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German Pages 432 [440] Year 2005
Martin Leschke und Ingo Pies (Hg.) Wissenschaftliche Politikberatung: Theorien, Konzepte, Institutionen
Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft
Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Helmut Leipold, Marburg Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf
Unter Mitwirkung von Prof. Dr. Dieter Cassel, Duisburg Prof. Dr. Karl Hans Hartwig, Münster Prof. Dr. Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Prof. Dr. Ulrich Wagner, Pforzheim
Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band Nr. 75: Wissenschaftliche Politikberatung: Theorien, Konzepte, Institutionen
Lucius & Lucius · Stuttgart · 2005
Wissenschaftliche Politikberatung Theorien, Konzepte, Institutionen
Herausgegeben von
Martin Leschke und Ingo Pies
Mit Beiträgen von Thomas Apolte, Eva Becker, Klaus Beckmann, Susanne Cassel, Thomas Döring, Gisela Färber, Heinz Grossekettler, Bernd Hansjürgens, Andre Jungmittag, Dirk Kirschbaum, Andreas Knorr, Martin Leschke, Torsten Marner, Christian Müller, Ingo Pies, Dirk Sauerland, Torsten Sundmacher, Theresia Theurl, Paul J.J. Weifens, Martin Werding
Lucius & Lucius · Stuttgart • 2005
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Martin Leschke Universität Bayreuth Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre V Insbesondere Institutionenökonomik 95440 Bayreuth Prof. Dr. Ingo Pies Universität Halle Lehrstuhl für Wirtschaftsethik Große Steinstraße 73 06108 Halle
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über. http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Lucius & Lucius Verlags-GmbH · Stuttgart · 2005 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany
ISBN 3-8282-0304-3 ISSN 1432-9220
Vorwort Die Entwicklung moderner Gesellschaften ist durch eine immer stärker werdende Ausdifferenzierung von Wissen gekennzeichnet. Damit wächst der Bedarf der Politik an wissenschaftlicher Beratung stark an. Zugleich wirft der Status quo Probleme auf: Trotz einer intensiven Diskussion über die Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie auch über die Gesundheits- und Umweltpolitik geraten dauerhaft tragfähige Lösungen höchst selten ins Blickfeld, weil die Fronten offenbar zu verhärtet sind. Als Folge entstehen „faule" Kompromisse, die in vielen Fällen allenfalls kurzfristig Symptome kurieren. Probleme werden verschoben, aber nicht gelöst. Damit entsteht die Gefahr, dass aus Politiker-Verdrossenheit schließlich Politik-Verdrossenheit wird und die Bürger nicht nur ihr Vertrauen in die handelnden Akteure verlieren, sondern letztlich auch ihr Vertrauen in die Demokratie. Ziel des Tagungsbandes ist es herauszuarbeiten, was genau die vielschichtigen Probleme der Politikberatung sind und auf welche Weise Verbesserungen der Politikberatung erreicht werden können, damit in Zukunft vermehrt tragfahige Lösungen implementiert werden. - Die Beiträge konnten zu vier Hauptteilen zusammengefasst werden: Erfahrungen mit Politikberatung, Politikberatende Institutionen, Leitideen ökonomischer Politikberatung sowie Theorieangebote und Konzeptionen für Politikberatung. Im ersten Abschnitt werden Erfahrungen mit Politikberatung aus unterschiedlichen Bereichen analysiert. Angefangen mit einer eingehenden Analyse der Möglichkeiten von Politik- und Politikerberatung an Beispielen von Transformationsprozessen (Döring) schwenkt der Blick im zweiten Beitrag auf die EU-Ebene (Theurl). Hier wird auf die komplexen Entscheidungsfindungsverfahren eingegangen und auf die Rolle, die Politikberatung dabei spielt. Schließlich wird Politikberatung in der ersten Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung thematisiert (Apolte/Kirschbaum). Welche Schlüsse können aus heutiger Sicht daraus gezogen werden? Zum Ende des Abschnitts wird die Entwicklung des Verkehrsmarktes in der Bundesrepublik Deutschland einer kritischen Analyse unterzogen (Knorr). Anschließend werden im zweiten Abschnitt einzelne politikberatende Institutionen untersucht. So werden im ersten Beitrag dieses Themenblocks die Beiräte des Finanz- und Wirtschaftsministeriums betrachtet (Grossekettler). Es wird dabei u.a. der Frage nachgegangen, welche Beratungsqualität von zumindest formell unabhängigen Protagonisten aus Wissenschaft und Praxis geleistet werden kann und welchen Einfluss die Beiräte auf die Umsetzung von Maßnahmen haben. Der anschließende Beitrag (Färber) beschäftigt sich mit der Arbeit der Kommissionen und ihrer Bedeutung für die Politikberatung. Danach steht die Rolle der Beratungsunternehmen im Blickpunkt (Sundmacher). Schließlich wird im letzten Beitrag (Cassel) des zweiten Abschnitts das amerikanische Konzept der Politikberatung untersucht und seine Übertragbarkeit auf den Beratungsmarkt in Deutschland geprüft. Der dritte Abschnitt enthält eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Problemfeldern, die in der (wirtschafts-)wissenschaftlichen Politikberatung eine zentrale
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Vorwort
Rolle spielen. Ziel ist es, Leitideen der ökonomischen Politikberatung sichtbar zu machen. Eingangs wird im 9. Beitrag (Werding) auf die Generationengerechtigkeit eingegangen, die u.a. durch die Finanzierungsprobleme des bisherigen umlagefinanzierten Systems der Rentenversicherung auf die Probe gestellt wird. Im anschließenden Beitrag (Hansjürgens) geht es um die von der Umweltökonomik lange geforderte Etablierung von Märkten für Emissionsrechte. Es soll u.a. ausgelotet werden, welche Widerstände es aus welchen Gründen gegen eine Etablierung dieses Konzepts gibt und ob diese berechtigt sind. Der 11. Beitrag behandelt Probleme in Märkten für medizinische Dienstleistungen (Sauerland). Hier werden insbesondere die Anreizkomponenten im Krankenversicherungssystem thematisiert. Anschließend wird das Roadpricing-Konzept als neue Idee im Verkehrssektor vorgestellt (Becker/Marner). Inwieweit der Systemwettbewerb als Lösung für Standortprobleme geeignet erscheint, steht im Mittelpunkt des letzten Beitrags dieses Hauptabschnitts (Leschke). Hier wird herausgearbeitet, dass der Systemwettbewerb kein „Selbstläufer" ist, sondern eine (effizientere) Politikberatung erfordert, die auch die Anreizbedingungen (Verfassung) der Politik mit ins Visier nimmt. Im Eingangsbeitrag des vierten Abschnitts, der Theorieangebote und Beratungskonzeptionen behandelt, wird zunächst die Bedeutung der empirischen Wirtschaftsforschung fur eine fundierte Politikberatung diskutiert (Weifens/Jungmittag). In Beitrag 15 (Müller) werden anschließend die Beratungsresistenz der Politik und die Nachfrage nach Beratungsleistungen problematisiert. Gegenstand des 16. Beitrags (Beckmann) ist die Konstitutionenökonomik. Es wird hier diskutiert, ob der verfassungsökonomische Ansatz explizit als Ansatzpunkt zur Bildung einer Wettbewerbsordnung für die Produktion von Beratungsinformationen verwendet werden kann. Im letzten Beitrag des Bandes (Pies) steht die Frage im Vordergrund, warum ökonomische Beiträge zur Politikberatung oft auf Widerstand stoßen und wie man mit diesen Widerständen innerhalb der Theorie umgehen sollte. Als Lösungskonzept werden Überlegungen vorgestellt, wie Ethik und Ökonomik Hand in Hand arbeiten können, um normative Blockaden zu überwinden, die der Implementierung funktionaler Lösungen im Wege stehen. Die hier abgedruckten Beiträge sind das Resultat der zahlreichen Vorträge und Diskussionen auf dem 37. Radeiner Forschungsseminar, das vom 15.02.2004 bis zum 22.02.2004 im Zirmerhof in Radein (Südtirol) stattfand. Gedankt sei der Familie Perwanger für die außerordentlich gute Bewirtung, den Diskutanten und Korreferenten für die hilfreichen Hinweise und Frau Karin Bauer (Sekretärin des Lehrstuhls VWL 5 an der Universität Bayreuth) für zahlreiche Formatierungsarbeiten. Finanzielle Unterstützung erhielten wir von Barclays Capital und dem Universitären Institut für Kommunikation der Universität Düsseldorf. Den Sponsoren sei herzlich gedankt. Bayreuth und Wittenberg, November 2004
Martin Leschke und Ingo Pies
Inhalt I.
Erfahrungen mit Politikberatung Thomas Döring Politik- und Politikerberatung - eine Analyse vor dem Hintergrund von Transformationsprozessen
II.
III.
3
Theresia Theurl Politikberatung in der Europäischen Union
29
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
47
Andreas Knorr Verkehrspolitik: Die Entwicklung in (Nachkriegs-)Deutschland
73
Politikberatende Institutionen Heinz Grossekettler Wissenschaftliche Politikberatung Beiräte von Ministerien als politikberatende Institutionen
101
Gisela Färber Politikberatung durch Kommissionen
131
Torsten Sundmacher Von der Unternehmens- zur Politikberatung die Rolle der Beratungsunternehmen
161
Susanne Cassel Institutionalisierte Politikberatung in den USA Ein Vorbild für die wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland?
183
Leitideen der ökonomischen Politikberatung Martin Werding Generationengerechtigkeit und Gesellschaftsvertrag
207
Bernd Hansjürgens Märkte für den Klimaschutz: Ausgestaltung des europäischen CXVEmissionshandels und Umsetzung in Deutschland
227
vm
IV.
Inhalt
Dirk Sauerland Märkte für medizinische Dienstleistungen
257
Eva Becker und Torsten Marner Märkte fur Verkehr - Das Beispiel Road Pricing
285
Martin Leschke Systemwettbewerb und Institutionen: Voraussetzungen einer erfolgreichen Politik(-beratung) in Deutschland
303
Theorieangebote und Konzeptionen für Politikberatung Paul J.J. Weifens und Andre Jungmittag Politikberatung und empirische Wirtschaftsforschung: Entwicklungen, Probleme, Optionen für mehr Rationalität in der Wirtschaftspolitik
335
Christian Müller Beratungsresistenz in der Politik? Die Nachfrage nach Politikberatung
357
Klaus Beckmann Konstitutionenökonomik Ein Theorieangebot für die Politikberatung?
385
Ingo Pies Wirtschaftsethik als Beitrag zur Ordnungspolitik - Ein interdisziplinäres Forschungsprogramm demokratischer Politikberatung
411
Autoren und Seminarteilnehmer
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I. Erfahrungen mit Politikberatung
Martin Leschke und Ingo Pies (Hg.), Wissenschaftliche Politikberatung - Theorien, Konzepte, Institutionen Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft · Band 75 · Stuttgart · 2005
Politik- und Politikerberatung - eine Analyse vor dem Hintergrund von Transformationsprozessen
Thomas Döring
Inhalt 1. Einleitung und Fragestellung
4
2. Beratung der Öffentlichkeit als Alternative zur Regierungsberatung
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3. Regierungsberatung als dominantes Beratungsmodell im Transformationsprozess post-sozialistischer Länder
8
3.1. Transformationsproblematik und Politikberatungsmodelle 3.2. Transformationsberatung als Import von Blaupausen-Konzepten 4. Einbeziehung der Öffentlichkeit als notwendiger Bestandteil von Politikberatung im Transformationsprozess
8 10
13
4.1. Transformation als Prozess des kulturellen und mentalen Wandels
13
4.2. Zum Verhältnis von Regierungs- und Öffentlichkeitsberatung
15
5. Empirische Anhaltspunkte für die Relevanz unterschiedlicher Politikberatungsmodelle in Transformationsprozessen
17
6. Zusammenfassung der Ergebnisse
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4
1.
Thomas Döring
Einleitung und Fragestellung
Neben der Weiterentwicklung der theoretischen Grundlagen und deren empirischer Überprüfung gehört seit jeher die Entwicklung wirtschaftspolitischer Handlungsempfehlungen zu den Aufgaben von Ökonomen. Das Spektrum an Empfehlungen zur Wirtschaftspolitik reicht dabei von Vorschlägen zur Korrektur einzelner Maßnahmen in ausgewählten Politikfeldern (Gesundheitspolitik, Finanzpolitik, Arbeitsmarktpolitik etc.) bis hin zur Entwicklung umfassender Reformkonzepte, in denen die Grundlagen bislang praktizierter wirtschaftspolitischer Strategien in Frage gestellt werden (Pitlik 2001). Folgt man einer Typologie von Politikberatung, die das Interaktionsverhältnis von Politik und Wissenschaft zu Geschwindigkeit und Tiefenwirkung von Veränderungen in bezug setzt, kann wirtschaftspolitische Beratung weit mehrheitlich als Ausprägung einer so genannten „Routinepolitik" gekennzeichnet werden (von Beyme 1995). Ihr wesentliches Merkmal ist die Entwicklung von wirtschaftspolitischen Handlungsempfehlungen unter der Bedingung gegebener gesellschaftlicher Strukturen. Soweit ein Bedarf an Politikberatung durch gesellschaftlichen Wandel besteht, ist dieser auf einzelne Konfliktfelder oder Teilbereiche der Gesellschaft beschränkt. Eine solche als Routinepolitik klassifizierte wirtschaftspolitische Beratung stößt jedoch im Fall gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse, wie sie etwa für die postkommunistischen Länder in Mittelund Osteuropa seit Anfang der 1990er Jahre kennzeichnend waren (und sind), an ihre Grenzen. Die üblichen Funktionen von Politikberatung, wie etwa die Früherkennung von Fehlentwicklungen oder auch die nachträgliche Legitimation politischer Entscheidungen, sind in Zeiten einer raschen Transformation der ganzen Gesellschaft nur begrenzt brauchbar. In Abgrenzung zur Routinepolitik spricht von Beyme (1995) daher im Zusammenhang mit Transformationsprozessen bewusst von Politikberatung als „Innovationspolitik". Auch wenn dieser Terminus in seiner Explikation eher vage bleibt, so wird zumindest deutlich, dass damit auf die Notwendigkeit einer Umorientierung von Politikberatung unter Rahmenbedingungen abgestellt wird, die im wesentlichen durch ein beschränktes Wissen hinsichtlich Regelmäßigkeit und Steuerbarkeit von Prozessen des umfassenden wirtschaftlichen wie politischen Umbruchs gekennzeichnet sind. So sahen sich rückblickend Anfang der 1990er Jahre die Reformer in den mittel- und osteuropäischen Ländern angesichts des überraschenden Übergangs zu Marktwirtschaft und Demokratie einem doppelten Informationsproblem gegenüber: Zum einen fehlte es trotz aller Erfahrungen mit der Umwandlung von Kriegs- in Friedenswirtschaften sowie mit Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogrammen in Ländern der Dritten Welt an Präzedenzfällen mit der Konsequenz, dass spezifische Kenntnisse Uber die Wirkungen des Einsatzes vertrauter ökonomischer Reformmaßnahmen unter den spezifischen Bedingungen Mittel- und Osteuropas nicht vorhanden waren (Bönker et al. 1995). Zum anderen erwies sich das umfangreiche Wissen über das Funktionieren von Marktwirtschaften als nur begrenzt brauchbar, um insbesondere zu Beginn des Transformationsprozesses die gezielte Einrichtung von Marktwirtschaften zu bewerkstelligen. Diese Erkenntnisdefizite führten bei einer Reihe von Ökonomen zu der Aussage, dass von einer ökonomischen Politikberatung keinerlei Vorgaben für einen gesteuerten System-
Politik- und Politikerberatung - Transformationsprozesse
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Übergang zu erwarten sind (siehe stellvertretend Wagner 1997). Aber auch moderatere Einschätzungen mündeten in die Schlussfolgerung, dass mit Blick auf Mittel- und Osteuropa weniger von Transformationsstrategien, sondern allenfalls von anhaltender Transformationsdynamik die Rede sein könne (Lehmbruch 1994). Diesen eher skeptischen Haltungen steht jedoch die Erfahrung gegenüber, dass gerade in Zeiten der (wirtschaftlichen) Krise wie des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels die Nachfrage nach Politikberatung besonders groß ist. Es kann daher kaum verwundern, dass angesichts des enormen politischen Handlungsdrucks in den Transformationsländern entsprechende ökonomische Beratungsleistungen nachgefragt wurden. Vor diesem Hintergrund versucht der vorliegende Beitrag die Erfahrungen ökonomischer Politikberatung im Rahmen von Transformationsprozessen näher zu untersuchen. Dabei steht weniger die inhaltliche Aufarbeitung der von Ökonomen entwickelten Konzepte und Handlungsempfehlungen im Vordergrund. Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur zur Transformationsproblematik ist seit 1989 zu einer anschwellenden Flut angewachsen, wobei Überblick und kritische Sichtung schon anderenorts wiederholt Gegenstand von einschlägigen Publikationen waren (siehe stellvertretend Schwarz 1995). Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht vielmehr die Frage, welche Relevanz unterschiedlichen Politikberatungsmodellen im Rahmen von Transformationsprozessen beizumessen ist. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die innerhalb der Theorie der Wirtschaftspolitik geführte Debatte, inwieweit das vorherrschende Modell der Politikerberatung nicht durch den Ansatz einer verstärkten Öffentlichkeitsberatung ergänzt, wenn nicht gar substituiert werden sollte. Das traditionelle Verständnis von wissenschaftlicher Beratung sieht in der Information der politischen Entscheidungsträger die zentrale Aufgabe der Beratungstätigkeit. Die mit dieser Form der Regierungsberatung erzielten Ergebnisse sind mit Blick auf die westlichen Demokratien eher ernüchternd (Franz 2000). In jüngerer Zeit wird deshalb vermehrt gefordert, Ökonomen sollten sich beratend nicht nur an die jeweilige Regierung, sondern auch und vor allem an die Öffentlichkeit wenden (Frey und Kirchgässner 1994, Wulffen 1996, Apolte und Wilke 1998, Cassel 2001, Pitlik 2001). Dahinter steht die Überlegung, dass die Vermittlung ökonomischer Erkenntnisse im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung durch die verstärkte Teilnahme von Wissenschaftlern (Ökonomen) am gesellschaftlichen Diskurs als Korrektiv für die Mängel der Regierungsberatung dienen könnte. Daran anknüpfend wird im vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, welche Bedeutung einer öffentlichkeitsbezogenen Politikberatung in Transformationsländern beizumessen ist. In einem ersten Schritt werden dabei das traditionelle Konzept der Regierungsberatung sowie das Alternativmodell einer öffentlichkeitsorientierten Politikberatung einander gegenübergestellt (Kapitel 2.). In einem zweiten Schritt erfolgt die Übertragung dieser allgemeinen Bewertung unterschiedlicher Politikberatungsmodelle auf die Transformationsproblematik. Dabei wird zunächst gezeigt, dass die Regierungsberatung das dominante Beratungsmodell in post-sozialistischen Transformationsprozessen darstellte (Kapitel 3.). Es schließen sich Überlegungen an, inwiefern nicht gerade unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Umbruchs eine stärkere Beratung der Öffentlichkeit eine notwendige Voraussetzung erfolgreich gestalteter Transformationsprozesse darstellt (Kapitel 4.). Abschließend wird auf die Ergebnisse empirischer Fall-
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Thomas Döring
Studien zu erfolgreichen Transformationsprozessen eingegangen, die darauf hin betrachtet werden sollen, inwieweit sich daraus Rückschlüsse auf die Relevanz unterschiedlicher Politikberatungsmodelle ableiten lassen (Kapitel 5.).
2.
Beratung der Öffentlichkeit als Alternative zur Regierungsberatung
Dem traditionellen Konzept von Politikberatung im Sinne einer Bereitstellung wissenschaftlichen Expertenwissens zur Unterstützung von Politikfindungs- und Entscheidungsprozessen durch die jeweils regierenden Akteure liegt die implizite Annahme zugrunde, dass die beratenden Wissenschaftler objektive Erkenntnisse an wohlmeinende Entscheidungsträger vermitteln, um in der Politik formulierte gesellschaftliche Ziele bestmöglich zu erfüllen. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Ansatz ist nicht zuletzt deswegen zweckmäßig, da - wie noch zu zeigen sein wird - Politikberatung in Transformationsprozessen Uberwiegend in dieser Ausprägungsform erfolgt ist. Im Einklang mit der (wohlfahrtsökonomisch geprägten) Theorie der Wirtschaftspolitik beruht das Modell der Regierungsberatung auf einem weitgehend instrumentalistischen Verständnis von Politik, welches sich im Schema von Zielen, Mitteln und Trägern konkretisiert.1 Ökonomischer Politikberatung fällt dabei die Aufgabe zu, den Trägern der Wirtschaftspolitik zum besten Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente zu verhelfen, um als exogen vorgegeben verstandene Ziele zu erreichen. Das konzeptionelle Problem dieses Modells von Politikberatung lässt sich plakativ anhand des wechselseitigen Anspruchs von Wissenschaftlern und Politikern darstellen (Döring 2001 und 2002 sowie Romahn 2002): Danach können im Rahmen dieses Modells Politiker von den Wissenschaftlern theoriegeleitete Maßnahmenempfehlungen zur Zielerreichung erwarten. Die Wissenschaftler können ihrerseits den Anspruch erheben, dass die Ratschläge in der Politik befolgt werden. Die Durchsetzung dieser wechselseitigen Ansprüche ist jedoch nur unter restriktiven Bedingungen vorstellbar. Hierzu zählen unter anderen die zweifelsfreie Bestimmung von Ursache-Wirkungszusammenhängen seitens der Wissenschaft sowie die Abwesenheit von Eigeninteressen der Politiker, um nur die wichtigsten Bedingungen zu nennen. Dem stehen jedoch in der Realität sowohl Mängel auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite von Politikberatung gegenüber, die in der Literatur bereits ausführlich diskutiert wurden und auf die daher
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Vgl. hierzu etwa Wuljfen (1996, 38, Fn. 20), die auf die Arbeiten von Tuchtfeldt (1966 und 1971) als einem „geradezu klassischen Vertreter des instrumentalistischen Ansatzes zur Politikberatung" verweist. Vgl. auch Tinbergen (1968) sowie Streit (1991). Nach Meier und Mettler (1985, S. 172) kann der Kern dieses Ansatzes wie folgt beschrieben werden: „Das Erkenntnisziel bestand nun darin, aufzuzeigen, wie die staatliche Wirtschaftspolitik zu einem möglichst effizienten Einsatz der knappen Ressourcen beitragen kann. Wirtschaftspolitik wird als ein Mittel betrachtet, exogen vorgegebene (politische und gesellschaftliche) Ziele möglichst reibungslos zu erreichen". An diesem Ansatz kritisierte früh schon Gäfgen (1976, S. 127) die zugrunde liegende Vorstellung der „technokratischen Steuerung einer sozialen Maschinerie", die systematisch vernachlässige, dass „die Realisierung einer wirtschaftspolitischen Konzeption, welche bestimmte Ziele durch ein typisches Maßnahmenbündel erreichen will, an gesellschaftlichen Einflüssen [...] scheitern kann" (ebenda, 136). Vgl. hierzu auch Frey (1978), Homann (1980) sowie Zohlnhöfer( 1999)
Politik- und Politikerberatung
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Transformationsprozesse
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hier nicht noch einmal eingegangen werden muss (siehe im Einzelnen die Ausführungen bei Cassel 2003, Heine und Mäuse 2003, Pitlik 2001, Frey 2000, Krupp 1999, Freytag 1998, Kirchgässner 1996, Lipsey 1979). Angesichts der Unvollkommenheiten in den Anwendungsbedingungen des traditionellen Modells von Politikberatung im Sinne einer Regierungsberatung kann es nicht überraschen, dass dieses Modell schon früh als „dezisionistisch" oder auch „naiv" kritisiert wurde (Habermas 1968), verbunden mit der Aufforderung, ein alternatives Beratungsmodell zu entwickeln. Eine solche Alternative stellt das Modell der Öffentlichkeitsberatung dar. Im Unterschied zum Modell der Regierungsberatung liegt dem Konzept einer öffentlichkeitsorientierten Politikberatung die Annahme zugrunde, dass durch die Vermittlung ökonomischer Erkenntnisse an die Bevölkerung ein Gegengewicht zu den Eigeninteressen der Politiker sowie den Sonderinteressen gesellschaftlicher Gruppen geschaffen werden kann (Pitlik 2001, Kloten 2001, Apolte und Wilke 1998, Wulffen 1996, Külp 1992). Die Unterscheidung zwischen Regierungs- und Öffentlichkeitsberatung resultiert dabei aus einem Beratungsdilemma: Danach wenden sich Ökonomen, die ihrem Selbstverständnis nach kollektiv vorteilhafte (d.h. für die Bürger insgesamt vorteilhaft wirkende) Reformstrategien entwickeln, unter den beschriebenen politischen Rahmenbedingungen entweder systematisch an die falschen Adressaten, wenn sie Politikern Maßnahmen empfehlen. Oder sie wenden sich an den richtigen Adressaten (den Bürger), erteilen diesem aber - soweit sie dem Ziel-Mittel-Denken der traditionellen Theorie der Wirtschaftspolitik folgen - den falschen Rat (Cassel 2003, Romahn 2002). So muss davon ausgegangen werden, dass ein und dieselben wirtschaftspolitischen Empfehlungen in der Regel nicht zugleich den Interessen der Allgemeinheit der Bürger und den Eigeninteressen der Politiker gerecht werden können. Bürger (Öffentlichkeit) und Politiker sollten daher systematisch als zwei unterschiedliche Adressatenkreise angesehen werden. Soweit mit einer verstärkten Information und Aufklärung der Öffentlichkeit das Ziel verbunden ist, ein Gegengewicht zum bestehenden Entscheidungsverhalten innerhalb der Politik zu schaffen, dürfte sich die Situation in den bestehenden westlichen Demokratien nicht wesentlich von der in den mittel- und osteuropäischen Transformationsländern unterscheiden. Es gilt jedoch ebenso zu berücksichtigen, dass nicht allein die Eigeninteressen der politischen Akteure, sondern umgekehrt auch die beim Bürger vorhandenen Vorstellungen den politischen Möglichkeitsraum beschränken können (Congleton 1991). Dieser Punkt ist nicht zuletzt für Politikberatung im Rahmen von Transformationsprozessen von besonderer Bedeutung. Danach haben Programme, die vermeintlich gegen allgemeine Grundüberzeugungen verstoßen, eine erheblich geringere Chance auf politische Durchsetzung. Dies ist aus Sicht der politischen Beratung insbesondere dann ein Problem, wenn die ökonomischen Grundüberzeugungen der Bürger mit den Erkenntnissen der professionellen Ökonomie kollidieren. Dies gilt nicht nur mit Blick darauf, dass bekanntermaßen die Komplexität ökonomischer Sachzusammenhänge mehrheitlich unter den Bürgern kaum verstanden wird. Darüber hinaus belegen empirische Studien, dass zum Teil erhebliche Auffassungsunterschiede zwischen der Majorität der Bevölkerung einerseits und den ökonomischen Experten andererseits bestehen können. So stoßen beispielsweise - anders als innerhalb der ökonomischen Profession - die Vorzüge
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Thomas Döring
eines funktionsfähigen Marktsystems in weiten Kreisen der Bevölkerung auf eine erheblich geringere Akzeptanz als Eingriffe in die Marktpreisbildung, beschäftigungspolitische Interventionen oder redistributive Staatseingriffe (Frey und Pommerehne 198δ, Frey 1990). Damit geht einher, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Markt- und Preissystem mit grundlegenden Normen wie Fairness und sozialer Gerechtigkeit konfligiert (Pitlik 2001, Weizsäcker 2000). Folgt man Goldstein und Keohane (1993), stellen entsprechende ideologische Grundvorstellungen in der Gesellschaft vor allem dann ein Problem dar, wenn die Wirtschaftspolitik auf einen marktorientierten Kurswechsel ausgerichtet ist. Zeigt sich dieses Phänomen bereits innerhalb marktwirtschaftlich verfasster Systeme, so dürfte sich dieses Problem für Prozesse der Systemtransformation von vormals planwirtschaftlich organisierten Systemen hin zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung umso ausgeprägter stellen. Dies muss zwar nicht schon für die erste Phase eines solchen Transformationsprozesses gelten, da hier die negativen Erfahrungen mit der „alten" Ordnung noch mehrheitlich Uberwiegen. Spätestens jedoch wenn die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigt, wird das weitere Vorgehen von den prinzipiellen Einstellungen der Bürger prädisponiert. Damit könnte jedoch gerade in Transformationsprozessen der Aufklärungsfunktion einer primär auf den Bürger ausgerichteten Politikberatung eine bedeutsame Rolle zukommen. Dies deckt sich mit der von Pitlik (2001) formulierten These, der in ähnlicher Form darauf hinweist, dass ökonomische Öffentlichkeitsberatung vor allem in gesellschaftlichen Krisensituationen, wie dies gerade auch für Länder im Transformationsprozess als charakteristisch gelten kann, beim Bürger auf eine hohe Aufnahmebereitschaft trifft.
3.
Regierungsberatung als dominantes Beratungsmodell im Transformationsprozess post-sozialistischer Länder
3.1. Transformationsproblematik und Politikberatungsmodelle Die meisten mittel- und osteuropäischen Länder erlebten seit 1998 weder dramatische Fortschritte noch spektakuläre Rückschläge im Transformationsprozess hin zu Marktwirtschaft und Demokratie (Weidenfeld 2001 und 2002, Backhaus und Krause 1997a und 1997b, Hölscher et al. 1996). Der gemeinsame Ausgangspunkt in Form staatssozialistischer Herrschafts- und Wirtschaftssysteme und die parallele Umbruchsituation dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Länder im Verlauf der neunziger Jahre verschiedene Entwicklungspfade beschritten haben. Betrachtet man den aktuellen Entwicklungsstand der ökonomischen und politischen Transformationsprozesse, so zeigt sich, dass Länder wie Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn zusammen mit den baltischen Staaten die besonderen Transformationsherausforderungen weitgehend bewältigt haben. Ausdruck und Anerkennung des Erfolgs ist zweifellos der Beitritt zur Europäischen Union. Demgegenüber kam etwa in Bulgarien oder Rumän i e n - nicht zuletzt aufgrund des Beharrungsvermögens der „alten" politischen wie ökonomischen Eliten - der tiefgreifende Umbau von wirtschaftlicher und staatlicher Ordnung nur verzögert voran. In den Republiken des ehemaligen Jugoslawien blockierte zudem bis zum Ende der 1990er Jahre die staatliche Loslösung und Neugründung
Politik- und Politikerberatung -
Transformationsprozesse
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sowie die damit einhergehenden Kriege eine weitergehende Demokratisierung und marktwirtschaftliche Reform. In allen Transformationsländem Mittel- und Osteuropas kommen die Verbesserungen des sozioökonomischen Entwicklungsstandes nur langsam voran. So hatten im Jahr 2002 lediglich Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland und Albanien das Niveau ihres realen Bruttoinlandsprodukts von 1989 überschritten. Legt man den im Rahmen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) entwickelten Human Development Index (HDI) zugrunde, der aus der durchschnittlichen Lebenserwartung, dem Bildungsgrad sowie dem Pro-Kopf-BIP in Kaufkraftparitäten errechnet wird, haben nur Albanien und Lettland ihr Entwicklungsniveau zwischen 1995 und 2000 deutlich erhöht. Nach Brusis (2003) setzen umfassende gesellschaftliche Reformen, wie sie in Transformationsprozessen erforderlich sind, eine (politische) Steuerungsleistung voraus, die durch verschiedene Qualitätsmerkmale gekennzeichnet ist. Danach sollten die politischen Akteure fähig sein, strategisch orientierte, konsistente und glaubwürdige Reformpolitiken zu formulieren und diese auch gegen politische Blockadeversuche umzusetzen. Eine Regierung sollte die verfügbaren ökonomischen, kulturellen und humanen Ressourcen optimal nutzen, Verantwortlichkeit, Lernfähigkeit und politische Klugheit zeigen, nicht-staatliche Akteure einbeziehen und einen breiten Reformkonsens in der Gesellschaft anstreben. Die Auflistung dieser Empfehlungen legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Art der wissenschaftlichen Beratung von untergeordneter Bedeutung zu sein scheint. Lediglich indirekt lässt sich der Auflistung von als notwendig eingestuften politischen Handlungskompetenzen entnehmen, dass als Adressat fUr wissenschaftliche Beratung nicht primär die Öffentlichkeit, sondern die jeweiligen Regierungsakteure in den Blick zu nehmen sind. Bereits mit einer solchen Interpretation würde allerdings der Stellenwert, welcher der Frage nach der Relevanz unterschiedlicher Politikberatungsmodelle in der Transformationsforschung bislang beigemessen wurde, verzerrt wiedergegeben. Soweit Transformationskonzepte innerhalb der Ökonomie diskutiert wurden, war diese Diskussion bislang ausschließlich auf die inhaltliche Dimension konzentriert. Die Aufmerksamkeit galt dabei Themen wie der makroökonomischen Stabilisierung des Geld- und Währungssystems, der Liberalisierung von Märkten und der Freigabe von Preisen sowie der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen in den jeweiligen Transformationsländern. Soweit prozedurale Fragen des Transformationsprozesses im Mittelpunkt standen, waren diese auf die richtige Abfolge der Maßnahmen (sequencing) und das Tempo der Transformation (big bang vs. Gradualismus) gerichtet (siehe als Überblick Funke 1993; siehe auch Hutter 1995). Die Frage nach der angemessenen politischen Vermittlung dieser Konzepte, die nicht losgelöst vom zu wählenden Politikberatungsmodell gestellt werden kann, wurde demgegenüber vernachlässigt. Zwar wurde schon früh die Vielschichtigkeit von Transformationsprozessen aufgrund deren politischer, sozialer und wirtschaftlicher Dimension betont (siehe etwa ECE 1991 oder auch Backhaus 1991). Auch wurde mit Schwierigkeiten gerechnet, die sich aus der simultan erfolgenden Schaffung neuer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und der Demokratisierung ergeben. Die Beantwortung der Frage, welches angesichts dieser besonderen Rahmenbedingungen das geeignete Modell von Politikbera-
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Thomas Döring
tung ist, blieb jedoch zunächst ausgeblendet. Dies änderte sich erst mit d e m Auftreten der so genannten Transformationskrisen (siehe als Überblick Rosati 1994 sowie zusammenfassend Engerer und Voigt 2002). Dabei trug insbesondere die Mitte der 1990er Jahre einsetzende Krise, die selektiv Länder wie Rumänien, Bulgarien oder auch Russland traf und durch einen starken Produktionseinbruch gekennzeichnet war, zu einem Prozess des Umdenkens bei. Wurden die sich ab diesem Zeitpunkt mehr und mehr abzeichnenden unterschiedlichen Verlaufsmuster der Transformation anfänglich noch mit Unterschieden in der Umsetzung der Transformationskonzepte erklärt, so drängte sich zunehmend die Frage auf, ob nicht die zugrunde gelegten Konzepte und - darüber vermittelt - auch das praktizierte Modell der Politikberatung einer kritischen Betrachtung bedurfte.
3.2. Transformationsberatung als Import von Blaupausen-Konzepten In Zeiten grundlegender gesellschaftlicher U m b r ü c h e werden wissenschaftliche Beratungsleistungen weitaus stärker von den politischen Entscheidungsträgem nachgefragt, als dies in Phasen des routinehaften politischen Entscheidungsverhaltens unter stabilen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Fall ist. Dieser verstärkten Nachfrage stand in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu Beginn des Transformationsprozesses ein Angebot gegenüber, das vor allem durch die folgenden Strukturmerkmale gekennzeichnet war (von Beyme 1995, S. 124f.): Z u m einen waren insbesondere in der Anfangsphase des Transformationsprozesses kaum heimische Experten in Politik und Bürokratie zur Bewältigung der anstehenden Probleme verfügbar. Z u m anderen hatten die in den post-sozialistischen Ländern vorhandenen Ö k o n o m e n ihre Expertenqualität weitgehend verloren, da ihnen inhaltlich wie methodisch das grundlegende Wissen für die Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie fehlte. Hinzu kam, dass die Wissenschaft selbst, die in einigen post-sozialistischen Ländern starken Umstrukturierungen und Verteilungskämpfen durch die Konkurrenz von neuen staatlichen und privaten Institutionen ausgesetzt war, einen (krisenhaften) Wandel durchlief. Soweit Beratungsleistungen angeboten wurden, geschah dies vielfach zu spät und in zu geringem U m f a n g . Diese Lücke i m „heimischen" Beratungsangebot konnte auch dadurch nur begrenzt geschlossen werden, dass in einigen Transformationsländern Ö k o n o m e n selbst die Rolle politischer Funktionsträger übernahmen. Angesichts einer Situation, in der Politik und Wissenschaft noch nicht hinreichend ausdifferenziert waren, führte die unmittelbare Beteiligung von Ökonomen am politischen Willensbildungsprozess nicht selten zu einer Vermischung der Funktionen, die letztlich für beide gesellschaftlichen Teilbereiche (Wissenschaft und Politik) auf D a u e r abträglich war. 2 Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs überraschend, dass vor allem westliche Experten im Transformationsprozess als Politikberater fungierten. Das mit Abstand prominenteste Beispiel hierfür dürfte zweifelsohne der ehemalige Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs sein. Die Art und Weise seiner Beratungstätigkeit kann als repräsentativ d a f ü r gelten, wie Ratschläge erteilt wurden: O h n e Rücksicht auf die besondere Lage in 2
Von Beyme (1995, S. 123) spricht in diesem Zusammenhang von Politikberatung in Form einer „Do-it-yourself-Politik", durch die „der Aufbau eines unideologischen Wissenschaftssystems auch zum langfristigen Nachteil der Politik verzögert" wurde.
Politik- und Politikerberatung - Transformationsprozesse
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den jeweiligen Transformationsländern erfolgte Politikberatung im Stil des Imports von Blaupausen-Konzepten zur Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen. Mit dem Selbstverständnis eines „klinischen Ökonomen, [der] ans Bett kranker Volkswirtschaften gerufen" wird (Heuser 2003, S. 25) und unter Bezug auf das vorherrschende, neoklassisch geprägte Theoriefundament wurden dabei für Länder wie Polen, Rußland, Jugoslawien, Slowenien, Estland, die Slowakei oder auch die Ukraine in ihren Bausteinen immer gleiche Masterpläne entwickelt, die quasi über Nacht die ehemaligen Planwirtschaften in Marktwirtschaften verwandeln sollten. Auch Organisationen wie der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank präsentierten Anfang der 1990er Jahre weitgehend identisch angelegte Transformationskonzepte für Mittel- und Osteuropa, wobei die in ihrem Auftrag tätigen Transformationsberater nicht minder von der Vorstellung des Blaupausen-Importes beherrscht waren. Die Grundlage hierfür lieferten die in verschiedenen Schwellen- und Entwicklungsländern (insbesondere in Lateinamerika) erprobten Stabilisierungsprogramme (siehe etwa Blanchard et al. 1994). Diese Art der Herangehensweise an die Transformationsproblematik fand seinen Höhepunkt im sogenannten Washington Consensus, 3 der inhaltlich auf die bereits genannten Bereiche der Geld-, Währungs- und Investitionspolitik sowie der Deregulierung und Privatisierung beschränkt und - bezogen auf den Adressatenkreis von Politikberatung - auf die relevanten Akteure in Regierung und öffentlicher Verwaltung ausgerichtet war. Die Erfolgsbilanz dieser Vorgehens weise fiel dabei in den einzelnen Transformationsländern unterschiedlich aus. So können die Wirkungen dieser Art von Politikberatung etwa mit Blick auf Polen als durchaus positiv bewertet werden, nicht zuletzt weil aus heutiger Sicht einige wesentlich Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Transformationsprozess gegeben waren (siehe Ellmann 1992, Murell 1992 oder auch von Beyme 1995). Dazu zählte unter anderen die Möglichkeit des Staates, die Kontrolle über die Löhne für eine Übergangszeit aufrechtzuerhalten. Eine wesentliche Hilfestellung leistete hierbei die Existenz einer bereits organisierten Gewerkschaftsbewegung, die die Folgen einer restriktiven Lohnpolitik bei ihren Mitgliedern abfedern konnte. In anderen Ländern wurden demgegenüber Planungsinstrumente aufgelöst, noch ehe Marktinstitutionen sich hinreichend herausgebildet hatten. So führte beispielsweise eine ähnliche Strategie in Rußland nicht zu den gleichen Erfolgen wie in Polen. Hinzu kommt des Weiteren, dass etwa in Ländern wie Tchechien und Polen aufgrund der historisch gewachsenen soziokulturellen Rahmenbedingungen die Durchsetzungschancen genuin „westlicher" Modelle wie Demokratie, Gewaltenteilung, Marktwirtschaft und Rechtsstaat weitaus größer zu sein schienen als in den Ländern Osteuropas. Das diesbezüglich unter dem Schlagwort der „interkulturellen Kommunikationsbarriere" (Sundhausen 1995) formulierte Problem verweist dabei - für Institutionenökonomen keineswegs neu - auf die Bedeutung vorhandener Wert- und Normensysteme für das Funktionieren von Demokratie und Marktwirtschaft. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen lassen sich die Ursachen für den mangelnden Beratungserfolg sowohl in inhaltlicher als auch konzeptioneller Hinsicht benennen.
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Siehe zum „Washington Consensus" beispielsweise Gregory (1999) oder auch Müller (2001).
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In der inhaltlichen Dimension besteht mittlerweile unter Ö k o n o m e n mehrheitlich Einigkeit darüber, dass Berater wie Jeffrey Sachs und die ihrem Rat folgenden Regierungen b e i m Transformationsprozess etwas Wichtiges übersehen haben. So sollten durch die einfache Übertragung von Gesetzen und Regeln, die sich in westlichen Ländern bewährt hatten, entsprechende Wohlstandssteigerungen in den betroffenen Ländern erzielt werden. Neuere Studien haben hier jedoch zu der Erkenntnis geführt, dass neben der bloßen Übertragung von im Westen vorhandenen Institutionen und deren formalen Inkraftsetzung weitere M a ß n a h m e n zu tätigen sind (siehe stellvertretend EBRD 1997; siehe z u m aktuellen Stand des Transformationsprozesses auch EBRD 2002 und 2003). 4 Dabei zeigte sich vor allem das Problem, dass die neuen formellen Institutionen und Gesetze nicht nur von der amtierenden Regierung zu verabschieden waren, sondern diese - sollten sie W i r k u n g entfalten - auch gesellschaftlich verankert und mit den vorhandenen informellen Institutionen abgestimmt werden mussten. 5 Der Transformationsprozess schafft danach z w a r die Voraussetzungen für einen Systemwandel, f ü r den wirtschaftlichen Erfolg einzelner Länder sind aber vor allem die institutionellen Rahmenbedingungen entscheidend. In der neoklassischen Theorie, die als dominante Blaupause für die Reform e n in Mittel- und Osteuropa der Politikberatung anfänglich zugrunde gelegt wurde, haben formelle wie informelle Institutionen jedoch keinen Platz. Neben diesem Defizit in der inhaltlichen Dimension tritt aber auch ein konzeptionelles Problem im Sinne der Wahl des vor diesem Hintergrund geeigneten Modells von Politikberatung. Bezieht man sich hier wiederum auf die von Sachs (1994) vertretene Position, der zufolge die Staaten (d.h. die jeweiligen Regierungen) nur das von ihm entwickelte P r o g r a m m umsetzen müssen, um zu Wohlstand und Stabilität zu gelangen, so offenbart sich darin ein im Kern technokratisches Verständnis von Politikberatung. I m Einklang mit der traditionellen Sicht, wie sie sich implizit in der wohlfahrtsökonomisch geprägten Theorie der Wirtschaftspolitik findet, wird Politikberatung hier primär als Regierungsberatung interpretiert. Erfolgreiche Systemtransformation erscheint angesichts dessen als ein rein instrumenteller Akt, bei d e m es einzig darauf ankommt, dass die politischen Entscheidungsträger den v o m Ö k o n o m e n entwickelten Maßnahmenkatalog möglichst Punkt f ü r Punkt umsetzen, u m die wirtschaftspolitisch gewünschten Er-
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Damit wurde nachträglich auch die Einschätzung von Ökonomen in der Tradition der Institutionen- und Ordnungsökonomik bestätigt, die bereits frühzeitig auf die Komplexität von Transformationsprozessen hingewiesen hatten. Siehe stellvertretend Schüller (1992), Apolte (1992) oder auch Leipold (1994 und 1996). Bezogen auf die Kritik am „Washington Consensus" bedeutet dies zugleich, dass nicht die dort als notwendig definierten institutionellen Reformen als solche kritikbedürftig sind, sondern vielmehr die (naive) Vorstellung einer mehr oder weniger friktionslosen Umsetzung dieser Reformen. In diese Richtung zielen auch Einschätzungen von Vertretern des IWF und der Weltbank, wenn festgestellt wird, dass „in der Vergangenheit die Rolle gesunder Institutionen und der Rechtssicherheit für eine funktionierende Marktwirtschaft unterschätzt" wurde (Stom 2003, S. 30, der sich hierbei auf eine Aussage des früheren Vorsitzenden des IWF und jetzigen Bundespräsidenten, Horst Köhler, bezieht). In dieser Hinsicht offener erscheint das von Dombusch (1991) vorgelegte „7-Tage-Programm" der Systemtransformation, welches für die Schaffung adäquater Institutionen immerhin 2 Tage vorsieht. Allerdings wird auch in diesem Programm die Relevanz von Traditionen, sozialen Normen und Mentalitäten, d.h. von informellen Institutionen, nur unzureichend reflektiert.
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gebnisse zu erhalten. Dass hierbei auch das Problem der gesellschaftlichen Vermittlungsfähigkeit von Reformmaßnahmen (einschließlich der dafür relevanten Rahmenbedingungen) zu berücksichtigen ist, bleibt dabei - anders als im Modell der Öffentlichkeitsberatung - systematisch unreflektiert.
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Einbeziehung der Öffentlichkeit als notwendiger Bestandteil von Politikberatung im Transformationsprozess
4.1. Transformation als Prozess des kulturellen und mentalen Wandels Um den zuletzt genannten Punkt im Kontext der Transformationsproblematik angemessen zu berücksichtigen, ist vorgeschlagen worden, die wirtschaftspolitische Umgestaltung vormals sozialistischer Länder als einen umfassenderen Prozess des kulturellen Wandels zu interpretieren (siehe etwa Sundhausen 1995 oder auch Hermann-Pillath 2000). Aus Sicht der unterschiedlichen Modelle von Politikberatung ist dies insofern von Bedeutung, wie sich die „Kultur" einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung folgt man den genannten Autoren - nicht einfach mittels direkter Interventionen, sondern nur auf dem Weg eines breit angelegten gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses verändern lässt. Die mancherorts bestehende Erwartung, dass mit der Einführung neuer Institutionen in den Transformationsländern die damit einhergehenden Anreizmechanismen für eine entsprechende Anpassung der informellen Institutionen (Werte, soziale Normen, Traditionen) sorgen werden (so etwa Mummert 1999), muss vor diesem Hintergrund als wenig realistisch gelten (siehe grundlegend North 1999). Aus der Perspektive kulturellen Wandels bedarf es vielmehr einer „kommunizierten Reflektion" über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wobei erst eine solch „kommunikative Offenlegung von Ordnungsfragen hinreichende Kreativitätspotenziale erschließt, um dann neue Institutionen zu generieren" (Hermann-Pillath 2000, S. 393). Wirtschaftspolitische Beratung als ein breit angelegter gesellschaftlicher Diskurs stellt jedoch insbesondere bei umfassenden Reformvorhaben, wie sie für Transformationsländer kennzeichnend sind, ein zentrales Problem dar, weil noch ausgeprägter als in westlichen Ländern die realen Zusammenhänge zwischen institutionellen Reformen der Mehrzahl der Beteiligten nicht transparent sind und weil zudem Interessen und reale Konsequenzen der Reformmaßnahmen nicht eindeutig bestimmt werden können. 6 Während bezogen auf die westlichen Demokratien aus politökonomischer Sicht im Modell einer öffentlichkeitsbezogenen Politikberatung häufig der einzige Ausweg gesehen wird, um die allgemeinen gesellschaftlichen Interessen gegenüber den in der Politik dominierenden Eigen- und Sonderinteressen zur Geltung zu bringen, erhält bezogen auf die Gestaltung von Transformationsprozessen die in diesem Modell angelegte konsensstiftende Funktion von Politikberatung ein besonderes Gewicht. Einer auf die Öffent-
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Es besteht hier eine enge Verbindung zu Konzepten einer evolutorischen Wirtschaftspolitik, die vor allem auf die Frage konzentriert sind, wie wirtschaftspolitische Probleme als solche Uberhaupt erkannt werden und welchen Beitrag der gesellschaftliche Diskurs zur Lösung dieser Probleme leistet. Siehe hierzu etwa Meier und Durrer (1992), Slembeck (1997), Koch (1998) Meier und Slembeck (1998) oder auch Ebert (1999).
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lichkeit ausgerichteten Politikberatung kommt die Aufgabe zu, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Transformationsprozess zu schaffen. Dabei sind vor allem die folgenden Punkte von besonderer Bedeutung (siehe Sundhausen 1995; siehe auch Kaltefleiter 1994, Bönker 1995 sowie Wrobel 2003): — Der Import von in westlichen Ländern bewährten demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnungselementen fällt dann umso leichter, wenn innerhalb der Gesellschaft ein Grundkonsens über die Akzeptanz der sich mit dem Transformationsprozess verbindenden Ziele besteht. Wo dies - wie in der Mehrzahl der osteuropäischen Transformationsländern - nicht der Fall war und ist, steigt die Wahrscheinlichkeit von politischen wie gesellschaftlichen Machtkämpfen, die sich lähmend auf die Reformpolitik auswirken sowie den Um- und Neubau von politischen wie wirtschaftlichen Institutionen behindern. Gerade Russland liefert hierfür ein augenfälliges Beispiel 7 , wo ein mangelnder Grundkonsens über die Ziele des Transformationsprozesses gesellschaftliche Desintegration und ein starkes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber demokratischen und privatwirtschaftlichen Strukturen begünstigt hat. — Für eine hinreichende Akzeptanz der Ziele ist eine umfassende Aufklärung über die mit der Transformation verbundenen (schmerzlichen) Umstellungsprozesse und die zu erwartenden Verteilungskämpfe erforderlich. So erhofften sich die Menschen in Mittel- und Osteuropa vom Transformationsprozess mehr Wohlstand und Freiheit. Was dies jedoch konkret bedeutet, wie die beiden Teilziele gegeneinander zu gewichten sind, welche gesellschaftlichen und individuellen Kosten daraus resultieren, war der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in den post-sozialistischen Ländern zumindest zu Beginn des Transformationsprozesses nicht bewusst. Eine über die jeweilige Regierung hinaus auch an die Öffentlichkeit adressierte Politikberatung hätte hier durch entsprechende Aufklärungsleistungen den sich zwangsläufig einstellenden Erwartungsenttäuschungen (zumindest partiell) vorbeugen können. — Damit eng verbunden ist die historische Erfahrung, dass ein Transformationsprozess die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft nicht Uberfordern darf. Die im Rahmen der Regierungsberatung a la Jeffrey Sachs für die Transformationsländer propagierte „Schocktherapie" kann erfolgreich sein, so lange es im wesentlichen „nur" darauf ankommt, bestehende Hemmnisse aus dem Weg zu räumen, um die innerhalb der Gesellschaft vorhandenen Kräfte zum Wandel zur Entfaltung zu bringen. Ein solches Modell der Politikberatung ist jedoch dann kontraproduktiv, wenn die soziokulturellen Voraussetzungen für die Implementierung einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung fehlen und dieses Defizit Abwehrreaktionen erzeugt, die eine Fortsetzung des Transformationsprozesses erheblich behindern oder gar unmöglich machen. Eine ausschließlich auf Politik und öffentliche Verwaltung ausgerichtete Politikberatung ist hier permanent der Gefahr ausgesetzt, der jeweiligen Gesell-
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Siehe für Russland etwa Demidov (1995) oder auch Voswinkel (2003). Siehe für die Ukraine die Untersuchung von Helmerich (2003). Siehe darüber hinaus für die Einstellung der Bevölkerung zum marktwirtschaftlichen und parlamentarischen System in den übrigen Ländern Mittel- und Osteuropas die Untersuchung von Rose und Seifert (1995).
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schaft ein System überzustülpen, das ihr fremd ist und einen Bruch mit bestehenden Traditionen bedeutet. — Transformationsprozesse sollten demgegenüber als eine Art (kollektiver) Sozialisationsprozess verstanden werden, in dem neue Verhaltensweisen verinnerlicht werden müssen. Daraus lässt sich ableiten, dass grundlegende Reformmaßnahmen, allen voran die Umgestaltung des Wirtschafts- und Rechtssystems, nur dann die notwendige Breitenwirkung entfalten können, wenn hinreichende Voraussetzungen für mentale Kopplungswirkungen innerhalb der Bevölkerung vorhanden sind. Liegt demgegenüber die Durchsetzung von Demokratie und Marktwirtschaft allein in den Händen von Technokraten und Theoretikern, ist ein nachhaltiger Erfolg des Transformationsprozesses eher unwahrscheinlich. Die Chancen für eine breitenwirksame Implementierung von Transformationszielen werden nicht zuletzt durch den Wissenstand der Bevölkerung sowie deren Werte- und Normensystem bestimmt. 8
4.2. Zum Verhältnis von Regierungs- und Öffentlichkeitsberatung Den zurückliegenden Überlegungen liegt die Annahme zugrunde, dass die Länder Mittel- und Osteuropas angesichts der institutionellen Komplexität und der gesellschaftlichen Reichweite des Transformationsprozesses nicht ohne weiteres durch den Import standardisierter Transformationskonzepte mehr oder minder beliebig formbar sind. Sie sind vielmehr das Ergebnis langfristiger Entwicklungsprozesse, deren Strukturen zwar veränderbar sind, die Veränderungsgeschwindigkeit wird aber nicht unerheblich von den in der Gesellschaft vorhandenen Mentalitäten und Denkkulturen mit beeinflusst (siehe Mantzavinos et al. 2004; North 1999; Dernau, und North 1994). Interpretiert man letztere als „Ordnungssysteme" eigener Art, so muss - nimmt man Walter Euckens These von der Interdependenz der Ordnungen emst - davon ausgegangen werden, dass die im Interdependenzargument angelegte Forderung nach funktionaler Symmetrie verschiedener (Teil-)Ordnungen' nicht allein auf das Verhältnis von Wirtschafts-, Rechtsund Staatsordnung beschränkt sein kann. Transformation bedeutet vor diesem Hintergrund einen (notwendigen) Wandel der gesellschaftlichen Teilordnungen in ihrer Gesamtheit. Dem muss auch die Ausgestaltung von Politikberatung Rechnung tragen. Dies spricht nicht gegen die Einführung marktwirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Strukturen in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Diese Konstellation spricht vielmehr für die Einbeziehung der Öffentlichkeit als Adressat von Politikberatung im Transformationsprozess, soweit gesellschaftliche Mentalitäten und Denkkulturen als mögliche
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Eine kritische Analyse des Fehlens entsprechender mentaler Kopplungswirkungen im Fall Russlands findet sich beispielsweise bei Ahlberg (1995). Sundhausen (1995) spricht in diesem Zusammenhang auch von potenziellen Trägerschichten des Transformationsprozesses, um dabei zu schlussfolgern, dass „ohne Existenz einer breiten Mittelschicht [...] sich die Integration einer Gesellschaft auf demokratischer und marktwirtschaftlicher Basis nicht bewerkstelligen" lässt (Ebenda, S. 88). Dabei ist weniger die Mittelschicht als solche, sondern das von ihr repräsentierte Werte- und Nonnensystem die entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche Verankerung der Transformationsziele in der Bevölkerung.
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Unter „funktionaler Symmetrie" kann dabei sowohl eine Beziehung wechselseitiger institutioneller Vorleistungen als auch ein Verhältnis der logischen Komplementarität von Teilordnungen verstanden werden. Siehe hierzu auch Döring (1999).
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Restriktionen erfolgreicher Transformation berücksichtigt werden. Regierungs- und Öffentlichkeitsberatung sind dabei nicht als ein wechselseitiges Substitut zu verstehen, sondern sie stellen komplementäre Elemente eines umfassend angelegten ökonomischen Beratungsprozesses dar: 10 Während - vereinfacht ausgedrückt - die Beratung der Regierungsakteure auf eine Kompensation fehlenden oder defizitären ordnungsökonomischen wie prozesspolitischen Gestaltungswissens in Politik und öffentlicher Verwaltung abzielt, erfüllt die auf das breite Publikum gerichtete Beratungstätigkeit eine zentrale Informations· und Aufklärungsfunktion. Letzteres bedeutet jedoch nicht, dass bestimmte Reformmaßnahmen gewissermaßen propagandistisch verbreitet werden. Neben der notwendigen Aufklärung über die gesellschaftlichen wie individuellen Konsequenzen von Reformmaßnahmen verbindet sich damit vielmehr zugleich eine Entdeckungsfunktion im Sinne eines im gesellschaftlichen Diskurs praktizierten Auslotens der Grenzen des aktuellen Transformationsspielraums einer Gesellschaft. Eine so verstandene Öffentlichkeitsberatung kann der Regierungsberatung jenen Rückkopplungseffekt bei der Entwicklung von Gestaltungsempfehlungen liefern, der notwendig ist, um den „Randbedingungen" des Transformationsprozesses in Gestalt verschiedenartiger politischer, mentaler und institutioneller Ausgangssituationen sowie der unterschiedlichen Präferenzen der Bürger in den einzelnen Staaten angemessen Rechnung zu tragen (Wrobel 2003). Die These von der Komplementarität von Regierungs- und Öffentlichkeitsberatung beinhaltet nicht zwingend eine zeitliche Parallelität beider Beratungsformen. So haben die Erfahrungen aus der frühen Phase des mittel- und osteuropäischen Transformationsprozesses gezeigt, dass zumindest in einer Reihe von Fällen das entstandene institutionelle Vakuum und die damit einhergehende Gefahr weitreichender gesellschaftlicher Instabilität nur durch die unmittelbare Einführung marktwirtschaftlicher und demokratischer Strukturen vermieden werden konnte. Bezogen auf die Relevanz der beiden Beratungsmodelle resultiert daraus in erster Linie ein Bedarf an Regierungsberatung, um die politisch verantwortlichen Akteure bei der Umgestaltung der formalen Institutionen zu unterstützen. Einer öffentlichkeitsbezogenen Politikberatung kommt unter dieser Bedingung vor allem die Funktion zu, in einer Art „nachlaufender Beratung" das breite Publikum über die Notwendigkeit jener institutionellen Reformen aufzuklären, die von der amtierenden Regierung zur Vermeidungen eines Zustande nachhaltiger gesellschaftlicher Instabilität vollzogenen wurden. Ein weiteres Argument für eine öffentlichkeitsbezogene Politikberatung liefern politische und administrative Restriktionen, die den Transformationsprozess in Richtung und Tempo einschränken können (Schmähl 1997). Soweit in den Transformationsländern im Verwaltungsbereich eine relative personelle Stabilität über den Systemwechsel hinaus zu verzeichnen ist, sind institutionelle Beharrungstendenzen wahrscheinlich, die
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Siehe hierzu etwa Zimmermann (2003). Ein Beispiel für die Komplementarität von Regierungs- und Öffentlichkeitsberatung liefert die wirtschaftspolitische Beratung der Ukraine, bei der aktuell hochrangige deutsche Experten ukrainische Partner auf Ministerebene bzw. in Parlament, Präsidial Verwaltung, Zentralbank und anderen Institutionen beraten. Mit Blick auf die Öffentlichkeit sind darüber hinaus alle Arbeiten der Beratergruppe im Internet frei zugänglich. Siehe hierzu auch Handrich et al. (2003).
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der Entwicklung und Durchsetzung einer langfristig angelegten, auf Marktwirtschaft und Demokratie ausgerichteten Reformagenda im Wege stehen. Darüber hinaus stellt im politischen Bereich die zeitliche Kontinuität, mit der Politiker ihre Vorstellungen verfolgen können, eine entscheidende Variable dar. Zwar haben sich in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas inzwischen weitgehend demokratisch verfasste politische Systeme etabliert, wobei es zu Beginn der politischen und wirtschaftlichen Transformation in allen Ländern zu einem Personalwechsel an der politischen Spitze gekommen ist. Die politische Stabilität, wie sie sich etwa in der Anzahl der Regierungswechseln oder der Bandbreite des Parteienspektrums zeigt, ist in diesen Staaten jedoch seither sehr unterschiedlich. Unter der Annahme, dass politische Stabilität ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Durchsetzung von tiefgreifenden Reformen ist, dürfte zumindest in jenen Transformationsländern, die durch eine hohe Anzahl von Regierungswechsel gekennzeichnet sind, das Vorhandensein eines gesellschaftspolitischen Konsenses über die Reform der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eine entscheidende Rolle spielen. Hinzu kommt schließlich auch, dass in den Transformationsländern - nicht anders als in den westlichen Ländern - Sonderinteressen (insbesondere in Form der „alten Eliten") eine Gefahr für die Realisierung des gesellschaftlichen Wandels darstellen, denen mit einer auf die öffentliche Meinungsbildung abzielenden Beratungstätigkeit zumindest teilweise entgegengewirkt werden kann." Für den Fall einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem erreichten Stand der Transformation kommt einer öffentlichkeitsbezogenen Politikberatung hier insbesondere die Aufgabe zu, das breite Publikum vor falschen Kausalzurechnungen zu bewahren. Auf diesem Weg könnte beispielsweise darüber aufgeklärt werden, dass der Missbrauch wirtschaftlicher Macht oder auch das Auftreten von Korruption keine inhärenten Defekte des Marktsystems, sondern in erster Linie Ausdruck der Unvollkommenheit von rechtlicher und politischer Ordnung sind.
5.
Empirische Anhaltspunkte für die Relevanz unterschiedlicher Politikberatungsmodelle in Transformationsprozessen
Die bisherigen Überlegungen zur Relevanz der Öffentlichkeit als Adressatenkreis einer Transformationsberatung beruhen weitgehend auf Plausibilitätsargumenten, die letztlich nicht über den Status der Hypothesenbildung hinausgehen. Auch kann das fallweise Scheitern einzelner Beratungskonzepte noch nicht als ein empirischer Beleg dafür gelten, dass das diesen Konzepten implizit zugrunde liegende Beratungsmodell als wenig erfolgversprechend angesehen werden muss. Eine solche Schlussfolgerung würde nicht hinreichend zwischen Inhalt und Form von Politikberatung differenzieren. Empirische Untersuchungsergebnisse, welche unmittelbar die Relevanz unterschiedlicher Poli-
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In ähnlicher Form stellt auch Aslund (1999, S. 166) fest, dass "the main cost of the transition is not structural adjustment costs but rent-seeking. The state cannot be trusted to help the poor but is bound to transfer money to the richest. Therefore, it is unwise to harbor any illusion of a swift transformation of the state. On the contrary, the damage of a corrupt state must be minimized, and it can only reconstructed in the long term. The conclusion is that the room of manoeuvre of the old elite should be minimized and that the population should be mobilized against it".
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tikberatungsmodelle in Transformationsprozessen testen, liegen jedoch bis dato nicht vor. Vorliegende vergleichende Länderstudien zu den Bestimmungsfaktoren erfolgreicher Transformationen ermöglichen hier allerdings indirekte Rückschlüsse. Entsprechende Anhaltspunkte liefert etwa die von der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Centrum für angewandte Politikforschung (2003) durchgeführte Untersuchung zu den Möglichkeiten von Planung, Steuerung, Unterstützung und Implementierung von Transformationsprozessen. Ziel dieser Untersuchung ist es, durch eine weltweit vergleichende Analyse von insgesamt 116 Transformations- und Entwicklungsländern bestehende Lernerfahrungen systematisch auszuwerten und strategische Empfehlungen für das Transformationsmanagement zu erarbeiten. Erste Ergebnisse liegen bislang für 39 Transformations- und Entwicklungsländer 12 vor (siehe Weidenfeld 2001 und 2002). Für die Frage des relevanten Adressatenkreises von Politikberatung ist dabei vor allem die Bewertung der Transformationsleistungen einzelner Akteure bzw. Akteursgruppen von Bedeutung. Fasst man die in dieser Dimension gewonnen Untersuchungsergebnisse zusammen, so kann daraus zwar abgeleitet werden, dass ein Großteil der Reformanstrengungen von der Bevölkerung der jeweiligen Transformationsstaaten getragen werden muss, um den Transformationsprozess insgesamt erfolgreich zu gestalten. Als maßgeblich für ein erfolgreiches Transformationsmanagement wird jedoch das Verhalten der sogenannten „Handlungs- und Initiativträger" angesehen, zu denen die Studie in erster Linie „Parteiführer, Parlamentarier, Präsidenten sowie Minister und leitende Mitarbeiter der verschiedenen Regierungen" rechnet. Ebenfalls zu den zentralen Akteuren werden die „alten politischen Eliten" in Parteien und anderen sozialen Organisationen gerechnet. Soweit zudem auch Akteursgruppen außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen Berücksichtigung finden, wird auf die Bedeutung unterstützender Staaten oder Staatengruppen sowie den Einfluss supranationaler Organisationen verwiesen. Angesichts dieser Ergebnisse könnte indirekt geschlussfolgert werden, dass auch und gerade im Rahmen von Transformationsprozessen Politik und öffentliche Verwaltung - und nicht die Öffentlichkeit - die „ersten" Adressaten von Politikberatung sind. Offen bleibt allerdings, welche Bedeutung einer komplementär zur Regierungsberatung angelegten Beratung der Öffentlichkeit innerhalb von Transformationsprozessen zukommt. Hinweise zur Beantwortung dieser Frage liefert die Studie von Williamson und Haggard (1994), die auf der Grundlage von 13 Einzelfallanalysen untersucht haben, durch welche politökonomischen Faktoren die Diffusion ökonomischen Wissens im politischen System und der Erfolg sich daraus entwickelnder wirtschaftspolitischer Reformmaßnahmen bestimmt wird. Ein für alle betrachteten Länder einheitliches Erfolgsmuster politischer Reformen konnte dabei zwar nicht festgestellt werden. Allerdings zeigte sich, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle - neben einer krisenhaften ökonomischen Ausgangslage - das Vorhandensein eines umfassenden und übergreifenden Reformprogramms, eine visionäre politische Führung sowie ein effektive Organisationsstruktur der mit der Umsetzung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen betrauten Ver-
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Unter diesen 39 Staaten befinden sich 19 Transformationsländer aus Mittel- und Osteuropa. Darüber hinaus wurden in die Analyse 8 asiatische Länder, 4 afrikanische Länder sowie 8 lateinamerikanische Länder einbezogen.
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waltung zu den Erfolgsfaktoren des jeweiligen Reformprozesses gerechnet werden konnte. Bezogen auf die zur Diskussion stehenden Modelle von Politikberatung ließe sich daraus indirekt ableiten, dass - soweit ökonomisches Gestaltungswissen in die Reformen eingeflossen ist - die jeweils in politischer Verantwortung stehenden Akteure, d.h. Regierung und öffentliche Verwaltung, die entscheidenden Adressaten von Politikberatung waren. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass für die politische Vermittlung wirtschaftspolitischer Empfehlungen eine unmittelbare Regierungsbeteiligung von Ökonomen keinerlei Bedeutung beigemessen wird. Wenn vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse eine öffentlichkeitsbezogene Politikberatung dennoch als nicht vollkommen irrelevant eingestuft werden kann, dann ist dies vor allem darauf zurückzuführen, dass sowohl das Vorhandensein einer „breiten politischen Basis" als auch wenngleich mit gewissen Abstrichen - die Existenz eines „sozialen Konsenses" für die nachhaltige Umsetzung von wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen als relevant bewertet wurden. Beide Faktoren stehen stellvertretend für den gesellschaftlichen Rückhalt eines Reformprogramms. Je langfristiger ein politisches Reformprogramm angelegt ist, wie dies gerade auch für Transformationsprozesse gilt, um so mehr stellt die Unterstützung dieses Programms bei wichtigen gesellschaftlichen Gruppen sowie der breiten Öffentlichkeit einen bedeutsamen Erfolgsfaktor dar. 13 Bezogen auf die unterschiedlichen Modelle von Politikberatung kann daraus abgeleitet werden, dass - soweit Ökonomen im Rahmen von Transformationsprozessen beratend tätig sind (oder sein wollen) - am traditionellen Konzept der Regierungsberatung kein Weg vorbei führt. Sollen jedoch die Erfolgsaussicht eines aus ökonomischer Sicht als zweckmäßig eingestuften Reformprogramms nachhaltig gesteigert werden, bedarf es ebenso einer Einbeziehung der breiten Öffentlichkeit im Form der Aufklärung über die Notwendigkeit sowie die Wirkungszusammenhänge wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Reformmaßnahmen. Entsprechend fällt auch das Fazit bei Williamson und Haggard (1994, S. 577) aus: „Economists who want to see good economic policies implemented have a duty to try and educate the public as well as the policymakers".
6.
Zusammenfassung der Ergebnisse
In den zurückliegenden Jahren ist eine Flut an Literatur zur Transformationsproblematik entstanden. Der weit überwiegende Teil der Literatur bezieht sich dabei auf Analysen zur Gestaltung von Transformationsprozessen, die zugleich als Bezugspunkt und
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So stellen Williamson und Haggard (1994, S. 575) fest, dass „long-run reforms required, if not consensus, at least a substantial body of public support". Und an anderer Stelle (ebenda, S. 577): „In some circumstances it may be politically possible to introduce reforms ahead of public opinion and achieve results sufficiently quickly to sustain them by changing public opinion. In others it may make more sense to build public support as the programm is developed. In many cases it may be useful [...] to think of a reform program as involving a sequence of reforms, each one of which may initially involve the expanditure of political capital, but which may also help to replenish the government's stock of political capital as its results come on stream. In this conception the political art required by a reformer is to judge just how far he can go ahead of public opinion at any particular time without losing the minimum level of support."
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Grundlage für die wirtschaftspolitische Beratungstätigkeit in den mittel- und osteuropäischen Ländern verstanden werden kann. Jenseits dieser inhaltlichen Dimension von Politikberatung wurde demgegenüber die Fragestellung weitgehend vernachlässigt, welche Art von Politikberatung für Transformationsprozesse angemessen ist. Den Hintergrund für diese Fragestellung liefert die in jüngerer Zeit in der Ökonomie geführte Debatte um eine Ablösung des traditionellen Konzepts der Regierungsberatung durch eine stärker öffentlichkeitsbezogene Beratungstätigkeit. Gegenstand des vorliegenden Beitrags war es, danach zu fragen, welche Relevanz dieser Differenzierung zwischen Politik- und Politikerberatung vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Transformationsprozessen zukommt. Die Ergebnisse können dabei wie folgt zusammengefasst werden: — Richtet man den Blick insbesondere auf die frühe Phase des Transformationsprozesses in Mittel und Osteuropa, so erfolgte - ohne Rücksicht auf die besondere Lage in den jeweiligen Transformationsländern - Politikberatung im Stil des Imports von Blaupausen-Konzepten zur Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen. Auf der Grundlage von ökonomischen Erkenntnissen, die in erster Linie durch den neoklassischen Theorierahmen vorgegeben wurden, sollte quasi über Nacht der Wandel von einer Plan- in eine Marktwirtschaft vollzogen werden. Anhaltspunkte sollten hierbei die in verschiedenen Schwellen- und Entwicklungsländern (insbesondere in Lateinamerika) erprobten Stabilisierungsprogramme liefern. Diese Art der Herangehensweise an die Transformationsproblematik fand seinen Höhepunkt im so genannten Washington Consensus, der inhaltlich auf die Bereiche der Geld-, Währungs- und Investitionspolitik sowie der Deregulierung und Privatisierung beschränkt und - bezogen auf den Adressatenkreis von Politikberatung - auf die relevanten Akteure in Regierung und öffentlicher Verwaltung ausgerichtet war. — Im Kern repräsentiert dieses Vorgehen ein weitgehend technokratisches Verständnis von Politikberatung: Um zu Wohlstand und Stabilität zu gelangen, müssen - so die Beratungsphilosophie - die betroffenen Staaten Mittel- und Osteuropas „lediglich" die von den überwiegend externen Beratern entwickelnden Transformationskonzepte umsetzen. Im Einklang mit der traditionellen Sicht, wie sie sich implizit in der wohlfahrtsökonomisch geprägten Theorie der Wirtschaftspolitik findet, wird Politikberatung dabei primär als Regierungsberatung verstanden. Erfolgreiche Systemtransformation erscheint angesichts dessen als ein rein instrumenteller Akt, bei dem es einzig darauf ankommt, dass die politischen Entscheidungsträger den vom Ökonomen entwickelten Maßnahmenkatalog möglichst Punkt für Punkt umsetzen, um die wirtschaftspolitisch gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Dass hierbei auch das Problem der gesellschaftlichen Vermittlungsfähigkeit von Reformmaßnahmen zu berücksichtigen ist, bleibt dabei - anders als im Modell der Öffentlichkeitsberatung - systematisch unreflektiert. — Mit der unterschiedlichen Erfolgsbilanz dieses Beratungsstils in den einzelnen Transformationsländern drang die schon früh von Ordnungs- und Institutionenökonomen betonte Bedeutung der soziokulturellen Rahmenbedingungen für die Durchsetzung genuin „westlicher" Modelle wie Demokratie, Gewaltenteilung, Marktwirtschaft und Rechtsstaat stärker in das Bewusstsein ökonomischer Beratungstätigkeit
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ein. In der neoklassischen Theorie, die als dominante Blaupause für die Reformen in Mittel- und Osteuropa der Politikberatung anfänglich zugrunde lag, wurde den soziokulturellen Rahmenbedingungen in Form der bestehenden formellen wie informellen Institutionen jedoch kein systematischer Stellenwert beigemessen. Dieses zunächst nur wie ein inhaltliches Defizit des verwendeten Beratungskonzepts wirkende Problem hat allerdings auch Auswirkungen auf das in Transformationsprozessen anzuwendende Politikberatungsmodell. Um die Transformationsproblematik in all ihren Facetten angemessen zu berücksichtigen, sollte die Umgestaltung vormals sozialistischer Länder als ein umfassender Prozess des kulturellen Wandels interpretiert werden. Aus Sicht der unterschiedlichen Modelle von Politikberatung ist dies insofern von Bedeutung, wie sich die „Kultur" einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht einfach mittels direkter Interventionen, sondern nur auf dem Weg eines breit angelegten gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses über Fragen der als angemessen anzusehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erzeugen lässt. Wirtschaftspolitische Beratung erfordert angesichts dessen einen breit angelegten gesellschaftlichen Diskurs, um die realen Zusammenhänge zwischen und die Konsequenzen von institutionellen Reformen transparent zu machen. Während bezogen auf die westlichen Demokratien im Modell einer öffentlichkeitsbezogenen Politikberatung - zugespitzt formuliert - häufig der einzige Ausweg gesehen wird, um die aus ökonomischer Sicht allgemeinen gesellschaftlichen Interessen gegenüber den in Politik und öffentlicher Verwaltung dominierenden Eigenund Sonderinteressen zur Geltung zu bringen, erhält mit Blick auf die Transformationsländer die in diesem Modell angelegte konsensstiftende Funktion von Politikberatung ein besonderes Gewicht. Eine auf dem Weg der Regierungsberatung propagierte „Schocktherapie" kann erfolgreich sein, so lange es im Wesentlichen „nur" darauf ankommt, bestehende Transformationshemmnisse aus dem Weg zu räumen. Ein solches Modell der Politikberatung ist jedoch dann kontraproduktiv, wenn die soziokulturellen Voraussetzungen für die Implementierung einer neuen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung fehlen. Einer auf die Öffentlichkeit ausgerichteten Politikberatung kommt vor diesem Hintergrund die Aufgabe zu, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Transformationsprozess zu schaffen. Daraus resultiert allerdings noch kein Gegensatz zwischen öffentlichkeitsbezogener und regierungsbezogener Politikerberatung. Beide Formen können vielmehr als komplementäre Elemente eines umfassend angelegten ökonomischen Beratungsprozesses verstanden werden: Während die Beratung der Regierungsakteure auf eine Kompensation fehlenden oder defizitären ökonomischen Gestaltungswissens in Politik und öffentlicher Verwaltung ausgerichtet ist, erfüllt die auf das breite Publikum abzielende Beratungstätigkeit zentrale Informations- und Aufklärungsaufgaben. Mit letzterem verbindet sich zugleich eine Entdeckungsfunktion im Sinne eines im gesellschaftlichen Diskurs praktizierten Auslotens der Grenzen des aktuellen Transformationsspielraums einer Gesellschaft. Soweit empirische Anhaltspunkte für die Relevanz beider Beratungsmodelle im Rahmen von Transformationsprozessen vorliegen, scheinen diese für die Komple-
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Transformationsprozesse
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mentaritätsthese zu sprechen. Zwar lassen sich die anhand von vergleichenden Länderstudien gewonnen Daten dahingehend interpretieren, dass für den Transformationserfolg das Verhalten der in politischer Verantwortung stehenden Akteure (Regierung und Verwaltung) entscheidend ist, was diese zugleich zu den relevanten Adressaten von Politikberatung macht. Die für einen nachhaltigen Transformationserfolg als empirisch relevant anzusehende Existenz eines breiten gesellschaftlichen Konsenses spricht jedoch zugleich dafür, dass Politikberatung nur dann umfassend wirksam werden kann, wenn auch die breite Öffentlichkeit als Zielgruppe mit eingeschlossen ist.
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Politikberatung in der Europäischen Union
Theresia Theurl*
Inhalt 1. Problemstellung
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2. Der Aufbau des Politikprozesses
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3. Die Adressaten der Politikberatung
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3.1. Politiker 3.1.1. Parlamentarier 3.1.2.Regierungs- und Ratsmitglieder sowie EU-Kommissare 3.2. Administration 3.3. Unabhängige Institutionen 3.4. Bürger 4. Die Beratungskonzepte 4.1. Analogien zwischen Unternehmensberatung und Politikberatung 4.1.1. Strategieberatung
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4.1.2. Operative Beratung 4.2. Der Berater als Anwalt
41 41
4.3. Der Berater als Legitimator 4.4. Der Berater als Monitor
42 43
5. Fazit und Perspektiven
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* Die Ausführungen gehen auf zahlreiche Diskussionen mit Eric Meyer (IfG Münster) zurück. Dem Korreferenten Dirk Wentzel danke ich für wertvolle Anregungen.
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1.
Theresia Theurl
Problemstellung
Wenn Ökonomen über die Erfahrungen ihrer Politikberatung in der Europäischen Union befragt werden, so ist es nicht anders als wenn sie über den Erfolg ihrer Beratung in anderen Angelegenheiten berichten. Meist ist Klagen und Unzufriedenheit zu vernehmen. Dies gilt sowohl für die ökonomische Beratung europäischer Gremien als auch für den Ratschlag an Politiker in Themen, die die Europäische Union betreffen. Die Politik - meist ohne Differenzierung nach Funktionen und Fragestellungen - habe sich schlicht den eigenen, eigentlich überzeugenden und gut begründeten, Argumenten verschlossen. Üblicherweise folgt dann die Klage über den Erfolg anderer Berater, insbesondere der Juristen, die nicht nur mehr Erfolg in ihrer Beratung hätten, sondern durch eine Flut von Regeln Arbeitsplätze für ihre eigenen Absolventen schaffen würden. Sogar manche untemehmensberatenden Betriebswirte seien in der Politik erfolgreich. Die Ökonomen arbeiten mit ihren wirtschaftspolitischen Rezepten hingegen häufig an der Zerstörung des eigenen Tuns. In welchen Bereichen gilt dies mehr als in Fragen der europäischen Integration. Zu denken ist etwa an die Euro-Währungsunion und an das aktuelle Geschehen rund um den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Die europäische Agrarpolitik, aber auch die Osterweiterung sind weitere Beispiele. Gerade in diesen Feldern ist aber eine Vielzahl von Ökonomen in den Mitgliedsländern und in Brüssel beratend tätig. Immerhin gelingt es der Ökonomik dank der Public Choice-Theorie als einziger Fachdisziplin ihr Scheitern mit Hilfe der eigenen Wissenschaft zu erklären. Das Bild mag etwas überspitzt scheinen, kommt den Fakten jedoch nahe. Wenn ein solches Defizit der ökonomischen Politikberatung aktuell und in der Europäischen Union im speziellen konstatiert wird, so ist zu hinterfragen, ob dieses tatsächlich auf eine Beratungsresistenz der zu Beratenden zurückzuführen ist, wie häufig argumentiert wird. Könnte es nicht so sein, dass grundlegende Mängel, die nicht in den Beratungsinhalten sondern im Beratungskonzept liegen, hierfür ursächlich sind? Jede Form der Beratung kann systematisch nur erfolgreich sein, wenn erstens der Adressat genau spezifiziert ist (Nelson 1987; Franz 2000), zweitens das Ziel der Beratung genau bestimmt wurde (Nelson 1987; Wimmer 1995) und daraus resultierend drittens das Beratungskonzept passend gewählt wurde (Merz 2003). Dies gilt allerdings generell und losgelöst von der Europäischen Union, aber eben auch für diese. Die Identifikation dieser drei Dimensionen soll Inhalt dieses Beitrages sein. Die Intention besteht explizit darin, einen allgemeinen Analyserahmen zu entwickeln, der auch für die Europäische Union, aber nicht nur für diese Gültigkeit besitzt (Theurl 2004). Es ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt zusammenzustellen, in welcher Form, in welchen Themen und mit welchem Erfolg Wirtschaftswissenschaftler in Brüssel beraten. Es geht auch nicht darum zu beurteilen, ob sich Ökonomen in der Politikberatung engagieren sollen (Franz 2000), sondern um eine Differenzierung der Beratungsmodelle auf den relevanten Ebenen, die für die Aktivitäten der Europäischen Union Bedeutung haben. Während traditionell Politikberatung mit Politikerberatung gleichgesetzt wurde, hat sich in jüngster Zeit eine Sichtweise etabliert, die den Bürger als Adressaten identifiziert {Cassel 2001; Cassel 2004). Ob dieser stringent aus einer, im Falle der Europäischen Union mehrfachen, Principal-Agent-Logik hergeleitete Ansatz tatsächlich praktikabel
Politikberatung in der Europäischen Union
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ist, gilt es noch eingehender zu untersuchen (Priddat 2004; Meyer 2004). Politikberatung, die sich lediglich als Formulierung wissenschaftlicher Fachkenntnisse versteht, legt bereits in ihren methodischen Ansatz den Kern des Scheiterns. Es gilt also aufzuzeigen, welcher unterschiedlichen Beratungskonzepte sich die Politikberatung durch Ökonomen bedienen kann. Eine Eingrenzung erfolgt dabei in mehrfacher Hinsicht: Es wird auf die Beratung durch Wirtschaftswissenschaftler abgestellt. Dies geschieht, obwohl bekannt ist, dass in der Europäischen Union auch eine Beratung durch andere Disziplinen erfolgt, manche Beratungsgremien interdisziplinär besetzt sind und auch in ökonomischen Fragen häufig andere Disziplinen herangezogen werden. Thematisiert wird ausschließlich externe Beratung. Damit ist verbunden, dass „in-house-Stäbe" nicht einbezogen werden. Eine Konzentration erfolgt darüber hinausgehend auf Hochschullehrer der Wirtschaftswissenschaften. Sie sind nicht in der Politik aktiv oder formell in politische Entscheidungen eingebunden. Auch die beratenden Aktivitäten von für bestimmte Angelegenheiten vorgesehenen Ausschüsse und Beiräte wie etwa der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen (Theurl und Meyer 2001) zählen nicht zum Analyseobjekt. Dies gilt auch für den Entstehungsprozess der europäischen Verfassung im Rahmen des Konvents, der aus Mitgliedern und Beobachtern bestand, denen definierte Mitwirkungsrechte zugewiesen waren. Sie verhandelten Spielregeln zur Vorbereitung der Beschlussfassung, berieten hingegen nicht die Prinzipale. Außer Betracht bleibt ebenso die Schaffung zusätzlicher Stellen für Ökonomen wie etwa die Berufung eines Chefökonomen in der Generaldirektion Wettbewerb zur Stärkung der wirtschaftlichen Grundlagen der Wettbewerbsanalysen. Des Weiteren erfolgt eine Konzentration auf Beratungsaktivitäten. Dies ist damit verbunden, dass Lobbying und die Einflussnahme auf politische Entscheidungen über andere als die dafür vorgesehenen formellen Kanäle ausgeblendet werden. Schließlich werden bei den ratsuchenden Akteuren des politischen Prozesses ausschließlich jene einbezogen, die „offizielle Funktionen" wahrnehmen. Damit bleiben etwa NGOs, die im politischen Prozess zwar Bedeutung gewinnen und zunehmend zu den Adressaten ökonomischer Beratung zählen werden, hier unberücksichtigt. Die folgenden Überlegungen beginnen mit einer Skizzierung eines vereinfachten Politikprozesses, mit dem die Ansatzpunkte für eine Politikberatung in der Europäischen Union isoliert werden können (Abschnitt 2). Im Anschluss daran (Kapitel 3) werden die Adressaten der Politikberatung sowie die Beratungskonzepte (Abschnitt 4) herausgearbeitet bevor abschließend (Abschnitt 5) aufgezeigt wird, welche Konzepte den Anforderungen der einzelnen Adressaten am besten entsprechen.
2.
Der Aufbau des Politikprozesses
Zur Ermittlung der Adressaten der Politikberatung ist eine Analyse des Politikprozesses im europäischen Kontext und der daran beteiligten Akteure nötig. Dieser Prozess wird hier nur in seinen Grundstrukturen skizziert, die um viele Facetten zu ergänzen und zu konkretisiert sind, um die realen Gegebenheiten exakt abzubilden. Diese erste Näherung reicht jedoch, um die Grundproblematik aufzuzeigen und die einzelnen Ansatz-
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Theresia Theurl
punkte für die Beratung der Politik durch Ökonomen zu isolieren. Der politische Prozess der Europäischen Union ist durch eine Vielzahl von Principal-Agent-Beziehungen gekennzeichnet (vgl. Abbildung 1). Ausgangspunkt sind die Bedürfnisse der Bürger, die diese in einzelwirtschaftlichen Entscheidungen, aber auch durch die Politik via Kollektiventscheidungen befriedigt sehen wollen. Diese Bedürfnisse können unterschiedlichster Art sein: der Wunsch nach innerer Sicherheit, Gewährung von Vertragsfreiheit, Zahlungen im Fall von Arbeitslosigkeit, kostengünstige Versorgung mit Wasser oder auch billiges Benzin, eine gute Währung etc. Es wird an dieser Stelle bewusst keine Unterscheidung zwischen privaten Gütern und Kollektivgütern gemacht, da diese schon ein hohes Maß an ökonomischem Wissen voraussetzen würde. Die Bürger treffen ihre Entscheidung darüber, welche Güter kollektiv bereitgestellt werden sollen, jedoch auf Basis unterschiedlichen ökonomischen Wissens. Dies gilt auch dafür, ob diese Güter auf nationaler oder auf europäischer Ebene bereitgestellt werden sollen. Ansprechpartner für diese Bedürfnisse ist die Politik oder genauer: die einzelnen Politiker. Für die hier relevante Fragestellung der Politikberatung in der Europäischen Union sind nun zwei unterschiedliche Einflusskanäle von Bedeutung: jener über den nationalen politischen Prozess und der über den europäischen politischen Prozess, jeweils bezogen auf die Intermediation der Bürgerwünsche. Zuerst sei der nationale Weg skizziert (Bernholz und Breyer 1994; Frey und Kirchgässner 2002; Blankart 2001). Vor dem Hintergrund der Analyse der Politikberatung soll das Teilsystem Politik nur auf das Wirken von drei wesentlichen Akteuren reduziert werden: die Parlamentarier, die Regierungsmitglieder und die Mini steri albürokratie. Schließt man plebiszitäre Elemente aus, so ist der Politiker als Parlamentarier der primäre Adressat der Bürgerbedürfnisse, der für einen bestimmten Zeitraum gewählt wird. Dieser Politiker wird qua Wahl durch den Bürger beauftragt, seine Interessen in der Findung von Regeln und Mechanismen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse wahrzunehmen. Es liegt also eine klassische Principal-Agent-Beziehung vor. Die Intensität dieser Beziehung wird jedoch durch mehrere Faktoren wesentlich beeinträchtigt. Der Bürger hat zwar viele und sich im Zeitablauf wandelnde Interessen, jedoch kann er nur zu relativ weit auseinander liegenden Zeitpunkten einen Vertreter bestimmen, der über die Regeln zur Befriedigung dieser Bedürfnisse entscheiden kann. Er wird also nie auf Basis eines bestimmten Bedürfnisses, sondern stets ausgehend von einer Vielzahl von möglichen zukünftigen Bedürfnissen, also von Bedürfnisbündeln entscheiden. Folglich wird seine Entscheidung sinnvollerweise auch nicht von konkreten politischen Anliegen oder Fragen nach bestimmten Bedürfnissen geleitet, sondern von grundlegenden Präferenzen, die der Politiker zu vertreten hat, und aus denen sich ein Großteil der Bedürfnisse ableiten lässt. Die Beziehung zwischen Politiker und Bürger wird also einerseits durch die Abstimmung über Bedürfnisbündel und andererseits durch die relativ seltenen Abstimmungen geschwächt. Sowohl auf Seiten der Bürger als auch bei den gewählten Politikern existiert ein Phänomen der großen Zahl. Dadurch dass sehr viele Bürger einen Politiker zur Interessenvertretung bestimmen, wird die Repräsentation der individuellen Interessen reduziert. Andererseits ist der Politiker im Parlament auch nur einer unter vielen. Dieses resultiert in einer Nicht-Beobachtbarkeit seines Handelns bzw. der Ergebnisse seines
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Politikberatung in der Europäischen Union
Handelns. Nicht-namentliche Abstimmungen machen das Stimmverhalten und damit die Handlungsergebnisse intransparent. Ähnliches gilt für Abstimmungen unter dem Regime des Fraktionszwangs. Selbst wenn dieser durch Transaktionskostenargumente und Spezialisierungsvorteile begründet werden kann, führt er doch zur Verschleierung des beabsichtigten - wenngleich nicht des faktischen - Verhaltens des Parlamentariers. Völlig verschlossen bleibt in den meisten Fällen, welchen Einfluss der Parlamentarier im Verlauf des Rechtsetzungsverfahrens erreicht bzw. welche Anstrengungen er in diesem Verfahren unternommen hat. Abbildung 1: Der Politikprozess im europäischen Kontext
national
EU
Schließlich bleibt für den Bürger auch unklar, welche Auswirkungen spezielle beschlossene Regeln, vermittelt durch die Verwaltung des Staates, auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse haben, da die Wirkung der Regeln durch vielfältige Faktoren beeinträchtigt werden kann. Die Principal-Agent-Beziehung zwischen Bürger und Parlamentarier ist also durch eine äußerst geringe Kontrollmöglichkeit gekennzeichnet, wobei neben den Problemen der hidden action und der hidden information noch die Probleme einer faktischen Multiple-principal-multiple-agent-Beziehung hinzukommen. Abhängig vom Regierungssystem bestimmen die Parlamentarier die Exekutive, also die Regierung. Dies muss in Präsidialsystemen nicht so sein wie das Beispiel der USA zeigt. Auch in der Europäischen Union, wo der Kommission eine QuasiRegierungsfunktion zukommt, wird diese nicht durch die Legislative bestimmt. Jedenfalls entsteht eine zweite Principal-Agent-Beziehung. Der Regierung kommen zwei wesentliche Aufgaben zu: Mittels des Regierungsapparates wirkt sie initiierend und feder-
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führend an der Gesetzgebung mit und erlässt im Rahmen der vom Parlament beschlossenen (aber von ihr u.U. initiierten) Gesetze Verordnungen zur Regelausgestaltung und -konkretisierung. Zwar besteht für die Parlamentarier die Möglichkeit, jeden Gesetzentwurf durch Mehrheitsbeschluss zu stoppen oder Alternativen zu formulieren, doch durch den sehr viel größeren Regierungsapparat existiert ein Vorteil für die Regierung, Art der Gesetze und deren Wording zu bestimmen, was durch die Parlamentarier nur unzulänglich kontrolliert werden kann. Die Regierung ist in ihrem Handeln grundlegend auf den in den Ministerien befindlichen Regierungsapparat angewiesen. Im Gegensatz zu Parlament und Regierung unterliegen die Mitarbeiter der Ministerien mit Ausnahme der politischen Positionen keiner Wahl, so dass jedes Ministerium in einen politischen und einen administrativen Teil unterteilt werden kann. Es zeigt sich so eine dritte Principal-Agent-Beziehung. Zwischen den beiden Teilen der administrativen Organisation bestehen Informationsasymmetrien. Für die Administration ist davon auszugehen, dass sie viele Informationen über bestimmte Sachfragen und über die Wechselwirkungen mit anderen Gesetzen besitzt, zu denen der politische Teil der Ministerien und auch die Regierungsmitglieder selbst keinen unmittelbaren Zugang haben. Im Wechselspiel dieser drei Politikinstitutionen entstehen die Regeln bzw. die Wirtschaftspolitik, die wiederum auf den Bürger zurückwirken. Daneben nehmen noch zahlreiche unabhängige Institutionen Einfluss auf die Regeln und auf die Wirtschaftspolitik. Dieses sind insbesondere die Zentralbank und die Gerichte, sowie die Kartellbehörden als Teil der durchführenden Verwaltung. Die Existenz unabhängiger Institutionen und der daraus resultierende Entzug unmittelbarer Einwirkungen durch die Politik bzw. mittelbarer Einwirkungen der Bürger ist meist durch eine bestehende Dilemmasituation begründet, bei der sich alle Beteiligten besser stellen, wenn sie kooperieren (Goldberg 1976). Auch in dieser Konstellation entsteht eine Principal-Agent-Beziehung, die vierte. Den Vorteilen unabhängiger Organisationen steht jedoch eine verminderte Kontrollierbarkeit gegenüber, da Sanktionen aufgrund der unabhängigen Natur nur sehr bedingt zur Verfügung stehen. Außerdem verfügen die entsprechenden Institutionen für den ihnen zugeteilten Bereich über ein superiores Wissen, was eine Einwirkung nicht nur institutionell unerwünscht, sondern auch noch technisch schwierig macht. Neben den bereits dargestellten Mechanismen des Zusammenwirkens von Akteuren im politischen Entscheidungsprozess ist nun auf den zweiten Strang einzugehen, über den Bürger ihre Wünsche in den europäischen politischen Prozess einbringen können (Theurl und Meyer 2001, S. 80 ff.). Dieser Kanal ist heute noch deutlich weniger ausgeprägt. Er wird sich jedoch weiter entwickeln und wichtiger werden. Bürger wählen direkt die Parlamentarier der Europäischen Union. Damit entsteht ein zusätzliches (ein fünftes) Principal-Agent-Problem auf einer zweiten Ebene. Indirekt nehmen die EuropaParlamentarier über die diversen Verfahren Einfluss auf die Entscheidungen der Kommission, bei der wiederum ein politischer und ein administrativer Teil zu unterscheiden ist, zwischen denen von einer asymmetrischen Informationsverteilung auszugehen ist. Vor diesem Hintergrund entstehen Regeln der Wirtschaftpolitik und anderer Bereiche, die auch für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten direkt und indirekt wirksam werden. Dazu kommt eine weitere Dimension: Die nationalen Politiker wirken in ihrer
Politikberatung
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Union
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Zusammensetzung als Ministerräte sowie als Europäischer Rat auf die Kommission und regelsetzend. Im Vergleich zum nationalen politischen Prozess wird also eine weitere, eine sechste, Principal-Agent-Beziehung wirksam und zwar für jede nationale Bürgergemeinschaft eine (Theurl 1991; Pies 1996; Berg und Schmidt 1996). Große Bedeutung haben in der Europäischen Union darüber hinausgehend unabhängige Institutionen wie die Europäische Zentralbank und der Europäische Gerichtshof mit den bereits aufgezeigten Delegationsbeziehungen, nun aber für einen größeren Integrationsraum mit heterogener Bevölkerung. Die bereits skizzierten Anreize für das Verhalten der Wähler/Bürger, Politiker, Bürokraten und unabhängigen Institutionen sind auch im „europäischen Teil" des politischen Prozesses wirksam. Zusätzlich kommt nun zum Tragen, dass in der Regelsetzung ein Ausgleich nationaler Interessen zu finden ist. Dies gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn heterogene Präferenzen den nationalen Grenzen entsprechen. An dieser Stelle ist also festzuhalten, dass der für die Europäische Union relevante Politikprozess durch zahlreiche Delegationsbeziehungen mit den für sie typischen Informationsasymmetrien gekennzeichnet ist (Hix 1999). Die wichtigsten wurden aufgezeigt, wobei diese Liste nicht vollständig ist. Beratung und damit auch Politikberatung zielen genau auf Informationsdefizite und deren Behebung. Dieses können Informationsnachteile gegenüber Teilnehmern auf derselben „Marktseite" sein oder auch Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Nachfragern, also z.B. Bürgern und Politikern. Sie können sich auf den nationalen Prozess und hier etwa auf integrationspolitische Fragen oder auf den Prozess der europäischen Regelsetzung beziehen. Im Vergleich zum nationalen politischen Prozess sind die Informationsasymmetrien im europäischen Zusammenhang zahlreicher und komplexer. Hieraus resultieren unterschiedliche Beratungsbedürfnisse und Optionen, ihnen nachzukommen. Diese sind im Weiteren zu konkretisieren.
3.
Die Adressaten der Politikberatung
3.1. Politiker 3.1.1. Parlamentarier Im politischen Prozess der Europäischen Union agieren sie in nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament. Der entsprechende Politiker befindet sich auf derselben Marktseite im Wettbewerb um die Stimmen der Wähler mit anderen Politikern. Es wurde aufgezeigt, dass der kontrollierende Zugriff auf die einzelne Entscheidung des Politikers durch den Wähler relativ gering ist. Damit ergeben sich für den Parlamentarier zwei Beratungsbedürfnisse. Er muss sich strategisch auf dem Markt um Wählerstimmen positionieren, d.h. er muss entscheiden, welche grundlegenden Präferenzen er bedienen will, ohne hier schon auf spezielle Themen zu rekurrieren. Dabei ist er in seiner Entscheidung nicht frei, sondern - zumindest im System der Bundesrepublik Deutschland und auf der europäischen Ebene - stark an Vorgaben durch die eigene Partei gebunden, so dass als Beratungsadressat auch die (nationale und europäische) Partei in Frage kommt. In einem zweiten Schritt muss er die operativen Entscheidungen ent-
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lang dieser strategischen Vorgaben treffen. Das schließt nicht aus, dass ökonomische Politikberatung über Zusammenhänge und Konsequenzen von Regelentscheidungen aufklärt, jedoch muss diese Beratung Umsetzungsmöglichkeiten im Rahmen der vorgegebenen Leitstrategie beinhalten. Die Strategie muss also operationalisiert werden, d.h. in kleine operative Entscheidungen übersetzt werden. Neben diesem Beratungsbedürfnis aufgrund des Wettbewerbs auf dem Wählermarkt, besteht eine weitere Beratungsnachfrage. Sie resultiert aus dem Informationsdefizit im Verhältnis zu der von ihm gewählten Regierung, die auch aufgrund des ihr zur Verfügung stehenden Regierungsapparates über sehr viel detailliertere und bessere Informationen verfügt. Dies gilt auf der nationalen Ebene. Dieses Defizit wird allerdings dadurch gemindert, dass die Regierung durch das Parlament gewählt wird. In Präsidialsystemen hingegen kann eine solche (parteipolitische) Interessenkongruenz nur zufällig bestehen, so dass für die Parlamentarier ein erheblicher Beratungsbedarf in Sachfragen besteht. Noch interessanter ist diese Beziehung mit ihrer Informationsasymmetrie auf der europäischen Ebene, wo die institutionelle Verbindung zwischen Parlamentariern und den Politikern bzw. dem administrativen Teil der Kommission relativ gering ist, so dass ein erheblicher Beratungsbedarf zum Ausgleich dieses Informationsgefälles existiert.
3.1.2. Regierungs- und Ratsmitglieder sowie EU-Kommissare Regierungsmitglieder sind einerseits in ihrer nationalen Funktion, andererseits aber als Mitglieder des Ministerrates sowie als Kommissare (politischer Teil der EUKommission) aktiv. Für sie besteht keine Wettbewerbssituation, so dass hier auch kein Beratungsbedarf resultiert. Da die Regierung jedoch federführend für die Initiierung von Gesetzen verantwortlich zeichnet, muss sie einerseits (als Agent der Parlamentarier) auch eine strategische Ausrichtung besitzen und diese durch die Gesetze andererseits auch operativ umsetzen. Sie unterliegt daher also einer ähnlichen Beratungsstruktur wie die Parlamentarier. Eine eigenständige Regierungsberatung durch Ökonomen erfolgt in der Praxis auf zwei Wegen. Erstens kann sie informell sein, ist dann aber meist sehr einflussreich. Zweitens kann sie formell über Beiräte' institutionalisiert sein. Dies gilt auch dann, wenn die nationalen Regierungsmitglieder in ihrer Funktion als Mitglieder des Ministerrats auf der Ebene der Europäischen Union tätig sind. Auch die Beratung der Kommissare erfolgt eher indirekt (Theurl und Meyer 2001, S. 98 ff.). Der Hintergrund besteht auf dieser Ebene darin, dass ihnen einerseits entsprechende Budgets fehlen und dass ihnen andererseits ein umfangreicher administrativer Komplex für diesen Zweck in-house zur Verfügung steht.
3.2. Administration Sie ist als Ministerialbürokratie mit ihrem nationalen Aufgabenbereich, in der Vorbereitung für europäische Entscheidungen in Arbeitsgruppen etc. sowie als administrativer Teil der Kommission tätig. Unter den Akteuren des Politikbereichs zeichnet die Ministerien sowie die Kommissionsbürokratie aus, dass sie keiner Wahl unterliegen. Die Bin-
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„Der Beirat soll den Bundesminister für ... beraten." (§ 1 der Satzung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit).
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dung an die politischen Mandatsträger erfolgt über die Dienstverpflichtung. Diese vermeintlich enge Bindung gewährt den Ministerial- und Kommissionsbeamten jedoch auch erhebliche Spielräume, da der formale Beweis einer Illoyalität außer bei eklatanten Fällen schwer zu erbringen ist. In den Ministerien auf nationaler und europäischer Ebene wird die wesentliche Arbeit zur Konzeptionierung von Gesetzen geleistet. Hierzu muss ein erhebliches Sachwissen über die Gesetzes- und Regelfolgen, also über ökonomische Wirkungsmechanismen, existieren. Das nachgefragte Wissen wird deshalb weniger strategischer als vielmehr operativer Natur sein. Dieses wird teilweise als In-house-Wissen bereitgestellt, in einem erheblichen Umfang jedoch auch von außen erworben. Externes Know-How wird über verschiedene Kanäle bezogen (Benkert 1995). Auf der untersten Ebene liegen die informellen Kontakte, die von den Ministerien und von der Kommission zu den potenziellen Beratern gepflegt werden. Diese sind nicht formalisierbar und resultieren beispielsweise aus den Studien- oder Promotionszeiten, aus Kontakten in (ehemaligen) Kommissionen oder aus Kontakten bei Konferenzen. Obgleich oder vielleicht gerade weil dieser Kanal informell ist, besteht hier eine erhebliche Option zu einer ergebnisträchtigen Beratung. Weil dieser Kanal häufig in einem frühen Stadium der Gesetzgebung genutzt wird, sind die Meinungen noch nicht festgefügt. Insbesondere sind noch keine Gesetzesentwürfe formuliert. Ferner handelt es sich um individuelle Kontakte, die keinerlei Abstimmung mit anderen Experten bedürfen, was die Konsensfindungskosten der Beratung senkt. Auf der nächsten Stufe wird versucht diese Kontakte zu bündeln, indem Experten zu einer Expertenanhörung geladen werden. Auch hier sind die Einflussmöglichkeiten der ökonomischen Beratung noch gegeben, allerdings werden die Informationskosten durch den hier möglichen „Streit der Fakultäten" in interdisziplinären Anhörungen sowie durch den „Streit der ökonomischen Schulen" erhöht (Zimmermann 2004; Miinnich 2003; Benkert 1995). Geht es um größere Projekte bzw. um eine grundlegende Ausrichtung der Politik, so können auch - meist nur nach Abstimmung mit dem politischen Teil des Ministeriums/der Kommission - Expertenkommissionen eingerichtet werden, die über einen längeren Zeitraum ein Thema erarbeiten und Empfehlungen aussprechen. Bei manchen Ministerien ist darüber hinausgehend ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet, der schnell beratend tätig werden kann, wobei es nicht immer einfach ist, die Wirkung der so angefertigten Gutachten zu verfolgen. Ist ein Projekt in der Administration auf nationaler oder europäischer Ebene konkretisiert, so besteht auch die Möglichkeit durch Ausschreibungen spezielles Wissen einzukaufen. Auch dieses ist eine Einflussmöglichkeit ökonomischer Politikberatung. Allerdings ist die Wirkungskontrolle relativ gering, da der Auftraggeber, meist das Ministerium oder die Kommission, über die Verwertung dieser Projektberichte entscheidet. Häufig ist dem Beratenden auch unklar, wie seine Arbeit in die Ministeriumsarbeit einfließen soll, wie also seine Ergebnisse im politischen Regelbildungsprozess umgesetzt werden sollen, was die Formulierung seines Gutachtens erschwert. Es ist darauf hinzuweisen, dass auf europäischer Ebene viele Beratungsaufträge an Ökonomen vergeben werden: ein Feld, das noch weitere Bedeutung erlangen wird. Es
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ist dort jedoch auch der Wettbewerb intensiver, da mit den Ökonomen anderer Mitgliedsstaaten zu konkurrieren ist.
3.3. Unabhängige Institutionen Sie sind auf nationaler und europäischer Ebene tätig. Bislang sind sie kaum Ziel der ökonomischen Politikberatung gewesen. Hierfür können zwei Gründe ausgemacht werden. Erstens existieren auf derselben Marktseite meist keine konkurrierenden Institutionen, so dass die wettbewerbsmotivierte Informationsgenerierung entfällt. Zweitens bestehen aufgrund der Unabhängigkeit keine Beziehungen zu einer anderen Markseite, die durch Informationsasymmetrien gekennzeichnet wären. Aufgrund der Unabhängigkeit und der damit reduzierten Kontrolltiefe ergeben sich für unabhängige Institutionen andere Beratungsbedürfnisse. Eben weil sie nur schlecht kontrolliert werden können, sind sie auf eine hohe Glaubwürdigkeit angewiesen. Das Handeln dieser Institutionen muss also stets höchsten Ansprüchen genügen. Es ist wesensimmanent, dass solche Institutionen Exzellenz in ihrem Handeln nach außen signalisieren wollen. Hier kann die ökonomische Beratung ansetzen, da sie Exzellenz auf Basis der wissenschaftlichen Forschung liefern kann. Dem entgegen steht allerdings die Sorge um die Unabhängigkeit. Der „Zukauf" von Informationen kann eine Abhängigkeit von Dritten im Zugang zu zentralem Know-How induzieren. Dieses führt wiederum dazu, dass die Informationsgenerierung meist nicht durch externe Berater, sondern durch einen internen Stab organisiert wird. Wahlweise kann diese interne Abteilung durch ein Netz von Gastberatern, die dann temporär in diese Abteilung integriert werden, ergänzt werden. Diese temporäre Integration gewährleistet, dass die Beratungsinformation besser für diese Institution genutzt werden kann. Modellhaft wird dieses Prinzip bei manchen Zentralbanken praktiziert. Zu fragen ist jedoch, warum diese Konsultation bei anderen unabhängigen Institutionen, vor allem den Gerichten, unterbleibt. Dieses ist umso dramatischer als die richterrechtliche Rechtsfortbildung einen erheblichen Einfluss auf die die Rahmenbedingungen konstituierenden Regeln einer Wirtschaft hat. Insbesondere der Europäische Gerichtshof hat hier sehr weitreichende Entscheidungen getroffen (Theurl und Meyer 2001, S. 137 ff.; Wolf-Niedermaier 1997). Neben der Furcht um die Unabhängigkeit dürfte die mangelnde ökonomische Beratung auch auf die unterschiedlichen Semantiken von Juristen und Ökonomen zurückzuführen sein. Die juristische Beurteilung geschieht auf der Basis des bereits konsentierten Regelwerkes, sie baut damit auf einem bereits gefundenen Konsens auf. Lässt sich ein Streitfall nicht aus diesem Regelwerk ableiten, so kann mit Hilfe von Rechtsprinzipien oder Überlegungen zur Absicht des Gesetzgebers eine Lösung gefunden werden. Dies zeigt sich auf der Ebene des EUIntegrationsprozesses in der Form von Meta-Regeln (Theurl und Meyer 2001, S. 60 ff.). Der klassische ökonomische Ansatz lässt den Regelbestand einer Wirtschaft außer Acht und fragt nach den allokativen, selten auch nach den distributiven Wirkungen einer Regel. Die so erhaltenen Antworten sind daher inkompatibel mit der juristischen Regellogik. Einer der wenigen Kommunikationskanäle, der für eine ökonomische Beratung genutzt werden kann, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das sich einfach in die ökonomische Diktion der Kosten-Nutzen-Analyse überführen lässt.
Politikberatung in der Europäischen Union
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3.4. Bürger Es wurde ausgeführt, dass der Bürger an der Wurzel der dargestellten Kette multipler Principal-Agent-Probleme steht. Es erscheint deshalb naheliegend, mit der ökonomischen Politikberatung an dieser Stelle anzusetzen (Cassel 2001; Wulffen 1996; Pies 1993). Wenn der Prinzipal über die ökonomischen Implikationen korrekt aufgeklärt ist, so das Kalkül, dann können sich die Agenten seiner Zielsetzung nur schwer widersetzen CPriddat 2004). Unterstellt man eine neoklassische, ideale Welt, so würde diese Aufklärung zu einer Konvergenz der Parteien in Richtung des Median-Wählers führen (Persson und Tabellini 2000, S. 70 f.). Eine Verfolgung hiervon divergenter Ziele ist für den Politiker nicht möglich. Erst wenn die Handlungen der Agenten, also der Politiker, nicht vollständig beobachtbar und die eingegangenen Verpflichtungen in der Wahl nur hochgradig unvollkommen durchsetzbar sind, besteht für die Politiker ein Anreiz eigene Ziele zu verfolgen (Persson und Tabellini 2000, S. 73 ff.). Eine Politikberatung der Bürger würde nun darüber aufklären, welche Implikationen das Handeln der Politiker hat und würde versuchen, eine größere Transparenz in der Beziehung von Bürger und Politiker zu erzeugen. Dieses ökonomisch folgerichtige Konzept stößt jedoch auf erheblich Umsetzungsprobleme in einer unvollkommenen Welt (Meyer 2004). Die ökonomische Beratung muss zunächst bezahlt werden. Da der Einfluss des Einzelnen auf die Wahl sehr gering ist, ist folglich auch der Anreiz zur Informationsbeschaffung gering, so dass nur eine geringfügige Zahlungsbereitschaft hierfür besteht. Außerdem muss die Beratung in der Regel Informationen über Kollektiventscheidungen bereitstellen, so dass sie eine Vielzahl von Bürger in ähnlicher Weise ansprechen muss. Damit würde zwar das Problem des geringfügigen Stimmbeitrags gelöst, jedoch gilt es dann ein Trittbrettfahrer-Problem zu überwinden, d.h. die durch die Berater bereitgestellten Informationen müssen exkludierbar sein. Die nicht individuelle Beratungsleistung für große Gruppen muss ferner die Heterogenität dieser Gruppen bezüglich ihrer Bedürfnisse und kognitiven Fähigkeiten berücksichtigen. Dieses verteuert im besten Fall die Beratung oder macht sie für große Gruppen im schlechtesten Fall unmöglich. Wenn eine Beratung für große Gruppen jedoch nicht möglich ist, so muss der Schritt zur Individualberatung gemacht werden, für die das bereits beschriebene Finanzierungsproblem besteht. Als Ausweg aus dem Finanzierungsproblem könnte eine gemeinschaftliche Finanzierung durch den Staat erwogen werden. Da der Beschluss jedoch den Parlamentariern obliegt, die als Agenten kein Interesse an einer ihre Rentenschöpfungsmöglichkeiten reduzierenden erhöhten Transparenz haben können, ist dieses wenig realistisch. Häufig verfallen die Überlegungen zur Finanzierung der Bürgerberatung dem Deus ex machina eines durch großzügige Stifter finanzierten Think tanks. Dieses kann in der Tat eine Lösung sein. Es fehlt jedoch bislang eine systematische Begründung dafür, weshalb solche Think tanks entstehen sollen, wie man ihre Gründung anregen kann und welchen operativen Anreizen diese unterliegen. Der Verweis auf Think tanks in anderen Ländern kann dabei nur ein eklektischer Hinweis, jedoch keine systematische Begründung oder Handlungsanweisung sein. Auf europäischer Ebene kommt ein zusätzlicher Aspekt dazu. Es ist davon auszugehen, dass eine europäische Bürgergemeinschaft nicht existiert
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und dass ein großer Teil der Bürgerwünsche (noch?) über den nationalen politischen Prozess vermittelt wird.
4.
Die Beratungskonzepte
4.1. Analogien zwischen Unternehmensberatung und Politikberatung Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es keine pauschale Beratungsstrategie geben kann. Vielmehr bestehen für unterschiedliche Beratungsadressaten mit unterschiedlich gelagerten Beratungsproblemen entsprechende verschiedenartige Beratungsstrategien. Diese weisen eine ausgeprägte Ähnlichkeit zu den Beratungsansätzen von Unternehmensberatungen auf. Es ist deshalb nicht überraschend, dass viele Beratungsaufträge der Politik nicht an Ökonomen sondern an Unternehmensberater ergehen, deren Beratungsstrategien offenbar besser den Beratungsbedürfnissen angepasst sind, als jene der Ökonomen. Zu differenzieren ist zwischen der Beratung von Unternehmen in strategischen und in operativen Angelegenheiten ( H o f f m a n n 1991).
4.1.1. Strategieberatung Bei der Strategieberatung im Unternehmen werden seine grundlegende Ausrichtung und entsprechende Weichenstellungen zum Gegenstand der Beratung gemacht (Walger 1995; Wimmer 1995a). In der Unternehmensberatung heißt dieses die Durchführung einer Markt- und Konkurrenzanalyse, die Identifikation von Kernkompetenzen, die Findung neuer Zugangswege zu Kundenmärkten, die Erschließung neuer Märkte und Entscheidungen von ähnlicher Tragweite (Heuermann und Herrmann 2003, S. 180; Wimmer 1995; Merz 2003). Im Ergebnis resultieren Unternehmensstrategien, die sich auf die Differenzierung im Wettbewerb, die Kostenführerschaft und die Fokussierung auf Kernkompetenzen konzentrieren. Es ist offensichtlich, dass diese Ansätze nicht identisch auf die ökonomische Politikberatung übertragen werden können. Insbesondere könnte eine solche Übertragung dazu führen, dass die Rent-seeking-Aktivitäten der beratenen Politiker noch ausgeweitet werden. Dem Nutzenkalkül des Politikers (Parlamentariers oder Regierungsmitglieds auf nationaler und europäischer Ebene) liegen nämlich zwei Komponenten zu Grunde. Erstens geht es um die gewünschte Bereitstellung von öffentlichen Gütern (und damit auch von Regeln bzw. Gesetzen, die selbst auch öffentliche Güter sind). Zweitens fließen die Gewinne in die Zielfunktion ein, die die Politiker für sich selbst abschöpfen können. Beides ist aus dem Steueraufkommen zu finanzieren. Damit wird deutlich, dass eine Strategie der Kostenführerschaft nur bedingt erfolgreich sein kann. Sie wäre nämlich in diesem Kontext damit verbunden, dass die öffentlichen Leistungen zu möglichst geringen Kosten erbracht werden müssen. Da hieraus auch das rent seeking finanziert wird, kann ein Anreiz zur Kostensenkung so lange nicht bestehen, solange diese „Rente" nicht vom Erfolg der Politiker an der Kostenreduktion beeinflusst wird. Auch die Identifizierung von und Konzentration auf unternehmerische Kernkompetenzen muss deutlich modifiziert werden. Für eine Regierung kann die Konzentration auf ausgewählte Kernkompetenzen nur in Ausnahmefällen eine erfolgreiche Strategie
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sein. Solche sind beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass dringende Probleme unmittelbar gelöst werden müssen. Es geht dann jedoch meist nicht um die Lösung strategischer Aufgaben und die Beratung erfüllt eher eine „Feuerwehrfunktion" (Merz 2003, S. 1293). Im Allgemeinen ist jedoch eine generalistische, vielfältige Kompetenzen umfassende Lösung unumgehbar, die zwar nicht ständig präsent, jedoch jederzeit abrufbar sein muss. Bei der Identifikation dieser Kompetenzen kann die ökonomische Beratung dennoch hilfreich sein. Sie wird an der Bereitstellung öffentlicher Güter ansetzen. Wesentlich ist die strategische Beratung in der Ausrichtung der Politik, die auf die grundlegenden Präferenzen der Bürger reagiert, die, wie ausgeführt, wahlentscheidend sind. Die zu lösenden Aufgaben bestehen insbesondere in einer Analyse dieser Präferenzen und der Strategien der politischen Gegner. 4.1.2. Operative Beratung Die operative Beratung, kann als die klassische ökonomische Politikberatung angesehen werden. In der Praxis dominiert dieses Modell. Wie in der operativen Unternehmensberatung geht es insbesondere um die Umsetzungsberatung, die sich beispielsweise mit den ökonomischen Folgen bestimmter Steuer- oder Rentenmodelle befasst, die Ausgestaltung von Sozialversicherungen mitgestaltet, bei der Findung ebenso effektiver wie effizienter Umweltschutzmaßnahmen berät oder eine Interpretation oder neue Formulierung des Stabilitätspakts sucht. Primärer Adressat sind dabei die nationalen Ministerien, die Kommission und Politiker auf nationaler und europäischer Ebene, die hier in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt werden. 4.2. Der Berater als Anwalt Ein wesentliches Problem der Wahrnehmung der ökonomischen Politikberatung ist die Mehrdeutigkeit ökonomischer Empfehlungen, die im günstigsten Fall von mehreren Ökonomen, meist jedoch schon von einem Ökonomen allein kommen. Legendär ist in diesem Zusammenhang der Wunsch des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Harry Truman, man möge ihm doch bitte zukünftig einen einarmigen ökonomischen Berater zur Verfügung stellen.2 Hintergrund dieses Verhaltens ist der Wunsch der ökonomischen Berater nach Objektivität ihrer Äußerung (Kirchgässner 1999, S. 195 f.; Kirchgässner 1993; Franz, 2000, S. 60 ff). Da ökonomische Beratung in einem hochgradig kontingenten Umfeld erfolgt, muss daraus eine ebenso kontingente Argumentation folgen, die für den Beratenen dann oft den Anschein der Beliebigkeit hat. Dieses hat auch zur Folge, dass ökonomische Berater davor zurückschrecken, Positionen einzunehmen oder diese für andere zu verteidigen. Dabei existiert für viele grundlegende Probleme durchaus ein Konsens bezüglich der Problemlösung (Franz 2000, S. 62 ff.). Sofern man unterstellt, dass der einzelne nicht im Besitz der Wahrheit, sondern allenfalls im Besitz einer gut begründeten Position sein kann, kann eine Beratung nicht objektiv richtig oder falsch, sondern nur gut oder schlecht (oder gar falsch) begründet sein. „Die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissen-
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Trumans Begründung war, dass alle seine ökonomischen Berater ihre Empfehlungen in die Struktur „On the one hand..., on the other hand..." kleideten.
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schaftler, sondern eine soziale Angelegenheit der gegenseitigen Kritik" (Popper 1962, S. 240). Nimmt man nun Abschied von der Vorstellung einer ökonomisch optimalen Lösung, und akzeptiert für die Beratung, dass es nur mehr oder minder gute Begründungen gibt, so steht der Rolle des ökonomischen Beraters als Anwalt, der ein ökonomisches Plädoyer für eine bestimmte Position hält, nichts mehr im Wege. Es könnte die Anmaßung mancher Ökonomen entfallen, dass gerade sie im Besitz der richtigen Theorie und des Wissens über die Zukunft sind. Es handelt sich dabei um ein Vorgehen, das von den juristischen Kollegen erfolgreich eingesetzt wird. Im politischen Streit würden die ökonomischen Berater dann die Rolle eines advocatus oeconomicus übernehmen (Müntiich 2003, S. 19 f.; Nelson 1987, S. 56 ff.; Meier und Mettler 1988, S. 71 ff.). Auf der anderen Seite würde der in diesem Fall nicht institutionalisierte Richter stehen, der die Qualität der Argumentation der Parteien zu beurteilen hat. Man könnte diese Rolle dem Wähler zudenken, allerdings verschärft sich hier das Problem der Informationsasymmetrie, da dieser gemeinhin über ökonomische Zusammenhänge schlecht informiert ist. Das Urteil hinge dann nicht von der Qualität, sondern von der Popularität des Arguments ab. Man könnte sich die Bildung eines Court of Economics, einer Art Sachverständigenrat, vorstellen, der ein Urteil Uber die vorgebrachten Argumente abzugeben hätte. Dieses würde einer parlamentarischen Entscheidung nicht vorgreifen, sondern als Empfehlung in die Entscheidung eingehen. Schließlich bleibt zu fragen, ob ein solches Vorgehen mit der ökonomischen Methodik überhaupt vereinbar ist, da sie für sich in Anspruch nimmt, unter bestimmten Voraussetzungen eine optimale Allokation ermitteln zu können. Vor diesem Hintergrund kann sie einer solch diskursiven Logik gar nicht folgen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die benannten Voraussetzungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Dies lässt also sehr wohl Raum für eine diskursive Lösungsfindung (Franz 2000, S. 60 ff.). Zum zweiten sollte die ökonomische Argumentation im Bereich der Regelfindung nicht der reinen Allokationstheorie, sondern den Erkenntnissen der Institutionen· und hier insbesondere der Konstitutionenökonomik folgen, die von der zentralen Annahme der Zustimmungsfähigkeit eines Regelsatzes ausgeht. Diese Zustimmungsfähigkeit hängt zwar auch von den Allokationsimplikationen der Regel, jedoch ebenso von den Distributionsaspekten und dem Administrationsaufwand ab, die es darzulegen gilt.
4.3. Der Berater als Legitimator In dieser Funktion wird im Beratungsprozess die Informationsasymmetrie nicht durch die Beratung der informationsschwächeren Seite korrigiert, sondern durch eine Signaltätigkeit des informationsbevorzugten Transaktionspartners erreicht. Dieser hat eine Maßnahme als notwendig identifiziert, die aber - zumindest kurzfristig - für die Prinzipale oder zumindest für Teilgruppen Nachteile in sich birgt. Mithin müsste der Agent schwerwiegende Nachteile bei der Durchsetzung der entsprechenden Maßnahme befürchten. Dabei reicht die Befürchtung und Nachteile müssen real gar nicht auftreten. Der Berater kann dann die Funktion übernehmen, als externer und insbesondere neutra-
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1er Gutachter der Position des Agenten Glaubwürdigkeit zu verleihen und die Notwendigkeit dieser Maßnahme zu signalisieren. Wesentlich ist bei der Legitimatorfunktion, dass eine ex-ante Kongruenz bezüglich des Analyseziels zwischen dem Auftraggeber und dem Berater besteht. Dieses ist dann problematisch, wenn der Berater erst nach der Entscheidungsfindung in der Politik hinzugezogen wird, ihm also eine eigene Entscheidungsfindung verwehrt wird. Dieses kann umgangen werden, wenn der Berater bereits im Entscheidungsfindungsprozess für die politische Institution tätig war, die ihn als Legitimator einsetzen will. Gerade auf der Ebene der Europäischen Union (Kommission) oder in der Beratung nationaler Gremien, wenn es um die Europäisierung von Kompetenzen geht, übernehmen Berater häufig diese Funktion.
4.4. Der Berater als Monitor In dieser Funktion tritt der Berater als unabhängiger Beobachter auf, der die Aktionen seines Beobachtungsobjekts beurteilt. Adressaten des Monitors können sowohl Akteure aus der Politik als auch die Bürger sein. Insbesondere für letztere kann der Monitor ein sehr kosteneffizientes Beratungsinstrument sein. Der Monitor verdichtet dabei die von ihm gesammelten Informationen zu wenigen aussagekräftigen Daten oder Indices, die allerdings selbst durch das beobachtete Objekt nur gering manipuliert werden können. Darüber hinausgehend kommentiert er regelmäßig die Handlungen des Objekts und weist auf mögliche Fehlentwicklungen und Alternativen hin. Mittlerweile haben sich einige solche Monitor-Einrichtungen bereits herausgebildet. Sie finden sich besonders in der Beobachtung von Zentralbanken. Insbesondere für die am politischen Prozess beteiligten unabhängigen Institutionen bieten sich die Monitore als Beratungsinstrument für Politiker aber auch für die Öffentlichkeit an. Da diese unabhängigen Institutionen weder weisungsgebunden sind, noch im Wettbewerb ihre Effektivität und Effizienz beweisen müssen, können die Monitore als „virtuelle" Wettbewerber diesen Institutionen gegenübergestellt werden, um sie damit wenigstens teilweise disziplinieren zu können, ohne sie in eine politische Abhängigkeit zu stürzen. Dafür ist natürlich die gleichermaßen vorhandene Unabhängigkeit des Monitors Voraussetzung. Es erscheint deshalb ratsam, diese Monitor-Tätigkeiten auszuweiten. Nicht nur die Zentralbanken, sondern auch die mit ökonomischen Entscheidungen befassten Gerichte und hier insbesondere der EuGH sowie die neu entstehenden Regulierungsbehörden sollten stärker einem solchen „virtuellen" Wettbewerb ausgesetzt werden, um eine effiziente Regelsetzung zu erzielen.
5.
Fazit und Perspektiven
Politikberatung stößt auf eine Vielzahl von Problemen. Diese treten losgelöst davon auf, ob Politikberatung auf nationaler oder auf europäischer Ebene stattfindet. Weder existieren eindeutige Kriterien für die Beurteilung des Erfolges von Politikberatung durch Ökonomen, noch liegen bisher hinreichend differenzierte Analysen des Prozesses der Beratung sowie der Zielfunktionen der Beteiligten vor. Auch werden die Adressaten
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und deren Problemstellungen zu wenig berücksichtigt. Dies gilt auch für die Differenzierung entsprechender Beratungsmodelle, die noch unzureichend geleistet ist. Im hier zugrundegelegten Kontext der Europäischen Union ist besonders, dass es erstens um integrationspolitische Fragen und um die Zuordnung von Kompetenzen und damit um die Spielräume nationaler Wirtschaftspolitik geht. Zweitens sind zusätzliche Informationsassymetrien zu berücksichtigen, die im Prozess der politischen Entscheidungsfindung auf nationaler Ebene nicht auftreten. Drittens agiert mit dem Europäischen Gerichtshof ein zusätzlicher Spieler auf der politischen Regelsetzungsebene, der sich bisher der Beratung durch Ökonomen entzogen hat, jedoch Entscheidungen mit weitreichenden ökonomischen Konsequenzen trifft. Die Qualität der Politikberatung durch Ökonomen hängt in dem hier aufgezeigten Kontext davon ab, dass genau zu identifizieren ist, wer beraten werden soll, was dessen Probleme sind und mit welchem Konzept in dieser Situation am effektivsten beraten werden kann. Nach den vorangegangenen Aussagen ist es möglich, den einzelnen Adressaten bestimmte Beratungskonzepte zuordnen.
Abbildung 2: Adressaten und passende Beratungskonzepte Parlamentarier
Strategisch
Operativ
Anwalt
Legitimator
Monitor
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(EU, Mitglied) Regierung, Rat Kommissare Administration
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(EU-Kommission, Ministerien) Unabhängige Institutionen Bürger
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Die isolierte Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die zudem noch ebenso vermittelt werden und die nur vom Wunsch nach Objektivität getragen werden und damit den Ratsuchenden aus den Augen verlieren, hat kaum eine Aussicht auf Erfolg. Dabei kann eine stärkere Berücksichtigung des Beratungsumfeldes und entsprechende Reaktionen in der Wahl des Beratungskonzeptes nicht nur die Effektivität, sondern auch die Professionalität der Politikberatung fördern und schließlich auch die Akzeptanz der Ökonomen in diesem Aktivitätsfeld. Dies gilt gerade für die Europäische Union, die in Gegenwart und Zukunft Probleme zu lösen hat, für die wirtschaftswissenschaftliches Know-how unabdingbar ist.
Politikberatung in der Europäischen Union
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Martin Leschke und Ingo Pies (Hg.), Wissenschaftliche Politikberatung - Theorien, Konzepte, Institutionen Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft · Band 75 · Stuttgart · 2005
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
Thomas Apolte und Dirk
Kirschbaum
Inhalt 1. Die Tragik der Politikberatung während der deutschen Einigung
48
2. Zielfunktionen und Restriktionen von Politikern und Beratern
50
3. Die deutsch-deutsche Währungsunion
54
3.1. Ausgangslage 3.2. Handlungsempfehlungen der Politikberater und politische Entscheidungen
54 54
3.3. Bewertung aus ökonomischer Sicht
57
4. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
59
4.1. Ausgangslage
59
4.2. Handlungsempfehlungen der Politikberater und politische Entscheidungen 4.3. Das Beispiel der Rentenpolitik 4.4. Das Beispiel der Tarifpolitik am Arbeitsmarkt
60 61 62
5. Fazit
69
48
1.
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
Die Ttagik der Politikberatung während der deutschen Einigung
Das Verhältnis der wissenschaftlichen Politikberater zu den politischen Entscheidungsträgern ist nicht nur in Deutschland schwierig. Die Karrieren von Politikberatem und Politikern hängen von zu unterschiedlichen Kriterien ab, als dass sich ihre jeweiligen Vorstellungen ohne weiteres unter einen Hut bringen ließen. Ein naives Verständnis von Wirtschaftspolitik, wonach Politiker die Normen und Ziele der Politik nach Maßgabe der Wählerwünsche definieren und die Politikberater die dazu am besten geeigneten Instrumente vorschlagen, führt weitgehend an der Realität vorbei. Da die demokratische Legitimation letztendlich auf Seiten der Politiker liegt, müssen sich die wissenschaftlichen Politikberater damit abfinden, dass an ihren Ratschlägen häufig mehr oder weniger umfassend vorbeiregiert wird. Dies löst immer wieder Verärgerung aus, doch ist es letztlich unvermeidlich, zumal der Rat der Politikberater meist alles andere als einheitlich ausfällt und auch Politikberater selbstverständlich nicht allwissend sind. Nie zuvor aber schien die Kluft zwischen den Wirtschaftswissenschaftlern und den Politikern so groß gewesen zu sein wie im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten (Schüller und Weber 1998). Schlimmer noch: Bis in die jüngste Zeit ist die Kluft zwischen beiden groß geblieben. Hierzu spöttelte der frühere Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff (2003, Abschn. I): „Gemessen an der Zahl deijenigen, die wirtschaftspolitischen Rat erteilen, könnte man von einer Blütezeit der Politikberatung sprechen." Obwohl in vielen Bereichen des Staates Reformbedarf besteht, fehlendes Wirtschaftswachstum die Dringlichkeit von Beratung durch Experten unterstreicht und die Gremien, Kommissionen, Beraterstäbe und sonstigen Expertenkreise in großer Zahl im Hintergrund der politischen Machtzentren agieren, scheint dort das zu dominieren, was nüchtern und zugleich etwas ironisch anmutend mit dem Terminus „Beratungsresistenz" bezeichnet wird. Die Gründe für die Misere allein bei den Beratenen zu suchen, die die Ergebnisse der Experten schnell umformen und .verwässern', den Notwendigkeiten des politischen Tagesgeschäfts anpassen und dort oftmals auch ganz untergehen lassen, greift aber zu kurz. Die Problematik ergänzt sich vielmehr durch die Orientierung der wissenschaftlichen Institutionen und Personen (ebenda, S. 166). Freundlich ausgedrückt beruht das Phänomen des weitgehenden aneinander Vorbeiredens auf dem Widerspruch zwischen „dem Anreiz des Wissenschaftlers, objektiven Rat zu erteilen, und dem Anreiz des Politikers, wieder gewählt zu werden" (Lambsdorff 2003, Abschn. ΠΙ). Im Zusammenhang mit den politischen Entscheidungen zur Deutschen Einheit geriet die politische Vision allzu häufig in einen direkten Konflikt zu dem, was die Mehrzahl der Wissenschaftler ökonomisch für geboten hielt. Anschaulich wird dies im Wort von den „blühenden Landschaften" Helmut Kohls (Ehrentraut und Fetzer 2003, S. 2), welches von Schrettl ironisch als „Paretianisches Versprechen" (Schrettl 1992, S. 4) bezeichnet wurde, weil es bekanntlich im Gefolge der deutschen Vereinigung niemandem schlechter, aber vielen besser gehen sollte. Vor solch vollmundigen Versprechungen ist von Seiten der Ökonomen durchaus frühzeitig gewarnt worden. Vor allem aber gab es von Beginn an Warnungen vor vielen wirtschaftspolitischen Schritten, die dann doch vollzogen wurden. Allerdings haben
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
49
Ökonomen keineswegs alle lauernden Gefahren erkannt. Zugleich haben sie teilweise eindringlich vor manch anderen Schritten gewarnt, die sich im Nachhinein als weniger problematisch erwiesen haben als von ihnen befürchtet. Dies ist freilich nicht weiter verwunderlich, weil doch auch die Ökonomen selbst in solchen Umbruchzeiten kaum auf Erfahrungen und empirische Daten zurückgreifen können. Es kommt aber noch etwas hinzu: Weil Wissenschaftler es gewohnt sind, auf einem hohen Abstraktionsniveau zu arbeiten und sehr vorsichtig zu argumentieren, haben sie sich meist nur ungern auf den nötigen Pragmatismus eingelassen, den die rasante Entwicklung allen Entscheidungsträgern abverlangte. Sieht man sich die seinerzeitigen Publikationen der Wissenschaftler noch einmal an, so wird deutlich, dass die meisten von ihnen auf einer sehr abstrakten Ebene angesiedelt waren, die für die unmittelbare Praxis wenig mehr als allgemeine Leitlinien wirtschaftspolitischer Strategien boten. Diese - meist ordnungspolitisch fundierten - Leitlinien passten aber im Falle der Wiedervereinigung nicht einmal mehr in die allgemeinpolitischen Strategien jener, die die Ordnungspolitik bis dato zumindest aus parteihistorischen Gründen heraus noch gepflegt hatten. So nimmt es insgesamt nicht wunder, dass die Ökonomen trotz oder gerade wegen der großen Herausforderungen von der Politik durchweg nicht ernst genommen wurden. Dabei liegt die Tragik vor allem darin, dass die Wirtschaftswissenschaftler zwar zu Recht vor einigen gewichtigen Fehlentwicklungen gewarnt hatten, von der Politik aber bezichtigt wurden, dabei die historische Dimension der damaligen Herausforderungen nicht berücksichtigt zu haben, innerhalb derer mit bloßer (ordnungspolitischer) Prinzipientreue nicht weiter zu kommen gewesen wäre. Dieser Vorwurf regt zwar meist zu Recht den Widerstand der Ökonomen, denn es war schließlich kein Geringerer als Ludwig Erhard, der in einer vergleichbaren Situation gerade durch Prinzipientreue Erfolg hatte, die er gegen alle seinerzeitigen Widerstände durchgehalten hatte. In mindestens einer Hinsicht aber, so wird noch zu sehen sein, hat die ordnungspolitische Prinzipientreue der Ökonomen auch durchaus erheblichen Schaden angerichtet. Die Tragik der wissenschaftlichen Politikberatung im Zusammenhang mit der deutschen Einigung soll im Folgenden exemplarisch demonstriert werden. Hierzu werden zunächst die Zielsysteme und Restriktionen skizziert, denen Politikberater und Politiker jeweils unterliegen. Auf dieser Basis werden im Anschluss zwei wesentliche Politikbereiche im Zuge der Deutschen Einheit herausgegriffen: Erstens geht es um die Währungsunion und ihre Alternativen, und zum zweiten werden die Positionen der Politikberater zum Problembereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dargestellt. Anhand dieser beiden Fälle soll demonstriert werden, wie Politiker und Berater weitgehend isoliert voneinander die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gesehen haben und wie die wissenschaftlichen Politikberater aufgrund der unterschiedlichen Zielsysteme und Restriktionen weitgehend abseits des Geschehens stehen mussten. Es wird sich dabei zeigen, dass einfache Schuldzuweisungen bei weitem zu kurz greifen und dass bei allen berechtigten Klagen über das Verhalten der Politik auch die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung Grund zur Selbstkritik hat, wobei die Fehler der einen jene der anderen freilich nicht schmälern.
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2.
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
Zielfunktionen und Restriktionen von Politikern und Beratern
Die Vorstellung, dass Politiker und Politikberater sich gleichermaßen an einer gesellschaftlichen Zielfunktion orientieren, sollte angesichts der Erfahrungen und der neueren Literatur zum Thema Politikberatung endgültig aus den Lehrwerken zur Theorie der Wirtschaftspolitik verbannt werden. Politiker einerseits und wissenschaftliche Politikberater andererseits verfolgen vielmehr jeweils sehr unterschiedliche Ziele und unterliegen dabei auch unterschiedlichen Restriktionen. Mit Hilfe der Einsicht in diese Ziele und Restriktionen lassen sich die Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen recht gut erklären.1 Über die Zielfunktionen und Restriktionen von Politikern in Demokratien ist im Rahmen der Public-Choice-Theorie ausführlich geforscht worden. Dennoch gibt es in der Literatur kein einheitliches Bild hierzu. In vielerlei Hinsicht erscheint es allerdings sinnvoll, Politikern keine Stimmenmaximierung per se zuzuschreiben, sondern die Maximierung persönlicher Zielgrößen unter der Restriktion einer hinreichend großen Zahl von Wählerstimmen. Dies folgt vor allem daraus, dass die Zahl der Wählerstimmen für sich genommen nicht nutzenstiftend ist. Wohl ergeben sich vielfältige Nutzenströme aus dem Amt eines Politikers, welches er aber nur unter der Bedingung einer hinreichend großen Wählerschaft halten kann. Neben pekuniären Zielen dürften gerade Politiker von einer ganzen Reihe nichtpekuniärer Ziele getrieben sein. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass es vergleichbare gehobene Positionen außerhalb der Politik gibt, die zumeist mit wesentlich höheren Einkünften verbunden sind. Zu den mit einem politischen Amt verbundenen persönlichen Zielen können vor allem Dinge gehören wie die Möglichkeit zur Ausübung von Macht sowie zur politischen Gestaltung. Eng damit verbunden dürfte auch die Chance sein, sich durch politische Weichenstellungen von besonderer Tragweite zu einer Person von größerer, vielleicht gar historischer Bedeutung empor zu arbeiten. Die Zahl der Wählerstimmen ist aber nicht die einzige Restriktion, der die Politiker unterworfen sind. Dies liegt im Wesentlichen in der Existenz von Informationskosten auf Seiten der Wähler, teilweise aber auch der Politiker begründet. Vor allem der Anreiz zu rationaler Ignoranz bei den Wählern eröffnet Interessengruppen in unterschiedlicher Weise einen Spielraum dazu, der Öffentlichkeit ihre Partikularinteressen als allgemeine Interessen der Wählerschaft zu vermitteln. Daher müssen Politiker immer auch die angestammten Interessengruppen im Auge behalten. Hierzu gilt: Je kürzer der Zeithorizont der jeweiligen Politiker ist, desto stärker müssen sie Sonderinteressen beachten. Denn in der kurzen Frist lässt sich die Behauptung eines allgemeinen gesellschaftlichen Interesses an den Forderungen der Interessengruppen schlechter widerlegen als in der langen Frist. Erst langfristig werden die möglichen negativen Folgewirkungen politischer Schritte offenbar, die sich an bestimmten Sonderinteressen orientieren. Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung dürfte daher die Konfliktfähigkeit der Politik gegenüber den Vertretern von Sonderinteressen besonders schwach ausgeprägt gewesen
1
Siehe u.a. Apolte und Wilke (1998); Cassel (2001); Kirchgässner (1988, 1996); von Wulffen (1996).
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
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sein, weil die Politik unter einem ungewöhnlichen Handlungsdruck stand, der schnelle, beherzte und visionär geleitete Schritte erforderte, um die gebotenen historischen Chancen nutzen zu können. Dabei zusätzliche Konfliktlinien zu eröffnen, um Folgewirkungen der Politik zu vermeiden, die - wenn überhaupt - erst sehr viel später virulent würden, stellte eine potenzielle Gefährdung der unmittelbaren „historischen" Entscheidungen dar. Auch deshalb geriet jeder, der auf mögliche langfristige Folgewirkungen hinwies, leicht in die Position eines Kleingeists mit visionsloser Buchhaltermentalität. Was die Zielfunktionen der wissenschaftlichen Politikberater angeht, so ist hierüber weit weniger erarbeitet worden. Allerdings sollte es nicht schwer fallen, die hierzu wichtigsten Fakten zusammen zu tragen. 2 Zunächst einmal werden auch Wissenschaftler ihre jeweilige berufliche Position dazu zu nutzen versuchen, persönliche Ziele zu verwirklichen. Dass Wissenschaftler dabei tendenziell andere persönliche Ziele verfolgen als Politiker, dürfte weniger an der anders gearteten beruflichen Position liegen als an einer Art Vorauswahl (screening), innerhalb derer bestimmte Menschen mit bestimmten Neigungen auch ganz bestimmte Berufe wählen. Ohne auf systematische Studien zurückgreifen zu können, erscheint es doch plausibel, gewisse Neigungen und Fähigkeiten zu unterstellen, die jenen Menschen eigen sind, die sich zu einer wissenschaftlichen Laufbahn entscheiden. Hierzu dürfte zunächst einmal ganz ähnlich wie bei Politikern die Neigung gehören, sich durch Aktivitäten eine über den Tag hinauswirkende Geltung zu verschaffen. Anders als bei den Politikern sind es aber nicht politische Entscheidungen, sondern mehr oder weniger bedeutsame wissenschaftliche Einsichten, mit denen sich Wissenschaftler über den Tag hinaus einen Ruf erarbeiten können. Dieser Unterschied wird im Rahmen der Vorauswahl Menschen mit einer Neigung zum Theoretisieren sowie zur Entwicklung solcher Entwürfe in die wissenschaftliche Laufbahn treiben, die aus ihrer Sicht eine gewisse intellektuelle Ästhetik aufweisen. Weisen Entwürfe diese Eigenschaften nicht auf, so haben sie keine Chance, einer über den Tag hinaus reichenden Bedeutung des Wissenschaftlers dienlich zu sein. Diese intellektuelle Ästhetik, deren inhaltliche Bestimmung übrigens im Zeitablauf durchaus unterschiedliche Charakteristika aufweist, rangiert dabei in der Regel vor der unmittelbaren praktischen Problemlösungskapazität. Aus diesem Grund wird die unmittelbare politische Verwertbarkeit wissenschaftlicher Arbeit mit einiger Notwendigkeit in den Hintergrund treten. Entsprechend unterscheiden sich auch die Restriktionen, unter denen ein Wissenschaftler handelt, deutlich von jenen der Politiker. Denn nichts ist einer wissenschaftlichen Laufbahn abträglicher als der Ruf, sich pragmatisch vom Tagesgeschehen treiben zu lassen oder gar die Argumente der Vertreter von Sonderinteressen zu berücksichtigen - Eigenschaften, die für Politiker geradezu Uberlebensnotwendig sind. Stattdessen sind zur Profilbildung eines Wissenschaftlers gerade solche Veröffentlichungen und Vorträge von Bedeutung, die praktisch ausschließlich innerhalb der Wissenschaftsszene zur Kenntnis genommen und anerkannt werden. Gerade Nachwuchswissenschaftler verlieren ihre Chance zur Erlangung einer langfristigen beruflichen Perspektive, wenn sie diesen Umstand missachten. Sich herauszuwagen aus dem inneren Zirkel der Wis-
2
Siehe auch Apolte und Wilke (1998, S. 784 f.) und Kirchgässner (1988).
52
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
senschaft können sich praktisch nur arrivierte Wissenschaftler leisten, deren berufliche Position bereits gesichert ist. Dabei ist es weniger die Tatsache selbst, dass man sich sehr nahe am politischen Tagesgeschehen bewegt, welche die berufliche Laufbahn gefährdet, als vielmehr die damit verbundene Verlagerung des individuellen Ressourceneinsatzes. Denn wer Zeit und Ressourcen für die Tagespolitik investiert, wird einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen erleiden, die sich ganz und gar auf die Profilierung innerhalb der Wissenschaftszirkel konzentrieren. Solcherlei Feststellungen sollten nicht mit Klagen oder gar „Nestbeschmutzung" verwechselt werden. Denn sowohl die Neigungen, Ziele und Restriktionen der Politiker in einer Demokratie als auch jene der Wissenschaftler haben jeweils ihre eigene gesellschaftliche Funktion und Wertigkeit. Solange es den Philosophenkönig Piatons nicht gibt, ändert hieran nicht einmal die Tatsache etwas, dass sich die Kriterien für die intellektuelle Ästhetik der Wissenschaftler wandeln - zum Beispiel von einer stärker ordnungstheoretischen zu einer rigorosen modelltheoretischen und ökonometrisehen Fundierung. Es hätte wenig Sinn, wenn Politiker sich plötzlich wie Wissenschaftler fernab vom Handlungsdruck des politischen Tagesgeschehens um wirtschaftspolitische Konzeptionen bemühten, die der intellektuellen Ästhetik der Wissenschaftler genügen. Sie würden scheitern, weil sie damit ihrer Aufgabe nicht gerecht werden könnten. Ebenso hätte es wenig Sinn für Wissenschaftler, sich abzuwenden von ihrer Aufgabe, grundlegende Zusammenhänge zu ergründen und über den Tag hinaus reichende Konzeptionen zu entwickeln, und zwar so, dass sie vor dem Urteil ihrer Fachkollegen Bestand haben können. So sehr man sich im Detail Fortschritte in der Kommunikation wünschen würde und so sehr man auch bestimmte Fehlentwicklungen und Übertreibungstendenzen bei den einen oder anderen beklagt: Grundsätzlich erfüllen beide Gruppen ihre jeweiligen Aufgaben, die nicht die gleichen sind und es auch nicht sein sollten. Das Problem liegt freilich in der Schnittstelle zwischen diesen beiden Aufgaben, und hier schlagen die unterschiedlichen Zielsetzungen und Restriktionen in der Regel durch. Wollte man ein Wort variieren, welches ein berühmter deutscher Komiker einer seiner Figuren in den Mund gelegt hat, so würde dies lauten: „Politiker und Politikberater passen einfach nicht zusammen." 3 Zur Tragik der Wirtschaftspolitik während der Wiedervereinigung gehört es, dass die Ziele und Restriktionen von Politikern und wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatern gerade in dieser Phase so weit auseinander liefen wie wohl selten zuvor. Freilich wäre gerade in dieser Phase eine wirksame wissenschaftliche Politikberatung besonders wichtig gewesen. Aber gerade hier wurden die Politikberater von den Politikern praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Die Politiker suchten nach schnell wirkenden Rezepten, und sie mussten so handeln. Sie mussten schnellstmöglich Fakten schaffen, hinter die zurück zu kehren schwer möglich sein würde, und sie mussten Problemstaus abbauen, die sich seit dem 9. November 1989 an allen Enden zusammenbrauten. Dabei waren sie auf eine Reduktion von Konfliktpotenzialen angewiesen, was sie nachsichtig gegenüber den verschiedenen Interessengruppen machte, welche ihrerseits den Status
3
Die Tatsache, dass Politiker und Politikberater aufeinander angewiesen sind, unterstreicht die Analogie zum Originalzitat.
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quo zu sichern versuchten oder Gelegenheiten zu einer Verbesserung ihrer jeweiligen Position nutzten. Wissenschaftler dagegen mahnten zum Innehalten und dazu, die Umbruchsituation zu nutzen, um neue Strukturen zu entwickeln und Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit zunächst einmal zu korrigieren und um dann umso bessere Strukturen für Gesamtdeutschland zu schaffen. Sie verstanden ihre Aufgabe darin, dauerhaft tragfähige Problemlösungen zu entwickeln. Abseits vom unmittelbaren tagespolitischen Problemdruck wäre es natürlich nicht nur wünschenswert gewesen, wenn man in diesem Sinne hätte handeln können. Es entsprach vielmehr auch dem, was oben intellektuelle
Ästhetik
genannt wurde. Aber nur weil die Wissenschaftler dem unmittelbaren tagespolitischen Problemdruck nicht unterlagen, konnten sie es sich leisten, in solchen gewohnten Perspektiven zu denken. Eine solche Arbeitsteilung kann grundsätzlich sogar zusammenpassen; dann nämlich, wenn die einen die langfristigen Entwicklungslinien - zum Beispiel anhand ordnungspolitischer Grundsätze - vorgeben, während die anderen diese langfristigen Entwicklungslinien in tagespolitische Aktivitäten umgießen. In diesem Fall aber funktionierte diese Arbeitsteilung nicht. Während die Wissenschaftler über langfristig tragfähige Konzepte für das entstehende Gesamtdeutschland nachdachten, neigten die Politiker dazu, alles, was in der alten Bundesrepublik gut oder auch nur leidlich funktionierte, sinngemäß auf die neuen Bundesländer zu übertragen. Dies begann mit der Einführung der westdeutschen Währung und setzte sich durch die Wiedervereinigung mit der praktisch unveränderten Verfassungs- und Rechtsstruktur fort. Unangetastet blieben dabei auch die Arbeitsmarkt- und Tariffindungsstrukturen sowie das gesamte bundesdeutsche Sozialsystem - trotz des damals bereits deutlich sichtbaren Reformbedarfs. Da die politischen Entscheidungen von Politikern und nicht von wissenschaftlichen Politikberatern getroffen wurden und letztere mit Blick auf die Ziele und Restriktionen der Politiker nichts zu bieten hatten, was der praktisch kompletten Übernahme aller Strukturen der alten Bundesrepublik aus der Sicht der Politiker auch nur ansatzweise hätte überlegen sein können, versank die wissenschaftliche Politikberatung in der Bedeutungslosigkeit. Letzteres soll im Folgenden anhand zweier Politikbereiche verdeutlicht werden: der Währungsunion sowie der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die Probleme der Währungsunion können heute als überstanden und im Nachhinein als ohnehin weniger problematisch betrachtet werden als von vielen Wirtschaftswissenschaftlern ursprünglich befürchtet. Dagegen muss die bloße Übertragung der bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf die neuen Länder heute als ein großer Fehler betrachtet werden, der die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands noch in Jahrzehnten beeinträchtigen wird. O b er vermeidbar war, sei dahingestellt. Es hätte aber zumindest einiger wirksamer Übergangs- und Sonderregelungen bedurft, wie am Beispiel der Renten- und Tarifpolitik zu zeigen sein wird. Solche Übergangsregelungen wären auch möglich gewesen, wenn die Kommunikation zwischen Politik und Politikberatung nur funktioniert hätte.
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3.
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
Die deutsch-deutsche Währungsunion
3.1. Ausgangslage Im Jahre 1989 erwirtschafteten die alten Bundesländer mit ca. 28 Mio. Erwerbstätigen ein BIP von ca. 2.250 Mrd. DM. Demgegenüber erwirtschaftete die DDR im selben Jahr mit 9 Mio. Erwerbstätigen ein BIP von 350 Mrd. Ostmark, was 175 Mrd. D M bei einem Wechselkurs von 2:1 ergibt (vgl. Franke 1990, S. 6 f.). Vor diesem Hintergrund war der Schritt in die Wirtschafts- und Währungsunion ein Sprung ins kalte Wasser. Es wurden seit Mitte 1989 bis noch weit in das Jahr 1990 auch von offizieller bundesdeutscher Seite aus Überlegungen dazu angestellt, in welcher Weise die DDR modernisiert und reformiert werden könnte, beziehungsweise wie eine Weiterführung der DDR aussehen könnte (vgl. dazu die Modelle bei Haffiier 1990, S. 36 ff.). Ein präziser und aussagefähiger Vergleich der Wirtschaftsleistung der ehemaligen DDR zu den alten Bundesländern war freilich schwer zu bewerkstelligen. 4 So konnten keine exakten Kaufkraftvergleiche angestellt werden, weil die Warenkörbe der beiden deutschen Staaten zu unterschiedlich waren (Sinn und Sinn 1993, S. 67.). Als besonderes politisches Problem erschien der vorhandene Geldüberhang, der sich in der DDR entwickelt hatte (ebenda, S. 82). Daran schloss sich die Befürchtung an, dass die Währungsumstellung wegen der Realisierung der Konsumwünsche der DDR-Bürger bei vorhandener Liquidität in einer massiv ansteigenden Inflationsrate münden würde. Vor diesem Hintergrund ergaben sich unterschiedliche Positionen zu der Frage, wie die beiden Systeme am besten angeglichen werden könnten. Im Wesentlichen standen sich zwei Parteien gegenüber, zum einen die Vertreter der Stichtagsregelung, gemäß derer an einem bestimmten Tag die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft treten sollte, und zum anderen die Vertreter einer allmählichen Angleichung mit unterschiedlichen mehrstufigen Strategien.
3.2. Handlungsempfehlungen der Politikberater und politische Entscheidungen Nach den Vorstellungen des Sachverständigenrates sollte die Währungsunion nicht zeitgleich mit der Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft treten, sondern, nicht zuletzt zur besseren Steuerung des politischen und sozialen Lernprozesses, in Stufen erfolgen (vgl. SVR 1990, Rz. 46). Der Sachverständigenrat vertrat in seinem Sondergutachten vom 20. Januar 1990 drei prinzipielle Zielsetzungen der Währungsunion: Erstens die Etablierung einer unabhängigen Notenbank, zweitens den Aufbau eines Bankensystems und von Geldmärkten sowie drittens die Herstellung der Konvertibilität der Währung bei einheitlichem Wechselkurs. Es herrschte die Befürchtung, dass der in beträchtlichem Ausmaß vorhandene Geldüberhang in der DDR zu einem starken Inflationsschub führen würde, der in eine Lohn-Preis-Spirale münden könnte. Der Sachverständigenrat wollte den Geldüberhang zunächst einmal innerhalb der DDR abbauen, um diese erst im An-
4
Die Fehleinschätzung über die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft müssen zum Teil als geradezu abenteuerlich bezeichnet werden; siehe hierzu von der Lippe (1994).
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schluss daran in die Lage zu versetzen, eine Währungsunion mit der Bundesrepublik einzugehen. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Bedenken gegen eine übereilte Währungsunion äußerte der Sachverständigenrat in einem Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl die Befürchtung, dass bei einer raschen Währungsunion Produktion und Beschäftigung in der DDR durch Anpassungsprozesse beeinträchtigt würden, dass Kaufkraft von Ostnach Westdeutschland abfließen könnte und die DDR-Betriebe schlagartig der internationalen Konkurrenz ausgeliefert wären. Dadurch würde sich die Abwanderung, die man mit einer kurzfristig vollzogenen Währungsunion ja gerade eindämmen wolle, wieder verstärken (SVR 1990/91, S. 307). Im Gegensatz zu anderen Ökonomen und Institutionen hat der Sachverständigenrat aber auch die Option flexibler Wechselkurse verworfen, um Unsicherheit und erhebliche Kursschwankungen zu umgehen. Aus seiner Sicht könnten feste Wechselkurse als Orientierungspunkt für Marktpreise und Löhne dienen. Konkrete Vorstellungen über ein bestimmtes Wechselkursniveau hat der Sachverständigenrat allerdings nicht genannt (SVR 1990, Rz. 39). Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium votierte bereits Ende 1989 in seinem Gutachten über „Wirtschaftspolitische Herausforderungen der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zur DDR" für eine „Integration und Angleichung der beiden deutschen Wirtschafträume", gefolgt von der Übernahme der DM unter einem „gemeinsamen staatlichen Dach" (ebenda, S. 11). Der Beirat warnte zwar davor, „willkürlich" einen Wechselkurs der DDR-Mark zur DM zu setzen, konkretisierte aber weder, was er unter dem Begriff „willkürlich" verstand, noch gab er eine Empfehlung für ein bestimmtes Umtauschverhältnis (ebenda, S. 10). Die Ökonomen der Forschungsinstitute standen der Währungsunion überwiegend kritisch gegenüber und präferierten ein Stufenmodell beim Übergang der DDR zur Marktwirtschaft ( H o f f m a n n 2000, S. 157). Schmieding vom IfW sprach sich gegen eine Währungsunion aus, zum einen wegen der Unwägbarkeiten des Wechselkurses und den daraus entstehenden Inflations- und Deflationsgefahren, zum zweiten wegen der zu tragenden Anpassungslasten durch einen festen Wechselkurs, die ein flexibler Wechselkurs ausgleichen könnte, und zum dritten wegen der zu erwartenden weit höheren Inflationsrate in der DDR gegenüber der Bundesrepublik. Auch Siebert warnte davor, dass die DDR mit der Übernahme der DM die Möglichkeit aufgebe, den Wechselkurs als Puffer einzusetzen. Das DIW stand einer Währungsunion ebenfalls skeptisch gegenüber. Dort argumentierte man mit dem im Vergleich zur alten Bundesrepublik geringeren Kapitalstock der DDR und warnte davor, dass eine übereilte Währungsunion zu Betriebsschließungen auf breiter Front sowie Massenarbeitslosigkeit führen würde (vgl. ebenda). Etwas anders argumentierte das Ifo-Institut. Es befürwortete eine schnelle und kontrollierte Währungsangleichung, ließ aber offen, auf welche Weise dies geschehen könne (Winkler 1990, S. 286 f.). Neben den großen Wirtschaftsforschungsinstituten empfahl schließlich auch der Kronberger Kreis ein Hinausschieben der Währungsunion und votierte seinerseits für eine Fixierung des Wechselkurses auf einem Niveau zwischen 1:1 und 2:1 (ebenda, S. 286). Neben den Politik beratenden Institutionen im engeren Sinne sprach sich auch die Bundesbank von Beginn an gegen eine rasche deutsch-deutsche Währungsunion aus.
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Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
Dies hatte Bundesbank-Vizepräsident Schlesinger noch am 24. Januar 1990 gegenüber dem Handelsblatt gesagt. Auch Bundesbank-Präsident Pohl präferierte zu Anfang des Jahres 1990 noch einen dreistufigen Übergang, erklärte jedoch, nachdem die Politik vollendete Tatsachen geschaffen hatte, dass er sich loyal verhalten wolle (ebenda, S. 287), wenngleich er später noch einmal die Währungsunion als „Katastrophe" kritisierte (Sinn und Sinn 1993, S. 63). Als Umtauschrelation hatte sich die Bundesbank für einen Wechselkurs von höchstens 2:1 ausgesprochen, da durch eine zu starke Ausdehnung der Geldmenge, schnelle Lohnsteigerungen in Ostdeutschland und eine starke Staatsverschuldung die Gefahr einer schnell steigenden Inflation gedroht hätte (Priewe 2000, S. 4). Als Alternative zur Währungsunion, die 1989 noch in weiter Ferne lag, diskutierten Lang und Ohr sowie Smeets die Erlangung der vollen Konvertibilität der DDRWährung. 5 Die Autoren gelangten jedoch zu dem Ergebnis, dass sowohl eine volle Konvertibilität im seinerzeitigen Zustand der DDR-Wirtschaft wie auch eine Währungsunion zu erheblichen Friktionen geführt hätten und hielten daher eine vorläufige Beibehaltung der Devisenbewirtschaftung für unausweichlich. Vor allem müsse in der DDR eine Preisreform vorangehen, die es ermöglicht, Knappheitsgrade Uber freie Preise zu signalisieren. Allerdings stellten sich keineswegs alle Wissenschaftler grundsätzlich gegen die Währungsunion. So hielt Willgerodt den Kritikern des Projekts vor, dass aus seiner Sicht die meisten ihrer Argumente nicht stichhaltig sind (vgl. Willgerodt 1990). Auch Kantzenbach, seinerzeit Präsident des HWWA, sprach sich für eine schnelle Einführung einer Währungsunion aus (Kantzenbach 1990). Schließlich beurteilten Sinn und Sinn die Währungsunion - allerdings erst im Nachhinein - als im Grundsatz politisch unverzichtbar und ökonomisch weitgehend bedenkenlos (vgl. Sinn und Sinn 1993). Alles in allem aber fällte Bundeskanzler Kohl seine Entscheidung weitgehend unabhängig von der Diskussion der wissenschaftlichen Berater: Am 7. Februar 1990 kündigte er die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion zum Stichtag 1. Juli 1990 an. Viele, auch im Kabinett, wurden davon überrascht, wenn nicht sogar überrumpelt. „Was auch immer die politischen Protagonisten der Vereinigung im Bundeskanzleramt angetrieben hat", so Priewe (2000, S. 1), „eine ökonomische Konzeption, auch nur rudimentärster Art, hatten sie nicht." Aber die innerdeutsche Währungsunion war insgesamt eine Entscheidung, die aus politischen und nicht aus ökonomischen Zielsetzungen entstanden war. Bundeskanzler Kohl wollte unumkehrbare Fakten schaffen, welche die deutsche Vereinigung unumstößlich macht (Siebert 1992, S. 19). In diesem Sinne konnte man an der makroökonomischen Sinnhaftigkeit der Währungsunion zwar durchaus begründete Zweifel anmelden. Ihren polit-ökonomischen Sinn hatte die Politik selbst aber wohl früher erkannt als die Ökonomen. Denn die Währungsunion würde nicht nur außen- und innenpolitisch Fakten schaffen, die die Glaubwürdigkeit des Projekts Wiedervereinigung entscheidend erhöhen sollten. Sie legte damit vielmehr den Orientierungsanker für die Transformation der DDR-Wirtschaft in ein markwirtschaftliches System. Solche Orientierungsanker stellten sich im weiteren Verlauf zur Überwindung zeitlicher 5
Vgl. Lang und Ohr (1989) sowie Smeets (1989).
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
57
Inkonsistenzen der Transformation in allen ehemals sozialistischen Ländern als in der Tat sehr bedeutsam heraus. Kohl erkannte die Ankerfunktion für sein Projekt offensichtlich. Diese Einsicht wurde sicherlich auch dadurch befördert, dass sein Projekt weniger die Transformation als vielmehr die Wiedervereinigung war, und zwar während seiner Amtszeit. So war es für die Ökonomen ohnehin sinnlos, an dem Vorhaben der schnellen Währungsunion Kritik anzubringen, gerade weil diese als ein zentraler Hebel zur Verwirklichung des historischen Projekts Kohls - der Wiedervereinigung - diente. Damit boten die Ökonomen aus der Sicht der Politik so lange keinerlei Hilfe, wie sie sich mit ihrer Kritik außerhalb der Währungsunion als einer unumstößlichen Strukturentscheidung bewegten. Für Kohl wurden sie erstmals zu einem Störfaktor der Wiedervereinigung. Die Währungsunion kam ohne sie. Konkret wurden Löhne und Gehälter sowie Renten, Pensionen, Stipendien und bestimmte Sozialleistungen zum Kurs 1:1 umgestellt. Kinder bis zu 14 Jahren durften Bargeld und Sparguthaben bis 2000 DDR-Mark im Kurs 1:1 umtauschen, Personen im Alter von 15 bis 59 Jahren bis 4000 DDR-Mark und Personen ab 60 Jahren bis zu 6000 DDR-Mark. Was darüber lag, wurde im Kurs 2:1 getauscht, die im Vereinigungsjahr spekulativ erworbenen Bestände gar nur im Verhältnis 3:1. Finanzielle Ansprüche und Schulden, insbesondere die Unternehmensschuld in Höhe von 260 Mrd. DDR-Mark und der Bestand an Hauskrediten in Höhe von 108 Mrd. DDR-Mark wurden zum Kurs 2:1 umgestellt. Für Preis- und Lohnkontrakte sowie Rentenansprüche galt der Satz 1:1.
3.3. Bewertung aus ökonomischer Sicht Aus der Sicht der Politik erschien die Währungsunion neben ihrer Ankerfunktion auch deshalb unumgänglich, weil man hoffte, den DDR-Bürgern damit den Anreiz zur Übersiedlung in den Westen zu nehmen. Doch steckte hinter dem Übersiedlungsdruck im Grunde kein währungspolitisches Problem, sondern ein realwirtschaftliches (File 1990, S. 135). Die wirtschaftlichen Probleme der DDR, vor allem die erheblich niedrigere Produktivität, waren die Ursache für das starke Wohlstandsgefälle, und dies war letztlich für die Umsiedlung verantwortlich. Von den meisten Ökonomen wurde von daher schon vor der Vorstellung gewarnt, dass eine frühe Währungsunion diese Probleme lösen könne. Als weiteres Problem wurde der Geldüberhang gewertet. Bei einem erst späteren Übergang in eine Währungsunion hätte dieser zunächst einmal durch die Freigabe der Preise abgebaut werden können, was mit erheblichen Preissteigerungen verbunden gewesen wäre (Peters 1990, S. 388). Dagegen hätte eine frühe Währungsumstellung leicht zu einer gesamtdeutschen Inflation führen können, wenn der Geldüberhang zu einer massiven Befriedigung angestauter KonsumwUnsche genutzt worden wäre. Tatsächlich stieg die Inflation 1992 in Ostdeutschland auf 13,5 Prozent, gesamtdeutsch auf 5,1 Prozent (Priewe 2000, S. 4). Im Nachhinein betrachtet ist es allerdings durchaus zweifelhaft, dass der westdeutsche Inflationsanstieg eine Folge des Geldüberhangs in der ehemaligen DDR gewesen ist. Denn bereits vor dem Mauerfall hatte es über eine längere Zeit eine monetäre Expansion gegeben. Hinzu kommt, dass der Nachfragesog außerhalb einer Währungsunion nur dann hätte verhindert werden können, wenn man sich entwe-
58
Thomas Apolte und Dirk
Kirschbaum
der für flexible Wechselkurse oder für einen entsprechend hohen Wechselkurs der DDR-Mark im Vergleich zur DM entschieden hätte. Ohnehin wäre ein fester Wechselkurs angesichts der großen Verwerfungen in der DDR-Wirtschaft mit erheblichen Glaubwürdigkeitsproblemen behaftet gewesen. Dies bedeutet: Sofern die ökonomischen Befürchtungen über die Wirkungen der Währungsunion zutreffend waren, so hätte ein Festkurssystem entweder nicht mit einem glaubwürdigem Wechselkursversprechen verbunden werden können, oder das System hätte seine behaupteten Vorteile gegenüber einer Währungsunion nicht entfalten können. Denn auch ein glaubwürdiger fester Wechselkurs hätte keine Pufferfunktion übernehmen können. Eine Dämpfung des Wettbewerbsdrucks von Seiten der Bundesrepublik Deutschland und eine Abschottung der westdeutschen Inflationsrate vom ostdeutschen Geldüberhang hätten ebenfalls nicht stattgefunden. Hätte ein Festkurssystem dagegen nicht mit einem glaubwürdigen Wechselkursversprechen verbunden werden können, so wären die Vorteile des Festkurssystems gegenüber einem System flexibler Wechselkurse zweifelhaft gewesen. In diesem Sinne wäre ein System flexibler Wechselkurse zwischen den beiden deutschen Staaten zunächst einmal die einzige wirkliche Alternative zur Währungsunion gewesen. Im System fester Wechselkurse ebenso wie im Falle der Währungsunion stellte sich schließlich gleichermaßen die Frage nach dem ökonomisch gebotenen Wechselkurs. Die schließlich verabschiedete Lösung galt als Kompromiss zwischen der politisch motivierten Argumentation der Regierung für eine vollständige lil-Umstellung aller Vermögenswerte und den Empfehlungen nahezu aller Politik beratenden Institutionen inklusive der Deutschen Bundesbank, die für einen zum Teil erheblich schlechteren Umtauschsatz plädiert hatten. Die überwiegende Mehrheit der Ökonomen vertrat die Auffassung, die DDR-Bevölkerung würde im Zuge der Währungsunion hohe Geldvermögensgewinne realisieren und damit inflationäre Entwicklungen auslösen. Diese Sorge erwies sich jedoch im Nachhinein als unbegründet. Nachdem das Wechselkursverhältnis auf dem Schwarzmarkt unmittelbar nach der Maueröffnung in der Spitze 11:1 betrug, stellte sich im Zuge der wirtschaftlichen Vereinigung schnell heraus, dass der Umtauschkurs von 1:1 für alle Stromgrößen tatsächlich in etwa die Kaufkraftparitäten zwischen beiden Währungen widerspiegelte.6 Fazit: Die Entscheidung zu Gunsten der Währungsunion war zweifellos ganz überwiegend von politischem Interesse geprägt und musste unter enormem Zeitdruck getroffen werden. Ohne den Schritt zur Währungsunion wäre die Einigung Deutschlands zumindest aufgeschoben worden. (Makro-) Ökonomische Aspekte sind während des Entscheidungsprozesses bewusst in den Hintergrund gestellt worden. Ob allerdings eine stärkere Berücksichtigung makroökonomischer Aspekte zu einem besseren Ergebnis geführt hätte, darf aus heutiger Sicht zumindest bezweifelt werden. Es mag der Zufall
6
Die ersten systematischen Kaufkraftvergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland findet man in: -
DIW, Wochenbericht 21/90, S. 294, Ifo, Ifo-Schnelldienst 43, 13/90, S. 24-26, Statistisches Bundesamt, Zahlen, Fakten Trends: Extra 09/90-2.
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
59
mit im Spiel gewesen sein, dass sich der symbolisch bedeutsame Umtauschkurs der Stromgrößen von 1:1 als makroökonomisch weitgehend problemlos herausgestellt hatte. Tatsache ist aber, dass auch in dieser Hinsicht der Einfluss der wissenschaftlichen Politikberater gering war. Trotz dieses geringen Einflusses der Politikberatung hielt sich der Schaden für die Volkswirtschaft in Grenzen. 7 Dies unterscheidet die Währungsunion geradezu dramatisch von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik während der Wiedervereinigung. Auch hier wurden im Wesentlichen die westdeutschen Systeme auf Ostdeutschland Ubertragen. Und auch hier boten die Ökonomen keine wirtschaftspolitischen Alternativen, die für die Politik akzeptabel erschienen.
4.
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
4.1. Ausgangslage Die Ausgangslage mit Blick auf die Sozialpolitik war dramatisch. Eine Arbeitslosenversicherung gab es nicht, ein dem westlichen oder einem dazu ernsthaft als Alternative dienendes Rentenversicherungssystem ebenfalls nicht. Das Gleiche galt für das Gesundheitswesen. Im Westen war die Lage der Sozialversicherungssysteme zur Zeit der Wiedervereinigung relativ günstig. Dies ergab sich aus der guten wirtschaftlichen Entwicklung in Westdeutschland seit Mitte der 1980er Jahre und dem darauf folgenden Wiedervereinigungsboom. Bei näherem Hinsehen wäre der vor allem demografisch bedingte Reformbedarf zwar auch zu dieser Zeit bereits deutlich sichtbar gewesen. Doch in der Politik sollten diese Probleme noch über einige Jahre hinaus kaum eine Rolle spielen. Aktueller Handlungsbedarf wurde jedenfalls nicht gesehen, wenn man von einzelnen Strukturreformen wie dem des Rentenreformgesetzes von 1992 absieht. Insofern galten die sozialen Sicherungssysteme der alten Bundesrepublik - zumindest unter den Politikern - durchaus noch als vorbildlich. Ganz analog dazu gab es von Seiten der Politik praktisch keinerlei Absichten, das bestehende kollektivvertragliche Tarifsystem des bundesdeutschen Arbeitsmarktes grundlegend zu überdenken. Auch hier war der Reformbedarf zwar seit langem offensichtlich, doch war dies noch in keiner Partei zu einem politischen Willen gereift. Die günstige wirtschaftliche Entwicklung hatte auch hier viel Reformdruck genommen. Bis zum 1. Halbjahr 1991 war die Arbeitslosenquote in der alten Bundesrepublik auf immerhin nur noch 6,3 Prozent gesunken. Gleichzeitig war die Zahl der Beschäftigten von 1985 bis Anfang 1991 um rund 2,5 Mio. angestiegen. In Ostdeutschland allerdings lösten der Zusammenbruch des Sozialismus und die sich anschließende erste Transformationsphase eine Zunahme der Arbeitslosigkeit aus, die auch im Vergleich zu anderen Transformationsländern beispiellos war. Lag sie noch im Juni 1990 - also unmittelbar vor dem Start der Währungsunion - bei nur 1,3 Prozent, so stieg sie innerhalb eines Jahres auf über 12 Prozent an; und das bei weiter steigender Tendenz.
7
Dieses Urteil teilt auch Thieme (1994) in seiner Bilanz zur deutsch-deutschen Währungsunion.
60
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
4.2. Handlungsempfehlungen der Politikberater und politische Entscheidungen Sieht man die Publikationen zur Transformationspolitik in Ostdeutschland heute noch einmal durch, so fällt auf, dass es bemerkenswert wenig Widerstand gegen die offiziell verfolgte Politik gab. Dies gilt vor allem im Vergleich zu der teilweise leidenschaftlich geführten Debatte um die Geld- und Währungspolitik. Bemerkenswert ist dies aber auch deshalb, weil es nicht die Geld- und Währungspolitik und letztlich auch nicht die ebenfalls intensiv diskutierte Privatisierungspolitik war, die die nachfolgende wirtschaftspolitische Dauermisere des vereinten Deutschlands ausgelöst hat, sondern recht eindeutig die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Mit dem Einigungsvertrag war die Entscheidung zur Übernahme der bundesdeutschen Strukturen praktisch gefallen. Es ging von da an nur noch um die technische Umsetzung des ganzen Projekts. Vor allem mit Blick auf die Sozialpolitik gab es nur sehr wenige Anregungen von Seiten der Wirtschaftswissenschaftler. Eine große Zahl viel beachteter Publikationen widmete der Sozialpolitik im engeren Sinne praktisch keine Zeile. Sofern es Stellungnahmen zur Sozialpolitik gab, so kamen sie aus dem engeren Kreis der sozialpolitischen Politikberatung des Arbeits- und Sozialministeriums. Entsprechend fielen die Voten aus. So schrieb Schmähl (1990, S. 183) mit Blick auf die Rentenversicherung: „Hier herrscht in Ost wie West weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die wichtigsten Grundelemente des in der Bundesrepublik bestehenden Systems [...] auch in Zukunft im vereinten Deutschland gelten sollen." Der Kronberger Kreis (1991, S. 44) hat immerhin Reformen für die Zeit nach der Bewältigung der unmittelbaren Umstellungsprobleme gefordert: „Die Reform der Alterssicherung und die Reform des Gesundheitswesens bleiben auch in einem größeren Deutschland auf der Tagesordnung." Ähnlich wie in der Sozialpolitik sah es auch in der Arbeitsmarktpolitik aus. Auch hier wurde zunächst einmal die Übernahme des bestehenden Systems akzeptiert, während für die Zeit danach Reformen für Gesamtdeutschland empfohlen wurden. Nachdem der Einigungsvertrag unterschrieben war, hatte die wissenschaftliche Politikberatung gerade im Hinblick auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Grunde schon gar keine andere Wahl mehr, als die gegebenen Strukturentscheidungen zunächst einmal zu akzeptieren. Denn in einem vereinten Deutschland unter einer einheitlichen Verfassung und einem einheitlichen Rechtssystem waren zwei unterschiedliche Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mehr denkbar, ganz abgesehen von den juristischen Schranken im Hinblick auf eine prinzipiell andere Auslegung der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit. Umgekehrt bedeutet dies aber, dass die Politik vom Fall der Mauer am 9. November 1989 bis zur Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990 weitgehend unabhängig von einer ergebnisoffenen wirtschaftspolitischen Politikberatung handelte. Vom 31. August 1990 an gab es dann nur noch die Möglichkeit zur Schadensbegrenzung innerhalb der auf das neue Bundesgebiet übertragenen Strukturen der alten Bundesrepublik. Allerdings gab es auch danach noch erheblichen Beratungsbedarf, und zwar sowohl in der Arbeitsmarkt- als auch in der Sozialpolitik. Hierzu seien zwei eng miteinander verwandte Beispiele genannt, in denen die Politik jeweils den Weg des geringsten Wider-
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
61
standes ging und von der wissenschaftlichen Politikberatung praktisch nicht daran gehindert wurde.
4.3. Das Beispiel der Rentenpolitik Die Übernahme des Systems der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) für die neuen Bundesländer brachte ein entscheidendes Problem mit sich, welches mit der Berechnung der Ansprüche an die Altersbezüge (Ρ) zusammen hing. Diese berechnen sich nach der Formel: Ρ = BP-RF
• RW ,
wobei BP die Zahl der Beitragspunkte bezeichnet, RF den Rentenartenfaktor, der im Falle der Altemsrente eins beträgt, und RW den aktuellen und jährlich anzupassenden Rentenwert. Ein Durchschnittsverdiener erwirbt durch seine Beiträge pro Jahr einen Beitragspunkt BP, wer mehr oder weniger verdient und damit in die Rentenkassen einzahlt als der Durchschnitt, erhält entsprechend mehr oder weniger als einen Beitragspunkt. Hier nun stellte sich die Frage der Bewertung von fiktiven Beitragsjahren der ostdeutschen Rentner. Schon die Ermittlung der anrechnungsfähigen Beitragsjahre fiel ausgesprochen großzügig aus, wobei im Prinzip jedes Jahr in Berufstätigkeit angerechnet wurde, ganz unabhängig von den spezifischen Erwerbsbiografien im Sozialismus und ihrer im Vergleich zu Westdeutschland sehr unterschiedlichen Bedeutung. Hinzu kam aber, dass die Frage geklärt werden musste, welcher Lohn zu DDR-Zeiten als durchschnittlich gelten und damit die Anrechnung genau eines Beitragspunktes begründen sollte. Hier war es politisch nicht konsensfähig, die DDR-Löhne nach dem offiziellen Umtauschkurs von 1:1 beim Vollzug der Währungsunion ins Verhältnis zum durchschnittlichen Lohnniveau in Westdeutschland zu setzen. Dies hätte die ostdeutschen Rentner absolut gesehen zwar immer noch besser gestellt als zu DDR-Zeiten, in Relation zu den Westrentnem aber erheblich schlechter dastehen lassen. Auch in Relation zu den ostdeutschen Arbeitnehmern hätten sie schlechter dagestanden, weil diese ihre Löhne sowie die daran gekoppelten Lohnersatzleistungen binnen kurzer Zeit auf etwa 80 Prozent des Westniveaus anheben konnten. So wählte die Politik einen anderen Weg. Am Ende dieses Weges wurden die Ostrentner zu den klaren Gewinnern der Wiedervereinigung. Von Beginn an lag das durchschnittliche Alterseinkommen eines weiblichen Rentners in Ostdeutschland absolut gesehen höher als jenes im Westen. Seit Ende der 1990er Jahre gilt dies schließlich auch für die männlichen Rentner. So erhielt ein männlicher Altersrentner in Ostdeutschland mit 1064 € eine um 9 Prozent höhere Rente als ein westdeutscher Rentner, der 976 € bezog. Eine durchschnittliche Rentnerin aus den neuen Bundesländern bezog mit 649 € sogar 40 Prozent mehr als eine Rentnerin in Westdeutschland, welche sich im Durchschnitt mit lediglich 463 € begnügen musste (Rentenversicherungsbericht 2002, S. 33 f.). Formaljuristisch betrachtet sind sowohl das Verfahren der Übertragung des Systems als auch die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Rentenansprüche nicht zu beanstanden. Aus ökonomischer Sicht aber ergab sich daraus ein geradezu irrwitziges Ergebnis. Ob dieses Ergebnis von der Politik vorhergesehen und bewusst - etwa mit Blick auf die Wahl im Jahre 1994 - kalkuliert
62
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
worden war oder ob es lediglich das Ergebnis unbedachten formaljuristischen Übertragens gewesen ist, mag dahingestellt bleiben. Von Seiten der wissenschaftlichen Politikberatung wie übrigens auch von Seiten der kritischen Öffentlichkeit gab es gegen dieses Verfahren aber praktisch keine Einwände.
4.4. Das Beispiel der Tarifpolitik am Arbeitsmarkt Eng hiermit verknüpft ist die Tarifpolitik am Arbeitsmarkt. Auch hier stand eine von ökonomischen Restriktionen weitgehend unbeeinflusste Angleichung der Einkommensverhältnisse im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, ohne dass die wissenschaftlichen Politikberater hiergegen wirksam intervenieren konnten. Dabei sind die ökonomischen Schäden in diesem Falle noch ungleich bedeutsamer, weil es nicht allein um Umverteilung geht. Denn die Höhe des Lohnniveaus ist ein entscheidender Faktor bei der Bestimmung des Beschäftigungsniveaus. Schon wegen der zunächst noch ungeklärten Eigentumsverhältnisse hätte es unbedingt tarifpolitische Übergangsregeln geben müssen, weil den recht aggressiv auftretenden Gewerkschaften wegen der unklaren Eigentumsverhältnisse keine vergleichbare Vertretung der Unternehmensinteressen gegenüber stand. In vielen anderen Transformationsländern hat es aus genau diesem Grunde entsprechende Übergangsregeln gegeben, die häufig gerade für noch nicht privatisierte Unternehmen galten. Die Problematik der Lohnpolitik in Deutschland stellte sich in Ostdeutschland aber noch wesentlich schärfer dar als in den übrigen Transformationsländern. Die Lohnpolitik stand mit der Vereinigung nämlich vor einem deutschlandspezifischen Dilemma, welchem durch die üblichen Mäßigungsappelle an die Tarifpartner grundsätzlich nicht beizukommen war. Während sich die Lohnfindung in den übrigen Transformationsländern an den internen Verhältnissen orientierte, bezog sie sich in Ostdeutschland von Beginn an auf das westdeutsche Niveau - und mit der von Beginn an angepeilten Angleichung an das Westniveau wurden nahezu alle Lohnersatzleistungen und staatlichen Transfers in die Aufholjagd nach dem Westniveau einbezogen. Dies galt bis hin zur Sozialhilfe, denn diese orientiert sich am soziokulturellen Existenzminimum und leitet sich damit indirekt ebenfalls vom durchschnittlichen Einkommensniveau ab. Einzig die Rente war in gewisser Weise zumindest für die Bestandsrentner von den Lohnsteigerungen unabhängig. Aber dafür war ja im Wege der oben besprochenen Übertragung des westdeutschen an das ostdeutsche System ebenfalls schon gesorgt. Die Wirtschaftswissenschaftler haben zwar immer wieder vor überzogenen Lohnforderungen gewarnt. Das Problem ist aber, dass solche Warnungen angesichts des spezifisch deutschen Dilemmas verhallen mussten. An dieser Stelle hätte man weiter gehen müssen, und zwar auf einem Weg, der dieses Dilemma ernst nimmt. Denn ein Lohnniveau im Osten, welches dem Niveau der Arbeitsproduktivität bei Vollbeschäftigung entsprach, hätte nicht höher als etwa 30 Prozent des Westniveaus sein dürfen. Es ist grundsätzlich aber undenkbar, dass sich so etwas in einem vereinten Deutschland in irgendeiner Hinsicht politisch hätte durchsetzen lassen können. Auf der anderen Seite wurde der Aufholprozess, der sich in allen erfolgreichen Transformationsländern Mittelund Osteuropas in Wachstumsraten oberhalb des EU-Durchschnitts niederschlägt, in Ostdeutschland vor allem durch die Aufholjagd bei den Löhnen abgebrochen, sofern er
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
63
denn überhaupt je als ein sich selbst tragender Prozess bezeichnet werden konnte. Sinn und Sinn warnten bereits 1991 vor den Folgen der von ihnen so genannten HochlohnHigh-Tech-Strategie, bei der zunächst einmal die Löhne steigen und darüber Arbeitslosigkeit induzieren, und bei der der dann allmählich einsetzende Kapitalbildungsprozess im Osten die Arbeitsproduktivität in jene Höhe treibt, bei der die hohen Löhne wieder mit Vollbeschäftigung vereinbar sind (vgl. Sinn und Sinn 1993, S. 162 ff.). Die Warnung von Sinn und Sinn bezog sich aber im Wesentlichen auf die in der Zwischenzeit herrschende Arbeitslosigkeit, was für sich genommen schlimm genug gewesen wäre. Doch die Folgen der Hochlohn-High-Tech-Strategie sind noch wesentlich schlimmer. Denn ein voreilig auf das Niveau eines hochproduktiven Industrielandes angehobenes Lohnniveau verhindert grundsätzlich, dass die notwendigen Investitionen zur Erreichung der hohen Produktivität unter Vollbeschäftigung überhaupt getätigt werden. Vielmehr wird der Aufholprozess mit der Lohnanhebung abgeblockt, und die Arbeitslosigkeit wird persistent. Warum das so ist, lässt sich anhand der folgenden Überlegungen nachvollziehen. Ausgegangen sei zunächst von den Bedingungen für ein Gewinnmaximum am Arbeitsund Kapitalmarkt in Ostdeutschland (O) und Westdeutschland (W): X'.(N)
= w,
i=W,0,
Χ',(Κ)
=η
i=W,0.
Danach sind die Grenzproduktivitäten der Arbeit X',{N) bzw. des Kapitals X',{K) in beiden Landesteilen jeweils so groß wie der Lohnsatz w, bzw. die Kapitalrendite r¡. Dies betrifft aber nur die kurze Frist und sorgt bei flexiblen Löhnen für geräumte Arbeitsmärkte. In der längeren Frist kommt es nämlich zu Anpassungen des Kapitalstocks zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Dies lässt sich anhand der Produktionsfunktion für West- und Ostdeutschland verdeutlichen: Χ^Ν,,Κ,)
i=W.O.
In Einheiten pro Arbeitnehmer mit x¡=X/N¡ geschrieben, lautet die Produktionsfunktion: χ. (1, kt )
i=W,0,
wobei k, die Kapitalintensität K¡/N¡ kennzeichnet. In einem Kapitalwanderungsgleichgewicht zwischen West- und Ostdeutschland muss die Kapitalrendite η für beide Landesteile gleich sein. Unter der Bedingung eines Gewinnmaximums bedeutet dies, dass auch die Grenzproduktivität des Kapitals in beiden Landesteilen identisch sein muss und damit gilt: x'w (kw ) = x'0 (k0 ). Weil schließlich die Kapitalintensitäten k¡ die Umkehrfunktion der Grenzproduktivität sind, folgt daraus, dass in einem Kapitalwanderungsgleichgewicht im Gewinnmaximum die Kapitalintensitäten in beiden Landesteilen gleich hoch sein müssen. Diese Zusammenhänge lassen sich grafisch anhand von Abbildung 1 veranschaulichen.
64
Thomas Apolte und Dirk Kirschbaum
Abbildung 1: Kurz- und langfristige Anpassung des Lohnniveaus
Der obere Teil der Grafik zeigt die kurzfristige Anpassung, der untere die langfristige. Rechts ist die Lage in Ostdeutschland charakterisiert, links jene in Westdeutschland. In der ursprünglichen Lage von Angebot (NSwx> bzw. rfoo) und Nachfrage (N°wo bzw. N°oo) am Arbeitsmarkt (obere Grafik) kommt es bei flexiblen Löhnen zu einem Markt räumenden Gleichgewicht mit den Löhnen im Westen und woo im Osten. Im unteren Teil der Grafik ist die Kapitalintensität (kw bzw. ko) für einen jeweils gegebenen Kapitalstock abgetragen. Hieraus lässt sich nun erkennen, dass in dem kurzfristigen markträumenden Gleichgewicht die Kapitalintensität im Osten geringer ist als im Westen, also koooi=wvi gestiegen ist. Dies ist der Anpassungsprozess, wie er sich im Prinzip überall in den erfolgreichen Transformationsländem abspielt - überall, nur eben nicht in Ostdeutschland.
Erfahrungen mit der Politikberatung zu Beginn der deutschen Einheit
65
Abbildung 2: Die Blockade der Anpassung an das Westniveau
Vielmehr hat man in Ostdeutschland jene Lohnanpassung gleich vorweggenommen, welche sich normalerweise erst im Prozess der Erhöhung der Kapitalintensität ergibt. Wozu das führt, zeigt Abbildung 2. Solange noch kein Kapital zugeflossen ist, führt eine Anpassung der Löhne auf das Westniveau (hier vereinfachend als Anpassung auf 100 Prozent des Westniveaus dargestellt) zu Hochlohnarbeitslosigkeit (AL). Die sich unter der Bedingung der Markträumung am Arbeitsmarkt normalerweise einstellende kleinere Kapitalintensität koo ΐδ « a* C > T S a οο ï a* § ë « g ω c β SQ « fä? J I S..E 3 S X § äss" g β Ä ¡ S. e li l i l í a™ s g s 2 ^ "«5 β c i-J *3 Ό (Λ m aoÑJi ë gill ι 9
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Bernd Hansjürgens
238
budgets auf die anlagenspezifische Zuteilung an Emissionsrechten und beinhaltet insofern die Primärallokation der Emissionsrechte. Gesamtemissionsmenge im Nationalen Allokationsplan
(Makroplan)
Ausgangspunkt des Makroplans sind das Kyoto-Protokoll von 1997 sowie die Lastenverteilung (Burden Sharing) zwischen den Mitgliedstaaten der EU aus dem Jahre 1998. Im Lastenverteilungsgrundsatz wurde festgelegt, welche Reduktionsverpflichtungen von den einzelnen Mitgliedstaaten der EU zu übernehmen sind. Für die Bundesrepublik Deutschland wurde für die erste Kyoto-Verpflichtungsperiode 2008-2012 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von 21% gegenüber dem Basisjahr 1990 festgelegt. Der Makroplan konkretisiert diese Vorgaben auf nationaler Ebene und teilt das Treibhausgasbudget auf Treibhausgase und Sektoren auf. Die Gesamtemissionsmenge wird dazu in absoluten Mengenangaben bestimmt und in die Treibhausgase CO2 und übrige Treibhausgase aufgeteilt. Auf dieser Basis wird das Treibhausgas-Emissionsbudget für 2005-2007 bestimmt. Tabelle 1:
Treibhausgasemissionen (ohne Senken) in Deutschland 2005-2007 und 2008-2012: Der Makroplan auf nationaler Ebene co2Emissionen
CH4
Basisjahr
1014,4
101,1
87,9
6,4
1,8
6,6
203,7
1218,2
1990
1014,4
101,1
87,9
3,5
2,7
3,9
199,1
1213,5
1995
898,8
69,8
78,6
6,4
1,8
6,6
163,1
1061,8
1998
881,4
60,9
62,3
7,0
1,5
6,0
137,7
1019,1
1999
854,7
59,3
59,0
7,3
1,2
4,4
131,3
986,0
2000 (vorl.)
856,8
54,5
59,4
6,6
0,8
4,0
125,3
982,1
2001 (vorl.)
873,5
52,2
60,2
8,1
0,7
3,3
124,6
998,1
2002 (vorl.)
858,0
127
990
123
974
116
962
116
976
N2O
HFCs
PFCs
SF 6
Summe Nicht-C0 2
Summe
in Millionen Tonnen C(>2-Äquivalente
noch keine Angaben
Durchschnitt 2000-2002 (NichtC0 2 :1999-2001)
863
55
Ziel 2005-2007
851
§
Ziel 2008-2012
846
Prognose ohne zusätzliche Maßnahmen 2010
860
40
60
7
1
4
Q
56
16
1
3
Quellen: Umweltbundesamt (UBA): Nationales Emissionsinventar 2003; C02-Emissionen für 2000 bis 2002 nach Berechnungen des DIW Berlin; Prognose ohne zusätzliche Maßnahmen nach UBA-Vorhaben „Politikszenarien ΠΙ".
239
Märkte flir den Klimaschutz
Tabelle 2:
COrEmissionen nach Energiebilanz-Sektoren von 1990-2002 sowie Emissionsbudgets für die Perioden 2005-2007 und 2008-2012 Energiesektor (E)
Industrie1' (I)
Ver- HausEmissions- GHD kehr halte budgets fürE+I andere Sektoren
Summe andere Sektoren
Gesamt
in Millionen Tonnen CO2 pro Jahr
Basisjahr 1990/1995 1998
439
197
636
90
159
129
378
1014
365
143
508
66
176
131
373
881
1999
351
141
492
62
181
120
363
855
2000 (vorl.)
361
142
503
59
179
116
354
857
2001 (vorl.)
369
137
506
63
175
130
368
874
2002 (vorl.)
373
133
506
59
173
120
352
858
Durchschnitt 2000-2002
368
137
505
61
175
122
358
863
Durchschnitt 2000-2002 (temp.bereinigt)
368
139
507
64
175
132
371
878
488
58
178
127
363
851
480
58
181
127
366
846
136
495
58
180
128
366
861
135
488
58
184
130
372
860
Verteilung 2005-20072) Verteilung 2008-20123' Prognose ohne zusätzliche Maßnahmen
keine weitere Differenzierung
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2005-200^
Prognose ohne zusätzliche Maßnahmen 2010
353
" Einschließlich Industrieprozesse.21 Aus Selbstverpflichtung minus 20 Mio. t gegenüber 1998; keine Anrechnung für Kernenergieausstieg. 3> Aus Selbstverpflichtung minus 35 Mio. t gegenüber 1998; für Kernenergie werden 7 Mio. t angerechnet.4) Interpolierte Werte. Quellen: Umweltbundesamt (UBA): Nationales Emissionsinventar 2003; CO r Emissionen für 2000 bis 2002 sowie sektorale Aufteilung nach Berechnungen des DIW Berlin; Prognose ohne zusätzliche Maßnahmen nach UBA-Vorhaben „Politikszenarien ΙΠ".
Das CO2 Emissionsbudget wird danach in die Bereiche (1) Energie, (2) Industrie, (3) Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (GHD), (4) Verkehr und (5) Haushalte aufgeteilt. Die ersten beiden der genannten Sektoren nehmen am europäischen Emissionshandel teil, so dass die CCVEmissionsmengen auf sie herunter gebrochen werden müssen. Dabei wird die Klimaschutzvereinbarung zwischen der Bundesregierung und der Deutschen Industrie vom 9. November 2000, die eine Reduktion der CCh-Emissionen um 45 Mio. t bis 2010 und um 20 Mio. t bis 2005 vorsieht, sowie die Vereinbarung zur Minderung der C02-Emissionen und der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung vom
Bernd Hansjürgens
240
19. Dezember 2003 berücksichtigt. Die Verteilung der Emissionsberechtigungen auf die Treibhausgase und Sektoren im deutschen Nationalen Allokationsplan kann den Tabellen 1 und 2 entnommen werden, die den Stand vom Februar 2004 aufweisen. 18
3.2. Primärallokation der Emissionsrechte • Bei den in Annex ΙΠ der Richtlinie festgelegten Kriterien sind einige auf die Bestimmung der Gesamtemissionsmenge, also den Makroplan (siehe oben), ausgerichtet. Andere hingegen betreffen die Primärallokation der Emissionsrechte. Danach sind die folgenden Aspekte zu berücksichtigen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2004): — die EU-Lastverteilung im Rahmen des Kyoto-Protokolls, — das Verhältnis der von der Richtlinie erfassten Emissionen zu den Gesamtemissionen des jeweiligen Mitgliedstaates, — das technische Emissionsminderungspotenzial, — die Übereinstimmung mit den übrigen rechtlichen und politischen Instrumenten in der Gemeinschaft, — die Berücksichtigung unvermeidbarer Emissionssteigerungen infolge neuer legislativer Vorgaben, — die gemeinschaftlichen Regelungen zur Beihilfenkontrolle, — die Einbeziehung neuer Marktteilnehmer, — die Berücksichtigung von bereits in der Vergangenheit erbrachten Vermeidungsleistungen (,early action'), — die Berücksichtigung .sauberer' und energieeffizienter Technologien, — die Dokumentation der Verteilung von Berechtigungen auf die einzelnen Anlagen, — die Einbeziehung der Öffentlichkeit, sowie — Angaben dazu, wie dem bestehenden Wettbewerb von Ländern oder von Unternehmen außerhalb der EU Rechnung getragen wird. Die Kriterien sollen an dieser Stelle nicht im Einzelnen diskutiert werden. Es bleibt abzuwarten, wie streng die EU-Kommission eine vergleichbare Behandlung der Unternehmen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten einfordern wird. Neben den hier aufgeführten wird sie sich dabei auch auf weitere Kriterien, wie z.B. die EU-Beihilferegelungen, stützen müssen (Bode und Butzengeiger 2003; Döring und Ewringmann 2004). Die Möglichkeiten, Industriepolitik mittels einer großzügigen Bemessung von Emissionsrechten an Unternehmen zu betreiben, sind damit sicherlich eingeschränkt ob sie komplett auszuschließen sind, ist derzeit jedoch noch nicht absehbar. Als grundlegende Zuteilungsmethode ist in Art. 10 der Richtlinie das Grandfathering vorgesehen. In der ersten Zuteilungsperiode (2005-2007) sollen mindestens 95% der Emissionsrechte und in der zweiten Zuteilungsperiode (2008-2012) sollen mindestens 90% der Emissionsrechte kostenlos vergeben werden.
18
Zur kontroversen Diskussion um den Nationalen Allokationsplan siehe auch SRU (2004).
Märkte für den Klimaschutz
Nationale Regelungen zur Primärallokation
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(Mikroplan)
Die Erstvergabe der Emissionszertifikate erfolgt bei bestehenden Anlagen als Gratisvergabe auf Basis historischer Emissionen (Grandfathering). Basisperiode für die Zuteilung der Emissionsrechte ist der Durchschnitt der CC>2-Emissionen der Anlagen in den Jahren 2000 bis 2002. Für die Erstzuteilung von Emissionsberechtigungen wird die ermittelte historische Emissionsmenge der Basisperiode mit einem Erfüllungsfaktor multipliziert, der unter 1 liegt (z.B. 0,96). Der Erfüllungsfaktor ist erforderlich, weil Sonderzuteilungen die zur Verfügung stehende Gesamtmenge an Emissionsrechten begrenzen. Die Sonderzuteilungen werden für — Early Action (geschätzte 10 Mio. t/Jahr), — prozessbedingte Emissionen (bei denen eine Reduktion der CC>2-Emissionen übermäßig teuer wäre und deshalb von einem Erfüllungsfaktor von 1 ausgegangen wird) (geschätzte 38 Mio. t) (BMU 2004b), — einen Reservefonds für Neuanlagen (geschätzte 5 Mio. t/Jahr) sowie — einem Reserverfonds für KWK-Strom (ca. 2 Mio. t/Jahr) vorgenommen. Sie sind erforderlich, damit die Obergrenze für die Gesamtemissionsmenge der beteiligten Unternehmen (,cap l ) nicht überschritten wird. Mit dem Erfüllungsfaktor werden die Unternehmen in Deutschland keine ausreichenden Emissionsrechte für ihre Ist-Emissionen erhalten, sofern sie keine Sonderzuteilungen erhalten. Von Ökonomen wird üblicherweise nicht das Grandfathering als grundlegende Allokationsmethode präferiert, sondern eine kostenpflichtige Versteigerung der Zertifikate z.B. in Form einer Auktion. Der Grund dafür ist, dass es bei Auktionen von Anfang an zu einer Verteilung der Zertifikate zwischen den am Emissionshandel beteiligten Unternehmen kommt, die sich an der Dringlichkeit des Bedarfs orientiert. Es bildet sich ein ,Primärmarkt' heraus, der zu einer effizienten Allokation von Ressourcen führt. Bei Versteigerungen ist die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Marktes eher gewährleistet, da der Primärmarkt durch frühe Preissignale Handelstransaktionen befördert, als wenn es allein einen nachfolgenden Handel zwischen den beteiligten Unternehmen auf dem .Sekundärmarkt' gibt. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass mit einer Versteigerung der Emissionsrechte die Verfügungsrechte (Property Rights) der Unternehmen zur Nutzung von Umweltressourcen (hier: der Nutzung der Atmosphäre als Aufnahmemedium für Treibhausgase) entwertet werden (Hansjürgens 1998b; Bonus und Hader 1998). Das Recht auf Emissionen von Treibhausgasen, das sie bisher kostenlos innehatten, wird mit einem Male kostenpflichtig. Diese bei der Auktion auftretende Umverteilung der Handlungsrechte würde bei den Unternehmen zu erheblichen Widerständen gegen den Zertifikatehandel führen und ist politisch daher kaum durchsetzbar (und im Übrigen auch rechtlich problematisch, vgl. Becker-Neetz 1988; Rodi 2004). Dies ist auch der Hauptgrund, dass trotz der ökonomischen Empfehlungen in den Lehrbüchern alle bestehenden Handelssysteme durch ein Grandfathering als Vergabemodus für die Erstallokation der Zertifikate gekennzeichnet sind (vgl. die zusammenfassende Übersicht zu den bestehenden Cap-andtrade-Systemen in Hansjürgens und Gagelmann 2003a).
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Bernd Hansjürgens
Die Wahl der kostenlosen Vergabe der Emissionsrechte ist jedoch ihrerseits mit einer Reihe von Folgeproblemen verbunden, die einer Lösung zugeführt werden müssen. Die wichtigsten sind: — die Wahl einer geeigneten Basisperiode, nach der die Erstallokation bemessen wird, — die Berücksichtigung von frühzeitigen Vermeidungsmaßnahmen (Early Action), — die Berücksichtigung von Stilllegungen von Anlagen, sowie — die Behandlung von Neuemittenten. Wahl der Basisperiode Im europäischen CCVEmissionshandel ist es nach der EU-Richtlinie möglich, eine Basisperiode ab 1990 zu wählen. Für die Unternehmen würde die Wahl einer frühen, nahe an 1990 liegenden Basisperiode bedeuten, dass die seit 1990 vorgenommenen Stilllegungen und Early Actions zu einer großen Menge an ,hot air', d.h. allein auf dem Papier bestehenden Emissionen, führen würde, denen keinerlei Produktionsanlagen gegenüberstehen. Die in Deutschland im Nationalen Allokationsplan vorgesehene Basisperiode ist jedoch nicht eine solche frühe Periode um 1990, sondern es wird die durchschnittliche Emissionsmenge der Jahre 2000 bis 2002 als Basis erfasst. Dass auf den Durchschnitt mehrerer Jahre zurückgegriffen wird, ergibt Sinn, weil hierdurch konjunkturelle Schwankungen oder zwischenzeitliche Produktionsstilllegungen (z.B. wegen Reparatur oder Wartung einer Anlage), die sich bei der Wahl eines Basisjahres nachteilig auswirken könnten, berücksichtigt werden. Kritisch zu sehen ist jedoch, dass mit den Jahren 2000 bis 2002 ein Basiszeitraum gewählt wurde, der nicht gerade durch eine positive Konjunkturentwicklung gekennzeichnet ist. Viele Unternehmen hatten daher eine unter dem langjährigen Durchschnitt liegende Produktion. Die Bezugnahme auf 2000 bis 2002 bedeutet, dass die Einsparungen an Treibhausgasen vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, die insbesondere durch die Transformation in Ostdeutschland hervorgerufen wurden19, bei der Erstzuteilung der Emissionsrechte nicht berücksichtigt werden. Dies mag angemessen sein, wenn man davon ausgeht, dass die stillgelegten Unternehmen keine Nachfolger haben und die Emissionsrechte nicht benötigt werden. Auch aus umweltbezogener Sicht mag dies begrüßt werden, da auf diese Weise verhindert wird, dass die Unternehmen mit einer so reichhaltig bemessenen Menge an Zertifikaten versorgt werden, dass (zumindest im deutschen Markt) lediglich Anbieter von handelbaren Emissionsrechten - und keine Nachfrager vorhanden sind. Jedoch ist auch zu bedenken, dass die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft ja nicht bedeutet, dass alles nur ersatzlos zusammengebrochen ist. Es ist vielmehr neues Sachkapital aufgebaut worden, und es wurden im Zuge dieser Umstrukturierung gleichzeitig frühzeitige Vermeidungsmaßnahmen ergriffen. Diese würden bei einem Grandfathering ohne jegliche Berücksichtigung der Early Action nicht berücksichtigt. Im Gegenteil: Anlagen mit hohem CO2 Ausstoß, bei denen vor Inkrafttreten des Emissionshandels keine Minderungen erfolgt sind, würden gegenüber Anlagen, bei 19
Schätzungen haben ergeben, dass etwas mehr als die Hälfte der CCVEinsparungen in Deutschland zwischen 1990 und 2000 durch die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft verursacht sind (Eichhammer et al. 2001).
Märkte fiír den Klimaschutz
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denen frühzeitige Minderungen erfolgten, diskriminiert. Die Wahl des relativ späten Basisperiode 2000 bis 2002 hat bei einem Grandfathering als Allokationsmethode also eine klare Benachteiligung von Unternehmen mit frühzeitigen Vermeidungsanstrengungen zur Folge. Hieraus ergibt sich das Erfordernis zur Berücksichtigung von Early Action, das auch von der EU-Richtlinie und im deutschen Nationalen Allokationsplan anerkannt wird. Berücksichtigung
von Early Action
Das frühzeitige Ergreifen von Vermeidungsmaßnahmen, das beim Grandfathering unberücksichtigt bleibt, kann durch Benchmarking oder durch Sonderzuteilungen von Zertifikaten für Early Action berücksichtigt werden. Zurzeit wird in Deutschland für bestehende Anlagen für den Zeitraum 2005 bis 2007 kein Benchmarking erwogen, sondern Sonderzuteilungen müssen beantragt werden. Es wird jedoch für die zweite Zuteilungsperiode ab 2008 ein Benchmarking geprüft. Zu den beiden Formen der Berücksichtigung von Early Action kann folgendes gesagt werden: Sonderzuteilungen auf Antrag. - Im Entwurf eines Nationalen Allokationsplans werden frühzeitige Vermeidungsmaßnahmen ab dem 1.1.1990 bis zum 31.12.2002 anerkannt, soweit sie eine freiwillige und zusätzliche Emissionsverminderung darstellen. Anlagenstilllegungen und Produktionsrückgänge werden hingegen nicht berücksichtigt. Die frühzeitigen Vermeidungsmaßnahmen dürfen zudem nicht wesentlich durch öffentliche Mittel gefördert worden und aufgrund anderer gesetzlicher Vorgaben eingetreten sein. Für die Berechnung werden die Emissionen im Basisjahr (2000-2002) sowie in einem früheren Bezugsjahr (ab 1990, jeweils ein Durchschnitt dreier aufeinander folgender Jahre) in Beziehung gesetzt. Es erfolgt die Multiplikation mit dem niedrigeren Produktionsoutput dieser beiden Perioden (Minimumregel), um Unterschiede im Produktionsniveau auszugleichen. Bei der Bemessung der Early Action wird eine .pauschale Effizienzentwicklung' zugrunde gelegt und daher ein Abschlag von 10% vorgenommen. Wenn also Early Action in Höhe von 1 Mio. t Kohlenstoffäquivalente vorgenommen worden sind (und entsprechend nachgewiesen werden können), werden nur 900.0001 anerkannt. Zudem wird das Volumen der Sonderzuteilungen auf insgesamt 30 Mio. t CO2 begrenzt. Sofern die gemeldeten Early Action 30 Mio. t übersteigen, erfolgt für alle Anlagen eine proportionale Kürzung der Early Action. Angenommen, die gemeldeten Early Action betragen 50 Mio. t, so würde jede Anlage nur rund 60% seiner vorzeitig ergriffenen klimaschutzpolitischen Maßnahmen als Early Action anerkannt bekommen. Dementsprechend verringert sich die Zahl der kostenlos zugewiesenen Zertifikate. Die beiden zuletzt genannten Regelungen lassen erkennen, dass das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), das für den Nationalen Allokationsplan verantwortlich zeichnet, um eine Begrenzung der Anerkennung der Early Action bemüht ist. Der Grund ist offensichtlich: Umso größer die Menge der Sonderzuteilungen aufgrund von Early Action ist, desto geringer muss wegen der Notwendigkeit der Einhaltung der caps der Erfüllungsfaktor für die bestehenden Anlagen sein.
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Bernd Hansjürgens
Beide aufgeführten Regeln zur Minderung der Anerkennung von Early Action lassen sich indes kaum rechtfertigen: Eine .pauschale Effizienzentwicklung' suggeriert, dass die freiwilligen und zusätzlichen Emissionsreduktionen den Unternehmen in den Schoß gefallen sind und kostenlos realisiert werden konnten. Jedoch ist jede Maßnahme der Emissionsvermeidung in der Vergangenheit mit Kosten verbunden. Es gibt daher inhaltlich keinen Grund, diese Maßnahmen nicht in vollem Umfang, also zu 100%, anzurechnen. Auch die Begrenzung der Early Action auf 30 Mio. t CO2 ist nicht zu rechtfertigen. Wenn sich herausstellt, dass das Volumen der gemeldeten Early Action über diese 30 Mio. t hinausgeht und eine entsprechende proportionale Kürzung der Anerkennung von Early Action eintritt, bedeutet dies, dass vor allem die Unternehmen in Ostdeutschland, bei denen in der Vergangenheit die größten Einsparungen erfolgt sind, hiervon betroffen sein werden. Sonderzuteilungen auf der Basis von Benchmarks. - Beim Benchmarking orientiert sich die Vergabe von Zertifikaten an einem branchenspezifischen Durchschnittswert, indem spezifische Emissionswerte für vergleichbare Produktkategorien aufgestellt werden. Die Erstallokation der Zertifikate richtet sich hierbei demzufolge nach dem durchschnittlichen Emissionswert pro Produkteinheit mal die aktuelle Produktionsmenge der Anlage mal den Erfüllungsfaktor. Ein Benchmarking ist instrumenteil geeignet, Early Action automatisch zu berücksichtigen. Unternehmen, die mit besonders moderner Technologie produzieren, weisen unterdurchschnittliche Emissionswerte auf. Sofern eine Verteilung nach dem Durchschnitt der Emissionswerte pro Produkteinheit erfolgt, bekommen diese Unternehmen mehr Zertifikate zugewiesen als sie benötigen. Für die Unternehmen in den ostdeutschen Bundesländern, die ganz überwiegend durch moderne Technologien gekennzeichnet sind, bedeutet dies z.B., dass sie bei einem Benchmarking in eine Verkäuferposition gelangen. Auf eine Besonderheit des Benchmarking ist jedoch hinzuweisen. So ist von Bedeutung, wie die Benchmarks gebildet werden. Wenn sie einen Brmchmdurchschnitt darstellen, dürfte der Sachverhalt unproblematisch sein. Wenn sie sich jedoch an der modernsten verfügbaren Technologie (best available technology - BAT) orientieren, werden nur die Anlagen, die diese Technologie verwenden, mit einer ausreichenden Menge an Zertifikaten ausgestattet. Die übrigen Unternehmen müssen sich dann Zertifikate auf dem Zertifikatemarkt besorgen, was ihnen insofern schwer fällt, als keine Verkäufer auffindbar sind. Die Unternehmen mit moderner Vermeidungstechnologie würden dann zwar selbst mit einer ausreichenden Menge an Zertifikaten ausgestattet, die sie in die Lage versetzt, ihre eigenen Emissionen abzudecken. Sie würden aber nicht in eine Verkäuferposition versetzt, in dem sie überzählige Zertifikate auf dem Zertifikatemarkt anbieten. Geht man davon aus, dass Early Action im Sinne frühzeitigen klimaschutzpolitischen Handelns der Vergangenheit .belohnt' werden soll, so wäre eine .Belohnung' mithin nicht mehr gegeben. Sofern Benchmarks nicht für Early Action, sondern als Schlüssel für die Erstallokation der Emissionsrechte verwendet werden, ist auf einen zweiten Aspekt einzugehen: So ist bei einem BAT-Benchmarking davon auszugehen, dass sich die modernste verfügbare Technik im Zeitablauf ändert. Demzufolge wäre im Zeitablauf auch eine An-
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passung der Benchmarks nach den technischen Möglichkeiten vorzunehmen. Dies bedeutet, dass Unternehmen, die heute über die modernste Technik verfügen, nicht davon ausgehen können, dass dies auf Dauer eine kostenlose Ausstattung ihrer Anlagen mit Emissionsrechten garantiert. Vielmehr müssen sie darauf vorbereitet sein, dass sie von einer Verkäufer- in eine Käuferposition gelangen können. Berücksichtigung
von
Stilllegungen
Nach Auffassung des BMU soll nur aktives klimaschutzpolitisches Handeln als Early Action anerkannt werden, dass Sonderzuteilungen an Emissionsrechten rechtfertigt. „Stilllegungen fallen nicht unter diese Kategorie - die schlichte Beendigung der Produktion ist keine klimaschutzpolitische Maßnahme" (BMU 2004a). Produktionsrückgänge und Stilllegungen können demnach nicht als aktive klimaschutzpolitische Maßnahmen angesehen werden. Dies ergibt sich auch aus dem rechtlichen Gleichheitsgrundsatz (siehe zum folgenden Arndt 2003, S. 35-37): Wenn zwei identische Unternehmen in der Zeit von 1990 bis 2000 ihre Emissionen jeweils halbiert haben, so sind sie gleich zu behandeln. Wenn hingegen Unternehmen A bei gleichem Output seine Emissionen halbiert hat, während Unternehmen Β den Output bei unveränderten Emissionen halbiert hat, so sind lediglich die Reduktionen von Unternehmen A als Early Action zu berücksichtigen, der Rückgang des Output bei Unternehmen Β jedoch nicht. Entfällt im Rahmen der Unternehmenstätigkeit der betriebliche Zweck (wegen einer Stilllegung) völlig, so liegt somit keine anzuerkennende Leistung vor. In gleicher Weise sind Produktionserweiterungen zu berücksichtigen, da sie den spiegelbildlichen Vorgang zu Produktionseinschränkungen und Stilllegungen darstellen. Die vom BMU für die Berücksichtigung von Early Action vorgesehene Formel ,Emissionen vorher/Produktion vorher - Emission nachher/Produktion nachher (als Drei-JahresDurchschnitt) multipliziert mit der jeweils kleineren Produktionsmenge' berücksichtigt diese Zusammenhänge. Jedoch sind mit Blick auf Stilllegungen Modifikationen - und damit Abweichungen von diesem Grundsatz - zu berücksichtigen: So ist zu prüfen, wie mit Stilllegungen umzugehen ist, wenn gleichzeitig Ersatzanlagen in Betrieb genommen wurden, wenn es sich also um keine ersatzlosen Stilllegungen handelt. Von einer Beendigung der Produktion kann dann nicht die Rede sein. Vielmehr erfolgt mit der Ersatzanlage als Komplett-Modernisierung eine Fortführung des betrieblichen Zweckes. In diesem Fall sind Stilllegungen wie Vorleistungen zu betrachten, und die Emissionsrechte sind von der alten auf die neue Anlage zu übertragen. Dem wird im deutschen Nationalen Allokationsplan Rechnung getragen. Genauso verhält es sich mit regionalen Produktionsverlagerungen, also Stilllegungen in Region A und einer neu errichteten Anlage in Region B. Die ersatzweise Neuerrichtung einer Anlage an einem neuen Standort kann wie eine räumlich an anderer Stelle erfolgende Modernisierung (einer stillgelegten Altanlage) gesehen werden. Sofern der betriebliche Zweck zwischen der alten stillgelegten und der neu errichteten Anlage identisch ist, sollte auch hier die Stilllegung als Vorleistung gesehen und entsprechend berücksichtigt werden.
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Bernd Hansjürgens
Neuanlagen Eine weitere Frage beim Grandfathering betrifft die Behandlung von Neuemittenten. Neuemittenten sind bei der Erstvergabe der Emissionsrechte noch nicht am Markt und erhalten daher nicht automatisch Zertifikate. Um sie aber nicht gegenüber den bestehenden Unternehmen am Markt zu diskriminieren, muss darüber nachgedacht werden, sie ebenfalls kostenlos mit Zertifikaten auszustatten. Nach dem Nationalen Allokationsplan erfolgt bei Neuanlagen die Zuteilung auf Basis von Benchmarks für Produktgruppen. Die Benchmarks sollen bis 2012 unverändert bleiben. Der Erfüllungsfaktor wird für diese Anlagen nicht angewendet. Fehlen Benchmarks für Produktgruppen, wird auf ein Benchmark nach dem Stand der Technik zurückgegriffen (BAT-Benchmarks). Für die Benchmark-Klasse Strom orientiert sich der Benchmark an einem gasbefeuerten GuD-Kraftwerk mit einem Nennwirkungsgrad von 57,5% und einem Jahresnutzungsgrad von 55% (365 g Kohlendioxidäquivalent/kWh). Es wird bei der Deutschen Emissionshandelsstelle im Umweltbundesamt (DEHSt) zudem ein Reservefonds gebildet, damit eine hinreichende Anzahl an Emissionsberechtigungen zur Verfügung steht. Wird die Reserve nicht benötigt, so werden die Emissionsrechte am Markt verkauft und die Einnahmen fließen dem Bundeshaushalt zu. Erweist sich die Reserve als zu klein, so kauft die DEHSt Emissionsberechtigungen am Markt aus Mitteln des Bundeshaushalts und teilt sie den Neuemittenten kostenlos zu. Neuanlagen erhalten durch diese Regelungen in jedem Fall ausreichend Emissionsrechte. Ein starkes wirtschaftliches Wachstum (mit zahlreichen Neuanlagen) würde nicht behindert werden. Mit dem Benchmarking ist gewährleistet, dass neue Anlagen zumindest bis 2012 ausreichend mit Emissionsrechten versorgt sind. Auch Kapazitätserweiterungen werden wie Neuanlagen behandelt, was aus ökonomischer Sicht positiv zu beurteilen ist. Im Kraftwerksbereich, in dem die Investitionszyklen oft bis zu 30 oder 40 Jahre sind, bedeutet dies jedoch, dass man nicht zwingend davon ausgehen kann, dass bei Neuanlagen eine ausreichende Ausstattung mit Emissionsrechten bis an das Ende des Lebenszyklus erfolgt. Aus Sicht von Kraftwerksbetreibern ist zudem zu erwarten, dass die Regelung für die Benchmark-Klasse Strom zu einer Benachteiligung von Neuanlagen der Braunkohle-Kraftwerke führt. Dies ergibt sich daraus, dass man für die Ermittlung des Benchmarks auf das emissionsärmste Verfahren (gasbefeuerte GuDKraftwerke) Bezug genommen hat. Dies mag aus umweltbezogener Sicht gerechtfertigt sein, da CO2 intensive Energieträger (z.B. Kohle) gegenüber emissionsärmeren Energieträgern (z.B. Gas) benachteiligt werden. Aus energiewirtschaftlicher Sicht stellt sich jedoch die Frage, ob dies mit energiepolitischen Zielsetzungen und regionalen Wachstumschancen in Einklang steht.
3.3. Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Markt - Zur institutionellen Ausgestaltung des Handels Für das Funktionieren des Marktes ist entscheidend, dass die Unternehmen möglichst geringe Transaktionskosten für das Auffinden von Marktpartnem und die Abwicklung von Handelsgeschäften aufbringen müssen. Zudem muss gewährleistet sein, dass ausreichend Preisinformationen vorliegen, die den Marktteilnehmern die erforderlichen Informationen bieten (siehe oben Abschnitt 2).
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Handelssysteme und ihre Beurteilung Ein C02-Emissionshandel kann bilateral zwischen den beteiligten Unternehmen, über die Einbeziehung von Intermediären und/oder über organisierte Börsen erfolgen (vgl. zum Folgenden Hansjürgens und Gagelmann 2003b). Mit bilateralem Handel ist der Austausch von Emissionszertifikaten zwischen den beteiligten Unternehmen gemeint. Danach sucht sich jeder Käufer oder Verkäufer selbst den Marktpartner und wickelt mit ihm das Handelsgeschäft ab. Während die gehandelten Mengen durch die Meldung der Transaktion beim zentralen Register erfasst werden, erfolgt im Rahmen des bilateralen Handels im Allgemeinen keine Preisinformation. Eine ausschließliche Abwicklung des Emissionsrechtehandels über den bilateralen Austausch zwischen Unternehmen wird daher als problematisch erachtet. Ein weiterer Nachteil besteht in der Möglichkeit der Ausübung von Marktmacht, wenn Unternehmen in einem Konkurrenzverhältnis stehen und (vor allem für den Käufer) keine Kaufaltemativen bestehen. Ein Nachteil wird schließlich auch darin gesehen, dass der bilaterale Handel mit hohen Transaktionskosten für die beteiligten Unternehmen einhergeht. Man kann davon ausgehen, dass sich - wie in anderen Märkten auch - mit wachsenden Marktaktivitäten weitere Handelsformen herausbilden. Hierfür spricht auch die Größe des europäischen Emissionsrechtemarktes für Treibhausgase. Es kann daher erwartet werden, dass sich in einem nennenswerten Umfang Makler/Broker an dem Handelssystem beteiligen werden. Makler und Broker erfüllen aus ökonomischer Sicht wichtige Marktfunktionen: Sie führen das Angebot und die Nachfrage am Emissionsrechtemarkt zusammen. Außerdem können sie auf eigene Rechnung Kauf- und Verkaufgeschäfte durchführen. Der Handel erfolgt bei Maklern nicht über standardisierte Verfahren (wie bei Börsen). Vielmehr werden für die Unternehmen, für die ein Geschäft vermittelt wird, maßgeschneiderte Lösungen entwickelt. Aus Sicht der Unternehmen können durch die Einbeziehung von Maklern Transaktionskosten gespart werden. Für die Vermittlung des Handelsgeschäfts ist eine Vermittlungsgebühr zu entrichten. In aller Regel verbessern Makler auch die Markttransparenz. So werden von ihnen Preisinformationen regelmäßig nach außen gegeben. Hierdurch scheint dem Erfordernis der Preisinformation insgesamt ausreichend Rechnung getragen zu werden. Eine dritte Form der Abwicklung von Handelsgeschäften für den Emissionsrechtemarkt sind Börsen. Bei ihnen erfolgt der Handel in standardisierter Form. Die Börse übernimmt für die beteiligten Akteure die Haftung für die Zahlungs- und Lieferfähigkeit der Handelspartner. Dies führt dazu, dass die Unternehmen, die für den Börsenhandel zugelassen werden, in der Regel den Nachweis ihrer Börsenfähigkeit erbringen müssen. Ein großer Vorteil des Emissionsrechtehandels an der Börse besteht darin, dass Informationen über gehandelte Mengen und Preise zeitnah (täglich) zur Verfügung stehen. Aus ökonomischer Sicht sollte der Zugang zum Emissionsrechtemarkt grundsätzlich nicht begrenzt werden. Nichtemittenten sollten zum Handel zugelassen werden, um die Liquidität des Marktes zu erhöhen. Außerdem ist es wichtig, dass jeder Emittent sich frei einen Marktpartner suchen und die Geschäfte eigenständig abwickeln kann. Auch der bilaterale Handel zwischen den Akteuren sollte ohne jegliche Begrenzungen erlaubt sein. Dies bedeutet zugleich, dass die Emittenten freie Möglichkeit haben sollen, Makler/Broker in den Handel einzubeziehen, wenn sie dies für erforderlich ansehen (z.B.
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aufgrund mangelnder Marktübersicht oder hoher Transaktionskosten des bilateralen Handels). Allein durch ihre Tätigkeit senken Makler die Transaktionskosten und erhöhen damit die Liquidität. Außerdem erleichtert ihnen das Wissen aus den Eigengeschäften die Marktübersicht und damit die Vermittlung von Handelsgeschäften zwischen Emittenten. Es gibt somit aus ökonomischer Sicht keine Gründe, Makler von Handelsgeschäften im Emissionshandel auszuschließen, zumal Preisinformationen von Maklern bei monatlichen Meldungen in hinreichender Form geliefert werden. Auch im grenzüberschreitenden europäischen Handel sollten keine Begrenzungen der Handelsaktivitäten erfolgen. Ein unlimitierter Handel auch über die Staatengrenzen der EU-Mitgliedstaaten hinweg ist für die Effizienz des Systems unabdingbar. Begrenzungen des bilateralen Austausches, aber auch bei der Einschaltung von Dritten, sind daher - soweit möglich - auszuschließen. Darüber hinaus sind spezifische Regulierungsanforderungen etwa in dem Sinne, dass der Handel mit Emissionszertifikaten nur für bestimmte Akteure (z.B. bilateral oder über Makler oder über Börsen) mit spezifischen Zulassungsbeschränkungen erfolgen soll, aus ökonomischer Sicht nicht erforderlich. Bilateraler Handel und die Einschaltung von Intermediären (Maklern) wird sich aller Erfahrung nach - wie auch die bestehenden Emissionsrechtemärkte zeigen - von selbst etablieren. Bei Börsen ist dies nicht automatisch der Fall. Börsen haben hohe Fixkosten und rentieren sich daher nur bei einem hohen Handelsvolumen. Eine Börse bietet einige Vorteile für die Emittenten, wie eine höhere Markttransparenz im Hinblick auf die Informationen für alle Akteure, tägliche Informationen und Repräsentativität. Alle Transaktionen gehen bei einem Börsenhandel in den Marktpreis ein. Zudem besteht an Börsen die Möglichkeit, Termingeschäfte ohne Kreditrisiko abzuschließen. Das Kreditrisiko wird von der Börse übernommen (Ministerium für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg/Fraunhofer Institut ISI 2003, S. 141). Diese Gründe erscheinen jedoch nicht ausreichend, um eine Börse für den Emissionsrechtehandel obligatorisch vorzuschreiben. Es besteht nämlich die Befürchtung, dass bei geringem Handelsvolumen die Börse den Unternehmen höhere Kosten aufbürden müsste, um angesichts geringer Umsätze die Kosten zu erwirtschaften (Hansjürgens und Gagelmann 2003b). Dies würde bei Weitergabe der Kosten an die Börsenteilnehmer die Liquidität des Marktes weiter senken. Bisweilen wird aber auch der Börsenhandel mit Skepsis betrachtet. So wird darauf verwiesen, dass er mit spekulativen Fehlentwicklungen verbunden sein könne. Zudem bestünde eine Anfälligkeit für externe Schocks, und es könnten (durch Verzerrungen der Preise und Fehlallokationen) volkswirtschaftliche Schäden bei einem Overshooting entstehen (Ecologie 2003). Diese Befürchtungen scheinen von den negativen Entwicklungen auf den Aktienmärkten in den vergangenen Jahren geprägt zu sein. In allen existierenden Emissionshandelssystemen, die sämtlich durch Maklerhandel oder bilateralen Handel geprägt waren, hat es zeitweise durchaus bedeutende Preisschwankungen gegeben. Es ist jedoch zu fragen, warum das Auftreten derartiger Effekte an einer Börse stärker sein sollte als etwa bei einem von Maklern geprägten Handel oder einem bilateralen Handel. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der europäische Emissionsrechtemarkt eine erhebliche Größe aufweisen wird, größer als alle bisher bestehenden Systeme. Dies schließt Schwankungen zwar nicht aus, reduziert sie aber.
Märkte fiir den Klimaschutz
Zeitliche
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Flexibilisierung
Für die Funktionsfähigkeit des Marktes stellt zudem die zeitliche Flexibilisierung des Emissionshandels eine wichtige Determinante dar. Zeitliche Flexibilisierung bedeutet, dass es den Unternehmen entweder erlaubt ist, Emissionsrechte der Gegenwartsperiode für zukünftige Perioden anzusparen (Banking) oder zukünftige Emissionsberechtigungen bereits zur Deckung von Emissionen in der Gegenwart aufzubrauchen (Borrowing). Die ökonomische Bedeutung der zeitlichen Flexibilisierung ergibt sich zum einen aus den zusätzlichen Handlungsspielräumen für die Unternehmen, die damit weitere Freiräume zur Realisierung von Kosteneinsparpotenzialen erhalten. Zum anderen ergibt sich die Bedeutung aus dem positiven Einfluss auf den Preis, indem Schwankungen des Zertifikatepreises gemildert und damit Unsicherheiten auf den Märkten reduziert werden (Ellerman 2004). Im Nationalen Allokationsplan sind sowohl Banking als auch Borrowing innerhalb bestimmter Grenzen vorgesehen (BMU 2004). Da die Ausgabe der Emissionszertifikate in einer Zuteilungsperiode (z.B. 2005-2007 oder 2008-2012) jeweils zum 28. Februar eines Jahres erfolgt, die Abrechnung des Vorjahres aber erst zum 30. April des Jahres vorgenommen wird, können Zertifikate des laufenden Jahres für die Abrechnung des Vorjahres verwendet werden (periodenbegrenztes Borrowing über ein Jahr). Ebenso können die Zertifikate eines Jahres in den Folgejahren verwendet werden, sofem die Zuteilungsperiode nicht überschritten wird (periodenbegrenztes Banking). Demnach ist eine Übertragung von Zertifikaten des Jahres 2006 auf das Jahr 2007 ohne Einschränkung möglich, eine Übertragung auf das Jahr 2008 aber nicht. Die Begrenzung resultiert aus der Befürchtung, dass, wenn die Unternehmen in großem Umfang Emissionsrechte von 2007 auf 2008 übertragen (was bei einer großzügigen Anfangsausstattung 2005 bis 2007 wahrscheinlich ist), die ab 2008 verpflichteten Kyoto-Ziele von den Mitgliedstaaten nicht eingehalten werden können. Diese Begrenzung auf einzelne Zuteilungsperioden verhindert jedoch ein Ausschöpfen von weiteren Flexibilisierungsmöglichkeiten. Es sollte daher analysiert werden, ob nicht doch in einem begrenzten Ausmaß eine zeitliche Verlagerung zwischen den Verpflichtungsperioden vorgenommen werden kann. Als Voraussetzung dafür müsste freilich eine Abstimmung zwischen den EU-Staaten erfolgen.
4.
Schlussbemerkungen und Ausblick
Aus ökonomischer Sicht weist der Emissionshandel aus zwei Gründen einen besonderen Charme auf: Zum einen wird ein Markt geschaffen. Dabei wird ein öffentliches Gut durch die Definition von Property Rights zu einem privaten Gut. Es werden exklusive Verfügungsrechte an dem Gut Umwelt und die Voraussetzungen für den Einsatz eines (im Vergleich zur staatlich regulierten Allokation) effizienteren Allokationsmechanismus, nämlich des Marktes, geschaffen. Zum anderen wird die Rolle der Politik und der Bürokratie begrenzt. Man kann zwar konstatieren, dass bei der Schaffung und dem konkreten institutionellen Design von Emissionsrechtemärkten die Politik eine
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zentrale Rolle spielt.20 Dies beschränkt sich jedoch auf die Einführungsphase, in der eine politische Entscheidung ja auch erforderlich und sinnvoll ist, um Klimapolitik mit den auftretenden Kosten und Nutzen zu operationalisieren. Die Rolle der Politik und der Bürokratie ist aber - und das macht den zentralen Unterschied zur bestehenden ordnungsrechtlich dominierten Umweltpolitik aus - auf die Einführungsphase des Emissionshandels beschränkt. Ist der Markt erst einmal etabliert, treten die Politik und die Bürokratie zurück. Der Marktmechanismus regelt die Allokation der Ressourcen. Die Verteilungswirkungen, die bei der Einführung des Marktes von entscheidender Bedeutung sind, spielen für die anschließende Marktperformance, d.h. das Funktionieren des Marktes, kaum eine Rolle. Für die zukünftige Entwicklung der Umweltpolitik ist zu erwarten, dass die Schaffung neuer Märkte eher noch zunehmen wird. Dies ergibt sich insbesondere aus dem neuen europäischen CCVEmissionshandel, mit dem nun auch in Europa ein Bahn brechendes Experiment begonnen wurde. Der europäische Emissionshandel stellt ein Muster für einen unternehmensbezogenen Handel dar, der weit über Europa hinausreichen wird. Ein wichtiges Element des europäischen Emissionshandels ist dabei, dass er auf schrittweise Erweiterungen auf andere Regionen und Sektoren sowie andere Treibhausgase ausgerichtet ist: — Mit Blick auf eine breitere regionale Anwendung ermöglicht der europäische Treibhausgasemissionshandel eine Teilnahme der neuen Beitrittsländer. — Mit Blick auf die einzubeziehenden Treibhausgase ermöglicht das europäische Emissionshandelssystem eine Erweiterung auf andere Gase neben CO2. Dies ist angesichts unterschiedlicher Verweilzeiten der Treibhausgase in der Atmosphäre und angesichts unterschiedlicher Vermeidungskosten aus ökonomischer Sicht unbedingt einzufordern (Michaelis, 1998; Pies, 2002; Pies und Schröder 2002). — Mit Blick auf die Verknüpfung verschiedener Emissionshandelssysteme ermöglicht der EU-Handel eine Kombination mit anderen Systemen. — Mit Blick auf die projektbasierten Mechanismen ist auf den genannten Vorschlag der EU-Kommission zu verweisen, die Berechtigungen aus den JI- und CDMProjekten mit den Emissionsrechten des Emissions Trading gleichzustellen und volle Fungibilität zu gewährleisten (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003; DEFRA 2003). Diese Erweiterungen deuten an, dass das europäische Emissionshandelssystem für eine breitere Anwendung geschaffen ist. Jedoch müssen alle Erweiterungen mit Vorsicht vorgenommen und genauestens analysiert werden. Mit jeder Erweiterung wird ein neues Feld betreten, in dem unsere bestehenden Kenntnisse begrenzt sind. Es ist daher überaus wichtig, diese Entwicklungen aus ökonomischer Sicht (weiterhin) kritisch zu begleiten und detailliert zu analysieren.
20
Dies zeigen mit Blick auf den US-amerikanischen S02-Zertifikatemarkt insbesondere Joskow und Schmalensee (1998). Mit Blick auf den europäischen CCVEmissionshandel wurde eine entsprechende Analyse zum politischen Lobbying von Svendsen (2004) geliefert. Vgl. auch die Ausführungen in Butzengeiger, Michaelowa und Bode (2003).
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Man kann damit abschließend zu diesem Beitrag hinzufügen, dass als weitere Bedingung für das ,Experiment' Emissionshandel die Lernfähigkeit, d.h. die Offenheit gegenüber sich als notwendig erweisenden Änderungen und die Anpassungsflexibilität bei möglichen Erweiterungen, einen zusätzlichen getrennt anzuführenden Erfolgsfaktor darstellt.
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Märkte für medizinische Dienstleistungen
Dirk Sauerland
Inhalt 1. Vorbemerkungen 2. Marktversagen und mögliche Lösungen
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2.1. Das Ziel: Abbau von Informationsmängeln
261
2.2. Instrumente I: staatliche Regulierungen
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2.3. Instrumente II: private Lösungen im Markt
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3. Funktionsfähige Märkte für medizinische Dienstleistungen: theoretische Voraussetzungen 3.1. Voraussetzungen für Anreize zur Produktion von Qualität 3.2. Voraussetzungen für Anreize zur wirtschaftlichen Produktion
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4. Funktionsfähige Märkte für medizinische Dienstleistungen: Das Beispiel USA
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5. Der Status quo in Deutschland
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5.1. Der potentielle Markt für medizinische Dienstleistungen: Kennziffern 5.2. Die Rahmenbedingungen im Status quo 6. Fazit
274 277 280
Dirk
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1.
Sauerland
Vorbemerkungen „Gesundheit oder Krankheit kann als Ganzes nicht den Charakter einer marktfähigen Handelsware annehmen. Es gibt weltweit kein Gesundheitssystem, das allein marktwirtschaftlich organisiert ist." Deppe (2002, S. 153) „Gleichwohl kann man feststellen, dass die Eingriffe in die Gesundheitsmärkte in allen Ländern weiter gehen, als dies aus objektiven Marktgegebenheiten erforderlich wäre." Neubauer (2002, S. 3)
Ökonomen tendieren zu der Aussage, innerhalb einer (sozial-verfassten) Marktwirtschaft solle die Allokation der knappen Mittel generell über wettbewerblich organisierte Märkte erfolgen. Begründet wird diese Ansicht damit, dass die marktliche Allokation die Konsumenten- und Produzentensouveränität gewährleistet und von allen Bürgern erwünschte Ergebnisse hervorbringt, weil der Wettbewerb die Anbieter zwingt, sich an den Präferenzen der Nachfrager zu orientieren. Aus diesem Grund ist es auch nicht verwunderlich, dass die ökonomische Beratung im Bereich der Gesundheitspolitik von dem Versuch geprägt ist, die hochgradig regulierten Strukturen des Gesundheitswesens durch die Einführung neuer markwirtschaftlicher Elemente zu reformieren. Vorschläge zur Deregulierung und stärkeren wettbewerblichen Organisation beziehen sich auf alle Akteure, welche die Struktur des deutschen Gesundheitswesens prägen: Patienten, medizinische Leistungserbringer und Ausgabenträger (Abbildung 1). Abbildung 1: Die Struktur des deutschen Gesundheitswesens
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