschau in der Unterwelt im sechsten Buch, und in den bildlichen Darstellungen auf dem Schild, den Vulcan dem Aeneas geschmiedet hat, im achten Buch; vordergründig aber wird der alte Gründungsmythos erzählt. Es ist nun auffällig, daß dieser Vergilische Entwurf in der überaus reichen Produktion der neulateinischen Epik insgesamt eher selten aufgegriffen wird – er wurde allerdings schon in der Antike nie wirklich nachgeahmt! –, daß aber gerade in Frankreich gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts sich Epen mit diesem Bauplan häufen.20 Es sind dies besonders der Martellus des Pierre de Boissat, ein Epos über den Sieger von Tours und Poitiers, gedruckt in erster Fassung um 1649, aber wichtiger ist eine wesentlich überarbeitete Fassung, die nur handschriftlich vorliegt und in den fünfziger Jahren entstanden ist; der Constantinus des Pierre Mambrun, gedruckt Paris 1658, über Constantin den Großen und seinen Sieg über Licinius; ein Scanderbegus des schon erwähnten Jean de Bussières, gedruckt Lyon 1658, über den bekannten Nationalhelden Albaniens, und, von demselben Dichter, eine Clodoveis, gedruckt Lyon 1675, über den Merowinger Chlodwig. Allen diesen Gedichten ist gemeinsam, daß sie zeitlich weit entfernte christliche Helden verherrlichen, die an wichtigen Wendepunkten der Geschichte entscheidende Siege erfochten und durch diese Siege, vom Himmel unterstützt, eine Entscheidung lieferten, die die Grundlage für die segensreiche Regierung der christlichen Könige Frankreichs zur Lebenszeit der Verfasser dieser Epen darstellt. Diese geschichtlichen christlichen Helden sind also alle so etwas wie ein Aeneas, und der zeitgenössische König ist so etwas wie ein Augustus. Die Helden der frühen Jahrhunderte präfigurieren den zeitgenössischen König. Die Verknüpfung wird auch hier, wie in der Aeneis, in den meisten Fällen durch Prophezeiungen und heldenschauartige Szenen hergestellt. Zu dieser Gruppe epischer Gedichte wären durchaus noch weitere Werke zu ziehen, etwa die Syrias des Petrus Angelius Bargaeus, der 1591 dieses Epos über den ersten Kreuzzug drucken ließ; er ist zwar eigentlich Italiener, widmet aber sein Werk dem französischen Heinrich III.21 Und Jacques Mayre veröffentlicht 1690 einen Recaredus sive Hispania tota Catolica, in dem die Beseitigung der arianischen Haeresie in Spanien durch den Westgoten Recared gefeiert wird, _____________ 20 Vgl. Braun (1999), 59–95, hier 72–74. Eine ausführliche Darstellung aller hier genannten neulateinischen Epen gebe ich in der demnächst erscheinenden Ancilla Calliopeae, Ein Repertorium der neulateinischen Epik Frankreichs (1500–1700). 21 Dies bezieht sich auf frühere Teildrucke des Epos; den Druck des vollendeten Gedichts erlebte Heinrich III. nicht mehr, da er 1589 ermordet wurde.

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welche Entscheidung dann die Grundlage wurde für die christlich-rechtgläubige Herrschaft des Hauses Habsburg in Spanien. Es gehören aber ferner bedeutende Epen der französischen Nationalsprache hinzu, so die Pucelle ou la France délivrée des Jean Chapelain, von der Jungfrau von Orleáns handelnd (1656); der Clovis ou la France chrestienne des Jean Desmarets de Saint-Sorlin, ein Chlodwig-Epos (1657); der Saint Louis ou la sainte couronne reconquise des Pierre Le Moyne, die Kreuzzüge Ludwigs des Heiligen darstellend (1658). Hier wie in zahlreichen lateinischen Epen dieser Zeit treten zu den Vergil-Einflüssen natürlich solche von Tassos Gerusalemme Liberata hinzu – schon die Titelformen zeigen das ja deutlich. In allen diesen Epen sichert der gottgewollte Sieg des Helden aber nicht nur eine weltliche Herrschaft, sondern er dient vor allem der Verteidigung des wahren Christenglaubens. Karl Martell schlägt die mohammedanischen Sarazenen von Westeuropa zurück, Constantin der Große besiegt die letzten Reste des Heidentums im römischen Reich, Scanderbeg verteidigt mit Albanien den Osten Europas gegen die mohammedanischen Osmanen, Chlodwig besiegt die arianischen Westgoten, Gottfried von Bouillon befreit Jerusalem, die Stätte des Heiligen Grabes, von der Seldschukenherrschaft; die Kreuzzüge Ludwigs des Heiligen waren zwar nicht von Erfolg gekrönt, sind gleichwohl bedeutende christliche Heldentaten, und in französischer Sicht ist dann natürlich auch der Erfolg Johannas von Orléans gegen die Engländer gottgewollt: Schließlich ist sie durch himmlische Erscheinungen zu ihren Taten bestimmt worden und wurde sogar, freilich erst 1920, zu der Verehrung an den Altären erhoben. In allen solchen Gedichten werden demnach nicht mehr nur einzelne Elemente des antiken Epos in verwandelter Gestalt für eine erhabenere Darstellung geschichtlicher Ereignisse herangezogen, sondern der gesamte Entwurf der Aeneis wird dieser Absicht des Rühmens dienstbar gemacht. Ich will schließen mit einem, wie mir scheint, besonders originellen und eindrucksvollen Beispiel. Es gibt ein wenig bekanntes Epos mit dem Namen Turcias, das 1625 in Paris gedruckt wurde.22 Ein Verfasser wird in dem Druck nirgends genannt, doch stammt das Werk ohne Zweifel von der berühmten sogenannten Grauen Eminenz, dem politischen Berater des Kardinals Richelieu, dem Kapuzinerpater Joseph, dessen weltlicher Name François Le Clerc Du Tremblay war. Dieser verfolgte schon seit 1605 sehr konkrete Pläne zur militärischen Befreiung Griechenlands und besonders Konstantinopels aus den Händen der Türken, hatte, im Verein mit anderen, bereits stattliche Rüstungsmaßnahmen getroffen, zum Beispiel fünf schwerbewaffnete Kriegsschiffe bauen lassen, unterstützte diesen Plan zudem durch politische Schriften. Die Pläne wurden freilich durch den ausbrechenden Dreißigjährigen Krieg vereitelt. Zudem aber dichtete Père Joseph _____________ 22 Grundlegende Darstellung durch Louis Dedouvres (1894); vgl. demnächst Braun, Ancilla Calliopeae.

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eben ein Epos, das zu diesem Plan begeistern sollte, ein Epos also, das nicht von einem bereits geführten Krieg handelt, sondern von einem, der erst noch zu führen wäre. Er gestaltet sein Epos so, daß weit ausgreifend in den ersten zwei Büchern im Himmel der Krieg gegen die Türken durch Christus beschlossen wird, in zwei weiteren die christlichen Herrscher in den Himmel entrückt werden, um diesen Beschluß zu erfahren und ihm zu folgen. Damit entfaltet P. Joseph im Kern zwei vorbildhafte Komplexe aus der antiken Literatur: Buch 1–2 führen den Entschluß des höchsten Gottes vor, in Empörung über einen Teil der Menschheit auf Erden drastisch einzugreifen, wie Jupiter in Ovids Metamorphosen 1, 163 ff. im Zorn über die Menschen insgesamt ihre Vernichtung durch die Sintflut beschließt und vor den olympischen Göttern begründet; ausführliche Erzählungen Jupiters oder auch Christi über das, was ihren Zorn herbeigeführt hat, gehören dazu: Jupiter berichtet exemplarisch von dem Frevel Lycaons, Christus von dem Bund Mohammeds mit der Hölle und den blutigen Eroberungen durch die Mohammedaner, besonders durch die Türken, in der Welt der Christen. Der zweite Teil der Ereignisse im Himmel, Buch 3–4 (genauer S. 72–138, also in der vorliegenden Fassung in den Anfang des fünften Buches hineinreichend, das auf S. 128 beginnt), ist inspiriert zunächst durch Ciceros Somnium Scipionis, nur läßt P. Joseph nicht einen einzelnen Helden entrückt werden, sondern die Gesamtheit der christlichen Herrscher. Aber wie bei Cicero die Schau der jenseitigen Herrlichkeit der Verpflichtung des Helden zu tapferen Taten auf Erden dient, so werden in der Turcias den Herrschern tiefe religiöse Einsichten enthüllt; zudem werden ihnen in einem theatralischen Triumphzug des wahren Glaubens die großen Streiter des Christentums vor Augen geführt. Hierdurch ist in die Himmelsszene des Somnium Scipionis zudem die Heldenschau der Aeneis eingegangen, wenn auch mit dem Unterschied, daß in der Turcias der Blick nur auf Helden der Vergangenheit fällt, nicht, wie bei Vergil, auf große Gestalten der Zukunft. Aber die Funktion, die Betrachter durch den Blick auf große Helden zu eigenen Ruhmestaten zu verpflichten, ist in der Aeneis wie in der Turcias die nämliche. Dieser himmlische Triumphzug beginnt mit zunächst noch alttestamentlichen Helden wie Moses und Josua. Dann ziehen lauter Gestalten vorüber, die wir eben schon als Helden einzelner Epen genannt haben: Constantin der Große, der den heidnischen Maxentius besiegt, der Merowinger Chlodwig, der sich nach der Schlacht von Tolbiacum taufen läßt und später die arianischen Westgoten Alarichs besiegt, der Sarazenensieger Karl Martell, Gottfried von Bouillon, Scanderbeg, und schließlich als großes Schlußbild die Seeschlacht von Lepanto. Mit diesen Eindrücken werden die christlichen Herrscher entlassen und auf die Erde zurückgeschickt, um nun in Eintracht zum großen Türkenkrieg zu schreiten. In erstaunlichem und kühnem Zugriff verzichtet der Dichter der Turcias auf eine kriegerische Handlung als Hauptinhalt und auf die Bewährung eines Helden, woraus doch sonst ein Epos besteht, wenigstens ein historisches. Was andere Epen dieser Zeit wie Martellus oder Constantinus als zwar wichtiges Element

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haben, die adhortatio, gewöhnlich auf den großen Türkenkrieg hin, und dies außerhalb der eigentlichen Handlung, in einer prophetischen Himmelsszene, dieses Element macht hier das ganze Epos aus. Damit ist in der Turcias einerseits eine Summe gezogen aus Epen wie dem Martellus – die, wohlgemerkt, 1625 alle noch gar nicht vorlagen! –, denn dessen Taten, wie auch etwa die Constantins des Großen, Chlodwigs, Scanderbegs und noch vieler anderer werden als vorbildlich ja durchaus erwähnt, die Gewichte aber sind gerade umgekehrt: Die Aufforderung ist die Hauptsache, alle weiteren Gedanken wie auch Fälle von vorbildlicher Handlung in politischer, biblischer, kirchlicher Geschichte werden ihr untergeordnet. Die Transformation des antiken Epos ist hier also eine vollkommene.

Literatur Quellen Angelius Bargaeus, Petrus, Syrias, Florenz 1591. Boissat, Pierre de, Martellus, Lyon? um 1649?. Bussières, Jean de, SJ, Rhea Liberata, Lyon 1655. Bussières, Jean de, SJ, Scanderbegus, Lyon 1658. Bussières, Jean de, SJ, Clodoveis, Lyon 1675. Chapelain, Jean, La Pucelle ou la France délivrée, 1656. Desmarets de Saint-Sorlin, Jean, Clovis ou La France chrestienne, 1657. Le Moyne, Pierre, SJ, Saint Louis ou La sainte couronne reconquise, 1658. Mambrun, Pierre, SJ, Constantinus sive Idololatria debellata, Paris 1658. Mayre, Jacques, SJ, Recaredus sive Hispania tota Catolica, Avignon 1690. Père Joseph, Turcias, Paris 1625. Philibertus Monetus, Capta Rupecula, Cracina Servata […] descripta utraque ab P. Philiberto Moneto de Societate IESU, Lugduni 1630. Thomas, Paul, Rupellais, Paris 1630. Literatur Braun, Ludwig, »Neulateinische Epik im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts«, in: Wiener humanistische Blätter 41 (1999), 59–95. Burckhardt, Carl Jakob, Richelieu, München 1935. Dedouvres, Louis, De Patris Josephi Turciados libris quinque, Diss. Angers 1894. Maskell, David, The Historical Epic in France, Oxford 1973. Voß, Johann Heinrich, Des Publius Virgilius Maro Werke, Reutlingen 1824. Wintjes, Jorit, Pauli Thomae Engolismensis Rupellaidos Liber IV, unpublizierte Staatsexamensarbeit Würzburg 1999.

Nathaniel Ingelos Bentivolio and Urania als philosophische romance. Aspekte antiker Philosophien in christlich-neuplatonischer Erbauungsliteratur CORNELIA WILDE

Entstehungszusammenhang und zeitgenössische Rezeption In der Prosaromanze Bentivolio and Urania vermittelt Nathaniel Ingelo seiner Leserschaft Wissen über antike Philosophien im Medium einer fiktionalen Erzählung. Mit Blick auf die didaktische und popularisierende Absicht, die dieser literarische Text als christlich-neuplatonische Erbauungsliteratur in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in England verfolgt, stellt sich die Frage, wie und zu welchem Zweck das Wissen über die Antike in den Erzählzusammenhang integriert wird und welche Transformation es in diesem Prozess erfährt. Von Interesse ist auch, ob das Wissen über die Antike vornehmlich auf der inhaltlichen Ebene der erzählten Geschichte angesiedelt ist oder ob es auch in den narrativen Strukturen, in der formal-ästhetischen Dimension des Textes lesbar wird. So sind die literarischen Verfahren und rhetorischen Strategien, derer sich der Text bedient, in doppelter Weise von Interesse: einerseits dahingehend, inwiefern sich narrative und dramatisierende Darstellungsweisen zur Wissensvermittlung eignen oder ob eher diskursive und unterweisende Verfahren überwiegen. Hat die Art und Menge des Wissens über die Antike Einfluss auf die literarästhetische Form der frühneuzeitlichen romance, die vornehmlich der Unterhaltung, nicht aber der Wissensvermittlung dient? Andererseits gilt es zu fragen, inwieweit die literarische Darstellung das Wissen verändert, d. h. ob z. B. gattungstypische Merkmale des Textes das Wissen entsprechend seiner literarischen zeitgenössischen Konventionen transformieren und anpassen. Der englische Theologe Nathaniel Ingelo, der von 1621 bis 1683 lebte, studierte in Edinburgh und war in der Mitte der 1640er Jahre Fellow am Emmanuel College und dann Griechisch-Dozent, Schatzmeister und Dean des Queen’s College der Universität Cambridge, bevor er einer Gemeinde in Bristol vorstand und

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als Lehrer am Eton College unterrichtete.1 Ingelo begleitete den Politiker Bulstrode Whitelocke (1605–1675)2 als Kaplan und Chorleiter auf einer Gesandtschaft zu Königin Christina von Schweden von November 1653 bis Juni 1654.3 1658 erhielt Ingelo seinen Doktor der Theologie von der Universität Cambridge. Er lebte, lernte und lehrte im Umkreis der so genannten Cambridge Platonists, einer Gruppe von Theologen und Philosophen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der Universität Cambridge wirkten.4 Die Bezeichnung Platonists ist den Platonikern von Cambridge insofern angemessen, als sie den Philosophien Platons und Plotins sowohl in philosophischen als auch in theologischen Zusammenhängen höchste Wichtigkeit beimaßen. Die Dialoge Platons und die Enneaden Plotins und auch die Texte späterer Neuplatoniker wie Porphyrios und Proklos erlangen in den Schriften der Cambridge Platonists fast kanonische Geltung. Neben den biblischen Texten werden sie als grundlegende Quellen religiöser Erkenntnis gelesen.5 Weiterhin waren sie auch mit einem breiten Spektrum anderer antiker Autoren vertraut, besonders Aristoteles und den Stoikern, und setzten sich ebenfalls mit zeitgenössischen Philosophen wie Francis Bacon, Descartes, Hobbes und Spinoza auseinander. Die Cambridge Platonists schätzten die antiken Philosophien vor allem aufgrund der Relevanz, die sie für ihr zeitgenössisches Leben besaßen. Ihr umfangreiches philosophisches Wissen nutzten sie in der Diskussion religiöser und moralischer Fragen, vor allem zur Verteidigung der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele gegenüber zeitgenössischen, als atomistisch-atheistische Angriffe dieser Überzeugungen verstandenen Philosophien wie etwa die des Thomas Hobbes.6 Ingelo ist Teil dieses gelehrten Kreises und besonders die Freundschaft mit John Worthington, Fellow am Emmanuel College, Master des Jesus College und Vizekanzler der Universität Cambridge, verbindet ihn auch über seine Zeit in Cambridge hinaus mit den dort ansässigen Theologen.7 _____________ 1 2 3

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Vgl. McLellan (2004). Vgl. Spalding (2004). Zu diesem Anlass schrieb Andrew Marvell ein lateinisches Gedicht für Ingelo, in dem er sich nach dessen Gesundheit im kalten Norden erkundigt, vorwiegend aber die schwedische Königin preist, vgl. Marvell, Works, I, 408–413. Als die bedeutendsten Cambridge Platonists gelten Ralph Cudworth (1617–1689) und Henry More (1614–1687), beide Fellows am Christ’s College, Cambridge. Zu dieser Gruppe zählen weiterhin Benjamin Whichcote (1609–1683), John Smith (1618–1652), Nathaniel Culverwell (1619–1651), John Worthington (1618–1671) und Anne Conway (1630–1679), vgl. Hutton (2007). Vgl. Cassirer (2002), 241. Vgl. dazu Tricaud (1988), 160–163. Rogers liest Ralph Cudworths The True Intellectual System of the Universe als die erste größere Kritik der Hobbesschen Philosophie, vgl. Rogers (1988), 270. Vgl. Young (Sept. 2004). So taufte Ingelo z. B. Worthingtons Tochter Mary am 19. November 1658 und wurde von ihm über die Ereignisse in Cambridge informiert, vgl. Worthington, Diary, 119, 203.

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Ingelos Prosaromanze Bentivolio and Urania erschien in zwei Teilen zum ersten Mal 1660 bzw. 1664, erlebte drei weitere Auflagen in weniger als zwanzig Jahren und war damit ein Bestseller christlich-neuplatonischer Erbauungsliteratur. Ingelos theologisch-philosophisches Denken, wie es sich in Bentivolio and Urania darstellt,8 ist eng mit den Überzeugungen der Cambridge Platonists verbunden. Nathaniel Ingelo vermittelt in diesem Text Wissen über antike Philosophien und stellt dieses Wissen im Rahmen der fiktiven Erzählung als narrative Anleitung zur religiösen Selbsterforschung in den Dienst der christlichmoralischen Didaxe. So beginnt Ingelo das Vorwort an die Leserschaft mit einer Aussage über das Prinzip, das kluge und gute Menschen in ihren Handlungen leiten sollte: Ein weiser Mensch, der sich selbst kennt, werde seine Fähigkeiten immer dazu verwenden, an ein Ziel zu gelangen, an dem er sich ewig erfreuen könne. Indem Ingelo die Selbsterkenntnis als Voraussetzung für diese Zielorientierung angibt, evoziert er bereits den antiken Kontext des delphischen Orakels, das den Besucher aufforderte, sich selbst zu erkennen. Gleichzeitig ruft er die Gestalt des Sokrates auf, der nach dem Spruch dieses Orakels der weiseste Mann war.9 Im christlichen Kontext bedeutet das in Selbsterkenntnis angestrebte Ziel, das ewige Leben im Paradies genießen zu können; im neuplatonischen Kontext ist das Ziel die Schau der Ideen. Daher müsse ein jeder Mensch danach streben, die wertvollen Vermögen seiner Seele zu vervollkommnen und ihrer tatsächlichen Größe gerecht zu werden. Viele Menschen, so beklagt Ingelo, nutzten die Fähigkeiten ihrer vernünftigen Seele jedoch nicht, sondern vertäten ihre Zeit mit Müßiggang oder mit Dingen, die nicht der Würde ihrer mit Vernunft begabten Seele entsprechen.10 Sie stutzten die Flügel ihrer Seele und sänken zu tierischer Unfähigkeit hinab.11 _____________ 8

Bentivolio and Urania ist Ingelos literarisches Hauptwerk, weiterhin sind in gedruckter Form lediglich drei theologische Texte und einige christliche Liedtexte erhalten: The Perfection, Authority, and Credibility of the Holy Scriptures. Discoursed in a Sermon before the University of Cambridge, at the Commencement, July 4. 1658 (1659); A Sermon, Preached at St. Pauls Church in London, April 17. 1659; A Discourse Concerning Repentance (1677). 9 Vgl. Platon, apol., 21a–c. 10 »It is justly esteemed by those who know themselves, as the only work that is worthy of wise men, so to imploy their better faculties, and improve their time, that at last they may obtain an End, in which they may rejoyce eternally: After a sincere intention of this End, to prosecute it with a constant use of fit means, is the Character of a prudent and Good man. Those which govern not their life by this Principle, do either suffer themselves to be benum’d with idleness, or abuse the activity of their Souls in vain employment.« Ingelo, B&U, I, »Preface to the Reader«. Die Verweise auf die Textstellen aus Ingelos Bentivolio and Urania erfolgen im Fließtext durch die römisch bezifferte Band- und soweit vorhanden arabisch bezifferte bzw. alphabetisch gekennzeichnete Seiten- bzw. Folioangaben. Die Namen der einzelnen Bücher werden abgesehen von den beiden Vorworten (Preface) und dem Index (The Table) nicht genannt. 11 »[T]hey entertain themselves with things which correspond not with the Dignity of Reasonable Souls, instead of perfecting those rare Capacities with which their Natures are invested, […] they lessen themselves, clip the wings of their Souls, and bring them down from those Excel-

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Ingelo bedient sich hier des aus dem platonischen Dialog Phaidros stammenden Bildes der gefiederten Seele, deren Flügel beim Anblick des Göttlichen, des Guten und Schönen wachsen und die Seele zur Vollkommenheit empor fliegen lassen. Jedoch werden die Schwingen durch die Ausrichtung der Seele hinab auf das Schlechte und Hässliche gestutzt, und die Seele fällt aus ihrem potentiell göttlichen Status auf eine der niedrigsten Ebenen hinab.12 Mit dem anzitierten Bild der gefiederten Seele ruft Ingelo zu Beginn des Textes den gesamten platonischen und neuplatonischen Diskurs über die Seele und das Wesen des Menschen auf, in dem die Heterogenität der menschlichen Seele diskutiert und der vernünftige Teil der Seele als das eigentliche Selbst des Menschen bestimmt wird und auf dem Ingelos philosophisch-theologisches Denken basiert.13 Dementsprechend bezieht sich Ingelo auch im Vorwort zum zweiten Teil von Bentivolio and Urania, in dem er den Lesern erneut über das moralisch-didaktische Ziel und das Verfahren seines Textes Auskunft gibt, auf Platon, diesmal auf dessen Dialog Alkibiades I. I have ventur’d to describe Noble Examples in which Holy Rules appear practicable, that I might both engage and assist Imitation in all capable Souls; And I made choice of this way, knowing that we ought, as Plato told us (in Alcib.), to act looking upon beautiful and divine Images set before us. Some possibly will learn to despise a vicious course of Life, when they see how contemptible it is in comparison to better Examples; and endeavour to contribute something to the Exaltation of Humane Manners by their Vertue. (II, Preface A4 f.)

Diesem didaktisch-anagogischen Anspruch folgend, beschreibt Ingelo in seinem Text edle Beispiele, an denen heilige Regeln in ihrer Anwendung im Handeln sichtbar werden. Zur Hinwendung auf diese Beispiele und zu ihrer Nachahmung soll der Leser angeregt werden. Kontrastierend dazu werden die negativen Beispiele aufgerufen, deren Verachtungswürdigkeit der Leser erkennen und von denen er sich abwenden soll. Es geht Ingelo also um eine Selbsterkenntnis, die zur Umkehr und zur Neuausrichtung führen soll. Ausgangspunkt für dieses Vorhaben ist die Überzeugung vom erlösungsbedürftigen Zustand der Seele, die zu sehr im Materiellen, in der Welt verfangen ist und so ihr Potential zur Annäherung an das Göttliche nicht ausschöpft. Die Seele muss eine Kehrtwendung machen, sich von den Dingen, die sie in der Welt schätzt, abwenden und sich in die Gegenrichtung zur intelligiblen Welt der Ideen, bzw. zu Gott hinauf bewegen, d. h. die aus dem Platonischen Höhlengleichnis bekannte periagôgê vollziehen.14 Geleitet wird sie dabei von den schönen und göttlichen Bildern. Diese sind ihr jedoch nicht äußerlich, sondern als von Gott gegebene Ideen der vernünftige Teil _____________ lency which they actually enjoy, and make them degenerate into a brutish incapacity.« Ingelo, B&U, I, Preface. 12 Vgl. Platon, Phaid., 246c–254a. Siehe dazu auch: Sheppard (1994), 9 f. 13 Zu diesem Kontext vgl. z. B. Plotin, Enneade V, 1,1 und VI, 9,5 und Halfwassen (2004), 128– 141 sowie Rappe (1996), 250–260 und Clark (1996), 275–284. 14 Vgl. Platon, rep., 514a–519b.

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ihrer selbst.15 Die Schau des Schönen bedeutet damit auch eine auf Gott gerichtete introspektive Selbstschau, die Umwendung der Seele auf sich selbst und damit durch sich zum Göttlichen. Zu dieser Selbstbetrachtung und zu dieser Umwendung soll Ingelos Text durch die Gegenüberstellung von guten und schlechten Beispielen anregen. Ob sich der Mensch an den guten oder den schlechten Beispielen ausrichtet, ist seine freie Entscheidung.16 In Bentivolio and Urania bedeutet diese Kontrastierung gleichzeitig die Gegenüberstellung antiker Philosophien. Die beispielhaft Guten sind christlichneuplatonische Lichtgestalten, die Bösen hingegen Vertreter der Klassen »Geldgierige« oder »Wollüstige« und nicht zuletzt Vertreter antiker Philosophien wie z. B. der pyrrhonischen Skepsis und des Epikureismus. Bentivolio and Urania lässt sich damit auch als eine ihrer literarästhetischen Form nach populärliterarische Variante der philosophisch-theologischen Grundlagen der Cambridge Platonists lesen. Diese Lesart lässt sich mit Blick auf die kontextuelle und konstellatorische Einbettung der romance und ihre zeitgenössische Rezeption plausibel machen. Henry Mores philosophisches Lehrgedicht Psychodia platonica or A platonicall Song of the Soul (1642), in dem More über die Unsterblichkeit der Seele, ihren kosmologischen Aufstieg und ihr spirituelles Vorankommen in der Welt dichtet, ist vor diesem Hintergrund als ein Prätext für Ingelos platonische romance anzusehen, und Ingelo verweist vielfach auf Texte Mores in den Anmerkungen zu Bentivolio and Urania.17 Gleichzeitig nehmen sich sowohl Henry More in diesem philosophischen Gedicht als auch Ingelo in seiner philosophischen Romanze die Werke Edmund Spensers zum Vorbild – die Foure Hymnes einerseits, die allegorische Romanze The Faerie Queene andererseits.18 Henry More und seine Freundin Lady Anne Conway wiederum rezipieren Ingelos Text, allerdings sind die Einschätzungen beider nicht erhalten.19 John Worthington jedoch bezeichnet Bentivolio and Urania gegenüber seinem Freund, dem Bildungsreformer und Autor Samuel Hartlib (ca. 1600–1662), in einem Brief vom Dezember 1660 als »that excellent scheme of divine morality«.20 Hartlib wiederum, der das Buch vielfach lobend erwähnt findet, versucht über Worthing_____________ 15 Vgl. dazu Halfwassen (2004), 132–135. 16 Der Gedanke Plotins, dass die Seele nicht von Anfang an eine gegebene, ihr aufgeprägte Bestimmtheit hat, sondern sie zu dem wird, wozu sie sich selbst bestimmt, ist auch bei den Cambridge Platonists ein für das ethische Handeln zentraler Gedanke. Die metaphysische und ethische Qualität der Seele hängt von der Richtung ab, die sie einschlägt, von der Wendung nach oben – zur intelligiblen Welt – oder nach unten, zur körperlichen Natur. Vgl. Cassirer (2002), 242 und Halfwassen (2004), 135 ff. 17 Vgl. Conway Letters, 173. Siehe beispielhaft Ingelo, B&U, II, The Table, wo Ingelo unter dem Lemma Astromantis auf Mores Mystery of Godliness verweist als einen Text, in dem die eitle Kunst des Sterndeutens aufgedeckt wird. 18 Vgl. Jacob (1998), 1 und Nicholson (1992), 173. 19 Vgl. Conway Letters, Henry More an Lady Conway, 14. September 1661, 192. 20 Worthington, Diary, Worthington an Hartlib, Dez. 1660, 244–245.

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ton ein Exemplar direkt vom Autor, den er in seiner Korrespondenz mit Worthington in Hoffnung auf dessen guten Willen Bentivolio nennt, zu bekommen.21 Der Dichter Alexander Brome (1620–1666) hebt in seinem Gedicht »On Dr. I. his divine Romant« lobend hervor, dass Ingelos Text in seinen Lesern die Liebe zu den göttlichen Dingen wecke und ihre Seelen über die Sphäre der weltlichen Dinge hinaushebe: How rare! How truly noble’s this designe, To make us fall in love with things Divine And raise our passions with such pious flames, To court those thruths, which lay disguis’d in names […] This new invention expiates the crime, Which did too much adhere to youthful love; Directs the soul to doat on things above; And consecrates th’affection to extend Their violent motion to their proper end. […] And with such flowers the paths to vertue strews, That the dull soul to heav’n delighted goes. To this great worth, who with Coelestial wit, Informs and sanctifies our minds, and brings Our souls above these low terrestrial things! A crown of Stars must deck his learned brow, the lawrel Garland’s too unworthy now.22

Brome bestätigt so in seinem Lobgedicht Ingelos im Vorwort angekündigtes Vorhaben, die Leser seiner romance zur Liebe zu göttlichen Dingen, zur Ausrichtung und Nachahmung von noblen Beispielen anzuleiten. Ingelos neue literarische Komposition sühne das Vergehen der zu großen Konzentration auf die jugendliche – und körperlich-sinnliche – Liebe und wende das leidenschaftliche Streben der Seele auf höhere Wahrheiten und das angemessene Objekt ihres liebenden Verlangens. Damit beschreibt das Gedicht die im Platonischen Symposion dargelegte Liebeskonzeption, d. h. die Aufstiegsbewegung der Seele von den irdischen zu den intelligiblen, göttlichen Dingen und letztendlich zur Schau der Ideen.23 Vermittelt durch Ficinos Kommentar De amore zum Platonischen Symposion und Baldassare Castigliones Il libro del Cortegiano (1528) ist die platonische Liebestheorie fester Bestandteil frühneuzeitlicher Diskurse über die irdische und himmlische Liebe.24 Die platonische Aufstiegsbewegung der in Liebe entflammten Seele sieht Brome in Ingelos Text als für den Leser nachvollziehbar an. Der Dichter Ingelo, dem nicht der weltliche Lorbeerkranz, sondern der himmlische Sternenkranz gebühre, vermöge es, so suggeriert Bromes Gedicht, mit seinem himm_____________ 21 Vgl. Worthington, Diary, Hartlib an Worthington, 17. Dez. 1660, 252; 1. Jan. 1660/61, 259; 15. Jan. 1660/61, 271. 22 Brome, Songs, 264–265 (Hervorhebungen im Original). 23 Vgl. Platon, symp., 201d–212c. 24 Vgl. Hankins (2002), 384 und Hutton (1994), 69. Siehe dazu umfassend: Ebbersmeyer (2002).

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lischen Verstand die Leser zu belehren, ihre Vernunft zu heiligen und zu weihen und so ihre Seelen über die weltlichen Dinge hinaus zu erheben.

Christlicher Neuplatonismus versus atheistischer Epikureismus Genau diesen Glauben an die Möglichkeit des Aufstiegs der vernünftigen Seele verspottet das satirische Gedicht »A Satyr against Reason and Mankind« (ca. 1674) des libertinistischen Dichters John Wilmot, Earl of Rochester (1647–1680). Das libertinistisch-weltliche, die Bedeutung des freien Willens negierende lyrische Ich mokiert sich in diesem Gedicht über die Vorstellung vom Menschen als eines rationalen und im Abbild Gottes geschaffenen Wesens. Die hymnischen Ausführungen eines Geistlichen der bis auf Platon zurückgehenden Vorstellung von der Fähigkeit des Menschen, sich durch seine Vernunft über die Tiere und über die materielle Welt bis an die Grenzen des Universums und darüber hinaus erheben zu können, unterbricht das lyrische Ich mit einem entsetzten Ausruf: What rage ferments in your degenerate mind To make you rail at Reason and Mankind? Blest glorious Man! to whom alone kind Heaven An Everlasting Soul has freely given: Whom his Creator took such care to make That from himself he did the Image take: And this fair frame in shining reason drest, To dignify his Nature above Beast. Reason, by whose aspiring Influence We take a flight beyond Material sense, Dive into Mysteries, then soaring pierce The flaming limits of the Universe: Search Heaven and Hell, find out what’s acted there, And give the World true grounds of hope and fear. Hold mighty Man I cry; all this we know, From the pathetick pen of Ingelo, From Patricks Pilgrime, Sibbs Soliloquies; And tis this very Reason I despise.25

Der direkte Verweis auf Ingelos Schreiben, auf seinen »pathetick pen«, seinen bemitleidenswürdigen, aber gleichzeitig auch Trauer und Mitgefühl hervorrufenden Stift,26 und seine Nennung im Zusammenhang mit zwei sehr bekannten zeitgenössischen religiösen Texten und ihrer Verfasser ist ein weiterer Hinweis auf die große Popularität von Ingelos Bentivolio and Urania und die didaktischprotreptische Funktion des Textes. Ingelos Romanze wird zusammen mit den _____________ 25 Wilmot, Satyr, 58–59, Z. 72–75. 26 Vgl. OED, »pathetic, a.« Def. 1.a. und 2.

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»Selbstgesprächen« des anglikanischen Geistlichen und Predigers Richard Sibbes – vermutlich mit seinem Text The Soules Conflict with Itself (1635) – und mit Simon Patricks Parable of the Pilgrim (1663/1664) genannt, in der Patrick von der Reise des jungen Philotheus zum himmlischen Jerusalem erzählt. So wird Ingelos romance in eine Tradition christlicher Texte der Selbstbefragung und allegorischer Pilgerreisen gestellt, deren prominentestes englisches Beispiel John Bunyans, 18 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Bentivolio and Urania erschienenes Werk The Pilgrims Progress (1678/1684) ist. Der philosophische Standpunkt des lyrischen Ichs in Rochesters »Satyr against Reason and Mankind«, die Abwertung der menschlichen Vernunft und die gleichzeitige Aufwertung des Körperlich-Sinnlichen ist eine Position, die den im Vorwort von Ingelo genannten verabscheuungswürdigen Beispielen entspricht. Sie steht in starkem Kontrast zu dem anagogischen Anspruch von Bentivolio and Urania, geht es Ingelo in Bentivolio and Urania doch darum, seiner Leserschaft eine Anleitung zur Selbsterforschung zu bieten, die auf christlich-neuplatonischen Grundgedanken basiert und sich klar von derartigen, als atheistisch-frevlerisch eingeordneten Positionen abhebt. Diese Position gilt es in der erzählenden Darstellung zu diskreditieren. In dieser Gegenüberstellung der nachzuahmenden und abzulehnenden Beispiele nutzt Ingelo sein umfassendes Wissen über die antiken Philosophien in Verbindung mit ihren zeitgenössischen Ausprägungen zur Verteidigung seiner christlichen Überzeugungen, die er seiner Leserschaft vermitteln möchte. Diese Verteidigung bedeutet für Ingelo ebenso wie für die Cambridge Platonists die Auseinandersetzung und Kritik des antiken Epikureismus und seiner zeitgenössischen Renaissance, die sich in zahlreichen Lukrez-Übersetzungen, so wie in den Schriften Gassendis (1592–1655) und Walter Charltons (1620– 1707) und auch in der Philosophie Thomas Hobbes’ zeigt.27 Im »Preface to the Reader« zum zweiten Teil werden daher die Epikureer und Skeptiker als Untergruppen der Atheisten und damit als Gegner direkt angespro-

_____________ 27 Im 17. Jahrhundert erfährt der Epikureismus eine Rekonstruktion und Renaissance in England. Diese zeigt sich einerseits im wissenschaftlich-philosophischen Umgang mit den Texten und Lehren Epikurs etwa durch Pierre Gassendi (De vita, moribus et placitis Epicuri, 1647, Syntagma philosophiae Epicuri, 1649) und Walter Charleton (Physiologia Epicuro-GassendoCharltoniana 1654) sowie zahlreiche Lukrez-Übersetzungen – wie etwa John Evelyns An Essay on the First Book of T. Lucretius Carus De Rerum Natura. Interpreted and made English Verse by J. Evelyn, 1656, vgl. Jones (1989), 166–213. Andererseits wird Epikur als der antike Philosoph karikiert, der nur an das Fleischliche denkt, vgl. Barbour (1998), 14 f. Henry Mores Lehrgedicht »Psychozoia« lässt sich als eine Auseinandersetzung mit dem Epikureismus in der poetischen Variante des Lukrez lesen, siehe dazu: Jacob (1998). Davies sieht Bentivolio and Urania als eine Romanze, die sich gegen Thomas Hobbes richtet, vgl. Davies (1953), v und neuerdings auch Parkin (2007), 202–204. Zur Interpretation der Philosophie Thomas Hobbes’ als in epikureischer Tradition stehend siehe Erler (1994), 190–194.

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chen.28 Als einen Gewährsmann für diese Kritik zitiert Ingelo Plotin, von dem er annimmt, dass er Christ gewesen sei:29 Plotin, the chief of the Platonists pronounces roundly that the Denial of an All-wise Creator is […] so Irrational that it can be approv’d by none but those who have neither Understanding nor Sense. (Enn. III.2)« (II, Preface).

Ingelo deutet hier die Textstelle Plotins in einem christlichen Sinne um, denn der erste Satz der Enneade III, 2 »Von der Vorsehung«, auf den sich Ingelo bezieht, lautet vollständig wie folgt: »Wesen und Bestand unseres Weltalls auf Ungefähr und Zufall zurückzuführen, ist unsinnig und verrät gänzlichen Mangel an Denkvermögen und Wirklichkeitssinn.« Von einem allwissenden Schöpfer ist in Plotins Text nicht die Rede, sondern vielmehr von der atomistischen Vorstellung, die Welt sei durch Zufall entstanden und der Zufall sei ihr grundlegendes Prinzip. Ingelo liest also das atomistische Konzept als die Verleugnung eines Schöpfergottes und betont damit den Atheismus, der diesem Konzept zugrunde liegt. Ingelo dreht Plotin das Wort im Munde um, d. h. er lässt ihn in seiner Interpretation die christliche Alternative zum Zufallsprinzip – die Vorsehung des allwissenden Schöpfergottes als Kreations- und Gestaltungsprinzip der Welt – nennen. Dass Ingelo Plotin als den wichtigsten der Platoniker und als einen Christen darstellt und ihm christliche Gedanken zuschreibt, ist im Rekurs auf den italienischen Renaissance-Neuplatoniker Marsilio Ficino zu verstehen. Dieser wies Plotin in der Vermittlung zwischen platonischer Philosophie und christlicher Religion einen ausgezeichneten Status zu: Plotin habe die proto-christliche Theologie Platons von den Schleiern der Mythen befreit und als erster und einziger – als von Gott inspirierter Philosoph – die Geheimnisse der Alten durchdrungen.30 Über Ficinos Vermittlung war Plotin auch für die Cambridge Platonists der wichtigste Vertreter der platonischen Philosophie geworden.31 Bei diesem direkten Angriff auf die Atheisten im Allgemeinen und die Epikureer im Besonderen ruft Ingelo neben Plotin zahlreiche antike Autoritäten auf, um seine Bewertung zu stützen. Lukian lässt er bestätigen, dass Epikur sowohl Demokrit als auch Aristipp – »that famous Master of Luxury« – an Pietätlosigkeit und Wollüstigkeit übertraf, und stellt Diogenes Laertius und Cicero einander als Zeugen gegenüber, wobei Cicero, bedingt durch Ingelos Interessen als tausendfach glaubwürdiger gilt, denn er wollte nicht – wie Diogenes Laertius – den Lehren Epikurs einen besseren Anstrich geben (II, Preface). So wird der Leser in _____________ 28 »In this short Prologue I think it will not be impertinent to make a particular Address to Atheists, Epicureans and Scepticks.«, Ingelo, B&U, II, Preface. 29 »Plotin, one of the best Platonists, and possibly a Christian, wrote against them (the Gnosticks C.W.), Ennead. 2.Lib.9.« Ingelo, B&U, II, The Table, Hh2 (Hervorhebung im Original). 30 Vgl. Ficino, Opera, 1537, zitiert bei Allen (1995), 558. Siehe dazu auch: Cassirer (2002), 228 und Hutton (1994), 69. 31 Henry More schreibt von sich selbst, dass er einer der ersten gewesen sei, der in Cambridge eine Ausgabe der Enneaden Plotins besessen habe, vgl. Jacobs (1998), xii.

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diesem Vorwort auf die philosophische Auseinandersetzung der nachfolgenden Erzählung eingestimmt. Bereits an dieser Stelle beginnt die Konstruktion eines doppelten Antikebildes: einer guten, da christlich lesbaren Antike, vertreten durch Plotin und Cicero, und einer atheistisch-schlechten, vertreten durch die Epikureer. Bereits im Vorwort wird der Zusammenhang zwischen zeitgenössischen philosophischen Auseinandersetzungen und antiken Positionen hergestellt und die Vermittlung im literarischen Text mit Blick auf die zeitgenössische Relevanz und didaktische Funktion vorbereitet. Art und Umfang des Wissens über die antiken Philosophien, das vermittelt werden soll, ist im Vorwort bereits angedeutet, um dann in der Erzählung des fiktionalen Textes ausgeführt und für den zeitgenössischen Leser transformiert zu werden.

Imaginieren und Offenbaren in der philosophischen romance Die literarästhetische Form, die Ingelo für die Vermittlung seines didaktisch relevanten Wissens über antike Philosophien wählt, ist die romance. Sie ist eine volkssprachliche Gattung, deren Vorformen bereits im Reiseroman der Spätantike zu finden sind und die sich vor allem seit dem Mittelalter bis weit in das 17. Jahrhundert großer Beliebtheit bei der europäischen Leserschaft erfreut.32 Die story einer romance besteht meist in der Aneinanderreihung von Abenteuern ritterlicher Helden und vornehmer Damen, die sich in ihrer Tugendhaftigkeit gegenüber vielfältigen Anfeindungen und in Auseinandersetzung mit bösen Gegnern beweisen müssen. Das Motiv der Queste und das Erreichen des angestrebten Ziels ist ein zentrales Erzählmuster der romance, dessen lineare Erzählstruktur als zirkuläre Struktur von Ausfahrt, Abenteuer und Heimkehr in die eigene Gesellschaft übertragen werden kann.33 Die Abenteuer dieser Reise stehen in Verbindung mit dem Objekt der Queste, und das Motiv der Reise ist dabei oft mit der Idee der Entwicklung und Bildung des Selbst der Protagonisten verknüpft. Die vielen aufeinander folgenden und sich miteinander verbindenden Geschichten, die sich entlang der Reise der Protagonisten erzählen lassen, sowie die Fülle der Charaktere eröffnen dabei die Möglichkeit, ein breites Themenspektrum innerhalb des übergreifenden Erzählzusammenhangs der romance variantenreich durchzuspielen. Der Fülle der Themen und Episoden entspricht dabei die Vielfalt der eingesetzten rhetorischen und narrativen Mittel – Landschaftsbeschreibungen wechseln sich ab mit handlungsreichen Passagen über Schlachten und Befreiungen, dramatisierte Dialoge und rhetorische Musterreden, eingeschobene Briefe, Gebete und Gedichte erfüllen das ästhetische Stilideal der copia und dienen der Freude und Erbauung der Leser. Diese vielfältige literarische Gattung mit ihrer _____________ 32 Vgl. Saunders (2004), 1–2 und Archibald (2004), 10. 33 Vgl. Cooper (2004), 46 und 57.

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antithetischen Logik von gut und böse ist Ingelos formaler Rahmen für die polarisierende Darstellung der Laster- und Tugendhaften zum Zweck der christlichen Erbauung. Ingelo jedoch bedient sich der romance als literarischer Gattung für seine moralisch-didaktischen Zwecke nicht vorbehaltlos. Den größten Teil des ersten Vorwortes an seine Leser verwendet er auf eine Romanzen- und Imaginationskritik und auf eine Apologie seines eigenen Gebrauchs dieser Gattung. Sein inhaltlich begründeter Hauptvorwurf an die antiken – denn Homers Odyssee und Ilias zählen für ihn auch zu dieser Gattung – und zeitgenössischen Romanzen ist, dass sie sich nicht der Schilderung moralischer Tugenden widmeten, sondern vielmehr von körperlicher Lust und niederen Affekten in langen Geschichten erzählten und so die Phantasie der Leser so sehr trübten, dass diese mit ihrem vernünftigen Seelenteil, dem Verstand, nicht mehr auf Gott achten könnten. Kurz: Das Lesen von Romanzen lenkt von der gewissenhaften Selbstprüfung und der Selbsterkenntnis ab, die als Voraussetzung der Tugendhaftigkeit angesehen wird und deren Erlangung das vorrangige Ziel eines jeden klugen Menschen sein sollte, wie Ingelo bereits einleitend dem Leser mit Bezug auf das antike Diktum des gnothi sauton mitgeteilt hat und das er auch innerhalb dieser poetologischmoralischen Diskussion wiederholt (I, Preface). Sein eigenes dichterisches Schreiben einer romance rechtfertigt Ingelo mit dem Verweis auf die moralisch-didaktische Funktionalisierbarkeit dieser literarischen Darstellungsform. In diesem Zusammenhang verwendet er die Metapher des Schleiers: Die Tugend, die er aus philosophisch-theologischer Perspektive hauptsächlich darstellen will, wird mit dem Schleier der romance geschmückt, den sie als ornamentales Beiwerk ob ihrer eigenen Schönheit aber eigentlich gar nicht benötigt: Vertue; which, though by reason of its innate beauty it least needs any adventitious ornament, yet doth not scorn the light vail of Romance, if it be of that fashion which I shall by and by describe. (I, Preface).

Der Aspekt des Schleiers als verschönerndes Ornament erfasst nicht die gesamten Möglichkeiten dieser Metapher. Denn der Schleier ist vor allem ein erotisch und religiös aufgeladenes Stoff- und Kleidungsstück. Als meist an Weiblichkeit gebundenes Kleidungsstück stellt es gleichzeitig eine Geheimnis bewahrende und die Imagination anregende Form der Verhüllung dar und dient als Projektionsfeld sinnlicher Phantasien. Im religiösen Zusammenhang materialisiert sich im Schleier bzw. im Vorhang das Geheimnis als sinnlicher Hinweis auf die verborgene Gottheit, die Entschleierung wird zur Offenbarung.34 Der Schleier ist also ein Bild, das auf eine religiöse Vorstellung von verborgenem und zu entschleierndem Sinn zurückverweist. Im Zusammenhang der poetologischen Diskussion, innerhalb derer Ingelo das Bild des Schleiers verwendet, lässt sich der Schleier als _____________ 34 Vgl. Oster (2002), 9–14. Oster betrachtet den Schleier als Metapher für das Imaginäre bzw. die Imaginationstätigkeit und untersucht die Schleiermetapher vorwiegend in ihrer poetologischen Funktion.

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Metapher für den poetischen Text lesen. Der Schleier als gewebte Textur bringt einerseits die Materialität des Textes und seine ästhetische Realisierung zur Anschauung, andererseits verweist die Ambiguität von Verhüllung und Enthüllung auf eine doppelte Bedeutung des Textes.35 Die romance ist also die literarische Darstellungsform der imaginationsanregenden Verhüllung der theologischphilosophischen Wahrheit über die Tugend, die Ingelo in didaktischer Absicht den Lesern seines Textes vermitteln möchte. Ingelo greift hier die Frage des Macrobius im Kommentar zu Ciceros Somnium scipionis auf,36 ob es dem Philosophen – bzw. Theologen – gestattet sei, sich erfundener Geschichten zur Veranschaulichung von philosophischen oder theologischen Wahrheiten zu bedienen. Wie Macrobius bejaht Ingelo diese Frage und gesteht den dichterischen Geschichten eine moralisierende Funktion zu und leistet so eine »philosophische Valorisierung der Poesie«37, durch die er das Schreiben und die Lektüre seiner romance rechtfertigt.38 Um den Nutzen der Romanzenlektüre für die Selbsterkenntnis des Lesers weiterhin zu verdeutlichen, verweist Ingelo außerdem auf den dichtungstheoretischen Grundsatz des Horaz, dass Poesie sowohl erfreuen als auch belehren sollte, und vergleicht sein Verfahren mit einer Methode der Ärzte, die den Kranken die bittere Medizin in einer süßen Ummantelung verabreichen. Ingelo beruft sich mit diesen beiden Begründungen auf die poetischdidaktischen Verfahren zweier Vertreter der epikureischen Philosophie, zum einen Horaz, zum anderen Lukrez, der den schwierigen Stoff der epikureischen Naturphilosophie in der Form des Gedichtes leichter verträglich machen wollte.39 Ingelo instrumentalisiert also hier die didaktische Methode, die Lukrez zur Vermittlung der epikureischen Philosophie angewandt und empfohlen hat, für die Kritik an eben dieser Philosophie. Der Verweis auf den Gebrauch der didaktischen Methode der Epikureer beinhaltet zugleich eine entsprechende Umkehrung der platonisch-neuplatonischen Schleier-Metaphorik. Während bei den Platonikern der Schleier dazu diente, tiefgründige philosophische und theologische Wahrheiten vor Missbrauch und Profanisierung zu schützen,40 dient er in Ingelos Argumentation dazu, die Imagination und sinnlichen Phantasien der Leser anzuregen, die kein ausdrückliches Interesse an philosophischen Inhalten und moralischen Unterweisungen haben. Der poetische Schleier der Darstellungsform romance vermittelt aber gleichzeitig mit der Narration erdachter Geschichten theologisch-philosophische Wahrheit. _____________ 35 36 37 38 39 40

Vgl. Oster (2002), 27. Vgl. Macrobius, Commentarii in Ciceronis, I, 2, 9. Oster (2002), 41. Vgl. zu Macrobius Wlosok (1990), 384–402 und Oster (2002), 40–41. Vgl. Lukrez, De Rerum Natura, 1, 936 ff. Vgl. z. B. Euler (1998), 215.

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Diese didaktisch-popularisierende Verschleierungsmethode wird für das Verhalten des Lehrers auch in Ficinos Symposion-Kommentar und in Castigliones Cortegiano empfohlen, um der Tugend fern stehende junge Menschen und Fürsten zu einem besseren Lebenswandel anzuleiten.41 Sokrates wird als der fähigste Anwender dieser pädagogischen Methode genannt: Ein einziger Weg nur bleibt für die Jugend zu ihrer Errettung übrig: dies ist der Umgang mit Sokrates. Die Jugend, welche ja der Sinnenlust neigt, fängt man nur mit der Lockspeise des Vergnügens ein; die gestrengen Lehrer flieht sie. […] Zunächst lockt er sie durch gewinnende Sanftmut des Umgangs an sich. […] Nachdem er sie gefesselt hat, leitet er sie allmählich ernster an und nimmt sie schließlich in strengere Zucht.42

Wie das täuschende Verhalten des Sokrates, so erfüllt auch Ingelos poetische Verschleierungsmethode eine doppelte Funktion: Der Schleier der literarischen Darstellungsform romance lockt mit unterhaltsamen Geschichten solche Leser an, die ein philosophisches Werk normalerweise nicht zur Hand nehmen würden. Gleichzeitig scheint durch den poetischen Schleier die theologisch-philosophische Wahrheit als verhülltes Objekt hindurch, welches durch die aufklärerische Bewegung der Enthüllung offenbart werden kann. Damit beschreibt die Metapher des Schleiers verschiedene Sinnebenen des Textes und weist dem Text nicht nur Verhüllungs-, sondern auch allegorische Verweisungsfunktion zu. Als Beispiele für solch verschleiernd-enthüllendes Erzählen nennt Ingelo Parabeln und Fabeln, sowie die ingeniösen Diskurse der antiken Philosophen und die reichen conceits einiger Dichter. Mit den Hinweisen auf diese Formen des dichterischen Schreibens setzt Ingelo ein Allegoriesignal und kündigt eine allegorische Romanze an. Er fordert so seine Leser auf, mit der methodischen Vermutung Bentivolio and Urania könne eine doppelte Bedeutung haben, an den Text heranzutreten. Er weist implizit darauf hin, dass der Text zweideutig ist und auf zwei Ebenen gelesen werden kann und soll. Zum einen erzählt der Text die Abenteuer der Geschwister Bentivolio und Urania. Durch diese Erzählung und über diese Erzählung hinaus meint der Text aber auch noch etwas anderes, auf das es vor allem ankommen kann – er spricht gleichzeitig von der theologisch-philosophischen Bedeutung des guten Willens und der himmlischen Weisheit und zeigt so christliche Normen, die aber vom erzählten Wissen nicht abgesetzt werden können.43

_____________ 41 Vgl. Castiglione, Cortegiano, IV, 10, siehe dazu: Hankins (2002), 379 f. 42 Ficino, De amore, VII, 16. 43 Allegorie wird hier nicht im rhetorischen Sinne Quintilians als fortgesetze Metapher verstanden, sondern Allegorie wird mit Kurz als ein Element eines Textes, bzw. eine Schreibart bestimmt, die zwei Deutungen gleichzeitig zulässt und nicht nur indirekt ein anderes meint, sondern das eine und das andere meint, vgl. Kurz (1993), 30–37, siehe dazu auch: Kuhn (1979), 212.

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Bentivolio and Urania als allegorisches Lese- und Lehrbuch Die story, als »initiale« Bedeutung von Bentivolio and Urania gelesen,44 entspricht dem Erzählmuster zeitgenössischer romances: Die Geschwister Bentivolio, Urania und Panaretus reisen durch verschiedene Länder, begegnen guten und schlechten Menschen, retten Unschuldige, weisen falsch Handelnde zurecht und kommen letztendlich in ein idyllisches Land, in dem Wohlstand, Frieden und Liebe herrschen. Bevor sie in ihre Heimat zurückkehren, endet der erste Band. Im zweiten Teil treten zu den drei Geschwistern und ihren Freunden neue Charaktere hinzu. Einem Prinzen, dessen königlicher Vater von seinem größenwahnsinnigen Neffen umgebracht worden ist, verhelfen Bentivolio und seine Freunde wieder zur rechtmäßigen Thronbesteigung. Nach der finalen Schlacht zwischen den Helden und ihren Gegnern wird eine vierfache Hochzeit gefeiert, und die Protagonisten kehren in ihre Heimat zurück. Dieser knapp zusammengefasste romanzenhafte Inhalt entfaltet sich im Text zu einem großformatigen Panorama frühneuzeitlicher politischer, religiöser und philosophischer Konfliktsituationen mit allegorischer Bedeutung. Die äußere Welt des gesellschaftlichen Konfliktfeldes und die große Schlacht am Ende der Erzählung verweisen zum einen auf die innere Welt der seelischen Auseinandersetzung der christlichen Tugenden und heidnischen Laster, zum anderen auf den Kampf der Christen gegen ihre Widersacher – ganz in der Tradition der epischen Allegorie, für deren Ausbildung vor allem die Psychomachia des Prudentius wichtig war. Bereits die Zuordnung von Ingelos Bentivolio and Urania zu Simon Patricks allegorischer Pilgerreise im satirischen Gedicht des Earl of Rochester zeigt, dass sich in der romanzenhaften Darstellungsform konstitutive narrative Muster der Allegorie wie die der Reise, der Pilgerfahrt und der Queste verbinden.45 In die allegorische Struktur und in die narrativen, dramatischen und deskriptiven Muster von Bentivolio and Urania wird das Wissen über die antiken Philosophien eingewoben. Im Gegensatz zu philosophischen und theologischen Lehrbüchern werden die antiken Philosophien im fiktionalen Erzähltext nicht als geschlossene, systematisch nach Naturphilosophie, Metaphysik und Ethik geordnete Sinneinheiten präsentiert, sondern Elemente, Hypothesen und Grundsätze aus den verschiedenen philosophischen Teilgebieten werden auf verschiedene Episoden und Personen verteilt, von den fiktionalen Charakteren diskutiert und als Motive des Handelns und als Handlungsweisen narrativiert. Die drei Geschwister Bentivolio, »Good Will«, Urania, »Heavenly Light«, und Panaretus, »All-vertuous« sind dabei die integrativen Hauptfiguren der romance, im zweiten Teil tritt der wahrheitsliebende Alethion hinzu. Sie sind _____________ 44 Kurz bezeichnet die beiden Bedeutungen eines allegorischen Textes nicht als wörtliche (sensus literalis, historia, verbum) und allegorische (sensus allegoricus, sensus translatus), sondern als initiale und allegorische Bedeutung, vgl. Kurz (1993), 31. 45 Vgl. Kurz (1998), 45–49.

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durchweg als vorbildliche christliche Charaktere dargestellt, die auf ihrer Reise durch die verschiedenen Länder überall Gutes tun und Laster tadeln und bestrafen. Bentivolio besiegt im ersten Buch, das von Argentora, dem Land der Begierde und des Ehrgeizes, handelt, u. a. den gewalttätigen und Besitz ergreifenden Forzario und die sich betrügerisch bereichernde Inganna (I, 19–29). In Piacenza, dem Lust- und Vergnügungsstaat, müssen sich Urania und Panaretus den Verführungskünsten der epikureisch-lüsternen Königin Hedonia entziehen (I, 46–53). Die religiösen Praktiken der Bewohner von Vanasembla, dem Staat der Scheinheiligkeit teilweise katholischer, teilweise enthusiastischer Prägung, bekommen wiederum Urania und Panaretus vorgeführt (I, 82–95). Und während Panaretus dem halbwissenden Morsophus, dem skeptischen Verfechter der These, dass nichts zu wissen das angenehmste Leben bedeute, im Tempel der Ignoranz einen Vortrag über den Wert des Wissens hält (I, 75–80), weist Bentivolio die scholastisch um Wortbedeutungen Streitenden in Logomàchia zurecht und verschafft der Wahrheit wieder Zugang (I, 96–98). In Theoprepria, im gottgefälligen Staat, treffen die drei Geschwister u. a. Agape, die Nächstenliebe, und Phronesia, die Klugheit, sowie Eupistus, einen wahren Gläubigen, und Theosebius, einen Verehrer Gottes (I, 124 ff.). Ein zentrales Konstruktionselement der Allegorie ist der Gebrauch von mehrdeutigen Wörtern und die Möglichkeit ihrer Verwendung in verschiedenen Kontexten. Das englische Wort »state« bietet sich als ein »Scharnierwort«46 an, das von der initialen zur allegorischen Bedeutung im Text überleiten kann. Theoprepria – mit Blick auf die Bedeutung von »state« als Staat und Territorium – bezeichnet als Eigenname zum einen ein bestimmtes fiktives Herrschaftsgebiet, durch das die Geschwister Bentivolio und Urania reisen und in dem sie von den Einwohnern Agape und Eupistus willkommen geheißen werden. »State« verstanden als Zustand, als eine Existenzweise, die durch bestimmte Umstände und Attribute gekennzeichnet ist, verweist auf die innere Welt der menschlichen Seele und bezeichnet damit auch eine Lebensweise und einen seelischen Zustand, die durch Nächstenliebe, Klugheit, Glauben und Verehrung Gottes als gottgefällig gekennzeichnet sind. Die aus griechischen, lateinischen und italienischen Wörtern zusammengesetzten sprechenden Namen der Protagonisten, Städte und Länder werden ab der zweiten Auflage von Bentivolio and Urania in Randbemerkungen in das Englische übersetzt, so dass der Leser bei den ersten Nennungen eines Namens am Seitenrand nachlesen kann, dass z. B. der Name des Landes Vanasembla mit »Hypocrisie« (I, 70) zu übersetzen ist. In der entsprechenden Haupttextpassage wird weiter expliziert, dass die Theopreprians, die wahren Christen, dem Land den Namen Vanasembla gegeben hätten, weil die Bewohner die Christen wie Affen imitieren würden: Heuchelei und Scheinheiligkeit sind also die Charakteristika des Verhaltens der Vanasemblians. Weiterhin erfährt der Leser in den Marginalien, dass im Landesteil Pammelana alles dunkel ist, und die Einwohner, _____________ 46 Kurz (1998), 37.

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die Pammelanians, die Ignoranten sind (I, 74, 76). Mit dieser Lese- und Allegoresehilfe wird auf dem Titelblatt ab der zweiten Ausgabe geworben: Wherein all the Obscure Words throughout the Book are interpreted in the Margin, which makes this much more delightful than the former Editions.

Neben den auslegenden Randbemerkungen wird dem Leser mit dem alphabetischen Index, der sich an den zweiten Band anschließt, ein weiteres Hilfsmittel angeboten, das den Lehrbuchcharakter der Romanze deutlich macht. So werden z. B. die Etymologie und die mit dieser Bedeutung verbundenen Qualitäten des Namens des ersten von Bentivolio, Urania und Panaretus bereisten Staates folgendermaßen erklärt: Argentora, from Argento and Oro, Silver and Gold. The Title of the First Book which contains a Description of Covetousness and Ambition, where Force and Fraud bear sway. (II, The Table, Gg2)

Mit den Übersetzungen der Namen in den paratextuellen Randbemerkungen setzt Ingelo prominente Allegoriesignale, die gleichzeitig als Allegorese fungieren. Ingelo verwendet also das literarische Verfahren der Allegorie und legt sie direkt aus. Durch diese Verfahren der Kommentierung und Erläuterung, die Ingelo selbst vornimmt, verlieren die in vielen Sprachen sprechenden Namen im Text an Offenheit und Assoziationsvielfalt, sie werden so eindeutig doppeldeutig. Ingelo geht auch hier ähnlich vor wie Henry More in seinem philosophischen Gedicht »Psychozoia«, in dem More ebenfalls seine allegorische Darstellung der Reise der Seele sofort selbst ausdeutet.47 Die Randbemerkungen und der Index enthalten aber auch direkte Hinweise auf die im Text diskutierten Themen. So wird der Leser darauf hingewiesen, dass in »The History of Anaxanacton« – »The King of Kings, our Lord and Saviour« – eine Darstellung des Lebens Jesu und eine Auslegung und Verteidigung der Bibel vorliegt.48 Neben diesen inhaltlichen Aspekten verweisen die Randbemerkungen und die Einträge im Index auf die zitierten Textstellen und auf weiterführende Literatur, so dass die romance einen gelehrten Apparat erhält, der sowohl das Verständnis des Textes ermöglicht als auch zur weiteren Lektüre der Quellentexte und Sekundärliteratur anregen soll. So nimmt die philosophische romance Qualitäten eines gelehrt lehrenden Textes an und wird zu einem sich selbst erklärenden philosophischen Lehrbuch. Auf mehreren Ebenen wird so Wissen über die Antike in seiner Relevanz für die christliche Erbauung in die Fiktion integriert. Den sprechenden Namen der Protagonisten entspricht die narrative Ausgestaltung ihres Verhaltens in der Erzählung. So können auch bestimmte antike Philosopheme auf einzelne fiktive Personen verteilt, sachlich thematisiert und narrativ ausgestaltet werden. _____________ 47 Vgl. dazu Fouke (1997), 101–105. 48 »Here begins a Discourse concerning our Saviour, with an Explication and Vindication of his most Excellent Gospel.« Ingelo, B&U, II, 134.

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Die thematische Entwicklung der ersten vier Bücher korrespondiert dabei mit der im Vorwort durch Ingelo mit Platon aufgerufenen notwendigen Umwendung des Menschen, der Abwendung von den falschen Bildern und Dingen der materiellen Welt, der Hinwendung und dem Aufstieg zur Schau der Ideen bzw. zum christlichen Gott. Indem Bentivolio, Urania und Panaretus die Länder Argentora, Piacenza und Vanasembla hinter sich lassen, gelangen sie nach Theoprepria, in das Land der Gottgefälligen, an ihr erstes Ziel auf dem Weg der platonischen periagôgê und anagôgê. Bevor jedoch der Aufstieg nach Higher Theoprepria vollzogen werden kann, setzt der Text mit einem erzähltechnischen Wendemanöver neu an und führt den Leser zurück nach Theriagene, in das Land der verkommenen Viecher, der »degenerate beasts«, also derjenigen, die als extreme Gegenbeispiele zu den noblen Vorbildern im Vorwort bereits genannt wurden. Das Buch Theriagene und das letzte Buch mit dem Titel Elenchus, das – so wird in der Marginalie erklärt – diesen Namen trägt, weil es die Widerlegung vieler falscher und die Darlegung einiger wichtiger Wahrheiten enthält,49 werden narrativ von der Auseinandersetzung zwischen Antitheus, dem Anti-Gott, und Alethion, dem Wahrheitsliebenden, zusammengehalten. Die Handlung des letzten Buches beschränkt sich auf die große Schlacht zwischen den Gottgefälligen und denen, die Gott lästern, als narrativ- romanzenhafter Ausdruck der erfolgreichen Widerlegung der gegnerischen Position im rhetorischen Verfahren des elenchos. Das Buch Elenchus ist von Bentivolios theologisch-philosophischen Gesprächen über die Existenz Gottes, das Leben Christi und die Verteidigung der Bibel geprägt. So kulminiert der Erzähltext Bentivolio and Urania in den großen, für die Helden siegreichen Auseinandersetzungen: in der Schlacht gegen Antitheus und die Bewohner von Theriagene und in der Widerlegung ihrer atheistischen Meinungen. Die Helden haben durch ihre Tapferkeit und ihre Weisheit gesiegt. Nach dem philosophisch-theologischen Beweis der Unsterblichkeit der Seele im Gespräch zwischen Aristander und Synthnescon steht nur noch der Übergang nach Higher Theoprepria, in den Himmel, aus. Mit dem Verlauf der erzählten Reise von Bentivolio, Urania, Panaretus und ihren Freunden von den Regionen der körperlichen Verfehlungen zu denen der geistigen geht eine Veränderung des narrativen Verfahrens einher. Während in den ersten fünf Büchern viele handlungsreiche Beispielerzählungen zu lesen sind, besteht Elenchus vorwiegend aus mehr oder weniger dialogischen Verteidigungsgesprächen christlicher Prinzipien und vernünftiger Glaubensinhalte. Es kommt im Handlungsverlauf zunehmend zur Aufgabe narrativer Darstellungsweisen zugunsten diskursiver und lehrhaft unterweisender Verfahren: Das Wissen und die Art seiner Vermittlung werden immer abstrakter und gelehrter. Damit, scheint es, folgt die narrative Struktur einer ideal-typischen platonischen anagogê, in der vor dem erfolgreichen Aufstieg der elenchos durchlaufen werden muss. So wird _____________ 49 »This Book is so call’d because it contains the Reproach of many Falshoods, and the Demonstration of several Important Truths«, Ingelo, B&U, II, 97.

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der anagogische Aufstieg im Erzähltext zu einer Handlungsabfolge transformiert, und gleichzeitig wird der durch die poetische Darstellungsform der romance zur Lektüre verführte, anfänglich unwissende Leser eben durch diese Lektüre gebildet, so dass er im zweiten Teil des Textes für die Darstellung des elenchos bereit ist. Jedoch macht bereits Ingelos Übersetzung des Titels Elenchus deutlich, dass er den Begriff nicht ganz im Sinne der frühen sokratischen Dialoge Platons verwendet. Durch die Methode des elenchos führt Sokrates seine Gesprächspartner in die Aporie, in den Zustand, in dem sie ihre anfängliche Position negieren müssen, sich selbst widersprechen. »Die Methode des Sokrates überprüft nicht die Überzeugungen der Fragenden, sondern sucht nur die Unvereinbarkeit der Antworten zu erweisen.«50 In Bentivolio and Urania jedoch werden im Buch Elenchus auch richtige Antworten versprochen: »This Book is so call’d because it contains the Reproach of many Falshoods, and the Demonstration of several Important Truths« (II, 97).

Epikureische Bösewichter und neuplatonische Lichtgestalten Am Beispiel der Auseinandersetzung mit den fiktionalen Vertretern der epikureischen Philosophie lassen sich diese Veränderung der ästhetischen Vermittlungsverfahren und die Transformation des Wissens über die Antike im Verlauf der Narration vorführen. Im ersten Teil der romance ist das Buch Piacenza der Ort, an dem das Wissen über die antike Philosophie Epikurs seinen ersten Platz in der narrativen Struktur des Textes hat. This Country is call’d Piacenza; and most justly, for the Inhabitants count Pleasure their chief Good. They make account, that the Body is much better than the Soul, whose Seat they esteem to be the Belly. […] They assert the soul to be mortal […] and […] say openly that the name of God was invented by Fear. (I, 46)

Die epikureische Philosophie wird in dieser Einführung auf drei Elemente reduziert: auf das sinnliche Lustprinzip, dem die höhere Bedeutung des Körpers im Vergleich mit der Seele korrespondiert, auf die Negierung der Existenz immaterieller Substanzen und damit die Negierung der Existenz einer unsterblichen Seele und auf die Auffassung, dass Gott eine Erfindung der Furcht, d. h. dass Religion eine Folge des Aberglaubens sei. Ingelo stellt sich damit in die Tradition einer bereits in der Antike angelegten antiepikureischen Polemik, die sich vor allem an Epikurs Ablehnung der Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele entzündet und im Christentum Epikur als homo carnalis und Häretiker schlechthin ansieht, der die Weltordnung aufzulösen drohte.51 _____________ 50 DNP, s. v. »Widerlegung«, Bd. 12/2, Sp. 505. 51 Vgl. Erler (1994), 189.

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Erzähltechnisch hat diese Passage expositorische Funktion und führt am Beginn des Buches in den Zustand des beschriebenen Staates ein. Zwei Elemente der in der Einführung radikal verkürzt vorgestellten Philosophie werden in der anschließenden Episode in den Denk- und Handlungsweisen Hedonias, der Herrscherin von Piacenza, narrativiert und dramatisiert. Hedonia handelt allein nach dem Prinzip der sinnlichen Lust und führt ein luxuriöses Leben, umgeben von ihren Dienern Bevanda, einem Trinker, und Mangibella, einem Vielfraß, und den Hofdamen Schönheit, Schmeichelei, Vergnügen und Schande. Sie will Urania und Panaretus mit schönen Worten und zarten Berührungen verführen (I, 51). Urania jedoch versucht ihr bewusst zu machen, dass Hedonia durch ihr lasterhaftes Verhalten ihren Körper zu einem Gefängnis ihrer Seele macht, und dass ihre äußere Schönheit eigentlich mit einer inneren, seelischen Schönheit korrespondieren sollte. Hedonia antwortet auf die wohlmeinenden Ausführungen Uranias verächtlich und lässt sich nicht von Urania zu einem besseren Lebenswandel anleiten: Lady, you may preach your Doctrin to one that thinks she hath a Soul of that sort which you pretend to, but I have not; and I profess that I desire not to have any such, lest it should trouble me with these Vertuous Fancies of yours (I, 53).

Hedonia hält Uranias Konzept der Seele und der idealen Entsprechung von seelischer und körperlicher Schönheit für eine tugendhafte Phantasie, an die sie nicht glaubt. Auch würde sie sich eine solche Seele nicht wünschen, denn diese Seele könnte sie mit eben solchen Phantasien stören. Hedonia vertritt in ihrer Furcht davor, aus der Ruhe gebracht zu werden, die epikureische Position, dass ein gutes Leben sich u. a. durch Ungestörtheit auszeichne, durch ataraxia. Ihr Widerwille gegen eine mögliche Störung drückt sich in ihrer verbalen Reaktion durch den ungehaltenen Tonfall aus, mit dem sie Uranias Bemühungen als Predigen von Doktrinen bezeichnet. Als Urania und Hedonia gemeinsam einen Berg erklimmen müssen, um den auf dem Gipfel lebenden Einsiedler zu erreichen, stürzt sich Hedonia, der der Anstieg zu mühsam ist, von einer Klippe hinab in den Fluss der Versuchung und ertrinkt. Den Berg, der in dieser topischen Topographie der Allegorie auf zweiter Bedeutungsebene den Aufstieg zu Gott meint, besteigt Hedonia nicht, sie vollzieht nicht die Umkehr und Hinaufwendung zu Gott, sondern entscheidet sich für den Verbleib in der lasterhaft-sinnlichen Welt, erzähltechnisch und allegorisch zur Anschauung gebracht durch ihren freiwilligen Absturz in den Fluss der Versuchung (I, 53). Die theoretischen Elemente der epikureischen Philosophie, der Materialismus und die damit einhergehende Verneinung der aus christlicher Sicht orthodoxen Vorstellung einer immateriellen und unsterblichen Seele, ebenso wie die Maxime des guten, wenn ungestörten Lebens werden in ihren Auswirkungen im Verhalten der Vertreterin dieser Philosophie narrativ in der Allegorie veranschaulicht: Die einzig für ihr körperlich-sinnliches Vergnügen lebende Hedonia findet einen frühen Tod, weil sie die Anstrengung scheut, ein höheres Ziel – ein ewiges Leben in Gott – zu erreichen. Im Sinne der christlich-moralischen Didaxe wird eine direkte

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Verbindung zwischen antikem theoretischen Konzept und moralischer Praxis hergestellt, und die Konsequenzen dieser philosophischen Prämissen für das Leben des einzelnen und für das gesellschaftliche Zusammenleben werden am allegorisch zu deutenden Beispiel narrativ vorgeführt. Eine gesteigerte Variation der narrativen Ausgestaltung der Vertreter der epikureischen Philosophie erfolgt im zweiten Teil der romance. Der größenwahnsinnige, sich Gott ebenbürtig fühlende Antitheus ist ein Vertreter des atomistischen Materialismus und glaubt, dass die Welt durch zufälliges Zusammentreffen der Atome entstanden sei. Den Schöpfergott und die menschliche Willensfreiheit verneint er (II, 80–85). Sein Handlanger ist Dogmapornes, ein Vertreter der Meinungen einer Hure. Ingelo erklärt diesen Namen im Index mit dem Hinweis auf die Attischen Nächte des Aulus Gellius, in denen berichtet werde, dass der Platoniker Taurus die Lehrmeinungen Epikurs – dass die sinnliche Lust alles, die göttliche Vorsehung nichts sei – in ein Bordell verbannt hätte (II, The Table, »Dogmapornes«, Hh). In diesem Namen einer fiktiven Figur und den Erläuterungen wird also wiederum – belegt durch antike Quellen – der Zusammenhang zwischen Epikurs Lehrmeinungen und der moralischen Verwerflichkeit ihrer lebenspraktischen Konsequenzen lesbar. Gemeinsam mit seinem Anhänger Dogmapornes hat Antitheus den guten und rechtmäßigen König umgebracht, hält dessen Sohn Alethion gefangen, tyrannisiert die Einwohner des usurpierten Landes Theriagene, das erst jetzt – so bemerkt der Erzähler erklärend – zu Recht seinen Namen »degenerate beasts« trägt, und droht schließlich mit einem Angriff auf Theoprepria. In der Erzählung über Antitheus werden die im Vorwort an den Leser angekündigten, schwerwiegenden Folgen atheistischer Überzeugungen für die Gesellschaft narrativ durchgespielt:52 Durch den Umsturz der gottgegebenen Ordnung, durch Mord des Königs und Usurpation seines rechtmäßigen Platzes fordern die epikureischen Atheisten einen blutigen Krieg heraus, der jedoch mit dem Sieg der als christlich dargestellten Theopreprians über den Antigott endet. Gegenspieler des Antitheus ist der Held Alethion. Er wird im Text als ein vorbildlicher Prinz charakterisiert, der weise, gerecht, tapfer, besonnen und gläubig ist.53 Er entspricht in seiner Kombination aus körperlicher Anmut und geisti_____________ 52 »I would not have troubled my self with this sort of People, but that I judg’d it necessary to shew the Falshood of their Principles, and so to prevent the Contagion of those Errours which have a most pernicious Influence upon Human Life; for they tend directly to the Overthrow of Religion, the Destruction of Vertue, and to the Introduction of all bold Wickedness in the World.« Ingelo, B&U, II, Preface. 53 »Alethion was a Prince of lively Complexion, […] and Princely Carriage, of an obliging Conversation mix’d with Majesty. He had a quick Wit equall’d with a solid Judgement. He spake with facility, and delivered extraordinary Conceptions in most clear Expressions. Those Connate Notions of Truth, which God hath bestow’d as a natural Glory upon Rational Souls, did shine in his bright Intellect like fix’t Stars, unclouded with those ill-sented fumes of Lust which darken

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ger Gewandtheit und Schönheit dem Ideal des im Cortegiano Castigliones beschriebenen Renaissance-Höflings. Er ist so vorbildlich, dass er bald von aller Welt als »Prince of Philosophers« (II, 31) anerkannt werden wird: Alethion verkörpert das Ideal des weisen Herrschers, wie ihn Platon im Dialog Der Staat beschreibt.54 Alethion vereint in idealer Weise vita activa und vita contemplativa auf sich. So ist er auch in der lebensbedrohlichen Situation der Gefangenschaft zuversichtlich. Um seinen Seelenzustand in dieser gefährlichen Lage zu beschreiben, bedient er sich eines Vergleichs, den Plotin in seiner Schrift Die Glückseligkeit verwendet, um die auf sich selbst und auf das Eine, die höchste transzendente Entität gewandte, in sich ruhende Seele zu beschreiben:55 The Peace of my Soul shines clear within, and is no more clouded with this Disaster, then a Light which is guarded with a thick Lantern upon the stern of a Ship is in danger of being put out with those blustring winds which make a noise about it. (II, 51 f.)

Wie das Licht eines Schiffes in einer Laterne am Heck vor dem stärksten Unwetter geschützt ist, so strahlt Alethions Seele, der Teil, der sein Wesen ausmacht, trotz aller Anfechtungen in hellem Glanz, ohne von den äußeren Angriffen getrübt zu werden. In der Figur des Alethion verbindet Ingelo verschiedene Ideale: Einerseits ist er der christlich-heroische Held, andererseits der weise Philosophenkönig. Gleichzeitig liefert Ingelo mit Alethion seinen Lesern das Beispiel eines Mannes, der im Sinne Plotins glückselig ist. Ebenso wie für die Cambridge Platonists ist auch für Ingelo Plotin sowohl in seiner metaphysischen Spekulation als auch in seiner sittlichen Lebensführung ein beispielhafter Lehrer.56 Das gute Leben liegt für Plotin nicht im Wirken nach außen, sondern in der inneren Haltung und Zuständlichkeit der Seele.57 Diesen Zustand der Glückseligkeit, so legt die Darstellung im Text nahe, hat Alethion erreicht. Sein Zustand jedoch, und darauf weist Alethion ausdrücklich hin, ist nicht mit der stoischen Apathie zu verwechseln, denn »Virtue doth not stupifie Good men« (II, 50). Diese Selbstbeschreibung ist Teil des ausführlichen philosophisch-theologischen Gesprächs, das Alethion mit seinen Gefängniswärtern, dem zweifelnden Diaporon und dem die göttliche Vorsehung verneinenden Apronæus führt (II, 46– 67). In diesem Gespräch wird die auf antike Autoren und die zeitgenössische christliche Lehre gestützte Kritik am Epikureismus aus dem Vorwort zu Bentivolio and Urania wieder aufgegriffen und fortgeführt. Dabei bezieht sich die Argumentation Alethions vorwiegend auf Ciceros Darstellung der epikureischen Philo_____________ 54 55 56 57

wicked Minds. To this Light he added whatsoever may be gain’d from Experience enlarg’d with much conferences and great Reading.« Ingelo, B&U, II, 30 f. Vgl. Platon, rep., 473c–e, 503c–504a, 535a–d. Siehe dazu auch Hankins (2002), 378 f. Vgl. Plotin, Enneade I, 4, 8 1–6. Lutz Bergemann danke ich für seine hilfreichen Hinweise in allen Plotin-Fragen. Vgl. Cassirer (2002), 262. Vgl. Plotin, Enneade I, 5, 10.

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sophie in den Schriften De natura deorum und De finibus. Er nennt einige Figuren der ciceronischen Texte wie etwa den Epikureer Velleius in De natura deorum oder Metrodorus, Timocrates und die Prostituierte Leontium und folgt dem argumentativen Aufbau der Texte.58 Alethions Wissen über diese antike Philosophie ist also bereits ein vermitteltes, in diesem Fall durch Cicero. In der Vermittlung im neuen Kontext der romance wird dieses Wissen in polemischer Absicht verändert. So wird z. B. die Aussage bei Cicero, Epikur habe zentrale Elemente seiner Philosophie von Demokrit übernommen und fortgeführt, in Alethions Formulierung »borrow’d to say no worse« zugespitzt: Epikur wird des Plagiats, des geistigen Diebstahls bezichtigt. Nach dieser moralischen Diskreditierung widerlegt Alethion alle von seinen Gefängniswärtern geäußerten, epikureischatomistisch begründeten Einwände gegen die Vorsehung Gottes, die Materialität der Seele und die Unvernunft religiösen Glaubens. Die rhetorische Technik, die der Text vorführt, ist folgende: Apronæus und Diaporon formulieren ähnlich wie Velleius in Ciceros De natura deorum Fragen, die Alethion ausführlich beantwortet. Daraufhin präsentiert er seine eigene Position, gegen die dann wiederum Diaporon und Apronæus Einwände vorbringen. Auf die Fragen und Einwände der Anhänger des Epikur geht Alethion immer sehr ausführlich ein und widerlegt sie mit allen rationalen und theologischen Argumenten, die im 17. Jahrhundert einem christlichen Philosophen zur Verfügung stehen. Dieser Ablauf wiederholt sich mehrfach, bis den Gegnern die Fragen und Argumente ausgehen. Dieses diskursive Verfahren wird auch in den späteren Dialogen im Buch Elenchus angewendet. Es handelt sich hier weder um das Verfahren der frühen sokratischen Dialoge Platons, auf das der Titel Elenchus anspielt59 und mit dem der Befragte in die Aporie geführt wird, so dass er am Ende des Frage- und JaNein Antwortspiels nur weiß, dass er eigentlich noch gar nichts wusste, noch um eine dialogische Inszenierung von Meinungsvielfalt, sondern am Schluss des von Alethion geleiteten und dominierten Dialogs wird eine unhinterfragbare, philosophisch-theologisch begründete christliche Wahrheit präsentiert und von allen akzeptiert. Am Ende des Gesprächs bleibt dem einstmals die göttliche Vorsehung leugnenden und den Wahrheiten Alethions weniger aufgeschlossenen Apronæus nur noch sich zu fragen, ob er Alethions innere Ruhe und sein beispielhaftes Verhalten oder sein philosophisches Denken mehr bewundern soll.60 Alethions Erfolg, seine Gefängniswärter von ihren falschen Meinungen abgebracht und von der Vorsehung Gottes und seiner Tugendhaftigkeit überzeugt zu haben, zeigt sich auf der Handlungsebene der romance darin, dass sie zu seiner Rettung wesentlich _____________ 58 Vgl. Cicero, fin., 1, 14–17 und nat., 1,93 mit Ingelo, B&U, II, 63. 59 Vgl. DNP, s. v. »Widerlegung«, Bd. 12/2, Sp. 505. 60 »I cannot tell, said Apronæus, whether I should admire more his Wit or his Patience; but as I plainly perceive that a Prison is no restraint to his generous Soul, so I am made to believe that Vertue is the Foundation of his Courage, and that there is more Providence in the World than Dogmapornes doth acknowledg.«, Ingelo, B&U, II, 68.

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beitragen. So sorgen die beiden Gefängniswärter dafür, dass die von Apronæus konstatierte Unmöglichkeit, Alethions Seele durch ein Gefängnis zu beschränken, narrativ umgesetzt wird: Die beiden Wärter verhelfen dem unrechtmäßig Gefangenen zur Freiheit. Im Vergleich mit der ersten Epikureer-Episode, die von der Begegnung zwischen Hedonia und Urania handelt, wird in diesem Teil der Erzählung erzähltechnisch auf zwei Ebenen unterschiedlich verfahren: Zwar wird auch an letzterem Beispiel der Zusammenhang von philosophisch-theologischen Prinzipien und moralischem Handeln deutlich, aber beide Episoden zeigen unterschiedliche Epikureer: Hedonia, die sich nicht bekehren lässt, stirbt, während Apronæus und Diaporon sich überzeugen lassen und nachdem sie Alethions theoretisch-philosophische Prämissen anerkannt haben, moralisch richtig handeln. Während jedoch die Episode um Hedonia und Urania vorwiegend narrativ verfahren ist, wird die Auseinandersetzung zwischen Alethion und seinen Gefängniswärtern als ein schriftlich inszenierter philosophischer Dialog vorgeführt, der die philosophischen Positionen in ihrer grundlegenden Opposition durchspielt und am Ende einen christlich-neuplatonischen Konsens erzeugt.

Romanzenhelden und neuplatonische Philosopheme Während Alethion im Erzählzusammenhang von Bentivolio and Urania eine hervorragende Stellung als christlich-neuplatonischer Held besonders in der Auseinandersetzung mit den antik-zeitgenössischen Vertretern der Philosophie und Lebensführung Epikurs zukommt, so nehmen die titelgebenden Figuren Bentivolio und Urania in der Figurenkonstellation der romance eine Sonderstellung ein. Während Alethion die Gruppe der Wahrheitsliebenden und Mangibella die der Vielfraße exemplarisch vertritt und Agape die Tugend der Nächstenliebe und Hedonia die epikureische Wollust sprechend und handelnd personifizieren, so lassen sich Bentivolio und Urania über ihre Funktion als fiktionale Akteure und allegorisch-didaktische Figuren hinaus als sprachlicher Ausdruck christlichneuplatonischer Prinzipien lesen. Im Index wird folgende Erklärung ihrer Namen gegeben: Bentivolio here denotes Good will, from the Italian Bentivoglio. It is us’d by them for a proper Name; and so it is here for the Brother of Urania, i.e. Heavenly Light. By Celestial Wisdom and Divine Love the Soul passes happily through all states of this World to Immortal Perfections and Glories. (II, The Table, »Bentivolio«, Gg2v)

Bentivolio ist zum einen die literarische Figur, die den italienischen Eigennamen Bentivolio trägt und die als Bruder von Urania in der Erzählung auftaucht. Dieser italienische Vorname kann auch als »ben ti voglio« – ich will Dir Gutes, gelesen werden. Auf zweiter Bedeutungsebene steht Bentivolio für die Göttliche Liebe, Urania, die fiktionale Schwester, für die Himmlische Weisheit. Durch die Himmlische Weisheit und Göttliche Liebe, die Urania und Bentivolio personifizieren,

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reist die Seele glücklich durch alle Stationen der hiesigen Welt hin bis zur strahlenden Unsterblichkeit – bis in die jenseitige Welt.61 Versteht man die Attribute in »Divine Love« und »Celestial Wisdom« als Stellvertreter für einen Genitiv, also für »of God« und »of Heaven«, so bieten sich als zwei Lesarten sowohl der Genitivus subjectivus als auch der Genitivus objectivus an. Damit bezeichnen »Divine Love« und »Celestial Wisdom« zum einen die Liebe und Weisheit Gottes, die von Gott aus auf den Menschen wirkt, zum anderen ist es die Liebe, die die Menschen Gott als dem Objekt ihrer Liebe durch Verehrung entgegenbringen. Darüber hinaus verweisen »Divine Love« und »Celestial Wisdom« aber auch auf die Formen der menschlichen Liebe und Weisheit, die an der göttlichen teilhaben, die ihrer Art nach so wie die Liebe und Weisheit Gottes sind, also in einem Teilhabe- und Ähnlichkeitsverhältnis stehen. Durch die Liebe Gottes, die von Gott kommend im Menschen ist und wirkt, wendet sich der Mensch durch seine Liebe, die wie die göttliche ist, auf Gott als Objekt der Liebe und wird ihm so immer ähnlicher. Diese komplexe Struktur und Bedeutungsvielfalt, die in dem einen Ausdruck »Divine Love« lesbar wird, entspricht der doppelten Wirkstruktur zwischen dem Einen und der Seele in der Philosophie Plotins: Das Eine, die höchste transzendente Entität wirkt über den Geist hinab in die Seele, und umgekehrt strebt die Seele auf das Eine hin, das gleichzeitig ihr Ursprung ist und dem sie in der Aufstiegsbewegung als einer Rückkehr zu diesem Ursprung immer ähnlicher wird.62 In der christlich harmonisierten Version Marsilio Ficinos liest sich diese doppelte Bewegung am Ende des Kommentars De amore zum platonischen Symposion folgendermaßen: Beten wir darum Freunde, die göttliche Liebe an, welche sich uns huldvoll und gnadenreich erweist, gleichwie wir der höchsten Weisheit heilige Ehrfurcht entgegenbringen und mit Bewunderung und Furcht der höchsten Macht uns beugen wollen, auf dass durch die Liebe uns der Gottheit volle Gnade zuteil werde und dass wir einst die Gottheit, die wir mit aller Inbrunst lieben, mit ewiger Liebe ganz genießen mögen.63

Die Namen der Titelfiguren des fiktionalen Textes Bentivolio and Urania erinnern den Leser so an die Ideen im Geist Gottes, die sich im Menschen abbilden. So sind in den Namen der Figuren Bentivolio und Urania himmlische Weisheit und göttliche Liebe in ihrer menschlichen und göttlichen Form präsent. Weltliches und Göttliches kommen gleichermaßen zum Ausdruck. In den Namen Bentivolio und Urania werden die zentralen metaphysischen Prinzipien der christlich-neuplatonischen Philosophie lesbar. Gleichzeitig wirkt die göttliche Liebe und himmlische Weisheit im Handeln der Geschwister Bentivolio und Urania in ihrem vorbildlichen Verhalten auf ihrer Reise durch die erzählte Welt. _____________ 61 Vgl. Plotin, Enneade III, 5, 9, 30. 62 Plotin, Enneade V, 1. Siehe dazu Halfwassen (2004), 38–43 und 135–141. 63 Ficino, De amore, VII, 17.

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So vermittelt Nathaniel Ingelo in seiner populären philosophischen romance Bentivolio and Urania zu allererst Wissen über christlich-neuplatonische Standpunkte. Grundlegende Elemente dieser Position werden von den handelnden Figuren der Erzählung als vernünftig begründete Glaubensinhalte vorgetragen und als moralisches Handlungswissen praktisch angewendet. Dieses christliche Wissen ist mit dem Wissen über die Antike eng verbunden. Im Verlauf des Textes – vom Vorwort bis zur abschließenden Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele – werden Inhalte antiker Philosophien im Sinne der christlichen Didaxe diskutiert, moralisch bewertet und auf ihre Anwendung in einer christlichen Gesellschaft geprüft. Die Philosophie Platons und der antiken Neuplatoniker präsentiert Ingelo dem Leser vor dem Hintergrund des Renaissance-Neuplatonismus als proto-christliche Philosophie. Die u. a. durch Cicero vermittelte Philosophie Epikurs wird als nicht mit den christlichen Glaubensinhalten und moralischen Grundsätzen übereinstimmend dargestellt. Sie wird als Gegenbeispiel und Feindbild mit allen Mitteln, die innerhalb einer fiktiven Erzählung zur Verfügung stehen, kritisiert und widerlegt. Für die scharfe Kritik der einen und das Lob der anderen antiken Philosophie bildet die romance den literarischen Rahmen, innerhalb dessen die Vertreter der epikureischen Philosophie als Atheisten dargestellt werden, die es entweder zu vernichten oder von der Wahrheit zu überzeugen gilt. Die christlichen Helden mit neuplatonischen Überzeugungen besiegen die atheistischen Feinde auf beiden Ebenen des Textes: zum einen im fiktiven Kampfgeschehen der romanzenhaften Erzählung, zum anderen in der philosophischen Auseinandersetzung über abstrakte Konzepte, die hinter der romanzenhaften Handlung liegt und durch sie zum Ausdruck gebracht wird. Dabei entspricht die inhaltliche Anordnung der einzelnen Bücher der Erzählung der Aufstiegsbewegung der platonischen periagôgê, als Abwendung vom weltlich-materiellen hin zum himmlisch-geistigen, von Argentora nach Higher Theoprepria. Mit dieser inhaltlichen Entwicklung geht eine Veränderung der Erzählform einher: von einer handlungsreichen romance mit gelegentlich eingeschobenen Musterreden hin zu einem philosophischen Lehrbuch mit romanzenhaften Einwürfen. Je abstrakter und metaphysischer die Themen werden – von den Gefahren der sinnlichen Lust zur Unsterblichkeit der immateriellen Seele – desto diskursiv-lehrhafter werden die Darstellungsformen. In der didaktisch-moralischen Absicht dieses Beispiels christlich-neuplatonischer Erbauungsliteratur werden so zwei Antiken konstruiert: die eine, die das Christentum fast schon mitgedacht hat, und die andere, deren atheistische Vertreter auch im 17. Jahrhundert wiederaufleben und die Ordnung der christlichen Welt in Frage stellen. So lässt sich die zeitgenössische christlich-philosophische Position als eine in einer langen Tradition verankerte lesen. Das Wissen um diese Tradition dient der Erbauung der Leser, ihrer Festigung in ihrem christlichmoralischen Handeln. Das für die romance kennzeichnende Erzählmuster von Ausfahrt, Bewährung und Rückkehr greift Ingelo für seine Erzählung der Reise von Bentivolio und Urania auf und endet nicht nur mit einer den Konventionen der romance entsprechenden Hochzeit, sondern auch mit der Heimkehr und dem

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Aufstieg Bentivolios und Uranias nach Higher Theoprepria. Der durch Selbsterkenntnis und tugendhaftes Verhalten für jeden Leser möglich erscheinende christlich-platonische Aufstieg wird in den romanzenhaften Geschichten der beispielhaften Protagonisten erzählt und dem sich in der Lektüre philosophisch bildenden Leser, der durch den poetischen Schleier hindurch blickend die christliche Wahrheit erkennt, zur Nachahmung vorgeführt.

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Historismus: Ausdifferenzierung und Eklektizismus im »Jahrhundert der Archäologie«

»Belehrende Unterhaltung«: Altertumskundliches Wissen im antiquarisch-philologischen Roman MARTIN DÖNIKE

»Meine Altertumslehre ist ein philologischer Roman.« (Friedrich Schlegel, Fragmente zur Poesie und Literatur)

I. Unter den literarischen Formen, in denen Wissen und Ästhetik im 19. Jahrhundert zu einer genuinen Verbindung gefunden haben, kann der historische Roman sicher als eine der prominentesten und zugleich erfolgreichsten gelten: Wissen über die Geschichte wird hier in eine Erzählung transformiert, die – zumindest ideell – ganz anderen, nämlich künstlerischen, Gattungsgesetzen als die Geschichtsschreibung folgt.1 Für historische Romane, die eine Geschichte aus der Antike erzählen und deren Verfasser dabei die von der Archäologie zu Tage geförderten materiellen Zeugnisse der Antike verarbeiten, hat sich in der Literaturwissenschaft der Begriff des Antikeromans bzw. des »archäologischen Romans« etabliert.2 Als »erster archäologischer Roman« in diesem Sinne gilt gemeinhin Edward Bulwer-Lyttons 1834 erschienener Roman The Last Days of Pompeii, ein großer Publikumserfolg des 19. Jahrhunderts, der in dramatischer Form die letzten Tage Pompejis vor dem Vesuvausbruch im Jahre 79 nach Christus schildert, sich dabei aber immer wieder die Zeit und den Raum nimmt, gelehrte Exkurse beispielsweise zum pompejanischen Haus oder zu den Utensilien im »Schminkzimmer einer pompejanischen Schönen« einzuschieben.3 _____________ 1 2 3

Zum spannungsreichen Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert siehe etwa Kruse (1982) sowie Fulda/Tschopp (2002). Siehe Müller (1929); Mielsch (1980), 378. Eine materialreiche Ausgabe des Werkes, die neben den Anmerkungen Bulwer-Lyttons auch die Widmung an den Archäologen Sir William Gell und das ungekürzte Vorwort der Erstausgabe enthält, wurde in deutscher Übersetzung von Günther Jürgensmeier herausgegeben: BulwerLytton, Die letzten Tage von Pompeji. Eingeschobene gelehrte Abhandlungen bzw. Beschrei-

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Im Vorwort zu seinem Roman hat Bulwer-Lytton selbst auf die grundsätzliche Schwierigkeit hingewiesen, eine Geschichte aus einer Zeit zu erzählen, mit der den Leser, anders als etwa mit dem Mittelalter, »keine heimische Beziehung« und »kein verwandtschaftliches Gefühl« (»no household and familiar associations«) verbinde: Der Glaube dieser überlebten Religion, die Bräuche dieser untergegangenen Zivilisation bieten nur wenig, was unseren nordischen Begriffen heilig oder auch nur anziehend erscheint. Außerdem sind uns beide durch Pedanterie der Schule, die uns zuerst mit ihnen bekannt gemacht hat, verleidet worden und deshalb mit der Erinnerung an Studien verknüpft, die uns als Schularbeit aufgezwungen, nicht aber zum Vergnügen betrieben wurden.4

Die »Hauptschwierigkeit bei der Beschreibung einer fremden, fernen Zeit« wie insbesondere der Antike, liege indes – und hier kommt Bulwer-Lytton auf das spezifische Verhältnis von Wissen und Ästhetik zu sprechen – darin, bei aller Genauigkeit der Darstellung »die vorgeführten Personen auch wirklich vor dem Auge des Lesers leibhaftig ›lebend und webend‹ erstehen zu lassen« (»to make the characters introduced ›live and move‹ before the eye of the reader«): Alle Versuche, Gelehrsamkeit zu entfalten, sollten daher nur als untergeordnete Mittel angesehen werden, die dem Haupterfordernis der Phantasie lediglich zu Hilfe kommen dürfen. Die höchste Kunst des Dichters (des Schöpfers) besteht darin, seinen Schöpfungen den Lebensodem einzuhauchen, die nächste, ihre Sprache und Taten der Zeit anzupassen, in der sie sprechen und handeln. Dieser letztere Kunstzweck wird vielleicht umso besser erreicht, je weniger man dem Leser die Kunst selbst vor Augen führt, das heißt, indem man vermeidet, die Seiten mit Zitaten und den Rand mit Anmerkungen anzufüllen. Ständige Hinweise auf gelehrte Autoritäten sind bei Werken der Phantasie ebenso ermüdend wie anmaßend. Sie sehen aus wie Lobsprüche des Verfassers auf seine eigenen Genauigkeit und Gelehrsamkeit, sie helfen nicht, seine

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bungen Bulwer-Lyttons finden sich hier etwa auf den Seiten 25–32 (Beschreibung der Häuser von Pompeji im Allgemeinen und des Hauses des Glaucus im Besonderen [mit explizitem Verweis auf Gells zweibändige Pompeiana]); 85–89 (»Das heitere Leben eines pompejanischen Müßiggängers«), 89–97 (»Ein Miniaturbild der römischen Bäder«); 116 f. (»Eine Spelunke in Pompeji«); 200–202 (»Das Forum der Pompejaner«); 259–262 (»Das Schminkzimmer einer pompejanischen Schönen«); 310–316 (»Gastgeber, Koch und Küche in antiker Zeit«); 326–341 (»Eine vornehme Gesellschaft und ein Diner à la mode in Pompeji«); 385–394 (»Ein antikes Begräbnis«, mit Verweis auf das 1831/32 erschienene Pompeji-Werk von George Clarke); 473– 495 (»Das Amphitheater«, dto.). Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeji, 548. Im englischen Original: »The creed of that departed religion, the customs of that departed religion, the customs of that past civilisation, present little that is sacred or attractive to our northern imagination; they are rendered yet more trite to us by scholastic pedantries which first acquainted us with their nature, and are linked with the recollection of studies which were imposed labour, and not cultivated as delight.« (Bulwer-Lytton, The Last Days of Pompeii, VIII) Doch habe er, so Bulwer-Lytton weiter, dieses Problem dadurch zu lösen versucht, dass er aus dem vorliegenden reichen Material gerade dasjenige ausgewählt habe, was dem modernen Leser am wenigsten fremd vorkomme und »noch manches Interessante für die Gegenwart« biete (ebd.).

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Ideen in ein helleres Licht zu setzen, sondern paradieren bloß mit seiner Gelehrsamkeit. Die einzige Gelehrsamkeit, die ein Werk dieser Art erfordert, ist vielleicht der intuitive Geist, der antiken Bildern antiken Gehalt einzuflößen versteht. Ohne diesen Geist wirkt alles pedantisch und abstoßend; mit ihm ist alle Pedanterie überflüssig.5

Für Bulwer-Lytton, das dürfte deutlich sein, hat sich das Wissen über die Antike der ästhetischen Form unterzuordnen: Gelehrsamkeit soll allenfalls dazu dienen, der Phantasie auf die Sprünge zu helfen, auf keinen Fall jedoch soll sie als ideenlose Pedanterie die Oberhand gewinnen. Weniger deutlich dürfte indes sein, gegen wen oder was Bulwer-Lytton hier eigentlich polemisiert: Denn gelehrte Abhandlungen und rein wissenschaftliche Werke wie etwa die von ihm zu Rate gezogenen und in den Roman auch eingearbeiteten Werke des Archäologen Sir William Gell6 dürfte er wohl kaum im Sinn gehabt haben. Was aber dann? Die Antwort findet sich in der Fußnote zu einem von Bulwer-Lytton in späteren Ausgaben bezeichnenderweise gestrichenen Abschnitt des Vorwortes. Dem nicht uneitlen Hinweis darauf, dass ihm, wenn es ihm gelungen sein sollte, »einer Schilderung antiker Sitten und einer Erzählung aus antiker Zeit einiges Interesse und Leben einzuhauchen«, etwas gelungen sei, an dem alle Autoren vor ihm gescheitert seien,7 schließt sich die folgende Anmerkung an, die nun endlich den ›Gegner‹ nennt, von dem er sich so vehement abgrenzen zu müssen glaubt: Es ist der antiquarisch-philologische Roman des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts,8 für den hier stellvertretend die von dem französischen Abt Jean_____________ 5

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Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeji, 550. Im englischen Original: »[…] all attempts at the display of learning should be considered but as a means subservient to this, the main, requisite of fiction. The first art of the Poet (the Creator) is to breathe the breath of life into his creatures – the next is to make their words and actions appropriate to the era in which they are to speak and act. This last art is, perhaps, the better effected by not bringing the art itself constantly before the reader – by not crowding the page with quotations, and the margin with notes. Perpetual references to learned authorities have, in fiction, something at once wearisome and arrogant. They appear like the author’s eulogies on his own accuracy and his own learning – they do not serve to elucidate his meaning, but to parade his erudition. The intuitive spirit which infuses antiquity into ancient images is, perhaps, the true learning which a work of this nature requires – without it, pedantry is offensive; with it, useless.« (Bulwer-Lytton, The Last Days of Pompeii, X f.). Etwa William Gell, Pompeiana. A Topography of Edifices and Ornaments of Pompeii, London 1817–1819 (2. Aufl. 1832). Zu den von Bulwer-Lytton benutzten Quellen (u. a. Alkiphron, Athenaios, Vitruv) und der von ihm eingearbeiteten wissenschaftlichen Literatur (neben Gell u. a. William Clarkes zweibändiges Pompeji-Werk von 1831/1832, Gibbon, d’Arnay) siehe die Angaben von Jürgensmeier in Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeji, 576 f. Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeji, 552 (»that if I have succeeded in giving some interest and vitality to a description of classic manners and to a tale of classical age, I have succeeded where all hitherto have failed«; Bulwer-Lytton, The Last Days of Pompeii, XIII). Die hier vorgeschlagene, bislang nicht etablierte Gattungsbezeichnung ›antiquarisch-philologischer Roman‹ soll dazu dienen, ein Phänomen genauer einzugrenzen, das bisher weder in Literaturwissenschaft noch Archäologie genügend Beachtung gefunden hat: ›Antiquarisch‹ sind die hierunter zu fassenden Texte aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit den materiellen Über-

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Jacques Barthélemy verfasste, zunächst vier-, dann sogar siebenbändige Voyage du jeune Anacharsis en Grèce, dans le milieu du IVe siècle avant l’ère vulgaire von 1788 steht: Sein ›Anacharsis‹ ist ein Werk von bewundernswerter Geschicklichkeit, Ausdauer, Eleganz und Forschung, aber es ist kein Leben darin! Zwar gibt sich dieses Werk nicht als Roman aus, aber selbst als fingierte Reisebeschreibung erscheint es pedantisch und langweilig. Äußerliche Gelehrsamkeit [external erudition] trifft man zwar im Überfluß, aber der innere Geist [the inward spirit] fehlt. Der Wein des Alterthums hat den Verfasser nicht erheitert, aber er hat eine erstaunliche Menge von Flaschenetiketten angesammelt. ›Anacharsis‹, sagt Schlegel so treffend und geistreich, ›sieht die Dinge auf seinen Reisen nicht wie ein junger Skythe, sondern wie ein alter Pariser.‹ Genau, und zwar wie ein Pariser, der in uns die Vorstellung erweckt, daß er überhaupt niemals gereist ist, außer vielleicht in seinem Lehnstuhl! Denjenigen, die den ›Valerius‹ von Mr. Lockhart für eine Ausnahme halten, steht es natürlich frei, das zu tun. […] Ich begnüge mich damit festzustellen, daß […] ihm meiner (wahrscheinlich inkompetenten) Ansicht nach die Lebendigkeit und das Interesse abgehen, das ich im Text angesprochen habe. Ich bin eigentlich nicht qualifiziert, über Wielands ›Erzählungen‹ zu urteilen. Ich glaube, sie kommen den Erfordernissen antik-historischer Werke näher, als die aller anderen Autoren. Und doch, ich sage das mit großem Respekt, kommen sie mir ein wenig langatmig und schwerfällig vor.9

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resten der Antike (Architektur, Skulptur, Malerei, Gebrauchsgegenstände etc.), ›philologisch‹ aufgrund ihres Zugriffs auf die textuelle Überlieferung. Während sich ihr wissenschaftlicher Charakter v. a. in den Anmerkungen und Exkursen dokumentiert, so zeigen sie romanhafte Züge in der schöpferischen Verknüpfung der wissenschaftlichen Fakten zu einer fiktionalen Erzählung, die mehr bietet als »Historiographie in gefälliger Form«. – Hinweise auf den ›antiquarisch-philologischen Roman‹ finden sich bei Faries (1923), 62–73; Lukács (1965), 298 f.; Dahl (1973), 2 f.; Riikonen (1978), 59–68; Mielsch (1980), 394 f.; Maler (1991). Naschert (2007) spricht dagegen vom »enzyklopädisch angelegten« »Wissensroman«. Auf etwas gänzlich anderes, nämlich den »roman des mots dans le roman«, zielt dagegen der von Philipp Dufour eingeführte Begriff des »roman philologique« (Dufour [2004], 20, 23). – Zu Fußnoten im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts siehe Eckstein (2001), besonders 37–39, 115–171. Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeji, 553 (»His Anacharsis is a work of wonderful ability, labour, elegance, and research. But there is no life in it! It does not, to be sure, profess to be actually a romance; but even as a book of Imaginary travels, it is formal and tedious. The external erudition is abundant, but the inward spirit is wanting. He has not been exhilarated by the wine of antiquity, but he has accumulated a prodigious quantity of labels. ›Anacharsis‹, says Schlegel, well and wittily, ›views things, in his travels, not as a young Scythian, but as an old Parisian!‹ Yes, and as a Parisian who never gives you the notion that he has travelled at all – except in an arm-chair! They who think the Valerius of Mr. Lockhart an exception, are of course at liberty to do so. […] I content myself with stating that, to my (probably incompetent) judgement, it wants the vitality and interest to which I have referred in the text. I am not competent to judge properly of Wieland’s Tales, – I believe they approach nearer to the requisites of Classic Fiction than those of any other author; but still (I say it with great respect) they seem to me a little tedious and dull.«; Bulwer-Lytton, The Last Days of Pompeii, XIII f.) Hinsichtlich der von Bulwer-Lytton zitierten Bezeichnung Barthélemys als »old Parisian« ist zu bemerken, dass sowohl August Wilhelm als auch Friedrich Schlegel in altertumswissenschaftlichen Zusammenhängen immer wieder gerne auf den Anacharsis zurückgegriffen haben, vgl. etwa Schlegel, Kri-

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Soweit Bulwer-Lyttons vernichtendes Urteil über einen der größten Bucherfolge des ausgehenden Ancien Régime, dem er, wo er schon dabei ist, gleich noch eine Kritik des bereits 1821 erschienenen Valerius-Romans seines Zeitgenossen John Gibson Lockhart (»it wants the vitality and interest«) sowie der Erzählungen Christoph Martin Wielands (»a little tedious and dull«) folgen lässt.10 Wie gesagt hat Bulwer-Lytton diese Passage aus späteren Ausgaben der Last Days gestrichen und damit nicht nur den Hinweis auf die unmittelbaren Vorläufer seines Romans getilgt, sondern zugleich auch die Erinnerung an die historischen Voraussetzungen des »archäologischer Romans« überhaupt. Demgegenüber ist es die Absicht der folgenden Ausführungen, die von dem literarischen Vulkanausbruch Bulwer-Lyttons sozusagen verschüttete Gattung des antiquarisch-philologischen Romans wieder auszugraben, um sie als einen – wenn auch nur für gewisse Zeit – äußerst erfolgreichen Versuch zu präsentieren, das seit den Zeiten Winckelmanns rasant angewachsene Wissen über die Antike einem breiten Publikum in ästhetisch eingängiger Form zu vermitteln. Neben Barthélemys bereits erwähnter Voyage du jeune Anacharsis (dt. 1789–1791), die als Muster und Gründungsurkunde des antiquarisch-philologischen Romans gelten kann,11 werden dabei heute zumeist vergessene Werke zur Sprache kommen, darunter Carl August Böttigers Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin (1803), François Mazois’ Le Palais de Scaurus, ou description d’une maison romaine (1819, dt. 1820) sowie die beiden 1838 und 1840 als Beiträge zur genaueren Kenntnis des römischen bzw. griechischen Privatlebens erschienenen Bände Gallus und Charikles von Wilhelm Adolph Becker.

_____________ tische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 23, 184, 250, 452, 477. Auch Goethe sollte noch im April 1825 in seinem Tagebuch die Lektüre der »Reisen des Anacharsis, bezüglich auf den Peloponnes« vermerken (Goethe, Werke, Abt. III. Bd. 10, 41). 10 Zu Lockhart, dem Schwiegersohn Walter Scotts (weshalb sich Bulwer-Lytton wohl einer ausführlicheren Kritik enthält), und seinem Valerius-Roman siehe Faries (1923), 31 f.; Macbeth (1935), 14–17; Riikonen (1978), 26. Dass Wielands Werke, zu nennen wären neben seiner Geschichte des Agathon (1766/67 und 1794) etwa Peregrinus Proteus (1791), Agathodämon (1799) und der Aristipp (1801/02), Bulwer-Lyttons Ideal antik-historischen Erzählens näher kommen, dürfte an Wielands keineswegs antiquarischem, sondern vielmehr spielerischem Umgang mit den Fakten liegen. Siehe dazu Müller (1971), 17 f., 32–45, 121–135. 11 Vgl. Mielsch (1980), 394. Explizit als »Roman« wird der Anacharsis übrigens bereits in der Vorrede des deutschen Übersetzers bezeichnet: »Aber ein Werk, welches seiner ganzen Bestimmung gemäß, auf die strengsten Thatsachen der Geschichte gebauet sein soll – in einen Roman einzukleiden? Man wird aufhören zu fragen, wenn ich sage, daß in dem ganzen Roman eigentlich nichts Roman ist, als daß der junge Scythe reist. Was er sieht, hört, erzählt – alles, bis auf den Namen des Gastwirths, bey welchem er sich aufhält, bis auf den Becher, aus welchem er trinkt, ist Geschichte, ist strenge Thatsache.« (Barthélemy, Reise des jungen Anacharsis, Bd. 1, VIII).

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II. Alle genannten Werke, denen sich etwa Louis Charles Dezobrys 1835 erschienenes vierbändiges Werk Rome au siècle d’Auguste, ou voyage d’un Gaulois à Rome an die Seite stellen ließe,12 haben gemeinsam, dass ihre Verfasser nicht eigentlich Romanschriftsteller, sondern in erster Linie gelehrte Antiquare, Archäologen oder Philologen, kurz: Altertumswissenschaftler waren, die sich des Romans als eines spezifischen Mediums der Wissensvermittlung bedienten: So war Barthélemy (1716–1795) Leiter des Pariser Münzkabinetts, Verfasser mehrerer antiquarischer Abhandlungen und seit 1789 Mitglied der Académie Française.13 Als zunächst Schuldirektor in Guben, Bautzen und Weimar veröffentlichte der klassische Philologe Böttiger (1760–1835) seit den 1780er Jahren zahlreiche Schriften zur Altertumskunde und sollte 1814 zum Oberaufseher der Antikensammlung in Dresden ernannt werden.14 Der gelehrte Architekt Mazois (1783–1827) gab seit 1812 das erste groß angelegte Werk zu Architektur und Städtebau in Pompeji (Les Ruines de Pompéi) heraus.15 Der klassische Philologe und Archäologe Becker _____________ 12 Eine deutsche Übersetzung von Dezobrys Werk erschien bereits 1837/1838 in Leipzig unter dem Titel Rom im Jahrhunderte des Augustus; eine Teilausgabe wurde 1848 in Stuttgart veröffentlicht, deren Titel Anacharsis à Rome unmissverständlich auf Barthélemy zurückweist. Wie die anderen hier behandelten Autoren war Dezobry (1798–1871) kein Schriftsteller, sondern Historiker und Archäologe; 1829 gründete er eine Verlagsbuchhandlung klassischer, für den Schulgebrauch bestimmter Werke; gemeinsam mit Théodore Bachelet gab er 1857 u. a. ein zweibändiges Dictionnaire général de biographie et d’histoire, de mythologie, de géographie ancienne et moderne comparée, des antiquités et des institutions grecques, romaines, françaises et étrangères heraus. – Eine Sonderstellung nehmen dagegen Werke wie Pierre-Jean-Baptiste Chaussards Fêtes et courtisanes de la Grèce (1801) und sein Héliogabale (1802) sowie Jean Charles Léonard de Sismondis Julia Sévéra (1822) ein, die hier nicht berücksichtigt werden können, obwohl auch sie zeitgenössisches Wissen über die Antike in literarischer Form vermitteln. Zu Sismondis Julia Sévéra siehe Coulet (1988). 13 Zu Barthélemy siehe die grundlegende Studie von Badolle (1926) sowie Klemperer (1958), Silver (1990) und Ungefehr-Kortus (1996), 240–256, zuletzt Naschert (2007), der den Anacharsis in den Kontext der Historia literaria stellt. Unter seinen antiquarischen Werken finden sich beispielsweise Réflexions sur l’alphabet et la langue de Palmyre (1754), Réflexions sur quelques monuments phéniciens (1758) oder eine Explication de la mosaique de Palestrine (1760); vgl. seine Œuvres complètes. 14 Böttiger hatte von 1778–1781 klassische Philologie und Theologie in Leipzig studiert; 1784 wurde er Rektor des Lyceums in Guben, 1790 Gymnasialdirektor in Bautzen und 1791, durch Vermittlung Herders, Direktor des Gymnasiums in Weimar; ab 1804 lebte er in Dresden, wo er, neben seiner umfangreichen journalistischen Tätigkeit, zunächst Studiendirektor des Pageninstituts, sodann (ab 1814) auch Oberinspektor der Altertumsmuseen und Studiendirektor der Ritterakademie war. Eine mehrere hundert Titel umfassende Bibliographie seiner Schriften findet sich in Böttiger, Kleine Schriften, Bd. 1–3. Zu Böttiger als Popularisierer der Archäologie vgl. Schmidt-Funke (2006), 85–124 sowie Sternke (2008), zu seiner Rolle als Vermittler zwischen Bühne, Altertumsforschung und Roman siehe Agazzi (2000). 15 Zu Leben und Werk Mazois’ siehe die »Notice« des Chevalier Artaud in Mazois, Ruines, Bd. 4, I–VI; Lance (1872), Bd. 2, 125–128. Zu den Ruines de Pompéi siehe Mannsperger/Migl (1998),

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(1796–1846) schließlich war seit 1836 Professor der klassischen Altertumswissenschaft an der Universität Leipzig und u. a. Begründer des nach seinem Tod von Joachim Marquardt und Theodor Mommsen fortgesetzten Handbuchs der römischen Alterthümer.16 Zu den konstitutiven Elementen der von ihnen verfassten, zum Teil sehr umfangreichen Werke gehören die fiktionale Erzählung, das heißt der Romantext, entweder in Form eines Reiseberichts bzw. eines Tagebuchs oder aber in Form einer Reihe von Szenen und Bildern, die von einem Erzähler geschildert werden; sodann ein philologischer Anmerkungsapparat, der die Fiktion mit Fakten unterfüttert; schließlich gelehrte Exkurse und Abhandlungen, die entweder den einzelnen Romankapiteln folgen oder aber sich am Ende des Buches versammelt finden. Nicht zuletzt gesellen sich dazu Indices und Kupferstichtafeln mit Abbildungen der im Text besprochener Gegenstände und Orte. Historisch und geographisch situiert sind die Schilderungen einerseits im Griechenland des vierten Jahrhunderts vor Christus (Barthélemy, Beckers Charikles), andererseits im Rom des ersten Jahrhunderts vor bzw. nach Christus, d. h. zu Ende der Republik respektive zu Anfang der Kaiserzeit (Mazois, Böttiger, Dezobry, Beckers Gallus). Barthélemys Werk, in dem er einen jungen Skythen die Erlebnisse und Erfahrungen schildern lässt, die dieser in der Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus auf einer fiktiven Reise durch Griechenland macht, ist die Frucht einer drei Jahrzehnte währenden Arbeit. Den Plan dazu hatte der Historiker, Numismatiker und Philologe in Rom gefasst, wo er sich von 1755 bis 1757 aufhielt;17 veröffentlicht wurde das Werk 1788, also nur ein Jahr vor der Französischen Revolution, während der es zu einem wahren Bestseller avancierte und seinem Autor während der Terreur sogar den Kopf retten sollte.18 Der gewaltige Umfang des Vorhabens _____________ 79–81, zum Palais de Scaurus ebd., 110 f. sowie Steiner (2005), 201–205; Mascoli et al. (1981), 31–37. 16 Becker war Sohn des Inspektors der Dresdener Antikengalerie Wilhelm Gottlieb Becker, der u. a. das dreibändige Galeriewerk Augusteum, Dresden’s antike Denkmäler enthaltend (Leipzig 1804–1811) herausgegeben hatte. Wie Böttiger hatte der junge Becker zunächst Schulpforta besucht und sodann klassische Philologie und Theologie in Leipzig bei Christian Daniel Beck, Friedrich August Spohn und Gottfried Hermann studiert. Siehe Allgemeine deutsche Biographie (1875–1912), Bd. 2, 229–231. Letzterem widmete er seinen Charikles: »Dem tiefen Kenner/ griechischer Volksthümlichkeit/Herrn/Gottfried Hermann/der Theol. u. Philos. Dr., Senior der Universität u. ord. Professor der Poesie u. Beredsamk., des Königl. Sächs. Civil-Verdienst-/ Ordens Comthur u.s.w./als Zeichen/der dankbarsten Verehrung und Liebe/vom Verfasser.« – Einen Schwerpunkt seiner Forschungen bildeten die römischen Komiker, wobei er zur Erläuterung der Texte immer wieder auf archäologische Funde zurückgriff. Bis zu seinem Tod konnte er die Bände 1 und 2 (in zwei Teilbänden) des Handbuchs der römischen Alterthümer fertig stellen. 17 Angeregt durch seinen Aufenthalt in Italien hatte Barthélemy ursprünglich ein Werk über die Renaissance zur Zeit Papst Leo X. schreiben wollen, dem er, wie dem Anacharsis, die Form eines fiktiven Reiseberichts zu geben gedachte. Siehe dazu Badolle (1926), 228. 18 Zum wahrhaft revolutionären Erfolg des Anacharsis siehe Badolle (1926), 231, der das zeitgenössische Urteil Lalandes zitiert: »Toute la France était occupée des idées politiques et des

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ergibt sich bereits aus dem Itinerar und der Dauer der Reise: Denn tatsächlich lässt Barthélemy seinen Anacharsis 27 Jahre lang, von 363 bis 337 v. Chr., durch ganz Griechenland (vgl. Abb. 1), mit Abstechern nach Ägypten und Kleinasien, reisen und dabei mit zahlreichen berühmten Personen wie etwa Platon, Aristoteles und Xenophon zusammentreffen. Der Blick des Fremden, hier des reisenden ›Barbaren‹, auf die ihm unbekannte Kultur, spätestens seit Montesquieus Lettres Persanes (1721) eine beliebte literarische Fiktion, bietet Barthélemy den Vorwand dafür, das zeitgenössische Wissen über die Antike in all seiner Komplexität auszubreiten. Treffend hat hierzu Daniel Jenisch in der Vorrede des von ihm übersetzten ersten Bandes des Anacharsis bemerkt: Ein bloßer Erzähler erzählt nur, weil er einmal erzählen muß, aber ein Reisender erzählt, weil das zu erzählende ihn intereßirt. Sein immer wechselnder Aufenthalt, seine verschiedenen Ereignisse an verschiedenen Orten, unter verschiedenen Umständen, zu verschiedenen Zeiten, mit verschiedenen Personen, und die daraus hervorgehenden verschiedenen Gemüthslagen desselben; geben jeder Sache ein neues Leben, ein neues Interesse: […] Ist der Reisende ein Fremdling, der aus einem Lande von ganz andern, ganz entgegengesetzten Sitten kommt, als dasjenige ist, dessen Sitten er schildert: so wie hier der Abt einen jungen Scythen, den er Anacharsis nennt, Griechenland durchreisen läßt, (denn wo ist ein stärkerer Contrast, als Scythien und das Land des Perikles?) so kann dies das Leben der Darstellung nicht anders, als erhöhen. In einer solchen Seele schildert sich alles neuer, frischer, vielseitiger ab: und eben so wird es denn auch die Erzählung, als reflectirte innere Darstellung.19

Themen Barthélemys sind u. a. die Religion und die Regierungsformen der Griechen, ihre Sitten und häusliches Leben, die griechische Architektur und bildende Kunst sowie diverse Wissenschaften wie etwa Logik, Rhetorik, Astronomie, Naturgeschichte, Dichtkunst und Sittenlehre. Beschreibungen persönlicher Erlebnisse sucht man dagegen vergeblich. Anacharsis’ Rückkehr nach Skythien im Jahre 337 v. Chr. fällt in eins mit dem Beginn der Herrschaft Alexanders des Großen und damit dem Ende der klassischen Epoche Griechenlands. Barthélemy selbst hat den Gegenstand und Aufbau seines riesigen Werkes im Vorwort zum ersten Band des Anacharsis in aller Knappheit wie folgt zusammengefasst: _____________ assemblées qui ont amené la Révolution. Cependant toute la France s’occupa d’une lecture qui attachait dans tous les genres, et l’on se disait: ›Sans l’abbé Barthélemy, la politique eût fait oublier les Belles-Lettres; il était le seul qui pût faire diversion à de si grands intérêts.‹« Die immer wieder kolportierte Anekdote von Anacharsis als Lebensretter Barthélemys wohl zuerst bei Des Essarts, Les siècles littéraires de la France, Bd. 1 (1800), 153: »Il avait 78 ans, remplis par 60 années de travaux, quand il fut denoncé en 1793, comme suspect, et conduit aux Magdelonettes. Des hommes obscurs et ignorans disposèrent du sort du plus grand homme que la France eut alors. […] Heureusement, le nom de Barthélemy réveilla dans l’ame de ses oppresseurs un reste de pudeur, et vingt quatre heures après sa détention, il fut rendu à ses amis et à la liberté.« 19 Barthélemy, Reise des jungen Anacharsis, Bd. 1, Vorbericht des Übersetzers, VI f.

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Abb. 1: Jean-Denis Barbié du Bocage (1760–1825): Griechenland und dessen Inseln zur Reisebeschreibung des jungen Anacharis. Karte mit eingezeichneter Reiseroute.

Ich denke mir einen Scythen, Namens Anacharsis, der einige Jahre vor der Geburt Alexanders nach Griechenland kommt, und von Athen aus, als seinem gewöhnlichen Aufenthalt, verschiedne Reisen in die benachbarten Provinzen anstellt, überall die Sitten und Gebräuche der Völker beobachtet, ihren Festen beiwohnet, die Natur ihrer Staatsverfassung studirt; bisweilen seine Muße den Untersuchungen der Fortschritte des menschlichen Geistes widmet, und bisweilen mit den wichtigsten Männern damaliger Zeit, als einem Epaminondas, Phocion, Xenophon, Plato, Aristoteles, Demosthe-

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Der eigentliche Grund für die lange, 32 Jahre währende Fertigstellung des Werkes dürfte aber wohl kaum in solch äußerlichen Faktoren als vielmehr darin zu suchen sein, dass die gesamte Reisebeschreibung auf Fakten fußt, die Barthélemy akribisch zusammengetragen, kritisch gesichtet und in seinen Text eingewoben hat, so dass, wie der Anmerkungsapparat nachweist, so gut wie jede seiner Aussagen mit einer antiken Quelle oder moderner Forschungsliteratur belegt ist (vgl. Abb. 2) – von Strabon, Plutarch, Herodot, Aristoteles und Xenophon bis hin etwa zu Le Roys Ruines des plus beaux monuments de la Grèce (1758/1770), Stuart und Revetts Antiquities of Athens (1761 ff.), Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (in der Ausgabe Leipzig 1781) oder Choiseul-Gouffiers Voyage pittoresque de la Grèce (1782 ff.).21 – »Je commençai cet ouvrage en 1757; je n’ai cessé d’y travailler depuis«, heißt es in Barthélemys Avertissement zum Anacharsis, und die Legitimation hierfür liefert jede einzelne Seite seines Werkes.22 Wenn Bulwer-Lytton mit Bezug auf den Anacharsis von einem Überfluss an »external erudition« spricht, so dürfte er genau diesen »Exzess der Gelehrsamkeit«23 gemeint haben, der die Seiten mit Zitaten und Belegen füllt und zu dem _____________ 20 Barthélemy, Reise des jungen Anacharsis, Bd. 1, XV f. Im französischen Original: »Je suppose qu’un Scythe, nommé Anacharsis, vient en Grèce quelques années avant la naissance d’Alexandre, et que d’Athènes, son séjour ordinaire, il fait plusieurs voyages dans les provinces voisines, observant par-tout [sic!] les mœurs et les usages des peuples, assistant à leurs fêtes, étudiant la nature de leurs gouvernements; quelquefois consacrant ses loisirs à des recherches sur les progrès de l’esprit humain, d’autres fois conversant avec les grands hommes qui florissoient [sic!] alors, tels qu’Epaminondas, Phocion, Xénophon, Platon, Aristote, Démosthène, etc. Dès qu’il voit la Grèce asservie à Philippe, père d’Alexandre, il retourne en Scythie, il y met en ordre la suite des ses voyages; et, pour n’être pas forcé d’interrompre sa narration, il rend compte dans une introduction, des faits mémorables qui s’étoient passés en Grèce avant qu’il eût quitté la Scythie.« (Barthélemy, Voyage du jeune Anacharsis, Bd. 1, v). 21 Zu den Quellen Barthélemys siehe Badolle (1926), 253–257; Silver (1990), 147. Zum Einfluss insbesondere Le Roys auf Barthélemy siehe Kruft (1991), 244. 22 Barthélemy, Voyage du jeune Anacharsis, Bd. 1, v. Ebenfalls im Vorwort schreibt Barthélemy, dass er für die Publikation bereits eine große Anzahl der von ihm gesammelten Belegstellen unterdrückt habe und »vielleicht noch mehrere derselben hätte aufopfern sollen« (Barthélemy, Reise des jungen Anacharsis, Bd. 1, XI f.). Gleichwohl hat Friedrich Schlegel in seinen 1803/04 gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der europäischen Literatur den Anacharsis als »in politisch-antiquarisch-literarischer Hinsicht zu kompilatorisch« bezeichnet: Das Werk bestehe »aus 20000 schlecht verbundenen Zitaten – für den Gelehrten nicht vollständig genug und für den bloßen Liebhaber zu sehr« (Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 11, 28). Vgl. dazu Naschert (2007), 256 f. 23 Badolle (1926), 257 f.: »excès d’érudition«.

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Abb. 2: Jean-Jacques Barthélemy, Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland vierhundert Jahr vor der gewöhnlichen Zeitrechnung, Bd. 2, Berlin 1790, 264 f.

noch die am Ende jedes einzelnen Bandes zusätzlich angefügten Anmerkungen hinzuzählen sind.24 Wenn er jedoch im gleichen Atemzug behauptet, dass das Werk »pedantisch und langweilig« sei und ihm der »innere Geist« fehle, so dürften ihm seine (wie auch viele heutige) Leser zwar zugestimmt haben.25 Sein Urteil weicht jedoch in bezeichnender Weise von demjenigen der unmittelbaren Zeitgenossen Barthélemys ab. Diese priesen den Anacharsis als ein »Monument _____________ 24 Diese nehmen beispielsweise in Band 1 die Seiten 525–553 ein und handeln etwa »Sur les Dialectes dont Homère a fait usage«, »Sur Epiménide«, »Sur le pouvoir des Pères à Athènes« etc. 25 Kritik an der »fiction romanesque dans l’Anacharsis« meldet auch Badolle (1926), 237–252 an: »Il fallait choisir entre une histoire et un roman; pour n’avoir pas nettement préféré l’un à l’autre, pour avoir tenté de concilier ce qui était inconciliable, Barthélemy a tenté un chefd’œuvre dans un genre faux, condamné à l’avance.« (243) Dagegen hat aber schon Klemperer (1958), 481, darauf hingewiesen, dass Barthélemy keineswegs die Absicht hatte, einen Roman zu schreiben, sondern »nichts als exakte Wirklichkeit« geben wollte. Gleichwohl sei der Anacharsis bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aber »mit Selbstverständlichkeit zu den bedeutendsten literarischen Leistungen seiner Epoche gerechnet« worden.

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des Ruhmes für sein Zeitalter«26 sowie ein mit »Anmuth« und »Grazie« geschriebenes »Zauberwerk«: Bewundernswürdig ist die Kunst, mit welcher alles natürlich herbeygebracht und auf das Feinste verwebt ist; die Auswahl selbst, die Abwechslung der Gegenstände, die allem Ueberdruß auch flüchtiger Leser begegnen kann, das absichtliche längere oder kürzere Verweilen bey einem Gegenstande, die Grazie und die der griechischen sich nähernde Anmuth, die über alles verbreitet wird, alles kann einem Leser, der für Schönheit der Composition einen Sinn hat, Stoff zu Beobachtungen und Bemerkungen geben.27

Allein in Frankreich sollte Barthélemys Werk bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht weniger als 42 Auflagen erleben, nicht eingerechnet die zahlreichen Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Italienische, Dänische, Holländische, Spanische, Neugriechische und Armenische.28 Unbestreitbar ist, dass Barthélemy mit dem Anacharsis eine neue literarische Gattung geschaffen hatte. Natürlich gab es im 18. Jahrhundert immer wieder Romane, deren Handlung in der Antike spielte und deren Verfasser mitunter vorgaben, bei den von ihnen veröffentlichten Texten handele es sich um Übersetzungen aus dem Griechischen oder Lateinischen.29 Doch während diese Autoren – unter ihnen Fénelon mit seinem Telemach und Wieland mit seiner Geschichte des Agathon – ihre modernen Helden in einer mehr oder weniger imaginären Antike _____________ 26 »[…] un monument de gloire pour son siècle«. Das 1789 in Journal des Savants erschienene Urteil des Kritikers Gailland, demzufolge Barthélemy »a eu le courage […] d’élever lentement en silence un monument unique, mais éternel«, zitiert nach Badolle (1926), 231 f. Zur enthusiastischen Aufnahme des Anacharsis siehe auch Silver (1990), 145 f. Doch wurde Barthélemys Werk von der französischen Kritik auch durchaus kritisch gesehen, siehe dazu Badolle (1926), 234–236. 27 So Christian Gottlieb Heyne im 70. Stück der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (2. Mai 1789), 700 f. Vgl. ebd., 710: »Ungern reissen wir uns von diesem Zauberwerk, und erröthen über den trocknen Auszug, den wir haben geben müssen.«; »Schwerlich kann sich ein ander Buch unserer Zeit versprechen, so viele Leser zu finden, mit so vielem Vergnügen gelesen zu werden, und dabey nützlichen Unterricht zu geben, als es der Verf. von dem gegenwärtigen erwarten kann.« (697); »Das Buch ist mit einer Anmuth geschrieben, die die Seele in einen so behaglichen Zustand setzt, daß man ungern im Lesen einhält; […].« (ebd., 698) – Zum Stil des »écrivain« Barthélemy siehe Badolle (1926), 332–340. 28 Zu den Übersetzungen des Anacharis siehe Badolle (1926), 230, 298. 29 Die Übersetzer- bzw. Manuskriptfiktion etwa bei Terrasson, Séthos (1731); [Yorke u. a.], Athenian Letters (1741–1743); Crébillon, Lettres Athéniennes (1771); Lantier, Voyages d’Anténor (1797/1798). Zur Mode der »faux romans grecs« siehe Badolle (1926), 180–184; Silver (1990), 146 f. Mit Carite et Polydore (1760) hatte Barthélemy übrigens selbst einen solchen »Roman traduit du Grec« geschrieben, siehe Badolle (1926), 92–95. Zwar gibt auch der Anacharsis vor, auf einem antiken Originalmanuskript zu basieren, doch wird diese Fiktion durch Barthélemys Vorrede sowie durch die immer wieder in den Fußnoten zitierten modernen Werke (Texteditionen und Untersuchungen) konterkariert. – Zu den antikisierenden Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Riikonen (1978), 18–23 und Dahl (1973), 2 f.

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agieren ließen,30 hatte Barthélemy mit seinem Werk den Versuch unternommen, ein historisch, philologisch wie auch archäologisch exaktes Panorama des antiken Griechenland in ästhetisch ansprechender Form zu zeichnen. Statt einer modernen Geschichte in antikem Gewand präsentierte er seinen Lesern in den 82 Kapiteln seines fiktiven Reiseberichts die Summe des zeitgenössischen Wissens über die griechische Kultur. Wenn die Form, in der er dies tat, einen Schriftsteller wie Bulwer-Lytton nicht mehr überzeugen konnte, so hat dies seinen Grund nicht zuletzt in der rasanten Entwicklung, die der (historische) Roman seit der Zeit Barthélemys durchgemacht hatte.31

III. Dem von Barthélemy eingeführten Muster, zeitgenössisches Wissen über die Antike im Rahmen einer romanhaften Erzählung zu vermitteln,32 sollten in den folgenden Jahren mehrere Autoren folgen, die dabei jedoch ihre jeweils eigenen Schwerpunkte setzten: Unter ihnen steht der deutsche Philologe und Altertumswissenschaftler Carl August Böttiger an erster Stelle. Seine Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin, die zum großen Teil auf Beiträge zurückgehen, die bereits in den Jahren 1796/97 im Weimarer Journal des Luxus und der Moden gedruckt worden waren, erschien erstmals 1803 und wurde 1806 ein zweites Mal aufgelegt.33 Entwickelt hat Böttiger diesen, wie er es nennt, »Beytrag zur richtigen Beurtheilung des Privatlebens der Römer und zum bessern Verständniss _____________ 30 Zum Verhältnis Wieland-Barthélemy-Fénelon siehe etwa u. a. Wildstake (1933), demzufolge die Werke Barthélemys und Wielands unabhängig voneinander entstanden sind, beide Autoren jedoch auf dieselben Vorbilder (Xenophons Kyrupaedie, Fénelons Telemach, Ramsays Voyages des Cyrus und Terrassons Séthos) zurückgreifen. Müller (1971), 17, hält die Beziehung des Agathon zum französischen Bildungs- und Reiseroman dagegen eher für äußerlich. 31 Zu Entstehung und Entwicklung des historischen Romans siehe etwa Meyer (1973); Eggert (1983); Reitemeyer (2001); zur damit überholten Tradition des »enzyklopädisch angelegten Romans« im Sinne eines »narrativen Kompendiums« siehe Naschert (2007), besonders 232 f., 242, 257 f. 32 Natürlich hat der Versuch, Wissen über die Antike in literarischer Form zu vermitteln, eine lange Tradition, zu der u. a. Pausanias Beschreibung Griechenlands (160–180 n. Chr.) sowie insbesondere das Sophistenmahl des Athenaios von Naukratis (um 195 n. Chr.) gehören. Anders als diese beiden antiken Autoren, anders aber auch als z. B. Lorenz Beger in seinem dialogisch strukturierten Thesaurus Brandenburgicus (1696–1701), hat Barthélemy sich mit seinem Anacharsis an der im 18. Jahrhundert ebenso modernen wie äußerst populären Form des Romans orientiert und damit ein Muster für zahlreiche ihm folgende Autoren geliefert. 33 Die von Böttiger in den Vorworten der ersten und zweiten Auflage angekündigte Fortsetzungen, die eine »Lustpartie« der Sabina in die Seebäder von Bajä bzw. einen »Saturnalien-Schmaus des Sabinus« (Böttiger, Sabina, Bd. 1, X, XXVI) schildern sollten, liegen lediglich in Aufsatzform vor; vgl. Böttiger, Kleine Schriften, Bd. 3, 196–214, 243–301; Schmidt-Funke (2006), 95 f.

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Abb. 3: Giovanni Morghen/Francesco Cepparoli: Vestizione della sacerdotessa (1765). Kupferstich nach einem in Herkulaneum entdeckten antiken Wandgemälde.

der römischen Schriftsteller« aus einem in Herkulaneum gefundenen antiken Gemälde, das eine Mutter mit ihren beiden Töchtern und einer Sklavin zeige (vgl. Abb. 3) und »uns eine Vorstellung einer Damen-Toilette aus einem Zeitalter und einer Gegend« gebe, »wo Römische Prachtliebe mit Griechischem Geschmacke auf’s reizendste sich vereinigte.«34 Statt nach Griechenland richtet Böttiger also den Blick nach Italien; statt seine Leser auf eine jahrelange Reise zu schicken, verharrt er im römischen Ankleidezimmer der reichen Sabina und beschränkt die Darstellung darüber hinaus auf _____________ 34 Böttiger, Sabina, Bd. 1, 6.

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die wenigen Stunden, die zwischen deren morgendlichem Erwachen und dem Zeitpunkt ihres Ausgangs liegen. Jeder einzelnen Szene der fiktiven Handlung folgt ein die literarischen Quellen und archäologischen Realien nachweisender umfangreicher Anmerkungsteil sowie eine oder mehrere »Beylagen«, die bestimmte, im Haupttext erwähnte Gegenstände (zumeist Kunstwerke) in Form gelehrter, wiederum annotierter Exkurse abhandeln.35 Abgeschlossen wird das ganze durch ein doppeltes Register der »Schriftsteller«, »Sachen und Worte«. Auch in François Mazois’ im Jahre 1819 erschienenem Palais de Scaurus, der »Beschreibung eines römischen Stadthauses«, bei der es sich um ein »Bruchstück« aus dem Tagebuch eines Galliers namens Merovir handeln soll, ist die Handlung auf nur einen Ort und nur einen Tag beschränkt. Während dieses einen Tages im Jahre 51 v. Chr. wird der als Geisel nach Rom gelangte Merovir von dem griechischen Architekten Chrysippus durch den u. a. aus Plinius’ Naturalis Historia (36, II, 5–6) bekannten luxuriösen Palast des Marcus Aemilius Scaurus geführt.36 Der wahre Umfang und Anspruch von Mazois’ Vorhaben wird jedoch erst deutlich, wenn man den Grundriss des von ihm beschriebenen »Hauses« betrachtet, dessen Außenmauern allein, den Vorhof (E) nicht mit eingerechnet, ca. 172 × 175 Meter messen (vgl. Abb. 4).37 Wie gehabt folgt auf die einzelnen, fast durchgängig mit architektonischen Fachtermini (Atrium, Peristylum, Exedra etc.) überschriebenen Kapitel ein umfangreicher Anmerkungsapparat, der die Quellen fast jeder einzelnen Aussage nachweist. Zusätzliche Exkurse und Abhandlungen sucht man vergeblich, da diese zum größten Teil in die bautechnischen Ausführungen des Chrysippus eingegangen sind. Der Umstand, dass der Herumgeführte ein Gallier und damit Barbar ist, erweist sich in diesem Zusammenhang (nicht zuletzt auch für den modernen Leser) wiederum als Vorteil: Denn wie Anacharsis betrachtet Merovir die ihm fremde Kultur mit naivem Blick und lässt sich (und damit dem Leser) jedes einzelne Detail erläutern. Der im Vergleich zu Barthéle-

_____________ 35 So handelt etwa die »Beylage zur ersten Morgenszene« über das zum Esquilinischen Schatz gehörige, im Jahre 1793 entdeckte Kästchen der Proiecta (ca. 379–383 n. Chr., heute London, British Museum), das er als erster abbildete (Böttiger, Sabina, Bd. 1, 61–110, Taf. III–IV). Vgl. dazu Shelton (1981), 13, 26 f. 36 Einer Angabe Pirro Ligorios folgend situiert Mazois den Palast irrtümlicherweise in der Nähe des Clivus Scaurus auf dem Gelände der heutigen Villa Celimontana (Mazois, Der Pallast des Scaurus, 17 f., Anm. 3). Schon die deutschen Übersetzer wiesen jedoch auf eine Stelle bei Asconius Pedianus hin, demzufolge der Palast sich nicht auf dem Caelius, sondern tatsächlich unterhalb des Palatin, an der Kreuzung zwischen der Sacra via und der Nova via, befand: »in ea parte Palatii, quae, cum ab Sacra via descenderis et per proximum vicum qui est a sinistra parte prodieris, posita est« (ebd., 22, Anm. 70). Siehe dazu Platner (1926), 189 und Steinby (1993– 2000), Bd. 2, 26 (mit sämtlichen Quellen). 37 Der Maßstab des erst ab der zweiten Auflage dem Buch beigefügten Grundrisses ist in französischen toise (Klafter) angegeben, die ca. 1,949 Meter entsprechen.

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Abb. 4: Palast des Scaurus, Grundriss nach Charles-François Mazois (1822).

my und Böttiger eher fachspezifische Charakter des Werkes erklärt sich dabei aus dem Umstand, dass Mazois Architekt und Ausgräber in Pompeii war, und in diesem Sinne dürfte sein die Realia narrativierender Text wohl in erster Linie als Versuch zu begreifen sein, die zum Teil kryptischen Angaben aus Vitruvs Zehn Büchern über Architektur praktisch zu verstehen.

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Fast zwanzig Jahre später sollte sich Wilhelm Adolph Becker dagegen wieder mehr Zeit (und Raum) nehmen, um die letzten Tage des einer Intrige zum Opfer fallenden römischen Dichters und Politikers Gaius Cornelius Gallus (ca. 69/68– 27/26 v. Chr.) bzw. die Rückkehr des einst mit seinen Eltern emigrierten Jünglings Charikles nach Athen im Jahre 332 v. Chr. zu schildern. Während es sich bei Gallus um eine historisch belegte Person handelt, ist die Figur des Charikles, der Griechenland aufgrund seiner langen Abwesenheit gleichsam mit den Augen eines Fremden betrachtet, gänzlich frei erfunden. Mit der Grundidee, »an einzelne Abschnitte einer fortlaufenden Erzählung die Erläuterung der zu berücksichtigenden Gegenstände zu knüpfen«, folgt Becker ausdrücklich dem Vorbild Böttigers und Mazois’;38 überproportional fallen bei ihm jedoch die jeder einzelnen Szene beigegebenen umfangreichen Exkurse aus, in denen er, um den »Vortheil einer wissenschaftlichen Ordnung nicht ganz aufzugeben«, die »Hauptfragen« separiert von den Anmerkungen abhandelt.39 Bei allen Abweichungen gegenüber Barthélemys Muster (unter denen als die wichtigste sicherlich die deutliche Verschiebung des Interesses hin auf das Privatleben der Griechen und Römer zu verzeichnen ist40), bleibt die Struktur also stets dieselbe: Immer ruht die fiktionale Erzählung auf dem Fundament eines die literarischen und archäologischen Quellen akribisch nachweisenden Anmerkungsteils. Hinzu kommen allerdings, schon bei Böttiger, längere Abhandlungen, in denen einige der zuvor erwähnten Themen und Gegenstände in Form zum Teil nochmals annotierter Exkurse eingehend erläutert werden. Wenn sich die genannten Werke somit von Umfang und Anspruch her einerseits geringer ausnehmen als Barthélemys enzyklopädische Reise des Anacharsis, _____________ 38 Becker, Gallus, VIII f. – Barthélemy wird von Becker lediglich im Vorwort seines Charikles und hier durchaus kritisch erwähnt: »Auch die in Barthelemys Reisen des jüngeren Anacharsis, einem für seine Zeit allerdings verdienstlichen Werke, gegebenen, leider nur mit dem Firnisse moderner Eleganz übertünchten Schilderungen werden den, welcher die Griechen durch sie selbst kennen gelernt hat, wenig ansprechen, ja oft ihn anwidern. Seine Figuren gleichen nur zu oft antiken Statuen im französischen Staatskleide mit Spitzenmanchetten; es sind Gemälde von Le Brun oder Coypel, in denen die subjektive Auffassung des Künstlers allen Charakter des antiken Motivs verwischt hat, und die geistreiche Behandlung des Einzelnen kann für den verfehlten Ausdruck des Ganzen keine Entschädigung gewähren.« (Becker, Charikles, Bd. 1, VII). 39 Becker, Gallus, VIII f. 40 Während sich etwa Böttigers Sabina ausdrücklich als ein »Beytrag zur richtigen Beurtheilung des Privatlebens der Römer und zum bessern Verständniss der römischen Schriftsteller« versteht, sollen Gallus und Charikles laut Becker der »Erläuterung der wesentlichsten Gegenstände aus dem häuslichen Leben der Römer« bzw. der »genaueren Kenntniss des griechischen Privatlebens« dienen. Als wichtigste Gründe für diese Konzentration auf das Privatleben der Antike, dürften sicherlich die Funde von zahlreichen Gebrauchsgegenständen in Pompeji und Herkulaneum (siehe dazu Zintzen [1998], 208–215) sowie ein allgemein zu konstatierender gesellschaftlicher Rückzug in sowie ein damit einhergehendes Interesse für das Private insbesondere in den Jahren nach 1815 anzuführen sein. Vgl. etwa Sengle (1971–1980), Bd. 1, 41 f. (zur Materialbesessenheit und dem biedermeierlichen Bedürfnis, Gegenstände statt unsicherer Ideen zu ergreifen), 46 f. (zu der an die Stelle der Historie tretenden Alltagsmalerei und -dichtung).

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so ist andererseits hinsichtlich der präsentierten Wissensbestände ein deutlicher Zuwachs zu verzeichnen: Während sich bei Barthélemy die Belege noch am Fuß der Seite unterbringen ließen und die Anmerkungen einige wenige Seiten am Ende des jeweiligen Bandes einnahmen, steht bei Böttiger den 183 Seiten der Erzählung fast genau die doppelte Anzahl an Seiten (nämlich 369) gegenüber, die mit Anmerkungen, Exkursen und Erläuterungen gefüllt sind und zudem durch 21 illustrierende Kupfertafeln ergänzt werden. Auch wenn das Verhältnis zwischen Text und Anmerkungen bei Mazois wieder geringer ausfällt (121:180 Seiten, bezogen auf die deutsche Ausgabe), so ist die Tendenz zur Verwissenschaftlichung unübersehbar: In Beckers Gallus nimmt die fiktive Erzählung lediglich 25 % (120 zu 516 Seiten) des Gesamttextes ein, in seinem Charikles sind es gar nur noch 20 % (167 zu 830 Seiten). Soweit die Zahlen. Wie aber verhalten sich in den genannten Texten Wissen und Ästhetik – jenseits ihrer bloß formalen Trennung in Erzähltext und Anmerkungsapparat – ganz konkret zueinander? Und lassen sich unter Umständen Beispiele dafür nennen, wie der eine Bereich den anderen beeinflusst?

IV. Die Frage danach, ob das im antiquarisch-philologischen Roman vermittelte Wissen über die Antike Auswirkungen auf dessen ästhetische Form hat, lässt sich bereits mit einem oberflächlichen Blick auf die Texte beantworten: Die schiere Menge der aus den Quellen gezogenen Fakten führt zunächst einmal dazu, dass die Autoren ihren Texten bevorzugt die Form von »Szenen« und »Bildern« geben, deren Zusammenhang untereinander relativ lose ist. Zugleich führt die immense Stoffmenge innerhalb der einzelnen Szenen und Bilder immer wieder zu additiv komponierten Passagen, die einerseits ästhetisch trocken, andererseits aber auch überladen ausfallen können. Ein Beispiel für den Modus der Überfrachtung findet sich etwa in Beckers Beschreibung von Gallus’ Schlafzimmer: Ein hohes Fenster, das von dem frühen Strahle der Morgensonne getroffen wurde, erhellte mit angenehmen Lichte von oben herab das mässig grosse Gemach, dessen Wände in heiteren Farben mit zierlichen Arabesken geschmückt waren, zwischen denen auf dunklerem Felde geisterhaft die Gestalten üppig reizender Tänzerinnen* schwebten. Ein zierliches Ruhebett mit Schildplatt belegt, und mit buntem babylonischem Teppiche behangen, daneben das Scrinium*, das die neuesten, dem grösseren Publikum noch unbekannten Elegien des Dichters barg, endlich ein kleiner Tisch von Cedernholz auf bronzenen Ziegenfüssen bildeten die ganze Supellex.41

_____________ 41 Becker, Gallus, Bd. 1, 152 f. (Dritte Szene: Studien und Briefe). Die Sternchen markieren hier wie auch im Folgenden die von Becker eingefügten Anmerkungen, die 1.) auf die Kupferstichwerke Le pitture antiche d’Ercolano (1757 ff.) bzw. Real Museo Borbonico (1824 ff.) sowie

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Der Versuch Beckers, den rein additiven Charakter dieser Szene (Fenster, Bett, Tisch etc.) nachträglich durch den Einsatz von Sinnlichkeit suggerierenden Adjektiven (angenehm, heiter, zierlich, geisterhaft, üppig, bunt) zu kaschieren, dürfte offensichtlich sein. Ebenso offensichtlich ist aber, dass dieser Versuch ästhetisch nicht wirklich zu überzeugen vermag. Dies gilt auch für die folgende, ebenfalls mehr oder weniger willkürlich herausgegriffene Beschreibung, in der Becker die auf einem gedeckten ländlichen Wirtshaustisch versammelten Speisen und Getränke aufzählt: Die frisch gesottenen Lacerten* lagen gar einladend in dem Kranze von gewiegten Eiern und Raute; das fette Huhn und der nicht angeschnittene Schinken von gestern*, daneben Spargel und die nie fehlende Lactuca, auch hier heimischer Porrée*, Muscheln von der Art der Peloriden, freilich keine Austern vom Lucriner See, gaben zwar keine Entschädigung für das bei Lentulus versäumte Frühstück, aber übertrafen doch die Erwartung. Der Wein allerdings konnte seine Vaticanische Abkunft* nicht verleugnen, wiewohl ihn der Wirth mit altem Falerner verschnitten hatte, und das Mulsum war entschieden mit Corsischem Honige* bereitet; das Geschirr war nur von der Hand eines Cumanischen Töpfers; aber wer wollte das hier anders verlangen!42

Solchen nachträglich ›versinnlichten‹ Beschreibungen stehen nun Passagen gegenüber, die sich in ihrer Nüchternheit und Handlungsarmut so gut wie gar nicht von wissenschaftlichen Texten unterscheiden. So lässt etwa François Mazois im fünften Kapitel seines Scaurus dem Gallier Merovir durch den Architekten Chrysippus die folgende Erläuterung aller fünf Arten, ein Atrium zu bauen, zuteil werden: Wir rechnen fünf Arten des Atrium, welche ihre verschiednen Benennungen von der Art hernehmen, wie das Cavaedium bedeckt ist. Die erste ist das Toskanische Atrium, dessen Dach nur von vier, sich einander im rechten Winkel kreuzenden Balken getragen wird.* Dieses nennt man auch ein Atrium nach Art der Alten,* weil man sich in den ältesten Zeiten nur solcher bediente, wie sogar sein Name: toskanisch, beweist, insofern er seinen ersten Ursprung bezeichnet.* Man kann sich derselben fast nur bei Privatleuten von geringem Vermögen bedienen, weil, wenn das Cavaedium eine gewisse Ausdehnung hat, die Last für die Balken zu groß wird und das Gewicht der Ziegeln sie bersten macht. – Die zweite Art von Atrium ist das viersäulige (tetrastylum), so genannt, weil es vier Säulen hat, welche die Balken da tragen, wo sie sich kreuzen.* Das dritte ist das korinthische Atrium,* das prächtigste von allen; Du hast ein Beispiel vor Augen. Es ist das einzige, welches man in Pallästen anwenden kann, weil die vielen Säulen, die das Dachwerk tragen, gestatten, dem Cavaedium den zum Empfang der zuströmenden grossen Menschenmenge nöthigen Raum zu geben. – Was das Atrium displuviatum betrifft, welches die vierte Art ausmacht, so unterscheidet es sich

_____________ Ludwig Goro v. Agyagfalvas Wanderungen durch Pompeji (Wien 1825) und 2.) auf Plinius, Böttigers Sabina, Martial, Becker seniors Augusteum sowie Gells Pompeiana (1832) verweisen. 42 Becker, Gallus, Bd. 1, 208 f. (Vierte Szene: Die Reise). In den Anmerkungen verweist Becker auf 1.) Juvenal und Martial, 2.) Plautus und Martial, 3.) Martial und H. L. J. Billerbecks Flora Classica (Leipzig 1824), 4.) Martial, 5.) Martial, Plinius und Ovid.

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Martin Dönike von denen, die ich so eben erwähnt habe, nur dadurch, dass das Dach, statt sich nach dem impluvium in der Mitte des Hofes zu neigen,* das Wasser ausserhalb des Cavaedium ausgiesst.* – Das fünfte ist das sogenannte schildkrötenartige (testudinatum); es lässt nicht wie die andern in der Mitte einen offnen Raum,* und erhält seinen Namen davon, dass es, von oben gesehen, einer Schildkrötenschale gleicht;* übrigens kann man es nur bei einem Raum von mittelmässiger Ausdehnung anwenden.* So ist das Atrium, wie wir es nennen, beschaffen, mein Merovir.43

Mitunter führt die Absicht und Notwendigkeit, Informationen in die Handlung einflechten zu müssen, auch zu unfreiwillig komischen Passagen wie etwa der folgenden aus Beckers Charikles: »Ein schönes Schiff, sprach der Eine; seine Länge mag fast den vierten Theil eines Stadions betragen* und so breit es ist, fast eben so tief, sagt man, soll es im Wasser gehen.«44 – »Man«, das ist, wie die dazugehörige Fußnote akribisch vermerkt, in diesem Falle übrigens Lukian, der in seinem Das Schiff, oder: Die Wünsche betitelten Dialog die Figur des Samippos die Maße eines soeben im Piräus eingelaufenen »große[n], ganz ungeheuer große[n] Schiff[s]« mit den folgenden Worten beschreiben lässt: Aber weil wir doch vorhin davon sprachen – was für ein ungeheures Schiff das war! Es sei hundertundzwanzig Ellen lang, sagte der Schiffszimmermann, über dreißig Ellen breit und vom Vorderlauf bis zum untersten Boden, wo die Pumpe steht, neun45 undzwanzig tief.

Seltener gelingen den Autoren Beschreibungen, die eine aus dem Leben gegriffene authentische Atmosphäre zu vermitteln scheinen, wie etwa die folgende, wiederum aus Beckers Charikles stammende Passage: Der Markt war bereits zahlreich besucht, als Charikles ihn betrat. Ueberall in den einzelnen Abtheilungen hatten Verkäufer die Ruthengeflechte ihrer Buden zusammengefügt und auf Tischen und Bänken ihre Waare ausgelegt. Hier hatten die Bäckerinnen ihre rundlichen Brote und Kuchen aufgethürmt, mit Schelten und Schimpfen den Vorübergehenden verfolgend, der etwa anstreifend eine dieser Pyramiden zum Umsturze brachte*; daneben dampften die Kessel der Weiber, die gekochte Erbsen und andere Gemüse verkauften*; dort auf dem Topfmarkte priesen die Töpfer die Güte ihrer Geschirre; weiterhin auf dem Myrtenmarkte waren Kränze und Bänder zu kaufen und

_____________ 43 Mazois, Pallast des Scaurus, 41 f. Von den insgesamt zehn Anmerkungen stammen neun von Mazois, eine weitere wurde von den deutschen Herausgebern ergänzt. Sie verweisen auf 1.) Vitruv, 2.) Plinius, 3.) Varro, 4.) Vitruv, 5.) dto., 6.) Stieglitz’ Archäologie der Baukunst der Griechen und Römer (Weimar 1801), 7.) Vitruv, 8.) Nonius Marcellus, 9.) Varro, 10.) Vitruv. – Eine ähnlich handlungsarme Passage findet sich etwa am Anfang der zehnten Szene des Charikles, wo Becker die Bedeutung des Festes der Dionysien erklärt (Becker, Charikles, Bd. 2, 237 f.). 44 Becker, Charikles, Bd. 2, 2 f. (Siebte Szene: Der Triton). 45 Lukian, Werke, Bd. 1, 164–166 (in der Übersetzung Christoph Martin Wielands). Zu den Maßangaben des von ihm beschriebenen Schiffes bemerkt Becker mit Verweis auf die soeben zitierte Stelle: »Ob in der hier angenommenen Zeit man wirklich Handelsschiffe von dieser Grösse bauete, weiss ich nicht zu sagen; aber das von Lucian beschriebene war noch bedeutend grösser.« (Becker, Charikles, Bd. 2, 66, Anm. 5).

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manche artige Kranzwinderin nahm für den Abend noch Bestellungen auf Kränze*, vielleicht auch noch andere an.46

Doch Vorsicht ist geboten: Wer glaubt, er habe hier eine poetische Erfindung des modernen Autors vor sich, der mag sich eines Besseren belehren lassen, wenn er den Anmerkungen Beckers entnimmt, dass alle Elemente dieser Szene sich bereits bei Aristophanes und Plutarch finden.47 Immer wieder, so auch hier, merkt man den Texten an, dass sie aus zahlreichen Quellen komponiert sind und die eingesetzten literarischen Mittel nicht wirklich ausreichen, die heterogene Masse von Fakten ästhetisch zu homogenisieren.48 Weniger leicht zu beantworten ist die umgekehrte Frage: Nämlich ob und inwieweit die von den Autoren gewählte narrative Form Auswirkungen auf das von ihnen vermittelte Wissen hat. Anhand von eingehenden Analysen ließe sich en detail zeigen, wie die narrative Form – zumindest ideell – der Verlebendigung, Funktionalisierung und Totalisierung der antiken Wissensbestände dient; im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes kann es allerdings nur bei einigen Hinweisen bleiben. Das Verfahren der Verlebendigung des antiken Wissens ist vielleicht am deutlichsten bei Mazois zu beobachten: Auf die faktengesättigten Beschreibungen einzelner Zimmer und Gebäudeabschnitte (Vestibulum, Prothyrum, Atrium, Peristylium etc.) folgen bei Mazois immer wieder Passagen, in denen er die leeren Räume sozusagen mit Leben füllt. So lässt er etwa im Anschluss an die oben zitierte Erklärung der verschiedenen Formen und Elemente des Atriums die Klienten des Scaurus die bis dahin leere Szene betreten: Siehe, da ist Scaurus am Eingang in das Tablinum*. Bemerke, wie freundlich er Alle annimmt, welche seinem Reichthum zu huldigen, oder von seinem Credit Gebrauch zu machen kommen. Mit Hülfe eines Nomenclator* grüsst er jeden derselben beim Namen*; er giebt ihnen nach ihrem Alter die Anrede: Vater oder Bruder*, drückt einigen die Hand*, und macht allen Versprechungen oder Dienstanerbietungen*.49

Aus der trockenen Aufzählung architektonischer Elemente wächst auf diese Weise ein mehr oder weniger lebendig-realistisches Bild, wobei allerdings auch hier die Staffagefiguren allesamt antiken Quellen, in diesem Falle aus Vitruv, Horaz, _____________ 46 Becker, Charikles, Bd. 1, 237 (Vierte Szene: Die Trapeziten). »Markt und Handel« ist auch ein ganzer Exkurs Beckers zu dieser Szene gewidmet (ebd., 249–283). 47 In der Reihenfolge der hier – wie auch im Folgenden – mit Sternchen markierten Anmerkungen: Aristophanes, Wespen, V. 1389–91 (Umstürzen der Brotlaibe); Frösche, V. 857 f. (Schimpfen der Bäckerinnen) 2) Lysistrata, V. 562 (Erbsbrei); 3) Thesmophoriazusae, V. 458 f. sowie Plutarch, Aratus, 6,4 (Kränze). 48 Becker spricht mit Bezug auf seinen Charikles sogar davon, dass dieser »fast ganz aus Fragmenten griechischer Schriftsteller zusammengesetzt« sei. Siehe dazu unten, Anm. 64. Zum prekären Verhältnis von Fiktion und (zumeist in Fußnoten dokumentiertem) Wahrheitsanspruch im historischen Roman Scottscher Prägung siehe Neuhaus (1990). 49 Mazois, Pallast des Scaurus, 43. Die Anmerkungen verweisen auf 1.) Vitruv, 2.) Horaz, Gruter und Plinius, 3.) Q. T. Cicero, Petronius, 4.) Horaz, 5.) dto., 6.) Q. T. Cicero.

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Quintus Tullius Cicero und Petronius, entstammen. Ähnlich verfährt Mazois in der folgenden Passage, die die Betrachtung des Atriums abschließt und zugleich den überwältigenden Totaleindruck auf den ›naiven‹ Betrachter Merovir schildert: Noch machte uns Chrysippus auf Schreiber aufmerksam, die in den, um das Atrium befindlichen Gemächern Akten abschrieben, dann auf Freigelassene, welche die Geschäfte des Hauses besorgen* und eben mit den Pächtern und Miethern verhandelten; der Haushofmeister brachte die Rechnungen in Ordnung*; endlich zahlte der Schatzmeister*, in dem grössten dieser Gemächer, die Lieferanten, und alle Die aus, welche Forderungen an Scaurus hatten. Ich gestehe, dass der Luxus, der Geschmack, der Glanz der Dekorationen, die Schönheit der Malereien, der kostbare Marmor, die ehernen mit blendendem Gold überzogenen Statuen, das stete Wogen von Menschen jeglichen Standes, welche unaufhörlich kamen und giengen, die Menge Sklaven aus verschiedenen Ländern, die zu verschiedenen Verrichtungen bestimmt sind* und über das Atrium hinweg eilten, um die Geschäfte des Hauses zu versehen: Kurz, dass so viele neue Gegenstände mich in ein tiefes Erstaunen versetzten.50

Neben der Verlebendigung bloßer Fakten ermöglicht die narrative Montage unterschiedlicher Quellengattungen Mazois darüber hinaus aber auch eine Funktionalisierung des Wissens über die Antike, das heißt: Der Leser erfährt nicht nur architektonische Details über die einzelnen Räume des Gebäudes, sondern er lernt, wie gesehen, auch, wozu diese Räume dienten – zum Beispiel das Atrium dazu, Klienten zu empfangen oder Geschäfte mit Pächtern, Mietern oder Lieferanten abzuwickeln. Insofern Mazois’ Beschreibung des Palastes des Scaurus als ein Gang durch das gesamte Gebäude (vgl. Abb. 4) – vom Vestibulum und Prothyrum durch das Atrium, die Basilika, das Peristylum, die privaten Zimmer des Scaurus und seiner Gattin, Pinakothek und Bibliothek, Oeci, Exedra, Sacrarium und die Küche, die oberen Stockwerke, Solarium, Gärten, Sphaeristerium und Aleatorium bis zu den Bädern und dem Triclinium – angelegt ist, führt sein Verfahren schließlich auch zu einer performativen Totalisierung oder Panoramatisierung des Wissens. Zwar war die Totalisierung des Wissens über die Antike bereits das Ziel der großen Thesauren des 17. Jahrhunderts wie auch der altertumswissenschaftlichen Handbücher des 19. Jahrhunderts. Doch während in ihnen das Wissen geordnet nach Rubriken dargeboten wird, versuchen Autoren wie Mazois, Becker und Böttiger diese Totalität in Form eines gleichsam organischen Gesamtbildes zu vermitteln.51 Allerdings, und dies ist auch in der zitierten Stellen allzu offensichtlich, _____________ 50 Mazois, Pallast des Scaurus, 46 f. Die Anmerkungen verweisen auf Petronius, Sueton, Pignorius und Gruter. 51 In diesem Sinne betont auch Karl Otfried Müller in seiner Rezension der deutschen Übersetzung von Mazois’ Scaurus, den tableauhaften Charakter der Darstellung: »Der Text schildert die Mahlzeit mit überall zusammengesuchten Zügen des glänzendsten Luxus, wie sie sich eben zu einem Bilde vereinigen wollen: die Anm. geben gute Nachweisungen alter Delicatessen […] und andre Bemerkungen aus den antiquitates convivales und tricliniares, die manche neue und sich empfehlende Ansicht enthalten.« (Müller, [Rez.] Der Pallast des Scaurus, 1887). Noch

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werden die ästhetischen Strategien der Verlebendigung, Funktionalisierung und Totalisierung zugleich immer wieder durch die bereits erwähnten additiven Darstellungsmuster konterkariert. Nicht zuletzt aus diesem Grund erscheinen die Bilder und Szenen aus dem Privatleben der Griechen und Römer häufig arg konstruiert und offenbaren dabei die narrativ nicht aufgelöste Spannung von Wissen und Ästhetik.

V. Die eigentümlich ambivalente, ja prekäre Mischung von Fakt und Fiktion ist – mit Ausnahme von Mazois, der ja seine Manuskriptfiktion nicht zerstören durfte – von allen hier erwähnten Autoren thematisiert worden.52 Im Vorwort zu seinem Anacharsis war schon Barthélemy der nahe liegenden Frage, warum er einen fiktiven Reisebericht statt, wie üblich, eine geschichtliche Abhandlung verfasst habe, mit dem folgenden Argument begegnet: »Ich wählte lieber eine Reise als eine Geschichte weil bei der ersten alles in Handlung ist und gewisse Details statt finden, die dem Geschichtsschreiber nicht erlaubt sind.«53 Der offensichtliche Vorteil der fiktiven Erzählung gegenüber der rein wissenschaftlichen Abhandlung besteht also zum einen darin, dass sie dem Autor Gelegenheit gibt, das starre Gerüst der überlieferten Fakten zu verflüssigen, d. h. in Handlung aufzulösen. Darüber hinaus ermöglicht insbesondere der Reisebericht aber auch die Einschaltung von Details (beispielsweise aus dem Alltagsleben), die im System der Geschichtsschreibung zumindest des 18. Jahrhunderts keinen Ort hatten. Beides sollte das von ihm verfasste Werk leisten. Barthélemys Kritiker indes warfen ihm gerade dies vor, das heißt die Verbindung der romanhaften Entwicklung auf der einen mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit auf der anderen Seite, die zu einem Werk geführt habe, das weder das Fesselnde eines Romans noch die Gründlichkeit einer geschichtlichen Abhandlung für sich beanspruchen könne.54 _____________ Jacob Burckhardt sollte das von Mazois in seinem »angenehmen Buche (das in allen Sprachen vorhanden ist)« entworfene »Gedankenbild« von dem Palast des Scaurus lobend erwähnen, »indess kein Stein davon nachzuweisen« sei (Burckhardt, Cicerone, 56 f.). 52 Allem Anschein nach wollten auch die beiden deutschen Übersetzer – Karl Christian und Ernst Friedrich Wüstemann – die von Mazois aufgebaute Fiktion, bei dem von ihm publizierten Text handele es sich um ein wiederentdecktes Manuskript, nicht zerstören: In ihrem Vorwort versuchen sie u. a. Gründe für einige Anachronismen des Textes und die Identität des lediglich aus dem vorliegenden Text bekannten Galliers Merovir zu finden. Dass ihnen der fiktive Charakter des Ganzen gleichwohl bekannt war, legt das von ihnen dem Text vorangestellte Martial-Zitat (Epigramme IV, 8) nahe, in dem von »Scherzgedichten« (iocos) die Rede ist. 53 Barthélemy, Reise des jungen Anacharsis, Bd. 1, XI f. Im französischen Original: »J’ai composé un voyage plutôt qu’une histoire, parce que tout est en action dans un voyage, et qu’on y permet des détails interdits à l’historien.« (Barthélemy, Voyage du jeune Anacharsis, Bd. 1, vj f.). 54 Badolle (1926), 243, 248 f., 252.

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Als eine Art Synthese oder Kompromiss zwischen den beiden Alternativen, entweder »ein leeres Phantasiegespinste abzuwickeln« (i. e. fiktiver Roman) oder »aus bekannten, der Scheidung und Abklärung nur allzubedürftigen Quellen eine alte Compilation unter einem neuen Aushängeschild zu liefern« (i. e. wissenschaftliches Handbuch), stellt auch Böttiger seine Sabina dar.55 Gleichwohl wies er schon im Vorwort zur ersten Auflage mit Nachdruck darauf hin, dass »man es mancher Anmerkung von wenigen Zeilen kaum ansehen wird, wie viel mühsame, oft fruchtlose Forschungen vorausgehen mussten, um diese oder jene Kleinigkeit […] aufs Reine zu bringen.«56 Die Rezensenten lobten Böttigers »Noten« zwar ausdrücklich, doch blieb die Kritik an der »Form der Darstellung« nicht aus,57 so dass dieser sich im »Vorbericht zur zweyten Auflage« der Sabina dazu veranlasst sah, diese als eine Schrift zu bezeichnen, »bey der es ihm überhaupt weit weniger auf die Einkleidung, gegen die sich immer erhebliche Zweifel erregen lassen werden, als auf die Sachen ankam«.58 Am ausführlichsten hat sich indes Wilhelm Adolph Becker mit der schon bei den Zeitgenossen umstrittenen Form des antiquarisch-philologischen Romans auseinandergesetzt. Er rechtfertigt die von ihm trotz aller Einwände gewählte hybride, Fakt und Fiktion miteinander verbindende Form mit dem Hinweis auf die besondere Beschaffenheit seines Untersuchungsgegenstandes, das prinzipiell nicht zu systematisierenden private Leben der Griechen bzw. Römer: »Mein Plan«, so bekennt er im Vorwort zu seinem 1838 erschienenen Gallus, war ursprünglich, ein wissenschaftlich geordnetes Handbuch zu geben; allein ich fand bald, dass durch diese Form mir nicht nur die Untersuchung, der die meisten Gegenstände noch unterliegen mussten, zu sehr abgeschnitten werden, sondern auch eine

_____________ 55 Böttiger, Sabina, XVII f. 56 Ebd., XVIII. 57 Vgl. die zeitgenössische anonyme Rezension in der Neuen Leipziger Literaturzeitung, 722 (»Nur kam es uns vor, als ob an einigen Stellen der Ton der Erzählung ins Spielende falle […].«) sowie in der Allgemeinen Literaturzeitung , 257 f. (»Dilettanten vielleicht – zu denen wir auch gebildete Frauen zählen – wenn sie nicht vor den gelehrten Erörterungen hinter jeder einzelnen Scene zurückschrecken, wird diese Art der Darstellung noch am meisten gefallen. Kennern des Alterthums hingegen, welche die ausgesuchte Gelehrsamkeit des Vfs. zu schätzen wissen, und denen wohl schon die Manier des jungen Anacharsis in einzelnen kleineren Scenen zuweilen zu süsslich war, möchte eine einfache, mit Ernst geordnete und ausgeführten Behandlung, die kein Abschweifen vom Hauptzweck der zerstreuten Unterhaltung einräumt, eine Darstellung, wie sie in Meierotto’s noch immer trefflichem Buch über Sitten und Privatleben der Römer gewählt ward, bey dem Reichthum und der Gediegenheit des Stoffes leicht angenehmer gewesen seyn; […].«). Dagegen hält der Rezensent der Göttingischen Gelehrten Anzeigen, 1385 f., Böttigers »Gedanken«, »das Ganze in eine Drama zu bringen«, für »glücklich«: »Aufrichtig bewundert der Rec. diese neue sinnreiche Erfindung, den Erklärungen der Alterthümer ein gefälliges Gewand zu geben, und zwar einem Theile derselben, der es, nach seinem Gefühle, am wenigsten fähig zu seyn schien, und ihm selbst immer als das Allertrockenste vorkam; […].« Zur Kritik insbesondere an der »Frivolität« und Unsittlichkeit der Sabina siehe SchmidtFunke (2006), 94–96. 58 Böttiger, Sabina, VI f.

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Menge einzelner schwer zu rubricirender Züge gar nicht zur Berücksichtigung kommen würden, die doch gerade recht dazu dienen, ein Bild von dem antiken Leben zu geben. Ich habe daher vorgezogen, auf ähnliche Weise, wie Böttiger und Mazois gethan haben, an einzelne Abschnitte einer fortlaufenden Erzählung die Erläuterung der zu berücksichtigenden Gegenstände zu knüpfen, eine Form, die zugleich den Vortheil gewährte, die Ergebnisse der Untersuchung zu einem leicht übersehbaren Bilde zusammenzustellen.59

Dasselbe Argument findet sich auch im Vorwort zu seinem zwei Jahre später erschienenen Charikles mit seinen »Bildern altgriechischer Sitte zur genaueren Kenntniss des griechischen Privatlebens«, denen als Motto ein Zitat aus Plutarchs Alexander-Vita vorangestellt ist, demzufolge eine »unbedeutende Handlung, eine Rede oder ein Scherz den Charakter des Menschen oft deutlicher als Schlachten mit tausenden von Toten«60 zeigen: Hinsichtlich der Form blieb mir keine Wahl: es konnte die Erläuterung der tausend vereinzelten und doch für die Sitte so charakteristischen Züge nur an Bilder aus dem Leben selbst geknüpft werden. Ich würde es höchst unpassend finden, wenn man einer Bearbeitung der Staatsalterthümer diese Einkleidung geben wollte; denn der Staat ist eben ein System und daher die systematische Behandlung durch den Stoff selbst vorgeschrieben. Anders aber verhält es sich mit dem Privatleben, dessen bunte, in zahllosen Varietäten wechselnde Bilder jeder strengen Klassifikation widerstreben, und das nur eben durch sich selbst dargestellt sein will. […] Wer aus meiner Behandlung des Stoffs in den Excursen und Anmerkungen erkennt, was ich mir zur Aufgabe gestellt habe, der wird die Darstellung in der Erzählung als ein Opfer betrachten, das ich der Nothwendigkeit brachte, […].61

Ist der antiquarisch-philologische Roman damit als eine rein aus der Notwendigkeit zu rechtfertigende Form zu verstehen, gewählt lediglich, um der anderweitig nicht zu systematisierenden, klassifizierenden und rubrizierenden Masse von Fakten wenigstens narrativ Herr zu werden? Ganz so weit gehen und die einzelnen von ihm erdichteten Szenen als bloße »Träger des gelehrten Apparats« ohne eigenen Wert betrachten, möchte Becker denn doch nicht. Die genuine Leistung der erzählerischen Fiktion besteht ihm zufolge darin, einen lebendigen Totalüberblick zu ermöglichen, wo die Wissenschaft nur einzelne tote Fakten bietet: Es würden mir blosse gelehrte Erörterungen der Sitten und Gewohnheiten anatomischen und osteologischen Tafeln vergleichbar scheinen, auf denen man alles Knochen, Muskeln, Gefässe, Nerven und Bänder bis ins kleinste Détail verfolgen kann; aber ein Bild des menschlichen Körpers würde durch sie allein niemand erhalten; niemand würde ahnen, dass diese zerrissenen, deformen Theile sich zu so einer edeln Gestalt zusammenfügen liessen. Wenn es mir nun aber gelungen wäre, gleichsam das-

_____________ 59 Becker, Gallus, VIII f. 60 Plutarch, vitae parallelae (Alexandros), 1, 2. 61 Becker, Charikles, XIII f. Vgl. ebd., XIII: »Hätte ich es für möglich gehalten, bei einer anderen Anordnung meinen Zweck zu erreichen, so würde ich gar gern die darstellenden Scenen, bei Weitem der schwierigste Theil meiner Arbeit, mir erspart haben.«

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Martin Dönike selbe, so weit es möglich, reproducirt zu haben, so würde mir dieses Gelingen nicht unverdienstlich erscheinen, da begreiflicher Weise keine Schrift des Alterthums einen solchen Totalüberblick gewährt, gleichsam ein Panorama der Sitte vor Augen stellt.62

Wenn Becker sich gleichwohl gegen den Eindruck verwahrt, er habe etwa mit dem Gallus und Charikles »Romane« schreiben wollen, so ist dies vor dem Hintergrund seiner Sorge als Historiker zu verstehen, »dass solche Fiction mit dem Ernste wissenschaftlicher Untersuchung sich nicht vertrage«.63 Statt der Gattungsbezeichnung »Roman« bevorzugt er für seine »Bilder« und »Szenen« den neutraleren Terminus »Erzählung« und beschreibt seine Vorgehensweise mit der »Zusammensetzung eines Mosaikgemäldes […], zu dem eine bestimmte Anzahl bunter Stifte gegeben ist, die eben nur hinreichen, um das Bild zu Stande zu bringen.« Was er selbst »zur Verbindung des Einzelnen hinzufügen musste«, so Becker, könne »für nichts weiter gelten, als die bedeutungs- und farblosen Steine, die unentbehrlich waren, um einen Grund zu gewinnen, auf dem das verlangte Bild deutlich erscheinen möchte.«64 Beckers hier wie auch an anderer Stelle formulierter Vorbehalt gegenüber dem Roman wie auch sein Bestreben, beim Schreiben »die eigene Subjektivität gänzlich zurückzudrängen und die Phantasie nur mit einer vorgeschriebenen Zahl einer fremden Welt entnommener Vorstellungen arbeiten zu lassen«65, bezeichnen nun aber ebenso wie Böttigers Behauptung, dass es ihm »weniger auf die Einkleidung, […] als auf die Sachen« angekommen sei, genau den kritischen _____________ 62 Becker, Charikles, XIV. – Ob Becker tatsächlich geplant hat, »die der Böttiger’schen Sabina nachgebildete romanhafte Einkleidung« seines Gallus »bei einer Wiederholung dieser Arbeit« aufzugeben, wie Karl Friedrich Hermann mit Hinweis »mündliche Aeußerungen« Beckers behauptet hat, muss dahingestellt bleiben. Siehe Hermann, [Rez.] Gallus, 709. 63 Becker, Gallus, XIII f.; vgl. auch die Vorrede Beckers zum Charikles, in der er dem möglichen »Tadel« entgegentritt, dass dieser »zu sehr den Charakter des Romans an sich trage« (Becker, Charikles, XIV). 64 Becker, Gallus, XIV. Vgl. auch Becker, Charikles, XV, wo zur Mosaik- die verwandte Kittmetapher hinzutritt: »Als ich beim Ordnen des Materials den vorhandenen Stoff auf die einzelnen Scenen vertheilte, da ergab sich in der Hauptsache der Plan der Erzählung von selbst, so dass es nur des verbindenden Kitts bedurfte, und wer den Text der Scenen mit den Excursen und Anmerkungen vergleicht, der wird finden, dass der kleinste Theil desselben mir angehört. Denn wenn von mir und von Anderen für die römischen Scenen der Vergleich eines Mosaikbildes gebraucht worden ist, so gilt diess in viel höherem Grade von diesen Bildern griechischer Sitte, die fast ganz aus Fragmenten griechischer Schriftsteller zusammengesetzt sind.« Von einem »Mosaik, in dem die Echtheit auch des kleinsten Steinchens bescheinigt wurde«, spricht auch Klemperer (1958), 481 mit Bezug auf den Anacharsis. 65 Becker, Charikles, XIII: »Man mag es beim flüchtigen Lesen nicht ahnen, mit welcher umsichtigen Behutsamkeit diese Bilder entworfen sein wollten, mit wie mühsamem Fleisse die gegebenen einzelnen Züge zur Einheit eines Gemäldes verbunden werden mussten, welche beengende Resignation dazu gehörte, die eigene Subjektivität gänzlich zurückzudrängen und die Phantasie nur mit einer vorgeschriebenen Zahl einer fremden Welt entnommener Vorstellungen arbeiten zu lassen.«

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Punkt, auf den Bulwer-Lytton im Vorwort zu seinen Last Days of Pompeii zielt, wenn er im Hinblick auf seine Vorgänger schreibt: Niemand, der vollkommen begriffen hat, was die Prosadichtung in unserer Zeit geworden ist, welche Würde, welchen Einfluß sie besitzt, in welcher Weise sie nach und nach alle verwandten Fächer der Literatur überflügelt hat, und wie nachdrücklich sie zugleich der Belehrung und Unterhaltung dient, kann ihre engen Beziehungen zur Geschichte, zur Philosophie, zur Politik, ihre enge Harmonie mit der Poesie und ihre Wahrheitsliebe so weit außer Acht lassen, daß er ihre Natur auf das Niveau schulmäßiger Kleinigkeitskrämerei herabdrückt. Der Dichter erhebt wohl die Gelehrsamkeit zu einem schöpferischen Werk, aber niemals erniedrigt er das schöpferische Werk zur Gelehrsamkeit.66

Diesem Urteil, formuliert vor dem Hintergrund der großen Erfolge der Romane Sir Walter Scotts, lässt sich aus heutiger Sicht nicht widersprechen. Auch wenn Becker in einem Exkurs zum Gallus Bulwer-Lytton vorwirft, aus antiken Gemälden ein »modernes Zerrbild« geschaffen zu haben, waren die Tage des antiquarisch-philologischen Romans spätestens seit dem Erscheinen der Last Days of Pompeii gezählt.67 Zwar wurden die Werke Barthélemys, Böttigers und Beckers noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder neu aufgelegt und dabei sogar ins Französische und v. a. Englische übersetzt68 – das intendierte Publikum scheint indes weniger das interessierte Laienpublikum, sondern vielmehr Fachwissenschaftler oder – wohl eher unfreiwillig – Schüler der alten Sprachen gewesen zu sein, die ihren Unmut über die sie offenbar langweilende Lektüre mitunter

_____________ 66 Bulwer-Lytton, Die letzten Tage von Pompeji, 550 (»No man who is thoroughly aware of what Prose Ficiton has now become, of its dignity – of its influence – of the manner in which it has gradually absorbed all similar departments of literature – of its power in teaching as well as amusing – can so far forget its connexion with History – with Philosophy – with Politics – its utter harmony with Poetry, and obedience to Truth, as to debase its nature to the level of scholastic frivolities; he raises scholarship to the creative, and does not bow to the scholastic.«; Bulwer-Lytton, The Last Days of Pompeii, XI). 67 Becker, Gallus, Bd. 2, 228. 68 Böttigers Sabina erschien in zweiter Auflage 1806 in Leipzig, eine von Karl Fischer herausgegebene dritte, stark gekürzte und überarbeitete Auflage 1878 in Mönchengladbach. Bereits 1813 war das Werk unter dem Titel Sabine ou Matinée d’une dame Romaine à sa toilette in Paris auf Französisch erschienen. – Nach der deutschen Übersetzung des Jahres 1820 erschien eine zweite Auflage von Mazois’ Scaurus 1822 in Paris, ihr folgten eine dritte und vierte in den Jahren 1859 bzw. 1869, schon 1825 war das Werk zudem ins Italienische übersetzt worden. – Berichtigt von Karl Friedrich Hermann wurde Beckers Charikles 1854 ein zweites Mal, wiederum neu bearbeitet von Hermann Göll in den Jahren 1877/1878 ein drittes Mal aufgelegt. In England erschien eine erste Übersetzung 1845, ihr folgten bis 1906 neun weitere Auflagen. Gallus erlebte in Deutschland insgesamt vier jeweils ergänzte und korrigierte Auflagen (1838, 1849, 1863, 1880– 1882), in England waren es von 1844 bis 1907 sogar mehr als zehn Auflagen. Zur besonderen Rezeption insbesondere des Gallus in England siehe den angefügten Exkurs »Gallus und Charikles bei den Briten«.

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in Form von wenig respektvollen Kritzeleien äußerten (Abb. 5).69 Allerdings, und dies sollte deutlich geworden sein, sind die Werke eines Bulwer-Lytton, aber auch die eines Felix Dahn oder Georg Ebers – dieses, mit den Worten Dolf Sternbergers, Verfassers »jener sonderbaren Romane mit Anmerkungen«70 – ohne den

Abb. 5: Kopie eines Gemäldes aus den Pitture d’Ercolano (vgl. Abb. 3): »Eine Braut wird in Gegenwart ihrer schon geschmückten Mutter angeputzt«. Die Abbildung ist dem »ex Bibliotheca regia Berolinensi« stammenden und heute im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin befindlichen Exemplar von Böttigers Sabina entnommen (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/bpk; Signatur: Rn 2412).

_____________ 69 Noch in Horst Blancks 1976 erschienener Einführung in das Privatleben der Griechen und Römer werden unter den einschlägigen monographischen Darstellungen Beckers Gallus und Charikles (jeweils in der von Hermann Göll bearbeiteten Neuausgabe 1877/1878 bzw. 1880– 1882) aufgeführt. 70 Sternberger (1974), 211. Zu Ebers siehe den Beitrag von Achim Aurnhammer im vorliegenden Band.

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antiquarisch-philologischen Roman nicht denkbar: Es ist, als ob der ›bloß‹ antikisierende Roman des 18. Jahrhunderts sich zunächst einmal mit Fakten hätte vollsaugen müssen, bevor der historisch fundierte Antikeroman des 19. Jahrhunderts überhaupt entstehen konnte: Bulwer-Lytton hatte also einen guten Grund, sich so vehement vom antiquarisch-philologischen Roman abzugrenzen, der ihm näher war als er zugeben mochte. Werke wie Barthélemys Anacharsis, Böttigers Sabina oder Mazois’ Palais de Scaurus mochten mittlerweile zwar einen langen Bart bekommen haben – allein, ohne sie wäre die scheinbar eruptive Geburt des archäologischen Romans nicht möglich gewesen.

Exkurs: Gallus und Charikles bei den Briten Ein genauerer Blick auf die englische Rezeption von Beckers Gallus und Charikles macht deutlich, dass die von ihm gewählte Kombination von Fakten und Fiktion in Deutschland und Großbritannien grundsätzlich unterschiedlich bewertet wurde: Während die deutschen Kritiker sich im Allgemeinen voller Hochachtung über Beckers wissenschaftlichen Apparat (Anmerkungen und Exkurse) äußerten und der literarischen Einkleidung eher zurückhaltend gegenüberstanden,71 waren ihre englischen Kollegen voll des Lobes gerade für die »story«. So heißt es schon in dem ersten, am 26. Dezember 1838 in der Londoner Times erschienenen Rezension über Beckers Gallus, »that the author has rendered the mere narrative of the story far more interesting than his preface gives reason to expect«: [T]he thread of the narrative unfolds itself very naturally, and the incidents are so skillfully introduced, that the dissertations and notes annexed to the scenes seem indispensable to the story, though it is solely for them the book is written.72

Bezeichnenderweise hat der englische Übersetzer Beckers, Frederick Metcalfe, Gallus und Charikles zumindest äußerlich der Romanform angeglichen, indem er die einzelnen Szenen der Erzählung ohne Unterbrechung aufeinander folgen ließ. Als Begründung für diese Entscheidung, in deren Zuge die gekürzten Anmerkungen direkt unter den Text gesetzt und die gerafften Exkurse in einen eigenen An_____________ 71 So etwa Christian Bähr in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur, Wilhelm Herzberg und ein anonymer Rezensent in den Hallischen Jahrbüchern sowie – prinzipiell kritisch gegenüber jedem Versuch Wissenschaft zu popularisieren – Anton Westermann in den Neuen Jahrbüchern für Philologie und Paedagogik. Weitaus freundlicher hatte sich bereits zwei Jahre zuvor G. Jacob in demselben Jahrbuch über die von Becker für den Gallus gewählte literarische Form geäußert. 72 [Anon.], Domestic Manners of the Romans, 6. Ganz in diesem Sinne heißt es auch in Frederick Metcalfes Preface seiner Übersetzung des Gallus von 1844: »The narrative, in spite of the author’s modest estimate of this section of his labours, is really very interesting, nay, wonderfully so, considering the narrow limits he had prescribed for himself, and his careful avoidance of anything not founded on fact, or bearing the sembeance of fiction.« (Becker/Metcalfe, Gallus, ix).

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hang verbannt wurden, führt er in der Vorrede zur Übersetzung des Gallus (1844) die literarischen Erwartungen des englischen Publikums an, die sich von denjenigen der deutschen Leser diametral unterschieden: In fact, in order to render the book successful in England, it was absolutely necessary that it should be somehow divested of its very German appearance, which, how palatable soever it might be to the author’s own countrymen, would have been caviare to the generality of English readers. For instance, instead of following each other uninterruptedly, the Scenes were separated by a profound gulf of Notes and Excursuses, which, if plunged into, was quite sufficient to drown the interest of the tale. The present translator was advised to attempt certain alterations, and he was encouraged to proceed with the task by the very favourable opinion which some of our most distinguished scholars entertained of the original, and their desire that it should be introduced into this country. The notes have been accordingly transported from their intercalary position, and set at the foot of the pages in the narrative to which they refer. The Scenes therefore succeed each other uninterruptedly, so that the thread of the story is rendered continuous, and disentangled from the maze of learning with which the Excursuses abound. These, in turn, have been thrown together in an Appendix, and will doubtless prove a very substantial caput coenae to those who shall have first discussed the lighter portion of the repast.73

Beckers deutsche Herausgeber sind Metcalfes Trennung von literarischer Erzählung und wissenschaftlichem Anhang in ihren Neuauflagen gefolgt. So begründet Wilhelm Rein in der Vorrede zu der von ihm »sehr vermehrten und berichtigten« zweiten Auflage des Gallus (3 Bde., 1849) seine »Veränderungen des Plans und der ganzen Oekonomie des Buchs« damit, dass ein »wesentlicher Uebelstand der ersten Auflage in der Zerrissenheit des Stoffs und in den längeren Unterbrechungen« beruhe, »welche die fortlaufende Erzählung durch die zahlreichen Anmerkungen und Excurse erleidet, so dass weder die Erzählung selbst noch die Excurse unter sich zusammenhängen.«74 Aus diesem Grund habe er es für »geeigneter« gehalten, 1) die Erzählung selbst nebst den nothwendigsten Anmerkungen für sich zu stellen und daraus den 1. Theil zu bilden, die Excurse aber in den 2. und 3. Theil aufzunehmen; 2) die Excurse so zu ordnen, dass, wenn sie auch keinen systematischen Zusammenhang bilden, was überhaupt bei den Privatalterthümern schwer auszuführen ist, doch wenigstens das Gleichartige an einander gereiht sei.75

Das auf diese Weise neu geordnete und zusammengestellte Werk offenbart jedoch, dass Rein letztlich weniger daran gelegen war, die Erzählung, wie Metcalfe es getan hatte, von dem wissenschaftlichen Apparat als vielmehr den wissenschaftlichen Apparat von der Erzählung zu befreien, die hier nur noch einen von nunmehr drei Bänden einnimmt, während die beiden anderen Bände ein »förmli_____________ 73 Becker/Metcalfe, Gallus, vii f. Vgl. auch Becker/Metcalfe, Charicles, vii f. 74 Becker/Rein, Gallus, XIV f. 75 Ebd., XV.

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ches System« des römischen Privatlebens als des »Haupttheils der römischen Antiquitäten« bilden.76 Die Popularität Beckers in Großbritannien und der Einfluss seiner ›gelehrten Romane‹ auf den englischen historischen Roman der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist übrigens größer gewesen als man aus heutiger Sicht vielleicht anzunehmen geneigt ist. In seiner Studie über Ancient Rome in the English Novel hat Randolph Faries bereits 1923 darauf aufmerksam gemacht, dass Beckers Werke den englischen Autoren einerseits die Notwendigkeit absoluter Genauigkeit zeigten, andererseits aber auch als warnendes Beispiel für die der wissenschaftlichen Akkuratesse innewohnenden Gefahren dienen konnten: [W]hile Becker’s work does not pretend to be a novel, he unconsciously aided later writers of the novel of Roman life by showing them what a mistake it would be to overcrowd such a novel with details of Roman private life. At the same time they might derive some profit from Gallus as a model of accuracy in such matters. Becker’s work was a step in proof of the fact that the later novel of Roman life must be accurate and precise in matters of scholarship. It is true that Bulwer had done somewhat the same thing that Becker claims to do in Gallus, but Becker’s meticulous regard for detail, while showing English novelists what to avoid, also aided them to a more full appreciation of the necessity for absolute accuracy, even in matters of small importance.77

Doch konnten, so Faries, natürlich nicht nur die (vermeintlich) fiktionsverliebten Briten, sondern auch die (ebenso vermeintlich) faktenbesessenen Deutschen etwas von ihren Nachbarn lernen: If Becker and other German scholars showed scholars elsewhere the necessity of thoroughness in classical scholarship, and added much to their study of Roman life, it is equally true that Sir Walter Scott showed the world the possibilities of the historical novel.78

_____________ 76 So das Urteil Karl Friedrich Hermanns in seiner Rezension der Rein’schen Ausgabe: »Nur diese Modification hat sich Hr. Rein und zwar gewiß zum Vortheile des Buchs erlaubt, daß er die Geschichtserzählung, zwischen deren Abschnitte Becker seinen ganzen gelehrten Apparat in Anmerkungen und Excurse vertheilt hatte, von der wissenschaftlichen Ausführung der verschiedenen Zweige des römischen Privatlebens völlig getrennt und nur mit den nöthigsten Erläuterungen versehen in dem ersten Bande vereinigt hat, während die beiden folgenden in den verselbständigten Excursen ein förmliches System dieses Haupttheils der römischen Antiquitäten darstellen.« (Hermann, Gallus, 709 f.). 77 Faries (1923), 63 f. Siehe auch ebd., 72 seine »Review of the Influence of German Scholars and Authors«. Dass Beckers, aber auch schon Böttigers »heavily documented pedagogical works« ins Englische übersetzt wurden und dort äußerst populär waren, hat auch Dahl (1973), 3, betont. Zu der Kenntnis zeitgenössischer deutscher Literatur in England (insbesondere Wieland, aber auch Fessler, Pichler und Böttiger) vgl. Macbeth (1935), 15, 20, 22, 158. 78 Faries (1923), 65. Zum Verhältnis Becker-Scott vgl. ebd., 63: »Becker is not in any sense to be considered a pupil of Scott, though his work was published shortly after the world had read the last of Scott’s novels. But Becker showed later German followers of Scott how it was possible to present with minute accuracy the life of the Romans; and these German historical novelists

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_____________ who thus portrayed Roman life, had an important influence upon the English novel of Roman life, […].« – Zu den deutschen Vorläufern von Scotts historischem Roman siehe Reitemeier (2001), besonders 27–39.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:

Barthélemy, Jean-Jacques, Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland vierhundert Jahr vor der gewöhnlichen Zeitrechnung, Bd. 1, Berlin 1789, Tafel I. Barthélemy, Jean-Jacques, Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland vierhundert Jahr vor der gewöhnlichen Zeitrechnung, Bd. 2, Berlin 1790, 264 f. Le Antichità di Ercolano Esposte, Bd. 4: Le pitture antiche d’Ercolano e contorni con qualche spiegazione, Neapel 1765, Tafel 43. Mazois, Charles-François, Le Palais de Scaurus […], 3. Aufl. Paris 1853, Tafel 2. Böttiger, Carl August, Sabina, Bd. 1, Leipzig 1806, Tafel 2 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/bpk).

Bildhauerische Technik und die Wahrnehmung antiker Skulptur: Francesco Carradoris Lehrbuch für Studenten der Bildhauerei von 1802 CHARLOTTE SCHREITER

Seit der Renaissance schmückten originalgroße Kopien antiker Skulpturen die Fürstenhäuser, Gärten, Museen, Akademien und Universitäten Europas. Die Motivationen, sie anzufertigen, waren so vielfältig wie die verwendeten Materialien und Herstellungstechniken.1 Bis ins 17. Jahrhundert bestanden Antikenkopien zumeist aus denjenigen Materialien, die als die wertvollsten angesehen wurden: Bronze und Marmor. Die vorbildlichen antiken Skulpturen wurden zunächst in Gips abgegossen; Abgüsse wurden ihrerseits zu Vermittlern der Form und dienten im Gussprozess als Gussmodell, in der Bildhauerwerkstatt als maßgetreue Vorlage für den Künstler. Die grundsätzliche Unterscheidung in gegossene und in Stein geschlagene Kopien wurde in den folgenden Epochen beibehalten, auch als im 18. Jahrhundert mit der zunehmenden Verlagerung der Produktion in Kunst-Manufakturen2 andere, preiswertere Materialien favorisiert wurden. Die Zahl der Kopien in verschiedensten Materialien nahm in der Folge stark zu. Wenn gerade im 19. Jahrhundert die Anzahl von Antikenkopien sprunghaft anstieg, so hatte dies seine Ursachen in verschiedenen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts. Waren zuvor Kopien mit dem Namen eines in aller Regel bekannten, individuell benennbaren Künstlers verbunden,3 so wurden sie nun eher nach ihrer Herkunft aus einer bestimmten Werkstatt, dem verwendeten Material und ihren Verwendungsmöglichkeiten bewertet. Das implizite Wissen über ›die‹ Antike, das durch sie vermittelt wurde, wurde so von den Rahmenbedingungen _____________ 1

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Zahlreiche Publikationen befassen sich mit dem Fundus der vorbildgebenden antiken Statuen und ihrer bildlichen und plastischen Wiedergabe; einen guten Überblick bieten Ladendorf (1953) und Haskell/Penny (1998). Hier wird der Teilbereich der großformatigen, dem Original weitestgehend entsprechenden Kopie antiker Skulpturen in den Blick genommen, da diese eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die vor allem aus der angestrebten Ähnlichkeit mit dem Original resultieren. – Für wichtige Hinweise und eine kritische Durchsicht des Textes danke ich Johannes Myssok. Becker (2004), Rau (2003). Schreiter (2006), 60–61.

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des Machbaren bestimmt. Dass technische Entwicklungen das 19. Jahrhundert zum »Jahrhundert der Reproduktion« werden ließen, ist ein Topos,4 der hier explizit in Hinsicht auf eine materielle Aneignung, wenn nicht Einverleibung von Antike betrachtet werden soll. Großformatigen, dem Original in der Größe entsprechenden Kopien kamen in der Wahrnehmung der Auftraggeber und Betrachter verschiedene Funktionen zu: Sie dienten als Ersatz für nicht verfügbare Vorbilder und wurden häufig in einem neuen Kontext umgedeutet. Die speziellen Vorgaben eines individuellen Auftraggebers spielten dabei eine zentrale Rolle. Zugleich aber verbreiteten sie die Kenntnis ausgewählter antiker Skulpturen in ganz Europa. Dieser immanente Bildungsgehalt wurde im 18. Jahrhundert konkretisiert, denn durch die Vereinigung einer jeweils größeren Anzahl von Abgüssen verschiedener antiker Bildwerke in zunächst akademischen, dann universitären Abgusssammlungen wurde ein vorbildlicher Gesamtbestand antiker Skulptur als Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse in den Blick genommen. Die Etablierung der Klassischen Archäologie als Fach im 19. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit der Einrichtung von Abgusssammlungen.5 Die Ähnlichkeit mit dem jeweiligen Vorbild, seine Wieder-Erkennbarkeit, beeinflusste auf verschiedenen Ebenen die Bewertung von Kopien, denn neben die künstlerischästhetische Rezeption antiker Skulpturen trat der wissenschaftliche Zugang. Antikenkopien, -nachbildungen und -abgüsse konnten so – dem jeweiligen Kontext angepasst – unterschiedlich wahrgenommen werden; Ursache hierfür ist auch das Resultat technischer Prozesse der Herstellung. Diesem Phänomen wurde bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Waren bildhauerische und plastische Techniken zunächst vorwiegend anhand des Oeuvres einzelner Künstler und seltener als Voraussetzung für Veränderungen in der Wahrnehmung von Skulptur reflektiert worden,6 so sind die künstlerischen Techniken und die Werkstattorganisation von Bildhauern wie Canova und Thorwaldsen7 sowie für die Manufakturbetriebe8 mittlerweile besser untersucht worden. Die ambivalente Funktion von Gipsabgüssen als Mittler zwischen Original _____________ 4 5 6

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Ladendorf (1953), 72. – Kammel (2000), 56. – Peters (2001), 147–149. – Rupp (1989). Himmelmann (1976); Borbein (2000). Diese Beobachtung wurde von Baker (2000), 34–35 und passim anhand der klassizistischen Plastik in England dargelegt. Sie ist auf andere Länder ohne weiteres übertragbar. Eine umfangreiche Einbindung künstlerischer Techniken in die Bedingungen verschiedener Epochen bieten Baudry/Bozo (2000). – Innerhalb des Teilprojektes Wunschwelt Antike um 1800 des Sonderforschungsbereiches 644 Transformationen der Antike befasst sich das Unterprojekt Material, Kontext und immaterielles Ideal: Bedingungen großformatiger Antikennachbildungen in ›unedlen‹ Werkstoffen in Mitteldeutschland um 1800 eingehend mit Kopien und Nachbildungen, ihrem Material und ihren Herstellungsbedingungen. – Erben (2004), 184 und 198–200 eröffnete ausgehend von den Antikenkopien, die in der Académie Française in Rom seit dem 17. Jahrhundert hergestellt wurden, weiter führende Fragestellungen. Honour (1972) und (1992); Peters (2001). Rau (2003); Becker (2004); Coltman (2006), 123–163.

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und Kopie einerseits und als Modell im Werkprozess andererseits ist deutlicher konturiert worden. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Veränderungen im Werkprozess von Bildhauern an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sich auf die Herstellungsbedingungen von steinernen Antikenkopien auswirkten. Das Phänomen der massenhaften Herstellung solcher Kopien soll dabei vor dem Hintergrund einer veränderten Wahrnehmung antiker Skulptur untersucht werden. Einer Annäherung an den Themenkomplex dienen Überlegungen zu Aspekten der Verfügbarkeit antiker Skulpturen, ihrer Abgüsse und Kopien im 19. Jahrhundert. Beobachtungen zur Arbeitsorganisation in den Werkstätten der Bildhauer und der Vermittlung handwerklicher Kenntnisse und Fähigkeiten schließen daran an. Den Angelpunkt der Überlegungen bildet hierbei das 1802 von Francesco Carradori, dem Direktor der Florentiner Akademie, herausgegebene Lehrbuch für angehende Bildhauer, in dem sich die »Verwendung« antiker Skulptur auf mehreren Ebenen widerspiegelt. An der Wende zum 19. Jahrhundert entstanden, markiert es einen signifikanten Umbruch in der didaktischen Vermittlung künstlerischer Technik, der für die Wahrnehmung von antiker Plastik im Medium der Kopie nicht ohne Folgen blieb.

Die Verfügbarkeit antiker Plastik im 19. Jahrhundert Die Zusammenstellung antiker Original-Skulpturen in den öffentlichen Sammlungen zumal in Nord- und Mitteleuropa war eher zufällig und durch unkalkulierbare Erwerbungsumstände bedingt.9 Oftmals schränkten zudem irreversibel überformende Restaurierungen vorangegangener Jahrhunderte den Zugang zur Originalsubstanz ein.10 Gerade in der Zeit um 1800 wurde dieser Verlust zunehmend reflektiert, die Bewertung der vorhandenen Ergänzungen und Restaurierungen wurde kritischer und führte vielerorts im späteren 19. Jahrhundert zur Entfernung oder Neurestaurierung vorhandener Substanz.11 _____________ 9 Ladendorf (1954), 51–54; Haskell/Penny (1998), passim. 10 Die Literatur zu diesem Themenfeld ist umfangreich und in der Bewertung sehr uneinheitlich, zumal der Blickwinkel auf die Ergänzungstätigkeit des 16. und frühen 17. Jahrhunderts sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat: vgl. exemplarisch Ladendorf (1954), 55–61 und Ramage (2002), 62; 66–67; Ramage (2003). 11 Das Beispiel der Dresdner Skulpturensammlung kann hierfür als exemplarisch angesehen werden: Die Skulpturen des unter August dem Starken erworbenen Kontingents der Sammlungen Chigi/Albani waren schon in Rom umfangreich ergänzt und überarbeitet worden. Die Kritik hieran manifestiert sich schriftlich zunächst in der Publikation von Wilhelm Gottlieb Becker, der in den beigegebenen Stichen die Trennung zwischen eindeutiger Originalsubstanz und Ergänzung markiert: siehe Schreiter (2004), 18–19; unter Georg Treu wurden dann diese Ergänzungen entfernt (jedoch in den Magazinen der Skulpturensammlung aufbewahrt): vgl. Knoll (2003); siehe auch Heilmeyer/Heres/Maaßmann (2004), 36, Anm. 60. In jüngster Zeit sind

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Objektiver in der Vermittlung archäologischer Kenntnisse waren Abgüsse antiker Plastik in Abgusssammlungen,12 die gegenüber Stichen, Zeichnungen und anderen zweidimensionalen Reproduktionsmedien den unbestreitbaren Vorteil der Wiedergabe der Rundansichtigkeit, des Volumens und der Größe der vorbildhaften Kunstwerke hatten. Auch nachdem sich die Fotografie in der archäologischen Dokumentation etabliert hatte, blieb dieser Vorzug weithin akzeptiert.13 Die Zusammenstellung dieser Abgusssammlungen war nun ihrerseits nicht nur von systematischen Erwerbungen, sondern ebenfalls von der Verfügbarkeit der Originale abhängig. Während der napoleonischen Feldzüge wurden die Museen und Sammlungen Europas geplündert. Zahllose Kunstwerke wurden nach Paris verbracht, darunter die wichtigsten und berühmtesten antiken Kunstwerke aus Italien. Das Atelier de Moulage verdankt seinen Aufstieg besonders dem Umstand, dass diese Antiken vor Ort neu abgegossen und die Abgüsse in ganz Europa verkauft werden konnten.14 Im Musée Napoléon wurden die geraubten Kunstschätze Europas für eine kurze Zeit wie in einem imaginären Museum vereint, die kanonischen Antiken waren dort aus ihren festgeschriebenen italienischen Kontexten befreit und bildeten erstmals ein Panorama aller berühmten Meisterwerke der Antike.15 Unter einer veränderten Prämisse standen so nun diejenigen Skulpturen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die seit der Renaissance Künstler und Antiquare in ihren Bann gezogen hatten und die in Wiederholungen unterschiedlichster Größe und Qualität weit verbreitet und gut bekannt waren. Vom Original direkt abgenommen, ersetzen die in der Folge neu angefertigten Gipse die Antiken in den berühmten Sammlungen Europas und konnten ihrerseits an jedem beliebigen anderen Ort zu einem Panorama der antiken Kunst vereinigt werden.16 Die Kenntnis stieg damit in ganz Europa stark an, auch wenn die dinglich greifbaren Antiken durch Kopien substituiert waren.

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Überlegungen entstanden, an Gipsen der Originalsubstanz die Ergänzungen wieder anzufügen, um den Eindruck des 17./18. Jahrhunderts wieder herzustellen. – Analoge Phänomene lassen sich etwa auch für die Berliner Antikensammlung beobachten: vgl. Heilmeyer/Heres/Maaßmann (2004), 29–32 zu den Restaurierungen Rauchs. Haskell/Penny (1998), 121–122; Barbanera (2000), 59–60; Borbein (2000). – Die Situation in München, wo es trotz der hervorragenden Sammlung der Glyptothek zur Einrichtung eines Gipsmuseums kam, schildert anschaulich Berchtold 1987, 110–117. Die Geschichte der Gipsabgusssammlungen ist in den letzten beiden Jahrzehnten verschiedentlich Gegenstand von Untersuchungen geworden. Für den deutschen Sprachraum darf die Untersuchung von Cain (1995) weiterhin als umfassendster Überblick gelten. – Die beste Übersicht zur Entwicklung der universitären Abgusssammlungen liefert Bauer (2002); siehe auch Himmelmann (1976), 138–157; Boehringer (1981), 274. – Dem Verhältnis von Gipsabgüssen und Fotografien als Arbeitsgrundlage in der Klassischen Archäologie widmet sich Klamm (2007). Rionnet (1996), XVIII–XXI; Einholz (1992), 78; Rossi Pinelli (1984). Sheehan (2002), 82–86. Rionnet (1996), 103–108; Barbanera (2000); Borbein (2000), 33.

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Kopien antiker Skulpturen Abgusssammlungen sind jedoch nur eine Facette dieses Phänomens. Unter der Voraussetzung der übermittelten Kenntnis antiker Kunst fand dieses Wissen seinen Widerhall in den allgegenwärtigen Kopien und Nachbildungen antiker Statuen, die in allen Formaten sowohl den öffentlichen Raum, als auch Gärten und Wohnhäuser schmückten. Die Beispiele hierfür sind zahllos und überziehen ganz Nord- und Mitteleuropa;17 so lassen sich besonders seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Manufakturen hergestellte Kopien in gegossenen oder ausgeformten Materialien wie Terrakotta, Blei, Bronze, Eisen etc. in ganz Europa nachweisen. Für ihre Herstellung wurden in der Regel Gipsabgüsse als Modell verwendet, von denen neue Formen abgenommen wurden.18 Kopien und Nachbildungen in Marmor oder anderem Steinmaterial konfrontierten die Künstler mit anderen Problemen, da die Übereinstimmung mit dem Vorbild schwieriger zu erzielen war. Zwei Beispiele aus dem Umfeld des preußischen Hofes am Beginn des 19. Jahrhunderts illustrieren anschaulich die zentrale Funktion handwerklich anspruchsvoller Kopien. Im Vorfeld der Einrichtung des Neuen Museums in Berlin wurden die Antiken aus den königlichen Schlössern und Gärten herausgezogen, die entstandenen Leerstellen wurden durch Kopien geschlossen. So traten im Rondell am Neuen Palais in Sanssouci nach 1821 Marmorkopien an die Stelle der antiken Skulpturen, wodurch der Gesamteindruck wieder hergestellt werden konnte.19 Schloss Tegel wies nicht nur im Inneren ein reiches Programm antiker Gelehrsamkeit auf, sondern auch in den Schmuck des Äußeren wurde eine beziehungsreiche Auswahl vorbildhafter antiker Statuen einbezogen: Wilhelm von Humboldt ließ die Nischen in der rückwärtigen Fassade mit Marmor-Kopien antiker Skulpturen schmücken, die allerdings erst nach seinem Tod 1836 fertig gestellt wurden.20 Während die Bildhauer der Stücke in Sanssouci aus dem Umfeld der Berliner Bildhauerschule stammten, was sowohl für den Ort wie auch für den Anlass angemessen schien,21 waren in Schloss Tegel italienische Künstler aus Carrara tätig.22 Die Künstler der Kopien sind in beiden Fällen zwar namentlich bekannt, in der Rezeption der Figuren spielen sie jedoch eine untergeordnete Rolle. Die Person der kopierenden Künstler rief weit weniger Interesse hervor als _____________ 17 Vgl. Haskell/Penny (1998), 31–37; 79–92. – Siehe jetzt auch Coltman (2006), 123–163 (für die englischen Beispiele). 18 Rau (2003); Schreiter (2004). 19 Eckhardt (1990), 185; Hüneke (2000), 24–26. 20 Heinz (2001), 59–62, Abb. 21. 21 Eckhardt (1989), 183–184. Vgl. das Phänomen der Bronzekopien: Schreiter (2007), 121–123. 22 Heinz (2001), 59–62; freundliche mündliche Information von Christine von Heinz (2006).

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der kopierte Gegenstand, worin sich im Vergleich zu vorangegangenen Jahrhunderten ein signifikanter Unterschied greifen lässt.

Herstellungsbedingungen steinerner Kopien Abgüsse und Kopien antiker Skulpturen wurden zu Stellvertretern der Originale und übernahmen – wie in diesen beiden Beispielen – deren Funktion in einem ursprünglichen oder als ursprünglich gedachten Kontext. So waren sie in der Lage, Informationen über die Vorbilder und die mit ihnen bereits zuvor verbundenen Wertungen weiter zu tragen. Hier ist ein voll entwickeltes Instrumentarium anzutreffen, das einerseits unmittelbar der Vermittlung archäologischen Wissens diente, andererseits mittelbar diese Vorkenntnisse für die repräsentative Selbstdarstellung nutzte. Anders als bei gegossenen Kopien konnte die formale Identität aus Stein geschlagener Kopien nicht ohne weiteres durch den vom Original genommenen Gips gerechtfertigt werden. Gussfähige Materialien konnten in eine vom Gips abgenommene Form gegossen werden. Zur Herstellung von Steinkopien waren dem gegenüber wesentlich mehr Arbeitsschritte notwendig. Der Gipsabguss stellt in diesem Prozess nur den ersten von vielen Zwischenschritten dar. Dass Genauigkeit dennoch erwartet und den Kopien auch zuerkannt wurde, selbst wenn Abweichungen unübersehbar waren,23 fand seine Berechtigung in der Etablierung neuer Hilfsmittel in der bildhauerischen Praxis. Während Gipsabgüsse im Prinzip seit der Antike in denselben Verfahren hergestellt wurden,24 versprachen neue Abform- und Vervielfältigungstechniken das problemlose, genaue Übertragen eines Vorbildes in ein getreues Replikat. Gipse galten aufgrund des viel beschworenen Kontakts mit dem Vorbild ohnehin als originalidentisch.25 Originaltreue war in der bildhauerischen Praxis ein zentraler Aspekt, denn es war üblich, von einem einmal festgelegten Modell zahlreiche Ausführungen in unterschiedlichen Materialien anzufertigen.26 Als Garanten der Genauigkeit schienen mechanische Verfahren älteren Kopiertechniken weit überlegen. Ohne weiteres galten in diesen Techniken hergestellte Kunstwerke als äußerst präzise.27

_____________ 23 Vgl. etwa den ironischen Kommentar von Friederike Brun (1795/96) zu den Kopien Cavaceppis: Müller (2003), 147 und Abb. 98; siehe auch Howard (1982), 206–221. 24 Borbein (2000), 29; Baudry/Bozo (2000), 103–143; siehe auch Mattusch (2002), 107. 25 So auch Rossi-Pinelli (1984), passim. 26 Vgl. Peters (2000), 148–149, Schadow (1802), in: Sciolla (1979), 53–64, Anm. 51. 27 Carradori (1802), XXIII; Baudry/Bozo (2000), 178–180; vgl. Rupp (1989).

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Technische Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts Voraussetzungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wirkten dabei maßgeblich auf die Vorstellung der Kopie als originalidentisch ein. Antonio Canova etwa war im Verlauf seines Lebens immer stärker dazu übergegangen, für seine eigenen Skulpturen die großformatigen Modelle in Ton zu schaffen; sie wurden dann von Spezialisten, den »Formatori«, in seiner Werkstatt in Gips abgegossen und im Kopierverfahren in Marmor übertragen. Erst im letzten Herstellungsschritt griff er wieder ein und vervollkommnete die Oberfläche von eigener Hand.28 Natürlich war diese Technik nicht grundsätzlich neu, denn die Arbeit in Bildhauerwerkstätten war generell arbeitsteilig. Lediglich der Umfang und die Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsschritte erreichte neue Dimensionen.29 Im Ergebnis ist interessant, dass Canovas Zeitgenossen bei von ihm oder aber zumindest in seiner unmittelbaren Nachfolge hergestellten Kopien seiner eigenen Werke evidente Unterschiede in Ausdruck und Habitus festzustellen in der Lage waren, die verschieden bewertet werden konnten.30 Vor allem sind es dabei Urteile über die Unterschiede zwischen dem Modell und der Ausführung in Marmor, die zugunsten des Modells ebenso ausfallen konnten wie zugunsten der fertigen Statue. 1821 kommentiert Stefano Ticozzi in seiner Einleitung in die Zeichenkunst:31 Talvolta un eccelente scultore aggiunge al marmo alcuna nuova perfezione; tuttavia le bellezze di una statua e quelle del modello possono tra di loro equilibrarsi, perché non sono dello stesso genere. Invariabili sono quelle che spettano alle forme ed alli proporzioni; quelli sole che appartengono alla esecuzione, sono succetibile di qualche variazione, e di qualche cambiamento. Accade talvolta che la statua sorprende per sé stessa, ma piace maggiormente il modello.

_____________ 28 Zu Canova: Honour (1972a), 148 und (1972b), 214; vgl. Woratschek (2005), 29–31. 29 Der Gebrauch großformatiger Modelle im Werkprozess wurde von Canova in die italienische Skulptur erst wieder eingeführt (wie Johannes Myssok während der Tagung »Plaster Casts: Making, collecting, and displaying from classical antiquity to the present, International Conference at Oxford University, 24–26 September 2007« gezeigt hat), Kongressakten in Druckvorbereitung. 30 »[…] ma il modello non ha niente di comune colla perfezione della statua« (Landi 1801): zitiert bei Honour (1972b), 225, Anm. 78. 31 Stefano Ticozzi, Introduzione allo Studio delle arti del disegno, Milano 1821: Wiedergegeben nach dem Zitat bei Honour (1972b), 225 Anm. 78 (ggf. mit Verschreibungen); eine deutsche Übersetzung liegt m. W. nicht vor, sinngemäß etwa: »Manchmal fügt ein hervorragender Bildhauer dem Marmor neue Vollkommenheit hinzu; die Schönheiten einer Statue und jene eines Modells können einander jedoch die Waage halten, obwohl sie nicht von derselben Art [genere] sind. Unveränderlich sind jene, die die Formen und die Proportionen betreffen; nur jene allein, die der Ausführung zugeordnet werden, sind empfänglicher für eine gewisse Variation und eine gewisse Veränderung. Es kommt manchmal vor, daß die Statue durch sich selbst überrascht, das Modell aber mehr gefällt.«

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Die verschiedenen Zwischenstufen riefen also Veränderungen hervor, welche die Wahrnehmung der Skulptur beeinflussten. Diese Variationen dürfen – zumindest im Falle Canovas – durchaus als beabsichtigt gelten, glichen einander doch kaum zwei Ausführungen nach demselben Modell. Die Spannung zwischen dem Entwurf des Künstlers und der Ausführung findet ihre Rechtfertigung so in der Autorschaft des berühmten, sich selbst wiederholenden Künstlers und dem Postulat der stetigen Verbesserung des Meisters.32

Marmorne Antikenkopien und die Bedingungen ihrer Herstellung Übertragen auf den Bereich der Antikenkopie stellt sich die Relation zwischen dem Modell – also der antiken Statue – und dem Ergebnis – ihrer Kopie – anders dar, denn da der erfindende (antike) Künstler nicht anwesend war,33 konnte er das Ergebnis nach der Ausführung nicht durch seine Hand autorisieren. Um es dennoch zu legitimieren, musste der subjektive Faktor der handwerklichen Zwischenschritte ausgeschaltet werden. In diesem Kontext entspricht der Kopist einer antiken Skulptur dem namenlosen Gehilfen in Canovas Werkstatt. Seine Tätigkeit ist handwerklich und sie ist erlernbar. Wegbereitend waren in diesem Kontext die Erfahrungen der römischen Bildhauerwerkstätten, die sich seit dem 17. Jahrhundert intensiv mit dem Kopieren und Restaurieren antiker Plastik für einen boomenden nord- und mitteleuropäischen Markt befassten und so Kopiertechniken entwickelt hatten, die in die bildhauerische Praxis Eingang fanden.34 Schon in der Académie Française in Rom nahm die Kopier- und Abgusstätigkeit eine zentrale Rolle ein.35 Das Thema der Kopien und ihrer Herstellung war demnach virulent.

_____________ 32 Honour (1972b), 225–229. 33 Vgl. Krauss (1989), 8–9 (zur Frage von »authorship«). 34 So berichtet Canova darüber, wie er von Venedig nach Rom kam und dort kaum einen Bildhauer finden konnte, der nicht nach Antiken arbeitete, sondern eigene Erfindungen herstellte: vgl. Honour (1972a), 150–153; vgl. auch Woratschek (2005), 29–30. Ohne diese Erfahrungen der römischen Kopisten hätte Canova seine Technik nicht so weit perfektionieren können. In Rom selbst war die Arbeitsteilung in den Restauratoren- und Kopistenwerkstätten bereits vollständig ausgebildet: vgl. Howard (1999), 69; Giacomini (2000), 37, Anm. 12; Rossi Pinelli (2004), 16, Anm. 7; vgl. Piva (2000), 8–14. – Auch in Schadows Selbstzeugnis, dem die Werkstattverhältnisse Canovas zugrunde liegen, klingt dies an, wenn er die Aufgabenbereiche der einzelnen Beteiligten in handwerkliche und künstlerische unterscheidet: Sciolla (1979), 54–57; vgl. aber auch unten S. 259–260, Anm. 72, 75. 35 Erben (2004), 181–184.

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Francesco Carradori: Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (Firenze, 1802) In demselben Ambiente bewegte sich der Bildhauer Francesco Carradori, bevor er 1802 als Direktor der Accademia delle Belle Arti in Florenz sein Buch Istruzione elementare per gli studiosi della scultura36 veröffentlichte. Dieses Buch gibt zahlreiche Hinweise zur Beantwortung der Frage, inwieweit bei der Übermittlung der antiken Skulptur durch das Medium der statuarischen Kopie der technische Akt der Herstellung relevant und mitteilenswert war. Carradori hielt sich von 1772 bis 1785 im Auftrag des Großherzogs der Toscana Pietro Leopoldo in Rom auf, wo er in erster Linie für die Restaurierung der Antiken in der Villa Medici zuständig war, um sie für die Transferierung in die Florentiner Uffizien vorzubereiten.37 Seit 1799 war er Direktor der Florentiner Akademie. Sein eigenständiges bildhauerisches Werk ist relativ gering und wurde ebenfalls verschiedentlich zusammengestellt.38 Das Lehrbuch bildet eine Summe seiner eigenen bildhauerischen Erfahrungen,39 denn während seines Aufenthalts in Rom fertigte er zwischen 1776 und 1779 auch Kopien antiker Statuen in Marmor an. Erste Arbeiten, die auf antike Vorbilder abzielten, waren die leicht verkleinerten Nachbildungen der so genannten Fede-Gruppe und der Gruppe Bacco e Arianna.40 Carradoris Versionen befinden sich heute im Palazzo Pitti in Florenz.41 Die als Fede-Gruppe bekannt gewordene Figurengruppe von Amor und Psyche wurde nach der Restaurierung durch Pierre Le Gros in der Epoche als Caunus und Biblis interpretiert. Sie wurde verschiedentlich kopiert und gilt heute als verloren.42 Die Gruppe Baccho e Arianna, heute im Museum of Fine Arts in Boston, ist ebenfalls stark ergänzt und überarbeitet. Aufschlussreich sind Quellen, die in Zusammenhang mit der Anfertigung der Kopien stehen, da Carradori dem Erzherzog verschiedene Posten an Material, Arbeitszeiten und Gehilfen in Rechnung _____________ 36 Das 1802 erschienene Buch wurde zweimal ediert: Sciolla (1979) und Kalevi Auvinen/Honour/ Bernardini (2002). Beide Ausgaben sind umfangreich eingeleitet und kommentiert. Eine deutsche Ausgabe liegt jedoch nicht vor. Die Partien wurden sinngemäß von der Verf. übersetzt. Die italienischen Textstellen sind nach dem Exemplar in der Biblioteca Cicognara, das im Microfiche genutzt wurde, transkribiert. 37 Vgl. Maugeri (2000), 306–334; Sciolla (1979), 17 Anm. 8–9. 38 Paolo Bernardini in: Kalevi Auvinen (2002), 5–8; Roani Villani (1980). 39 Zu den Lebensdaten und seinen verschiedenen Stationen vgl. besonders: Roani Villani (1980); Roani Villani (1987); Roani Villani (1990/2005). 40 Roani Villani (1990), 130–133; Massinelli (1990), Abb. 1–4; Capecchi (1990), 148–158, Abb. 82–83; 90–91. 41 Giacomini (2000), 35–36, Abb. 1–2; La Reggia rivelata (2003), 561, Cat. 112 (Roberta Roani); 562; Cat. 113 (Gabriella Capecchi). 42 Walter (1995), 247; Roani-Villani (2005), 30–32; s. a. Haskell/Penny (1998), 190–191, Nr. 26; Bissell (2003).

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stellte.43 Hieraus geht hervor, dass er für die Fede-Gruppe ein Tonmodell nach der antiken Vorlage anfertigte, während von der Gruppe von Bacchus und Ariadne ein Gips als Vorlage vorhanden war.44 Der von Carradori beschriebene Kopiervorgang, der in Ansicht des Originals und anhand vom Original genommener Gipsabgüsse erfolgte, erhob – trotz der auffallenden Abweichungen in Größe und Gestaltung – die Gruppen zu Kopien.45 Genau diese Technik beschreibt Carradori später in der Istruzione.46 Ausgehend von diesen Stücken werden die dann angefertigten, den Vorbildern in Größe und Gesamthabitus stärker angepassten Kopien des Antinous vom Capitol und des Juppiter Serapis bereits Teil eines Programms gewesen sein, gute Kopien dort zu verwenden, wo die Originale nicht zu haben waren.47 Carradoris Istruzione wird also vor dem Hintergrund seiner praktischen Erfahrungen verständlich, denn diese erklären den auffallenden Abstand zwischen der Bedeutung der handwerklichen Fähigkeiten des Kopisten und der kreativen Begabung des schaffenden Bildhauers. Aufgebaut ist die Istruzione als handwerkliche Anleitung zum Herstellen von Skulpturen, so dass sich darin vornehmlich seine eigene Erfahrung als Kopist niederschlägt. Gewidmet ist das Buch Lodovico Rè d’Etruria, König des von Napoleon neu geschaffenen Königreichs, in dem das Großherzogtum Toscana aufgegangen war. Von ihm wurde eine Restrukturierung der Florentiner Akademie initiiert, die maßgeblich mit der Person Carradoris verbunden war.48 Nach allgemeinen Widmungsformeln in der Einleitung folgt eine Passage, die die Bedeutung dieser Schutzherrschaft hervorhebt; in ihr äußert Carradori die Hoffnung, durch die Lehrbarkeit der Bildhauerkunst neue Donatelli und Buonarotti heranzuziehen,49 _____________ 43 Giacomini (2000), 35 ff. Anm. 2. 44 Ebd., 36. 45 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise (Hamburger Ausgabe von Goethes Werken, Bd. XI), 10. neu bearb. Aufl., München 1981, 542 (Zweiter römischer Aufenthalt, 11. April 1788); vgl. Himmelmann (1976), 146–150, bzw. Heynes zunehmende Kenntnis der höheren Qualität vom Original genommener Abgüsse: Boehringer (1981), 280 ff. – siehe auch Erben (2004), 181 ff. 46 Giacomini (2000), 37, Anm. 9: Carradori (1802), XXIII. 47 Roani Villani (1990), 136 mit Anm. 44. – La Reggia rivelata (2003), 503, Cat. 27 (Gabriella Capecchi/Klaus Fittschen); 594, Cat. 147 (Roberta Roani). 48 Sciolla (1979), 18–19 zur Rolle Carradoris bei der Umstrukturierung der Florentiner Akademie. – Siehe auch Paolo Bernardini, in: Kalevi Auvinen/Honour/Bernardini (2002), 11–12. 49 Carradori (1802), Prolog: »[…]; ma mi rinfranca il coraggio il riflettere, che potendo la forza del Vostro valido patrocinio richiamare alla gloria nuovi Buonarotti, e nuovi Donatelli, conduranno questi al suo termine ciò che avrei voluto tentar io con la scarsezza de’ miei precetti.« (sinngemäß etwa: »[…] mich ermuntert zu wissen, dass Eure mächtige (Schirm)Herrschaft [valido patrocinio] dazu in der Lage ist, neue Buonarotti und Donatelli zum Ruhm zu führen; diese werden das vollenden, was ich mit der Bescheidenheit der mir zur Verfügung stehenden Mittel habe versuchen wollen.«; zu den inhaltlichen und politischen Implikationen dieser Widmung vgl. Bernardini, in: Kalevi Auvinen/Honour/Bernardini (2002), 9 mit Anm. 21–22.

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was bereits die Bedeutung, die technischer Meisterschaft beigemessen wurde, anschaulich unterstreicht. Das Buch selbst enthält 13 Kapitel auf 37 Seiten und ist mit 17 Tafeln illustriert. Es ist strikt systematisch aufgebaut. Bemerkenswert knapp ist die allgemeine Einführung für die Studenten:50 Sarebbe perdimento di tempo per un Giovane, che si destina per la Professione della Scultura, se ne intraprendesse l’esercizio senza certi principj fondamentali. Lo studio della Storia Sacra e Profana, e della Mitologia, gli è assolutamente necessario. Gli gioverà anche non essere affatto digiuno di Belle-Lettere, e specialmente di Poesia, per la proprietà de’pensieri, delle vesti, e degli emblemi. Ma più di tutto conviene, che egli sia bene iniziato nel Disegno, e conosca tutte le parti e proporzioni non solamente del Corpo umano dell’uno e dell’altro sesso, ma anche di diversi animali, che talvolta conviene rappresentare; […].

Über Skulptur und ihren Nutzen oder Problematiken wie die Diskussion von Ideal, Natur oder komplexer Erscheinungen wie dem Sublimen wird hier nicht explizit reflektiert. Auch die Lehre von den Proportionen ist nicht Gegenstand einzelner Erörterungen – wie in anderen Traktaten und Lehrbüchern – sondern allenfalls anhand der beigegebenen Abbildungen zu studieren. Dass diesem kurzen Abschnitt insgesamt vier Tafeln von 17 zugewiesen sind, wirft ein charakteristisches Schlaglicht auf die Bedeutung der Tafeln in Carradoris Anleitung. Hierzu heißt es:51 Le Tavole, che daremo in fine le prime, in numero di quattro, saranno più che bastanti, senz’altra più lunga discussione anatomica, […].

Er ging also davon aus, dass seine Studenten anderweitig mit der Proportionslehre, wie sie in der Epoche präsent war, vertraut gemacht wurden.52 Die Tafeln ersetzen alle diese Ausführungen adäquat, da sie in übersichtlicher Form eine Handreichung darstellen, die unmittelbar genutzt werden konnte. Vorrangig – und das ist unübersehbar – ist die Vermittlung aller einzelnen Arbeitsschritte der Techniken, die ein Bildhauer beherrschen soll; selbstverständlich kann sie auf die Vermittlungserfahrungen der Kunstakademien Europas _____________ 50 Carradori (1802), I (sinngemäß): »Es wäre für einen jungen Menschen, der sich dem Beruf der Bildhauerei verschrieben hat, Zeitverschwendung, wenn er sich diesem Vorhaben ohne einige grundlegende Prinzipien unterziehen würde. Das Studium der heiligen und profanen Geschichte, und der Mythologie ist absolut unabdingbar. Es wird ihm nützen, nicht gänzlich ohne Kenntnis der Wissenschaften zu sein, und besonders der Poesie, für die Richtigkeit der Gedanken, der Kleidung, der Embleme. Vor allem aber ist es notwendig, daß er bereits gut in die Zeichenkunst eingeführt ist, daß er alle Teile und Proportionen des menschlichen Körpers beiderlei Geschlechts, aber auch die verschiedener Tiere kennt, die man manchmal auch darstellen muss.« 51 Carradori (1802), I (sinngemäß): »Die Tafeln, die wir im Anhang als erste geben, vier an der Zahl, werden mehr als ausreichend sein, ohne jede weitere längere anatomische Diskussion«. 52 Sciolla (1979), 23–25 zu den Voraussetzungen der Epoche. Eine Anmerkung zur vierten Tafel bestätigt diese Annahme, denn dort wird auf Leonardo da Vincis Trattato della pittura (geschrieben von Raffaele Dufresne) sowie auf Albertis de Statua verwiesen.

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zurückgreifen. Doch letztlich sind auch diese Erfahrungen, die Curricula der Akademien, in der kurzen Bemerkung über die Notwendigkeit des Zeichnens erfasst und damit abgehandelt.53

Abb. 1: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel I.

Ohne genannt zu sein, bildet sie sich aber auch in der Gestaltung der Tafeln ab. Hinter dem Skelett der ersten Tafel (Abb. 1) und der abgehäuteten Figur der zweiten Tafel (Abb. 2) stehen nicht nur der Écorché Houdons (Abb. 3), den dieser _____________ 53 Sciolla (1979), 22.

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Abb. 2: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel II.

1767 geschaffen hatte und der an vielen Akademien und Zeichnungsschulen Europas als Gips vorhanden war,54 sondern auch – und das gilt für die Figur wie für die Tafeln – der Apoll vom Belvedere (Abb. 4), der, so wie hier, im Medium der Druckgraphik, aber auch in vielen statuarischen Darstellungen der Epoche spiegelbildlich rezipiert wurde.55 _____________ 54 Poulet (2003), 63–66, Kat. 1. 55 Roettgen (1998), 269 mit Anm. 143; 271, Abb. 16 (Gipsmodell für das Denkmal König Gustafs III. von Johann Tobias Sergel).

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Abb. 3: Jean-Antoine Houdon, Ecorché (1767).

Auf den Tafeln sind zumeist mehrere der besprochenen Tätigkeiten illustriert, so dass es immer wieder zu inhaltlichen Verschränkungen kommt. In der Regel wird ein Einblick in einen Werkstattraum gewährt, in dem einzelne Personen mit unterschiedlichen Arbeitsschritten beschäftigt sind; jeder Gegenstand ist mit einem Schlüssel versehen, der auf der beigegebenen Seite erläutert wird. Man erhält beim Durchblättern der Tafeln zentrale Informationen in knapper Form, während der Text der einzelnen Artikel diese im Zusammenhang erläutert. Das Buch verfolgt die notwendigen handwerklichen Verrichtungen zur Erstellung einer Marmorskulptur inklusive aller vorbereitenden Zwischenschritte.

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Sie beginnt mit der Herstellung eines Modells in Ton,56 das nach einem Original geformt wird (Taf. V, Nr. C: Originali da imitarsi und I: Altro Cavaletti quadro, con piano da girare per posare gli Originali). Sicher nicht zufällig sind die nachzubildenden oder abzugießenden Figuren wie etwa auf Taf. VI (Nr. A: Statua che si va formando a Forma Reale) im weitesten Sinne als antik zu denken.

Abb. 4: William Hogarth, The analysis of beauty. Written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste (London 1753), Tafel I.

Das Kopieren und Nachbilden antiker Skulpturen ist ein häufiger Gegenstand der Abbildungen, ohne dass im Text darauf im einzelnen Bezug genommen würde.57 Während also einerseits der Herstellungsprozess von Skulpturen thematisiert wird, sind andererseits Antiken zu sehen, die sich sozusagen in Bearbeitung be_____________ 56 Sciolla (1979), 26–39 beschreibt differenziert den Aufbau der Istruzione: neben der Herstellung der Marmorskulptur werden der Bronzeguss und die Einrichtung des Ateliers (Studio) des Bildhauers erörtert. Die von mir als Vorstufen betrachteten Tätigkeiten der Modellierung in Ton, Wachs, Papiermaché etc. rechnet Sciolla zu eigenen bildhauerischen Techniken. Im Zusammenhang mit den Antikenkopien erscheint bei Carradori der Bronzeguss nachgeordnet. 57 Sciolla (1979), 21–22.

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finden. Selbst bei einer frei zu formenden Figur, bei der es sich am ehesten um eine originäre Erfindung zu handeln scheint (Taf. VII, hier Abb. 5), stellt sich unmittelbar das Bild des Apoll vom Belvedere ein (vgl. Abb. 4). Entsprechend dem inhaltlichen Schwerpunkt der Nachbildung sind die Artikel über die Herstellung von Gipsabgüssen mit fünf Seiten die umfangreichsten im ganzen Buch.58

Abb. 5: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel VII.

Genauso konsequent ist der folgende Abschnitt über die Herstellung von Marmorskulpturen aufgebaut, der die Arbeiten in Ton, Stuck und Gips vorausgehen. _____________ 58 Carradori (1802), VII–XII, Articolo VI.

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Die zugehörigen Tafeln stellen ausführlich die Methoden des Übertragens der Maße vom Modell in den Stein und die dazu benötigten Werkzeuge dar (Abb. 6 und 7; Taf. VIII–XI).

Abb. 6: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel VIII.

Relativ breit wird auf diesen Tafeln und in den zugehörigen Artikeln das Aufmessen, Vergrößern und Verkleinern ausgehend von einem Modell dargelegt. Die Technik des Kopierens war – wie erwähnt – in den römischen Bildhauerwerkstätten des 17. und 18. Jahrhunderts äußerst gut ausgeprägt. Ein Maßsystem, das die Figuren in einen Rahmen einschließt, der dem späteren Block entspricht, ermöglichte es, vom Modell jeweils drei räumlich relevante Punkte abzunehmen und auf den zu bearbeitenden Block zu übertragen. Verkleinerungen und Vergrößerungen von Statuen wurden mit ähnlichen Werkzeugen in verwandter Weise ausgeführt (Taf. X). Da hierbei immer wieder auch nach Augenmaß weiter gearbeitet werden musste, was die Gefahr von Fehlern barg, wurde diese Technik im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker verfeinert.59 Es handelt sich um denselben Kopiervorgang, den auch Winckelmann in Rom beobachtet und – mit einem gewissen technischen Unverständnis – beschrieben hat:60 _____________ 59 Mattusch (2002), 107–108, Abb. 5 und 6. 60 Winckelmann (1756/1999), 26.

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Charlotte Schreiter Der gewöhnliche Weg unserer Bildhauer ist, über ihre Modelle, nachdem sie dieselben wohl ausstudieret, und aufs beste geformet haben, Horizontal- und Perpendikularlinien zu ziehen, die folglich einander durchschneiden. [...] aber da er sich nur der Kenntnis seines Auges überlassen muß, so wird er beständig zweifelhaft bleiben, ob er zu tief oder zu flach nach seinem Entwurf gearbeitet, ob er zu viel oder zu wenig Masse weggenommen.

Abb. 7: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel IX.

Dieselbe Technik ist in der Rechtfertigungsschrift Bartolomeo Cavaceppis, des wohl berühmtesten römischen Antikenrestaurators und -ergänzers des 18. Jahrhunderts, mit dem Titel Dell’arte di ben restaurare le antiche sculture von 1768

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zu erkennen.61 Gewährt das Frontispiz des ersten Bandes von Cavaceppis Raccolta aus dem Jahr 176862 einen Einblick in die geschäftige Arbeit seiner Werkstatt, so wirkt der Vorgang auf der vergleichbaren Tafel bei Carradori (Abb. 6) stärker schematisiert. Ebenso wird die Restaurierung antiker Statuen von Carradori technisch abstrakt umschrieben. Cavaceppi forderte eine inhaltlich-antiquarische Auseinandersetzung mit dem antiken Kunstwerk, um zu einer richtigen Ergänzung zu gelangen.63 Dem gegenüber beschränkte Carradori die inhaltliche Analyse auf das Notwendigste, so dass die einzelnen Arbeitsabläufe ohne jede Wertung durchgeführt werden können. Ähnlich wie bei der stillschweigend vorausgesetzten Kenntnis der Traktate64 kann auch hier davon ausgegangen werden, dass die Diskussion der Epoche von ihm als bekannt vorausgesetzt wurde. In der rein technischen Umschreibung verschwindet sie jedoch hinter der exakten Handlungsanweisung.65 Die inhaltlichen Anforderungen Cavaceppis an die Ergänzung erklären sich bei Carradori durch die pragmatisch-technische Lösung. Die enge wissenschaftlich-künstlerisch-technische Verflechtung, die das Restaurieren zwischen Winckelmann und Cavaceppi erlebte, fand ihren Ausdruck auch darin, dass Winckelmann Cavaceppis Studio als Museum bezeichnete und die Restaurierungen dadurch adelte. In seinem Plan, seine Werkstatt in ein wahrhaftiges Museum umzugestalten, gab Cavaceppi zu erkennen, dass er diesen Anspruch erhob.66 Der Restaurator Carradori hingegen tritt hinter die technische Akkuratesse zurück, obwohl er sich durchaus nicht mit der Wiederherstellung minderwertiger Antiken befasste, sondern etwa die Pasquino-Gruppe aus der Loggia dei Lanzi, eines der berühmtesten Werke in Florenz (Taf. XIII, hier Abb. 8)67, zur Überarbeitung in seiner Werkstatt hatte. In der Zusammenschau fällt auf, dass einige Tafeln Darstellungen antiker Kunstwerke – oder aber auf antike Skulpturen verweisender Figuren – wiedergeben, die sich sozusagen in Bearbeitung befinden. Diejenigen Techniken und Materialien, die in besonderer Weise für die Herstellung statuarischer Antikenkopien benötigt wurden, machen in der Schilderung einen weitaus größeren Anteil aus als diejenigen, die auf eine Neuschöpfung abzielten. Hierin wird deutlich, wie sehr das Buch auf Carradoris eigener Tätigkeit als Kopist basiert. Obwohl _____________ 61 62 63 64 65 66

Vgl. Müller-Kaspar (1999), 93–99. Abbildung z. B. bei Howard (1999), 67, Abb. 46. Müller-Kaspar (1999), 95–97; Howard (1999), 70–71. Vgl. Howard (1982), 211–216. Sciolla (1979), 19–20; vgl. oben S. 249, Anm. 52. Carradori (1802), XXVII–XXX. Howard (1999), 70–71; Piva (2000), besonders 15–17. Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 22, Rom 1979, 550, s. v. Cavaceppi, Bartolomeo (Howard, Seymour). 67 Carradori (1802), Taf. XIII: man erkennt die Pasquino-Gruppe aus der Loggia dei Lanzi, vgl. Gabriella Capecchi, »L’altro Aiace: tempi e modi di un restauro«, in: La Reggia rivelata (2003), 71–83.

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Abb. 8: Francesco Carradori, Istruzione elementare per gli studiosi della scultura (1802), Tafel XIII.

theoretische Erwägungen weitestgehend fehlen, sind sie in den schriftlichen und bildlichen Darstellungen implizit vorhanden. Durch das Zurücktreten hinter die technischen Erfordernisse wird aber zugleich Raum für die Analyse und Interpretation durch Dritte gegeben. Carradoris Istruzione ist nicht das einzige Werk zur Technik der Bildhauerei um 1800. Der Artikel Sculpture in der Encyclopédie, der auf Etienne Falconet zurückgeht, und seine Illustrationen dienten Carradori als Inspiration.68 Dennoch fallen einige wichtige Unterschiede auf, die gerade das besondere Verhältnis von _____________ 68 So auch Sciolla (1979), 19 sowie die Einleitung zu der Neuedition der Istruzione von Paolo Bernardini in: Kalevi Auvinen (2002), 9. – Die Encyclopédie war ab 1770 in Turin in italienischer Übersetzung erschienen. – http://colet.uchicago.edu/cgi-bin/getobject_?a.110:477:0./projects/artflb//databases/artfl/encyclopedie/IMAGE/ (22.6.2007).

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Carradori zur antiken Plastik, aber auch seinen pragmatischen Umgang mit der bildhauerischen Technik kennzeichnen. Während der Text der Encyclopédie durch ausführliche Betrachtungen über die Natur und das Erhabene charakterisiert ist, verschränkt Carradori seine schriftlichen Informationen stärker mit der bildlichen. Gegenüber den Illustrationen der Encyclopédie fällt auf, dass Carradoris Darstellungen eine stärkere Synthese im Hinblick auf den Werkprozess anstreben; viel häufiger bemüht er sich beispielsweise, die benötigten Werkzeuge in ihrem Verwendungskontext aufzuzeigen, während der Encyclopédie-Artikel unter einer durchaus ähnlichen Übersichtsdarstellung der Werkstatt jedes noch so kleine Werkzeug auf eigenen Tafeln exakt abbildet und beschreibt.69 Im Hinblick auf die Betonung des technisch Möglichen schrieb Carradori also die vorausgegangenen Entwicklungen fest. Darüber hinaus wies er mit diesem Schwerpunkt in die Zukunft voraus. In der Folgezeit etablierten sich immer stärker rein mechanische, maschinelle Verfahren, die dem Wunsch nach Genauigkeit entgegenzukommen versprachen. Um 1800 wurde von Nicolas-Marie Gatteux eine Punktiermaschine entwickelt, die in verbesserter Form von Amedee Durand und Philippe de Girard 1822 hergestellt wurde.70 In deren Nachfolge erfand der französische Ingenieur Achille Collas 1837 einen Pantographen, der nun auch das exakte Vergrößern und Verkleinern von Vorbildern erlaubte.71 Damit fiel sozusagen die letzte Bastion des individuell zu erstellenden Modells. Als wichtiger Faktor kam hinzu, dass die maschinelle Kopie weit weniger Zeit in Anspruch nahm als das punktgenaue Übertragen der Einzelmaße mit Zirkel und Lineal im »Kopierkasten« des 18. Jahrhunderts – so wie es Schadow eindrucksvoll beschrieben hat.72 In der Zusammenschau wird deutlich, dass der Wunsch nach Exaktheit im Kopienwesen des 18. Jahrhunderts den Boden für die urheberfreie Anfertigung originalidentischer Kopien in großer Zahl seit dem 19. Jahrhundert bereitet hat.73 Das Vervielfältigen der eigenen Werke im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, die Ausdifferenzierung der Aufgaben in den Bildhauerwerkstätten und die dadurch erst mögliche Trennung der einzelnen Tätigkeitsfelder wie Modellieren, Restaurieren und Kopieren in eigene Lehrzweige waren unerlässliche Voraussetzungen für die quasi-industrielle Produktion des fortschreitenden 19. Jahrhunderts. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der herstellende Künstler ganz hinter das übermittelte Original zurücktrat. Das massenhafte Auftreten vorgeblich exakter Kopien machte antike Leitbilder überall verfügbar und gab sie zur Deu_____________ 69 Baudry/Bozo (2000), 147, Abb. 2 (oberer Teil der Tafel). 70 Ebd., 178. 71 Haskell-Penny (1998), 123; vgl. zu den Kopiertechniken auch Rupp (1989), 337; 339 Abb. 1 (Verkleinerungsmaschine). 72 Schadow (1802), zitiert bei Sciolla (1979), 56–57. 73 Vgl. Rupp (1989), 337; 349–350; Haskell/Penny (1998), 118 und Abb. 66.

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tung frei. Die negative Bewertung der mechanischen Verfahren,74 die zum großen Teil retrospektiv im 20. Jahrhundert erfolgte, verstellt dabei den Blick auf den Wunsch nach Präzision als grundlegende Intention der bildhauerischen Kopie im 19. Jahrhundert. Die Lesbarkeit der antiken Plastik war im 19. Jahrhundert auch durch die Allgegenwart ihrer materiellen Reproduktionen manifestiert und nicht auf die Analyse in Form einer systematischen Wissenschaft eingegrenzt. Die handwerkliche Technik zur Herstellung von Kopien bildete die Voraussetzung einer Vermittlung des Ideals der vorbildhaften antiken Skulptur und wurde lehrbar. Die Bildhauer gerade Roms und Italiens nahmen hierbei eine wichtige Vorreiterrolle ein. Viele der Bildhauer und Gipsgießer, die im Zuge der Musealisierung in Nord- und Mitteleuropa die Rolle restaurierender oder helfender Künstler einnahmen, waren Italiener und entstammten demzufolge diesem künstlerischen Umfeld.75 So verbreitete sich die Kenntnis entsprechender Fertigkeiten sehr schnell in allen Ländern Europas. Im Vorgang des Kopierens anhand eines vom Original genommenen Abgusses verändert der Bildhauer rückwärtsgewandt das Vorbild. Zugleich wirkt er durch den Anspruch an Genauigkeit auf die Rezeption der Kopie anstelle des Originals ein. Die Kopie des Kunstwerks wird durch die Technik autorisiert, so dass die Information über die originale Form im technischen Vorgang des Kopierens erhalten bleibt und weiter vermittelt werden kann. Der Versuch, in dieser Weise »Kopie« zu definieren, beschreibt die Relation zwischen Original und nachgebildeter Statue, also den Vorgang des Kopierens. An die Stelle einer Bewertung der Kopie nach ihrem Erscheinungsbild, das mit den Merkmalen des Originals beschreibend gegengelesen wird, tritt damit eine _____________ 74 In diesem Zusammenhang ist Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935/36 und dessen Rezeption wichtig, die in letzter Zeit gerade in Hinblick auf digitale Reproduktionsverfahren neue Aktualität erhalten hat. Benjamin prägte die Begriffe der »Aura« des originalen Kunstwerkes und der »Entauratisierung« durch Reproduktion. Da immer wieder auch in Bezug auf Phänomene des antiken Kopistenwesens und moderner Kopien mit diesen Begriffen gearbeitet wird, ergeben sich zahlreiche Probleme in Hinblick auf die Aura des »originalen« antiken Kunstwerkes, das in seiner Neuschöpfung durch Restauratoren, Kopisten und Künstler sowie durch seine Dislokation aus dem ursprünglichen Kontext bereits verschiedene Phasen von Entauratisierung durchlaufen hat. – vgl. Berchtold (1987), 201– 203. – Die Literatur zum Thema ist umfangreich und hier nur schwerlich zu diskutieren. Eine thematische Engführung in Bezug auf römische Kopien bietet Gazda (2002), 9–10. – Charakteristisch für die Sicht auf das 19. Jahrhundert ist auch Ladendorf (1954), 68; er charakterisiert die Genauigkeit als Phänomen der Epoche. 75 Chef des Atelier de Moulage: vgl. Rionnet (1996), 51–55; Rupp (1989), 338 (Gipsgießerei Micheli in Berlin ab 1824); Interessant in diesem Zusammenhang ist Schadows Kommentar in Die Werkstätte des Bildhauers, deutsche Künstler seien abzulehnen: vgl. Sciolla (1979), 57; Berliner Gipsgießer: vgl. Einholz (1992), 76, Anm. 10. – Vgl. den Mangel an geeigneten Bronzegießern an der Wende zum 19. Jahrhundert: Schreiter (2007), 120 und Anm. 38.

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dynamische Vorstellung, die Original und Kopie variabel miteinander verbindet. Ausgangspunkt und Ergebnis wirken reziprok aufeinander ein und transformieren sich gegenseitig. Aus einer angenommenen Gesamtmenge antiker Plastik kann, angepasst an unterschiedlichste Bedürfnisse, auf diese Weise immer wieder eine repräsentative Menge getreuer Abbilder erschaffen und in eine Deutung überführt werden.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8:

Kalevi Auvinen/Honour/Bernardini (2002), 53. Ebd., 55. Poulet (2003), 63. William Hogarth, The analysis of beauty. Written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste (London 1753), Tafel I. Kalevi Auvinen/Honour/Bernardini (2002), 63. Ebd., 65. Ebd., 67. Ebd., 71.

Kunstgeschichte als ästhetisches Ereignis. Die Kunst der Antike in deutschsprachigen wissenschaftlichen Monographien für ein bürgerliches Publikum im 19. und frühen 20. Jahrhundert ADOLF H. BORBEIN

Der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke veröffentlichte im Jahre 1860 einen Grundriss der Kunstgeschichte, ein zunächst ein-, dann mehrbändiges Werk, das bis 1921 fünfzehn Auflagen erlebte. Der erste Teil enthält die Kunst des Altertums. Im Vorwort heißt es: Mein Gesichtspunkt bei der Arbeit war, dem gebildeten Leser zu einem tieferen Verständnis der Kunst und ihrer Werke zu verhelfen, ihm einen Überblick des ganzen Entwicklungsganges zu gewähren, ihm den historischen Verlauf der Kunstbewegung in übersichtlichem Grundrisse zu zeigen, aber zugleich das Hauptgewicht durchweg auf das Ewiggültige, wahrhaft Schöne zu legen, also die einzelnen Höhepunkte in volles Licht zu setzen und in ausführlicher Darstellung zu betonen, während die Vor- und Zwischenstufen des Übergangs, der Vorbereitung, der Verbindung nur in allgemeinen Zügen angedeutet werden sollten. Besonders aber ging mein Streben dahin, in den künstlerischen Schöpfungen der verschiedenen Epochen, wie sie in fast unabsehbarer Reihe sich von den Zeiten der ägyptischen Pyramiden bis auf unsere Tage erstrecken, den inneren geistigen Zusammenhang nachzuweisen, die großen Ideen der Kulturentfaltung des Menschengeschlechts in ihnen zur Erscheinung zu bringen.1

Dieser Passus aus dem Vorwort der ersten Auflage von 1860 wird noch 60 Jahre später von dem Klassischen Archäologen Erich Pernice, dem Bearbeiter der 15. Auflage von 1921, als unverändert gültig zitiert.2 Kennzeichnend für die hier umrissene Konzeption ist folgendes: – Adressat des Buches ist der gebildete Leser. Diesem soll ein tieferes Verständnis der Kunst überhaupt sowie einzelner Werke vermittelt werden, und zwar durch: – einen Überblick über den allgemeinen Gang der Entwicklung der Kunst und über – den historischen Verlauf der Kunstgeschichte. Dennoch sollen

_____________ 1 2

Lübke (1860), VI f. Lübke (1921), Vorwort.

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Adolf H. Borbein – die Höhepunkte der Kunstentwicklung, das Ewig-Gültige und wahrhaft Schöne herausgestellt werden, während die zahlreichen den Gang der Entwicklung erst gewährleistenden Verbindungsglieder (also die weniger prominenten Werke) nur in allgemeiner Form Berücksichtigung finden sollen. Letztes Ziel aber ist – der innere, geistige Zusammenhang aller künstlerischen Schöpfungen über geographische und chronologische Grenzen hinweg – Kunst wird jenseits der bloß formalen Entwicklungen und der historischen Besonderheiten zum Medium, in dem die Ideen sichtbar werden, die die Entfaltung der menschlichen Kultur bewirken. Letzteres ist offensichtlich im Sinne Hegels gemeint: Die Geschichte der Kunst reflektiert den Gang des Weltgeistes.

Eine derart definierte Kunstgeschichte ist eine ernste Angelegenheit: Ihr eigentliches Ziel ist nicht Kennerschaft und ästhetisches Vergnügen, erst recht nicht Unterhaltung in der Freizeit, sondern Einsicht in Grundlagen der menschlichen Kultur, vermittelt durch historische Erkenntnis. Daher denn auch der ausdrückliche und notwendige Appell an den gebildeten Leser – und dieser war um 1860 und bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem der Absolvent des humanistischen Gymnasiums mit oder ohne Universitätsstudium.3 Der angesprochene Leserkreis war nicht klein; die Kunstgeschichte von Wilhelm Lübke erlebte – wie erwähnt – 15 Auflagen, und sie war nicht die einzige einschlägige Publikation. Selbst eine nur einer Gattung, der antiken Skulptur gewidmete zweibändige Monographie, die Geschichte der griechischen Plastik des Archäologen Johannes Overbeck erreichte zwischen 1857 und 1893 vier Auflagen; die vierte Auflage umfasste 1135 Druckseiten!4 Vier Auflagen in fast 40 Jahren – das ist mit heutigen Bestsellern natürlich nicht zu vergleichen, aber es ist viel, wenn man es auf die Zahl der ›Bildungsbürger‹ bezieht. Bemerkenswert ist auch, dass das Werk eines Gelehrten so lange aktuell gehalten werden konnte; die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts (und darum geht es hier) war immerhin eine Epoche bedeutender Ausgrabungen und Bodenfunde, und Overbeck hat das viele Neue bei den Neuauflagen auch berücksichtigt. Derartige Werke waren nicht als Lehrbücher konzipiert, sie richteten sich nicht primär etwa an Studierende. Denn Studenten der Archäologie und der Kunstgeschichte gab es nur in sehr geringer Zahl: Die wenigen Archäologiestudenten rekrutierten sich in der Regel aus der größeren Menge der Studenten der Klassischen Philologie. Und Kunstgeschichte wurde überhaupt erst an wenigen Universitäten gelehrt.5 Zu erwähnen bleibt eine andere Adressatengruppe, die in den hier behandelten Monographien oft ausdrücklich angesprochen ist: die bildenden Künstler. Das ist nicht verwunderlich; denn das Studium historischer Kunst, nicht zuletzt der Kunst der Antike war damals selbstverständlicher Bestandteil der akademischkünstlerischen Ausbildung. Künstler gehörten (neben Wissenschaftlern und _____________ 3 4 5

Zur Bedeutung des humanistischen Gymnasiums: Marchand (1996), 133 ff. Overbeck (1893–1894). Dilly (1979), besonders 173 ff.; Beyrodt (1991).

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Freunden der Antike) z. B. von Anfang an zu den Mitgliedern der 1842 gegründeten Archäologischen Gesellschaft zu Berlin.6 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schwand das auch theoretische Interesse der Künstler an der Antike freilich immer mehr. Gewiss haben noch Künstler des 20. Jahrhunderts, vor allem Bildhauer, sich mit der Antike auseinandergesetzt, doch geschah dies in der Regel ohne eine spezifisch fachwissenschaftliche Vermittlung. Im 20. Jahrhundert hatte allerdings auch die Fachwissenschaft nicht mehr den Anspruch, den Künstlern Muster vor Augen zu stellen oder gar Handlungsanweisungen zu geben. Die Monographien des 19. Jahrhunderts sehen aber gerade darin eine wichtige Aufgabe: Durch das Studium insbesondere der antiken Kunst soll offenbar werden, was Kunst überhaupt ist und welches die Probleme und Aufgaben sind, die ein Künstler zu bewältigen hat. Im Zentrum stehen hier verständlicherweise einerseits die ›Naturwahrheit‹, andererseits die ›ideale‹ Darstellungsweise. Wie aber sollen die anspruchsvollen Ziele erreicht werden, die das als Beispiel zitierte Vorwort von Wilhelm Lübke nennt? Wie geschieht die Vermittlung der historischen, aber ebenso auch ästhetischen Sachverhalte? Wie gelingt es, die besprochenen Kunstwerke dem Leser gleichsam vor Augen zu stellen? – Wir sind es seit langem gewohnt, uns hier vor allem auf Bilder, auf Illustrationen zu stützen: Populäre Kunstgeschichte ist für uns fast identisch mit einem ›Bildband‹. Doch das, was wir heute für selbstverständlich halten, war erst das Ergebnis eines langen Prozesses. Der der Kunst des Altertums, des Vorderen Orients, Ägyptens, Griechenlands, Etruriens und Roms gewidmete erste Band der 15. Auflage von Lübkes Grundriss (1921) illustrierte den Text von 470 Druckseiten mit 664 integrierten Abbildungen und 14 Farbtafeln, weitaus die meisten nach Fotografien.7 Die einbändige erste Auflage von 1860 zeigte auf 720 Textseiten dagegen nur 349 integrierte Abbildungen nach Holzschnitten; auf die alte Kunst Ostasiens, Vorderasiens, Ägyptens, Griechenlands, Etruriens und Roms insgesamt entfielen hier 208 Seiten mit 118 Abbildungen, allein auf die klassische Kunst der Griechen, Etrusker und Römer 133 Seiten mit 73 Abbildungen.8 Gehen wir um etwa 100 Jahre zurück zum Beginn der Kunstgeschichtsschreibung für den allgemeinen deutschen Leser, dann ist die Bebilderung noch spärlicher: Die erste Auflage von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) enthielt nur 24 Kupferstich-Abbildungen bei einem Umfang von 431 Druckseiten; bei der zweiten postumen Auflage von 1776 war das Verhältnis noch ungünstiger: 22 Kupfer bezogen auf 881 Druckseiten.9 _____________ 6 7 8 9

Rodenwaldt (1940), 11 ff. Lübke (1921). Lübke (1860). Lübke (VII) verweist zusätzlich auf die Denkmäler der Kunst von Guhl/Caspar (1851–1853) und zitiert im Text weitere Abbildungspublikationen. Winckelmann (2002).

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Winckelmanns Leser waren also genötigt, verschiedene Stichwerke zu konsultieren, wenn sie den Text voll verstehen wollten – also die zahlreichen Publikationen von Antikensammlungen oder Denkmäler-Corpora wie Bernard de Montfaucons vielbändiges Werk L’Antiquité expliquée et représentée en figures (1722). Es enthielt fast 1200 Kupfertafeln mit fast 40 000 Zeichnungen.10 Aber gerade dem Montfaucon, der »mit fremden Augen und nach Kupfern und Zeichnungen« geurteilt habe,11 wirft Winckelmann häufige Irrtümer vor. Wichtiger als die oft täuschende Abbildung bleibt für Winckelmann die Autopsie – oder das auf Autopsie beruhende Urteil, vermittelt durch das geschriebene Wort. Das Nebeneinander von argumentierender Monographie und Bild-Präsentation war selbst bei Publikationen für einen breiteren Leserkreis bis in das mittlere 19. Jahrhundert die Regel, lässt sich aber noch bis ins frühe 20. Jahrhundert belegen – auch wenn man immer berücksichtigen muss, dass die Illustration kunstgeschichtlicher Werke kaum je vollständig sein kann. Die Gründe für dieses Nebeneinander waren zunächst technischer und ökonomischer Natur. Der Kupferstich, der im 18. Jahrhundert ausschließlich, im 19. Jahrhundert anfangs noch häufig verwandt wurde, ist ein aufwendiges und teures Abbildungsverfahren. Es empfiehlt sich daher für Publikationen dokumentarischen Charakters, also Publikationen, die relativ unabhängig von aktuellen Diskursen Material präsentieren und sich an eine Vielzahl unterschiedlicher Interessenten richten. Ökonomischer ist die Lithographie: Sie wurde 1798 erfunden und sukzessiv für den Buchdruck perfektioniert. Daneben erlebte im 19. Jahrhundert der Holzschnitt als Reproduktionstechnik eine Renaissance.12 Die um 1839 erfundene Fotografie hat die Abbildung auch von Kunstwerken auf eine neue Grundlage gestellt. Die Archäologie hat sich der Fotografie eher zögerlich bedient, was nur zum Teil mit dem erheblichen technischen Aufwand begründet werden kann, der mit fotografischen Aufnahmen verbunden war. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein blieb die Zeichnung das wichtigste Mittel der archäologischen Darstellung. Man versuchte sogar zu begründen, weshalb die interpretierende Zeichnung der nur abbildenden Fotografie überlegen sei.13 Bei den österreichischen Ausgrabungen auf der Insel Samothrake 1873 und 1875 gehörte erstmals ein Fotograf zum Grabungsteam. Auch die deutsche Ausgrabung in Olympia seit 1875 ließ von Anfang an auch Fotos ausgewählter Funde

_____________ 10 Montfaucon (1722–1724). Zu den Denkmäler-Publikationen des 16.–18. Jahrhunderts allgemein: Heenes (2003); Wrede (2004); Steiner (2005). 11 Winckelmann (2002), XXII f. 12 Zu den verschiedenen Reproduktionstechniken in archäologischen Publikationen: Stark (1880/1969), 371 f. 13 Stark (1880/1969), 270, 372. Uneingeschränkt positiv beurteilt die Fotografie Michaelis (1908), 295 ff.

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anfertigen.14 Gezeichnet wurde aber jeder Fund – so wie es bis heute vielfach üblich ist. Heinrich Meyer, gelehrter Künstler und Mitarbeiter Goethes, veröffentlichte 1824 eine Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen von ihrem Ursprunge bis zum höchsten Flor – zunächst ohne jede Abbildung.15 Im folgenden Jahr 1825 lieferte er einen eigenen Band mit Abbildungen nach.16 Aloys Hirt, seit 1810 in Berlin der erste Inhaber eines archäologischen Lehrstuhls an einer deutschen Universität, publizierte als zusammenfassendes Alterswerk 1833 Die Geschichte der bildenden Künste bei den Alten. Das Buch enthielt keine Abbildungen.17 Hirt hatte jedoch schon früher ein Bilderbuch für Mythologie, Archäologie und Kunst herausgegeben, das allerdings nicht über zwei Lieferungen hinauskam.18 Diese beiden Lieferungen enthielten 32 Kupfertafeln mit jeweils mehreren Abbildungen sowie etwa 40 Vignetten im begleitenden Text. Solche Bildatlanten antiker Kunstwerke und Realien, bestimmt »für Studierende und Kunstfreunde« oder »für die Jugend und ihre Lehrer« wurden im frühen 19. Jahrhundert mehrfach konzipiert – aber sie waren offenbar kein großer Erfolg; denn sie wurden nach ein bis zwei Lieferungen nicht fortgesetzt, erreichten also nie den Umfang der im frühen 18. Jahrhundert kompilierten Denkmälercorpora.19 Eine konkretere Anschauung antiker Kunstwerke vermittelten im 18. Jahrhundert und noch mehr im 19. Jahrhundert neben den Museen die sich ständig erweiternden Abgusssammlungen der Kunstakademien und Universitäten.20 Auch die immer umfangreicheren, kommerziell vertriebenen, leicht zu transportierenden Daktyliotheken, also Sammlungen von Abdrücken geschnittener Steine, trugen zur Kenntnis antiker Bilder erheblich bei.21 Mehr noch als die Bildatlanten existierten diese Medien relativ unabhängig von den ›Kunstgeschichte‹ darstellenden Texten. Ausdrückliche Querverbindungen blieben selten; sie waren auch kaum notwendig. Denn die kunstgeschichtlichen Texte waren ein anderes Genos; ihre Aufgabe war weniger, einzelne Werke zu veranschaulichen und zu interpretieren, sondern sie bestand darin, Zusammenhänge aufzuzeigen und Ordnungskriterien zu begründen. _____________ 14 Borbein (2002), 166, 172 f. – Zum Vordringen der Fotografie und zur Abwertung der Zeichnung in der Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts: Lindner (1999). 15 Meyer (1824); spätere Fortsetzung: Meyer (1836). 16 Meyer (1825). 17 Hirt (1833). Allgemein zu Hirt: Aloys Hirt (2004). 18 Hirt (1805/1816). 19 Z. B. Boettiger/Meyer (1801); Rost/Wichmann (1805). – Das von Karl Otfried Müller 1832 begründete, von Friedrich Wieseler weitergeführte Abbildungscorpus Denkmäler der alten Kunst erlebte bis 1903 vier Auflagen. Im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert gab es eine Vielzahl derartiger Corpora, die verschieden akzentuiert und aufgebaut waren und sich an ein breites Feld von Adressaten wandten. Ein weiteres Beispiel: Guhl/Caspar (1851–1853). 20 Borbein (2000). 21 Daktyliotheken (2006).

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Eine neue Blüte erlebte die Produktion von Corpora in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch es handelt sich jetzt um Spezialcorpora für die Wissenschaft, herausgegeben und gefördert von Akademien, Museen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Deutschen Archäologischen Institut. So wurden etwa etruskische Urnen22 und Spiegel23, griechische mythologische Darstellungen24, attische Grabreliefs25 und römische Sarkophage26 in umfangreichen Publikationen vorgelegt, zum größten Teil in Zeichnungen. Diese Corpora sind eine Frucht der Verwissenschaftlichung auch der Archäologie seit etwa 1830. Jetzt erst kommt es zu einer deutlichen Trennung zwischen fachwissenschaftlicher Literatur und Büchern, die sich vor allem an ein größeres Publikum richten. Das schloss nicht aus, dass die Autoren dieselben blieben; unser Beitrag konzentriert sich deshalb auf Publikationen von Wissenschaftlern. Es schrieben über die Kunst der Antike zunächst auch Vertreter der Allgemeinen Kunstgeschichte wie Kugler, Schnaase oder Lübke,27 seit etwa 1860/70 überwiegen dann Klassische Archäologen wie Friederichs, Overbeck oder Klein – ein Resultat der fortschreitenden Spezialisierung der Disziplinen. Das Publikum, nämlich die viel zitierten ›gebildeten Bürger‹, war mittlerweile zu einem gewichtigen Faktor im kulturellen Leben geworden. Es war der Adressat der schon genannten Monographien von Heinrich Meyer und von Aloys Hirt, auch des 1841 zuerst erschienenen Handbuchs der Kunstgeschichte, das sein Autor, Franz Kugler als den »ersten umfassenden Versuch einer noch jungen Wissenschaft« bezeichnete.28 Kuglers Handbuch, in der vierten Auflage (1861) bearbeitet von Wilhelm Lübke, war mit sparsam im Text verteilten Zeichnungen illustriert.29 Ähnlich die Geschichte der bildenden Künste von Carl Schnaase: In dem den Griechen und Römern gewidmeten zweiten Band, dessen 1866 erschienene zweite Auflage von Carl Friederichs bearbeitet worden war, finden wir auf 421 Seiten Text insgesamt 118 kleine Strichzeichnungen eingefügt.30 – Eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Plastik von den älteren Zeiten bis auf die Gegenwart, verfasst von Wilhelm Lübke, bringt in der zweiten Auflage von 1871 auf 814 Textseiten immerhin 377 Holzschnitt-Illustrationen, d. h. beinahe alle zwei Seiten eine Abbildung.31 Obwohl das Zeitalter der Fotografie längst angebrochen ist, sind Abbildungen nach Fotos in der schon genannten vierten Auflage von Johannes Overbeck Ge_____________ 22 Brunn/Körte (1870–1916). 23 Gerhard (1843–1867); dazu: Zimmer (1997). 24 Overbeck (1871–1889). Band I enthält einen »Atlas« von 26 Folio-Tafeln mit zahlreichen Abbildungen nach Zeichnungen. 25 Conze (1893–1922). 26 Robert (1890–1919). 27 Zu den kunstgeschichtlichen Handbüchern des 19. Jahrhunderts: Dilly (1979), 86 ff., 173 f. 28 Kugler (1841), Vorwort. 29 Kugler (1861). 30 Schnaase (1866). 31 Lübke (1871).

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schichte der griechischen Plastik (1893/94) in der Minderzahl, Band 1: 565 Seiten mit 193 Abbildungen; Band 2: 570 Seiten mit 246 Abbildungen.32 Im selben Jahr (1893) erschien Adolf Furtwänglers berühmtes Buch, das sich nicht nur an Fachleute wandte, Meisterwerke der griechischen Plastik.33 Obwohl Furtwängler mit Recht als der erste Archäologe gilt, der das neue Medium Fotografie konsequent einsetzte, um die Stilkritik zu revolutionieren, hat er in den ›Meisterwerken‹ auf Zeichnungen nicht ganz verzichtet. Freilich überwiegen die Abbildungen nach Fotos: 767 Seiten Text mit 138 integrierten Abbildungen, eine eigene Mappe enthält 32 großformatige Lichtdruck-Tafeln. Die englische Ausgabe Masterpieces of Greek Sculpture (1895) hat 487 Seiten, 200 Abbildungen im Text und 19 eingebundene Tafelabbildungen.34 Seit der Jahrhundertwende gehören zahlreiche und nach Fotos hergestellte Abbildungen schließlich zum Standard wissenschaftlicher archäologischer Monographien für einen größeren Interessentenkreis. Einige Beispiele: – Ludwig von Sybel, Weltgeschichte der Kunst im Altertum, 2. Aufl. 1903, aber schon erste Auflage 1887: 476 Seiten, 380 Abbildungen im Text, 3 Farbtafeln.35 – Karl Woermann, Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, 2. Aufl., Bd. 1: Die Kunst der Urzeit. Die alte Kunst Ägyptens, Westasiens und der Mittelmeerländer (1915): 520 Seiten, 548 Abbildungen im Text, 11 Tafeln.36 – Wilhelm Lübke, Grundriss der Kunstgeschichte, Bd. 1: Die Kunst des Altertums, 15. Aufl. bearbeitet von Erich Pernice (1921): 470 Seiten, 664 Abbildungen im Text, 14 Farbtafeln.37

Ein kurioser Sonderfall ist die dreibändige Geschichte der griechischen Kunst von Wilhelm Klein (1905): Sie umfasst insgesamt 1 312 Seiten und hat keine einzige Abbildung!38 Zwar gibt Klein knappe Hinweise auf Abbildungen, doch handelt es sich zumeist um Abbildungen in der fachwissenschaftlichen Literatur, mit der der Verfasser sich auseinandersetzt. Dem allgemeinen Leser hätte er besser gedient, wenn er die kurz zuvor, im Jahre 1900 erschienene Kunstgeschichte in Bildern zitiert hätte, deren ersten, der griechischen und römischen Kunst gewidmeten Band der Archäologe Franz Winter besorgt hatte.39 Dieser letzte der vom Positivismus bestimmten Bildatlanten erlebte mehrere Auflagen und wurde noch bis in _____________ 32 Overbeck (1893–1894). Ergänzend zu den früheren Auflagen seines Buches hatte Overbeck »zum Gebrauch bei Vorlesungen« (!) einen Atlas von 18 Folio-Tafeln mit zahlreichen Abbildungen nach Zeichnungen publiziert: Overbeck (1870). 33 Furtwängler (1893). 34 Furtwängler (1895). Allgemein zu Furtwängler: Adolf Furtwängler (2003). 35 Sybel (1887/1902). 36 Woermann (1915). 37 Lübke (1921). 38 Klein (1905–1907). 39 Winter (1900).

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die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zitiert. Auf 100 Tafeln erscheinen dort fast 1 000 Abbildungen, überwiegend nach Fotos. Das extreme Gegenteil von Kleins bildlosem Werk ist der von Gerhart Rodenwaldt verfasste Band der Propyläen-Kunstgeschichte Die Kunst der Antike (Hellas und Rom) von 1927. Dem Text von nur 75 Seiten stehen gegenüber: 662 Abbildungen fast ausschließlich nach Fotos, 43 Tafeln in Farbe oder Tiefdruck und 7 Seiten mit Grundrissen. Im Vorwort nennt Rodenwaldt den Band eine »Bildersammlung« und er definiert deren Zweck so »Die Bilder würden ihren Zweck erfüllen, wenn sie ihre Betrachter veranlaßten, vor antike Originale zu treten«.40 Hier geht es nicht mehr primär um gelehrte Kennerschaft oder historische und entwicklungsgeschichtliche Einsicht, sondern um das individuelle Sicheinlassen auf das Kunstwerk im Vertrauen darauf, dass alles weitere daraus folgt. Das ist auch der Grund dafür, dass wichtige Stücke in mehreren sich ergänzenden Abbildungen gezeigt werden. Kunst-Betrachtung wird zum Kunst-Erlebnis – etwa wie in Rilkes berühmtem Sonett von 1908 »Archaischer Torso Apollos«.41 Das Kunstwerk gewinnt eigenes Gewicht, es ist nicht länger bloßes Belegstück für eine im Text vertretene These. Dementsprechend emanzipieren sich die Bilder vom Text – auch räumlich; sie sind als Einzeltafeln, vor allem als Tafelteil zwar angebunden, aber nicht mehr wie die Textabbildungen eingebunden. Ein weiteres Beispiel für die Absonderung des Tafelteils ist Arnold von Salis Die Kunst der Griechen, ein Buch, das zwischen 1919 und 1923 drei Auflagen erlebte.42 Eine Zwischenstellung nimmt Wilhelm Klein Vom antiken Rokoko (1921) ein: 199 Seiten, 75 Textabbildungen, 5 Tafeln mit jeweils einer einzigen auf schwarzem Karton aufgeklebten Fotoabbildung.43 Dass man bestrebt ist, das Kunstwerk in seiner Individualität zu begreifen, sogar bereit ist, sich von ihm beeindrucken zu lassen, zeigt sich aber nicht allein in der neuen Art der Bebilderung. Auch der Text, das Reden über Bildwerke verändert sich. Schon Winckelmann hatte in seinen berühmt gewordenen Beschreibungen besonders des Apollon und des Torso im Belvedere versucht, die Wirkung der Statuen auf den Betrachter zu erfassen und darauf eine Interpretation zu grün-

_____________ 40 Rodenwaldt (1927), Vorwort. 41 Rilke (1927), 117. Die Beschreibung des Torso schließt mit dem Ausruf: »denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt Dein Leben ändern.« Vgl. Hausmann (1947). 42 Salis (1919/1921/1923). 43 Klein (1921). – Paul Wolters in: Springer (1915), Vf. skizziert den Prozess der zunehmenden Bebilderung seit dem »Textbuch« der ersten Auflage von 1879. Die zehnte Auflage (Springer [1915]) umfasst 562 Seiten, 1 047 Abbildungen im Text, 16 Farbtafeln und eine Gravüre; die zwölfte Auflage (Springer [1923]): 576 Seiten, 1 078 Abbildungen im Text, 8 Farbtafeln und 8 Lichtdrucktafeln. Diese Lichtdrucktafeln vertreten die neue Art der Interpretation; sie zeigen bedeutende Schöpfungen der antiken Plastik als individuelle Kunstwerke.

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den.44 Dieser neue Ansatz Winckelmanns hat in den im 19. Jahrhundert verfassten Kunstgeschichten wenig Nachfolge gefunden. Die Aufmerksamkeit gilt hier gerade nicht der individuellen Wirkung, sondern dem Überindividuellen, dem Allgemeinen, das verschiedene Werke miteinander vergleichen lässt. Das historische Interesse überlagert das ästhetische. Ausführlichere Beschreibungen kommen zwar vor, sie dienen aber nur dazu, den Ort des Kunstwerks in einer Entwicklungsreihe zu bestimmen. Die von Winckelmann begründete historische Betrachtung der Kunst der Antike wird im 19. Jahrhundert radikalisiert. Dies geschieht durch eine enge Verknüpfung von Geschichte und ›Entwicklung‹. Stärker als je bei Winckelmann wird der Lauf der Geschichte der Kunst durch strikte Entwicklungsgesetze gleichsam kanalisiert. Winckelmanns Epochenfolge ›Wachstum – Blüte – Verfall‹, auch die Charakterisierung der römischen Kunst als letzte Verfallsperiode der griechischen, blieb dennoch bis ins frühe 20. Jahrhundert im Grundsatz unbestritten – angesichts der vielen neuen Funde und Erkenntnisse eine bemerkenswerte Tatsache! Anders aber als bei Winckelmann wird die historische Abfolge der Epochen und Stile als eine notwendige ›Entwicklung‹ gesehen, die ihre Begründung und ihren Sinn in sich selbst findet. Der allgemein-geschichtliche Kontext, die jeweiligen politischen und kulturellen Gegebenheiten werden zwar oft erläuternd geschildert, doch sind letztlich nicht sie die Motoren der ›Entwicklung‹. Um ›Entwicklung‹ geht es auch dann, wenn wissenschaftliche Autoren des 19. Jahrhunderts etwas ›historisch‹ oder gar ›echthistorisch‹ nennen.45 Schon Heinrich Meyer (1824) hält die politische Freiheit, die sportlichen Übungen im Gymnasium, Religion und günstiges Klima nicht mehr – wie Winckelmann – für die wesentlichen Voraussetzungen der griechischen Kunstblüte. Er zitiert stattdessen seinen Meister Goethe: »Der höchste Grundsatz der Alten [...] war das Bedeutende, das höchste Resultat aber [...] das Schöne«.46 In ähnlicher Weise hat Aloys Hirt (1833) das ›Charakteristische‹ zum Ziel und Maßstab der Entwicklung der antiken Kunst gemacht.47 Bei Meyer und Hirt hat die Darstellung der Entwicklung einen auch praktischen Nutzen (etwa für bildende Künstler): Sie lehrt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit gute Kunst entsteht. Sie liefert Orientierungswissen und Beurteilungsmaßstäbe.48 _____________ 44 Winckelmanns Beschreibungen sind bequem zugänglich in: Winckelmann (1968), 169 ff., 267 ff. 45 Z. B. Overbeck (1883–1894), 5; Sybel (1903), V; siehe unten 276–277. 46 Meyer (1824), 205. 47 Tausch (2004), 69–103. 48 Der Bezug zur Praxis prägte insbesondere die in Berlin in der Epoche Schinkels verfassten Darstellungen der Geschichte der Architektur. Hirt (1809) – mit über 50 Abbildungen antiker Architektur auf 50 Tafeln; auch Kugler (1856–1859) mit relativ wenigen Abbildungen, vorwiegend von Grundrissen und architektonischen Details (Band I behandelt die antike und vorromanische Baukunst).

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Dieser auch praktische Aspekt von Kunstgeschichtsschreibung verschwindet in der Folgezeit zugunsten reiner Theorie (im Sinne des griechischen Begriffs ›Theoria‹ [ȚıȧȢȔį] = ›Anschauung‹) zugunsten der Anschauung des Entwicklungsganges um seiner selbst willen. Dazu passt eine bildhafte Sprache. So schreiben Schnaase und Friederichs (1866): Der ganze Gang der Entwickelung der griechischen Kunst gleicht einem Berge, der langsam in weiter Dehnung sich erhebt, dann plötzlich steil zu seinem Gipfel aufsteigt und ebenso schroff wiederum sich senkt. Freilich [...] sich anfangs nur mässig senkt, dann lange in gleicher Hochebene fortläuft und erst später allmälig tiefer und tiefer abfällt.49

Mit nur geringen Akzentverschiebungen begegnet die gleiche Auffassung immer wieder. Lübke (1871) führt z. B. aus: Nur bei den Griechen steht jedes Kulturelement in vollkommenem Einklange mit der Natur; nur bei ihnen ist jene Harmonie von Körper und Geist, aus deren gesundem Boden eine durchaus naturgemäße Kunst erblüht, in welcher die sittlichen Ideale des Volkes eine allgemein verständliche, allgemein hinreissende Ausprägung erhalten [...] Wir begreifen nun, warum erst bei den Griechen eine wahrhafte innere Geschichte des künstlerischen Schaffens beginnt. Eine Entwicklung im eigentlichen Sinne giebt es nur da, wo Freiheit waltet, wo der Geist nicht in dogmatischen Formeln eingezwängt, sondern seinem eigenen Gesetze hingegeben ist.50

Winckelmann dagegen hatte Freiheit konkret als politische Freiheit verstanden. Overbeck (1893) plädiert dafür, die griechische Plastik nicht nach ästhetischen oder gegenständlichen Kriterien zu behandeln, sondern historisch zu betrachten. Er glaubt, daß es der geschichtlichen Darstellung ungleich eher und sicherer gelingen wird, den Sinn für das Werden und Wachsen, für die Vorstufen der Vollendung, ja selbst für die früheren Versuche der Kunst zu erwecken […] Die wissenschaftlich gefaßte Kunstgeschichte hat es zunächst viel weniger mit einem Trennen und Unterscheiden als mit einem Verbinden und Vergleichen der gesammten Thatsachen zu thun, sie hat in der Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen das Gemeinsame, Übereinstimmende aufzusuchen, weil sie nur so zur Wahrnehmung des innerlichen Zusammenhanges der Entwicklung gelangen kann. Denn dieser innerliche Zusammenhang der Entwicklung ist der hauptsächliche Gegenstand ihrer Darstellung.51

v. Sybel (1903): Unsere Weltgeschichte der Kunst will neben der üblichen ethnographischen und systematischen Darstellungsweise die echthistorische in ihr Recht setzen, welche den Stoff nach Epochen ordnet, damit die Entwicklung rein vor das Auge trete […] In solcher epochenweisen Zusammenfassung der gleichzeitigen Erscheinungen gestaltet sich die Weltgeschichte zu einem großen Schauspiel, in welchem ein zahlreiches Per-

_____________ 49 Schnaase (1866), 289. 50 Lübke (1871), 64. 51 Overbeck (1893–1894), 5, 7.

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sonal über die Bühne geht und ein buntes, doch immer geordnetes und übersichtliches Bild vor Augen führt. […] Die Weltgeschichte der Kunst ist die Geschichte der Weltherrschaft in der Kunst, wie sie erworben wird. Die Weltgeschichte verfolgt den Fortgang in der aufsteigenden Linie. […] Andererseits ist die bevorzugte Stellung der griechischen Kunst unbestritten; so Großes Ägypten und Mesopotamien geschaffen haben und soviel die griechische Kunst auch der orientalischen verdankt, so haben doch erst die Griechen die plastische Schönheit gefunden.52

Klein (1904): Der Beginn der hellenischen Kunst fällt genau zusammen mit dem ersten geschichtlichen Auftreten des Hellenentums, sein Erlöschen bildet das Datum ihres [der Kunst] Totenscheines und den Schlußpunkt, dem ihr Historiograph zuzusteuern hat.53

Lübke und Pernice (1921): Die Griechen als die ersten gewähren das Bild einer eigenen inneren Entwicklung, einer mit freiem Bewußtsein sich entfaltenden nationalen Kultur. Aber obwohl durchaus national, ist doch ihr ganzes Geistesleben von so allgemein menschlicher Bedeutung erfüllt, daß es für die gesamte Entwicklung aller Zeiten die unzerstörbare Basis ausmacht.54

Diese Zitate machen deutlich: ›Entwicklung‹ ist nicht nur eine historische, sondern auch eine ästhetische Kategorie. In sich geschlossen, die einzelnen Fakten sinnvoll aufeinander beziehend, die Epochen einsichtig miteinander verbindend und dabei im Auf und Ab, im Hin und Her Lineamente erzeugend, die wie Bilder sinn-, ja augenfällig werden, auf diese Weise ist ›Entwicklung‹ dazu geeignet, den Gang der Kunstgeschichte zum ästhetischen Ereignis zu machen. Oder allgemeiner gesagt: Geschichte wird qua ›Entwicklung‹ ästhetisch vermittelt. Eine so konzipierte Kunstgeschichte ist auf begleitende Abbildungen nicht so sehr angewiesen, wichtiger als die Detail-Illustrationen ist das ›Entwicklungs‹-Bild, das der Text im Leser erzeugt. Ein solches Bild wirkt umso mehr, je klarer und einfacher seine Linien sind. Diese Einfachheit geht in den um 1900 verfassten, vom Positivismus geprägten Kunstgeschichten verloren. Die Masse des zusammengetragenen Materials und die detaillierte Erörterung von Forschungsproblemen (ein Beispiel ist die Geschichte der griechischen Kunst von Wilhelm Klein)55 überwuchern die Linien der Entwicklung, lassen sie kaum mehr kenntlich werden. Dem entspricht in vielen Publikationen die Fülle der in den Text eingestreuten fotografischen Abbildungen; diese erzeugen den neuen Eindruck ›positivistischer‹ Buntheit und Vollständigkeit, illustrieren aber nur mehr eine zweifelhaft gewordene Konzeption. Zu dem durch die drohende Unübersichtlichkeit geweckten Zweifel an der Brauchbarkeit des Begriffs der linearen Entwicklung kommen schließlich Zweifel an _____________ 52 53 54 55

Sybel (1903), V, 4, 6. Klein (1904–1907), 1. Lübke (1921), 108. Klein (1904–1907).

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anderen Beurteilungskriterien wie insbesondere ›Naturwahrheit‹ und ›Ideal‹. Gleichzeitig muss das Empfinden dafür gewachsen sein, dass die Konzentration der Forschung auf ›Entwicklung‹ andere Aspekte des Kunstwerks, insbesondere seine Individualität, unterdrückt und die darin enthaltenen Erkenntnismöglichkeiten vernachlässigen lässt. Arnold von Salis hat als einer der ersten daraus Konsequenzen gezogen: Im Vorwort seines Buches Die Kunst der Griechen, entstanden unter dem Eindruck des Endes des Ersten Weltkrieges, schreibt er: »unser ganzes Verhältnis zu den Kunst- und Lebensformen der Vergangenheit ist viel zu einseitig auf rein entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise eingestellt«. Dennoch will auch v. Salis »die innere Gesetzmäßigkeit der Entwicklung« darstellen, aber er definiert das anders als seine Vorgänger. Es gehe darum »das Werden und die Wandlungen der hellenischen Kunst in ihren organischen Zusammenhängen zu schildern, so wie eben eine Lebensgeschichte geschrieben werden soll, unter Berücksichtigung aller wirklich treibenden Faktoren«.56 Das bedeutet ein Abgehen von der linearen Entwicklung und ein Hervorheben von epochenspezifischen Besonderheiten: Von dem naiven Brauch, die ›Blütezeiten‹ der griechischen Antike an den Fingern aufzuzählen, ist man wohl endgültig abgekommen. Mag auch die Ansicht zu Recht bestehen, daß die Entwicklung sich in wechselnden Kurven bewegt haben soll, so ist es immer noch ungewiß, auf welche Punkte der langen Strecke die entscheidenden Akzente fallen. Und stellt jene Epoche, die man gemeinhin die klassische zu benennen pflegt, wirklich die ideale Reife künstlerischer Ausdruckswerte dar?57

In der Epoche nach Nietzsche und in Kenntnis der aktuellen Interpretationsansätze der Kunsthistoriker Riegl, Wickhoff und Woelfflin bemüht sich v. Salis, die Geschichte der griechischen Kunst mit neuen Begriffen neu zu verstehen: Die Kapitel seines Buches tragen Überschriften wie Die lose Zierform, Das Untektonische, Festigung, Schematismus, Befreiung, Auflockerung usw. Trotz aller Abstraktion gilt das Interesse dem konkreten Kunstwerk als einem Repräsentanten seiner Zeit und Umwelt und nicht als dem bloßen Glied in einer Entwicklungsreihe. Damit war der Weg frei zu einer neuen und unmittelbaren Konfrontation mit den Werken selbst – ein Beispiel dafür ist die vor allem fotografische Erschließung der Skulpturen des Zeustempels von Olympia durch den Kunsthistoriker Richard Hamann, begleitet von einem kurzen Text des Archäologen Ernst Buschor (1924).58 Die ästhetische Vermittlung wird jetzt den Bildern anvertraut – obwohl man von der Begrenztheit auch dieses Mediums weiß. Rodenwaldt59 hatte den Zweck der Bilder darin gesehen, den Betrachter dazu zu veranlassen, nun selbst »vor antike Originale zu treten«. _____________ 56 57 58 59

Salis (1923), V, VI (Vorwort von 1919). Ebd., 78. Buschor/Hamann (1924). Rodenwaldt (1927), Vorwort.

Kunstgeschichte als ästhetisches Ereignis

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Georg Ebers’ Kleopatra: Kompromiss zwischen Gelehrsamkeit und Popularität ACHIM AURNHAMMER

Der renommierte Ägyptologe Georg Ebers zählt zu den bedeutendsten Repräsentanten des antiquarischen ›Professorenromans‹ am Ende des 19. Jahrhunderts.1 Als charakteristisches Beispiel seines umfangreichen, bislang nur ungenügend erforschten belletristischen Werks2 gilt der »historische Roman« Kleopatra, der nach seinem ersten Erscheinen 1894 ein großer, wenn auch kurzer Bucherfolg war3. In diesem Roman, dem antinaturalistischen Dichterfreund Wilhelm Jordan gewidmet, sucht Ebers erklärtermaßen historisches Wissen fiktional zu vermitteln und »zum Kunstwerke zu gestalten« (I, 10 [Vorwort]). Wissenschaft und Kunst verband Ebers seit Beginn seiner akademischen Karriere. Bereits ein Jahr vor seiner Jenaer Habilitationsschrift über die ›sechsund_____________ 1 2

3

Vgl. Riikonen (1978), vgl. dazu die kritische Rezension von H[arald] Mielsch (1980), 370–373 und Mielsch (1980), 377–400. Die frühe Monographie von Richard Gosche (um 1885) ist inhaltlich ausgerichtet und lässt in ihrer apologetischen Tendenz analytische Distanz vermissen. Die Münchener Dissertation von Elisabeth Müller (1951) erschließt werk- und rezeptionsgeschichtliches Neuland, bleibt aber in der Deutung summarisch und kategorial unpräzise. Imagologische Studien zum Ägypten-Bild vernachlässigen die historische Methode von Ebers. Erst in letzter Zeit rückte Ebers wieder langsam ins Blickfeld kulturwissenschaftlicher Interessen; vgl. Borger (1978), die gewichtige Monographie von Hans Fischer (1994) und Achim Aurnhammer (2002), 273–298. Das umfassende Werkverzeichnis in Herbert Jacob (1998), 38–50, bietet eine gesicherte Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit Ebers. Ebers (1894,1893; das Vorwort und erste Rezensionen datieren aus dem Jahre 1893). Der Roman war ein weltweiter Erfolg: Eine dänische Übersetzung von Otto Borchsenius und Johannes Magnussen erschien in Kopenhagen bereits 1893, eine niederländische Version von Louise Stuart in Amsterdam 1894, eine amerikanische Version von Mary J. Safford in New York 1894, in Prag 1913 eine tschechische Version von A. Suk (Neuaufl. 1924, Neuausgabe 1997). In Deutschland erlebte der Roman im Jahre 1897 seine zehnte, zunächst letzte Auflage, und es erschien eine zweibändige Ausgabe letzter Hand: Ebers (o. J. [1897]); vgl. Jacob (1998), 47. Auf die zweibändige Werkausgabe beziehen sich im Folgenden die eingeklammerten Zahlen im Text: Die römische Zahl bezeichnet den Band (I/II), die arabische die Seitenzahl. Eine unkommentierte Ausgabe ohne Ebers’ Vorwort erschien in Erftstadt 2004, eine Lizenzausgabe 2006 in Rheda-Wiedenbrück.

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Achim Aurnhammer

zwanzigste Königsdynastie der Ägypter‹ und noch vor seiner ersten Orientreise publizierte er einen dreibändigen historischen Roman aus dieser Zeit: Eine Ägyptische Königstochter (1864). Bis zu seinem Tod im Jahre 1898 veröffentlichte Ebers insgesamt zwanzig historische Romane4; vierzehn davon spielen wie die Kleopatra in Ägypten. Die Affinität des Ägyptologen zur Kunst bezeugt neben der kongenialen Freundschaft mit Sir Lawrence Alma Tadema seine bedeutende Kulturgeschichte Ägypten in Wort und Bild (1879/1880). Der Untertitel: »Dargestellt von unseren ersten Künstlern, beschrieben von Georg Ebers«, bekundet programmatisch, wie hoch Ebers die ästhetisch-imaginative Ergänzung seiner historischen Landeskunde schätzte.5 In diesem illustrierten Prachtwerk finden sich mehrere bildliche Kleopatra-Darstellungen, während der Kleopatra-Roman selbst keine Abbildungen enthält.6 Möglicherweise weist bereits dieser Umstand auf eine ästhetische Umorientierung in der Kleopatra hin. Die Ägyptenromane von Ebers zeichnen sich durch wissenschaftlich fundierte Beschreibungen von hohem Detailrealismus aus.7 Sie beruhen so sehr auf Rekonstruktionen archäologischer Zeugnisse, so genannter ›Überreste‹ in der Terminologie von Ebers’ akademischem Lehrer Droysen, dass man sie als ›Überrestromane‹ bezeichnen könnte. Um solch archäologisch fundierte Szenerien aus _____________ 4 5

6

7

Müller (1951), 68, und siehe das Werkverzeichnis in Jacob (1998). Die langwierige Geschichte der Illustration des Prachtwerks von Georg Ebers: Ägypten in Wort und Bild. Dargestellt von unseren ersten Künstlern, Stuttgart [1878–]1880, ist noch nicht abschließend geschrieben. Eine angemessene Würdigung der Historien- und Orientmalerei aus ägyptologischer Sicht gibt Hans Fischer (1994), besonders 39–95. Die unedierte Korrespondenz, die Ebers mit den Verlegern Eduard und Carl Hallberger über die Illustration des Prachtwerks zwischen 1875 und 1878 führte, zeigt, wie sehr Ebers Einfluss nahm auf die Bildmotive sowie deren Umsetzung in Holzstiche und wie er seinen Text dem Bildmaterial anpasste (vgl. Nachlass Georg Ebers, Nachlassergänzung 3 [Briefe an Eduard und Carl Hallberger 1875–78], Preußische Staatsbibliothek Berlin). Adolf Gnauth, ein an dem Unternehmen beteiligter Künstler, kritisierte sogar »die Überfüllung des Textes durch Bilder«, da so »das Werk ein Bilderbuch, und keine illustrierte Beschreibung« würde (vgl. zwei unveröffentlichte Briefe, Nürnberg, den 27.2. und 1.3.1878, an Eduard Hallberger, zitiert nach Kat. Autographen 18.–20. Jahrhundert, Antiquariat Halkyone, Nr. 3771). Für die insgesamt 782 oft ganzseitigen Illustrationen hatte Ebers die besten und prominentesten Orientmaler seiner Zeit gewonnen; vgl. Fischer (1994), 93–95, 416–425; ebd. auch ein nützliches »Verzeichnis der bildenden Künstler, mit denen Ebers berufliche oder private Beziehungen unterhält«. Ebers’ Ägypten in Wort und Bild enthält drei bildliche Kleopatra-Darstellungen. Sie illustrieren Ebers’ wissenschaftliche Rekonstruktion des »alten Alexandria« (Bd. 1, 19). Keine dieser Illustrationen hat Ebers für seinen Kleopatra-Roman wiederverwandt. Dabei hatte er zuvor viele seiner Romane prominent illustrieren lassen und noch im Jahre 1884 eine großformatige EbersGallerie autorisiert, eine Mappe, die zahlreiche Gestalten aus den Romanen von Georg Ebers »in photographischen Reproduktionen« nach seinerzeit berühmten Gemälden von L. AlmaTadema, W. A. Beer, W. Gentz, P. Grot-Johann, H. Kaulbach, Ferd. Keller, O. Knille, F. Simm, Laura Tadema, E. Teschendorff und P. Thumann enthält. In photographischen Reproduktionen von Friedrich Bruckmann in München, Stuttgart/Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt (vormals E. Hallberger) o. J. [1884]. Vgl. Aurnhammer (2002).

Georg Ebers’ Kleopatra

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dem Alten Ägypten modernen Lesern nahezubringen, schloss Ebers an die Gattungstradition des historischen Romans an. Dabei mied er historisch prominente Gestalten und Ereignisse. Seine fiktiven Protagonisten entsprechen meist dem Konzept des ›mittleren Helden‹, gestaltet werden historische Übergangs- und Umbruchsituationen, die von kulturellen Gegensätzen und Konflikten geprägt sind. Von diesem Typus seiner Ägyptenromane weicht die Kleopatra in mehrfacher Hinsicht ab. Im Schaffen von Ebers wie in der Geschichte des deutschen Antikeromans markiert sie einen Wendepunkt; gleichwohl blieb sie in der Forschung bislang unberücksichtigt.8 Mehrere Fassungen des Romans, die im Nachlass des Dichterprofessors überliefert sind, bezeugen, wie intensiv Ebers selbst mit dem Romankonzept rang.9 Dass die zeitgenössischen Leser die ungewohnte Personalisierung zu Lasten des historischen Kontextes irritierte, zeigt die briefliche Reaktion des Althistorikers Eduard Meyer, der seinem Freund die enttäuschte Erwartung kaum verhehlt: Daß es freilich die historische Kleopatra wäre, kann ich nicht glauben; da steht mir Shakespeares Bild weit näher. Was ich bei Ihnen vermisse, ist vor allem der furchtbare Hintergrund, auf dem sich das ganze Drama abspielt, die hundertjährige Epoche der römischen Revolution, die die ganze Culturwelt in ihren Strudel zieht. Angedeutet ist das ja, aber als das eigentlich treibende Moment, das denn auch den ethischen und historischen Maasstab bestimmt, den wir anlegen müssen, tritt es doch nicht hervor. Ihr Bild ist mir viel zu ideal und viel zu schön.10

Ebers’ Kleopatra stellt – so meine These – einen ästhetischen Kompromiss dar, der die Errungenschaften des wissenschaftlich-antiquarischen Romans mit den gewandelten Anforderungen der populären historischen Belletristik zu verknüpfen sucht. Dieser Kompromiss zeigt sich in einem neuen Figurenkonzept, einer komplexen Charakterisierungstechnik und vor allem in einer neuartigen Rekonstruktion der Antike. Diese Aspekte seien im Folgenden näher charakterisiert, um abschließend Ebers’ ästhetischen Kompromiss literarhistorisch zu würdigen. _____________ 8

Der Überblick von Gosche (um 1885) reicht nur bis ins Jahr 1885, und Fischer (1994) beschränkt sich in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Studie bei der Würdigung der ›ägyptischen Romane‹ auf die Ägyptische Königstochter und Uarda. 9 Schon im Vorwort betont Ebers, dass er lange mit der Episierung des Kleopatra-Stoffes zögerte, um schließlich »aus der Fülle der vorhandenen Nachrichten […] ein Menschenbild zu gestalten, woran er zu glauben vermochte. Jahre vergingen, bevor er dahin gelangte« (I, 8). Solche Skrupel bestätigt das 352 großformatige, engzeilig beschriebene Seiten umfassende eigenhändige Manuskript zur Kleopatra (Nachlass Georg Ebers in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kasten 17). Es enthält neben zahlreichen Durchstreichungen und Marginalien drei größere Varianten des Anfangsteils (Abb. 1). Die unterschiedlichen Eigennamen einiger Protagonisten lassen vermuten, dass Ebers die Personenkonzepte und Konfiguration erst während der Niederschrift festlegte. So hieß Gorgias anfangs noch Theon von Alexandria. 10 Vgl. Brief von Eduard Meyer vom 22. Januar 1894 an Georg Ebers, in: Der Briefwechsel zwischen Georg Ebers und Eduard Meyer (1874–1898), s. d. 1894 [Internet-Publikation unter der Adresse http://ag.geschichte.hu-berlin.de/site/lang_de/4274/default.aspx].

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Achim Aurnhammer

Handlungsort und -zeit Die Kleopatra spielt ausschließlich in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria in den Jahren 31 bis 30 v. Chr. Die Konzentration auf diesen Schauplatz passt durchaus zu den »Culturcollisionen«, wie sie Ebers’ Werk seit der Ägyptischen Königstochter prägen, wo »Griechisches und Ägyptisches zusammenstoßen«11. Anhand solcher »Culturcollisionen« in geschichtlichen Umbruchzeiten will Ebers zum einen die Bedeutung überzeitlicher ›Universalien‹ sowie anthropologischer Konstanten erweisen, zum zweiten eine fremde Zivilisation vermitteln und zum dritten die eigene historische Situation relativieren. Kaum in einer anderen antiken Stadt konkurrierten so viele unterschiedliche Kulturen wie in der internationalen Hafenstadt Alexandria um 30 v. Chr.12 Alexandria war keine ägyptische Stadt, sondern eine griechische Polis und zugleich eine multiethnische Kommune. Differenzen zwischen Griechen, Makedonen, Ägyptern, Nubiern, Juden, Syrern und Römern bestimmen denn auch die Romanhandlung. Allerdings ist die topographische Genauigkeit, mit der Ebers den Schauplatz Alexandria beschreibt, weniger archäologischen Erkenntnissen geschuldet als der präzisen Beschreibung des Geographen Strabon aus dem 17. Buch seiner Geographiká.13 Getreu nach Strabons topographischen Angaben beschreibt Ebers, etwa vom Poseidontempel ausgehend, den Leuchtturm, die beiden Häfen, den Eunostoshafen und den ›Großen Hafen‹, getrennt durch das Heptastadion: Der Wagen führte ihn [Archibius] an den großen Hafen. […] Draußen mochte die See hochgehen. Man sah es an der Bewegung der Schiffe, die in dem Winkel vor Anker lagen, den das Ufer vor dem Prachtbau des Poseidontempels mit dem Choma bildete. Das war eine Landzunge, die sich wie ein Finger in die See hinaus streckte, und an deren Spitze ein kleiner Palast stand, den Kleopatra, von einem hingeworfenen Worte des Antonius dazu angeregt, hatte erbauen lassen, um ihn damit zu überraschen. Ein anderer von weißem Marmor schimmerte von der Insel Antirrhodus aus im Mondscheine der Abfahrtsstelle entgegen, und in weiterer Ferne erhellte ihr gerade

_____________ 11 Gosche (um 1885), 117. Kulturen in ihrer Kollision zu vergleichen, hatte Ebers’ akademischer Lehrer, der Ägyptologe Richard Lepsius, gefordert (vgl. Gosche [um 1885], 77). Der Bogen reicht von der frühen Expansionspolitik gegen die morgenländischen Völker im 14. vorchristlichen Jahrhundert (Uarda, 1874) über das sechste vorchristliche Jahrhundert, als Ägypten unter persische Vorherrschaft geriet (Eine ägyptische Königstochter), über das ptolemäische Ägypten zwischen Hellenismus und Rom (Zwei Schwestern [1880], Arachne [1897], Kleopatra [1893]), über die römische Kaiserzeit (Hadrian-Roman Der Kaiser [1881] und -Epos Elifên [1887], Caracalla-Roman Per aspera [1891]) bis hin zur synkretistischen Spätantike (Serapis [1885], Die Nilbraut [1886]). Es sind somit Umbruchsituationen, die Ebers in seinen historischen Romanen gestaltet. 12 Vgl. Kubitschek, Art. »Alexandria [1]«, (1893), Sp. 1376–1388, die neuere Studie von Michael Pfrommer (1999), wie den konzisen Überblicksartikel von Hans-Joachim Gehrke (2006), 69–92. 13 Dass Strabon für jede Rekonstruktion des antiken Alexandria die maßgebliche Autorität ist, hatte auch Wilhelm Kubitschek (1893) im Erscheinungsjahr von Ebers’ Kleopatra festgestellt.

Georg Ebers’ Kleopatra

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gegenüber ein hochloderndes Feuer die Nacht. Seine Flammen flackerten auf der Höhe des berühmten Leuchtturms auf der Insel Pharus am Eingange des Hafens […]. Hier, nicht in dem Hafen des Eunostos, der von dem andern durch den breiten brückenartigen Damm des Heptastadiums getrennt war, der das Festland mit der Insel Pharus verband, gingen die Königsschiffe vor Anker. In seiner Nähe standen die Königspaläste und Arsenale, und hierher mußte darum jede neue Nachricht zuerst gelangen. (I, 150 f.).14

Nicht nur der gleichbleibende Schauplatz, auch die gedrängte Handlungszeit scheint nicht recht zu dem Titel Kleopatra zu passen, der eine Biographie verheißt: Geschildert wird lediglich das letzte Jahr aus Kleopatras Leben. Der Roman setzt ein mit der Seeschlacht von Actium (2. September 31 v. Chr.) und reicht bis zur Einnahme Alexandrias durch Octavian (Augustus) am 1. August 30 v. Chr. und dem anschließenden Selbstmord Kleopatras. Vor allem zwei Ereignisse strukturieren die Handlung: zunächst das Warten auf die Rückkehr der geschlagenen Königin von der Schlacht bei Actium, dann der siegreiche Einzug Octavians in Alexandria, nachdem die Truppen Marc Antons die Entscheidungsschlacht verweigert hatten und zu Octavian übergelaufen waren. In welch starkem Maße beide Daten die Romanfiguren belasten und unter Zeitdruck setzen, zeigt symbolisch die Errichtung zweier gegensätzlicher Denkmäler: Anfangs will der Baumeister Gorgias rechtzeitig vor der Rückkehr des königlichen Paares aus Actium eine Siegesstatue des Paares errichten, im zweiten Teil sucht er, rechtzeitig vor dem Einmarsch Octavians, das Mausoleum für Kleopatra und Antonius zu vollenden. Auf die zweifach finalisierte und geschlossene Zeitstruktur hebt auch die dramenähnliche Faktur des Romans ab, die ein szenisches Erzählen mit vielen Dialogen bestimmt. Diese Erzählform vergegenwärtigt mit der verzögerten Peripetie der militärischen Niederlage den dramatischen Untergang des Ptolemäerreiches.

Figurenkonzept und Konfiguration Zwei Handlungsstränge, jeweils von einer Frau bestimmt, strukturieren den Roman. Die faktuale machtpolitische Handlung hängt an Königin Kleopatra, der Ehefrau des Marcus Antonius; die fiktive private Parallelhandlung dreht sich um die Künstlertochter Barine, die den Redner Dion heiratet. Mit dem privaten Glück von Barine, die am Ende des Romans ein Kind zur Welt bringt, kontrastiert Kleopatras Untergang: Nach dem Freitod des Marc Anton und der Einnahme Alexandrias durch Octavian nimmt sie sich das Leben. _____________ 14 Lediglich der Isis-Tempel im Brucheion, von dem aus der Baumeister Gorgias zu Beginn des Romans die Stadt überschaut, ist bei Strabon nicht erwähnt; Strabon empfiehlt für ein Stadtpanorama das Pan-Heiligtum; vgl. Strabon, Geographica, 17, 795, 12.

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Die historische Protagonistin und ihre fiktive Gegenspielerin sind ähnlich konzipiert: Beide waren schon vor ihrer Liebesehe verheiratet, Barine mit einem ungeliebten Mann, Kleopatra mit Gaius Julius Cäsar, und beide werden als schöne Frauen geliebt und verehrt. Allerdings hilft die 39jährige Kleopatra ihrer Schönheit kosmetisch wie magisch nach, um Marcus Antonius nicht an die jüngere Barine zu verlieren. Auch als Mittelpunkt gesellschaftlichen Lebens, freilich ganz unterschiedlicher Art, sind die Gegenspielerinnen aufeinander bezogen: Kleopatra residiert mit ihrem Hofstaat im königlichen Palast, Barine ist Mittelpunkt philosophischer Soirées in der väterlichen Künstlervilla. Doch sind beide Protagonistinnen einander angenähert, indem sich die öffentliche und private Sphäre durchdringen: So wird einerseits Kleopatra als liebende Mutter geschildert, die sofort nach ihrer Rückkehr von Actium ihre schlafenden Kinder aufsucht, während andererseits Barine als Objekt widerstreitender Begierden aus Staatsraison verfolgt wird. So bestimmen und verknüpfen mehrere Liebesgeschichten beide Handlungsstränge, die durch Kontrast- und Korrespondenzrelationen und zahlreiche Nebenhandlungen eng miteinander verwoben sind.

Charakterisierungstechniken Auch wenn Ebers in Barine eine ›mittlere Heldin‹ mit einem eigenen Handlungsstrang präsentiert, unterscheidet sich die Kleopatra doch in der Figurenkonzeption und Konfiguration deutlich von den vorgängigen antiquarischen Ägyptenromanen. Während Ebers zuvor kulturgeschichtliche Szenarien gestaltete, in denen er historische Größen mied, nähert er die Kleopatra dem publikumswirksamen Modell der Biographie und der historischen Belletristik an, indem er eine prominente historische Gestalt zur Titelheldin wählt. Wie weit diese Annäherung geht, sei im Folgenden erläutert. Ebers hat die Königin Kleopatra nicht unreflektiert zur Protagonistin eines historischen Romans gemacht, sondern ihre drohende Dominanz durch eine komplexe Charakterisierungstechnik kompensiert: Fremdkommentare sowie sprachliche wie nichtsprachliche Selbstcharakterisierungen dynamisieren das Bild der Königin im Laufe des Romans. Vor allem tritt Kleopatra, anders als bei einer Titelheldin zu vermuten, erst spät in Erscheinung, nämlich im zehnten der insgesamt 25 Kapitel. Auf die Titelheldin wird der Leser durch vorgängige Fremdkommentare eingestimmt. Von der Königin berichtet vor allem ihr Jugendfreund und Verehrer Archibius, der im fünften und sechsten Kapitel ausführlich seine gemeinsame Kindheit mit Kleopatra schildert. Die autodiegetische Erzählung trägt die Vorgeschichte Kleopatras nach: Neben bekannten Anekdoten wird die philosophischliterarische Akkulturation rekonstruiert. Dazu überträgt Ebers das literatur- und bildungsgeschichtliche Wissen fiktiv auf die Erziehung der ptolemäischen Königin. Während die antiken Historiographen Kleopatra erst dann erwähnen, wenn

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Abb. 1: Kleopatra. Historischer Roman/Kapitel 1 [Erster Entwurf]. Eigenhändig von Georg Ebers, fol. 1a.

sie die politische Bühne betritt, rekonstruiert Ebers eigenständig Kleopatras Kindheit und Jugend. So schließt er aus Plutarchs Mitteilung, dass Kleopatra vielsprachig und eloquent gewesen sei, auf einen intensiven Sprachunterricht.15 _____________ 15 »Selbst ihre Stimme […] war höchst angenehm, und sie wußte ihre Zunge, wie ein vielsaitiges Instrument, leicht in jede beliebige Sprache zu fügen, so daß sie nur mit wenigen barbarischen

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Aus dem königlichen Habitus rekonstruiert Ebers eine bestimmte philosophische Erziehung: Kleopatra sei nach der Lehre Epikurs erzogen worden, habe als Kind schon ihre Liebe zum Garten entdeckt, einen Bund der Epikureer gegründet und die lateinische Sprache erlernt, um Lucrez lesen zu können, »der die Lehre des Epikur in Versen wiedergibt« (I, 119). Mit solchen bildungsgeschichtlichen Spekulationen psychologisiert Ebers Kleopatras politische Philosophie und beglaubigt ihre Attraktivität als früh wirksame Synthese von Schönheit und Eloquenz. Auch wenn Ebers zehn Jahre vorher in sein Prachtwerk Ägypten in Wort und Bild die bildlichen Darstellungen dreier Kleopatra-Anekdoten aufgenommen hatte, behandelt er in dem Roman die bekannten und ikonographisch einschlägigen Anekdoten nur knapp. So erzählt Archibius die Teppichepisode aus Plutarchs Cäsar-Vita, derzufolge Kleopatra, in einem Teppich versteckt, die Wachen des königlichen Palasts überwand und zu Cäsar gelangte: Es galt nun, sie in die Stadt, in den Palast, in Verbindung mit dem Diktator [scil. Cäsar] zu bringen. Mein Bruder Straton und ich leisteten ihr Beistand. Die Kinder erzählen sich ja das Abenteuer von dem starken Manne, der Kleopatra in einem Sack durch die Palastpforte trug. Ein Sack war es freilich nicht, der sie den Blicken entzog, sondern ein syrischer Teppich. Der starke Mann ist mein Bruder Straton gewesen. Ich schritt voran und sorgte für freie Bahn. (I, 143 f.)

Plutarchs Anekdote, die traditionell Kleopatras Willen zur Macht illustriert, wird dabei modifiziert.16 Zum einen korrigiert Ebers die Überlieferung des »Abenteuers« (Teppich statt Bettsack), zum andern betont er den Anteil der neben Kleopatra beteiligten Personen. Dadurch wird »Kleopatra’s Einführung in den Königspalast« in ihrer Bedeutung stark gemindert, die der prominente Historienmaler Ferdinand Keller noch als Geschlechterkampf mit Kleopatra als siegender Beute auf den Schultern eines Negers dargestellt hatte (Abb. 2). Mehrfach spielt der Roman auf die liebestiftende Begegnung zwischen Antonius und Kleopatra in Tarsos an. Die mythologische Selbstinszenierung als ›zweite Aphrodite‹, in der Kleopatra dem in Kleinasien als Dionysos verehrten Antonius gegenübertrat, von Plutarch ausführlich geschildert, zählt zu den prominenten Episoden aus dem Leben der ägyptischen Königin. Enthielt Ebers’ Ägypten-Geschichte noch eine bildliche Darstellung dieser Episode – Karl Werners »Kleopatra auf dem Cydnusstrome, dem Antonius entgegenfahrend« (Abb. 3) – _____________ Völkern durch Dolmetscher zu sprechen brauchte. Den meisten erteilte sie in eigener Person Antwort, wie den Aithiopen, den Troglodyten, den Hebräern, Arabern, Syrern, Medern und Parthern. Auch soll sie die Sprachen noch viel anderer Völker erlernt haben […]« (Plutarch, Antonius, 27). Daraus rekonstruiert Ebers die Erlernung der Fremdsprachen: »Des Ägyptischen war sie auch nur halb kundig gewesen. Jetzt erlernte sie es schnell. Während unseres Aufenthalts auf der Isisinsel Philae fand sie einen Troglodyten, der sie mit seiner Sprache bekannt machen mußte. Hier in Alexandria gab es Juden genug, die sie in der ihren unterrichteten, und daneben erlernte sie auch das verwandte Arabisch« (I, 119). 16 Vgl. Plutarch, Cäsar, 48–49.

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Abb. 2: Kleopatra’s Einführung in den Königspalast. Holzstich, 21 × 12,5 cm, nach einem Entwurf von Ferdinand Keller (1842–1922).

wird sie im Roman partiell und perspektivisch verarbeitet. Verdeckt spielt der intradiegetische Erzähler Archibius darauf an, um Kleopatras Sprachkenntnisse zu verbürgen: Als sie viele Jahre später den Antonius zu Tarsus aufgesucht hatte, meinten die Krieger, es werde ihnen ein ägyptisches Zauberkunststück gezeigt; denn jeden Befehlshaber sprach sie in der Sprache seines Volkes an und stand ihm Rede wie einem Landmann. (I, 120)

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Abb. 3: Kleopatra auf dem Cydnusstrome, dem Antonius entgegenfahrend. Holzstich, 7,5 × 20,2 cm, nach einem Entwurf von Karl Werner (1808–1894).

Ebenso unbestimmt bleibt die zweite Allusion. Hier dient die Episode lediglich zum Vergleich für die epikureische Nilreise, die Kleopatra zuvor mit Gaius Julius Cäsar zu der Insel der Isis in Südägypten – trotz drängender weltpolitischer Ereignisse – unternommen hatte: »Diese ganze Nilreise,« unterbrach ihn Barine, »ich denke sie mir wie die Märchenfahrt, als das seidene Purpursegel Kleopatra dem Antonius auf dem Kydnosstrome entgegenführte.« (I, 147) Barines fragmentarische Plutarch-Anspielung, markiert durch das Zitat der »Purpursegel« und den analogen Bezug auf Cäsars Liebe zu Kleopatra,17 ›verschenkt‹ das exotisch-erotische Sujet ebenso wie das erste Zitat. Der ausführliche analeptische Fremdkommentar, der dem Leser die Vorgeschichte der Kleopatra vermittelt, weicht, wie die Modifikation oder Aussparung der einschlägigen Anekdoten erweist, vom gängigen Bild der Femme fatale ab und zeichnet Kleopatra als ebenso gelehrt-eloquente Politikerin wie attraktive Frau. Zudem bereitet der Kommentar den hinausgezögerten Auftritt der Königin vor. Die zweite Phase der Charakterisierung beginnt mit dem zehnten Kapitel, welches als Wendepunkt der Handlung die Fremdcharakterisierung ablöst und zur Selbstcharakterisierung überleitet. Das erzählerische Arrangement des Kapitels ist in der Mischung distanzierter Außenperspektive und personalisierter Introspektion durchaus charakteristisch für den gesamten Roman. Das Kapitel zögert den Auftritt der Königin noch einmal hinaus, da es weniger die Ankunft als vielmehr das Warten auf die Königin beschreibt. Dabei verengt sich der Blickwinkel des auktorialen Erzählers sukzessive: Vom Panorama des »großen Hafen[s]« (I, 210) über den »königlichen Hafen« und die »geheimen Ankerplätze« (I, 210) wandert der Blick zu der einen »Halle in der Mitte der geheimen Reede« (I, 211), wo die _____________ 17 Plutarch, Antonius, 26.

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Wartenden sich versammelt haben. Mit der Verringerung der Erzähldistanz zur internen Fokalisierung verlangsamt sich das Erzähltempo. So vermittelt beispielsweise eine nachgereichte Exklamation die bewundernde Sicht der Vertrauten: Ein dichter Schleier verhüllte ihr Haupt und Antlitz, ein dunkler, faltiger Überwurf die zarte, mittelgroße Gestalt. Wie elastisch ihr Schritt noch immer war, wie stolz und doch anmutsvoll ihre Haltung, als sie Mardion und Zeno zuwinkte! (I, 224)

Danach begleitet der Erzähler Kleopatra in die Gemächer ihrer schlafenden Kinder, an deren Bett sie sich verneigt. Gedankenberichte, welche den stummen Beweis der »Mutterliebe« rahmen, verbürgen die stille Größe der Königin, die längst um ihren Untergang weiß. Die folgenden Kapitel zeigen sie in zahlreichen Dialogen: mit ihren Vertrauten, ihren Kindern, römischen Unterhändlern, dem Baumeister Gorgias. Auch die im Fremdkommentar erzählten Episoden aus Kleopatras Leben werden nun im analeptischen Eigenkommentar kontrastiert. Zentral ist dabei die liebestiftende Begegnung mit Marc Anton »auf dem Kydnosstrome« (II, 205). Daran erinnert sich Kleopatra träumerisch nach einem letzten gemeinsamen Festmahl mit Antonius: Ich sah mich wieder auf dem goldenen Schiffe von Blumenketten umstrickt, auf dem purpurnen Lager, mit Rosen rings um mich her unter meinen Füßen, die im Edelsteinschmuck blitzten. Ein sanfter Windhauch blähte das seidene Segel, die Gefährtinnen ließen rings um mich her die hellen Stimmen zum Saitenspiele erschallen, den süßen Wohlgeruch, der uns umwehte, trug der Zephyr an das Ufer und hauchte ihm die Botschaft zu, daß ihm die hohe Seligkeit jetzt nahe, von der er gewähnt, ihr Genuß sei den Himmlischen allein vorbehalten. Und wie mir sein Herz entgegenschlug und seine berauschten Sinne zitternd nach mir verlangten, so – er bekannte es – so geschah es auch seinem Geiste, sobald er dem meinen begegnete. Glückselig fühlten wir uns beide von Banden umschlungen, die nichts, auch nicht das Mißgeschick, zu lösen vermochte. (II, 205 f.)18

Kleopatras Bekenntnis enthüllt, dass die seinerzeit politisch kalkulierte mythologische Selbstinszenierung auch für sie zu einer entscheidenden Liebesbegegnung wurde. Den Wandel zur »besiegten Siegerin« verdeutlichen die selbstbezüglichen Blumenketten, die zum Schluss gegen doppelte Ehebande eingetauscht werden. Überhaupt erweist sich Kleopatra in ihrer Selbstcharakterisierung mehr als liebende Frau denn als kühle, epikureische Machtpolitikerin. Umso mehr fällt das lange Verschweigen ihres geliebten Mannes Marcus Antonius auf, der – noch viel später als Kleopatra – erst im 19. Kapitel auftritt und als handelnde und sprechende Figur keine wichtige Rolle in Ebers’ Roman spielt. Die Schlacht bei Actium wird nur analeptisch referiert, und auch die Entscheidungsschlacht, bei der Marc Antons Flotte und Reiterei kampflos zu Octa_____________ 18 Die Wende, welche die Begegnung mit Kleopatra in Tarsos für Marc Anton bedeutete, wird in einem Erinnerungsfragment seines treuen Leibsklaven Eros deutlich (II, 144 f.).

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vian übergehen, wird nur als Binnenerzählung präsentiert. Selbst den Freitod Marc Antons, dem Kleopatra Beistand leistet, berichtet Ebers nur in mittelbarer Form, nämlich als intradiegetisch-heterodiegetische Erzählung. Die furchtbarsten Scenen des Trauerspiels, das hier soeben zum Abschluss gelangt war, mit eigenen Augen zu schauen, hatten die vielen Hindernisse, durch die er [Gorgias] aufgehalten worden war, ihm erspart; doch durch den Geheimschreiber der Königin, der den verwundeten Antonius begleitet hatte, einen wohlgesinnten Makedonier, der Gorgias während des Baues freundschaftlich nahe gekommen, waren sie ihm in aller Ausführlichkeit geschildert worden. (II, 225 f.)

Die intradiegetische Vermittlung distanziert den Tod des Antonius ebenso wie die detaillierte technische Beschreibung, wie die Königin den schweren Körper des sterbenden Gatten mit einer Seilwinde in das noch unfertige Mausoleum hievt, wo er in ihren Armen auf einer Ruhebank stirbt. Dennoch gewinnt die Verzweiflung Kleopatras in der summarischen Lakonik eines einzigen Satzes, noch dazu distanziert im Plusquamperfekt, eine überpersönliche Tragik: Glühend von der furchtbaren Anstrengung, die kaum hinter ihr lag, mit wirrem, aufgelöstem Haar, röchelnd und stöhnend, hatte Kleopatra sich wie außer sich das Kleid aufgerissen, die Brust zerschlagen und mit den Nägeln zerrissen. (II, 227 f.)

Mit dieser manieristischen Technik, das eigentliche Zentrum des Romans, die Liebe Kleopatras und Marc Antons, auszusparen oder zu distanzieren, kompensiert Ebers die Prominenz seiner Protagonistin und ihres fast übergangenen Ehemannes. Dieser Technik entsprechend wird auch die ausführliche Totenklage der Kleopatra am Grabe Antons gekürzt, die Plutarch als wörtliche Rede ausführlich zitiert. Lediglich die abschließende Bitte an den Toten, »im gleichen Grabmal neben ihm […] ruhen« zu dürfen (II, 280), zitiert Ebers, freilich zur indirekten Rede distanziert.19 Die Kürzung und Mäßigung der Totenklage passt zur Umdeutung des Sterbens. Denn Kleopatra spricht »von dem Wiedersehen mit dem Geliebten« (II, 280) und schwört der diesseitsorientierten Lehre des Epikur ab, wie sie ihrem Vertrauten Archibius gesteht: Lieber zu ewiger Qual in einer anderen Welt vereint mit dem Geliebten, als ein schmerz- und freudloses Nichts in einem öden, unfaßbaren Nirgends (II, 281).

Mit der Vision einer gemeinsamen Zukunft nach dem Tode dynamisiert der Autor die Figur der Kleopatra und veredelt ihren Freitod zu einem Martyrium der Liebe. Auf die ikonographisch wirkungsmächtigste Kleopatra-Darstellung, nämlich den Selbstmord mit der Schlange am Busen, hatte Ebers in seinem Werk Ägypten _____________ 19 Vgl. Ebers, Kleopatra, Bd. II, 280: »Unter dem tausendfachen Jammer, der sie betroffen, sei ihr nichts so schwer erträglich erschienen, als seiner Nähe und Liebe zu entbehren«. Die Distanzierung, die Ebers vornimmt, verdeutlicht der Vergleich mit dem entsprechenden Passus bei Plutarch, Antonius, 84: »[…] so gib mich, deine Gemahlin, nicht lebend preis, laß es nicht geschehen, daß in mir über dich triumphiert werde, sondern verbirg mich hier in einem Grab mit dir, indem unter den tausend Übeln, die mich treffen, keins so schwer und empfindlich ist wie die kurze Zeit, die ich ohne dich gelebt habe«.

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in Wort und Bild nicht verzichtet. Reproduziert ist dort ein Stich nach Hans Makarts lasziv-theatralischem Gemälde, das Kleopatra als sterbende ›Venus impudica‹ mit nacktem Oberkörper und verdecktem Schoß präsentiert (Abb. 4).

Abb. 4: Kleopatra. Holzstich, 24 × 16,4 cm, nach einem Gemälde von Hans Makart (1840–1884).

Inspiriert hatte Makart gewiss Plutarchs Nachricht, Augustus habe bei seinem Triumph in Rom »ein Bildnis der Kleopatra mit einer an ihrem Arm hängenden Natter mitaufführen« lassen.20 Diese Episode schildert Ebers auch in seinem Roman, betont aber den Gleichmut, mit dem die Königin den Freitod wählt. Wäh_____________ 20 Plutarch, Antonius, 86.

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rend er die letzten Worte und den Abschied von den Zofen Charmion und Iras ausführlich schildert, rafft Ebers den tödlichen Schlangenbiss und Kleopatras Ableben, das eigentliche Bildsujet, in einem einzigen Satz zusammen: Die Schlange war ihr wie ein kalter Blitz am Arme in die Höhe geschossen, und um weniges später sank Kleopatra entseelt in das Polster zurück. (II, 283)

Wir haben gesehen, dass Ebers Kleopatra gegen den Strich erzählt. Er profitiert nicht von der Prominenz der Protagonistin, sondern sucht im Gegenteil das Menschliche an einer berühmten Gestalt, um ihre Überzeitlichkeit zu betonen. Nicht die kalte berechnende Machtpolitikerin stellt er dar, sondern die zum Untergang geweihte Königin, die in der knapp bemessenen Frist, die sie noch zu leben hat, Abschied nimmt von der Welt und sich auf den Tod vorbereitet. Aussparung, intradiegetische Vermittlung und Konzentration auf das Private humanisieren den Untergang einer großen Frau.

Rekonstruktion der Antike Als Schüler von Johann Gustav Droysen hatte Ebers in seinen Ägyptenromanen die unabsichtlich-unmittelbare ›Überrestquelle‹ zu Lasten der absichtlichmittelbaren ›Traditionsquelle‹ favorisiert. Auch in der Kleopatra beschränkt sich Ebers nicht auf die schriftlichen ›Quellen‹, die er als tendenziös kritisiert, da sie von der römischen Propaganda geprägt seien, sondern zieht gezielt archäologische ›Überreste‹ und ›Denkmäler‹ heran.21 So erwähnt er im Vorwort neben antiken Schriftstellern (Horaz, Cassius Dio, Plutarch) »das Fragment einer kolossalen Doppelstatue«, 1892 »zu Alexandria gefunden«, die er als Bildnis der »Kleopatra Hand in Hand mit Antonius« identifiziert. Hierbei folgt Ebers den Mutmaßungen seines als Arzt in Alexandria tätigen Schulfreundes Paul Walther. Walther hatte das Statuenfragment entdeckt und seinem ägyptologischen Freund darüber mehrfach brieflich berichtet sowie eine Photographie mitgeschickt.22 Der These Walthers, das figürliche Fragment stamme von einer Doppelstatue, die Kleopatra und Antonius darstelle, versagten die Ägyptologen ihre Zustimmung. Auch Ebers setzte wohl seine wissenschaftliche _____________ 21 Die Beziehung zwischen Droysen und Ebers würdigt Gosche (um 1885), 31 f., als ein wechselseitiges Fördern, da Droysen »in Ebers’ Arbeiten und Dichtungen nachher Lösungen für einzelne Fragen fand, die ihm in der alexandrinischen Zeit offen geblieben waren, nachdem Ebers von ihm die nachhaltigsten Anregungen empfangen und in seinen Vorlesungen das culturgeschichtlich Bedeutsame herauszufinden gelernt hatte«. Ebers, Die Geschichte meines Lebens, 449, selbst zählt Droysen zu den akademischen Lehrern, denen er »das meiste zu danken« hat. 22 Im Ebers-Nachlass konnte ich keine Reproduktion der fraglichen Doppelstatue ausfindig machen. Die bislang unveröffentlichten Briefe von Paul Walther an Georg Ebers teile ich im Anhang mit. Die Antwortbriefe von Ebers sind leider nicht überliefert. – Im Ausstellungskatalog zur Hamburger Ausstellung Kleopatra und die Caesaren wird eine derartige Statue ebenfalls nicht erwähnt (vgl. Andreae [2006]).

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Autorität nicht für diese Zuschreibung ein. Im Roman allerdings vereindeutigt er diese Skulptur zu solch einer Siegesstatue, die nach der Seeschlacht bei Actium für Kleopatra und Antonius in Alexandria errichtet werden sollte. Da die Protagonisten der fiktiven Handlung, der angebliche Bildhauer der Doppelstatue und dessen Familie, mit Kleopatras Hof verbunden sind, vermittelt der archäologische Fund sowohl zwischen fiktionalem und faktualem als auch zwischen privatem und politischem Geschehen. Den zweiten Teil des Romans dominiert die Errichtung des Grabmals, das Kleopatra in Auftrag gibt. An diesem Monument, das Plutarch bezeugt,23 erprobt Ebers noch einmal die Verbindung von Archäologie und Kunst und den antiquarischen Detailrealismus seiner früheren Romane: Große Quadern von dunkelgrauem Granit bildeten das Gemäuer. Ernst, beinahe abweisend, erhob sich die breite, leicht geböschte Vorderseite mit dem gewaltig hohen Thore, das eine Hohlkehle mit der geflügelten Sonnenscheibe krönte. An ihrer Seite standen in überwölbten Nischen die aus dunkler Bronze gegossenen Bildsäulen des Antonius und der Kleopatra, und über dem Karnies erhoben sich die ehernen Gestalten der Liebe und des Todes, des Ruhmes und des Schweigens und adelten die ägyptischen Formen mit edlen Werken der hellenischen Kunst. Das massive, mit Figuren in erhabener Arbeit geschmückte Thor von gegossenem Erz hätte einem Sturmbocke widerstanden. Auf den Wangen der zu ihm hinaufführenden Stufen lagen Sphinxe von dunkelgrünem Diorit. Alles an diesem dem Tode gewidmeten Bauwerke erschien groß, ernst, durch seine Unzerstörbarkeit an die Ewigkeit mahnend. (II, 212 f.)

Präzisierende Adjektive, genaue Materialbezeichnungen und architektonische Termini beschreiben dieses ägyptisch-griechische Mausoleum wie ein archäologisches Objekt, dessen Fertigstellung zugleich das Ende des Romans bezeichnet. Neben den beiden architektonischen Denkmälern, die zur doppelten Zeitstruktur passen, zitiert Ebers weitere Sachüberreste wie Münzen und Mosaiken, und auch die Beschreibung eines ägyptisch-hellenischen Festmahls scheint kulturhistorisch bestens fundiert. Allerdings kommt Ebers in der Kleopatra – im Unterschied zu den früheren Ägyptenromanen, in denen er häufiger Fußnoten anbringt – mit einer einzigen Anmerkung aus.24 _____________ 23 Vgl. Plutarch, Antonius, 74, der das Grabmal nur summarisch als »ein Gebäude von außerordentlicher Schönheit und Höhe […] gleich neben dem Isistempel« charakterisiert, und vgl. auch Cassius Dio 51, 10. 9. Zu einer Rekonstruktion von Kleopatras Mausoleum auf der Grundlage Plutarchs vgl. Pfrommer (1999), 142 f. und Abb. 194 a und b. Zum archäologischen Kontext siehe Venit (2002), besonders 9. 24 Die Anmerkung betrifft Marc Antons Abweisung der Larva bei dem Festmahl: »Bei den Gastmählern der Ägypter wurde eine kleine Figur in Gestalt einer Mumie herumgereicht, die die Gäste erinnern sollte, daß sie bald wie diese sein und keine Zeit mehr haben würden, sich des Lebens und seiner Genüsse zu freuen. Die Römer ahmten dies nach, indem sie die Larva, eine Statuette, gewöhnlich in Gestalt eines Gerippes, beim Schmause unter den Zechgenossen die Runde machen ließen. Der Schönheitssinn der Griechen machte aus diesem häßlichen Schreck-

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Trotz der großen Bedeutung von Überresten und Denkmälern stützt sich Ebers – viel stärker als in den frühen Ägyptenromanen – in der Kleopatra auch auf antike Quellen.25 So sahen wir, wie viel seine Alexandria-Topographie Strabons Geographiká verdankt, doch die historischen wie biographischen Nachrichten sind vor allem Cassius Dio und mehr noch Plutarchs Antonius-Vita geschuldet, der Hauptquelle des Romans, welcher Ebers zahlreiche Figuren, Episoden und den Schluss verdankt. Auf Plutarch gehen größtenteils die Romanpersonen des faktualen Handlungsstrangs zurück: So finden sich beide Dienerinnen Kleopatras, Iras und Charmion, ebenso wie Archibius, der Kleopatras Statuen vor der Zerstörung bewahrt, namentlich in der Antonius-Vita, doch hat Ebers die Beziehungen eigenständig psychologisiert, etwa durch die Kindheitsliebe, die Archibius an Kleopatra bindet. Die produktive Aneignung einzelner Details bezeugt exemplarisch die Rückkehr Kleopatras nach Alexandria. Die schlechten Vorzeichen, welche bei Plutarch die Niederlage ankündigen, wie die Schwalben, die auf Kleopatras Admiralsschiff nisten, der Umstand, dass eine Antoniusstatue schwitzt und eine Dionysosstatue vom Sturm zerstört wird,26 hat Ebers allesamt von Plutarch übernommen, sie aber perspektiviert und somit in ihrem Wahrheitsgehalt relativiert. Viele historische Nachrichten wie die Seeschlacht von Actium oder den Selbstmord Marc Antons delegiert Ebers an intradiegetische Erzähler, um damit ihren illusionistischen Gehalt zu mindern. Plutarch verdankt Ebers auch die wichtigsten Anekdoten (Salzhering an der Angel [II, 147], Teppichepisode [Cäsar-Vita], Schifffahrt auf dem Cydnosfluss bei Tarsos) und biographischen Episoden. Doch übernimmt er nicht einfach die Stellen aus Plutarch, sondern deutet, wie unsere intertextuellen Vergleiche zeigten, die Anekdoten zu Gunsten Kleopatras um. Vor allem aber ist der Schluss des Romans Plutarch nachgebildet. Von Marc Antons Tod bis zum Freitod der Kleopatra hält sich Ebers weitgehend an Plutarch. So ist die sentimentale Episode, wie Kleopatra den tödlich verwundeten Geliebten mit Hilfe einer Winde in ihr Grabmal hievt, vollständig an Plutarch orientiert (II, 226 f.).27 Trotz eines distanzierenden Erzählerberichts wird aber die Verzweiflung der über den sterbenden Anton gebeugten Kleopatra empathetisch ausgemalt. Ebers übernimmt von Plutarch sogar die römischen Nebenfiguren Proculeius und Dolabella, deutet aber in seinem Schluss durch Personalisierung des Erzählens den Prätext um: Seine _____________ bilde einen geflügelten Genius« (II, 202). Zum Vergleich: Die Erstausgabe der Ägyptischen Königstochter enthält 364 Fußnoten; vgl. Fischer (1994), 351. 25 Auch wenn die Ägyptische Königstochter in höherem Maße auf den antiken Schriftstellern basiert als die spätere Uarda, welche sich stärker an der modernen Ägyptologie orientiert, lässt sich aus dem Vergleich Fischers (1994), 353–358, keine eindeutige Abnahme der Schriftquellen in den Ägyptenromanen von Ebers ableiten. Gerade die Kleopatra wertet antike Schriftquellen wieder auf und sucht sie mit der zeitgenössischen Archäologie zu verbinden. 26 Plutarch, Antonius, 59–60, und Ebers, Kleopatra, Bd. I, 78 und Bd. I, 215–218. 27 Plutarch, Antonius, 77.

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Kleopatra gibt angesichts des Todes ihres geliebten Ehemannes ihre epikureische Diesseitsorientierung auf und hofft auf ein Wiedersehen mit Antonius nach ihrem Tod. Die dynamische Veränderung der Kleopatra-Figur, die Verernstigung und Aufwertung ihrer unbedingten Liebe zu Marcus Antonius wird also erst vor dem Hintergrund der antiken Quellentexte, vor allem Plutarchs deutlich.

Zusammenfassung Unsere Analyse hat die Kleopatra als einen erzählerischen Kompromiss zwischen Gelehrsamkeit und Popularität nachgewiesen. Ebers geht in der Kleopatra vom Muster seiner ägyptologischen ›Überrestromane‹ ab und lehnt sich stärker an die neuen Muster der populären Biographik und historischen Belletristik an: Sein Roman liefert keine »historische Kleopatra«, sondern – wie sich Ebers gegenüber Eduard Meyer rechtfertigt – »eine mögliche Kleopatra«.28 So wählt er eine prominente Protagonistin, lässt sie aber spät auftreten, so gestaltet er kein Leben, sondern nur ein Lebensende, so ergänzt er seine Überresttechnik um Quellen, deutet diese aber um, so personalisiert und empathisiert er sein Erzählen, relativiert aber durch intradiegetische Erzähler die Gefahr eines reißerischen Illusionismus. Dieser inhaltlich-formale Kompromiss zwischen Gelehrsamkeit und Popularität war ästhetisch zu wenig innovativ und überzeugend, um dauerhaft wirken zu können. Anstatt ein neues Modell des historischen Romans zu etablieren, besiegelte Ebers’ Kleopatra das Ende des antiquarischen ›Professorenromans‹.

Literatur Andreae, Bernard (Hg.), Kleopatra und die Caesaren: eine Ausstellung des Bucerius Kunst Forums 28. Oktober 2006 bis 4. Februar 2007, München 2006. Aurnhammer, Achim, »Wiederholte Spiegelung. Zur Interdependenz gemalter und gedichteter Antikebilder bei Georg Ebers und Lawrence Alma-Tadema. Mit einem Ausblick auf Hugo von Hofmannsthal«, in: »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, hg. v. Achim Aurnhammer/Thomas Pittrof, Frankfurt am Main 2002, 273–298 (= Das Abendland, N. F. 30). Borger, Rykle, Drei Klassizisten: Alma Tadema, Ebers, Vosmaer. Mit einer Bibliographie der Werke Alma Tademas, Leiden 1978 (= Medelingen en Verhandelingen van het Vooraziatisch-Egyptisch Genootschap »Ex Oriente Lux«, 20).

_____________ 28 Brief von Georg Ebers an Eduard Meyer vom 23. Januar 1894, in: Der Briefwechsel zwischen Georg Ebers und Eduard Meyer (Anm. 10), s. d. 1894.

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Ebers, Georg, Ägypten in Wort und Bild. Dargestellt von unseren ersten Künstlern, Stuttgart [1878–]1880. Ebers, Georg, Die Geschichte meines Lebens. Vom Kind bis zum Manne, Stuttgart/Leipzig 1893 [Neuausgabe als Bd. 25 der Gesammelten Werke]. Ebers, Georg, Kleopatra. Historischer Roman, Stuttgart/Leipzig 1894 [1893]. Ebers, Georg, Kleopatra. Historischer Roman, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig o. J. [1897]. Fischer, Hans, Der Ägyptologe Georg Ebers. Eine Fallstudie zum Problem Wissenschaft und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1994 (= Ägypten und Altes Testament, 25). Gehrke, Hans-Joachim, »Die Gründung Alexanders. Alexandria: Metropole im östlichen Mittelmeer«, in: Antike Metropolen, hg. v. Walter Ameling, Darmstadt 2006, 69–92. Gosche, Richard, Georg Ebers, der Forscher und Dichter, Leipzig o. J. [um 1885]. Jacob, Herbert (Hg.), Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880. Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Fortführung, Bd. II, 2, Berlin 1998, 38–50. Kubitschek, Wilhelm, Alexandria [1], in: RE, I 1, Stuttgart 1893, Sp. 1376–1388. Mielsch, H[arald], »Rez.: Riikonen, H., Die Antike im historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Eine literatur- und kulturgeschichtliche Untersuchung«, in: Gymnasium 87 (1980), 370–373. Mielsch, Harald, »Das Bild der Antike im historischen Roman des 19. Jahrhunderts«, in: Gymnasium 87 (1980), 377–400. Müller, Elisabeth, Georg Ebers. Ein Beitrag zum Problem des literarischen Historismus in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Diss. München 1951. Neroutsos, Tassos Demetrios, L’ancienne Alexandrie: étude archéologique et topographique, Paris 1888. Neroutsos-Hartinger, Helga, »Der Briefwechsel zwischen Tassos Neroutsos Bey und Gustav Meyer. Ein Beitrag zur Geschichte der Albanologie«, in: Südost-Forschungen 51 (1992), 105–148. Olmsted, James Montrose Duncan, Charles-Édouard Brown-Séquard: a nineteenth century neurologist and endocrinologist, Baltimore 1946. Pfrommer, Michael, Alexandria. Im Schatten der Pyramiden, Mainz 1999. Riikonen, Hannu, Die Antike im historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Eine literaturund kulturgeschichtliche Untersuchung, Helsinki 1978. Venit, Marjorie Susan, Monumental Tombs of Ancient Alexandria. The Theater of the Dead, Cambridge 2002.

Abbildungsnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:

Nachlass Georg Ebers in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kasten 17. Georg Ebers, Ägypten in Wort und Bild, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig 1879–1880, Bd. 1, 19. Ebd., Bd. 1, 20. Ebd., Bd. 2, 259.

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Anhang Transkription vier eigenhändiger Briefe von Paul Walther aus Alexandria an Georg Ebers, den Fund der angeblichen Doppelstatue von Cleopatra und Marcus Antonius betreffend. (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Georg Ebers, K. 24: Walther, Paul). [1.] Brief von Paul Walther aus Alexandria, den 6. Juni 1892, an Georg Ebers [Bl. 1–2] Lieber Professor! Einem so berühmten Egyptologen, wie du es bist, ist es wohl ein alter Schulkamerad, den der Zufall zu Ausgrabungen verleitet hat, schuldig, die Erstlingsnachricht von seinem interessanten Fund zu geben. Die beifolgende Photographie wird dir besser als jede Beschreibung eine Vorstellung von demselben geben.29 Mein Instinkt (bin ich doch ein Profaner in egyptologischen Fragen) ließ mich sofort wittern, daß ich ›eine Kleopatra‹ oder besser ›die Kleopatra‹ aufgefunden habe: die Fachleute haben dann meine Annahme bestätigt; und Daninos Pascha30 erklärte, daß man es wohl zweifel¢1b²los hier zu thun habe mit der einzigen Statue der Kleopatra, die überhaupt existiert hat und die von den Autoren als mit den Insignien der Königschaft und den Attributen der Isis geschmückt (ganz wie es diese ist) geschildert wird. Dieselbe soll (als Kolossal-Statue) neben der des Antonius vor einem Tempel in Alexandrien aufgestellt gewesen sein. In der That habe ich die Statue eben in nächster Nähe eines etwa 20 Meter im Durchmesser großen Säulentempels gefunden, und weisen die beiden verschlungenen Hände (es sind zwei rechtsseitige, von verschiedenen Dimensionen) darauf hin, daß eine 2te, männliche Statue mit der von mir aufgefundenen vereinigt war. Nach dieser zweiten Statue habe ich bis jetzt vergeblich mit Daninos Pascha (mit welchem ich mich zum Behufe der Ausgrabungen associiert habe) gesucht und gegraben: ¢2a² vielleicht finden wir dieselbe unter derjenigen der Kleopatra. Jedenfalls ist dieselbe noch vor 20 Jahren an dieser Stelle ebenfalls gesehen worden, wie noch lebende Augenzeugen uns bestätigt haben. Aus den bis jetzt aufgefundenen Bruchstücken meiner Statue (Kopf und Brüste) läßt sich schließen, daß das ganze Bildwerk eine Höhe von 7–8 Metern hatte. Der vorhandene Kopf mißt vom Scheitel bis zum Kinn etwa einen Meter. Leider ist der Nasenrücken stark verstümmelt, weniger die Lippen (Mitte). Nach Ausspruch von Kennern ist das Bildwerk (aus grauem Granit) entschieden die Arbeit eines bedeutenden griechischen Künstlers; das Gesicht macht, trotz der erwähnten Verstümmelungen, den Eindruck frappanter Schönheit; namentlich der Zug um den Mund (mit Grübchen), die Form des Gesichtes, das Kinn und der ¢2b² Hals sind süperb. Zahlreiche Personen sind nach dem Fundorte (welcher neben der Fahr-Straße nach Ramle,

_____________ 29 Die Photographie konnte ich weder im Briefkonvolut noch im sonstigen Nachlass von Ebers finden. 30 Albert Daninos-Pacha (1843–1925), bedeutender Ägyptologe und seit 1891 Superintendent der ägyptischen Altertümer unter dem Chedive Mohammed Tewfik Pascha (1852–1892, seit 1879 Chedive von Ägypten).

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Achim Aurnhammer dicht bei der Eisenbahnstation Isidi Gaber gelegen ist)31 gewallfahrtet und haben die Statue bewundert. Daninos Pascha erklärt, daß der Ort dem Sommeraufenthaltsort der Alexandriner, Eleusis, entspricht. Ist es wahr, daß vor vielen Jahren bereits (Ende des vorigen Jahrhunderts?) ein deutscher Maecen einen Preis für den Finder der Kleopatra-Statue ausgesetzt hat? Solltest du etwas Genaues darüber wissen oder erfahren, so darf ich wohl darauf rechnen, daß du mir gefälligst das Nähere darüber baldigst mittheilst? – Sehnst du dich nicht danach, einmal wieder Egypten zu besuchen? Ich bin hier vollständig eingerostet und mit meinem Schicksale zufrieden: ubi bene, ibi patria!32 Komme doch uns einmal wieder besuchen; ich werde dir hier in Alex¢andria² die honneurs machen. Ich schließe mit den besten Wünschen für dein Wohlergehen, und mit der Bitte, meiner Sendung einen sympathischen Empfang nicht zu versagen. Dein treuer Keilhauer Schulkamerad33 Dr. Paul Walther

[2.] Brief von Paul Walther aus Alexandria, den 1. August 1892, an Georg Ebers [Bl. 3–4] Lieber Freund! »Diese Spitzmaus läßt aber verteufelt lange auf eine Antwort warten!« wirst du dir wohl schon einige Male gesagt haben. Zürne mir nicht, lieber Professor: laß mich zuerst dir meinen recht herzlichen und aufrichtigen Dank sagen, welchen ich dir für deine rasche und interessante Antwort schulde. Hoffentlich ergeben die Forschungen, die du in so liebenswürdiger Weise mir hinsichtlich des Monumentes versprochen, ein recht günstiges Resultat. Einstweilen habe ich die Entdeckung gemacht, daß Eines der immensen Bruchstücke, die ¢3b² verstreut neben und unter dem Brust- und Kopfstücke liegen, den Thron darstellt, und ein Andres einen Theil des Unterleibes die Schenkelbeuge und den obersten Theil des Oberschenkels. Ich bin überzeugt, daß die ganze Statue, in Stücken, noch vorhanden ist. Der eigentliche Grund, warum ich dir so spät meinen Dank ausspreche, ist, daß ich außerordentlich in Anspruch genommen war; daß die feuchte Hitze mich sehr mitnahm; und endlich – der Wichtigste! – daß ich dir nicht schreiben wollte, ohne gleichzeitig deinen Wunsch nach Marmorstückchen u. s. w. zu erfüllen. Da ich endlich dazu gekommen bin, nach unsrem Fundort einen Ausflug zu machen, so habe ich das Beste, was ich gefunden, ¢4a² zusammengerafft und schicke es dir hier mit. Inter-

_____________ 31 Eine Eisenbahnlinie führt in östlicher Richtung von Alexandria nach der nahen Sommerfrische Ramle und nach Rosette (vgl. Meyers Konversationslexikon 1888, s. v. Alexandria). Zum Monumentalgrab von Sidi Gabr vgl. die Studie von Marjorie Susan Venit (2002), 38 ff. Eine Doppelstatue, die Kleopatra und Marcus Antonius als Götterpaar Isis und Osiris darstellt, ist bei Plutarch, Antonius, 74 erwähnt. 32 [›Wo man sich wohlfühlt, ist man zuhause‹]. Geflügeltes Wort nach Cicero, Tusc. 5, 108. 33 Im thüringischen Keilhau besuchte Ebers seit 1848 bis zur Sekunda die Schule, eine von Friedrich Fröbel gegründete Erziehungsanstalt.

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essant ist entschieden das Stückchen antikes Glas (im Schächtelchen), welches ich dicht neben Kleopatra gefunden. Wer weiß? vielleicht ist es ein Splitter von ihrem Lieblings-Parfüm-Fläschchen!! – Wenn ich sonst mit irgend Etwas dir dienen kann, so bin ich selbstverständlich stets gerne bereit, nach meinen Kräften und Mitteln deinen Wünschen nachzukommen. Für heute laß mich schließen: soeben werde ich per Telefon dringend nach Ramle gerufen. Schreibe mir bald, lieber Professor: sowie ich Etwas Neues oder Interessantes hab, werd auch ich dir sofort schreiben. Daninos Pacha, der kürzlich abgereist ist – auf Urlaub – erinnert sich deiner lebhaft, erwiederte deine freundlichen Grüße und war ganz baff, wie du glauben könntest, daß er sich ¢4b² deiner nicht mehr erinnere. ›Mais le cher Ebers est un de mes bons amis!‹ schrie er mich an. Also leb’ wohl und vergiß nicht auf deinen Keilhauer Freund und seinen Schatz (!), die wiedererstandene Cleopatra! Pardon: auf die in meinem letzten Brief enthaltene Anfrage betreffs des Legates, welches ein Kunstliebhaber für den Finder der Kleopatra ausgesetzt haben soll, hast du Nichts geantwortet: warum? – Noch Eines: Leider hat mir dein lieber Brief bestätigt, was ich schon wußte, daß du nämlich körperlich so zu leiden hast. Wie kommt es aber, daß du gar Nichts von der Brown-Sequard’schen Methode weißt.34 Ich hab die Resultate derselben genau verfolgt: gerade in Bezug auf Tabes35 sind sie geradezu unglaublich! Warum versuchst du nicht diese Cur, die so schmerzlos und ungefährlich, während du die grausamsten Operationen umsonst muthigst versucht hast? Denke darüber nach! Vielleicht ist dies ein guter Rath, der dir von einem alten Keilhauer, welcher dir alle seine Sympathien bewahrt hat, kommt! Adieu. Wie immer dein alter Freund Dr. Walther.

[3.] Brief von Paul Walther aus Alexandria, den 1. September 1892, an Georg Ebers [Bl. 5–6] Werthester Freund! Kaum deinen lieben Brief vom 24.8. erhalten, stürzte ich mich mit blinder Wuth und Leidenschaft auf die hunderte von medizinischen Broschüren und Journalen, die, allwöchentlich von allen Seiten Europas eintreffend, meinen durch die afrikanische Hitze schon einigermaßen ›atrophierten‹ Hirnkasten kärglich alimentieren. Und – oh unglaubliches Glück! – nach kaum ein paar Minuten fielen mir ein paar lose Blätter in die Hände, welche ich dir umgehend einsende und welche besser als ich dich über die Brown-Sequard’sche Entdeckung aufklären werden. Wohl sind diese Blätter nur Fragmente; aber ein Alterthumsforscher wie du, der zerfetzte und ¢5b² vergilbte Papyruse geradeso leicht wie die letzte Nummer des ›Münchner Tagblattes‹ liest, wird sich ohne Mühe das Nöthige aus diesen fliegenden Blättern herauslesen. Das für dich Interessanteste habe ich unterstrichen und – commentiert!!

_____________ 34 Zu Charles-Édouard Brown-Séquard (1817–1894) vgl. James Montrose Duncan Olmsted (1946). 35 Allgemein medizin. Begriff für ›Schwindsucht‹, hier wohl für Tabes dorsalis [›Rückenmarksschwindsucht‹].

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Achim Aurnhammer Im Allgemeinen muß ich dir sagen, daß die Brown-Sequard’sche Methode großes Aufsehen gemacht hat. Im Wesentlichen ist dieselbe eine wirkliche ›Verjüngungskur‹. Der Name Brown-Sequard’s war von vornherein eine Bürgschaft, daß es sich hier um keinen Schwindel oder Irrsinn handelt: die kaum 2jährigen Erfahrungen, die man gemacht, haben bewiesen, daß die Brown-Seqd.’schen subcut. Injectionen mit (Meerschweinchen-Hündchen- etc.) Hoden-Extrakt – darin besteht nämlich die Kur! – sehr Reelles, ja oft ans Wunderbare Grenzendes leisten. Ich bin zwar nur mehr Spezialist für Ohren- und Hautkrankheiten, aber trotzdem verfolge ich ¢6a² eifrigst nach allen Seiten hin die Fortschritte der medizinischen Wissenschaft; zu diesem Zwecke lese ich unendlich viel Zeitungen, Monographien, Broschüren. In Folge dessen bin ich von allen neuen wichtigen Entdeckungen aufs Genaueste unterrichtet. Diesem Umstand hast du es zu danken, daß ich deine Aufmerksamkeit auf die B. S.’sche Methode sofort gelenkt habe. – Gehen wir nun zur praktischen Seite über: Was sollst du nun thun? Antwort: Wenn du durch dein Leiden nicht nur geniert, sondern – wie du es sagst – arg gequält wirst, sodaß das Opfer eines Versuches, durch eine Reise nach Paris Besserung, ja hoffentlich Heilung zu finden, nicht zu groß dir erscheint: so zögere keinen Augenblick, reise nach Paris (ein Katzensprung von München!), steig’ in der ›Maison de Santé Dubois‹ ab, und rufe dorthin den Prof. Brown-Seq.! Folge seinem Rathe blindlings! Dieser Mann ist ein großer Gelehrter und ein loya-¢6b²ler Rathgeber als Arzt! Wünschst du Empfehlungen von mir an Einige der Coryphäen der Pariser Fakultät, so schreibe mir: ich habe dort vorzügliche Verbindungen. Doch halte ich das für unnöthig. Verschiebe die Sache nur nicht zu lange: es schein[t] mir, du hast soviele grausame schmerzhafte und unnütze Behandlungsweisen durchgemacht, daß es sich wohl der Mühe lohnt, eine gefahr- und schmerzlose, und nach aller bisherigen Erfahrung Erfolg-versprechende Kur zu versuchen. – Sapienti sat!36 Daninos Pascha ist auf Reisen: meinen besten Dank für das schmeichelhafte Compliment! – Ich freue mich sehr, deine Biographie zu lesen.37 Sei so gut, deinen Verleger zu beauftragen, mir sofort nach dem Erscheinen ein Exemplar per Postnachnahme nach Alex[andria] einzuschicken. – Ist es nöthig daß ich zum Schlusse hinzufüge die Bitte: du mögest nicht auf meine Cleopatra und was drum und dran hängt vergessen? – Aber vor Allem denk an deine Gesundheit, lieber Freund, prüfe meinen Rat, und handle rasch – wie die chinesische Justiz! Adieu et bonne chance! Mit aufrichtiger Freundschaft dein alter Schulkamerad Dr. Walther.

[4.] Brief von Paul Walther aus Alexandria, den 24. September 1892, an Georg Ebers [Bl. 7–8] Lieber Freund! In meinem letzten Brief vom 1. [dieses Monats] habe ich (vor lauter Eifer dir die gewünschte Auskunft über die Brown-Sequard’sche Entdeckung zu geben) absolut

_____________ 36 [›Dem Verständigen genügt es!‹]. Lateinische Redensart nach Plautus, Phormio III, 3, 8. 37 Ebers, Geschichte meines Lebens (1893).

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vergessen dir eine, meine Cleopatra-Statue betreffend, interessante Mittheilung zu machen. Eine ebenso schwere als lästige Krankheit, von der ich gleich nach Absendung meines Briefes befallen wurde, verhinderte mich das Versäumnis sofort nachzuholen. Heute da ich mich endlich in der Rekonvalescenz des Leidens (erysipelatösphlegmonöse Entzündung mit subcutaner Vereiterung am ganzen linken Vorderarme) befinde, will ich nicht zögern dir die betreffende Nachricht zu geben, welche dir entschieden bei den projektierten Nachforschun-¢7b²gen über die Identität der besagten Cleopatra nützlich sein dürfte. So höre: Dienstag den 16. August d. J. lud mich Dr. Neroutzos Bey (der bekannte Topograf des alten Alexandriens)38 par lettre ein, Nachmittags zu ihm nach Ramle in seine Villa zu kommen, um seiner Frau, die an einer Hautkrankheit der Hände leide, meine ärztliche Behandlung und Rath zu geben. Als ich nach 5 Uhr zu ihm kam, fand ich ihn mit seiner Frau in seinem Studierzimmer. Nachdem ich meine Consultation beendet, hatte ich die glückliche Inspiration (eingedenk seiner außerordentlichen Spezialkenntniß der Topografie des alten Alexandriens) ihm meinen Cleopatra-Fall vorzutragen. Ohne mir, nach angehörtem Vortrage, eine Antwort zu geben, stand er auf, ging in sein Bibliothekzimmer und kam bald mit einem Buch in der Hand zurück, auf dessen 1. Seite er zunächst einige Zeilen schrieb, worauf er ein paar Blätter umschlug, und mit einem Roth-Stift einige Zeilen unter-¢8a²strich, dann reichte er mir das aufgeschlagene Buch und sagte: ›Lesen Sie das, lieber Freund!‹ Die roth unterstrichenen Zeilen sagten: ›Les derniers vestiges des ruines du temple de Cérès et de Proserpine, à Eleusis, aujourd’hui appelée Khâdra, avec les colosses d’ Antoine et de Cléopâtre figurant Osiris et Isis, dont les débris gisaient par terre, ont disparu.‹ ›Behalten Sie das Buch zu meinem Andenken!‹ sagte er mir, nachdem ich die Lektüre beendigt hatte. Es war sein Opus, ›l’ancienne Alexandrie‹ (Paris, Ernest Leroux, 28 rue Bonaparte 1888),39 welches er, mit einer liebenswürdigen Widmung versehen, mir gereicht hatte. Die citierte Stelle findet sich Seite 2, 2te und folgende Zeilen (von oben), der Introduction. Mündlich fügte Neroutzos Bey nur hinzu, daß für ihn, der Lage und Beschreibung meiner Statue nach, kein Zweifel bestehe, daß dieselbe die besagte Colo[ssa]lstatue der Cleopatra sei. Du kannst ¢8b² dir wohl denken, wie angenehm mir diese, von einer so autorisierten Persönlichkeit gemachte Erklärung war! Leider sollte diese für mich so interessante und wichtige Unterredung die letzte Manifestation dieses ebenso liebenswürdigen wie gebildeten und trotz seiner Gelehrsamkeit durchaus bescheidenen Forschers sein; denn 1 Stunde, nachdem ich seine Villa verlassen, bekam er einen schrecklichen Anfall von Angina pectoris, Beginn der Agonie, die 5 Tage dauerte und nach unsäglichem Leiden, Montag den 22. August fünf ½ Uhr mit dem exitus letalis ihren traurigen Abschluß fand. – Welch bizarrer Zufall, diese in den letzten lichten Momenten seines Geisteslebens für meine Entdeckung so wichtige Revelation! Ist das nicht romanhaft? – Bevor ich schließe, 2 Bitten:

_____________ 38 Tassos Demetrios Neroutsos-Bey (*1826), ist durch seine Werke zum Alten Ägypten bekannt geworden wie: Archaiologikai en Aigypto anaskaphai kai apokalypseis (Athen 1873), und Notice sur les fouilles récentes exécutées à Alexandrie 1874–1875 (Alexandria 1875) und L’ancienne Alexandrie (Paris 1888). Weitere Hinweise zu Leben und Werk des Gelehrten in den neueren Studien von Helga Neroutsos-Hartinger (1992), 105–148, und Marjorie Susan Venit (2002). 39 Vgl. Tassos Demetrios Neroutsos (1888), 132 Seiten.

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Achim Aurnhammer 1oHabe die Güte, mir recht bald über dich und nebenher, wenn möglich, über meine Statue Nachricht zu geben; 2o vermeide, dem Th. Graf und meinem Bruder Max von unserer Correspondenz wissen zu lassen! Ich habe von Beiden leider keine gute Meinung; ich habe schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht, die mich zu der Annahme berechtigen, daß sie jeden Glücksfall, der mir begegenet, zu meinem Nachtheile (namentlich vis-à-vis meiner Mutter!) auszubeuten suchen. Dies unter uns zur Aufklärung. Indem ¢7a – Rand² ich meine aufrichtigsten Wünsche für dein Wohlergehen und die damit eng zusammenhängende glorreiche litterarische Fruchtbarkeit unseres Ersten Romanschriftstellers erneuere, sende ich dir übers Meer meine freundschaftlichsten Grüße. Dein alter Freund und Kamerad Dr. Walther.

Neo-Historismus: Antike unter den Bedingungen moderner Massenmedien und Simulationstechniken

Parade und Triumphzug im Monumentalfilm MARCUS JUNKELMANN

Die pompa triumphalis, der Triumphzug, ist die wohl großartigste und beispielgebendste Selbstinszenierung, die irgendein Staatswesen je entwickelt hat. Und sie gehört auch zu den bekanntesten Einrichtungen der römischen Welt. Dafür hat die wieder und wieder erfolgte künstlerische oder reale Rezeption des antiken Vorbilds gesorgt. Hollywood steht da nur am Ende einer langen Kette von Adaptionen, doch ist gerade die filmische Verarbeitung für das populäre Bild der Antike in den letzten 100 Jahren von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Die Filmemacher lieben natürlich Triumphzüge und ähnliche Spektakel, inszeniert sich damit ja der Gegenstand der Darstellung gewissermaßen selbst in der denkbar effektvollsten Weise. Jedenfalls wird dieser Eindruck dem Betrachter suggeriert. Das setzte natürlich eine um Authentizität bemühte Realisierung voraus. Die schriftlichen und bildlichen Quellen würden eine solche durchaus zulassen, hat doch schon im späten Quattrocento Andrea Mantegna mit seinem Trionfo di Cesare ein hohes Maß an Genauigkeit erreicht.1 Betrüblicherweise ist man in den filmischen Rekreationen bisher hinter dem in der Renaissance erreichten Standard weit zurückgeblieben. Einzig in Anthony Manns »The Fall of the Roman Empire« _____________ 1

Zu Mantegnas Triumph Caesars siehe Martindale (1979) und Arlt (2005). Mantegna konnte sich bereits auf publizierte antiquarische Ausarbeitungen über römische Triumphe stützen. – Neben den nicht sehr zahlreichen bildlichen Darstellungen, die zumeist der frühen bis mittleren Kaiserzeit entstammen, stützen sich unsere Kenntnisse über den Ablauf von Triumphzügen vor allem auf die Beschreibungen kaiserzeitlicher griechischsprachiger Autoren wie Dionysios von Halikarnass, Plutarch, Appian, Zonaras und Flavius Josephus. Dazu kommen lateinische Quellen wie Livius und die Triumphalfasti, die aus den römischen Archiven schöpfen. Man muss hier freilich berücksichtigen, dass die meisten dieser Texte Rekonstruktionen von Zeremonien bieten, die sich erheblich vor ihrer Abfassungszeit abgespielt haben, wie Itgenshorst (2005), 12–30, in freilich etwas überkritischer Weise darlegt: Beard (2007), 72–106, äußert sich gleichfalls skeptisch zur Möglichkeit, einen für alle Jahrhunderte verbindlichen Verlauf zu rekonstruieren. Der in neueren Darstellungen geschilderte Standardtriumphzug sei ein pasticcio aus Elementen, die ganz verschiedenen Quellen entstammten, wobei manche Fragen bis heute nicht eindeutig geklärt seien. Die für eine filmische Inszenierung wichtigen Elemente werden von diesen Vorbehalten aber nur in geringem Maße betroffen. Zum Triumph siehe Künzl (1988); Brilliant (1999); Amiotti (2002); Holliday (2002), 22–62; Östenberg (2003).

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Marcus Junkelmann

von 1964 bemühte man sich ernsthaft, den Schauplatz und den Ablauf eines Triumphzuges einigermaßen überlieferungsgetreu nachzustellen. Hier erhebt sich nun die oft gestellte Frage, ob in einem Historienfilm Authentizität überhaupt wichtig ist, vor allem, ob sie vom überwiegenden Teil des Publikums erwartet und honoriert wird. Dass die meisten Kinobesucher nicht beurteilen können, ob das, was man ihnen auf der Leinwand vorgaukelt, richtig ist, steht außer Zweifel – selbst Historiker und Archäologen wären da angesichts der vielen antiquarischen Details auf Anhieb oftmals überfordert. »Wer weeß det?« fragte Veit Harlan, als sich ein historischer Berater während der Dreharbeiten zu »Der Große König« (1942) über einige der zahllosen Fehler mokierte. Das braucht aber überhaupt noch nicht zu heißen, dass es den Zuschauern gleichgültig ist, ob das, was man ihnen auftischt, stimmt oder nicht. Filmemacher und Kritiker unterstellen zwar in der Regel, das Publikum sei an solchen Problemen vollkommen desinteressiert, doch liegen dieser Annahme keine statistisch auswertbaren Meinungsäußerungen zugrunde. Ich habe einige Publikumsbefragungen in Zusammenhang mit Ridley Scotts »Gladiator« vorgenommen und war überrascht, wie verärgert sich die Mehrzahl der Zuschauer zeigte, wenn sie erfuhren, dass der Film voll war mit Fehlern, die zum Gutteil bewusst gemacht worden waren und die auch nicht durch finanzielle oder technische Sachzwänge erklärt werden können. Nicht wenige äußerten, sie hätten sich den Film gar nicht angesehen, wenn sie das vorher gewusst hätten. Die Leute gehen von der größtmöglichen Richtigkeit des Gezeigten aus, von der oft beschworenen Zeitmaschine, die der Historienfilm vorgibt darzustellen, und formen sich ihr Geschichtsbild danach, vertrauen also den Filmemachern und fühlen sich hintergangen, wenn ihnen nachweislich Falsches präsentiert wird. Historiker und andere Fachleute sind viel eher geneigt, solche Verfälschungen zu tolerieren, fühlen sie sich doch einerseits dem Massenmedium überlegen und sind ihm doch andererseits dankbar dafür, dass etwas für die Popularisierung ihres Faches getan worden ist. So konstatierte Kathleen Coleman, die Beraterin von Ridley Scotts »Gladiator«, das Interesse an ihren altphilologischen Veranstaltungen an der Harvard University habe in Folge des Films deutlich zugenommen, und das, obwohl sie sich nach vielfältigen Frustrationen veranlasst sah, ihren Namen im Abspann nur noch unter »ferner liefen« und ohne Spezifikation ihrer Tätigkeit nennen zu lassen.2 _____________ 2

Zur Problematik der »Authentizität« in Historienfilmen siehe Bertelli (1995), Junkelmann (2004), besonders 23–59, Coleman (2004a und b). Recht unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema prallen in dem von Martin M. Winkler herausgegebenen Band über den Film »Gladiator« aufeinander. Der Herausgeber ist der Ansicht, die Kritik an »distortions« sei »shortsighted« und somit überflüssig: »[…] charges of inauthenticity do not contribute to our understanding of the artistic and intellectual issues underlying historical cinema. Indeed, lack of authenticity is unavoidable in historical films.« Winkler (2004), 16. Allen W. Ward dagegen sieht keinen notwendigen Gegensatz von publikumswirksamer Filmdramatik und historischer Korrektheit: »Poetic license is not a carte blanche for the wholesale disregard of facts in historical fiction or films. In most cases, getting easily determined factual details correct is not incom-

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Sieht man von Ignoranz und mangelhafter Recherche ab, dann sind die antiquarischen und sonstigen Fehler in den antiken Monumentalfilmen vor allem auf zwei Ursachen zurückzuführen. Das eine ist der Umstand, dass die frühen Filme des Genres geradezu organisch herausgewachsen sind aus dem Roman, der Malerei, den Festzügen und dem Inszenierungsstil des Späthistorismus, und da die Filme einander immer wieder kopieren – »William Wyler studied not Roman history but other Roman movies in preparation for Ben-Hur«3 –, haben wir es mit einer Perpetuierung des Antikenbildes des späten 19. Jahrhunderts zu tun. Noch Ridley Scotts »Gladiator« (2000) erhielt seine Anregung von Gérômes Gemälde »Pollice verso« (1872) und wurde nach Eingeständnis des Regisseurs visuell stärker von Alma-Tademas Historienbildern beeinflusst als von den Erkenntnissen moderner Archäologie.4 Nachdem sich hier nun seit annähernd einem Jahrhundert feste Sehgewohnheiten etabliert haben, setzen die Filmemacher diese voraus und nehmen an, das Publikum würde mit Befremden reagieren, sollten seine Erwartungen nicht bedient werden, eine weitgehend ungerechtfertigte Annahme, wie der sehr erfolgreiche Bruch mit derartigen Konventionen in anderen Genres schon wiederholt gezeigt hat. Zum anderen verspüren viele der Drehbuchautoren und Regisseure den Ehrgeiz, ihr Werk zum Träger den historischen Stoff aktualisierender Botschaften zu machen, und Kritiker fliegen ohnehin auf solche Interpretationen, ob sie nun gerechtfertigt sind oder nicht. Das durchschnittliche Publikum scheint mir jedoch nach meinen Beobachtungen mit solchen anachronistischen Sinnstiftungen wenig anfangen zu können – meistens erkennen sie die Anspielungen gar nicht, weder die cineastischen noch die historischen, und selbst wenn das der Fall sein sollte, finden sie diesen Zeigefingergeschichtsunterricht eher störend. Wer sich einen Römerfilm ansieht, will in aller Regel Römer auf der Leinwand sehen und nicht als Römer verkleidete Nazis oder US-Amerikaner. Nun bietet gerade der Triumphzug vielfältige Ansatzpunkte zu aktualisierenden Interpretationen. Er war ja schon im antiken Rom staatsreligiös und machtpolitisch aufgeladen, seine späteren realen und allegorischen Transformationen gehorchten dem jeweiligen Zeitgeist, ob dieser nun humanistisch, barock-absolutistisch, nationalistisch, faschistisch oder kommunistisch ausgerichtet war. Nicht zu vergessen die triumphalistischen Elemente, die sich schon frühzeitig im kirch_____________

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patible with the drama and excitement needed for a best-selling book or a success at the box office.« Ward (2004), 42. Kathleen M. Coleman erkennt zwar die vielen objektiven Schwierigkeiten an, die sich einer authentischen Rekonstruktion in den Weg stellen, macht aber für die meisten Entstellungen »a combination of ignorance and intellectual arrogance« sowie »conscious decisions based upon esthetics, pragmatism, or an estimation of the public appetite« verantwortlich. Coleman (2004b), 51. Gerade den Details komme entscheidende Bedeutung zu (»detail is the repository of authenticity«, ebd., 49); deren chronische Vernachlässigung sei ein entscheidender Grund für den »snobbish contempt in educated cinemagoers« für das Genre des Antikfilms (ebd.). »The question is not ›Did this happen?‹ but ›Could this have happened?‹« Ebd., 50. Vidal (1992), 84. Zum Vorbild der historistischen Kunst siehe Junkelmann (2004), 61–89. Junkelmann (2004), 61 f.

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lichen Zeremoniell und in kirchlicher Architektur festgesetzt haben. Im populären, auch vom Film aufgegriffenen Bild gilt jede bombastische Parade als Triumphzug. Tatsächlich handelte es sich bei der römischen pompa triumphalis um einen sehr spezifischen staatsreligiösen Akt, der mit der Christianisierung des Reiches in seiner eigentlichen Gestalt unwiederbringlich verschwunden ist. Der Triumph war an den Kult des Iuppiter Capitolinus gebunden, zu dessen Tempel er hinführte, ein Faktum, das nur in Anthony Manns »The Fall of the Roman Empire« eine Rolle spielt. Ferner hing er untrennbar mit der römischen Verfassung zusammen, da nur der Träger des imperium, der höchsten Befehlsgewalt, ihn als vorübergehende Verkörperung des Iuppiter vollziehen durfte.5 Wenn der Triumph auch eine militärische Siegesfeier in extremer Ausformung war, so darf man ihn sich doch nicht als eine Militärparade im modernen Sinne vorstellen. Dafür sorgte schon die strenge Scheidung des zivilen und des militärischen Bereichs, der sich beim Betreten des pomerium, des geheiligten inneren Stadtbezirks, im Verbot des Tragens kriegerischer Ausrüstung äußerte. Der Triumphator stand nicht als lebendige Panzerstatue im Wagen, wie das in den Filmen ausnahmslos der Fall ist, sondern er trug die ornamenta triumphalia, Tunica und Toga aus purpurnem, golden besticktem Tuch, auf dem Kopf ein grüner Lorbeerkranz, in der Hand Adlerszepter und Lorbeerzweig, ein Staatssklave hielt ihm einen Kranz aus goldenen Eichenblättern über den Kopf. Die Soldaten waren ungerüstet, aber lorbeerbekränzt, und sie marschierten nicht im Gleichschritt, sondern wandelten formlos-feierlich dahin, wie der Rhythmus ihrer überlieferten Lieder zeigt. Da es nun Siegesparaden unter Mitführung von Trophäen und Gefangenen zu vielen Zeiten und in vielen Kulturen gegeben hat – und gibt –, fragt es sich, wann man bei einem solchen Ereignis von einer Wiederaufnahme des römischen Vorbildes sprechen kann. Eine vollgültige Rekreation ist ja aus den oben genannten Gründen von vornherein ausgeschlossen. Neben den verschiedenen dekorativsymbolischen Versatzstücken wie Lorbeerkränzen, Siegespalmen, Feldzeichen, Victorien und Adlern, sind es vor allem zwei Elemente, die einem Zug das Wesen des Triumphes verleihen, ein mobiles und ein statisches. Das eine ist der currus triumphalis, die von vier Schimmeln gezogene Quadriga des Triumphators, das andere der Triumphbogen. Letzterer war ja ursprünglich ein Ehrenbogen, der allenfalls die Erinnerung an einen vergangenen Triumph wach hielt und nicht Bestandteil des Zuges selbst war, aber das Durchschreiten eines adäquat dekorierten Bogens bildet doch fast immer einen distinktiven Bestandteil einer triumphalistischen Veranstaltung und wenn es sich auch nur um eine jener zahllosen ephemeren Konstruktionen aus bemaltem Leinen, Holz und Pappe handelt, von denen sich aus ihrer Blütezeit in Barock und Klassizismus günstigstenfalls die Entwürfe erhalten haben. _____________ 5

Das Rollenspiel des Triumphators ist in der Forschung umstritten, doch wird er überwiegend für eine temporäre Verkörperung Iuppiters gehalten.

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Die Wiederbelebung des Triumphes machte seit dem Hohen Mittelalter verschiedene Phasen durch. Die bis ins späte 18. Jahrhundert dominierende höfischrepräsentative, allegorisch geprägte Form, wurde im 19. Jahrhundert mehr und mehr von exerzierplatzmäßigen Aufmärschen überlagert. Von der ehedem immerhin im Zeichen des Absolutismus sinnstiftenden Großartigkeit des barocken Herrschereinzugs waren im Zeitalter der [deutschen] Reichsgründung vom Militärischen überprägte Formen und Bilder übriggeblieben, in denen, was an Bedeutungshandeln und Symbolgehalt verlorengegangen war oder allenfalls rudimentär fortlebte, vorwiegend durch Größe schlechthin, durch die Monumentalität und den kolossalen Eindruck kompensiert wurde.6

Sehr spezielle Ausformungen erhielten derartige Veranstaltungen im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland. In Italien war es vor allem die Rückführung auf den antiken Schauplatz, durch welche die Wiederauferstehung des römischen Reiches gefeiert werden sollte. Vor der Kulisse des Colosseum zelebrierte das Mussolini-Regime auf der breit durch das mittelalterliche Straßengewirr gebrochenen, auf den pietätvoll ausgegrabenen und weniger pietätvoll gleich wieder zugeschütteten Überresten der Kaiserforen erbauten Via dell’Impero seine Triumphe und Pseudotriumphe.7 Der Nationalsozialismus liebte gigantische Inszenierungen von kultischem Charakter, die in Filmen wie Leni Riefenstahls »Triumph des Willens« festgehalten wurden und ganz unmittelbar die Gestaltung römischer Massenveranstaltungen im Spielfilm beeinflusst haben. Wo das der Fall ist, kann man davon ausgehen, dass ein bedrohliches Bild vom kaiserlichen Rom gezeichnet werden soll, das Imperium als Prototyp totalitärer Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Ob der Film eine positive oder negative Sicht von Rom vermitteln will, wird auf diese Weise gerade in den Triumphzügen und triumphähnlichen Aufmärschen deutlich. In besonders penetranter Weise sieht man das im wahrsten Sinne des Worts vorexerziert in Mervyn LeRoys »Quo Vadis« von 1951. Der Film beginnt mit dem Anmarsch siegreicher Legionäre auf der Via Appia. Noch befinden wir uns im Zwischenbereich von kriegsmäßigem Marsch und triumphaler Überhöhung, doch erfahren wir, dass der Truppe in der Tat ein regelrechter Triumphzug bevorsteht, der uns dann später auch in allem Bombast vorgeführt wird. Welche Bewertungsmaßstäbe anzulegen sind, macht uns gleich der Prolog deutlich. Eine allwissende Stimme – the voice of God – aus dem off, die stark an die damaligen Wochenschauen erinnert, setzt das von dem Antichristen Nero beherrschte tyrannische Rom in Kontrast zur Botschaft des Kreuzes, das schon bald Roms stolze Adler ersetzen wird.8 _____________ 6 7

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Tenfelde (1982), 76. Zur Anlage der Via dell’Impero (heute Via dei Fori Imperiali) zum Zweck faschistischer Paraden vor der Kulisse von Colosseum und Kaiserforen siehe Manacorda/Tamassia (1983), 181– 194; Estermann-Juchler (1982), 54–56. Text des Prologs Junkelmann (2004), 167. Zur Funktion des Prologs ebd., 168–178.

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Der Prolog bestätigt uns eigentlich nur, was wir ohnehin schon wissen, nämlich den letztendlichen Sieg des Christentums, doch er kündigt uns, um Spannung aufzubauen, einen unsterblichen Kampf an, dessen Zeuge wir nun sein werden. Nachdem der Sprecher die Weltgeschichte klar und sauber in die Heilsgeschichte eingeordnet hat, begibt er sich in die Niederungen der historischen Fiktion, indem er uns einen gewissen Marcus Vinicius vorstellt, den erfundenen Helden und kommenden Triumphator – natürlich wird er am Schluss zum Christentum bekehrt. »Quo vadis« war der erste Film, den die Amerikaner in der von Mussolini errichteten Filmstadt Cinecittà gedreht haben. Sie ließen sich auch nicht den Gag entgehen, Peter Ustinov, den Darsteller des Nero, seine größenwahnsinnigen Neubauprojekte für das von ihm abgebrannte Rom an Hand des riesigen Modells erläutern zu lassen, das Mussolini für seine Augustus-Ausstellung hatte bauen lassen, und das Rom zur Zeit Constantins des Großen zeigt. Wir werden dem Modell in »Gladiator« wiederbegegnen.9 Die Gleichsetzung des römischen Kaiserreichs mit den überwundenen faschistischen und nationalsozialistischen und den noch nicht überwundenen kommunistischen Diktaturen ist keinesfalls eine nachträglich aus dem Entstehungsdatum des Films abgeleitete Interpretation, sondern war von Anfang an intendiert, wie den Presseverlautbarungen ganz ungeschminkt zu entnehmen ist: What is important is the overall, lasting and certain impression of revulsion against evil and against a dictatorship that denies security to everyone and precludes the freedom to worship one’s deity according to the dictates of his own conscience. Quo Vadis is the greater show, the better entertainment, because without seeming to do it, it draws the great lesson from the past that we never so much need as in the present.10

Der Triumphzug des Marcus Vinicius läuft dann auch entsprechend ab. Peter Ustinov als Verkörperung des Caesarenwahns grüßt die waffenstrotzend vorbeimarschierende Kriegsmaschine mit protofaschistisch erhobener Hand, und der Feldherr grüßt ebenso zurück, eine Geste, die interessanterweise vom italienischen Stummfilm entwickelt und von den Faschisten mit Begeisterung übernommen worden war, ein Musterbeispiel für rückwirkende Transformation.11 Bemerkenswert ist hier auch die Filmmusik, deren Schöpfer Miklós Rósza intensive musikhistorische Studien für die scores von »Quo Vadis« und »Ben-Hur« betrieben hat und sich vielfach authentischer Tonfolgen und Melodien bediente.12 Dennoch sah er sich – zweifellos wider besseres Wissen – gezwungen, den trium_____________ 9

Zu dem von I. Gismondi und P. di Carlo geschaffenen, auch heute noch allenthalben abgebildeten und touristisch ausgewerteten Rom-Modell Mussolinis siehe ebd., 270, 282, und Packer (2006), 310–312. 10 Wyke (1997), 144. 11 Bertelli (1995), 42 f.; Bondanella (1987), 183; Williams (1996), 410; Junkelmann (2004), 292 f. 12 Zur Musik im Antikfilm siehe Solomon (2001b); Boldhaus (2000); Junkelmann (2004), 394 (Anm. 506).

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phierenden Legionären eine nach modernem Muster von Rhythmusinstrumenten wie kleinen Pauken und Becken geprägte Marschmusik überzustülpen. Die Paukerkorps werden wir auch in »Gladiator« wiederfinden. Tatsächlich benutzte die römische Armee ausschließlich Blechblasinstrumente wie tuba, cornu und lituus. Solche Instrumente werden uns im Film auch gezeigt, doch traut man ihrem alleinigen Gebrauch nicht die erwünschte martialische Wirkung auf ein modernes Publikum zu. Der Charakter der Militärparade tritt umso einseitiger hervor, als in »Quo vadis« wie auch in fast allen anderen Filmen (einzige Ausnahme Manns »The Fall of the Roman Empire«) sämtliche Elemente eines römischen Triumphzuges außer dem Triumphator und den marschierenden Truppen entfallen. Wir sehen keine Beutestücke, keine Gefangenen, keine fremdländischen Tiere, keine Opferdiener und Opferstiere, keine Modelle von Kriegsereignissen, keine Schrifttafeln. Auch die den Triumphator begleitenden Lictoren und der hinter seinem Wagen einherschreitende Senat fehlen so gut wie immer. Das ist eigentlich erstaunlich, da diese Teile des Zuges geeignet wären, die Farbigkeit und den Reichtum des Gezeigten zu erhöhen, wie ja auch dem römischen Volk nicht zuletzt ein exotisches Spektakel geboten werden sollte, das sie mit der Ethnographie, und der Geographie der besiegten Länder bekannt machte. Aber offensichtlich wollen die Filmemacher ganz bewusst den militaristischen Aspekt ungehemmt zur Wirkung kommen lassen. In ähnlicher Gestalt läuft der Triumphzug des Arrius in William Wylers »Ben-Hur« (1959) ab. Die voll gerüsteten und bestens einexerzierten Truppen marschieren im Gleichschritt eine breite und gerade Straße entlang und paradieren an dem in schwindelnder Höhe unter einem monumentalen Adler faschistoiden Zuschnitts thronenden Tiberius vorbei. Überraschenderweise wird der Kaiser dann aber nicht als größenwahnsinniger Despot gekennzeichnet, sondern als ein in seiner Illusionslosigkeit zwar etwas zynischer, doch kluger und gerechter, persönlich bescheidener Staatsmann. Die konventionellen Formen des Triumphzuges stehen somit für die im Film insgesamt dominierenden bedenklichen Seiten des römischen Reiches, sie bilden die beengende Hülle für Individuen wie Tiberius und Arrius, deren Charakterisierung an sich geeignet ist, dieses Bild bis zu einem gewissen Grade zu modifizieren. Der von Kirk Douglas produzierte und von Stanley Kubrick wider Willen dirigierte Film »Spartacus« aus dem Jahr 1960 enthält zwar keinen eigentlichen Triumphzug, aber zwei Aufmärsche, die gleichfalls ein bezeichnendes Licht auf das Rombild werfen, das in diesen Sequenzen vermittelt werden soll. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es, dem Drehbuch zufolge, in Rom eine relativ positiv gezeichnete demokratische Richtung gab, deren Anführer natürlich Gracchus hieß, und eine autoritäre, protofaschistische unter Crassus, dem eine fanatische, untrennbar mit Selbstvergottung einhergehende Staatsverehrung eignet. Nächtlicherweise begibt sich dieser Crassus, dargestellt von Laurence Olivier, auf eine säulengeschmückte Terrasse seines Hauses, von der aus er sich den Ausmarsch römischer Truppen ansieht, die im Morgengrauen gegen die Sklavenarmee ins

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Feld rücken. Hinter ihm steht sein Sklave Antoninus, zu dem er sich homosexuell hingezogen fühlt. Crassus zeigt ihm die in der Ferne dahin ziehende Kolonne und legt ihm in einer Mischung aus fast religiös zu nennender politischer Ergriffenheit und erotischen Analogien die Größe Roms dar: There, boy, is Rome – there is might, majesty, the terror of Rome. There is the power that bestrides the known world like a colossus. No man can withstand Rome, no nation can withstand her. There’s only one way to deal with Rome, Antoninus, you must serve her, you must abase yourself before her, you must grovel at her feet – you must love her.13

Später sehen wir die Legionen unter seinem eigenen Kommando aus Rom ausmarschieren, streng in Reih und Glied, maschinenhaft, während er selbst bei seiner Feldherrnrede von einem marmornen Tor eingerahmt wird. Den Kontrast bildet die dazwischen geschnittene Ansprache des Spartacus, die dieser unter freiem Himmel seiner Sklavenarmee hält, die sich in organischer Unordnung harmonisch in die Landschaft fügt. Analog ist dann auch die Schlacht gestaltet, rigide militärische Geometrie gegen dynamische Naturverbundenheit.14 In keinem anderen Film spielt die pompa eine Rolle, die vergleichbar wäre mit Anthony Manns »The Fall of the Roman Empire« von 1964. Es spiegelt sich hier eine vollkommen gewandelte Einschätzung des heidnischen Rom, das jetzt nicht mehr lediglich als feindliches Umfeld für den Aufstieg des Christentums zu dienen hat, sondern als gescheitertes, doch positives Vorbild für ein friedensstiftendes Universalreich betrachtet wird. Und dieses Scheitern wird als Tragödie gekennzeichnet, als wohl die größte Tragödie der Menschheitsgeschichte. Der Film wurde nicht nur im Titel von Gibbons The Decline and Fall of the Roman Empire inspiriert. Die Wende zum unaufhaltsamen Niedergang trat, dem englischen Historiker folgend, ein, als auf den großen und edlen Marcus Aurelius sein missratener Sohn – unterschobener Sohn, wie der Film enthüllt – folgte. Der Niedergang wird in drei großen Aufmärschen szenisch gekennzeichnet. Der erste ist rein fiktiv und, vom Standpunkt realistischer Geschichtsrekonstruktion aus betrachtet, auch reichlich phantastisch. Marcus Aurelius hält sich in seinem Hauptquartier an der verschneiten Nordgrenze des Reiches auf und empfängt hier die Abgesandten des ganzen Imperium, um ihnen seine Vision von Rom als völkerverbindender Friedensmacht mitzuteilen: »No longer provinces or colonies, but Rome, Rome everywhere. A family of equal nations – that is what lies ahead.«15 Im Zeitalter der Abrüstungsverhandlungen zwischen Ost und West und des Kampfes um die Civil Rights in Amerika war dies eine mehr als deutliche Botschaft und ließ das Ideal von Rom als großes Vorbild durch die Geschichte leuchten. Die Kavalkade der Statthalter und Satellitenkönige in ihren exotisch und teilweise extrem anachronistisch ausstaffierten Wagen schafft eine bizarre, doch _____________ 13 Junkelmann (2004), 326. 14 Ebd., 196 f. 15 Ebd., 308; Williams (1996), 606.

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schlüssige optische Manifestation dieser Vision. Aber betrüblicherweise wird Marcus Aurelius ermordet, und der Traum vom idealen Friedensreich sinkt mit ihm ins Grab. Dem hat Anthony Mann in einer der eindringlichsten Sequenzen des Genres großartigen szenischen Ausdruck verliehen. Es ist die pompa funebris, der Leichenzug des Kaisers. In düsterem Schneegestöber entsteht eine Endzeitstimmung, die durch das militärisch-religiöse Zeremoniell noch an Pathos gewinnt. Hoffnungslos leuchten die Fackeln gegen Sturm und Dunkel an, während der Rauch des Scheiterhaufens in den Winterhimmel steigt und das dumpfe »Hail Caesar, hail Commodus« der Soldaten die unheilschwangere Acclamation des neuen Kaisers verkündet. Dann erfolgt ein kühner Schnitt. Die grauen Wolken und der Rauch des Scheiterhaufens machen Platz einem strahlend blauen Himmel, eine Bronzequadriga, in der eine Victoria steht, kommt ins Bild.16 Es ist die Bekrönung des augusteischen Triumphbogens zwischen dem Vestatempel und dem Tempel des Iulius Caesar. Dass man das Bauwerk genau benennen kann, ist bezeichnend, denn was jetzt folgt, ist die ehrgeizigste und in der Tat exakteste Rekonstruktion des antiken Rom in der ganzen Filmgeschichte. Nicht dass sie keine Fehler enthielte,17 aber alles in allem ist doch der westliche Teil des Forum Romanum sehr genau nachgebaut worden. Dieses nördlich von Madrid errichtete Forum gilt als die prächtigste Filmkulisse aller Zeiten und war der Stolz des Films: 27 full-scale three-dimensional structures, 350 individual statues, 8 victory columns, 1 000 hand-sculptured relief panels, 12 tons of nails, 320 miles of tubular steel, 1 100 workers, 7 months to assemble.18

Kein Wunder, dass es nach »The Fall of the Roman Empire« 36 Jahre dauerte und der Entwicklung der Computertechnik bedurfte, bis man sich wieder an ein solches Sujet herantraute, war und ist doch das Thema »Rom« im Film stets an ein gigantomanisches Streben nach Superlativen gebunden. Die vielzitierte »greatness of Rome« ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Der Charakter eines römischen Triumphzuges ist bei Anthony Mann gleichfalls besser getroffen als in irgendeinem anderen Monumentalfilm. Zwar marschieren und reiten auch bei ihm gerüstete Soldaten in Reih und Glied mit, und trägt der Triumphator den Muskelpanzer, aber dennoch entsteht keinen Augenblick der Eindruck einer modernen Militärparade. Neben der barocken Pracht der _____________ 16 Arthur J. Pomeroy sieht in dieser Bronzequadriga ein positives Symbol: »The visual signal telling us that we are now in Rome is not an emblem of political power – the eagle of Riefenstahl and Scott – but one that indicates to the viewer the beauty and high culture of an advanced civilization.« Pomeroy (2004), 118. Es ist dies aber mehr eine Frage der künstlerischen Gestaltung, die bei Mann antiken Originalen entspricht, bei Riefenstahl und Scott dagegen den grobschlächtigen Klassizismus faschistisch-nationalsozialistischen Zuschnitts zeigt, als eine des Symbolgehalts, denn eine Siegesgöttin verkündet mindestens in gleichem Maße militärische und politische Macht wie ein Adler. 17 Einige Fehler sind aufgezählt in Junkelmann (2004), 274 f. 18 Wyke (1997), 140.

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Rüstungen und Kostüme und den auf Tragen mitgeführten Statuen ist es vor allem die Musik Dimitri Tiomkins, die dafür sorgt, dass sich ein Gefühl beschwingter Feierlichkeit einstellt.19 Die geradezu balletthafte Komposition verleiht der Sequenz etwas Unwirkliches, Märchenhaftes, wobei sie freilich, sobald sich die Kamera auf den Triumphator Commodus konzentriert, in eine Art Sphärenmusik übergeht, die den Caesarenwahn des neuen Herrschers kennzeichnen soll. Dieser Wahn, der zum bestimmenden Motiv wird, sobald Commodus allein den IuppiterTempel betreten hat, relativiert die grandiose Triumph-Zeremonie, macht sie zu einem Zerrbild vergangener Größe. Anthony Manns Schnitt von der winterlichen Nordgrenze auf das im mediterranen Sonnenlicht gleißende Forum Romanum in all seiner Pracht sollte nicht zuletzt ein Gefühl vermitteln von der Weite des römischen Reiches. Dies trifft auch auf Ridley Scotts »Gladiator« aus dem Jahre 2000 zu, der in wesentlichen Aspekten ein Remake von »The Fall of the Roman Empire« ist. Zum Auftakt lernen wir auch hier die verschneite Front im Norden kennen, doch wird noch eine Episode eingefügt, die uns das geographische Extrem in Gestalt einer protomuselmanischen nordafrikanischen Provinz vorführt, bevor wir nach fast einer Stunde Laufzeit in Rom landen. Das römische Leitbild ist auch in Afrika präsent in Gestalt eines etwas kümmerlichen Amphitheaters, eines Provinz-Colosseum am Rand der Wüste. Der Held, der zum Gladiator degradierte General Maximus, feiert hier gerade seinen ersten Triumph in der Arena, dann beginnt die Kamera zu kreisen, traumhafte Musik setzt ein. Der Blick steigt in den Himmel empor, wir schweben durch Wolken, weihevolle wagnerianische Klänge ertönen, in fast auf Schwarz-Weiß abgesenkter Farbigkeit erblicken wir schließlich durch die Wolken in Vogelschau die Stadt Rom, noch nicht computergeneriert, sondern nach alter Väter Sitte als abgefilmtes Holzmodell. Und dieses Modell ist natürlich wieder das aus Mussolinis Augustus-Ausstellung, das heute im Museo della Civiltà Romana steht. Der »Anflug« durch die Wolken auf Mussolinis Stadtmodell knüpft aber noch auf andere Weise an die Ära von Faschismus und Nationalsozialismus an. Leni Riefenstahls Film »Triumph des Willens« über den NS-Parteitag von 1934 beginnt gleichfalls mit einer subjektiven Kameraeinstellung aus einem Flugzeug heraus, bis durch das Wolkenmeer schließlich Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage, sichtbar wird.20 Die Anspielungen auf Leni Riefenstahls Film werden in den nächsten Einstellungen noch konsequent fortgesetzt. Auf die Ansicht des Rommodells folgt wieder eine Wolkenaufnahme, von der die Kamera auf einen in Untersicht gezeigten, irgendein Bauwerk krönenden Adler herabschwenkt, der von ausgesprochen »faschistischem« Typ ist und zudem noch auf einem horizon_____________ 19 Dimitri Tiomkin wurde hier von der »römischen« Programmmusik Ottoprino Respighis aus den 1920er Jahren beeinflusst (freundlicher Hinweis von Dr. Walter Post, München). 20 Zu Leni Riefenstahls »Triumph des Willens« siehe vor allem Loiperdinger (1987).

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talen Rutenbündel steht. Vergleichbare Ansichten von monumentalen Adlern in imposanter Untersicht gibt es auch in »Triumph des Willens« immer wieder. Nach der Adlereinstellung blicken wir von erhöhtem Standpunkt aus eine breite, von Menschenmassen gesäumte Straße entlang auf das Colosseum. Auf dieser bewegen sich die von Gardereitern gefolgten Wagen des Commodus und seiner Begleitung auf uns zu. Hier baut Ridley Scott einen ironischen Kontrast zu Leni Riefenstahls Film ein: Statt zum »römischen« Hitlergruß erhobener Hände und enthusiasmierter Gesichter zeigt er uns geballte Fäuste und die wutverzerrten Physiognomien zorniger alter Männer, die dem einziehenden Kaiser – denn es handelt sich hier tatsächlich um einen adventus und keinen Triumphzug – Beschimpfungen zurufen.21 Der Plan des jungen Kaisers, sich mit gigantischen Arenaspektakeln die Liebe der Massen zu erringen, wird verständlich. Der adventus gibt Ridley Scott auch die Gelegenheit, die Masse der Truppen nicht in Bewegung vorzuführen, sondern angetreten auf einem riesigen Platz. So können die Einzugsszenen in einem gewaltigen, rigid symmetrisch komponierten Blick über 27 000 Mann in großen Blöcken stehender, SS-mäßig schwarz uniformierter Praetorianer kulminieren. Das Bild, das mit Ausnahme der im Vordergrund stehenden Senatoren und blumentragenden Kinder22 gänzlich im Computer entstanden ist (und auch so aussieht)23 ist nun das deutlichste aller RiefenstahlZitate in diesem Film. Vorbild ist die berühmte Einstellung, welche die Regisseurin mit einer an einem Flaggenmast beweglich montierten Kamera von den zum Großen Appell angetretenen SA- und SS-Kolonnen aufnehmen ließ.24 Der Effekt der analogen Bildgestaltung ist bei Scott, historisch wie topographisch betrachtet, mit vollkommener Absurdität erkauft. Das Colosseum, das mit seiner wimpelgekrönten Silhouette als zentraler Blickpunkt über den Truppenmassen dräut, steht tatsächlich in einem engen Tal, die Absicht, hier 27 000 Mann aufmarschieren zu lassen, hätte radikale städtebauliche Maßnahmen im Stil Mussolinis erfordert. Abgesehen davon hatte die Praetorianergarde eine Stärke von allerhöchstens 10 000 Mann.25 Ridley Scotts riesiger Antreteplatz vor der Kulisse _____________ 21 In der Praxis ähnelten sich adventus und triumphus sehr stark, doch fehlten dem ersteren naturgemäß so charakteristische Elemente wie die Beute, die Gefangenen, die Schlachtenbilder. 22 Auch die dem Herrscher Blumensträuße überreichenden Kinder sind Riefenstahls Film entlehnt. 23 Zur Rekonstruktion des antiken Stadtbildes von Rom siehe Haselberger/Humphrey (2006), darin zur digitalen Rekonstruktion vor allem Favro (2006), und Packer (2006), und zum Panorama als Vorläufer des Kinos und seiner computergenerierten Wiederbelebung siehe Asisi (2006). 24 Riefenstahls berühmte Einstellung bewirkte, »dass die streng gerasterten und diagonal gestaffelten Heere der SA- und SS-Kolonnen bis heute als geometrisches Stereotyp a l l e r Reichsparteitage und der nationalsozialistischen Aufmarschbereitschaft überhaupt ungebrochen im kollektiven Gedächtnis verankert sind […]«, Göttsche (2003), 88. 25 In antoninischer Zeit dürfte die Praetorianergarde 10 Cohorten zu 500 Mann gezählt haben, doch ist auch eine Cohortenstärke von 1 000 Mann nicht auszuschließen. Coulston (2000), 77 f., 81. Hinzu kamen die 1 000 Gardereiter der equites singulares Augusti und insgesamt 7 500 Mann der paramilitärischen cohortes urbanae (Polizei) und cohortes vigilum (Nachtwächter und Feuerwehr). Das ergibt eine Gesamtstärke von 13 500, eventuell 18 500 Bewaffneter. Ebd., 81.

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des Colosseum stellt gewissermaßen die Rückprojektion der faschistischen Vorstellung von Größe und Macht auf die Antike dar.26 Zur räumlichen Dimension der römischen »Größe« kommt also noch die zeitliche, die in einem komplexen System von Spiegelungen von der Vergangenheit in die Zukunft und von der Zukunft in die Vergangenheit besteht. Auf die Frage, ob es Zufall sei, dass seine Bilder in dieser Sequenz so sehr an Riefenstahl erinnerten, antwortete Scott: Die triumphalen Szenen sind bewußt an ihre Bildsprache angelehnt. Die Sache läßt sich allerdings auch umgekehrt sehen. Schließlich hat die Nazi-Symbolik vieles aus dem römischen Imperium übernommen.27

Die Vielschichtigkeit der großen Praetorianer-Einstellung Scotts beschränkt sich aber nicht auf Leni Riefenstahl und die nationalsozialistischen Machtdemonstrationen. Der colonnadenumsäumte Platz erinnert unwillkürlich an Aufnahmen, die den Petersplatz angefüllt mit Pilgermassen zeigen. Die zahlreichen Barockkuppeln im Hintergrund des Bildes bestätigen die Vermutung, dass Scott hier auch auf die katholische Kirche als eine Nachfolgerin des römischen Reiches hinweisen will. Und noch eine weitere Epoche gerät in das Fadenkreuz des Regisseurs. Nachdem Commodus (Joaquin Phoenix) einen spannungsvollen Empfang durch den Senat hinter sich gebracht hat, offenbart er seiner inzestuös verehrten Schwester Lucilla seine politischen Absichten. Dabei lungert er auf einem Thron, dem nur das große »N« fehlt, um ihn als Krönungsthron Napoleons auszuweisen. Auch dies keinesfalls eine Schlamperei, sondern ein bewusstes Spiel mit zeitlichen Spiegelungen: »We were deliberately mixing periods«, äußerte sich Production Designer Arthur Max, »We copied them copying the Romans, which added an extra layer and another cultural interpretation.«28 Die Pläne, in die der Kaiser seine Schwester einweiht, sind allerdings nicht sehr komplex. Er möchte den Senat entmachten, indem er das Volk durch noch nie dagewesene Arenaspektakel für sich gewinnt, also »Brot und Spiele« in Reinkultur. Lucilla zitiert »the greatness of Rome« und definiert sie als »a vision«.29 Commodus funktioniert aber sogleich diese »vision« um im Sinne seiner Gladiatorenveranstaltungen. Der Focus der Handlung und zugleich das inszenatorische Prunkstück des Films ist nicht, wie bei Anthony Mann, das Forum Romanum und damit der Ort des politischen Diskurses, sondern das Colosseum, in dem der Kaiser die spectacula instrumentalisieren will, um die totale Macht an sich zu reißen. Sein triumphaler Einzug bildet somit den Auftakt zu einem konsequent geplanten Machtmissbrauch und stellt die Verbindung her von militärischer Machtdemonstration und Massenmanipulation, mit denen er das Volk in Bann schlägt, bis ihm _____________ 26 »The vision of Rome is closer to what Hitler and his architects had envisioned for ›Germania‹, their new and hubristically gigantic Berlin, than it is to the historical Rome, even the idealized Rome of its Mussolini-era model.« Pomeroy (2004), 116. 27 Osswald (2000). 28 Magid (2000), 50. 29 Junkelmann (2004), 221, 307.

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in der Arena der zum Stargladiator avancierte Maximus als Verkörperung des guten, des republikanischen Rom entgegentritt. Ridley Scott beschäftigt sich nur vordergründig mit realen geschichtlichen Ereignissen und realen geschichtlichen Individuen, sein eigentliches Anliegen sind archetypische Personifikationen der dunklen und der lichten Idee von Rom. Und es ist erst recht nicht ein Film über das reale Rom, weder das vergangene, noch das gegenwärtige, sondern Rom als überzeitlicher Traum. Außer in dem grandiosen ahistorischen Schluss wird das nirgends deutlicher als in der Sequenz, die den triumphalistischen kaiserlichen adventus in Rom zeigt. Vor kurzem lief die erste Staffel der sehr erfolgreichen amerikanischbritischen Fernsehserie »Rome« (HBO/BBC, 2005) auch in Deutschland über die Bildschirme. Wenngleich es sich nicht um einen Kinofilm, sondern um eine TVSeifenoper monumentalen Kalibers handelt – es ist die teuerste bisher gedrehte Serie –, möchte ich sie hier doch nicht unbeachtet lassen, zumal die »Triumph« betitelte Folge 10 dem großen Triumphzug Caesars im Jahre 46 v. Chr. gewidmet ist. Die Filmemacher (Regie der Folge Alan Taylor) und der historische Berater Jonathan Stamp können sich im Begleitprogramm der DVD-Fassung (2006) gar nicht genug tun mit ihren Beteuerungen, alles sei ganz und gar authentisch. Leider muss man da entschieden widersprechen. Befremdlich ist schon die außerordentliche Kürze des Gezeigten, die in keinem rechten Verhältnis zum betriebenen Aufwand zu stehen scheint. Zwar dauert die Triumphsequenz fast vier Minuten und ist damit nur anderthalb Minuten kürzer als die entsprechende Sequenz in Manns »The Fall of the Roman Empire«, doch nimmt fast die Hälfte der Zeit die Strangulation des Vercingetorix ein, und auch der Rest besteht bildschirmgerecht hauptsächlich aus Großaufnahmen der agierenden und zuschauenden Hauptdarsteller. Erstaunlicherweise wurde das recht beeindruckend gelungene Forum Romanum nicht im Computer produziert, sondern wie in besten Monumentalfilmzeiten aus realen Materialien in Cinecittà aufgebaut. Das Stadtbild zeichnet sich durch die hier erstmals berücksichtigte Farbigkeit und die liebevoll differenzierten Stadien der Patina der verschiedenen Gebäude aus. Leider sieht man viel zu wenig davon, da die Totalen immer nur wenige Sekunden dauern und die Kamera sich stattdessen auf Gesichter konzentriert. Zu loben sind die allgegenwärtigen Palmzweige und Lorbeerbäumchen und -zweige, vor allem aber die Tatsache, dass der Triumphator erstmals mit rot gefärbtem Gesicht gezeigt wird. Die vorausgehende Szene, in der der jugendliche Octavian dem knienden Caesar die Schminke aufträgt, ist in ihrer zeremoniellen Symbolkraft die eindrucksvollste der ganzen Folge und beweist, welche Wirkung sich mit dem dramaturgisch geschickten Einbau solcher Elemente erzielen lässt. Dazu trägt der Triumphator aber, wie gewohnt, Muskelpanzer, ferner Beinschienen und sogar einen mächtigen gladius. Auch die Soldaten marschieren wieder in voller Kampfausrüstung über das Forum. Man kann gar nicht genug betonen, dass dies nicht nur dem generellen Verbot des Waffentragens innerhalb des pomerium widerspricht, sondern auch einem wesentlichen Aspekt des Triumphzuges, der

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darin besteht, dass der Feldherr und seine Armee von der blutbefleckten Sphäre des Krieges überwechseln in die Friedensordnung des geheiligten Stadtgebiets.30 Die Dramaturgie der Sequenz ist auf dem Gegensatz Sieger – Besiegter, Caesar – Vercingetorix aufgebaut. Das entbehrt nicht einer gewissen Eindringlichkeit, geht aber auf Kosten aller anderen Elemente des Triumphzugs, der zur Ouvertüre der Hinrichtung degradiert wird. Caesar steigt vom Wagen und begibt sich auf eine Tribüne, um Auge in Auge der Strangulation seines Gegenspielers beizuwohnen, und damit findet die ganze Sequenz ihr Ende. Zwar entspricht die Hinrichtung des Vercingetorix den Tatsachen und wurden auch bei anderen Triumphzügen feindliche Anführer exekutiert, doch war dies durchaus kein notwendiger Bestandteil der Zeremonie und noch viel weniger ihr Höhe- und Schlusspunkt. Auch fand sie nicht öffentlich statt, vielmehr führte man, sobald der Zug den Fuß des Capitols erreicht hatte, das Opfer in das unterirdische Verließ des carcer Tullianus ab, wo die Strafe durch Erdrosselung oder Enthauptung vollzogen wurde. Während dieser Zeit hielt der Zug an und setzte erst auf die Meldung von der erfolgten Hinrichtung den Marsch über den clivus Capitolinus zum Iuppitertempel fort, vor dem der Triumphator das große Stieropfer vornahm und anschließend seinen Kranz der Statue des höchsten Gottes darbrachte, worin der eigentliche Höhepunkt des Triumphes bestand. Der Fernsehserie sind aber grelle Schauerszenen immer wichtiger als die vorgegebene historische Authentizität, der es nur ganz gelegentlich erlaubt wird, zwischen Sex and Crime durchzuschimmern. So bleibt Anthony Manns Triumph von 1964 nach wie vor die weitaus überzeugendste Annäherung, die dem Film bisher zu diesem Thema gelungen ist.

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_____________ 30 Rüpke (1990), 35, 56 f., 201 f. Erbeutete Waffen und Rüstungsteile des Feindes, die als Trophäen mitgeführt wurden, waren die einzigen Kriegsinstrumente, die bei einem Triumphzug in Erscheinung traten. Östenberg (2003), 18–29.

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Rom in der Postmoderne. Darstellungen der Antike in zwei historischen Romanen CRAIG WILLIAMS

In diesem Beitrag befasse ich mich mit zwei englischsprachigen historischen Romanen der letzten Zeit, die im antiken Rom spielen und die der Untergattung des populären Kriminal- bzw. Desaster-Romans angehören: Catilina’s Riddle von Steven Saylor (1993) und Pompeii von Robert Harris (2003).1 Aus dem weiten Feld von englischsprachigen, in der klassischen Antike spielenden Romanen habe ich unter vielen anderen gerade diese Texte ausgewählt, weil sie populärer Prägung sind, weil sie offensichtlich ein bestimmtes Bild der römischen Antike zu vermitteln bemüht sind und weil sie zwei berühmte und brisante Episoden der römischen Geschichte als Hintergrund, aber auch als Erzählgegenstand haben, und zwar die Verschwörung um Catilina im Jahre 63 v. Chr. und die Zerstörung der Stadt Pompeji durch den katastrophalen Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. Nach einführenden Überlegungen zur Einordnung dieser Texte innerhalb der neueren Gattungsgeschichte des historischen Romans, gehe ich auf folgende Fragen ein: Welche Aspekte der konstruierten Vergangenheit werden in diesen Romanen hervorgehoben? Inwiefern weisen diese Vergangenheitsbilder sowie die Texte, die sie vermitteln, den Einfluss der Postmoderne auf?

I. Ich beginne mit einer Bemerkung Avrom Fleishmans in seiner 1971 erschienenen Studie des englischen historischen Romans. Nach Between the Acts von Virginia Woolf, so Fleishman, it is no longer possible – whether in historiography or in historical fiction – to write

_____________ 1

Für einen umfangreichen, mit Suchfunktion ausgestatteten, allerdings auf englischsprachige Texte beschränkten Katalog von historischen Romanen, die im antiken Rom spielen, siehe die Webseite »Fictional Rome« (http://www.stockton.edu/~roman/fiction).

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Craig Williams convincingly about the past without building the interpretive process into the structure of the work.2

Einige Jahre später beschreibt Hans Vilmar Geppert einen neuen, »anderen« Typus der Gattung, der den »Hiatus von Fiktion und Historie akzentuiert« und diesen »dem Leser zur Konkretisation nahelegt«, im Gegensatz zu den »üblichen« historischen Romanen, die hingegen durch eine »Verschmelzung von Fiktionalität und Faktizität« gekennzeichnet seien.3 Sechzehn Jahre später stellt Gerhard Kebbels fest, dass mittlerweile fast alle historischen Romane Gepperts Kriterien für den neuen, »anderen« Typus entsprechen, indem sie »eine spezifische Form der Selbstreflexivität« zeigen. »Der Verarbeitungsvorgang des Romans«, so Kebbels, »wird auch in der Erzählung selbst thematisiert.«4 Es lässt sich also sagen, dass in den letzten Jahrzehnten ein spezifisch postmoderner Typus des historischen Romans entstanden ist, als dessen Hauptmerkmale folgende Tendenzen zu nennen sind:5 Selbstreflexivität und Metafiktion, kontrafaktische Versionen der Geschichte, Misstrauen gegenüber Metaerzählungen im Sinne Jean-François Lyotards und die von Mikhail Bachtin geprägten Begriffe von Karneval, Heteroglossie und Dialogizität. Die von mir in Betracht gezogenen Romane bieten allerdings keine so intensive Beschäftigung mit dem Schreiben und Lesen von Texten an, wie es z. B. bei A. S. Byatts Possession der Fall ist. Kontrafaktische Versionen der Geschichte sind hier auch nicht zu finden. Ziel dieses Beitrags ist es jedoch nahezulegen, dass diese populären Romane naturgemäß auch Kinder ihrer Epoche sind. Insbesondere werde ich darlegen, wie diese Texte den Einfluss der Postmoderne aufweisen, sowohl in dem Bild vom antiken Rom, das sie vermitteln, als auch in ihrem Umgang mit den antiken Texten und in ihrem nicht geringen Maß an Selbstreflexivität.6 Eine Bemerkung Ansgar Nünnings ist ferner von besonderer Relevanz: Diese (scil., in neueren historischen Romanen und Dramen revisionistischen Geschichtsauffassungen) verlagern den Akzent vom Öffentlichen auf das Private, messen der Wahrnehmung des historischen Geschehens im Bewußtsein durchschnittlicher Figuren größere Bedeutung bei und dezentrieren das ›große‹ historische Geschehen. Zum anderen ziehen innovative Erscheinungsformen dieser Genres vielfach die Grundannahmen positivistischer Historiographie und Biographie in Zweifel, indem sie sich in Form von metahistoriographischen Reflexionen mit den Prozessen historischer Sinnbildung sowie den Problemen geschichtlicher Erkenntnis auseinandersetzen.7

_____________ 2 3 4 5 6 7

Fleishman (1971), 255. Geppert (1976), 8 und 36. Kebbel (1992), 18–19. Vgl. Wesseling (1991) und Menton (1993). Zu diesem Begriff im Zusammenhang mit der Filmgeschichte sowie mit der Literatur Stam (1992). Nünning (2002), 545–546.

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Wie wir sehen werden, trifft dies fast gänzlich sowohl auf Catilina’s Riddle als auch auf Pompeii zu. Kurzum: Man kann diese Romane als Beispiele für die postmoderne Tendenz zur historiographischen Metafiktion betrachten.8

II. Die Hauptfigur und zugleich der Erzähler in Steven Saylors Catilina’s Riddle (1993) ist Gordianus, eine Art Privatdetektiv, der auch in anderen Romanen von Saylor vorkommt. Hier wird er gegen seinen Willen in die wirren Geschehnisse des Jahres 63 v. Chr. verwickelt. Gleichzeitig muss er ein blutiges Rätsel lösen, nachdem erst eine, dann eine zweite und später eine dritte kopflose Leiche bei ihm zu Hause auftaucht. Nachdem Gordianus Catilina kennenlernt, beschleicht ihn der Verdacht, dass dieser etwas mit den Morden zu tun hat. Gordianus ist Catilina gegenüber ohnehin skeptisch wegen dessen Ruf als Revolutionär, aber allmählich findet er in ihm einen faszinierenden, komplizierten, letzten Endes attraktiven und geheimnisvollen Menschen. Cicero hingegen, so wie Gordianus ihn narratologisch fokalisiert, erscheint als ein unsympathischer, ambitiöser, prüder Mann, der höchstwahrscheinlich die von Catilina und seinen Verbündeten ausgehende Gefahr übertreibt, um seine eigene politische Position zu stärken. Am Ende nimmt Gordianus zusammen mit seinem Sohn Meto überraschenderweise an Catilinas letzter Schlacht an dessen Seite teil; sie sind die einzigen Überlebenden. Erst dann findet Gordianus heraus, dass die drei kopflosen Leichen in Wahrheit nichts mit Catilina zu tun hatten, sondern mit seiner verbitterten Nachbarin Claudia, die im Laufe des Romans darüber hinaus ihren eigenen Sklaven umbringt und vorübergehend Gordianus’ Tochter Diana entführt, abschließend jedoch ihre gerechte Strafe erfährt. Aber das namengebende Rätsel des Catilina – was für ein Mensch war er und was waren seine Beweggründe? – bleibt am Ende des Romans ungelöst. Robert Harris’ Roman Pompeii (2003) spielt in den Tagen vor und während des katastrophalen Ausbruchs des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. Die Hauptfigur ist ein fiktiver Wasserbau-Ingenieur (aquarius) namens Attilius, aber auch viele historische Figuren, unter ihnen Plinius der Ältere, spielen eine zentrale Rolle. Attilius ist von Rom nach Pompeji gekommen, um den Spuren seines auf unerklärte Weise verschwundenen Berufskollegen Exomnius nachzugehen. Dabei wird er sich zunehmend dessen bewusst, dass mit dem Aquädukt (der Aqua Augusta) etwas nicht stimmt. Außerdem lernt er die schöne junge Corelia kennen, Tochter des mächtigen und korrupten Freigelassenen Numerius Popidius Ampliatus. Attilius bemerkt, dass die Probleme mit dem Aquädukt im Zusammenhang mit beunruhigenden natürlichen Erscheinungen stehen: In den letzten Tagen hat man näm_____________ 8

Zum Begriff »historiographic metafiction« Hutcheon (1988).

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lich leichte Erdbeben und Schwefel im Wasser erlebt. Die Katastrophe kommt, wie sie kommen musste: Der Vesuv bricht aus, ganz Pompeji wird verschüttet, und fast alle im Roman vorkommenden Figuren sterben, einschließlich des älteren Plinius sowie des Freigelassenen Ampliatus. Zwei Überlebende sind Plinius der Jüngere, Neffe des älteren Plinius (später schreibt er seine berühmten Briefe an den Historiker Tacitus, in denen er die Katastrophe schildert), und die Hauptfigur Attilius selbst, der in den letzten Zeilen des Romans zusammen mit Corelia aus der zerstörten Stadt entkommt.

III. Das Vergangenheitsbild, das durch einen jeden historischen Roman vermittelt wird, ist selbstverständlich tief geprägt von der kulturellen Umgebung, in der er entstanden ist. In diesem Sinne geht es mir nicht darum, die durch die Romane von Saylor und Harris vermittelten Vergangenheitsbilder auf ihre historische Exaktheit hin zu prüfen. Stattdessen möchte ich als ersten Schritt einige Aspekte dieser Antikenbilder hervorheben, die besonders typisch für das ausgehende 20. Jahrhundert sind. Denn zum einen spiegeln diese Antikenbilder aktuelle Debatten über die Antike wider, zum anderen legen sie den Akzent auf Fragen, die in früheren historischen Romanen über die klassische Antike kaum gestellt wurden. Galt das Interesse in vielen Romanen des 19. Jahrhunderts beispielsweise dem Aufstieg des Christentums, der implizit oder explizit als ein Sieg über die verfallene heidnische Kultur dargestellt wurde, spielen in neueren historischen Romanen Themen wie Klassenstruktur (insbesondere Sklaverei), Sexualität und Technik eine zentrale Rolle. In Catilina’s Riddle wie in Pompeii wird die Brutalität der Sklaverei in der römischen Antike stark hervorgehoben und wiederholt den Lesern nahegebracht, sei es durch zufällige Bemerkungen in den Dialogen, sei es durch die erzählten Handlungen selbst. So lässt z. B. ein erbarmungsloser Herr seinen Sklaven stundenlang als eine menschliche Vogelscheuche in einem Acker stehen (Saylor, 161); so sagt der Aristokrat Publius Claudius, während er eine junge Sklavin vor Gordianus’ Augen sexuell nötigt: Wer mehr Sklaven haben wolle, der könne sie einfach »erschaffen«: »You can make your own slaves« (Saylor, 88–89). Schockierend ist ein frühes Kapitel von Harris’ Roman, in dem das brutale Töten eines Sklaven wegen einer nebensächlichen Fahrlässigkeit geschildert wird. Man wirft den Sklaven in einen Teich voller Aale, die ihn dann in Anwesenheit von Ampliatus und von anderen Schaulustigen überfallen, zerfleischen und nur teilweise auffressen. Anschließend wird die alte Mutter dieses Sklaven verprügelt und auf die Straße geworfen. Bezeichnenderweise hat der ehemalige Sklave Ampliatus das Ganze veranlasst, um – wie er meint – wie ein Aristokrat aufzutreten, denn: »This was how he thought an aristocrat should behave« (Harris, 16; vgl. 56: »It was a fact of life that there was no crueler master than an ex-slave«). Kurzum,

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man kann hinsichtlich der Sklaverei ein berüchtigtes, von Gordianus selbst angeführtes Cato-Zitat wiederum zitieren. In der in diesen Romanen geschilderten Welt sind nämlich Sklaven eine Art »menschliche Werkzeuge«, die solange benutzt werden sollen, bis sie kaputtgehen (Saylor, 245: »Slaves are human tools to be used until they break«; vgl. Cato, agr. 2,7.). Der moderne Umgang mit der antiken Sexualität scheint die These von Michel Foucault über den Diskurs der Sexualität in der abendländischen Kultur der letzten zwei Jahrhunderte durchaus zu bestätigen. Foucault schildert nämlich eine dialektische Kombination von Repression einerseits und intensivem, fast krankhaftem Interesse andererseits.9 Nachdem jahrzehntelang die literarischen sowie wissenschaftlichen Darstellungen vom Leben in der Antike durchaus von der Verdrängung des Sexuellen geprägt waren, hat das Thema neuerdings eine Explosion sowohl in der Wissenschaft10 als auch in den populären Darstellungen der Antike erlebt. Unverkennbar ist das Bild der römischen Kultur, das in den hier berücksichtigten Romanen vermittelt wird, von den Fragestellungen und Ansätzen der klassischen Altertumswissenschaft der letzten zwei Jahrzehnten geprägt. Dies lässt sich nicht nur an der mittlerweile beinahe obligatorisch gewordenen expliziten Darstellung von verschiedenen Geschlechtsakten erkennen, sondern auch an der Hervorhebung eben derjenigen Aspekte von Diskursen der Sexualität, die man als typisch für die Antike und zugleich als fremd für die Moderne bezeichnen kann. Hervorgehoben werden z. B. die Rolle der Sklaven als sexuelle Gegenstände, die ihren Herren zur Verfügung stehen; die relative Belanglosigkeit des Unterschieds zwischen homosexueller und heterosexueller Begierde sowie die phallische Penetration als Leitbegriff in römischen Diskursen über die Sexualität; die Allgegenwart von phallischen Bildern und Gegenständen im Alltagsleben. Eine Szene von Catilina’s Riddle, die den sexuellen Gebrauch bzw. Missbrauch einer Sklavin den Lesern nahebringt, wurde schon erwähnt. Was die fließenden Grenzen zwischen homo- und heterosexueller Begierde angeht: Gordianus selbst, nachdem er mit seiner ehemaligen Sklavin und jetzigen Frau, der Ägypterin Bethesda, geschlafen hat, sinnt der Schönheit des jungen M. Caelius Rufus aber auch des Catilina nach und meint: Beauty is beauty no matter what the gender. Beauty brings universal pleasure to the eye. […] These thoughts unfurled and my imagination drifted into a world of pure flesh, as I find often happens just before sleep. (Saylor, 57)

Dieses Motiv wird sozusagen auf den Höhepunkt gebracht, wenn Catilina, nackt und erotische Anziehungskraft ausstrahlend, mit einem ebenso nackten Gordianus im Freien liegt. Über mehrere Seiten hinweg erörtert Catilina römische Auffassungen der Sexualität, deutet auf seine eigenen, offensichtlich reichlichen Erfahrungen in diesem Bereich hin und hänselt Gordianus auf nahezu kokette Weise _____________ 9 Foucault (1978). 10 Zur römischen Sexualität siehe unter anderem Johns (1982); Cantarella (1988/1992); Richlin (1992); Hallett/Skinner (1997); Williams (1999); Langlands (2006).

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wegen dessen Zurückhaltung in Sachen Eros (Saylor, 313–319). In ähnlicher Weise rücken in Pompeii drei Aspekte der antiken Welt, die bis vor kurzem in historischen Romanen über die Antike kaum oder überhaupt nicht vorkamen, wiederholt ins Zentrum der Aufmerksamkeit: die Prostitution (besonders bemerkenswert ist die reichlich konkret geschilderte Szene im Bordell, Harris, 147– 148.; vgl. ebd. 75–76, 96, 160), Sex zwischen Männern (anders als bei Saylors wird dies jedoch ausschließlich im Zusammenhang mit der sexuellen Benutzung von Sklaven durch ihre Herren geschildert: Harris, 80, 102–103, 117, 145, 206, 259) und die in der Antike allgegenwärtigen phallischen Gegenstände (beispielsweise Windspiele und Wandzeichnungen: Harris, 70, 85, 147, 162). Die Technik stellt einen weiteren Aspekt der antiken Kultur dar, der zunehmend Gegenstand sowohl altertumswissenschaftlichen als auch populären Interesses ist. Es ist also kaum verwunderlich, dass die Technik eine wichtige Stelle im Antikenbild einnimmt, das durch die beiden Romane vermittelt wird. In Pompeii bildet die Aqua Augusta ein Leitmotiv, und detaillierte Schilderungen des Aquädukts sowie anderer Aspekte des römischen Hoch- und Tiefbaus sind in vielen Kapiteln des Romans zu finden. Einen roten Faden in Catilina’s Riddle bildet die Wassermühle, die Gordianus über lange Zeit hinweg mit großer Hingabe entwirft und schließlich auf seinem Landgut erbauen lässt. Auffällig dabei ist, dass diese für moderne Verhältnisse bewundernswerte Leistung in der Erzählung auf eine grundsätzliche Ablehnung stößt. Die Aristokratin Claudia weist nämlich die Mühle als »that absurd contraption« schroff zurück (Saylor, 439), und ihr Cousin Manius Claudius lässt den Bau schließlich abreißen, denn: »Such an abomination is an insult to the institution of slavery!« (Saylor, 459). Eine derartige Ablehnung, die eng mit der zentralen Rolle der Sklaverei verbunden ist, entspricht einer einflussreichen, im Laufe des 20. Jahrhunderts viel diskutierten These zur Technik in der antiken Kultur ziemlich genau.11 Von besonderer Relevanz ist ferner die in den letzten Jahrzehnten aufgestellte These, dass Wassermühlen dieser Art, obwohl sie in den antiken Textquellen unerwähnt blieben, zur Zeit Ciceros tatsächlich gebaut wurden.12 Indem also Saylors Text eine Wassermühle erst erbauen, später jedoch zerstören lässt (was zum Ergebnis führt, dass diese technische Leistung keine Spuren in den Protokollen der Geschichte hinterlässt), spielt er auf unverkennbare Weise mit Fragen des historischen Wissens. Dabei handelt es sich um einen für diesen Text typischen Kunstgriff, auf den wir später zurückkommen werden. Im Pompeji-Roman wird ein anderer, genauso erwähnenswerter Kunstgriff im Zusammenhang mit der Rolle der Technik wiederholt eingesetzt. Jedes Kapitel beginnt nämlich mit einer Zeitangabe, erst auf Latein, dann auf Englisch mit den jeweiligen Uhrzeitrechnungen ausgedrückt. Anschließend wird aus einer neuzeit_____________ 11 Zu dieser von M. Rostovtzeff aufgestellten These siehe vor allem die Erläuterungen von Schiavone (1996/2000). 12 Vgl. Wikander (1984) sowie (2000).

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lichen, naturwissenschaftlichen Schilderung des Vulkanausbruchs des Jahres 79 samt Quellenangabe zitiert. Erst dann fängt die eigentliche Erzählung an, durch unterschiedliche Romanfiguren fokalisiert. Folgender Kapitelanfang stellt ein typisches, allerdings besonders aussagekräftiges Beispiel dar: Hora sexta. [12:57 hours] The surface of the volcano ruptured shortly after noon allowing explosive decompression of the main magma body […]. The exit velocity of the magma was approximately 1440 km per hour (Mach 1). Convection carried incandescant [sic!] gas and pumice clasts to a height of 28 km. Overall, the thermal energy liberated during the course of the entire eruption may be calculated using the following formula: Eth = V • d • T • K […] Thus the thermal energy released during the AD 79 eruption would have been roughly 2 × 1018 joules – or about 100,000 times that of the Hiroshima atomic bomb. (Dynamics of Volcanism) Afterwards, whenever they compared their stories, the survivors would always wonder at how differently the moment had sounded to each of them. A hundred and twenty miles away in Rome it was heard as a thud, as if a heavy statue or a tree had toppled. Those who escaped from Pompeii, which was five miles downwind, always swore they had heard two bangs, whereas in Capua, some twenty miles distant, the noise from the start was a continuous, tearing crack of thunder […]. (Harris, 262)

Das Nebeneinander unterschiedlicher diskursiver Ebenen fällt auf, denn in rascher Folge spricht der Text die Sprache der lateinischen zwölfstündigen Uhrzeitrechnung, des modernen 24-stündigen Systems sowie der modernen Geologie und Physik und stellt abschließend die Erfahrungen und Perspektiven von Romanfiguren dar, die im Jahre 79 n. Chr. in Pompeji lebten. Dies bildet meines Erachtens ein klares, allerdings in verkleinertem Maßstab konstruiertes Beispiel der Bachtinschen Begriffe von Heteroglossie und Dialogizität. Bezeichnend ist unter anderem der stilistische Kontrast auf lexikalischer Ebene zwischen Ausdrücken wie »2x1018 joules« und der mathematischen Gleichung einerseits, äußerst konkreten Wörtern wie »a thud«, »two bangs« und »a tearing crack of thunder« sowie dem genauso konkreten Vergleich »as if a heavy statue or tree had toppled« andererseits. Solche narrativen Verfahren finden sich am Beginn eines jeden Kapitels und tragen dadurch zum Leseerlebnis maßgeblich bei.

IV. Von besonderem Interesse für das Thema des Sonderforschungsbereichs »Transformationen der Antike« ist die inzwischen zu Tradition, sogar Klischee gewordene Darstellung vom antiken Rom als von einer mächtigen Kultur am Rande des

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Untergangs.13 Inwiefern werden nun die Romane von Saylor und Harris vom Bild des verfallenden, zum Kollaps bestimmten Rom gekennzeichnet? Moralisch verworfene Aristokraten kommen zwar vor (z. B. Publius Claudius und seine Cousine Claudia in Catilina’s Riddle), und in Pompeii werden durchaus korrupte Verhältnisse im Gemeinwesen (z. B. die Machtstrukturen um den Freigelassenen Ampliatus herum) auf unvergessliche Weise geschildert. Vor allem in Harris’ Roman sind außerdem klischeehafte Darstellungen einer luxuriösen Ausschweifung zu finden, beispielsweise in der Schilderung eines üppigen Gastmahls, das einige Gäste sogar in einen Zustand der Übelkeit versetzt und das sich explizit an das berühmte Bankett von Trimalchio in Petrons Satyricon anlehnt (143–144, siehe unten). Diese Anspielungen auf Dekadenz sind jedoch letzten Endes verstreute Einzelheiten bzw. Verzierungen der beiden Erzählungen. Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass diese Romane – genauer gesagt: die Perspektive ihrer Erzähler sowie der Inhalt ihrer Handlungen – das Bild von einer ganzen Kultur am Rande des Verfalls kaum vermitteln. Im Falle von Saylors Roman ist dies allerdings insofern historisch bedingt, als er in der späten Republik spielt. So findet man hier im Laufe der Schilderung der konsularen Wahlen Anspielungen auf einen vermeintlichen Verfall der politischen Strukturen der römischen Republik (199, aus einem Dialog zwischen einem Redner und einem Bürger: »It’s attitudes like that that are ruining the Republic.« – »It’s Romans who are ruining the Republic, because they’ve grown soft and lazy.«) Dabei handelt es sich hauptsächlich um Fragen des politischen Systems, nicht jedoch um den Zerfall einer ganzen Zivilisation, obwohl die Behauptung, die Römer seien weich und faul geworden, offensichtlich in diese Richtung weist.14 Einige auffällige paratextuelle Elemente im Roman von Robert Harris, der ja in der römischen Kaiserzeit spielt, sorgen im Gegenteil dafür, dass diese Thematik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.15 Obwohl es sich bei dem Ausbruch des Vesuvs letztendlich um die Zerstörung von nur zwei Kleinstädten am Golf von Neapel handelte und obwohl die Großstadt Rom sowie die römische Kultur _____________ 13 Zu dieser Thematik im modernen Film Wyke (1997); Winkler (2001); Cyrino (2005). 14 Ganz anders als bei Pompeii (siehe unten) machen paratextuelle Elemente wie z. B. Umschlagtexte überhaupt nicht auf Themen des Verfalls bzw. der Dekadenz aufmerksam, sondern vielmehr auf den Erfolg des Romans als Unterhaltungsliteratur bzw. Krimi (»gripping and entertaining […] an addictive mystery«) sowie auf seine historische Treue (»page after page of authentic detail and meticulous descriptions«). 15 Ich benutze hier den von Gérard Genette geprägten Begriff des Paratextuellen, um außererzählerische Elemente zu bezeichnen, die wichtige Bestandteile des Buches und somit des Leseverfahrens sind (Genette [1987/2001]). In diesem Fall handelt es sich um den Text auf dem Rückumschlag und um die Kleintexte bzw. Ausschnitte aus Rezensionen zum Buch, die auf den ersten Seiten vor der eigentlichen Erzählung abgedruckt sind – dies allerdings nur im Zusammenhang mit der englischsprachigen Taschenbuchausgabe. Der Hardcover-Ausgabe sowie der deutschen Übersetzung fehlen die hier in Betracht gezogenen paratextuellen Elemente ganz, was wiederum interessante Fragen nach verschiedenen Leserschaften und deren Leseerlebnissen aufwirft.

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überhaupt noch einige Jahrhunderte lang fortlebte, ja blühte, reden die Paratexte zu Harris’ Roman vom Verfall und Niedergang einer ganzen Zivilisation. Robert Harris brilliantly recreates a luxurious world on the brink of destruction (Rückumschlag) the corruption and arrogance of a dying era (Zitat aus The Good Book Guide) the ancient world on the brink of disaster (Zitat aus Booklist)

Hier wird der Blickwinkel verschiedener Figuren, sowohl aus dem Roman als auch aus antiken Texten, übernommen und neu angewendet. In einem berühmten Brief vom jüngeren Plinius lesen wir, dass an jenem katastrophalen Tag des August 79 n. Chr. viele Anwesende meinten, das Ende der Welt sei gekommen. multi ad deos manus tollere, plures nusquam iam deos ullos aeternamque illam et novissimam noctem mundo interpretabantur. (Plin. Epist. 6,20,15) possem gloriari non gemitum mihi, non vocem parum fortem in tantis periculis excidisse, nisi me cum omnibus, omnia mecum perire, misero magno tamen mortalitatis solacio credidissem (ebd. 17).

Diese Perspektive – von Plinius erst »vielen Menschen« (plures), dann sich selbst (nisi credidissem) zugeschrieben – wird in Harris’ Roman auf die Hauptfigur und Erzähler Attilius übertragen und dadurch erheblich verschärft. A man near Attilius moaned repeatedly in Latin that it was the end of the world – and that, indeed, is what it felt like to the engineer. Nature had reversed herself so that they were drowning beneath rock in the middle of the sea, drifting in the depths of night during the bright hours of the day. [Harris, 294, Hervorh. C. W.] He strained his eyes towards Pompeii. Who was to say that the whole world was not in the process of being destroyed? That the very force which held the universe together – the logos, as the philosophers called it – was not disintegrating? [Ebd. 310, Hervorh. C. W.]

In den oben zitierten paratextuellen Elementen wird jedoch die Aufmerksamkeit nicht auf einen befürchteten, unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang, sondern auf vermeintliche historische Prozesse gelenkt: Statt omnia perire bzw. »the end of the world« geht es hier um »a luxurious world on the brink of destruction« oder »the ancient world on the brink of disaster«. Dieses Bild von einer antiken, luxuriösen Welt am Rande des Untergangs wird außerdem zu einer Metapher für gegenwärtige weltpolitische Verhältnisse, mit besonderem Blick auf die Vereinigten Staaten. Diese nicht gerade originelle Nutzung der Antike wird in Pompeii durch einige außerordentlich starke paratextuelle Elemente vermittelt. Auf den ersten Seiten des Buches und auf dem Rückumschlag lesen wir zum Beispiel folgende Kleintexte: In the post-eruption sequences – chillingly, viscerally described – the novelist makes explicit implied connection with September 11 […]. Readers will be reminded here

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Craig Williams not of their school history books but of newspaper front pages just two years old. (Mark Lawson, The Guardian)16 a believable portrayal of life in ancient Rome, with no small lesson for our own time (The Economist).

In einem vermutlich von Harris selbst stammenden, zwischen der Titelseite und einer Seite mit einem Plan des Golfs von Neapel gedruckten Paratext, lesen wir zudem folgende drei Zitate: (1) Von Tom Wolfe zum Thema ›American superiority in all matters of science, economics, industry, politics […]‹ im ausgehenden 20. Jahrhundert (2) Von Plinius dem Älteren über die Größe und Schönheit des antiken Italien (3) Von einer Studie zu den römischen Aquädukten, aus der hervorgeht, dass im ersten Jahrhundert n. Chr. die Stadt Rom über eine wesentlich bessere Wasserversorgung verfügte als im Jahr 1985 die Stadt New York.

Wir haben gesehen, dass innerhalb der Erzählung die Thematik der Dekadenz und des kulturellen Verfalls höchstens gestreift wird und dass es sich im Grunde genommen um vereinzelte Figuren und Szenen handelt. Dennoch unterstreichen diese paratextuellen, teilweise dem Autor zuzuschreibenden Bestandteile des Buches genau diese Thematik und ziehen zugleich eine Parallele mit der amerikanischen Kultur einerseits und mit der symbolprächtigen Großstadt New York andererseits. Diese paratextuellen Elemente wiederum ermöglichen, vielleicht erzwingen eine Lektüre des Romans, die solche Verbindungen herstellt, und zwar im Sinne eines für die Postmoderne typischen Diskurses des Verfalls. Dass die altrömische Kultur, insbesondere das römische Kaiserreich, als Vorbild respektive Mahnung dienen kann, ist dabei längst zum Gemeinplatz oder sogar zum Klischee geworden. Schließlich lässt sich feststellen, dass die Nutzung der Antike in diesem Roman eine Verbindung zwischen einer Naturkatastrophe in der Antike einerseits und zwei menschlich verursachten Katastrophen in der Moderne andererseits mit sich bringt. Wir haben bereits gesehen, wie an einem Kapitelanfang eine ausdrückliche Parallele zwischen dem Ausbruch des Vesuvs und der Atombombe von Hiroshima gezogen wird (Harris, 262–264). Hinzu kommt das oben angeführte, aus dem Guardian stammende Zitat, das auf die Geschehnisse des 11. September 2001 verweist. Dadurch wird eine Lektüre des Romans, besonders der Schilderungen der Zerstörungen nach dem Vulkanausbruch, auffällig vielschichtig. Nehmen wir zum Beispiel folgende Zeilen der Erzählung: _____________ 16 Die Behauptung, »the novelist makes explicit implied connection with September 11«, ist ebenso merkwürdig wie oxymoronisch. In welchen Zusammenhängen außerhalb dieses Textes soll die Verbindung zum 11. September »implizit« gewesen sein? Ferner ist es keineswegs der Fall, dass Harris selbst diese Verbindung ausdrücklich herstellt, denn weder innerhalb der Erzählung noch in den vom Autor stammenden Paratexten gibt es irgendeinen ausdrücklichen Hinweis auf den 11. September. Eben nur in diesem Guardian-Zitat wird die Verbindung explizit, indem ein und derselbe Paratext behauptet, der Autor Harris stelle die Verbindung explizit her.

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The further he (Attilius) went the more clogged the road became, and the more pitiful the state of the fleeing population. Most were coated in a thick grey dust, their hair frosted, their faces like death masks, spattered with blood. Some carried torches, still lit: a defeated army of whitened old men, of ghosts, trudging away from a calamitous defeat, unable even to speak. (Harris, 271)

Der intendierte Leser des gesamten Buches, mit anderen Worten sowohl der paratextuellen Elemente als auch der Erzählung, wird an die seit dem 11. September 2001 im Fernsehen und in den Druckmedien vielfach verbreiteten Bilder denken, auf denen man die aus Downtown Manhattan fliehenden Menschen sieht: »coated in a thick grey dust, their hair frosted, their faces like death masks«, auf der Brooklyn Bridge »trudging away from a calamitous defeat«. Somit entsteht die Möglichkeit einer Wechselwirkung, welche diese zeitlich wie räumlich voneinander verschiedenen Bilder vermischt bzw. durcheinanderwirft. Stellt der Text eine Verbindung zum 11. September einmal her, so können die Menschen in Pompeji – vor allem wenn man ihre körperlichen Überreste in Form von den Gipsabdrücken betrachtet, die noch vor Ort am Forum, in Badehäusern und anderswo liegen aber auch im Archäologischen Museum von Neapel ausgestellt sind – zu Vorgriffen bzw. zu symbolischen Vorfahren der Menschen in New York werden. Letztere wiederum – ob diejenigen, die tatsächlich unter dem World Trade Center verschüttet wurden oder diejenigen, die verzweifelt aus Manhattan flohen und dabei in Fotografien verewigt wurden – können als Wiederholungen bzw. Reinkarnationen der antiken Menschen konstruiert werden.17 Es entstehen also vielschichtige Umdeutungsmöglichkeiten, die Antike und Moderne verbindet und vermischt. So können die Menschen von Pompeji als antike Versionen der New Yorker konstruiert werden; die mit Asche Überstreuten von Manhattan als neuzeitliche Versionen der Pompejaner; der sonnige Septembermorgen 2001 als neueste Variante jenes Augusttages im Jahre 79 n. Chr. So kann eine Lektüre dieses Romans Pompeji und New York, das römische Kaiserreich und die amerikanische Hegemonie, fiktionalisierte Geschichte und mediale Berichterstattung zusammenbringen. Um es anders zu formulieren: Es entsteht eine Assoziationskette, die von Pompeji über Hiroshima bis zum World Trade Center führt, von einer Naturkatastrophe also, der Tausende Menschen zum Opfer fielen, bis zu zwei menschlich herbeigeführten Katastrophen, denen wiederum Tausende, ja Hunderttausende Menschen zum Opfer fielen – wobei die Frage nach Opfern und Tätern besonders brisant ist. Denn im Falle von Hiroshima werden die USA nicht selten als Täter dargestellt, im Falle des World Trade Center dagegen weithin als Opfer, das jedoch rasch wiederum zum Täter geworden ist. Nun sind in Pompeii solche Reflexionen über Natur und Kultur, Opfer und Täter höchstens implizit vorhanden. _____________ 17 Die Parallele ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden; so fühlt sich der Fotograf Joel Meyerowitz an Bilder von Pompeji erinnert (Meyerowitz [2006]). Eine Google-Suche nach den Begriffen »World Trade Center« und »Pompeii« bzw. »Pompeji« ergibt tausende Treffer.

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Explizit hingegen, jedenfalls in den oben zitierten paratextuellen Elementen, ist die Figuration der Zerstörung zweier Kleinstädte im Jahr 79 n. Chr. als Untergang einer ganzen Zivilisation – obwohl dieser Untergang genau genommen erst mehrere Jahrhunderte später stattgefunden hat – und zugleich die Figuration dieses erst später geschehenen antiken Untergangs als der noch nicht stattgefundene Untergang der zeitgenössischen abendländischen Zivilisation.

V. Typisch für postmoderne Literatur ist ein selbstreflexives Spiel mit dem Entstehen und Fortleben von Texten und mit der eigenen Fiktionalität bzw. Textualität. In dem am Ende von Catilina’s Riddle gedruckten »Author’s Note« findet man folgenden pointierten Satz, der wie eine Zusammenfassung der postmodernen Literatur klingt: »Books beget books« (462). So geht es in A. S. Byatts Possession um zwei erfundene Dichter des 19. Jahrhunderts und um die Genese ihrer Werke. Auszüge aus den Briefen, Tagebüchern und Gedichten der beiden Dichter – alle von Byatt selbst stammend – durchdringen den Roman, ja liefern seine Grundstruktur in Abwechslung mit der Haupterzählung, die im späten 20. Jahrhundert spielt. Ähnlich ist die »collage technique«, die viele Romane der Postmoderne kennzeichnen: In den Worten von Elisabeth Wesseling sind diese Romane »almost entirely made up of quoted documents, which comprise invented pseudodocuments and/or authentic materials«.18 Dies lässt sich zugegebenermaßen weder von Catilina’s Riddle noch von Pompeii behaupten. Beide Romane bestehen aus einer kontinuierlichen einstimmigen Erzählung; beide zitieren zwar aus antiken Texten und Inschriften, also aus »quoted documents«, aber diese werden als historisch verlässliche Dokumente vorgestellt und in eine klare, eigenständige Struktur eingefügt. Dennoch findet man in diesen Romanen einen spielerischen, unverkennbar postmodernen Umgang mit ihrer eigenen Textualität und mit Texten überhaupt. Den Höhepunkt der Handlung in Catilina’s Riddle bildet die Beschreibung von Catilinas letzten Stunden. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist die Rede, die er vor seinen Männern unmittelbar vor der fatalen Schlacht hält und die wir im Bellum Catilinae des antiken Historikers Sallust vorfinden. Denn darin steckt ein Rätsel, da ein und derselbe Sallust berichtet, dass Catilinas Männer – vermutlich die einzigen, die bei der Rede anwesend waren – alle ausnahmslos in der Schlacht gefallen sind.19 Im Sinne seines vielsprechenden Titels macht der Roman auf dieses Rätsel aufmerksam. Erstens baut die Erzählung eine _____________ 18 Wesseling (1991), 122–125, mit besonderem Hinblick auf Romane wie The White Hotel, Der kurze Sommer der Anarchie und Schlachtbeschreibung. 19 Catilinas letzte Rede: Sall. Cat. 57–58; seine letzte Schlacht, ebd. 61.

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gewisse Spannung darüber auf, ob Gordianus bei Catilinas Rede anwesend sein wird oder nicht. You’ve arrived just in time. Imagine if you had missed my speech, you’d never forgive yourself! (Saylor, 406; Catilina an Gordianus) I can’t miss the speech. (Saylor, 408; Meto an Gordianus)

Anschließend gehen sowohl Gordianus als auch sein Sohn Meto zu Catilina, hören seine letzte Rede, kämpfen an seiner Seite und gehen aus der Schlacht als die einzigen Überlebenden hervor. Kurz darauf teilt jedoch der augur Messalla Rufus, eine wohlgemerkt historische Figur, Gordianus und Meto mit, dass er sie aus den Akten sowie aus den amtlichen Darstellungen von Catilinas letzter Schlacht verschwinden lassen wird. Außerdem lässt er durchblicken, dass Julius Cäsar höchstpersönlich dies veranlasst hat. Rufus smiled. Certain privileges are allowed to an augur who represents the Pontifex Maximus [sc., Julius Caesar] himself. Let us say that, like nepenthes, I have been able to induce forgetfulness. Officially neither of you ever existed. No prisoners were taken at the battle of Pistoria; every one of Catilina’s men died in combat. So the Senate will be told, and so the historians will record it. (Saylor, 421)

Und so ist es in der Tat geschehen. Die Erzählung lässt also die (fiktive) Figur Gordianus zum Zeugen einer tatsächlich gehaltenen Rede werden, tilgt ihn jedoch durch die (historische) Figur Messalla Rufus in den Protokollen der Geschichte. Wie erklärt nun die Erzählung die Tatsache, dass Sallust eine Version von Catilinas letzter Rede doch niederschreiben konnte? Den dringlichen Bitten Ciceros im letzten Kapitel des Romans nachgebend, diktiert Gordianus die Rede Tiro, dem Sekretär von Cicero. Hier Gordianus’ Gedankengang: Why should I let those words be lost forever? What other legacy of him would survive? No statues of Catilina would ever be erected in Rome; no histories would ever be written to glorify him; he had left no son to carry on his name or his cause. In a few years all that would remain of Catilina would be a series of speeches vilifying him before all the world. (Saylor, 450–451)

Während der Rede hatte Gordianus selbstverständlich keine Notizen festgehalten; so weist denn die Erzählung darauf hin, dass dieser ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen hat. Also diktiert er Catilinas letzte Rede aus dem Kopf und also kommt es – darauf läuft die implizite Logik der Erzählung hinaus – dass Sallust im Laufe der Zeit eine schriftliche Version von Catilinas Rede erhält und seinen Lesern, von der Antike bis heute, übermitteln kann. Trotz Gordianus’ Bemühungen hat sich jedoch das von ihm befürchtete Schicksal Catilinas weithin erfüllt: »All that would remain […] would be a series of speeches vilifying him before all the world«. In der Tat haben Ciceros giftige Reden und Sallusts moralisierende Überlegungen zum modernen Catilina-Bild maßgeblich beigetragen. Saylors Roman versucht, dieses Bild zu korrigieren, und

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macht dabei die Problematik unseres Wissens über ihn zum Hauptthema der Erzählung. Die letzten Worte des Romans, aus einem Brief von Gordianus an seinen Sohn, werfen genau diese Fragen auf und erinnern den Leser zugleich an den Titel des Buches: What a waste, I sometimes think, to have spent my precious time with him (sc. Catilina) suspecting and resisting him! But another part of me says: What if you had supported him, given yourself to him heart and soul – toward what end? An even more skeptical part still doubts everything about Catilina and suspects he was nothing more than a very charming and very desperate charlatan, no different from the rest. […] I live with doubt and regret, sustained by the love of those close to me, bemused by such ironies as Cicero’s exile and Claudia’s fate, and I continue to ponder, as I know you must, Catilina’s riddle. (Saylor, 460)

Ebenso wird im paratextuellen, am Ende des Buches gedruckten »Author’s Note« (Saylor, 461–463) die Problematik unseres Wissens über Catilina, implizit aber auch über die Antike überhaupt, erörtert. Einführend stellt der Autor fest: »Few figures in history have attracted more controversy than Lucius Sergius Catilina«. Anschließend macht er darauf aufmerksam, dass »the problem with Catilina lies in the primary sources, which are severely biased against him«, und schlägt vor, dass »the reader is ultimately free to question Gordianus’s perceptions and his conclusions, as does Gordianus himself«. In den letzten Worten des »Author’s Note«, also in den allerletzten Worten des Buches, bedankt sich Saylor schließlich bei »Rick Solomon, the Master of the Macintosh and all its mysteries«. Damit verlässt uns dieser Text mit einem Hinweis auf die zentrale Thematik des Rätselhaftigen und Geheimnisvollen, des Wissens und des Unwissens. An dieser Stelle soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass das Weiterleben von Catilinas letzter Rede nur für die Moderne ein Rätsel darstellt, das einer Lösung bedarf. Denn in der antiken Geschichtsschreibung wurde ausdrücklich nicht davon ausgegangen, dass die in historiographischen Texten enthaltenen Reden worttreue Niederschriften sind.20 Ferner kann man aus Sallusts Bericht über Catilinas Tod eine Andeutung darauf herauslesen, dass nicht alle, die bei der Rede anwesend waren, tatsächlich in der letzten, blutigen Schlacht starben; vielleicht sind einige Sklaven entkommen.21 Man darf also behaupten, dass Saylors Roman dieses Rätsel deshalb aufbaut, um es anschließend lösen zu können. Insofern handelt es sich um einen Grundzug des Textes, denn im Sinne seines Titels beschäftigt sich dieser Roman grundsätzlich mit Rätseln. Eins von den zwei Haupträtseln – was für ein Mensch war Catilina und was waren seine Beweggründe? – ist von nicht geringem historischen Belang, muss jedoch, wie wir gesehen haben, nach wie vor unbeantwortet bleiben. Das andere hingegen – wer _____________ 20 Für eine klare Aussage zu diesem Punkt siehe Thukydides 1,21–22; vgl. Woodman (1988). 21 Sall. Cat. 61: »postremo ex omni copia neque in proelio neque in fuga quisquam civis ingenuus captus est: ita cuncti suae hostiumque vitae iuxta pepercerant.« Die Präzisierung civis ingenuus lässt die Frage offen, ob einige Sklaven entkommen sind.

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waren die drei kopflosen Leichen, wer hat sie getötet und warum? – wird für die Erzählung erfunden, hat also keinen historischen Belang, wird aber dafür am Ende des Romans beantwortet. Kurzum: Dieser Text erfindet erst ein Problem, ein und derselbe Text löst das Problem, und auf typisch postmoderne Weise handelt es sich bei dem Problem um das Entstehen und Überleben bzw. Fortleben eines Textes (man denke an Umberto Ecos Nome della rosa, in dem es um Aristoteles’ verlorenen Traktat über die Komödie geht). Um auf die einführenden Überlegungen zum neueren historischen Roman zurückzukommen: Indem Saylors Roman eine fiktive Figur in ein historisches Geschehnis erst einfügt, dann die Frage nach seinem NichtVorhandensein in den Protokollen der Geschichte explizit thematisiert, und abschließend aus dieser Figur bzw. ihrer Tilgung aus der Geschichte die Mittel schafft, wodurch ein tatsächlich existierender antiker Text überlebt hat, spielt er auf den eigenen Verarbeitungsvorgang nicht nur indirekt an (Geppert) und setzt sich unverkennbar mit den Problemen geschichtlicher Erkenntnis auseinander (Nünning). Ebenso ist der Roman Pompeji von einem selbstreflexiven Spiel mit Texten geradeaus durchdrungen. So lässt die Erzählung den älteren Plinius nicht nur aus seiner eigenen, noch heute vorhandenen Naturalis Historia zitieren, sondern auf dieses Verfahren explizit verweisen. An einer Stelle zitiert er seine eigenen Worte an seinen Freund Pedius: »›In cardiac disease the one hope of relief lies undoubtedly in wine.‹ You should read my book.« (170). Wenige Seiten später sagt er seinem Neffen, dem jüngeren Plinius: »›There has never been anything more remarkable than our aqueducts in the whole world.‹ I quote myself, I fear. As usual.« (175). Dieser fiktionalisierte Plinius zitiert also den historischen Plinius und lässt wissen, dass er es gerade tut und dass er es außerdem häufig tut. Zudem führt der Roman die Entstehung der Naturalis Historia vor unsere Augen, indem wir Plinius bei der Komposition bzw. beim Diktat, aber auch bei der Korrektur einiger Passagen verfolgen. Wenn diese fiktive Version des historischen Autors beispielsweise eine Stelle über die Chauci diktiert, die noch heute im lateinischen Text vorzufinden ist, fügt er einen ironischen Kommentar hinzu und befiehlt anschließend seinem Sekretär, in der Endversion des Textes diesen Kommentar zu tilgen: ›The Chauci, I remember, dwelt on high wooden platforms to escape the treacherous tides of that region. They gathered mud with their bare hands, which they dried in the freezing north wind, and burnt for fuel. To drink they consumed only rainwater, which they collected in tanks at the front of their houses – a sure sign of their lack of civilisation. Miserable bloody bastards, the Chauci.‹ He paused. ›Leave that last bit out.‹ (Harris, 230)

Dem derben Ausdruck »miserable bloody bastards« entspricht im überlieferten lateinischen Text die Bezeichnung misera gens, die entschieden milder ist und

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nicht an der Spitze als pointierter Kommentar dasteht, sondern vielmehr als eine beiläufige Bezeichnung für die Chauci im Laufe von Plinius’ Darstellungen.22 Für die wenigen Leser, die sich die Frage stellen und daraufhin den Originaltext nachschlagen, gibt es hier möglicherweise einen verborgenen erzählerischen Hinweis darauf, dass der Sekretär seines Herrn Anweisungen nicht vollständig Folge leisten wird. Die große Mehrheit der Leser wird immerhin ausdrücklich an Fragen der Abfassung und Gestaltung antiker Texte erinnert. Auf ein weiteres Beispiel für den typisch postmodernen Umgang mit Texten im Pompeji-Roman wurde bereits hingewiesen. Einige Figuren, die an einem üppigen aber ekelhaften Gastmahl teilnehmen, bezeichnen nämlich den Gastgeber Ampliatus als einen neuen Trimalchio. Aus der Perspektive von Lucius Popidius Secundus lesen wir folgende Zeilen. He glanced around at the flushed faces of his fellow guests. Even fat Brittius, who once boasted that he had eaten the entire trunk of an elephant, and whose motto was Seneca’s – ›eat to vomit, vomit to eat‹ – was starting to look green. He caught Popidius’ eye and mouthed something at him. Popidius could not quite make it out. He cupped his ear and Brittius repeated it, shielding his mouth from Ampliatus with his napkin and emphasizing every syllable: ›Tri-mal-chi-o.‹ […] (Popidius) winked and gestured with his eyes to Ampliatus and mouthed in agreement, ›Trimalchio!‹ (143– 144)

In der Tat bietet das Bankett des Trimalchio in Petronius’ Satyricon eindeutig das Vorbild für das von Harris erfundene, von seinen Figuren erlebte Gastmahl.23 Hier fungiert also ein antiker Text als Quelle nicht nur für den (modernen) Roman selbst, sondern auch für fiktive (antike) Figuren innerhalb des Romans. Aber inwiefern sind diese Figuren tatsächlich fiktiv? Denn viele im Roman vorkommenden Namen, unter ihnen die Namen des Freigelassenen Numerius Popidius Ampliatus sowie des Freigeborenen Lucius Popidius Secundus, der in Harris’ Erzählung ehemaliger Herr des vulgären Gastgebers ist und der das Gastmahl narratologisch fokalisiert, sind in den Graffiti auf den Wänden Pompejis sowie in anderen antiken Inschriften zu finden.24 Also stecken hinter diesen und anderen _____________ 22 Vgl. Plinius, nat. 16,1,2: »sunt vero et in septentrione visae nobis Chaucorum, qui maiores minoresque appellantur. vasto ibi meatu bis dierum noctiumque singularum intervallis effusus in inmensum agitur oceanus, operiens aeternam rerum naturae controversiam dubiamque terrae [sit] an partem maris. illic, misera gens, tumulos optinent altos aut tribunalia exstructa manibus ad experimenta altissimi aestus […].« 23 Die wenigen Abweichungen von der cena Trimalchionis sind aussagekräftig. Lesen wir in Saylors Roman, dass die in einem gebratenen Wildschwein eingeschlossenen Kleinvögel, sobald das Schwein aufgeschnitten wird, beim Ausfliegen panikartig koten (143), so entspricht diesem pikanten Detail nichts im Text von Petronius. Das Seneca-Zitat stammt hingegen tatsächlich aus Ad Helviam de consolatione (10,3), allerdings in umgekehrter Reihenfolge (vomunt ut edant, edunt ut vomant) und ist nicht, wie Popidius behauptet, als Senecas Devise zu bezeichnen, sondern im Gegenteil als eine Denkart, die dieser entschieden zurückweist. 24 Der Freigelassene N. Popidius Ampliatus und sein ebenfalls in Harris’ Roman vorkommender Sohn N. Popidius Celsinus werden in CIL 10,846 genannt; vgl. Ling (2005), 104. Außerdem

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Figuren in Harris’ Roman historische Menschen, von denen wir allerdings äußerst wenig wissen, abgesehen von ihren Namen und den politischen Ämtern, für die sie kandidierten. Im Roman werden aus diesen skeletthaften Namen mehr oder weniger realistische Figuren, und diese halbfiktiven, halbhistorischen Figuren verweisen ausgerechnet auf Trimalchio, eine Figur aus einem antiken Text, die zweifelsohne fiktiv ist, die aber möglicherweise ein historisches Vorbild oder Vorbilder aus der Zeit Neros hatte, vielleicht sogar aus der näheren Umgebung des Kaisers.25 In folgenden Zeilen wird genau diese Möglichkeit indirekt, aber unverkennbar angedeutet. Popidius almost burst out laughing. Trimalchio! Very good! The freed slave of monstrous wealth in the satire by Titus Petronius, who subjects his guests to exactly such a meal and cannot see how vulgar and ridiculous he is showing himself. Ha ha! Trimalchio! For a moment, Popidius slipped back twenty years to his time as a young aristocrat at Nero’s court, when Petronius, that arbiter of good taste, would keep the table amused for hours by his merciless lampooning of the nouveau riche. (Harris, 144)

Also stellt die pseudo-historische Figur Lucius Popidius Secundus eine komplizierte Verbindung zwischen Fiktion und Historie her, die er in sich selbst verkörpert. Entsprechend vielschichtig ist Popidius’ bitter-ironische Bemerkung, er sei der »Gefangene von Trimalchio« (»the prisoner of Trimalchio«, 145). Wie auch in Catilina’s Riddle spielt in Pompeii ein textuelles Rätsel eine zentrale Rolle. Die Hauptfigur Attilius entdeckt nämlich zwei auf Papyrus niedergeschriebene Texte (215–216), deren Autorschaft und Bedeutung sofort zu einer Frage wird, deren Lösung ihn über einige Kapitel hinweg beschäftigt. Dies dient wiederum als Metonymie für das allerwichtigste Rätsel für die Figuren des Romans: Was bedeuten die beunruhigenden Erscheinungen um den Vesuv herum? So wundert es nicht, dass die Lösungen beider Rätsel ineinander verflochten sind. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Papyri Auszüge aus Strabo und Seneca über den Ätna bzw. den Vesuv beinhalten und dass letzterer ein Vulkan am Rande des Ausbruchs ist. Gerade in dem Augenblick, da Attilius auf der Spitze des Vesuvs die Leiche seines Amtsvorgängers Exomnius findet, erinnert er sich der Texte, entschlüsselt deren bisher schleierhafte Botschaft und versteht die katastrophale Bedeutung der jüngsten natürlichen Erscheinungen (250–251). Dabei ist ihm die Frage nach der Identität der Autoren der Papyrus-Texte selbstverständlich völlig belanglos und er geht überhaupt nicht darauf ein. Lucius Popidius hingegen erkennt wenige Seiten später, dass es sich um Strabo und Seneca handelt (257–258), zieht zugleich denselben fatalen Schluss wie Attilius. Die _____________ wird ein Lucius Popidius Secundus, der das Amt der aedilis innehatte, in den Inschriften Pompejis mehrfach genannt (z. B. CIL 4, 3409; 3738; 7221; 7242). Zu prosopographischen Fragen im Zusammenhang mit politischen Ämtern siehe Mouritsen (1988); Franklin (2001). In diesen Studien tauchen verschiedene Popidii auf. 25 Vgl. Smith (1975), Index s.v. Nero; Walsh (1970), 137–139. Courtney (2001), 9–10, sieht einer Anspielung auf Kaiser Nero selbst skeptisch entgegen.

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Szene ist höchst wirkungsvoll, denn sobald er die Bedeutung der Texte bzw. die Verbindung zwischen Ätna und Vesuv den Herumstehenden erörtert, entsteht ein erschrockenes Schweigen (260), und wenige Minuten später, mit den letzten Worten dieses Kapitels, bricht die Katastrophe aus: »Far away – but very distinctly, unlike anything he, or anyone else, had ever heard – came the sound of a double boom.« (261). In diesem Augenblick schaltet die Erzählung um, und die gerade gefundene Lösung des Papyrus-Rätsels geht in der Katastrophe auf, auf die das Rätsel selbst hinweist.26 In den letzten Kapiteln von Pompeii wird abschließend ein Kunstgriff eingesetzt, der an das Ende von Catilina’s Riddle erinnert und der die Aufmerksamkeit unverkennbar auf Fragen der historischen Erkenntnis sowie des schriftlichen Fortlebens von historisch Geschehenem lenkt. Genauso wie Saylor erfindet Harris nämlich zwei Hauptfiguren, in diesem Fall Attilius and Corelia, die er dann an prominenter Stelle, und zwar auf den letzten Seiten des Textes, aus den Protokollen der Geschichte verschwinden lässt. In den allerletzten Zeilen des letzten Kapitels von Pompeii berichtet der anonyme Erzähler, dass es nach der Katastrophe allerlei Gerüchte gab, unter ihnen die Geschichte von zwei Überlebenden, einem Mann und einer Frau, die wie durch ein Wunder aus der Erde hervortreten. Die Leser des Romans wissen, dass es sich um Attilius und Corelia handelt, da sie kurz davor erfahren haben, wie diese durch ein unterirdisches Aquädukt aus der Stadt entkommen. Selbstverständlich haben die restlichen Figuren im Roman jedoch keinen Zugang zu diesem Wissen. Also nimmt die Erzählung ihr Ende mit der Bemerkung, dass die Geschichte von den zwei Menschen, die aus der Erde kamen, von vernünftigen Menschen als Aberglaube abgetan wurde. Many were the stories and rumours that circulated in the days that followed. A woman was said to have given birth to a baby made entirely of stone […]. Most persistent of all was the legend of a man and a woman who had emerged out of the earth itself at dusk on the day the eruption ended […]. But this particular story was generally considered far-fetched and was dismissed as a superstition by all sensible people. (Harris, 338–339)

Das sind die letzten Worte des Erzählers und damit des Textes. Auf diese Weise werden Attilius und Corelia zum Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis gerade in dem Augenblick verdammt, wenn die Erzählung – ihre Erzählung, diejenige, die sie erst ins Leben gerufen hat – selbst endet bzw. verschwindet. Der Text gibt, der Text nimmt. _____________ 26 Mit leichtem Erstaunen liest man den folgenden Kurztext auf einer der ersten Seiten des Buches: »Harris is a writer of integrity who does not seek refuge in postmodern nonsense. There are no temporal dislocations, ›unearthed diaries‹ or other hocus-pocus. He knows how to tell a story and achieves page-turning readability without effort« (Frank McLynn, Daily Express). Zu Tage geförderte Tagebücher gibt es zwar nicht, aber die von Ampliatus entdeckten, rätselhaften Papyrus-Texte spielen eine unverkennbar zentrale Rolle in diesem Roman.

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Archiv und Kollektiv. Griechische Tragödien als chorisches Theater bei Einar Schleef, Theatercombinat und Theodoros Terzopoulos MATTHIAS DREYER

Wenn Inszenierungen griechischer Tragödien als »Antikenprojekte« angekündigt wurden, so ließ dies in den letzten Jahrzehnten eine experimentelle Suchbewegung erwarten oder einen ästhetischen Ausnahmezustand. Prägend für diese Entwicklung waren die Antikenprojekte der Berliner Schaubühne aus den Jahren 1974 und 1980.1 Fast ebenso legendär wie Peter Steins Inszenierung der Orestie, die nur erleben konnte, wer sich zehn Stunden Zeit nahm, war dabei der Umstand, dass die Projekte in wissenschaftlicher Begleitung entstanden, in akribischer philologischer und archäologischer Auseinandersetzung mit den griechischen Tragödien und dem antiken Theater. Unser Interesse an dieser Unternehmung: Die Untersuchung unserer eigenen Tätigkeit, der Frage nach der Theaterspielerei, ihren Voraussetzungen, ihren Möglichkeiten beziehungsweise Unmöglichkeiten.2

Mit diesen Worten charakterisiert ein anonymes Protokoll die Diskussionen zur Vorbereitung für den ersten Abend des Antikenprojekts von 1974. Darin heißt es weiter: Es wurde daran erinnert, daß wir bei unseren ersten Annäherungsschritten meinten, daß dieser Stoff etwas mit uns zu tun habe. Wir konnten dies damals nicht erklären. Jetzt müßten wir diese Punkte herausfinden.3

Ein in humanistischer Bildungstradition aufgearbeitetes Wissen über die Antike wurde hier zu einem dynamischen Faktor des Gegenwartstheaters – mit dem Ziel, die Grundlagen des Theaters neu zu erforschen. Die theatralen Konventionen der eigenen Zeit sollten ausgehebelt werden durch einen Blick auf die theatralen Vorformen. _____________ 1 2 3

Die Produktionen waren im Einzelnen: Übungen für Schauspieler (Regie: Peter Stein), Bakchen (Regie: Klaus Michael Grüber) 1974; Orestie (Regie: Peter Stein) 1980. Kreativität und Dialog (1983), 195. Ebd., 192.

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Die Relevanz und Produktivität der griechischen Tragödie für das zeitgenössische Theater scheint aus dieser Sicht in der historischen Differenz zu liegen, also in der ästhetischen Anmaßung, in der Unmöglichkeit, sie restlos in die Konventionen des Gegenwartstheaters zu überführen.4 Und tatsächlich haben sich relevante Entwicklungen aufgetan, wo moderne Regisseure weniger die Analogien zwischen Antike und Gegenwart suchten, sondern die Jahrtausende alten Tragödien vielmehr als Fremdkörper behandelten, mit deren Hilfe das zeitgenössische Theater eine Differenz zu sich selbst herstellen konnte – vermittelt durch den historischen Blick.5 Denn die Geschichte der Aufführung griechischer Tragödien, und somit ein Kapitel der kreativen Allianz von Theater und Wissen, beginnt in Deutschland eigentlich erst zu einer Zeit, als Hegel die Unaufführbarkeit der griechischen Tragödie proklamierte,6 im frühen Historismus. Die berühmte Potsdamer Antigone-Aufführung von 1841 wurde zu einem wissenschaftlichen Großprojekt, für das einige der besten Antikeforscher der Zeit kooperierten, das die griechische Tragödie als eine Schau in die Vergangenheit inszenierte und ein Modell schuf für das Theater als kulturelles Gedächtnis.7 An die Stelle des historistischen, rekonstruktiven Ideals ist in der Moderne das Denken des Fragments getreten, das statt einer Totalität Aspekte der alten Form und ihres Wirkens für die Gegenwart bedenkt, testet und transformiert. Aufführungen griechischer Tragödien dienen nun seltener der Vergewisserung einer Vergangenheit als »Ursprung« oder der Demonstration eines Wissens. Auf einer Schwelle von Gegenwartsbezug und historischer Grabung, von Historizität und Aktualität8 kann die Aufführung selbst zu einem Wissens- und Rechercheinstrument werden, mit dem sich nicht nur die mit den alten Formen verknüpften historischen Dispositive erinnern und untersuchen, sondern auch innovative Strategien entwickeln lassen. Die Problematisierung der klassisch-humanistischen Tradition in den 1960er Jahren wirkte sich in diesem Sinne auf die Aufführungen griechischer Tragödien äußerst günstig aus.9 Je weiter sich das Theater von idealistischen Bildungsnormen entfernte, desto zahlreicher lassen sich Tragödien_____________ 4 5

6 7 8 9

Zur Aufführungsgeschichte antiker Tragödien allgemein vgl. Flashar (1991), Bierl (1997), Fischer-Lichte (2004) und (2007). Wenn sich Theater als eine – im Sinne Foucaults – Heterotopie verstehen lässt, so gilt das für viele Inszenierungen griechischer Tragödien ganz besonders. Vgl. Foucaults bekannten Aufsatz »Andere Räume«, Foucault (1991). Vgl. Flashar (1991), 60–63. Griechische Tragödien wurden freilich auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgeführt, aber nur in literarischen Adaptionen. Vgl. Fischer-Lichte (2004) und (2007), zur Potsdamer Antigone allgemein vgl. auch Flashar (1991), Boetius (2005). Zur konstitutiven Spannung zwischen Historizität und Aktualität in Klassiker-Inszenierungen vgl. Fischer-Lichte (1993), 373–409. Zur Veränderung des Antikebildes vgl. beispielsweise die Interviewsammlung »Abschied von der Antike?« in Wort und Wahrheit (1963–1964) sowie: Marchand (1996), 368–375.

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Aufführungen beobachten.10 In Abgrenzung gegen die philhellenistische Tradition (bzw. ganz von ihr abgelöst) entstand ein zweiter Historismus, oder NeoHistorismus11, der sich der Vergangenheit im Zeichen des Nicht-Einholbaren, des Verlusts zuwandte. Peter Brook beispielsweise reiste ins heute iranische Persepolis, um inmitten der archäologischen Ruinen den Reiz der verschütteten Mythen zu suchen.12 Und Klaus Michael Grübers Inszenierung der Bakchen schuf Bilder anziehender, doch unzugänglicher Fremdheit.13 Der Chor ist in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht relevant, denn er stellt das fremdeste, aus moderner Sicht unzugänglichste Element des antiken Dramas dar und galt im Theater des 20. Jahrhunderts lange Zeit als ein Störfaktor und unlösbares Problem. Zwar ist es unangefochten, dass sich das Theater aus dem Chor, dem »Mutterschooss«14 des Theaters, entwickelt hat und dass der Chor für die Rückbesinnung auf die politische Wirksamkeit des griechischen Theaters – neben der Frage der Ritualität15 und der besonderen Gewalt-Präsenz16 – wesentlich ist, dennoch wurde die chorische Form als ein Atavismus betrachtet. Dies liegt zum einen daran, dass sich theaterarchäologisch ein klares Bild dieser attischen Dramenform kaum zeichnen lässt. In den philologischen Wissenschaften wurde der antike Chor als Mitspieler, Kommentator, Stimme des Dichters oder als Repräsentant der Zuschauer interpretiert, und die Deutungen innerhalb der unterschiedlichen Stückdramaturgien und Autorenkontexte sind divers.17 Die Einheit von Sprache, Bewegung, Musik, die den antiken Chor als tanzenden und singenden Bühnenakteur auszeichnete, ist jedoch kaum mehr rekonstruierbar und hat zudem im Kanon der Künste heute keine Tradition mehr.18 Inszenierungen griechischer Tragödien, die den Chor als Bühnenfigur zu integrieren versuchen, _____________ 10 Einen sprunghaften Anstieg von Aufführungen griechischer Tragödien seit den 1960er Jahren zeigt eine statistische Auswertung des European Network of Research and Documentation of Performances of Ancient Greek Drama (siehe www.cc.uoa.gr/drama/network), vgl. auch Flashar (1991), 225 ff. 11 Eine methodisch-systematische Bezugnahme dieses Leihbegriffs auf den New Historizism Greenblattscher Prägung steht indes noch aus. 12 Zu Peter Brooks Prometheus-Projekt Orghast vgl. beispielsweise Smith (1972) oder jüngst Hall (2007). 13 Vgl. Kreuder (2002), 133 ff., Fischer-Lichte (2007), 127 ff., Primavesi (2007), 198 ff. 14 Nietzsche, Geburt der Tragödie, 62. 15 Vgl. Schlesier (1994) oder die Schule der Theater-Anthropologie: Turner (1989), Schechner (1990). Jüngst zum Verhältnis von Theater und Ritual vgl. auch Fischer-Lichte (2005), 34–82. 16 Vgl. den Konferenzband Seidensticker/Vöhler (2007). 17 Die historisch einflussreichsten Konzepte stammen von A. W. Schlegel, F. Schiller, F. Nietzsche. Für wichtige Positionen der neueren Diskussion vgl. Rösler (1983), Hose (1990 f.), Bierl (1991), Wiles (1997) – eine Wissenschaftsgeschichte des antiken Chores steht meines Wissens noch aus. 18 Die Oper verstand sich lange Zeit als Ort der Wiedergeburt der griechischen Tragödie, ihre Entwicklungen hatten aber wenig Auswirkungen auf die Aufführungstradition der antiken Tragödie.

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wirken daher schnell antiquarisch. Darüber hinaus – und das ist das wichtigere Argument – scheint das Problem des Chores im Gegenwartstheater darin zu bestehen, dass die Frage der Gemeinschaft ein Problemfeld darstellt und sich auf der Bühne kein positives Bild einer gemeinsam agierenden Gruppe finden lässt. In Aufführungen antiker Tragödien wurde der Chor daher im 20. Jahrhundert oftmals eliminiert oder durch einzelne Darsteller ersetzt.19 Repräsentativ für diese moderne Ratlosigkeit dem antiken Chor gegenüber ist Christoph Nels viel beachtete Antigone 1979 am Schauspiel Frankfurt. Nel hielt die Chorpassagen schlicht für unverständlich, weil »dieses Moment von gläubiger Ergriffenheit und Ekstase« uns heute fremd sei.20 Kurzerhand strich er fünf der Chorlieder und ließ die restlichen zwei von einer alten Schauspielerin vorlesen. Ersetzt wurde der Chor durch eine Gruppe von Clowns, Karnevalsjecken und Rockern, die sich störend verhielten, vulgäre Schlager sangen und obszöne Witze rissen. Wenn Nel in seinem Verzicht auf das gesprochene oder gesungene Chorlied durchaus im Trend der Zeit lag, so bereitete die Gruppe der Rocker und Jecken manchem Kritiker Probleme.21 Doch so unpassend Nels Erfindung auch gewesen sein mag, um den antiken Chor adäquat in die Gegenwart zu übersetzen, so lässt sie sich als ein Störelement betrachten, mit dem sich das Potential des Chores als eines Fremdkörpers im zeitgenössischen Theater verbildlichen ließ. Nels Chor-Gruppe fungierte in diesem Sinne als ein Mittel, das die Routine eines antiken Repertoirestücks, aber auch der gewohnten Theatersituationen irritierte. Im Kontext dieser Krise ist der Chor für viele Theatermacher seit Mitte der 1980er Jahre wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.22 Denn die Inszenierung einer Gruppe auf der Bühne reaktiviert die für das Theater immer noch ganz grundlegende Frage der Gemeinschaft und betrifft also die Medialität des Theaters, das konstitutive Grundverhältnis zwischen Akteur und Zuschauer sowie die Frage des Umgangs mit dieser Grenze.23 Die Aufführung einer körperlichen Gemeinschaft auf der Bühne bringt zwangsläufig die Rolle des Zuschauers ins Spiel, der an der Aufführung ebenfalls als Mitglied einer Gruppe teilnimmt. Als Figur an der Grenze von Bühne und Zuschauerraum gewinnt der Chor somit im zeitgenössischen Theater eine erneute Relevanz – als Vermittler zwischen den dramatischen Vorgängen und dem Publikum.24 Dieses neue zeitgenössische Interesse für den antiken Chor, das auch die anderen Chor-Traditionen der Moderne einbezieht und als »chorisches Theater« _____________ 19 20 21 22

Einen wichtigen Überblick über Inszenierungsweisen des Chors gibt Baur (1999). Vgl. das Interview »Was uns nah ist an Hölderlin […]«, in: Theater heute 1 (1979), 37. Vgl. »Antike – Fern im Kasten oder zum Anfassen?«, in: Theater heute 1 (1979). Zur Renaissance des Chores im Gegenwartstheater vgl. beispielsweise Transformationen (1999) (darin die Beiträge von Ulrike Haß, Günther Heeg, Doris Kolesch, Hajo Kurzenberger et al.); Baur (1999), Dreysse (1999) oder das Themenheft von Theater der Zeit (4/2006) zum Chor im Gegenwartstheater. 23 Zur Medialität des Theaters vgl. Fischer-Lichte (2004), 42–112. 24 Diese Sicht ähnelt in vielem dem Verständnis des antiken Chors bei Bierl (1997).

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eine Ausstrahlung weit über die Inszenierungen griechischer Tragödien hinaus entwickelt, eint die Aufführungen, die im Folgenden näher betrachtet werden. Es soll gezeigt werden, wie die alte Chorform in zeitgenössischen Theateraufführungen auf drei ganz unterschiedliche Weisen neu erfunden wurde: In welchem Verhältnis stehen Historizität und Aktualität dabei? Welches Wissen über die Antike wird transformiert? Und welche Dimensionen ästhetischer Erfahrung bringen diese Transformationen hervor?

Einar Schleef – Destabilisierung des Zuschauers Der prominenteste Vertreter eines neuen chorischen Theaters ist der 1976 aus der DDR geflohene Regisseur Einar Schleef. Sein Antikeprojekt Mütter feierte 1986 am Schauspiel Frankfurt Premiere und provozierte einen der größten Theaterskandale des ausgehenden 20. Jahrhunderts. In seiner Inszenierung kombinierte Schleef zwei griechische Tragödien, in denen der Chor jeweils die Hauptrolle spielt: Die Bittflehenden von Euripides und Sieben gegen Theben von Aischylos.25 Das Antike-Projekt begründete die originäre Schleefsche Theaterästhetik, eines der zentralen Theaterkonzepte des 20. Jahrhunderts, und fungierte damit als Wissensproduzent auch für eine ganze Reihe neuer chorischer Theaterproduktionen, die im Anschluss an Schleef entstanden. In seinem Essayband Droge Faust Parsifal notierte Schleef einige Jahre später, mit welchen Prämissen er sich der Inszenierung genähert hat bzw. welche bühnenästhetischen Ergebnisse er aus den Frankfurter Müttern ableitete. Ganz zentral ist dabei die Ambivalenz seiner Konzeption des Chores: Diesen sieht Schleef als »Opfer« eines beklagenswerten Verdrängungsprozesses der neuzeitlichen Individualgesellschaft, als eine »Menschenzusammenballung«, die »nicht die Herrschaft trägt, sondern von ihr verstoßen, verheizt, sich irgendwo verstecken muss«26. Zugleich jedoch ist der Chor für Schleef eine gewaltsame Instanz, die ihren Zusammenhalt wiederum nur durch die Opferung Einzelner gewährleisten kann.27 Diese Perspektive erinnert an René Girards anthropologische Studie über den Sündenbock in Das Heilige und die Gewalt.28 Den Konflikt von Indivi_____________ 25 Euripides’ Die Bittflehenden ist eine der ganz wenigen überlieferten Tragödien, in denen sogar ein zweiter Chor auftritt, hier die Kinder der gefallenen Sieben. 26 Schleef (1997), 12. 27 Schleef entwirft das Szenario des Chors als einer labilen Einheit: »[…] Damit ist die Gruppe in sich gefährdet, sie wird jedem Angriff auf sich nachgeben, akzeptiert voreilig angstvoll ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen. […] Das ist nicht nur ein Aspekt des antiken Chores, sondern ein Vorgang, der sich jeden Tag wiederholt« (Schleef [1997], 14). 28 »Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt. […] Es stellt die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft wieder her, es verstärkt den sozialen Zusammenhalt« (Girard 1996 [1972], 18). Das gilt – bei Girard – auch für das Theater, das er als Ort symbolisch vollzogener Opfer bestimmt, mit denen eine Gesellschaft sich also von ihrer Gewalt befreien könne. In

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duum und Chor, einen der Grundkonflikte der griechischen Tragödie, benennt Schleef in seinen Schriften immer wieder als »antike Konstellation« und macht ihn zu einem durchgängigen ästhetischen Prinzip seiner Inszenierung.29 Wie sich in der Analyse zeigen wird, bestehen enge Korrespondenzen seiner Lesart mit der Philosophie Nietzsches und dessen Prinzipien des individualisierenden Apollinischen und des gemeinschaftsstiftenden Dionysischen. Doch lässt sich anhand chorischer Prozesse aus Schleefs Perspektive die Gewalt von Gemeinschaftsprozessen demonstrieren, während diese bei Nietzsche noch als schwärmerisches Ideal auftauchten.30 Auf den ersten Blick war Schleefs Inszenierung Mütter nicht an archäologischen Forschungen orientiert, denn der Chor des ersten Teils, Die Bittflehenden, hatte nicht wie bei Euripides 15 Chormitglieder, sondern bestand aus sieben schwarz gekleideten Frauen, die später durch eine Vielzahl ergänzt wurden und durch ihre Trauerschleier aber zeitweise wie unter Masken agierten. Charakteristisch für Schleefs Inszenierung des Chors war die enorme Rhythmisierung. Sprache wird auf diese Weise zerhackt und von den Körpern getrennt – wofür Schleef von seinen Kritikern immer wieder heftig attackiert wurde.31 Auch die ChorKörper bewegten sich mitunter rhythmisch stampfend und entfesselten eine ungeheure Energie. Die Kohärenz der dramatischen Handlung dagegen drohte aufgrund der inszenierten Brüche immer wieder zu zerfallen. Dieser Prozess wird besonders deutlich, wenn man den Höhepunkt des ersten Teils – den Kommos, eine kollektive Klage – genauer betrachtet. Das Stück handelt von den argivischen Müttern, die ihre Söhne im Kampf gegen Theben verloren haben und jetzt bewirken wollen, dass die Leichen ihrer Söhne freigegeben werden, deren Bestattung der Feind verweigert hat. Nachdem sie ihr Ziel mit Athens Unterstützung erreicht haben und ein Bote verkündet hat, dass die Söhne begraben werden können, gehen sie dazu über, die Toten zu beklagen: Zu diesem Zweck erhöhte Schleef die Anzahl der Chor-Mitglieder durch einen Extrachor.32 Der Chor von nunmehr etwa 25 verschleierten Frauen verteilte sich über die _____________ 29 30 31

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Zeiten einer Opferkult-Krise im antiken Griechenland habe das Theater diese Funktion aus rituellen Zusammenhängen übernommen (ebd., 62 ff.). Zu den Konflikten zwischen Individuen und Kollektiv in den Müttern vgl. auch im folgenden Fischer-Lichte (2004a), 91–100. Zur Gewalt (der Darstellung) in modernen Aufführungen griechischer Tragödien vgl. Primavesi (2007). Allgemein zu Schleefs Inszenierung Mütter vgl. auch Dreysse (1999). Anlässlich Schleefs Urgötz-Inszenierung vgl. beispielsweise Mirko Weber: »Zerhackt, zerstückelt, zerrissen, zerstört«, in: Die Welt 19.04.1989 oder der Vorwurf der »Sprach-Hackerei« bzw. der »stupide[n] Rhythmisierung« anlässlich der Faust-Inszenierung (R. Michaelis und P. Iden, zitiert nach Dreysse [1999], 14). Eine Vergrößerung des Chores war in der Antike sicherlich nicht vorgesehen. Jedoch hielt an dieser Stelle, vor der Klage, vermutlich ein Leichenzug mit den toten Körpern der gefallenen Söhne Einzug (Collard [1972], 47). Die Vermehrung auf der Bühne findet bei Schleef auf andere Weise statt.

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Abb. 1: 40-minütige Klagegesänge – Mütter nach Euripides’ Die Bittflehenden und Aischylos’ Sieben gegen Theben, Regie: Einar Schleef, Frankfurt am Main 1986.

ganze Bühnenbreite, bezog kniend Stellung und begann eine Klagezeremonie. Angeführt von ihrem König Adrastos stießen sie klatschend und singend die antiken Klagerufe »Ai ai! Io ai!« aus und schwangen dabei ihre Körper mit. Fugenartig griffen einzelne, immer wiederholte Sätze und die endlosen Klagelaute ineinander, verschoben sich gegeneinander, drohten in ein dissonantes Chaos zu entgleiten und steigerten sich, indem sich die einzelnen Akteure im Klageruf gegenseitig überboten. Die Klage konnte – je nach Aufführung – bis zu vierzig Minuten dauern. Was relativ strukturiert begann, steigerte sich zu einem wilden Klagefest, das Teile des Publikums – erwartungsgemäß – zu Protesten veranlasste, die in ihrer Heftigkeit kaum zu überbieten waren. Diese Erregung erklärt sich aus einer eigentümlichen Überschreitungsbewegung, die Schleefs akribisches Interesse für den Text – die Inszenierung basierte auf einer eigens in Zusammenarbeit mit seinem Lektor und Dramaturgen HansUlrich Müller-Schwefe erarbeiteten Übersetzung – konterkarierte: Denn zwar ist die Klage durchaus auch Teil der Euripideischen Tragödie, aber natürlich nicht in dieser Länge. Zudem waren die Worte, die als Wechselgesang von Chor und Protagonist die eigentliche Basis dieses dritten Chorlieds ausmachen, zugunsten der wiederholten Klagerufe, weniger gesungener Textteile und einer sich kakophonisch und rauschhaft steigernden Stimmenvielfalt weggelassen. Schleef führte die Klage durch das inflationär wiederholte aiai auf eine semantisch nicht einhol-

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bare akustische Ebene.33 Die antike Dramenform, die sich als Transformation ursprünglicher kodifizierter Totenrituale verstehen lässt, wurde dionysisch aufgebrochen, um sie wieder für eine Energie zu öffnen, die den ursprünglichen Ritualen inhärent gewesen sein mag.34 Gleichzeitig – und das ist das Entscheidende – wurde der Klagevorgang, der ursprünglich eine Demonstration der Machtlosigkeit des Menschen seinem Leid gegenüber ist, zu einem Aufbruchsereignis. Diesen Aufbruch provozierte die Inszenierung auch bei den Zuschauern, die durch die gedehnte, stilisierte Ausstellung des antiken Rituals mit einem Vorgang konfrontiert war, der sich verselbständigte und sich somit nicht mehr auf einen narrativen Zusammenhang beziehen ließ. Der Tragödienhandlung enthoben, ließ die Klage das Ambivalente des Kollektiven erspüren – nicht nur in den von der Bühne ausgehenden Energien, sondern auch in den Turbulenzen des Publikums selbst. Die chorische Aktion bildete nicht mehr Realität ab, sondern führte selbst zu einer körperlichen Erfahrung und bedrohlichen Realität, zu einer Wiederkehr des Verdrängten.35 Diese Inszenierung einer ambivalenten Naherfahrung des Kollektiven, die das Individuum in seiner Integrität bedroht, intensivierte sich im zweiten Teil des Abends. In Aischylos Sieben gegen Theben bestand der Chor aus einer Gruppe von Jungfrauen in rasender Angst. Denn ein befeindetes Heer steht vor den Toren Thebens und droht die Stadt zu überwältigen. Atmosphärisch lebt das antike Stück von der unmittelbaren Nähe des Kriegsschauplatzes, der nicht, wie in anderen griechischen Tragödien, als ein fernes Geschehen erscheint, sondern direkt hinter den eigenen Stadtmauern imaginiert wird.36 Schleef verlagerte diese Szene der bedrängten Frauen in den Zuschauerraum und verschloss die Bühne durch den Eisernen Vorhang. Im fast völlig abgedunkelten Zuschauersaal entstand ein Gefühl der Beengung, mit dem die klaustrophobische Situation der umzingelten Stadt nachfühlbar wurde.37 _____________ 33 Zu Aiai als Klang, als Unmittelbarkeit der Klage, die hier durch die dauerhafte Wiederholung aber ausgestellt wird, vgl. Loraux (2002), besonders 35–41. 34 Vgl. hierzu die Beschreibungen in Chudzinski (1907), die sich in Schleefs nachgelassenen Materialien finden, und Reiner (1938), der eine Beschreibung der Klage zwischen Formalisierung und Emotion gibt. Das Artifizielle der Klageszene Schleefs betonen dagegen Dreysse (1999) und Primavesi (2007). 35 Vgl. die Einschätzung einer Kritikerin: »Wenn Schleefs überbrodelndes Gesamtkunstwerk so viel Ablehnung, so viel Wut herausgefordert hat, dann sind die Beweggründe dafür vielleicht aufschlussreicher als die Ablehnung, die Wut selbst. Einar Schleef hat in Wunden gestochen.«, Auffermann (1986), 52. 36 Vgl. »Das innerlich Neue in den Sieben ist, dass das Ereignis, um das es geht, nicht vergangen ist, sondern Gegenwart: der Kampf um Theben gleichsam hinter der Bühne« (Schadewaldt [1991], 99). 37 Das Bild eines vor der verschlossenen Bühne agierenden Chors evoziert auch Schleefs Gedanken, dass der Chor im modernen Theater(bau) keinen Ort hat, dass er – als eine ausgestoßene Figur – gewissermaßen immer »vor dem Palast« stehe. Vgl. Schleef (1997), beispielsweise 59.

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Abb. 2: Chor jagt durch den Zuschauersaal – Mütter, Regie: Einar Schleef, Frankfurt am Main 1986 (vgl. Abb. 1).

Die Begegnung von Chor und Zuschauern wurde in dieser Situation unvermeidlich. Denn der Chor von 15 jungen Frauen, der später wieder zu einem mächtigen, etwa 40-köpfigen Chor aufgestockt wurde, bewegte sich johlend über einen Steg, der von der Bühne ausgehend mitten durch den Zuschauersaal führte, und trampelte wie eine wilde Horde hinauf und hinab. Das Panikgefühl der Frauen, das sich mit den impliziten Emotionen der Textvorlage deckt,38 sprang durch die beängstigende Nähe der darstellenden Körper und die von ihnen entfesselten Energien auf die Zuschauer über, so dass die Stimmungslagen in äußerste Nähe gebracht wurden. Wie bei der Klageszene zuvor verschob sich die Referenzebene von der dramatischen Handlung auf die Präsenz des Chors, auf die Unmittelbarkeit der kollektiven Gewalt. Und wieder produzierte dieser kollektive Prozess eine ambivalente Reaktion. Denn das Pathos der mitunter schreienden Gruppe durchbricht die historische Distanz und zieht den Zuschauer in den Aufruhr der Gefühle; die Intensität der Äußerung ruft jedoch zugleich Abwehrreaktionen hervor und schafft damit eine neue Distanz. Es bestätigt Schleefs Kritik der Tabuisierung des Chors, dass sich an der beängstigenden Gegenwart des Kollektiven in Frankfurt eine hitzige Diskussion _____________ 38 Vgl. »Der Chor ist in einer Art Ekstase der Angst« (Schadewaldt [1991], 103).

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entzündete, in der man Schleefs Theater als ‚faschistisch’ brandmarkte.39 Ganz im Gegensatz dazu inszenierte Schleef jedoch keine erzwungene Harmonisierung eines Kollektivs, seine chorischen Performanzen schufen vielmehr einen bewussten Konfliktraum, der sich den historischen Konnotationen gegenüber öffnete, die Zuschauer selbst in Bewegung versetzte und das Publikum spaltete. Erfahrbar wurde eher das Scheitern einer Gemeinschaft als ihr Gelingen. Das Politische seiner Inszenierung kommt in der Strittigkeit des Kollektiven zum Vorschein, in dem gesellschaftlichen und körperlichen Prozess, der davon provoziert wird. Was in Schleefs Müttern also zu beobachten war, ist die Verstärkung der antiken Form, ihre Übererfüllung bzw. – wenn man an die Masse denkt – ihre Überfüllung.40 Schleef überschritt die historische Form, indem er dessen immanente Prozesse bediente. Die Aktualität seiner Inszenierung bestand nicht im Bezug auf tagespolitische Ereignisse, sondern in den Spannungen zwischen den Akteuren und Zuschauen im Theaterraum bzw. zwischen den Individuen und dem Kollekti-ven in der Gegenwart der Aufführung. Schleef setzte sich damit von jedem bildungsbürgerlichen Zugang zur antiken Tragödie ab und verwandelte Wissen in einen offenen Erfahrungsprozess.

Theatercombinat – Permanente Unterbrechung Auf Schleefs Theatererfindungen konnten viele Regisseure aufbauen. Die Gruppe Theatercombinat in ihrer Inszenierung der Perser von Aischylos bot eine quantitative Steigerung dieser Kollektivobsession. Die österreichisch-schweizerische Koproduktion war im November 2006 am Théâtre Grütli in Genf zu erleben.41 Sie gehörte gemeinsam mit Racines Phädra und Shakespeares Coriolanus zu einem dreiteiligen Projekt über historische Tragödienkonzepte. Darin definiert die Gruppe die Dramen als »Archive historischer Erfahrung«, an denen sich »die Bedingtheiten der theatralen Produktion« auf verschiedenen historischen Stufen _____________ 39 Vgl. beispielsweise Peter Idens Vorwurf der »Reichsparteitags-Dramaturgie« (FR 24.4.1986). 40 Schadewaldt weist – mit Referenz auf Wilamowitz – darauf hin, dass auf der antiken Bühne vermutlich eine Vielzahl von Statisten beteiligt war: Er geht davon aus, dass in der antiken Aufführung der Sieben mindestens 24 Statisten aufgetreten seien (die man sich aber natürlich als einen stummen Chor, nicht als Sprecher vorstellen muss). »Ich denke, dass wir uns die Dinge in Aischylos gar nicht farbig und konkret genug vorstellen können. Die Tragödien in Athen waren große Volksaufführungen, man hatte beliebig viele Statisten«. Und weiter (allerdings über den Auftritt der Krieger gewappneten Kriege): »[…] ich muss gestehen, dass ich es gerne einmal erleben möchte, wenn die Bühne wirklich voll ist. Die dynamische Wirkung hängt nun einmal mit ab von der Menge der Menschen«, vgl. Schadewaldt (1991), 107. 41 Es wurde als zweiteiliges Projekt konzipiert, gemeinsam mit einer Wiener Aufführung, die jedoch unter ganz anderen Bedingungen stattfand. Zur Wiener Fassung vgl. Dreyer (2007), 164 ff.

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beobachten lasse.42 Es sollte also weniger darum gehen, die Perser von 476 v. Chr. – das älteste aus der Antike überlieferte Theaterstück – in zeitgenössische Konventionen zu übertragen. Vielmehr sollte das antike Stück als ein historisches Material untersucht werden. Die Inszenierung verstand sich als eine Versuchsanordnung, mit der ein Wissen weniger vermittelt als zuallererst aufgespürt werden sollte. Das Theatercombinat versuchte freilich keine Rekonstruktion der antiken Aufführungssituation. Der Inszenierungsansatz bestand vielmehr in der Vergrößerung des Chores der Perser, der in der Antike zwischen 12 und 15 Chormitglieder umfasst hatte, auf einen 500-köpfigen Chor aus citoyens der Stadt Genf. Durch die Integration von Laien bezog sich das Projekt auf die antike Institution der Choregia, die Bürger Athens zur aktiven Partizipation im Tragödien-Chor aufforderte, um die Verankerung des Theaters in der Polis abzubilden und zu bestärken.43 Dieses antike Partizipationsmodell sollte auf die Stadt Genf des 21. Jahrhunderts übertragen werden, womit das Projekt auf die Schweizer Tradition der unmittelbaren Volksherrschaft anspielte, die alle stimmfähigen Bürger an einem Ort versammelte. Es war insofern folgerichtig, das athenische Modell der Tragödienpartizipation mit einem anderen antiken Modell, dem der Dithyramben, zu verknüpfen. Die Dithyramben waren in der Antike ein Chor-Wettbewerb, der am Vortag der Tragödien-Aufführungen im Rahmen der Athener Dionysos-Kultfeiern ausgetragen wurde. Jeder der zehn attischen Verwaltungsbezirke entsandte jeweils 50 Knaben oder Männer, um – ohne Maske und Kothurn – gemeinsam Balladen zu singen.44 Diese Massenspektakel der Fünfhundert wurde in Genf als ästhetisches Organisationsprinzip eingesetzt, indem die Teilnehmer des Genfer Perser-Projekts – nach zweimonatigen Proben blieben schließlich circa 180 Amateure verschiedenen Alters und Milieus – in zehn Gruppen trainiert und choreographiert wurden. Unter dem populären Motto »Let’s experience democracy!« sollte der Chor Prozesse von Demokratie mit Bezug auf eine städtische Öffentlichkeit verkörpern bzw. »verkörperlichen«. Wie auch bei Schleef diente die Aufführung als Experiment zur Erfahrung von Gemeinschaft oder des Kollektiven als Grundlage des Politischen. Das Projekt spannte ein komplexes Netz von Bezugnahmen, das antike Assoziationen mit modernen vermischte, etwa mit Brechts Konzeption des _____________ 42 Eine Beschreibung des Projekts und der theoretischen Implikationen findet sich unter http://www.theatercombinat.com/perser.htm [letzter Zugriff: 30.7.2007]. 43 Zu antiken Choregia vgl. Wilson (2000). Chorische Formen der Laien-Partizipation lassen sich im Gegenwartstheater im Rahmen eines neuen Diskurses um Authentizität vermehrt beobachten, vgl. beispielsweise die Chorprojekte von Volker Lösch (Orestie und Die Weber in Dresden), Peter Sellars (Children of Heracles, bei dem der Chor mit Asylbewerbern aus der jeweiligen Aufführungsregion besetzt wurde) oder Ein Junge, der nicht Memeth heißt (ein Projekt der Münchner Kammerspiele 2002). 44 Vgl. hierzu Cambridge-Packard (1953/1968) oder Zimmermann (1992), 35–39.

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Lehrstücks, das alle Anwesenden als Mitspieler vorsah,45 oder mit den chorischen Massen im Theater von Max Reinhardt46. Der Bezug auf den Dithyrambos verdankte sich nicht etwa der impliziten (und nicht belegbaren) These, dass dieser ein genealogischer Vorläufer der Tragödie gewesen sei, sondern diente als Möglichkeit, die klassischen Interaktionsformen des Theaters außer Kraft zu setzen und dabei zu beobachten.

Abb. 3: Chor der Bürger der Stadt Genf – Les Perser von Aischylos, Regie: Claudia Bosse / theatercombinat, Genf 2006.

Denn wer das hohe Blackbox-Theater des städtischen Kulturzentrums in Genf betrat, konnte weder eine Bühne finden, noch Requisiten, Kostüme oder etwa Zuschauersitze. In diesem völlig leeren Raum deutete nichts auf eine Theatervorstellung hin. Die von allen Seiten in den Raum strömenden Chor-Darsteller waren auf den ersten Blick nicht von den etwa 100 zugelassenen Besuchern zu unterscheiden: Sie trugen Alltagskleidung, verteilten sich gleichmäßig im Raum und richteten sich zu verschiedenen Seiten aus. Der Zuschauer konnte sich, wie in einer Ausstellungshalle, frei zwischen den Personen wie zwischen Ausstellungsstücken bewegen. Wenn Schleef mit seinen polyphonen Chören gegen die Trennung von Bühne und Zuschauersaal anrannte, war diese Distanz hier räumlich _____________ 45 Vgl. Müller-Schöll (2002), 207–260. 46 Vgl. Fischer-Lichte (2005), 84–125.

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suspendiert. Daraus ergab sich jedoch, dass der Rezipient in dieser begehbaren, lebenden Installation nie eine Außenperspektive erhielt und die Gruppe als Gesamtes nie zum Objekt des Blicks wurde. Vielmehr wird der Zuschauer selbst in das Innere des Chors versetzt und in die Masse hereingenommen. Dort nimmt er die nächststehenden Chormitglieder stärker wahr als den Chor in seiner Gesamtheit. Zudem widersetzen sich die einzelnen Chormitglieder dem objektivierenden Blick des in intimer Nähe stehenden Zuschauers, indem sie diesen mit Blicken fixieren, so dass der Zuschauer in seiner (voyeuristischen) Rolle »ertappt« und sich selbst als Akteur bewusst wird.47 Er verliert die Sicht auf die anderen Zuschauer und ist mitunter allein im »Wald der Darsteller«. Dort hörte der Zuschauer, wie der Chor – vorerst still stehend – die fast ungestrichene französische Übersetzung des antiken Texts spricht. Die Perser handeln vom historischen Niedergang der persischen Flotte in der Schlacht bei Salamis, ein monumentales Kriegsgeschehen, aus dem die Athener völlig überraschend als Sieger hervorgingen. Der Kampf lag zur Entstehungszeit erst kurz zurück und wird aus der Perspektive der persischen Feinde berichtet. Aber natürlich identifizierte man die Darsteller der Genfer Aufführung nicht mit Aischylos’ persischen Greisen, die sich um die eigenen Kämpfer sorgen. Die Sprecher zeugten in ihrem Sprechen vielmehr von einer Distanz zu dem, was sie sagten. Der Text wurde dabei ausgestellt und nicht situativ verlebendigt.48 Trotz der Distanz brachte der Chor jedoch auch eine Kraft der Vergegenwärtigung hervor, etwa wenn sich die verstreute Masse der Choreuten in Bewegung setzte, sich wie von Geisterhand verschiedene Lager gruppierten und phalanxartige Reihen bildeten. In diesen Bewegungen verdrängen die Chorformationen die im Raum verteilten Zuschauer immer wieder von ihrer Stelle, drängen sie an die Seite und zwingen sie dadurch, sich einen neuen Platz zu suchen. Zugleich jedoch scheint das persische Heer in diesen Bewegungen aufzuerstehen; das dunkle Kriegsgeschehen der Vorzeit, die Monumentalität des antiken Krieges lässt sich imaginieren, ohne dass der Krieg gespielt wird. Dieses Prinzip einer narrativen Spannung ohne repräsentationale Struktur zeigt sich beispielsweise auch in der Boten-Szene: Eine weiß gekleidete Frau zieht in geraden Linien langsam ihre Bahn und spricht, ohne ihrem Bericht eine stimmliche Dramatisierung zu verleihen. Währenddessen senken sich die im ganzen Raum verteilten Darsteller nach und nach langsam auf den Boden. Da sich auch einige Zuschauer innerhalb des fast 40-minütigen Berichts, erschöpft vom langen Stehen, auf den Boden gesetzt haben, ist dieser Vorgang anfangs nicht verwunderlich – es scheint, dass auch der Chor pausieren möchte. Wenn man jedoch genau auf die Worte des Boten hört, _____________ 47 Für neue Ansätze zur Dynamik der Blicke zwischen Zuschauer und Darsteller im Gegenwartstheater vgl. Siouzouli (2008). 48 Vgl. auch Pilz (2007), 6: »Der Text fliegt einem als erratischer Block um die Ohren. Er produziert Befremden und schneidet die einfachen Wege der Identifikation ab. Das Drama wird weder ins Heute gezerrt noch rissig gemacht; es wird ausgestellt«.

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der von der totalen Vernichtung des persischen Heeres berichtet, stellt sich langsam auch ein Bezug auf die Situation des Stücks her: Das Feld der auf dem Boden liegenden Körper verwandelt sich in ein Bild des Leidens bzw. menschlicher Versehrbarkeit; das entfernte Schlachtfeld von Salamis und die Situation in der Genfer Blackbox greifen momenthaft ineinander.49 Wenn auch die Inszenierung in Momenten auf die Realisierung oder Imagination der dramatischen Situation abzielte, so wurde diese Tendenz immer wieder durchkreuzt durch die Nähe zu den Darstellern, die – wie beschrieben – die Zuschauer teilweise mit Blicken fixieren oder in chorischen Bewegungen durch den Raum treiben. Die Imaginationen werden damit auf die Wirklichkeit der Aufführungssituation zurückgeführt. Jene »mimetische Energie«, mit der eine Aufführung zu einem narrativen Ereignis wird, stellt sich nicht dauerhaft ein. Die chorische Aufführung der Perser wird stattdessen zu einem Spiel beständiger Um- und Neustrukturierung des theatralen Raums, in dem Akteure und Zuschauer ihre Plätze und Bedeutungen immer wieder wechseln. Dies ließ sich beispielsweise beobachten, wenn die Darstellerin der Atossa, eine massige Frau mit nacktem Oberkörper, weißer Trainingshose und einer Catcher-Maske, mit Holzblöcken unter den Schuhen hereinstelzte. Der Chor, der sich auf diese Protagonistin ausrichtet, wird zu einer dem Individuum gegenüberstehenden Einheit und bindet in diesem Prozess auch die Zuschauer in seine Gruppe ein. Wenig später aber zieht sich der Chor in einer schnellen Bewegung zurück und gibt damit den Blick frei auf die Zuschauer, die weiter auf ihrem Platz verharren und in ihrer jeweiligen Haltung vorgeführt werden. Höhepunkt der Aufführung ist – wie schon in Schleefs Mütter – der Klagegesang, der sich hier zwischen Chor und Xerxes entwickelt. Zur Umsetzung der komplizierten Klagepartitur holt sich jeder Darsteller eine gedruckte Partitur, auf der die Verse in Rhythmik und Intensität gekennzeichnet sind. Die Zuschauer stehen wieder zwischen den Chordarstellern oder schauen über ihren Rücken auf die Partituren. Hier öffnet sich die Inszenierung für die Möglichkeit eines Klagegesangs, der Chor, Protagonisten und Zuschauer einbezieht.50 Ihr Wissen über die Antike scheint die Inszenierung bei alledem der Auseinandersetzung mit der Perser-Übertragung von Peter Witzmann und Heiner Müller zu verdanken, mit der die Regisseurin Claudia Bosse das Projekt entwickelt hat.51 Der Übersetzer Witzmann hatte versucht, mit einer beinahe wortwörtlichen Übertragung eine besondere Nähe zur antiken Vorlage herzustellen, ohne sich allzu eng an die deutsche Syntax oder eine primäre Verständlichkeit zu binden. Dies _____________ 49 Diese Imaginationen beschreibt beispielsweise ein Genfer Kritiker: »Mais voici que les anonymes de tout à l’heure se déploient sur deux rangs, comme une armée […] et quand survient la nouvelle da la catastrophe, 180 corps se raidissent.« (Demidoff [2006]). 50 Zur »Kunst der Klage« im postdramatischen Theater vgl. Roselt (2007). 51 Die Übertragung von Witzmann/Müller war die Textgrundlage der Wiener Fassung des Projekts, aber auch in Genf sprachen die Protagonisten den Text auf Deutsch aus dieser Fassung.

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schafft – in Müllers Worten – eine »Tuchfühlung mit dem alten Text«, betont jedoch zugleich die Distanz zum Originaltext, stellt ihn aus und macht ihn fremd und »dunkel«.52 Es ist genau diese Gleichzeitigkeit des Faktischen und des Opaken, mit der auch die Genfer Aufführung ihre Wirkung entfaltete. Gerade die Leere, der Umstand, dass der Chor über weite Teile nichts darstellt, produziert ein Geheimnis – oder eine imaginäre Nähe zur Antike. Im Spiel ist dabei sicherlich eine Auratisierung des antiken Stücks, das gewissermaßen wie ein Monument aus der fernen Vergangenheit in das Heute hineinragt. Die Übersetzung bleibt als dunkler, unzugänglicher Monolith bestehen und entwickelt dennoch eine Anziehung.53 In dieser Dialektik von Verfremdung und Vergegenwärtigung produziert die Aufführung ein Wissen von der Materialität des Theaters, indem sie die klassischen Interaktionsformen unterbricht und den Blick, die Stimme, die Begegnung von Chor und Individuum zu ihrem theatralen Ereignis werden lässt. Während Schiller den Chor dafür lobte, dass er die täuschende dramatische Handlung bricht,54 so blockiert der Chor hier von Grund auf jede Möglichkeit einer dramatischen Repräsentation und lässt sich deshalb als eine permanente Unterbrechung verstehen. Durchbrochen (oder verunmöglicht) wird auch die Passivität des Zuschauers, der sein Verhältnis zur Chorgruppe immer wieder neu finden und definieren muss. Seine Begegnung mit dem Chor, dem dramatischen Nullpunkt, lässt ein anderes Geschehen entstehen, in dem Korrespondenzen zwischen dem alten Stück und der modernen Imagination zeitweilig oder momenthaft erfahrbar werden.

Theodoros Terzopoulos – Mythos in der Schwebe Der Chor als performative Vermittlungsinstanz zeigt sich schließlich auf komplementäre Weise in der Regie des Griechen Theodoros Terzopoulos. Auch seine Inszenierung Ajax – der Wahnsinn nach Sophokles, die seit 2006 in verschiede_____________ 52 Heiner Müller: »Die Übertragungen von Peter Witzmann […] unterscheiden sich von andern per Tuchfühlung mit den alten Texten. Sie ziehn dem Autor nicht die Uniform der Zeit an wie die gängigen wilhelminischen der Droysen und Wilamowitz und ihrer Nachfolger. Der Gestus des Originals verschwindet nicht in der Information über den Inhalt. Das macht sie dunkel und für flüchtige Leser schwer zugänglich. […] Die Dunkelheit erhellt den Abstand zwischen Aischylos und uns.« (Müller [1991]). Dieses poetische Verfahren geht eigentlich auf Hölderlins Übersetzungen zurück. 53 Eine schöne Beschreibung dieses Verhältnisses findet sich bei Demidoff (2006): »Malgré sa part d’opacité, malgré ses litanies qui nous restent étrangères, Les Perses ébranle, comme la vague qui s’éloigne pour mieux chambouler au retour«. 54 »Was das gemeine Urtheil an dem Chor zu tadeln pflegt, dass er die Täuschung aufhebe, dass er die Gewalt der Affecte breche, das gereicht ihm zu seiner höchsten Empfehlung«, vgl. Schiller, Über den Gebrauch des Chors, 11.

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nen europäischen Städten zu sehen war,55 lässt sich als Transformation des Wissens über die Antike in chorischen Prozessen verstehen. Das Stück handelt von dem griechischen Kriegsheroen Ajax, der von der Göttin Athena mit Wahn gestraft wird, woraufhin er ein wildes Blutbad anrichtet und – als er sich seiner Tat bewusst wird – sich tötet. Für die Inszenierung entnimmt Terzopoulos dem Stück die Worte, mit denen Ajax’ Bluttat geschildert wird, und mischt sie mit einigen wiederkehrenden Versen aus dem Chor. Im Zentrum der Inszenierung stehen insofern nur 50 der fast 1500 Tragödien-Verse. Mit dieser Fragmentierung betont Terzopoulos die historische Distanz zu der Tragödie, von deren dramatischer Form er sich abwendet. Zugleich ist es sein Ziel, den tragischen Gehalt des Dramas in äußerster Verknappung zu übermitteln, indem er die wenigen Verse, die Zentralstellen des Mythos, dreimal und auf drei unterschiedliche Weisen verkörpern lässt.

Abb. 4: Erzähler-Kollektiv, Attis Theatre – Ajax, der Wahnsinn nach Sophokles, Regie: Theodoros Terzopoulos, Athen/Berlin 2006.

Wieder ist das Chorische das grundlegende Organisationsprinzip. Der Chor handelt hier indes weder als kollektiv sprechende, singende oder tanzende Einheit, _____________ 55 In Berlin am 29. Oktober 2006 in der Halle des Radialsystems.

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noch in der funktionalen Gegenüberstellung zu einem oder mehreren Protagonisten. Verkörpert wird er als ein fragiles Gebilde von drei auf kleinen Podesten balancierenden Männern mit nacktem Oberkörper, deren Bewegungen und Handlungen sich ständig aufeinander beziehen. Aus dieser anfangs noch gemeinsam agierenden Einheit tritt nach und nach jeweils ein Darsteller hervor, um den AjaxMythos in einem Solo zu erzählen und zu verkörpern. Es ist charakteristisch für die drei Soli, die jeweils lachend beginnen und weinend enden, dass sie den Wahnsinn des Ajax nicht nur erzählen, sondern in einem mimetisch-identifikatorischen Prozess körperlich zu vergegenwärtigen suchen. Sie beginnen jeweils mit einem distanzierten Bericht über das Gemetzel, das Ajax in seinem Wahn anrichtet, wobei ihre Gesichter zu einer maskenhaft lachenden Grimasse verzogen sind und im Hintergrund eine sanfte wiederkehrende Walzermelodie zu hören ist. Die Körper aller Darsteller sind gespannt und führen rätselhafte, ruckartige Bewegungen aus. Nach und nach, im Laufe ihrer Erzählung, steigern sie sich in den Rausch, von dem sie berichten, hinein. Mit einer stoßhaften Atmung und sich wiederholenden Bewegungen, die von den zwei anderen im Hintergrund agierenden Darstellern synchron unterstützt und also chorisch wiederholt werden, versetzen sie sich selbst in einen dionysischen Zustand, in dem sie die destruktiven Potentiale der Ajax-Figur erkunden und die Kontrolle über sich zu verlieren drohen. Dies passiert dreimal auf ganz unterschiedliche Weise. Jeder Darsteller bringt – mit Hilfe der anderen – den Zustand des besessenen Ajax gewissermaßen aus seinem Körper hervor und wiederholt somit in der Gegenwart der Aufführung das mythologische Dispositiv der alten Erzählung. Die drei Akteure stellen dabei einen »Chor der Wiederholung« dar: Statt gemeinsam handeln sie nacheinander, individuell.56 Dabei wird jeder Einzelne von den zwei anderen rhythmischenergetisch unterstützt. Zugleich stellt die Gruppe das kollektive Ganze dar, aus dem der Einzelne hervortritt und in den er sich wieder eingliedert. Der Chor ist eine kollektive Erzählerinstanz, die sich als energetisches Ineinander der drei Darsteller verstehen lässt, als ein körperlicher, überindividueller Verbund. Die spannungsgeladenen Körper, ihre rhythmisch wiederkehrenden, synchronen Bewegungen sowie die tief in das Körperinnere führenden lautlichen Kontraktionen zielen auf eine Überwindung der subjektiven Verortung der Darsteller und stellen den Schlüssel dar, mit dem sich die Darsteller Zugang zu dem ekstatischen Bewusstseinszustand des Ajax zu verschaffen suchen. Darüber hinaus binden sie aber auch die Zuschauer körperlich in diesen rhythmisch-energetischen Prozess ein und stellen eine Verbindung von Bühne und Zuschauerraum her.57 _____________ 56 Wenn man den Chor nicht nur als eine Aktion begreift, die sich als überindividuell charakterisieren lässt, sondern als vielfach, von vielen, so ist dieses Prinzip hier in die Dauer übertragen. 57 Zu rhythmisch-energetischen Prozessen als Mittel der Verbindung von Akteuren und Zuschauern vgl. Fischer-Lichte (2004), 238 ff.

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Wie sich hier zeigt, ist Terzopoulos’ Antike-Diskurs stark von der Vorstellung des Dionysischen geprägt, die er 1985 im Rahmen seiner ersten Inszenierung einer antiken Tragödie, der Bakchen, für sich entdeckte und in Auseinandersetzung mit dem Erbe der historischen Avantgarde weiterentwickelte. In einem autobiografischen, manifestartigen Text erläutert er, wie er damals auf der Suche »about clues of the body’s sources of energy« auf eine Darstellung antiker medizinischer Heilungsrituale stieß und für seine Theaterarbeit fruchtbar machen konnte: Im attischen Amphiareion-Heiligtum mussten Patienten zur Vorbereitung auf eine Operation stundenlang nackt im Kreis stampfen, woraus they proliferated energy similar to that of African performances. […] They were in a trance, like the Bacchae, brought on not by wine, nor with words, but by the body’s wine – their blood.58

Mit dem Verweis auf medizinische Praktiken schafft Terzopoulos eine Verbindung zu antiken Ritualen, ohne sich in den Bannkreis kultisch-religiöser Praxis zu begeben. Zentral ist jedoch das Wissen von der kollektiven, chorischen Bewegung, die sich als Quelle jener Energie verstehen lässt, aus dem sich Terzopoulos’ Theater entwickelt. Die griechische Tragödie versteht Terzopoulos dabei als ein Medium des Erinnerns. Die Körper der Schauspieler sind das anthropologische Wissens-Material, das den Zugang zu den verborgenen Schichten menschlicher Existenz ermöglicht und das Verdrängte hervorbringen soll.59 Dieser dionysische Grundimpetus der Inszenierung paart sich darüber hinaus aber mit einer Brechtschen Tradition der Verfremdung. Dies zeigt sich nicht nur in der stilisierten und hochformalisierten Spielweise, sondern auch, wenn man sich das chorische Prinzip dieser Inszenierung, die Struktur der Wiederholung, näher betrachtet. Denn die Serie der mythologischen Wiederholung legt einerseits nahe, dass der Mythos wie ein Programm aus der Vergangenheit kommt und sich vermutlich auch in die Zukunft dreht; dass der Mensch gewissermaßen in diesem noch heute lebendigen Muster der Verblendung und Gewalt gefangen ist.60 Dieser anscheinend ewige Kreislauf wird jedoch durch die mehrfache Wiederholung auch ausgestellt, zum Objekt gemacht, und gewissermaßen suspendiert. Zudem wird er nach etwa einer Stunde durch einen coup de théâtre, einen Eingriff von _____________ 58 Terzopoulos (2000), 51. – Die Quelle des Verweises auf diese antike Heilungsmethode ist in Terzopoulos’ Text nicht nachgewiesen und lässt sich ohne weiteres auch nicht auffinden. Vermutlich handelt es sich um eine marginale Quelle, denn es ist schwer, den Einsatz von ekstatischer Bewegung als Praxis in der antiken Medizin zu verifizieren – schließlich sucht die sich auf Asklepios berufende Medizin den Weg zur Heilung im Schlaf; Reigentänze oder Ringchöre finden sich dagegen eher in religiösen Kontexten (vgl. Stoessl [1987]). Hier geht es jedoch weniger um den akkuraten Textbezug als um das Antikebild, das von Terzopoulos durch die Bezugnahme geschaffen und affirmiert wird. 59 Vgl. Terzopoulos (2000), 51 f. 60 Zum Mythos als »Programm«, als »Vorprägung der Realität« vgl. Burkert (1999), 14 f.: »Man kann Erzählungen als Programme verstehen und begreift damit zugleich ihre Rolle als ›Programmierung‹ von seelischem Erleben, von Verhalten und Wirklichkeitserfahrung«.

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Außen, auflöst: Der seichte musikalische Loop, der den Wiederholungen unterlegt war, mündet jetzt in einen Song von Pink Floyd, der auf ironische Weise von den Kriegsspielen der Mächtigen des kalten Krieges erzählt. Jetzt brechen auch die Darsteller aus ihrem Wiederholungsspiel aus und verlassen ihr Spielfeld. Dieser Schluss kann nur andeuten, dass jenes anscheinend tragische, sich wiederholende Schicksal, das in der Erzählung des Mythos von einem Gott verhängt wird, in der Gegenwart mit konkreten politischen Verantwortlichkeiten verknüpft ist, die sich ändern ließen. Die Inszenierung präsentiert sich somit als eine szenische Reflexion, die eine gedankliche Linie auch zur Auflösung des Tragischen zieht, zum Denken des tragischen Mythos als einer »geschichtlichen Begebenheit«61. Das Prinzip der Wiederholung, das der Chor verkörpert, stellt die Basis für die Vergegenwärtigung des Mythos dar und zielt zugleich auf seine Unterbrechung. Mit Hans Blumenberg könnte man die Inszenierung somit auch als einen Versuch betrachten, den Mythos durch seine ausgestellte Wiederholung »zu Ende zu bringen«.62 Oder mit Jean-Luc Nancy als einen Versuch, die Macht des Mythos zugleich anzuerkennen wie zu dekonstruieren: Wenn man annimmt, dass der ›Mythos‹ […] etwas bezeichnet, das nicht einfach verschwinden kann, dann ginge es darum, zur äußersten Grenze des Mythos zu gelangen, an einer Grenze entlangzugehen, an der der Mythos selbst nicht etwa aufgehoben, sondern vielmehr in der Schwebe, unterbrochen wäre.63

Schluss Die Beispiele öffnen das Spektrum zeitgenössischer Transformationen des antiken Chors in ganz unterschiedlichen Institutionen, Ästhetiken und Wissensordnungen: Einar Schleefs Inszenierung Mütter entstand in direkter Auseinandersetzung mit den Konventionen deutscher Stadt- und Staatstheater Mitte der 1980er Jahre und führte diese an ihre Grenzen. Die Produktion konfrontierte die Zuschauer mit der Gewalt des Kollektiven, das den Wunsch nach einer subjektiven Identität bedroht, stieß eine neue Beschäftigung mit dem tabuisierten Chor an und wurde damit zu einem modellhaften Ereignis. Die Perser des Theatercombinats sind ein Beispiel für das zeitgenössische Interesse des experimentellen Theaters an Kollektivformen, die hier als permanente Unterbrechung der dramatischen Theaterkommunikation durch die chorische Besetzung des Theaterraums inszeniert werden. Theodoros Terzopoulos schließlich, der die deutsche Tradition des Sprechchors vermied, kann man als Vorreiter eines chorischen Theaters sehen, das seine szenischen Handlungen aus der Anwesenheit des gesamten Ensembles heraus entwickelt. Der griechische Regisseur konzipierte seine Ajax-Inszenierung _____________ 61 Vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 282. 62 Vgl. zu diesem letztlich als unmöglich beurteilten Gedanken Blumenberg (1979/2006), 291 ff. 63 Nancy (1988), 103.

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als eine Gemeinschaft der erinnernden Erfahrung mythologischer Grundmuster, die sich endlos zu wiederholen und in der Wiederholung unterbrochen scheinen. Die beschriebenen chorischen Produktionen lassen sich als Prozesse verstehen, die ein Verdrängtes oder Verschüttetes durch die Entfesselung kollektiver körperlicher Energien sichtbar machen. Auch wenn damit die Frage der Gemeinschaft neu aufgeworfen wird, führen die chorischen Performanzen nicht auf einen emphatischen Gemeinschaftsbegriff zurück. Vielmehr ist die Reaktivierung des Chors in den beschriebenen Beispielen in mehrfacher Hinsicht Ausgangspunkt einer Ästhetik der Unterbrechung oder des Bruchs. Denn als eine expansive, transgressive Kraft, die über den von den Tragödien gesetzten Rahmen hinausgeht, lenkt die verstärkte Präsenz des Chorischen die Wahrnehmung auf die Aufführungssituation und drängt die dramatisch-narrativen Prozesse in den Hintergrund. Der Chor wird gewissermaßen von einer repräsentativen oder kommentierenden Funktion befreit und schafft erst dadurch eine körperliche Erfahrung. Aufgrund dessen kann man jedoch nicht mehr – wie bei Schiller – davon sprechen, dass der Chor den Rezipienten davon abhielte, sich »mit dem Stoffe [zu] vermengen«, so dass er »über demselben schweben«64 könnte. Der Chor fungiert vielmehr als ein Bindeglied zwischen Akteuren und Zuschauern; als eine Mittlerfigur zwischen den tragischen Prozessen und ihren Rezipienten. Innerhalb spezifischer Konstellationen von Distanz- und Naherfahrung bricht er die passive Rezeptionshaltung und zwingt den Zuschauer, sich gegenüber den Vorgängen zu positionieren. Das Dionysische – sei es mit dem Bezug auf Nietzsche wie bei Schleef oder mit Bezug auf den Diskurs der antiken Medizin wie bei Terzopoulos – ist dabei nur ein Aspekt unter mehreren und erscheint nicht ungebrochen. Denn Schleef provoziert mit der Entfesselung rauschhafter Zustände auch ihre Gegenreaktion; Terzopoulos steuert den ekstatischen Emergenzen mit einer Verfremdungsästhetik entgegen. Verbunden mit dieser Sprengung des dramatischen Kontinuums und der Veränderung der Position und Rolle des Zuschauers ist jedoch der Versuch, durch die Inszenierung des Chores einen Bruch mit den jeweiligen Theaterkonventionen zu erreichen. Aus den Stoffen und Formen der fernsten Vergangenheit entsteht eine Quelle auch für eine Änderung der gewohnten Interaktionsformen. Das Wissen über die Antike ist in diesem Prozess, gerade durch das Bewusstsein einer historischen Distanz, ein konstitutiver Faktor und wird zu einem Stimulus neuer Entwicklungen. Den Prozess des Wissens verwandeln die Aufführungen in Prozesse von Erfahrung – des Potentials und des Verlusts der Gemeinschaft.

_____________ 64 Vgl. Schiller, Über den Gebrauch des Chors, 14.

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Abbildungsnachweis Abb. 1 und 2: Abb. 3: Abb. 4:

© Andreas Pohlmann. © Maria Mäser / Archiv Theatercombinat. © Johanna Weber / Archiv Theodoros Terzopoulos, Attis Theatre.

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ACHIM AURNHAMMER, Studium der Germanistik, Geschichte und Italianistik in Heidelberg und Florenz, seit 1992 Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Freiburg i. Br. Forschungsschwerpunkte: Italienisch-deutsche Literaturbeziehungen, Antikerezeption, Frühe Neuzeit, Klassische Moderne. Buchpublikationen (Auswahl): Francesco Petrarca in Deutschland (Hg., Tübingen 2006), Petrarcas Katze. Die Geschichte des kätzischen Petrarkismus (Heidelberg 2005), Gefühlskultur der bürgerlichen Aufklärung (Mhg., Tübingen 2004), »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900 (Mhg., Frankfurt/M. 2002), Torquato Tasso im deutschen Barock (Tübingen 1994), Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur (Köln/Wien 1986). TATJANA BARTSCH, Studium der Kunstgeschichte und Neueren Deutschen Literatur in Berlin und Pisa. 1997 bis 2000 arbeitete sie als Projektassistentin an der Bundeskunsthalle in Bonn. Seit 2000 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2005 ist sie zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB »Transformation der Antike«. Sie hat zu ihren Forschungsschwerpunkten, zu denen Antikenrezeption in Mittelalter und Renaissance, niederländische Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts sowie das zeichnerische Werk Maarten van Heemskercks gehören, verschiedene Beiträge veröffentlicht. ADOLF HEINRICH BORBEIN ist emeritierter ordentlicher Professor der Klassischen Archäologie an der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Forschungen und Publikationen sind die Geschichte der griechischen und römischen Kunst, insbesondere der antiken Skulptur, und die Geschichte sowie die Methoden der Klassischen Archäologie. LUDWIG BRAUN, Studium der Klassischen Philologie und der Klassischen Archäologie in Frankfurt am Main und Wien. Habilitation 1978 in Frankfurt. Seit 1985 Professor extraordinarius für Klassische Philologie in Würzburg. Veröffentlichungen unter anderem zur römischen, mittellateinischen und neulateinischen Komödie, römischen Tragödie, antiken Biographie und zum römischen und neu-

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lateinischen Epos. In den letzten Jahren ausgedehnte Forschungen zum neulateinischen Epos in Frankreich, woraus die jüngste Buchpublikation hervorging, Ancilla Calliopeae. Ein Repertorium der Neulateinischen Epik Frankreichs (1500–1700) (Leiden 2007). MARTIN DÖNIKE, Studium der Neueren deutschen Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie in Kassel und Berlin. Seit 2005 ist Martin Dönike Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« an der Humboldt-Universität zu Berlin, Teilprojekt B6: Die Entwicklung der Altertumswissenschaften in ihrer Bedeutung für Literatur und Kunst der Goethezeit. Er forscht zur Literatur um 1800 (Klassik und Romantik), zur Ästhetik und Kunsttheorie des europäischen Neoklassizismus sowie zur Literatur der klassizistischen Moderne. Er ist Autor des Bandes Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806 (Berlin/New York 2005), Herausgeber der Briefe Friedrich Burys an Goethe und Anna Amalia (Göttingen 2007) sowie Mitherausgeber des »Frankfurter Nachlasses« Wilhelm Heinses (München 2003– 2005). MATTHIAS DREYER, Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie in Wien, Paris, Baltimore und Berlin. 2002–2005 Dramaturg am Ulmer Theater und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike«, Teilprojekt am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Veröffentlichungen: Antike Tragödie heute (Berlin 2007, Hg. mit Erika Fischer-Lichte) sowie »Prospective Genealogies. Einar Schleef’s Theatre of the Chorus«, in: Theatre Research International (erscheint voraussichtlich Ende 2008). Er arbeitet an einer Dissertation über Aufführungen griechischer Tragödien seit 1970. ARNOLD ESCH studierte Geschichte und Klassische Archäologie an den Universitäten Münster und Göttingen, lehrte 1977–1988 mittelalterliche Geschichte an der Universität Bern, und leitete 1988–2001 das Deutsche Historische Institut in Rom. Er ist korrespondierendes Mitglied der Pontificia Accademia di Archeologia und des Deutschen Archäologischen Instituts sowie weiterer Akademien und wissenschaftlichen Institutionen. Seine Forschungen und Publikationen betreffen die Geschichte des Spätmittelalters und der Renaissance, vor allem die Geschichte Roms und des Papsttums, Fragen zwischen Wirtschafts- und Kunstgeschichte, und das Nachleben der Antike. MARCO FORMISANO, Studium der Klassischen Philologie (lettere classiche) in Palermo und Paris VII und Frances Yates Fellow im Warburg Institute (London). Seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 644 »Transformationen der Antike« an der Humboldt-Universität. Forschungsschwerpunkte: römische »Fachliteratur« (insbesondere Medizin und Kriegskunst) und ihre Rezeption in der Renaissance; frühchristliche Märtyrerakten; römische Panegyrik sowie Autobio-

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graphie in der Antike. Er ist Autor der Bände Tecnica e scrittura. Le letterature tecnico-scientifiche nello spazio letterario tardolatino (Rom 2001), Vegezio. Arte della guerra romana (Mailand 2003), La Passione di Perpetua e di Felicita (Mailand 2008) und Perpetua’s Passions. Pluridisciplinary Approaches to the Passio Perpetuae et Felicitatis (Mithg. mit Jan N. Bremmer, Oxford, i. E.). THOMAS HAYE, Studium der Fächer Latein, Geschichte sowie Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit in Göttingen. Seit 2002 ist Thomas Haye Inhaber des Lehrstuhls für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Göttingen und seit 2005 Direktor des Göttinger Zentrums für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung. Er ist Autor der Bände Das Compendium gramatice des Johannes de Garlandia (Köln/Wien 1995), Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung (Köln/Leiden 1997), Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache (Köln/Leiden 1999), Humanismus in Schleswig und Holstein. Eine Anthologie lateinischer Gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts – mit deutscher Übersetzung, Kommentierung und literarhistorischer Einführung (Kiel 2001), Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters (Berlin/New York 2005), Die Mutineis des Francesco Rococciolo. Ein lateinisches Epos der Renaissance (Hildesheim 2006). MARCUS JUNKELMANN, Studium der Geschichte und Anglistik in München. Mitarbeiter an mehreren Ausstellungen und am Bayerischen Armeemuseum Ingolstadt. Seit 1984 freier Historiker und Schriftsteller, Lehraufträge an der Universität München und an der Universität der Bundeswehr Neubiberg. Forschungsprojekte zur experimentellen Archäologie vornehmlich der römischen Armee in Zusammenarbeit mit verschiedenen in- und ausländischen Museen und archäologischen Parks. Mitarbeit an mehreren Dokumentarfilmen. Zu seinen Publikationen gehören Napoleon und Bayern. Von den Anfängen des Königreiches (Regensburg 1985), Die Legionen des Augustus. Der römische Soldat im Archäologischen Experiment (Mainz 1986), Die Reiter Roms, 3 Bde. (Mainz 1990–1992), Gustav Adolf. Schwedens Aufstieg zur Großmacht (Regensburg 1993), Reiter wie Statuen aus Erz. Römische Paraderüstungen (Mainz 1996), Römische Kampf- und Turnierrüstungen (mit Hermann Born, Berlin/Mainz 1997), Panis militaris. Die Ernährung des römischen Soldaten oder der Grundstoff der Macht (Mainz 1997), Römische Helme (Berlin/Mainz 2000), Kurfürst Max Emanuel von Bayern als Feldherr (München 2000), Das Spiel mit dem Tod. So kämpften Roms Gladiatoren (Mainz 2000), Theatrum Belli. Die Schlacht von Höchstädt 1704 und die Schlösser von Schleißheim und Blenheim (Herzfeld 2001), Hollywoods Traum von Rom. »Gladiator« und die Tradition des Monumentalfilms (Mainz 2004), Der Du gelehrt hast meine Hände den Krieg. Tilly – Heiliger oder Kriegsverbrecher (Altötting 2007).

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SUSANNE MORAW, Studium der Klassischen Archäologie, Alten Geschichte sowie Ur- und Frühgeschichte in Gießen und Berlin. Seit 2006 ist Susanne Moraw Referentin in der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts Berlin. Sie forscht zu Bilderwelt und Mentalität der griechischen Klassik sowie der Spätantike, zum antiken Theater und zur antiken Geschlechterbeziehung. Sie ist Autorin der Bände Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. (Hg., Stuttgart 2005), Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike (Hg., Mainz 2002) und Die Mänade in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. Rezeptionsästhetische Analyse eines antiken Weiblichkeitsentwurfs (Mainz 1998). URSULA ROMBACH, Studium der Lateinischen und Mittellateinischen Philologie und der Geschichte in Köln. Seit der Promotion (1990) Arbeit an der Universität zu Köln, 1999 bis 2004 bei der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, seit 2005 im Projekt B 3 des SFB 644 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu den Publikationen zur lateinischen Literatur des Mittelalters und der Renaissance zählen Vita activa und vita contemplativa bei Cristoforo Landino (Stuttgart 1991), Alexander der Grenzgänger (Stuttgart 1997), Marsilio Ficino Index nominum et index geographicus (Mithg., Hildesheim 2003). CHARLOTTE SCHREITER, Studium der Klassischen Archäologie, Vor- und Frühgeschichte und Alten Geschichte in Berlin, München und Köln. Nach längerer Museumstätigkeit ist Charlotte Schreiter seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance. Sie forscht u. a. zu Herstellung und Vertrieb von Gipsabgüssen, Kopien und Nachbildungen antiker Plastik im 18. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang erschienen der Ausstellungskatalog Antike, Kunst und das Machbare. Früher Eisenkunstguß aus Lauchhammer, zugl. Pegasus. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike, Heft 5, 2004 (Ausstellung in der Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin, 24. Januar–14. März 2004) sowie der Tagungsband Berliner Eisen. Die Königliche Eisengießerei Berlin – Zur Geschichte eines preußischen Unternehmens. Berliner Klassik 9, hg. v. Albrecht Pyritz/Charlotte Schreiter (Hannover 2007). CORNELIA WILDE, Studium der Englischen Literaturwissenschaft und Geschichte in Bonn, Oxford und Berlin. Seit 2005 ist Cornelia Wilde wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 644 »Transformationen der Antike« und als Lehrbeauftragte und Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der HumboldtUniversität Berlin tätig. Sie forscht zur englischen Literatur der Renaissance und der Frühen Neuzeit. Sie ist Autorin des Buches Phantastische Experimente. Das Schreiben Margaret Cavendishs (Berlin 2007). CRAIG WILLIAMS, BA, MA und PhD in der Klassischen Philologie an der Yale University. Zur Zeit Professor of Classics, City University of New York. Seit

Autorenverzeichnis

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1999 mehrmals Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung, an der Freien Universität sowie der Humboldt-Universität Berlin tätig. Forschungsschwerpunkte: Sexualität in der Antike, Martial und das lateinische Epigramm, Freundschaft in der Antike. Er ist Autor der Bände Roman Homosexuality: Ideologies of Masculinity in Classical Antiquity (Oxford/New York 1999) und Martial, Epigrams: Book Two. Text, Translation and Commentary (Oxford/New York 2004).

Abkürzungsverzeichnis 1. Abkürzungen griechischer Autorennamen und Werktitel Homer Od.

Odyssee

Platon apol. Phaid. rep. symp.

Apologia Phaidon de re publica symposion

Plutarch mor.

moralia

2. Abkürzungen lateinischer Autorennamen und Werktitel Cato agr.

de agricultura

M. Tullius Cicero fin. nat. Tusc.

de finibus bonorum et malorum de natura deorum Tusculanae disputationes

Horatius ars poet.

ars poetica

Ovidius met.

metamorphoses

Sallustius Sall. Cat.

Sallustius coniuratio Catilinae

Plinius maior nat.

naturalis historia

Vergilius Aen.

Aeneis

Personenregister Abbo von S. Germain 100 Abrams, Claes 140 Achill 99 Aegidius von Paris 100 Agyagfalva, Ludwig Goro von 219 Aischylos 349, 351–357 Albert von Stade 100 Alcimus Avitus 100 Alexander der Große VI, 79–93, 96, 100, 104, 208–210, 225 Alexandre de Paris 80 f., 85–91, 93 Alma-Tadema, Lawrence 299, 311, 284 Andrea Mantegna 6, 309 Angelius Bargaeus, Petrus 167 Anonymus B 139, 142 Anonymus Mantovanus A 134, 136, 139 Arator 100, 102 Aristophanes 221 Aristoteles 81, 127, 208–210, 339 Arnolfo di Cambio 27 Arrius 315 Assmann, Aleida 55 Assmann, Jan 53 Athenaios von Naukratis 203, 213 Augustus (Octavian) 21, 167, 206, 287, 293–295, 314, 317 f., 321 Ausonius 45, 54 Bachtin, Mikhail 326, 331 Bähr, Christian 229 Bakker, Adriaen 154 Bandinelli, Baccio 150 Barthélemy, Jean-Jacques 203–213, 217 f., 223, 227, 229 Beck, Christian Daniel 207 Becker, Wilhelm Adolph 205–207, 216– 231 Becker, Wilhelm Gottlieb 207, 241 Beger, Lorenz 213 Begijn, Pieter Jansz 138 Benedetto Antelami 27 f.

Benedetto canonico 14 Benjamin, Walter 260, 363 Berengar I. 100–102 Billerbeck, Heinrich Ludwig Julius 219 Biondo, Flavio 19–21 Bisschop, Jan de 113, 119, 149–154 Blanck, Horst 228 Blumenberg, Hans 363 de Boissat, Pierre 161, 167 Bonifaz VIII. 10 Bonifaz IX. 21, 25 Bos, Cornelis 132 Bosse, Claudia 356, 358 Böttiger, Carl August 205–207, 213– 219, 222, 224–231 Bowersock, Glen 43, 49 Brecht, Bertolt 355, 362 Brome, Alexander 176 Brook, Peter 347 Brown, Peter 43 Bulwer-Lytton, Edward VII, 201–205, 210, 213, 227–229, 231 Buondelmonti, Cristoforo 19 Burckhardt, Jacob 223 de Bussières, Jean 162–167 Byatt, A. S. 326, 336 Caesar, Gaius Julius 9–11, 14, 29, 104, 135, 288, 290, 292, 296, 298, 309, 314, 317 f., 321 f., 337 Cameron, Averil 43–45, 48–51 Canfora, Luciano 42 Canova, Antonio 240, 245 f. Capgrave, John 17 Carradori, Francesco 239, 241, 247–259 Carrié, Jean-Michel 42–45 Cassius Dio 296, 298 Castiglione, Baldassare 176, 183, 191 Catilina 20, 325–342 Cato der Ältere 329 Cavaceppi, Bartolomeo 244, 256 f.

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Personenregister

Cavallerijs, Giovanni Battista de 137 Chapelain, Jean 168 Chaussard, Pierre-Jean-Baptiste 206 Choiseul-Gouffier, Marie-GabrielFlorent-Auguste Comte de 210 Cicero, Marcus Tullius 169, 179 f., 182, 191 f., 195, 302, 327, 330, 337 f. Cicero, Quintus Tullius 221 f. Clark, Elisabeth 43, 49 Claudian 45, 98, 102, 166 Clemens IV. 25 Cock, Hieronymus 137 Coleman, Kathleen 310 f. Commodus 317–320 Conway, Anne 172, 175 Coornhert Volkertsz, Dirck 116, 119– 120, 126 f., 131–133 Coripp 98, 102 Couture, Thomas 42 Crassus 315 f. Crébillon, Claude Prosper Jolyot de 212 Cyriacus von Ancona 19 D’Annunzio, Gabriele 31 Dahn, Felix VII, 228 Dante 7 Decembrio, Pier Candido 106 Demokrit 179, 192 Desmarets de Saint-Sorlin, Jean 168 Dezobry, Louis Charles 206 f. Doncker, Herman Mijnerts 154 Donizo von Canossa 100 Dosio, Giovanni Antonio 137 Doudijns, Willem 150, 154 Douglas, Kirk 315 Droysen, Johann Gustav 284, 296, 359 Du Pérac, Étienne 137 Ebers, Georg 228, 283–304 Eco, Umberto 98, 399 Epikur 178 f., 188, 190, 192–195, 290, 294 Ermoldus Nigellus 100 Eulistes 12 Euripides 349–351 Fénelon, François de Salignac de La Mothe 213

Ficino, Marsilio 176, 179, 183, 194 Fieschi, Guglielmo 25 Fischer, Karl 227 Fleishman, Avrom 325 f. Flötner, Peter 133 Fogolino, Marcello 19 Fra Angelico 5 Friederichs, Carl 272, 276 Friedrich I. Barbarossa 7 Füssli, Johann Heinrich 42 Fuhrmann, Manfred 46, 51 Fulco 100 Furtwängler, Adolf 273 Gallus, Gaius Cornelius 217 f. Gell, William 201–203, 219 Genette, Gérard 322 Gérôme, Jean-Léon 311 Gheyn, Jacques de 154 Ghiberti, Lorenzo 32 Gibbon, Edward 42, 316 Gilo von Paris 100 Giovanni Pisano 31 Girard, René 349 Goethe, Johann Wolfgang 205, 248, 271, 275 Göll, Hermann 227 f. Goltz, Hubert 121, 140 f. Goltzius, Hendrick 113, 119–123, 125, 127 f., 133 Gorgias 287, 293 f., 285, 287 Gottfried von Viterbo 100 Gracchus 315 Gregorius, Magister 27 Gregorovius, Ferdinand 19 Grüber, Klaus-Michael 347, 345 Gruter, Jan 221 f. Gualandri, Isabella 51–53 Guibert von Nogent 22 Gunther 100 Haarlem, Cornelis Cornelisz van 113, 119, 121–131, 133, 138, 140, 143, 154 Hadrian 27, 49, 286 Hadrianus Junius 116, 119 Hamann, Richard 278 f. Harlan, Veit 310

Personenregister Harris, Robert VII, 325, 327–335, 340– 342 Haymarus 100 Heemskerck, Maarten van 113–155 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 268, 346 Heraklit 73 Hermann, Gottfried 207 Hermann, Karl Friedrich 226 f., 231 Herzberg, Wilhelm 229 Herzog, Reinhart 41 f., 49 f., 52, 54, 100 Hibernicus Exul 100 Hirt, Aloys 271 f., 275 Homer V, 59–61, 70, 73, 75–77, 99, 101, 103–105, 181 Horaz 22, 101, 104–106, 182, 221, 296 Hrotsvith von Gandersheim 100 Ingelo, Nathaniel 171–196 Innozenz VIII. 115 Jacob, G. 229 Jacobsz, Jan 140 Jansz, Jacob 140 Jenisch, Daniel 208 Johannes de Garlandia 100 Jordan, Wilhelm 283 Joris, David 139 Joseph Iscanus 100 Justinus von Lippstadt 100 Juvenal 106, 219 Juvencus 100 Karl der Große 9, 11 Keller, Ferdinand 284, 290 f. Klein, Wilhelm 272–274, 277 Kleopatra 284–303 Konstantin 11, 15, 49, 148, 167–170, 314 Krautheimer, Richard 21, 31 Kubrick, Stanley 315 Kugler, Franz 272, 275 Lantier, Étienne François de 212 Le Moyne, Pierre 168 Le Roy, Julien-David 210 LeRoy, Mervyn 313 Leyden, Lucas van 139

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Ligorio, Pirro 215 Livius 12, 106, 309 Lockhart, John Gibson 204 f. Lucan 79, 93, 98 f., 104–106 Lucilla 320 Ludwig VIII. von Frankreich 103 Lübke, Wilhelm 267–269, 272 f., 276 f. Lukian 179, 220 Lukrez 178, 182, 290 Macrobius 182 Maffeo Vegio 106 Makart, Hans 295 Mambrun, Pierre 167 Mander, Karel van 114, 118, 121–125, 130, 133 Manili, Lorenzo 21 Mann, Anthony 312, 315–318, 320–322 Marcellus Empiricus 55 Marcus Antonius 286–299, 301 f. Mark Aurel V, 12, 15, 49, 316 f. Marquardt, Joachim 207 Marrou, Henri-Irénée 41, 43, 45, 48, 51 Martial 219, 223 Martino di Bartolomeo 32 f. Marvell, Andrew 172 Matham, Jacob 113, 119, 133–136, 150, 153 f. Max, Arthur 320 Mayre, Jacques 167 Mazois, Charles-François 205–207, 215–223, 225, 227, 229 Mazzarino, Santo 43, 45 McGill, Scott 54 Medici, Guiliano de’ 124 Meierotto, Johann Heinrich Ludwig 224 Metcalfe, Frederick 229 f. Metellus von Tegernsee 100 Meyer, Eduard 285, 299 Meyer, Heinrich 271 f., 275 Michelangelo Buonarotti 115, 123–125, 131–133, 248 Mino da Fiesole 115 Momigliano, Arnaldo 43 Mommsen, Theodor 207 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 208 More, Henry 172, 175, 178 f., 186

380

Personenregister

Most, Glenn 53 f. Müller, Heiner 358 f. Müller, Karl Otfried 222, 271 Müller-Schwefe, Hans-Ulrich 351 Münzer, Hieronymus 18 Muffel, Nikolaus 19 Mussolini 313 f., 318–320 Nancy, Jean-Luc 363 Napoleon 248, 320 Nel, Christoph 348 Nero 313 f., 341 Nicola Pisano 31 Nicolaus de Braia 100 Nietzsche, Friedrich 278, 347, 350, 364 Nonius Marcellus 220 Nünning, Ansgar 326, 339 Numai da Forlì, Cristofero 144 Odo von Magdeburg 100 Olivier, Laurence 315 Otto I. 11 Otto III. 11 Overbeck, Johannes 268, 272 f., 275 f. Ovid 12, 14, 60, 69 f., 87 f., 98, 106 f., 163 f., 169 Panofsky, Erwin 31 Patrick, Simon 177 f., 184 Paul III. 143 Pausanias 213 Père Joseph 168 f. Pernice, Erich 267, 273, 277 Perrier, François 137 Persius 106 Petrarca 99, 106 Titus Petronius 221 f., 332, 340 f. Petrus Riga 104 Petrus Romanus 15 Petrus von Eboli 100 Philipp II. August von Frankreich 79, 82, 102–105 Phoenix, Joaquin 320 Pier Candido Decembrio 106 Pignorius, d. i. Pignoria, Lorenzo 222 Platon 172–177, 179, 187 f., 191 f., 194 f., 208, 210 Plautus 219, 304

Plinius der Ältere 45, 215, 327 f., 334, 339–341 Plinius der Jüngere 12, 219–221, 328, 333, 339 Plotin 172, 174 f., 179 f., 191, 194 Plutarch VI, 73, 210, 221, 225 f., 290, 292, 294–299, 302, 309 Poelenburgh, Cornelis 150, 154 Pollaiuolo 115 Popidii 341 Porphyrios 73, 172 Proculeius 298 Prudentius 34, 184 Publius Cornelius Dolabella 298 Quilichinus von Spoleto 85, 99 f. Racine, Jean 354 Rahewin 4 Ramsay, Andrew Michael 213 Rauwaert, Jacob 120 f., 124 f. Rein, Wilhelm 230 f. Reinhardt, Max 356 Revett, Nicolas 210 Riefenstahl, Leni 313, 317–320 Riegl, Alois 44 f., 55, 278 Roberts, Michael 45 f., 49, 53 Rodenwaldt, Gerhart 46, 269, 274, 278 Romano, Guilio 133 f. Rózsa, Miklós 314 Saenredam, Pieter Jansz 113 f., 119 f., 138–149, 154 Salis, Arnold von 274, 278 Sallust 20, 336–338 Saylor, Steven 325–330, 332, 337–342 Scaurus, Marcus Aemilius 205, 207, 215 f., 219–223, 227, 229 Schiller, Friedrich 347, 359, 364 Schleef, Einar 346, 349–358, 363 f. Schlegel, August Wilhelm 347 Schlegel, Friedrich 50, 201, 204 f., 210 Schürpf, Hans 17 Scipio Africanus 99, 106 Scott, Ridley VI, 310 f., 317–321 Scott, Walter 205, 221, 227, 231 f. Sedulius 100–103 Seneca 98, 340 f.

Personenregister Shakespeare VI, 285, 354 Sibbes, Richard 178 Silvester I. 11 Silvester II. 11 Simon Aurea Capra 100 Sismondi, Jean-Charles Léonard 206 Six, Jan 140, 150 Sixtus IV. 115, 143 Spartacus 316 Spengler, Oswald 42, 48 Spohn, Friedrich August 207 St. Jan, Geertje van 139 Stamp, Jonathan 321 Statius 98, 103, 105 f. Stephan von Rouen 100 Sternberger, Dolf 228 Stieglitz, Christian Ludwig 220 Strabon 210, 286 f., 298, 341 Strozzi, Alessandro 20 f. Stuart, James 210 Sueton 222 Suger von St-Denis 22 Sybel, Ludwig von 273, 275–277 Tasso, Torquato 168 Taylor, Alan 321 Terenz 106 f. Terrasson, Jean 212 f. Terzopoulos, Theodoros 345, 359–364 Paul Thomas 161–166 Thomassin, Philippe 137 Thorvaldsen, Bertel 29 Tiberius 315 Tijboudt, Willem 139 f. Tiomkin, Dimitri 318 Tornabuoni, Francesca 116 Tornabuoni, Francesco 116 Ustinov, Peter 314 Vaccario, Lorenzo 137 Valerius Maximus 98 Varro, M. Terentius 29, 220 Vasari, Giorgio 24

Vercingetorix 321 f.

Vergil V, 52–54, 60, 69 f., 79, 82, 87, 93, 98 f., 103, 105–107, 161 f., 164, 167–169

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Verlaine, Paul 42 Vinne, Isaak van der 141 Virgil 12 Vitruv 203, 216, 220 f. Vredemann de Vries, Hans 133 Walter von Châtillon 79–84, 86, 88, 92 f., 99 f., 103 Walther, Paul 296, 301–306 Waltheym, Hans von 18 Werner, Karl 290, 292 Westermann, Anton 229 Wido von Amiens 100 Wido von Spoleto 101 Wieland, Christoph Martin 204 f., 212 f., 220, 231 Wilhelm von Apulien 100 Wilhelm von Blois 82, 92 Wilhelm von Bretagne 100, 102–105 William of Malmesbury 31 Willigen jun., Adriaan van der 140 Wilmot, John, Earl of Rochester 177 Winckelmann, Johann Joachim 66, 205, 210, 255, 257, 269 f., 274–276 Winter, Franz 273 Witzmann, Peter 358 f. Woermann, Karl 273 Wolters, Paul 274 Worthington, John 172, 175 f. Wüstemann, Ernst Friedrich 223 Wüstemann, Karl Christian 223 Wyler, William 311, 315 Xenophon 208–210, 213 Yorke, Philip, 2nd Earl of Hardwicke 212

Sachregister Abguss 121, 244, 246, 260 Abgusssammlung/en 240, 242 f., 271 Aeneas 70, 99, 162–164, 167 Ägypten/ägyptisch 33, 153, 208, 267, 269, 273, 277, 283–286, 288, 290– 292, 294–299, 301, 305, 329 Ägyptenroman 284 f., 288, 296–298 Alexanderdichtung 79–81 Allegorese 70–72, 75, 186 Allegorie/allegorisch 10, 17, 70–73, 104, 175, 178, 183–186, 189 f., 193, 311, 313 Altertumskunde, -wissenschaft VI, 41 f., 44, 50, 53, 201, 204, 206 f., 213, 222, 329 f. Amazonen 79–93 Amphitheater 7, 11 f., 17–19, 202, 318 Anagoge 174, 178, 187 f. Aneignung 24, 27, 49, 56, 79, 92, 146, 240, 298 Antikenkopien 239–241, 246, 253, 257 Antikenrezeption 3, 131 Antikeroman 201, 229, 285 Antiquar/antiquarisch V, 71, 113, 137, 154, 201, 203–206, 210, 218, 224 f., 227, 229, 231, 242, 245, 257, 283, 285, 288, 297, 299, 309– 311, 348 Apollon 31, 165, 274 Aquädukt 327, 330, 334, 342 Ästhetik/ästhetisch V–VIII, 23 f., 26, 28, 41 f., 44 f., 47–49, 51–53, 55 f., 81, 88, 92 f., 98–100, 145, 171, 175, 180, 182, 188, 201–203, 205, 213, 218 f., 221, 223, 240, 267– 269, 275–278, 284 f., 299, 345 f., 349 f., 355, 363 f. Ästhetisierung 42, 79, 81, 84, 91 f., 97– 100, 106 f.

Bildung,- VII f., 15, 22, 26, 52, 81–83, 87 f., 92, 175, 180, 240, 268, 288, 290, 346, 354 Bildungsroman 213 Cambridge Platonists 172 f., 175, 178 f., 191 Cento VIII, 52–54 Dekadenz 41, 44, 47, 50, 82, 332, 334 Demokratisierung der Kultur 45 Dichtung/Dichter VIII, 29, 45, 52, 54, 79–81, 85, 92, 97, 100–106, 116, 163–169, 175–177, 181–183, 202, 208, 217 f., 225, 227, 283, 285, 296, 336, 347 didaktisch V, 83, 150, 171, 174, 177, 180–183, 193, 195, 241 Didaxe 173, 189, 195 Dionysos/dionysisch 54, 220, 290, 298, 350, 352, 355, 361 f., 364 Distanz/Distanzierung 79, 83 f., 93, 103, 283, 292–294, 298, 353, 356–361, 364 Dornauszieher 31 Elephantiasis 44 Epikureer 178–180, 182, 192 f., 290

Epikureismus/epikureisch 175, 177 f., 182, 185, 188–193, 195, 178, 292 f., 299 Epitome 52–55 Feudalsystem 89 Fiktion/fiktional 42, 84, 171, 180, 184, 186, 188, 193 f., 204, 207 f., 212, 217, 221, 223–225, 229, 231, 283, 297, 314, 326 f., 335 f., 339, 341 Fiktionalisierung VII Film VI, VIII, 309–322 Foto/s 270, 272–274

384

Sachregister

Fotografie 242, 269–273, 296, 301, 335 Fragmentierung 46, 53, 360 Frauenbild 84, 90 Fremdheit 8, 24, 81 f., 93, 347 Funktionalisierung 87, 221–223

Kopie/n 24–26, 113, 115, 132, 134, 145 f., 228, 239–248, 253, 255, 257, 259–261 Kopierkasten 259 Kunst-Manufakturen 239

Gattung VI f., 12, 17, 49, 51–55, 60, 99, 103, 106, 138, 171, 180 f., 201, 203, 205, 212, 222, 226, 268, 285, 325 f. Gedicht 45 f., 50, 54, 69, 80, 98, 106 f., 161 f., 167 f., 172, 175–178, 180, 182, 184, 186, 223, 336 Geschlechterrollen 83 Gipsabguss 113, 121 f., 239 f., 242–245, 248, 254, 260

Lektüre V, VIII, 49, 81, 98, 105–107, 182, 186, 188, 196, 205, 208, 227, 305, 334 f. Liebe/lieben[d] 30, 87–90, 107, 176, 184 f., 187, 193 f., 207, 214, 227, 288, 290, 292–294, 297–299, 303, 309, 319, 321 - höfische 89 f.

Heilsgeschichte 17, 93, 314 Herakles 64, 67 Herrscherideal 191 Historienfilm 310 Historismus VII, 199, 307, 311, 346 f. Historiographie/historiographisch 6, 42, 47, 82, 92 f., 97, 204, 277, 288, 325-327, 338 Humanismus/humanistisch VII, 11, 19, 50, 97, 116, 268, 311, 345 f. Humanist/en 17, 19–22, 31, 154 Identität 12, 43, 48, 50, 64, 90, 114, 223, 244, 305, 342, 363 idolum/idola 3, 15, 31 f. Imagination VII f., 79, 92 f., 98, 181 f., 202, 329, 358 f. Imitation/imitatio 10, 100, 163, 174 Inschrift/en 6, 11, 16, 21, 24 f., 64, 144, 336, 340 f. interpretatio christiana 16, 24, 26 f., 31 Interpretation 47, 50, 52, 178 f., 258, 274, 278, 311, 314, 320 Jupiter 165–167, 169 Kommentar 46, 52 f., 82, 114, 176, 182 f., 194, 244, 260, 288, 292 f., 339 f.

Marmor 4, 23, 27, 66, 150, 222, 239, 243, 245–247, 252–254, 286, 302, 316 Mars 31 Massenware 62, 68 Mauer 4–6, 12, 19, 21, 24, 130, 141, 145 f., 215, 352 Mauerwerk 4, 8, 130, 145 Mauerrand 146 Metafiktion 326 f. Metapher/metaphorisch 3, 53–55, 181– 183, 226, 333 Metaphorik 49 f., 182 Modell VIII, 43, 47, 50, 52, 55, 98, 102, 121, 165, 239, 241, 243–246, 248, 251, 253, 255 f., 259, 288, 299, 314 f., 318, 346, 355, 363 mythisch 9, 19, 54, 63, 67, 69, 104, 164 Mythologie/mythologisch VI, 75, 106, 116, 206, 249, 271 f., 290, 293, 361 f., 364 Mythos V f., VIII, 60, 62, 71, 73, 87 f., 163, 165, 167, 179, 347, 359–363 Narration 182, 188 narrativ 171, 173, 180, 184, 186–190, 193, 210, 213, 216, 221–223, 225, 229 f., 331, 352, 357 f., 364 Narziss-Mythos 87 f. Neuplatoniker 172, 179, 195 Neuplatonismus/neuplatonisch 171–175, 177 f., 182, 188, 193–195 Normannen 6 f., 100

Sachregister

Oberschicht 63, 75 Odysseus VIII, 59–75, 105, 166 opus reticulatum 4 Panegyrik 52, 97–106 Panoramatisierung 222 Parade 309, 312 f., 315, 317 Paratexte/paratextuell 186, 332–336, 338 Patristik 47, 50 Performativität/performativ 92, 222, 359 Periagoge 174, 187, 195 Phantasie/phantastisch 15, 17, 85, 181 f., 189, 202 f., 224, 226, 316 Polyphem 59–75, 166 Popularität/populär V f., 60, 67, 71, 88, 175, 177, 195, 213, 229, 231, 269, 283, 285, 299, 309, 312, 325 f., 329 f., 355 Prosa 49, 52, 79, 84, 98, 106 f., 171, 173, 227 Prosographie 52 Pseudomorphose 48 Quader 4–6, 8 Quadermauer 4 Rede 4, 63, 142, 179 f., 195, 223, 225, 291, 294, 316, 336–338 Reisebericht 17–19, 207, 213, 223 Renaissance VI, VIII, 3, 22, 64, 71–73, 75, 97, 106, 114 f., 137, 154, 178 f., 191, 195, 207, 239, 242, 270, 309, 348 Rhetorik/rhetorisch/Rhetorisierung V f., 12, 98, 171, 180, 183, 187, 192, 208 Roman VI–VIII, 80 f., 85–93, 180, 201– 207, 211–213, 218, 221, 223–229, 231 f., 283–299, 306, 311, 325–342 - antikisierender 212, 229 - antiquarisch-philologischer 201, 203– 205, 218, 224 f., 227, 229 - archäologischer 201, 205, 229 - historischer VI–VIII, 201, 213, 221, 231 f., 283–289, 299, 325 f., 328, 330, 339 Romanze (romance) 171–196, 204

385

Sarazenen 7 f., 19, 168 f. Sarkophag/e V, 8, 24–27, 68, 136, 272 Schleier 179, 181–183, 196, 293, 350 Seele VIII, 14, 172–178, 181, 185–195, 208, 212, 338 Selbsterkenntnis 173 f., 181 f., 196 Selbstreflexivität 326, 336, 339 Selbstvergewisserung 81, 90, 92 Sexualität 83, 90, 316, 322, 328–330 Sklaverei/Sklaven 214, 222, 293, 312, 315 f., 327–330, 338, 341 Spätantike/spätantik VIII, 1, 41–56, 59 f., 62–75, 100–102, 143, 166, 180, 286 Spätantike-Forschung 44–51 Spolia/Spolien 3, 5, 8, 10–12, 21, 23– 25, 27, 49 Statue/n V, 5, 8, 10, 12, 14 f., 27–34, 64, 67, 114, 117, 122, 128, 137, 150, 152–154, 217, 222, 239, 243, 245– 247, 249, 251, 253, 255, 257, 260, 274, 287, 296–298, 301 f., 305, 312, 317 f., 322, 331, 337 Technik VI f., 5, 83, 98, 107, 192, 239– 241, 244–246, 248 f., 253, 255– 260, 270, 285, 288, 294, 299, 307, 317, 328, 330 Tempel 10, 14, 22, 115, 135, 141, 185, 278, 286 f., 297, 301, 312, 317 f., 322 Textualität 50 f., 92, 336 Theater VI, 10, 16, 21, 202, 318, 345– 350, 352, 354–359, 362, 364 These 69, 104 f., 133, 140, 185, 274, 285, 296, 329 f., 356 Totalisierung 221–223 Trimalchio 332, 340 f. Triumphzug 169, 309–322 Troja/Trojaner 12, 22, 59, 73, 86, 100, 105, 162, 166 Untergang 42–44, 46, 59, 287, 293, 296, 332 f., 336 Venus 27, 30, 32, 164 f., 295

386

Sachregister

Verlebendigung 221–223 Wahrheit 99, 103, 176, 182–185, 187, 192 f., 195 f., 221, 227, 269, 278, 298, 327, 346 Wassermühlen 330 Wissen V–VIII, 19, 26, 28, 48 f., 53–55, 71, 73, 79, 81–83, 85, 88, 92 f., 100, 106 f., 171–173, 178, 180, 183–188, 192, 195, 201–208, 213, 218, 221–224, 239, 243 f., 283, 288, 314, 330, 338, 345–347, 349, 354 f., 358–360, 362–364 Zierstäbe 8, 10