Wissenschaft, Kunst und Gender: Denkräume in Bewegung [1. Aufl.] 9783839421970

Wissenschaft und Kunst - heute zwei separate Sphären - waren nicht immer getrennt. Doris Ingrisch zeigt, dass sich analo

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German Pages 200 Year 2014

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Inhalt
INTRO DENK/RÄUME
I. KOMMUNIKATION mit dem »ANDEREN«
Ein grün leuchtendes Kaninchen
Wissen und Herrschaft
Interface Biographies
II. AKTEURINNEN und AKTEURE im GESPRÄCH
Anfänge/Affinitäten
Ambivalenzen/Schnittstellen
Kunst/Wissenschaft/Leben
Ver/Ortungen
Zukünftiges/Perspektivisches
Wissen/s/Ordnungen
Methoden/Praxen
III. Das UND erproben – WISSENSARCHITEKTUREN und GESCHLECHTERORDNUNGEN im PROZESS
Dynamisierungen – Der Wissensbegriff selbst ist in Veränderung
Bipolarität, Differenz, Komplexität – Vom Entweder-Ode zum Und
Denkkonstellationen im Und
OUTRO DEN DENK/RAUM DES UND WEITER ÖFFNEN
Bibliografie
Autorinnen
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Wissenschaft, Kunst und Gender: Denkräume in Bewegung [1. Aufl.]
 9783839421970

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Doris Ingrisch Wissenschaft, Kunst und Gender

Image | Band 44

Doris Ingrisch

Wissenschaft, Kunst und Gender Denkräume in Bewegung

Sponsered by Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/Institute for Cultural Management and Cultural Studies/University of Music and Performing Arts Vienna

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Lisette Rosenthal 2012 Layout & Satz: Herbert Posch Korrektorat: Gabriele Fernbach Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2197-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

INTRO DENK/RÄUME

|9

I. KOMMUNIKATION mit dem »ANDEREN« | 17

Ein grün leuchtendes Kaninchen | 17 Wissen und Herrschaft | 24 Interface Biographies | 30

II. AKTEURINNEN und AKTEURE im GESPRÄCH | 63

Anfänge/Affinitäten | 63 Ambivalenzen/Schnittstellen | 79 Kunst/Wissenschaft/Leben | 84 Ver/Ortungen | 88 Zukünftiges/Perspektivisches | 90 Wissen/s/Ordnungen | 92 Methoden/Praxen | 93

III. Das UND erproben – WISSENSARCHITEKTUREN und GESCHLECHTERORDNUNGEN im PROZESS | 99

Dynamisierungen – Der Wissensbegriff selbst ist in Veränderung | 99 Bipolarität, Differenz, Komplexität – Vom Entweder-Oder zum Und | 103 Denkkonstellationen im Und | 123

OUTRO DEN DENK/RAUM DES UND WEITER ÖFFNEN Bibliografie | 171 Autorinnen | 197

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Für alle, die die Welten (wieder) verbinden... Für Elena, im Gedenken... Und für dich, Felix...

Intro Denk/Räume

»Meiner Meinung nach erleichtert es die Bereitschaft, den Schritt ins Unbekannte zu tun, wenn man begreift, dass es sich um nichts anderes als Selbstvertrauen handelt.«1

Intention Sprechen wir über Kunst und Wissenschaft, haben wir es immer mit sehr komplexen Beziehungen zu tun. Wird Gender thematisiert, wird die gesellschaftliche Ebene mit ebenfalls hochkomplexen Beziehungen sehr deutlich. Was in diesen Gedankenskizzen also intendiert sein kann, ist nicht eine definitive Beschreibung dieser Konstellationen, vielmehr werden Reflexionsbögen versucht, die einzelne Kulminationspunkte in den Blick nehmen und zueinander in Beziehung setzen. Es sind weniger Antworten, die gegeben werden, als Fragen und ein Sammeln von Sichtweisen, ein In-Beziehung-Setzen von Perspektiven, die in ihrer Komposition wieder eine Erzählung zur Thematik ergeben. Eine, nicht die. Eine, die, so hoffe ich, die Komplexität der Themen andeutet und das eigene Denken anregt. Was mir in diesen Reflexionen dementsprechend weniger Anliegen war, obwohl sie gesellschaftlich brisante Frage verhandeln, ist eine Bestandsaufnahme über den derzeitigen Beziehungsstand von Künsten und Wissenschaften und deren Akteur_innen, Kritik zu üben und Empfehlungen auszusprechen. Ich werde zwar punktuell immer wieder darauf Bezug nehmen, doch dies wäre ein anderer 1

William Isaacs, Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Die neue Kommunikationskultur in Organisationen, Bergisch Gladbach 2002, (orig. 1999), 203

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Zugang gewesen, der meine Intention nur streift. Sie ist darauf gerichtet, auf der Bewusstseinsebene für die Komplexität der Zusammenhänge und Beziehungsebenen zu sensibilisieren. Um damit das Fraglose etwas infrage zu stellen und den Raum der Möglichkeiten zu öffnen. Ich möchte mit dieser Studie anregen, Bewusstseinsräume zu durchforsten und zu erweitern. Und in diesem nicht zuletzt kulturwissenschaftlichen Sinne neue Rahmungen der Wirklichkeiten herzustellen.2

Methodologisches Mein eigenes Möglichkeits/Denken wurde vor allem durch Robert Musils Sicht eines Wirklichkeitssinns und Möglichkeitssinns bestärkt.3 Dies geschah zu einer Zeit, da ich mich mit vom Nationalsozialismus aus Österreich vertriebenen Intellektuellen beschäftigte, mit denen tendenziell, so mein Befund, auch diese Art von Möglichkeitsdenken vertrieben wurde.4 Seither begleitet es meine Arbeit und taucht ausgesprochen oder unausgesprochen immer wieder auf, nicht zufällig dann, wenn es um den Schritt vom vermeintlich Sicheren ins Unsichere, vom Gewussten ins Ungewusste, von der Norm ins Nicht-Normierte geht. An Grenzen also und in genau den Momenten, in denen ich mit dem Gedanken zu spielen beginne, ob sie denn überhaupt nötig sind. Zudem ist mein Zugang freilich auch von meiner wissenschaftlichen Sozialisation her geprägt, von disziplinären Perspektiven sowie Richtungen wie den Cultural und Gender Studies und damit von einer aus der wissenschaftlichen Praxis kommenden transdisziplinären Haltung. In diesem Kontext ist es dezidiert nicht nur möglich, über Disziplinen hinweg zu denken, sondern auch diese gesellschaftlichen Felder mit politischen Ansprüchen zu verbinden. In den folgenden Ausführungen wird viel von transversalem Denken, von Hybridität und Interface die Rede sein und von den Versuchen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unterschiedlicher Bereiche, miteinander in Kontakt zu tre-

2

Rainer Winter, Fluchtlinien. Gender und Kultur. Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies, in: Andrea Ellmeier/Doris Ingrisch/Claudia WalkensteinerPreschl (Hg.), Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, KölnWien 2010, 145–160

3

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 1930 und 1931

4

Doris Ingrisch, Der dis/kontinuierliche Status des Seins. Über vom Nationalsozialismus aus Österreich vertriebene (und verbliebene) intellektuelle Kulturen in lebensgeschichtlichen Kontexten, Frankfurt a. M. u.a. 2004

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ten. Dies spiegelt auch das Spannungsfeld wider, in dem ich mich in meiner Arbeit bewege. Das Instrumentarium meines Ausdrucks ist primär ein wissenschaftliches, mein eigenes Denken immer auch ein wissenschaftlich sozialisiertes, und mein Schreiben entspricht den Anforderungen dieses Kontextes. Ganz bewusst. Der Blick auf die Erkenntnisprozesse, die ebenso wertvoll sind wie die Erkenntnisse selbst, geht da noch einen Schritt weiter. Im Laufe dieser Forschungsarbeit und des Schreibens war es mir wichtig, Reflexionsorte zu setzen, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Gelegenheit boten, mir – im übertragenen Sinn – selbst gewissermaßen beim Arbeiten zuzusehen und mir zusehen zu lassen. In Zusammenarbeit, im Dialog mit Gert Dressel, Biografieforscher an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universität Klagenfurt5 entstand ein solcher Raum, ein Raum des Vertrauens, in dem Ver/Un/gewisserung und Re/Orientierung möglich waren, ein Aus-denDenkschleifen-Treten, ein Sich-mit-anderen-Kontexten-Konfrontieren, um jedes Mal aufs Neue die eigene Position klären zu können. Es ist eine weitere Form der Selbstreflexion, die wesentlich ist dafür, wie ich als Wissenschafterin in diesem »System Wissenschaft« existiere. Diese Reflexionsorte ersparen mir nicht, meine Gedanken immer wieder mit der Praxis zu konfrontieren, sie herunterzubrechen auf die Pragmatik von Anfang, Prozess und Ende, den Phasen, die jedes Forschungsprojekt durchläuft, mit all ihren Fragen nach Ressourcen und Machbarkeit, die grundlegend sind. Diese Gespräche waren immer eine Erfahrung vom Gemeinsamen in der Differenz, wie Gert Dressel es nannte. Es erlaubte, mehr vom Ganzen zu sehen, auch wenn dies dann nicht Teil meiner Darstellung werden würde. Nicht zuletzt war die Vergewisserung ermutigend, dass es den Ansatz des Möglichkeitsraums immer auch für die Praxis braucht, um diese zu erweitern. Wenn ich in dieser Arbeit primär dem Wissenschaftlichen – wieder kommt das Spannungsfeld zum Tragen, in dem ich mich bewege: Mit welcher Haltung schreibe ich über Kunst und Wissenschaft? – verhaftet bleibe, ist das Experimentelle in meiner Arbeit nicht ausgeschlossen. Es findet derzeit nur in anderen Kontexten statt. Zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreographin Katharina Weinhuber für einen Vortrag oder der Klangkünstlerin und Komponistin Andrea Sodomka im Zuge einer Ringvorlesung und in einem gemeinsamen Forschungsprojekt, an dem auch die Schauspielerin, Doktorin für Philosophie und Universitätsprofessorin Susanne Valerie Granzer beteiligt ist,

5

wisdom.at/datenarchiv/pdf/Lebenslauf_Dressel.pdf

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das den Dialog von Wissenschaft und Kunst in einer anderen Form zum Thema hat.6 Was allerdings erfreulicherweise in dieser Arbeit bereits realisierbar war, war die Kooperation mit der bildenden Künstlerin Lisette Rosenthal,7 die sich mit ihrem Medium in den Prozess einklinkte, sodass hier bereits punktuell etwas wie eine Parallelerzählung stattfinden kann.

Konturen Nun zurück zu der vorliegenden Studie. Im ersten Abschnitt versuchte ich, die historische Getrenntheit von Kunst und Wissenschaft nachzuzeichnen und die Rolle zu bestimmen, welche die Geschlechterverhältnisse in diesem Prozess einnehmen. Durch die Gespräche mit Protagonist_innen, die sich in unterschiedlichster Ausprägung an den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst befinden, entwickelten sich in diesem Teil die Verbindungslinien zum Heute. Sie thematisieren das Leiden an den Strukturen ebenso wie den Umgang mit denselben oder aber auch die Kraft und Lust, eigene Wege dafür zu finden, die getrennten Bereiche wieder zusammenzuführen. D.h. Wege für sich zu bestimmen, den Bedürfnissen der Ungetrenntheit künstlerischer und wissenschaftlicher Impulse Ausdruck zu verleihen. Mit anderen Worten: Das So-ist-Es infrage zu stellen und den Normalitätsdiskurs mit individuellen Realitäten zu konfrontieren. Im zweiten Abschnitt kommen die Interviewpartnerinnen und -partner dann in spezifischer Weise zu Wort. Es entstand ein Textteil, der auf seine sehr persönliche Weise vom Leben mit dem Thema »Wissenschaft, Kunst & Gender« erzählt – Narrationen auf der eigenen Erfahrungsebene, auch was Methoden, Praxen und Perspektiven im Bereich diverser Formen des Crossings betrifft. Im dritten Abschnitt wiederum versuchte ich mit einer Reihe von Beispielen dafür zu sensibilisieren, wie umfassend unser Denken von den bipolaren und geschlechtlich konnotierten Strukturen durchdrungen und geprägt ist. Gleichzeitig findet sich – bezeichnenderweise – bereits eine große Anzahl an Hinweisen darauf, wo diese bereits zu erodieren beginnen und Tendenzen sichtbar werden,

6

Tag der mdw, 10. November 2011, Tanz: Katharina Weinhuber, sowie Ringvorlesung 2012 »Ratio und Intuition. Wissen/s/kulturen und Geschlecht in Musik, Theater, Film« zusammen mit Andrea Sodomka sowie »Kunst und Wissenschaft im Dialog. Theoretische Reflexion und experimentelle Versuchsanordnungen« www.mdw.ac.at/ikm/?PageId=1855

7

www.lisette-rosenthal.at

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über das Bipolare hinauszugehen. Auf diese Weise zeichne ich Bewegungen eines Denkens im Modus des Entweder-Oder zu einem Denken im Modus des Und nach. Doch: Anhand welcher Entwicklungen wird diese Bewegung sichtbar? Was alles ist unter diesem Modus des Und zu verstehen? Und anhand einiger ausgewählter Beispiele zeige ich abschließend, wie Denkkonstellationen im Und aussehen können.

Dank Herzlicher Dank geht an dieser Stelle an Personen, die mir die Möglichkeit zur inhaltlichen Auseinandersetzung boten – allen voran den Interviewpartnerinnen und -partnern (in alphabetischer Reihenfolge) Angelika Brechelmacher, Florian Dombois, Agnes Fuchs, Susanne Valerie Granzer, Katharina Gsöllpointner, Annegret Huber, Harald Huber, Boris Manner, Elisabeth von Samsonow, Gerlinde Semper, Andrea Sodomka und in besonderer Weise auch Gert Dressel, der immer wieder in den Forschungsprozess involviert war, sowie Claudia Walkensteiner-Preschl und Tasos Zembylas. Lisette Rosenthal meinen besten Dank für die Bereitschaft, die Einladung zu dieser Form der Kooperation anzunehmen und Herbert Posch einen herzlichen Dank für die Formgebung. Vielen Dank auch an die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw, die es im Rahmen eines UniVision-Projektes ermöglichte, die Studie zu realisieren.

»Es ist sehr schwer, ein Buch zu schreiben. Weil jedes Buch zweidimensional ist. Ich wollte aber, daß sich dieses Buch durch eine Eigenschaft auszeichnet, die keinesfalls in die Zweidimensionalität eines Druckwerkes paßt. Diese Forderung hat zwei Seiten. Die erste besteht darin, daß das Bündel dieser Aufsätze auf gar keinen Fall nacheinander betrachtet und rezipiert werden soll. Ich wünschte, daß man sie alle zugleich wahrnehmen könne, weil sie schließlich eine Reihe von Sektoren darstellen, die, auf verschiedene Gebiete ausgerichtet, um einen allgemeinen, sie bestimmenden Standpunkt – die Methode – angeordnet sind. Andererseits wollte ich rein räumlich die Möglichkeit schaffen, daß jeder Beitrag unmittelbar mit einem anderen in Beziehung tritt… Solcher Synchronität und gegenseitigen Durchdringungen der Aufsätze könnte ein Buch in Form… einer Kugel Rechnung tragen… Aber leider… werden Bücher nicht als Kugeln geschrieben… Mir bleibt nur die Hoffnung, daß dieses unentwegt die Methode wechselseitiger Umkehrbarkeit erörternde Buch nach eben derselben Methode gelesen werden wird. In der Erwartung, daß wir es lernen werden, Bücher als sich drehende Kugeln zu lesen und zu schreiben. Bücher, die wie Seifenblasen sind, gibt es auch heute nicht wenige. Besonders über Kunst.«1 S. E. Eintragung vom 5. August 1929 ins Tagebuch

1

Oksana Bulgakowa, Sergej Eisenstein – drei Utopien. Architekturentwürfe zur Filmtheorie, Berlin 1996, 31 f.

I. KOMMUNIKATION mit dem »ANDEREN«

»Kunst ist Forschung wie Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht Kunst. Wissenschaft kann wie Kunst verfahren.«1

E IN

GRÜN LEUCHTENDES

K ANINCHEN

Die Trennung von Kunst und Wissenschaft ist nur eine vorläufige, so charakterisierte der Quantenphysiker David Bohm die Beziehung von Wissenschaft und Kunst. Ein Physiker, der sich, über die Erkenntnisse seines Faches hinausgehend, auch mit seinen philosophischen Implikationen beschäftigte. »Meines Erachtens gibt es keine Grenzen. Man redet viel über eine allumfassende Theorie, aber es handelt sich um eine Vermutung, die keine Grundlage hat.« Seiner Erfahrung nach gebe es nichts Abgeschlossenes. Die Wissenschaft bilde hier keine Ausnahme. Wie er es verstehe, handle es sich um einen »unerschöpflichen Prozess«. Einen Prozess, in dem es entgegen der allgemeinen Meinung weitaus weniger um die Erweiterung unseres Wissens, sondern um die unseres Wahrnehmungshorizonts gehe. Wissenschaft solle dazu beitragen, der Wirklichkeit immer näherzukommen, einen immer entsprechenderen Zugang zu ihr zu finden. »Die Fähigkeit, andere Wahrnehmungs- und Denkweisen zu erzeugen, ist wichtiger als gewonnene Erkenntnisse.« 2

1

Marion Strunk, Kunst wie Wissenschaft. Wissenschaft wie Kunst, in: Brigitte Liebig u.a. (Hg.), Mikrokosmos Wissenschaft, Zürich 2006, http://www.marionstrunk.ch/ medien/2def.Kunst%20wie%20Wissens.pdf

2

John Horgan, An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, München 1997 (orig. 1996), 147

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Im Gegensatz zu Theodor W. Adorno, der 1958 proklamierte: »Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel«,3 ist für Eduardo Kac, dem Begründer der transgenen Kunst, die Trennlinie zwischen Wissenschaft und Kunst im Grunde längst inexistent. Ein grün leuchtendes Kaninchen symbolisierte für ihn die neuen Erfahrungsebenen, in denen es um die Kommunikation mit dem Anders-Sein gehe.4 Um die Jahrtausendwende steht dieses Kaninchen für das Bewusstsein um die Durchlässigkeit von Grenzen, Grenzen, die wir nicht erkennen, sondern die wir durch die Perspektive, aus der heraus wir etwas betrachten, ziehen. Sich so viele Gedanken über die Trennung von Wissenschaft und Kunst zu machen, ihren provisorischen Charakter, ihre Irreversibilität oder auch Inexistenz zu proklamieren, verweist auf die Kontingenz sowie die historischen Dimensionen unseres Verständnisses von Wissenschaft und Kunst, die ja nicht durchgehend, so wie sie uns heute erscheinen, getrennte Entitäten darstellten.5 Sowohl Wissenschaft als auch Kunst galten bis in die Renaissance als wichtige Bestandteile von Bildung, und Künstler bedienten sich im Sinne einer experimentellen Haltung beider Herangehensweisen. Eine definitive Trennung ist erst Ende des 18. Jahrhunderts anzusiedeln. Die Dissoziation verlief entlang der Rezeption der aristotelischen Kategorie der Erfahrung im 18. Jahrhundert, die die Wissenschaft ebenso wie alles Emotionale in der Folge nicht mehr zu beanspruchen meinte. Ich denke hier vor allem an die cartesianische Epistemologie, die Art und Weise wie sich Wissenschaft selbst konstruiert, wohl wissend, dass die Praxis mitunter eine ganz andere war.6 Dabei ist zu vergegenwärtigen, dass vor der Neuzeit Kunst absolut nicht mit Emotionalem behaftet war. Sie bezeichnete vielmehr das Wissen und Können, bestimmte Wirkungen zu erzielen. Der Be-

3

Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt a.

4

http://www.ekac.org/gfpbunny.html

5

Die Begriffe Kunst und Wissenschaft wurden bis ins 18. Jahrhundert synonym ver-

M. 1958, 15

wendet. Vgl. z.B. Waltraud Bumann, Der Begriff der Wissenschaft im deutschen Sprach- und Denkraum, in: Alwin Diemer (Hg.), Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen, Meisenheim am Glan 1970, 64–75 6

Zu erinnern ist dabei auch an die empirischen Studien von René Descartes, dessen Annahme der Zweiteilung in Geist und Materie bis heute so prägend ist, wesentlich prägender als das Spannungsfeld, das er ebenfalls eröffnete. Vgl. dazu Jürgen Goldstein, Kontingenz und Rationalismus bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus, Hamburg 2007, 334, sowie Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 1997

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griff téchne, griechisch für Kunst, kannte den Unterschied zwischen Kunst und Technik noch nicht.7 Analog zur Trennung von Wissenschaft und Kunst fand auch die Dissoziation weiterer Begriffe statt: Natur und Kultur, Körper und Geist. Nicht dass dies völlig neu gewesen wäre – die Begriffspaare waren in anderen diskursiven Kontexten bereits aufgetreten –, doch dass es sich um gänzlich andere Entitäten handle, manifestierte sich nunmehr als neue Qualität. Entsprechend veränderten sich zur selben Zeit auch die Vorstellungen von den Geschlechtern als grundlegend unterschiedlich voneinander. Dies zeigt sich sowohl auf der Ebene des Körperbildes als auch auf jener der Zuschreibungen. Das Ein-GeschlechtModell, das das Weibliche und Männliche als Analogien betrachtete, wich dem Zwei-Geschlecht-Modell, in dem Frau und Mann nun inkommensurable Begriffe darstellten.8 Die Bewegung der Bipolarisierung war umfassend. Sie installierte die Vorstellung von Trennung und Widerspruch auf allen möglichen Ebenen – von Rationalität und Irrationalität, von weiblich und männlich, von innen und außen. In diesem Prozess erfuhren die Begriffe auch eine Hierarchisierung und Naturalisierung. Konnotationsketten wie Geist, männlich, Kultur wurden als höher stehend als Körper, weiblich, Natur bewertet und erzeugten ein neues Weltbild. Wissenschaft wurde mit Begriffen in Beziehung gesetzt, die diesen männlichen Konnotationen entsprachen: Objektivität – frei von Körperlichkeit, Emotionen und Leidenschaft – bildete die Leitkategorie. Sie wurde durch den Begriff der Reinheit, verstanden als Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen, fixiert. Was hier zu wissenschaftlichem Wissen erhoben wurde, war ein Wissen, abgehoben von den Belangen der Lebenswelt. Kunst hingegen wurde komplementär gedacht. Die die Neuzeit prägende Bezugnahme von Geschlechter- und Wissensordnungen setzte sich als geschlechterspezifische Konnotation innerhalb der Wissenschaften in der Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften fort – soft und hard sciences, Ersteres unschwer als weiblich, Zweiteres als männlich konnotiert zu erkennen. Das Harte, Feste, Valide wird mit der sogenannten Objektivität und dem Ausschluss von Geschlechtlichkeit gleichgesetzt, das Weiche, Soziale, Musische in die Nähe von Subjektivität und Emotion gerückt. Christina von Braun und Inge Stephan stellen in »Gender @ Wissen« auch dementspre-

7

Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, (orig. 1953), in: ders., Vorträge und

8

Thomas Laqueur, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cam-

Aufsätze, Pfullingen 1954, 13-44 bridge Mass., 1990

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chend die These auf, »dass sich diese Gleichzeitigkeit der Veränderung nicht dem Zufall verdankt, sondern dass vielmehr eine enge historische und inhaltliche Verbindung zwischen dem Wandel der Wissensordnung und dem Wandel der symbolischen Geschlechterordnung besteht«.9 Diese Bipolarität strukturiert seither unser abendländisches Denken, auch wenn sie selbst immer wieder Veränderungen unterworfen war. Paradigmenwechsel wie in der Renaissance oder um 1800 spiegelten sich in Normierungsprozessen wider. Bezeichnend ist vor allem, dass die Begriffe als außerdiskursiv betrachtet wurden, d.h. ihre diskursive Konstitution nicht zur Debatte stand. Dabei spielte die Kategorie Geschlecht seit Anbeginn der Wissenschaften mehrfach eine tragende Rolle. »Bis heute ist Geschlecht Gegenstand der Naturkunde, jener Einzelwissenschaft, die sich auf Aristoteles als ihren Begründer beruft und sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts Biologie oder Life Sciences nennt. Geschlecht ist somit als verborgene, aber gleichwohl konstituierende Kategorie des wissenschaftlichen Denkens der abendländischen Wissenschaft ursprünglich.«10 In den Reflexionen über das Denken selbst hatte sie allerdings lange keine Bedeutung. Dass Begriffe permanent Veränderungen unterliegen und das auch im wissenschaftlichen Kontext, ist uns heute im Grunde nicht fremd. Und doch wirkt es vielfach irritierend, wenn wir uns Rationalität, auf der das Verständnis neuzeitlicher Wissenschaft zu beruhen scheint, nicht als unumstößlich erscheinendes Paradigma eingestehen müssen. Lorraine Daston allerdings ging drei Formen der Rationalität – Tatsache, Evidenz und Objektivität – nach und beschrieb sie in ihrer unterschiedlichen Geschichte.11 Diese Begriffe in ihrer Gewordenheit zu sehen, heißt aufzuzeigen, dass es auch eine Zeit gab, in der diese Begriffe im Weltverständnis eine andere bzw. keine Rolle spielten. So kamen in der frühen Neuzeit im wissenschaftlichen Denken andere als uns geläufige Qualitäten, vor allem kognitive Leidenschaften wie Staunen und Neugier, zum Tragen. Staunen galt als Weg, den Verstand dazu zu bringen, sich mit Aufmerksamkeit den einzelnen Dingen zu widmen.12 Dies vermag uns heute ebenso zu verwundern wie die damals erläuterte Frage, ob und in welchem Ausmaß Imagination bei der wissenschaftlichen Betrachtung eine Rolle spielen darf. Während sich der Zu-

9

Christina von Braun/Inge Stephan, Gender @ Wissen, in: dies. (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln-Weimar-Wien 2005, 7–45

10 Ebd., 34 11 Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001 12 Vgl. auch Lorraine Daston, Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2000, 24

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gang von Kunstschaffenden dahingehend veränderte, ihre Arbeit nun nicht mehr als Nachahmung, sondern als Neuschöpfung zu verstehen, bemühten sich Wissenschafter darum, ihren Leistungen und Erkenntnissen Dauer zu verleihen. Doch bei beiden, so die Überzeugung, spielte die Imagination eine wesentliche Rolle. Erst ein radikaler Bruch in der Etymologie des Begriffs »Faktum« veränderte die Beziehung zur bislang von beiden Seiten geschätzten Einbildungskraft. Faktum leitet sich eigentlich von facere, faire und tun her, veränderte seine Bedeutung jedoch dann im Sinne eines Gegensatzes zu einer Vermutung bzw. einer Fiktion. Im Zuge dessen entwickelten sich die auf dieselben sprachlichen Wurzeln zurückgehenden Begriffe Fakten und Artefakte auseinander und wurden zu Antonymen. Mitte des 19. Jahrhunderts war das Ideal der Objektivität als das der Mittelbarkeit realisiert.13 Bezeichnenderweise hatten sich auch die Profile der in Kunst und Wissenschaft tätigen Persönlichkeiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts auseinanderzuentwickeln begonnen. Die Figuren des Künstlers und des Wissenschafters begaben sich in eine bipolare Spannung, in der spezifische Eigenschaften – den jeweiligen Polen entsprechend, – kumuliert wurden. Als Gegensätze fänden sich objektiv und subjektiv, so Lorraine Daston, erstmals in den deutschen, französischen und englischen Lexika der 1820er- und -1830er-Jahre. Eine neue Struktur, der Denkmodus des Entweder-Oder, begann sich zu manifestieren. Die sich gegen die Subjektivität richtende aperspektivische Objektivität, die Eigenheiten eliminierte, den Blick von Nirgendwo sowie emotionale Distanz proklamierte, begann sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst in der Moralphilosophie und Ästhetik zu etablieren. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts zeigte sie sich auch in den Naturwissenschaften. Danach jedoch findet sie sich als Ethos der Wissenschaft schlechthin. Obgleich im Denken von Immanuel Kant der Dualismus von Objektivität und Subjektivität, der sich im Denken Rene Descartes’ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als res cogitans und res extensae, als denkende Substanz und Materie, Mentales und Physisches, manifestiert hatte, wieder zusammengeführt wurde, indem er alles Objektive als subjektiv geformt betrachtete, blieb das Dualistische ein dominantes Denkprinzip.14 Immanuel Kant war, so Wolfgang Carl, weniger an den Gegenständen der Erkenntnis denn an der Erkenntnisart interes-

13 Daston 2001, 110 14 Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 2007 (orig. 1983)

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siert, d.h. es war ihm um eine konjunktive Verbindung im Gegensatz zu einer exklusiven Antithese gegangen.15 Die Gedanken des Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck über die mentale Verfasstheit der Denkkollektive und deren Erweiterung durch den Begriff der Gefühlskollektive nehmen diese Fragestellungen des Entstehens von Erkenntnis im objektiv-subjektiven Spannungsfeld in den 1930er-Jahren ebenfalls auf. Er thematisierte die Wahrnehmung in Zusammenhang mit dem jeweiligen Denkstil, der sich seinerseits aus gedanklichen Wechselwirkungen des Denkkollektivs speist, indem er von »gerichtetem Wahrnehmen« sprach.16 Diesen Dynamiken entsprechend verwies er auch auf einen daraus entstehenden Denkzwang, der auftauchende Widersprüche entweder ignoriere oder, wenn auch unter größter Anstrengung, integriere, um das Meinungssystem aufrechtzuerhalten. Doch selbst wenn Denkstile verändert werden müssten, könnten sie sich von bisherigen nie ganz abtrennen und trügen immer auch Zeichen davon in sich. Das Verständnis aperspektivischer Objektivität ist bis heute in eine große Anzahl der Denkstile und die jeweilige Berufspersona der Wissenschafterin/des Wissenschafters eingeschrieben und verlangt im Grunde nicht mehr und nicht weniger als sich als Mensch bzw. Persönlichkeit aufzugeben. Im wissenschaftlichen Schreibstil, der die Ich-Form ausklammert/e, manifestiert sich dieses Konstrukt in besonders anschaulicher Art und Weise. Dass überhaupt unter dem eigenen Namen publiziert wurde, kann noch als ein Relikt der Moralphilosophie gelesen werden. Im selben Atemzug jedoch ging es aufseiten der Künstler und der wenigen Künstlerinnen darum, ihre Subjektivität zur Schau zu stellen, ihre Persönlichkeit zu zeigen. Lorraine Daston und Peter Galison machten deutlich, wie eng die Geschichte der Objektivität mit der des Selbst verwoben ist.17 Ein wissenschaftliches und ein künstlerisches Selbst erforderten gänzlich unterschiedliche Ausformungen. Im 19. Jahrhundert konnte das wissenschaftliche Selbst als durch den »Willen zur Willenlosigkeit«, das künstlerische durch den »Willen zur Willkür« charakterisiert werden. Wissenschaftliche Objektivität in ihrer idealen Form beruhe »auf der Existenz und Undurchlässigkeit dieser Grenzziehungen«.18 Bezeichnenderweise bedurfte es auch unterschiedlicher Techniken des Selbst, um die jeweili-

15 Wolfgang Carl, Das Subjektive als Bedingung des Objektiven, in: Jürgen Stolzenberg (Hg.), Kant in der Gegenwart, Berlin 2007, 113–130, 123 16 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a. M. 1999 (orig. 1935) 17 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, 39 18 Ebd., 157

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gen Züge zu entfalten und das spezifische Selbst hervorzubringen. Dazu zählten immer geistige wie körperliche Übungen19 bzw. eine sehr spezifische Sozialisation, um dem jeweiligen Selbst die passende Form zu geben. In einer etwas anderen Terminologie kann diesbezüglich vom Habitus als verinnerlichter Kultur gesprochen werden, der nicht unwesentlich an der Regulierung, d.h. den Einund Ausschlüssen in und aus gesellschaftliche/n Felder/n beteiligt ist.20 Wissenschaftliche Kulturen erscheinen so betrachtet als Vielzahl von Bedeutungsgeweben, -geflechten und -netzen, nach denen die Einzelnen ihr Handeln ausrichten, es dadurch gleichzeitig aber auch wieder mitgestalten. Die Ausrichtung an den Begriffen Objektivität und Subjektivität erschlossen also eigene Weisen des Seins. Die Zuschreibung eines wissenschaftlichen Habitus bzw. eines wissenschaftlichen Selbst im Gegensatz zum künstlerischen festigte ein Entweder-Oder, das die Konsequenz nach sich zog, sich nur in speziellen Sphären bewegen zu können. Die Analogie zur bürgerlichen Geschlechterordnung mit ihrer strikten Zuordnung zur privaten oder öffentlichen Sphäre ist dabei evident. Analog fungierten in der bürgerlichen Gesellschaft komplexe Techniken des Selbst innerhalb einer geschlechtsspezifischen Sozialisation, die bipolar und komplementär angelegt waren und biologisch determiniert argumentiert wurden. Die Gedanken über das Selbst bis hin zur Idee seiner Auslöschung, dem Tod des Autors,21 und damit der Aufforderung zur Neu-Definition, haben sich jedoch immer wieder verändert. Jerrold Seigel: »Nietzsche’s Übermensch, Heidegger’s authentic Dasein, Duchamp’s yearning for an ecstatic ›fourth dimension‹, Foucault’s project of ›the permanent creation of ourselves in our Autonomy‹, Derrida’s invocation of a condition beyond finitude where the promise of a wholly other existence is permanently maintained«22 zeigen, wie immer wieder aufs Neue dem Selbst Interdependenzen und Freiheiten zugeschrieben bzw. abgesprochen wurden. Abgehandelt wurden sie signifikanterweise in der Regel an mindestens drei Dimensionen: der materiell-körperlichen, der relationalsoziokulturellen und der reflexiven, in der das Selbst zu einem aktiven Akteur

19 Vgl. Pierre Hadot/Arnold Ira Davidson, Philosophy As a Way of Life. Spiritual Exercises from Socrates to Foucault, Malden u.a. 1995 20 Vgl. Sandra Beaufays, Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003 21 Roland Barthes, Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000 (orig. 1967), 185–193 22 Jerrold Seigel, The Idea of the Self. Thought and Experience in Western Europe since the Seventeenth Century, Cambridge 2005, 5

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der Selbstrealisation wird – »we are what our attention to ourselves makes us be«.23 In diesem Sinne zeigt die Geschichte der Ideen über das Selbst viel über die diversen Versuche, die verschiedensten Dispositionen eines Lebens in Relation zueinander zu bringen und Sinn daraus zu kreieren. Bezogen auf die Thematik der Kommunikation mit dem Anders-Sein bedeutet das, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie sich Sinngebungsprozesse in der Formung eines wissenschaftlichen und künstlerischen Selbst manifestier(t)en. Die Gegendertheit der Prozesse mitzudenken erlaubt zudem, die diesen Denkstrukturen innewohnenden Qualitäten in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension noch einmal deutlicher in den Fokus zu bekommen.

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Denken wir den sozialen Raum als Machtgefüge von gesellschaftlichen Feldern, so haben wir es mit unterschiedlichen hochkomplexen Machtfeldern zu tun, in denen spezifische Wissens- und Geschlechterordnungen repräsentiert sind. Diese konstituieren und perpetuieren sich auch darin, wie und wodurch unser Denken seinen Ausdruck findet. In der Wissenschaft ist das die Dominanz des gesprochenen bzw. geschriebenen Wortes, im Bereich der Kunst nehmen auch außersprachliche Diskurse einen wesentlichen Stellenwert ein. Doch keine dieser Ebenen ist abgehoben davon, was und wie über Geschlechter gedacht wird, keine ist »genderneutral«. So beschrieb Christina von Braun, wie im Übergang von einer von Mündlichkeit geprägten Kultur zu einer von den Denkformen der Schrift bestimmten ein gravierender Wechsel vollzogen wurde, der mit der Geschlechterordnung in direkter Verbindung stand. Er hatte die Strukturierung des Körpers durch das Denken zur Folge. Die Vorstellung von gesprochener und geschriebener Sprache als Dichotomie verband den männlichen Körper symbolisch mit abstraktem Denken, Buchstaben, Geist und Vernunft, den weiblichen mit Natur, Gefühl, Leiblichkeit und Sexualität. Die Sprache der Gelehrten, die sogenannte »Vatersprache«, wurde zur Sprache der Wissenschaftsdiskurse, die Traditionen der Mündlichkeit, die sogenannte »Muttersprache«, hingegen mit Aberglaube und der Unzulänglichkeit der Körperlichkeit assoziiert. Die sich damit herausbildende symbolische Ordnung sollte, allerdings als Ausdruck der biologischen Verhältnisse, noch lange Bestand haben. Entlang dieser Konnotationen fand auch die Machtzuschreibung der jeweiligen Wissensbereiche statt. Die dichotome

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Setzung spiegelte sich in der Trennung und Hierarchisierung der Wissensformen. Andere Formen als rational-vernunftmäßige wurden in den Wissensbegriff nicht aufgenommen. Dieter Wuttke spricht hier von einem Trenn-Zwang, der sich gegen ein umfassendes Konzept, wie wir es z.B. im Humanismus finden, stellte.24 Dieser Trenn-Zwang perpetuierte sich in der Separiertheit von Person und Werk – im Humanismus war die Wirkung von Wissen und Persönlichkeit ja bezeichnend gewesen. In der Renaissance seien die Universitäten nicht flexibel genug gewesen, die bildenden Künste, die nun den Rang einer akademischen Disziplin erreichten, in ihre Körperschaften zu integrieren. In einem Stich von Lukas Kilian mit dem Titel »Doppelbildnis Albrecht Dürers vor der Eingangspforte einer Akademie, in der die Künste und Wissenschaften vereint sind« aus dem Jahr 1617 wird diese vertane historische Chance eines Miteinanders bildlich thematisiert.25 Wenn wir uns heute mit Wissen und seinen Formen beschäftigen, sprechen wir von einem gesellschaftlichen Phänomen, das immer historisch und kulturell eingebettet ist und in diesem Kontext seine Gültigkeit erlangt.26 Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Etablierung von Wissenssystemen immer mit Herrschaft verbunden ist. Konkret geht es um die Macht über die Wahrnehmung und damit nicht zuletzt um die Definition von Wirklichkeit. Im Nachdenken über Wissensordnungen und -ökonomien ist es also wesentlich, sich der unterschiedlichen Ausformungen von Wissen und der sie konstituierenden Wahrnehmungsmechanismen bewusst zu sein. Explizite und implizite, deklarierte und prozeduale, semantische und episodische Wissensformen, um nur einige zu nennen, sind verschiedenen Gebieten zugeordnet und erfahren gleichzeitig eine Hierarchisierung. Das explizite Wissen wird dem impliziten als überlegen angesehen, das deklarierte dem prozedualen, das semantische dem episodischen. Das Objektiv/Subjektiv-Schema inklusive seiner geschlechterspezifischen Implikationen ist diesen Hierarchien unterlegt, fungiert also als Untermauerung. Im besten Fall wird das Schema in einem komplementären Modus gesehen. Wie beispielsweise bei Paul Valéry, seines Zeichens Lyriker und Philo-

24 Dieter Wuttke, Über den Zusammenhang der Wissenschaft und Künste, Wiesbaden 2003 25 Ebd., 46, bzw. Stephan Füssel/Joachim Knape (Hg.), Poesis et Pictura, Baden-Baden 1989, 230 26 Achim Landwehr, Wissensgeschichte, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, 801–813

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soph, der immer wieder auf die Literatur als die ästhetische Partnerin der Wissenschaft und ihrer Sprachen hinwies.27 Dabei ist eine Veränderung der Diskurse in der viel zitierten Wissensgesellschaft, in der Wissen – die Frage ist jedoch welches Wissen – einen immer dominanteren Stellenwert einnimmt, zu verfolgen. Beurteilungskompetenzen und Verstehensprozessen wird gegenüber dem sogenannten Faktenwissen immer mehr Wert beigemessen. Damit kommt jedoch der Wissenskommunikation und dem Wissenstransfer eine immer größere Bedeutung zu.28 Nicht mehr allein wissenschaftliches Wissen, sonders dessen autokatalytische Prozesse sowie die Rolle des Nicht-Wissens treten zunehmend in den Fokus der Betrachtung.29 Der Wissensbegriff selbst hat sich, folgen wir Vilém Flussers Überlegungen, von der Übereinstimmung des Denkens mit dem Bedachten zu einem Verschwimmen, einem Sich-Hingeben an das Bedachte verändert.30 Im Kontext der in Bewegung geratenen Wissensordnungen kann auch die Zunahme von Begegnungen zwischen Wissenschaft und Kunst als Tendenz festgestellt werden. Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft sind ein Thema geworden. Sei es, wie John Horgan argumentiert, dass die Naturwissenschaften in der prekären Lage sind, dass zwischen subatomaren und galaktischen Welten nichts mehr Neues entdeckbar ist, sodass die Hinwendung zur Kunst nur einen konsequenten Schritt darstellt, diesem Dilemma zu entkommen.31 Oder dass die

27 Paul Valéry, Sind Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften grundverschieden?, in: ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995 (orig. 1931), 390. In der angloamerikanischen Wissenschaftskultur sind nunmehr etliche Schnittstellen zwischen Literatur und Wissenschaft entstanden, die sich mit der Poetelogie des Wissens beschäftigen. U.a. Margret Wertheim, Pythagoras Trousers. God, Physics and the Gender Wars, New York-London 1995; Mary Midgley, Science and Poetry, London-New York 2001; Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbon, Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge 2002 28 Vgl. u.a. Gerd Antos/Sigurd Wichter, Wissenstransfer durch Sprache als gesellschaftliches Problem, Frankfurt a. M. 2005; Susanne Göpferich, Textproduktion im Zeitalter der Globalisierung. Entwicklung einer Didaktik des Wissenstransfers, Tübingen 2002 29 Vgl. u.a. Christoph Hubig (Hg.), Unterwegs zur Wissensgesellschaft. Grundlagen, Trends, Probleme, Berlin 2000; Stephan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003; Ikujiro Nonaka/Hirotaka Takeuchi (Hg.), Die Organisation des Wissens, Frankfurt a. M. 1997 (orig. 1995) 30 Vilém Flusser, Vom Subjekt zum Projekt, Frankfurt a. M. 2000, 34 31 Vgl. Horgan 1997

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Herangehensweise der klassischen Wissenschaften sich als obsolet für die Probleme der Postmoderne erweisen mussten, weil deren Denk- und Wissensstrukturen diesen nicht gerecht werden konnten.32 Gerhard Fröhlich charakterisiert die Ursachen dieser Tendenz wiederum anhand des Begriffs der attention economy, der Aufmerksamkeitsökonomie der Informationsgesellschaft.33 Einem immensen Originalitätsdruck, dem auch Reputation und Definitionsmacht eingeschrieben sind, ausgesetzt, setze die Informationsgesellschaft nun einerseits auf immer intensivere Spezialisierungen und andererseits auf territoriale Grenzüberschreitungen.34 Doch auch auf den Künsten lastet ein Druck steigender Ansprüche, der nicht zuletzt durch Akademisierungsanforderungen hervorgerufen wurde. Mit der Erhebung künstlerischer Hochschulen in den Status von Universitäten entstehe auch auf dieser Seite ein entsprechender Handlungsbedarf. Die Tendenz, die in diesen Entwicklungen sichtbar wird, kann nun als eine gelesen werden, in der die Bipolarität als Struktur extrem infrage gestellt wird. Dabei geht es nicht um die über die Zeit hinweg unser Denken bestimmenden Polaritäten an sich, sondern um die strikte Grenzziehung, die diesem Denken ihre spezifische Prägung verlieh und sich seit dem bürgerlichen Zeitalter so anschaulich in der Struktur der Geschlechter- und Gesellschaftsordnung widerspiegelt. Dieses Denken, das auch als eines im Modus des Entweder-Oder zu beschreiben ist, wird derzeit von einem im Sowohl-als-auch bzw. im Und flankiert bzw. ist vielleicht sogar in Auflösung begriffen.35 Im Bereich der Geschlechter sind die klaren Zuordnungen nicht zuletzt durch ein queeres Denken in Bewegung geraten. Transgender bringen die Fragwürdigkeit herkömmlicher Grenzen durch ein Nicht-Anerkennen, Ausloten oder Über-

32 Hans-Peter Dürr/Daniel Dahm/Rudolf zur Lippe, Potsdamer Manifest 2005. We have to learn to think in a new way, München 2005 33 Vgl. Georg Frank, Mentaler Kapitalismus, München-Wien 2005, wo er die »Ökonomie der Aufmerksamkeit« mit Christopher Laschs »Kultur des Narzissmus« verknüpft; ders., The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York 1979 34 Gerhard Fröhlich, Konvergenz der Systeme, in: heureka 3/99, http://www.falter.at/web/ heureka/archiv/99_3/01.php, bzw. ders., Konvergenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Rainer Born/Otto Neumaier (Hg.), Philosophie/Wissenschaft/Wirtschaft. Miteinander denken, voneinander lernen, Wien 2001, 724–729 35 U.a. Doris Ingrisch, Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne. Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen als Inspirationen für ein neues Denken, Bielefeld 2012

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schreiten besonders deutlich zum Ausdruck.36 Denn selbst die bislang als unumstößlich geltende Klarheit, es müsse sich entweder um einen Mann oder um eine Frau handeln, wird infrage gestellt und durch Differenzierungen sowie die Ablehnung der Festschreibung ersetzt. Auch in einer weiteren Entwicklung des Denkens über Geschlechter, der Debatte um Intersektionalität, scheint eine neue Art des Denkens Fuß zu fassen. Eindimensionale Modelle sind obsolet geworden, wenn gesellschaftliche Ungleichheiten in ihrer Komplexität wahrgenommen und beschrieben werden wollen. Dimensionen wie class und race hatten den Fokus aufs Geschlecht zwar bereits erweitert, die Verwobenheiten der Kategorien, die weit über ein additives Und hinausweist, wurden jedoch erst in den letzten Jahren in dieser Art und Weise als interdependente Achsen der Differenz diskutiert.37 Diese Trends zu einem Denken im Und, wie ich es nenne, die einerseits innerhalb der und andererseits zwischen den wissenschaftlichen wie künstlerischen Disziplinen erkennbar sind und sich dementsprechend auch als Trans-Bereiche mit den Mitteln der Inter- und Transdisziplinarität manifestieren, sind nicht mehr zu übersehen. Das Ausmaß, in dem Wissensordnungen mit der Geschlechterordnung korrespondieren, hat uns auch erkennen lassen, dass sich in diesen Prozessen Bereiche annähern, die erst im Laufe der Geschichte getrennt wurden. Wie die jetzt stattfindende erneute Annäherung allerdings gestaltet werden kann, ja, dass sie zu gestalten ist, ist ein bislang kaum in den Fokus gelangtes Thema. Bei jeglicher Frage nach dem Und bzw. dem Sowohl-als-auch, in der es um das Erschließen neuer Möglichkeitsräume und neuer Qualitäten geht, rückt die Frage des Wie unmittelbar in den Mittelpunkt. Doch welchen Bewusstseins über Kommunikation, Kulturen, Prozesse, welchen Bewusstseins um ein neues Verständnis von Denken und Handeln bedarf es dafür? Oder anders formuliert: Wie können Wissenschaft und Kunst, Künstler_innen und Wissenschafter_innen, also Sphären und Akteur_innen einander begegnen? Wie können die unterschiedlichen Sprachen, die hier gesprochen werden, die Welten, die hier entstanden, (wieder) in Beziehung zueinander tre-

36 Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1995; Judith Lorber, Genderparadoxien, Opladen 1999 37 Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp, Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, »Rasse«/Ethnizität, in: Transit – Europäische Revue, Heft 29, 72–96, sowie Katharina Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, in: dies. u.a., Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007, 23–64

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ten? Wie können die unterschiedlichen künstlerisch-intellektuellen Wissenskulturen in Kommunikation zueinander gelangen? Wie müsste eine solche Kommunikation beschaffen sein? Eine Kommunikation, die den Gedanken des Und auf ihrer Ebene zum Ausdruck bringt? Der Bereich der Interface Cultures hat im künstlerischen Feld bereits zu weitreichenden Diskursen geführt, die eine Reihe von Hervorbringungen – von interactive art, interaction design, game design, acoustic interfaces über media art und deren soziale Implikationen – umfasst. Interface wird dabei als der Teil eines Systems bezeichnet, der der Kommunikation dient. Genau diese Schnittstelle also, an der die Kommunikation stattfindet, steht im Fokus der künstlerischen Exploration.38 Es ist aber auch möglich und sinnvoll, sich dem Begriff Interface als einer Metapher zu nähern, einem sprachlich-bildlichen Ausdruck für eine Grenzüberschreitung, eine Transformation.39 Der Neurobiologe Gerald Hüther sieht im Prinzip des Interface nichts weniger als ein wesentliches Movens von Veränderung und Entwicklung: »Immer dann, wenn Getrenntes verbunden und Auseinanderstrebendes zusammengehalten wird, kann auch etwas wachsen. Kristalle wachsen auf diese Weise, Pilze auch, Pflanzen und Tiere sowieso, aber auch Ameisenstaaten, Vogelkolonien oder menschliche Gemeinschaften. Selbst das, was Menschen gemeinsam hervorbringen, Siedlungen, Unternehmen oder Bibliotheken, auch Netzwerke, Vorschriften und Visionen, wachsen unter solchen Bedingungen.«40

38 Steven Johnson, Interface Culture. How New Technology Transforms the Way We Create and Communicate, San Fransisco 1997; Christa Sommerer/Laurent Mignonneau/Dorothée King (Hg.), Interface Cultures. Artistic Aspects of Interaction, Bielefeld 2008; Christa Sommerer/Lakhmi C. Jain/Laurent Mignonneau (Hg.), The Art and Science of Interaction and Interface Design, Heidelberg 2008; Arbeiten der Universität für angewandte Kunst Wien sowie der Akademie der bildenden Künste Wien, in: Gerald Bast/Florian Bettel/Barbara Hollendonner (Hg.), Junge Forschung in Wissenschaft und Kunst, Wien-New York 2010 39 Vgl. Caroline Baille/Elizabeth Dunn/Yi Zheng (Hg.), Travelling Facts, Frankfurt a. M. 2003; Hans H. Diebner/Thimothy Druckrey/Peter Weibel (Hg.), Sciences of the Interface, Tübingen 2001; Hans H. Diebner/Lehan Ramsay (Hg.), Hierarchies of Communication. Proceedings to the Inter-Institutional and International Symposium on Aspects of Communication on Different Scales and Levels, Karlsruhe 2003 40 Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2004

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I NTERFACE B IOGRAPHIES Wie zeigen sich nun diese unterschiedlichen Diskursstränge aus der Sicht von Akteurinnen und Akteuren in diesen Bereichen? Wie fühlt sich das Interface in einer Biografie an? Mit welchen Erfahrungen ist es verbunden? Oder auch anders gefragt: Wie entsteht eigentlich das Bedürfnis, in den Bereichen Kunst und Wissenschaft zu agieren? Wie wird das In-beiden-Bereichen-sich-Aufhalten erlebt? Welche Beziehung zwischen den Bereichen ist realisierbar? Was wirkt unterstützend, wo aber finden sich Barrieren? Und last but not least: Welche Fragestellungen bzw. Themenstellungen eröffnen sich, wenn Personen in Wissenschaft und Kunst zu Hause sind? In Interviews mit Personen, die sich in unterschiedlicher Art in den Bereichen Wissenschaft und Kunst bewegen, ging ich diesen Fragen exemplarisch nach.41 Während nach wie vor vielfach klare Zuordnungen, die einander ausschließen, die Regel sind, wirkt Hybridität als Denkfigur einer Mischform von bislang getrennten Systemen. Homi Bhabha sprach diesbezüglich von einem »third space«42 und mit Sibylle Krämer wird eine Verbindung mit den herrschenden Logiken transparent, wenn sie formuliert, »das Hybride fügt sich nicht der Logik des ›Entweder-Oder‹, sondern folgt dem ›Sowohl-als-auch‹«.43 Auch Begriffe wie kultureller Synkretismus44 oder globale Cross-over-Kultur45 versuchen das Phänomen der Pluralisierung und Entgrenzung kultureller Zuordnungen zu fassen. In der Mehrsprachigkeit findet sich immer eine wesentliche Wurzel sprach-

41 Das Konzept sah zwölf Interviews einerseits mit an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien lehrenden Frauen und Männern, andererseits mit Personen an anderen Institutionen im In- und Ausland vor, in deren Leben und Arbeit die Verbindung von Kunst und Wissenschaft in unterschiedlichsten Ausformungen Relevanz aufwies. Die Gespräche wurden im Jahr 2010 geführt. 42 Homi Bhabha, The Location of Culture, London-New York 1994 43 Sibylle Krämer, »Leerstellenproduktivität«. Über die mathematische Null und den zentralperspektivischen Fluchtpunkt. Ein Beitrag zu Konvergenzen zwischen Wissenschaft und Kunst in der Frühen Neuzeit, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin 2006, 502–526, 503 44 Massimo Canevacci, Per un’antropologia syncretica, dialogica e polifonica, in: I giorni cantata, 1992, 21–22 45 Jan Nederveen Pieterse, World Orders in the Making. Humitarian Intervention and Beyond, New York 1998, 103; ders., Globalization and Culture. Global Melange, Lanham-Plymouth 2009

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kommunikativer Hybridität, der Basis von Inter- und Transkulturalität. So ist es sicher kein Zufall, dass auch in einer Reihe der Erzählungen der Interviewten das Denken in mehreren Sprachen und die Mehrsprachigkeit im metaphorischen Sinn am Anfang eines disziplinen- bzw. fächerübergreifenden Interesses stand. In diesen Narrationen ist die Mehrschichtigkeit sowie das Vorhandensein unterschiedlicher Interessenslagen zentral, die nicht in einem Entweder-Oder aufgelöst wurden. So begann auch Harald Huber, Professor für Popularmusik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw, die Erzählung über seinen Werdegang, indem er auf die Erfahrungen der »Zweisprachigkeit« in seinem Elternhaus hinwies. Er wuchs »zum einen mit dem klassischen Klavier und zum anderen mit Tanzmusik und Jazz, weil der Vater eine Tanz- und Unterhaltungskapelle betrieb,«46 auf.47 Susanne Valerie Granzer, Professorin am Max Reinhardt Seminar an der mdw, erwähnte die »reine Spiellust«, die sie – durch die Theaterbesuche mit den Eltern im Burgtheater angeregt – schon in jungen Jahren verkünden ließ, sie wolle Schauspielerin werden. Und das parallel dazu früh sich etablierende Interesse an »Fragen, die vielleicht den Alltag sprengen«, das sie im Gymnasium zu einem Kreis von Philosophiebegeisterten führte. Auch Annegret Huber, Professorin am Institut für Theorie, Analyse und Geschichte an der mdw, übrigens in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnis zu ihrem Kollegen Harald Huber, erfuhr bereits als Kind – sie hatte »natürlich – wie viele Kinder – Klavier gelernt« – wie sehr die Musiktheorielehre ihren Zugang zur Musik erweiterte. Harald Huber wandte das Prinzip der Mehrsprachigkeit und des Polyphonen im übertragenen Sinn auch später weiter an – in der Verbindung von Soziologie und Musik, wie er sie auch heute als Professor vertritt. Susanne Valerie Granzer wurde zunächst Schauspielerin, schloss dann ein Philosophiestudium ab und verband diese beiden Stränge in ihrer Person und Position als Professorin für darstellende Kunst. Annegret Huber bezeichnet sich – den Habitus unterlau-

46 Dieses sowie die folgenden Zitate stammen aus den im Rahmen des Projekts gemachten Interviews, die nach der Transliterierung von den Interviewpartnerinnen und – partnern autorisiert wurden. Die Transkripte befinden sich in meinem Archiv. Florian Dombois, Katharina Gsöllpointner und Gerlinde Semper wurden von Gert Dressel interviewt, alle anderen Gespräche wurden von mir geführt. 47 Eine von der EU anlässlich des Jahres der Kreativität und Innovation 2009 in Auftrag gegebene Studie über den Beitrag der Mehrsprachigkeit wies erhöhte mentale Flexibilität, eine bessere Fähigkeit, Probleme zu lösen, eine größere metalinguistische Fähigkeit, bessere zwischenmenschliche Fähigkeiten wie die Fähigkeit zu lernen sowie flexibles Denken nach, also Aspekte, die allesamt kreativitätsfördernde Auswirkungen zeigen, http://clil-cd.ecml.at/News/tabid/936/language/de-DE/Default.aspx

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fend – als »bekennende Nichtkomponistin«. Wiewohl Literaturtheoretiker_innen in der Regel kaum der Erwartung ausgesetzt seien, selbst Literatur produzieren zu müssen, gelte für den Bereich Musik sowie Musiktheorie ein/e Nicht-auchSchaffende/r zu sein in gewissen Kontexten als defizitär. Gleichzeitig vermittelt sie die unumstößliche Gewissheit, Kunst und Wissenschaft seien nicht getrennt zu betrachten. »Das eine geht nicht ohne das andere. Also es ist eine Verständigung über Musik, welche die Musik als solche dann verändert, das klingende Ergebnis von dem, was ich spiele.« In den Erzählungen weiterer Interviewpartnerinnen und -partner lag der Fokus zwar etwas anders, doch neben der eigenen Disposition trug jeweils auch das Elternhaus als Einflussfaktor zu den die Werdegänge gestaltenden Entscheidungen bei. Doppel- bzw. Mehrgleisigkeit, Kontingenzerfahrungen und Suchbewegungen springen als ihre Kennzeichen ins Auge. Florian Dombois, promovierter Geophysiker sowie Professor und Leiter des Instituts für Transdisziplinarität an der Hochschule der Künste Bern: »Ich komme biografisch vor dem Studium aus der Kunst…« Dem künstlerischen Umfeld seiner Eltern entsprechend bezeichnete er Theater- und Tanzvorstellungen sowie Ausstellungen gewissermaßen als die Spielplätze seiner Kindheit. Die Entscheidung für das Studium fiel allerdings zunächst zugunsten der Geophysik aus, wobei er sich in seiner Dissertation der Frage der Darstellung, konkret den formalen Spielarten von Erdbebendarstellungen, zuwandte. Angelika Brechelmacher, Mitarbeiterin an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Linguistin und Filmemacherin, erinnerte als nicht unwesentliche Faktoren ihrer Entwicklung einen Elternteil als praktisch, den anderen hingegen als poetisch veranlagt und meinte darin einen wichtigen Aspekt ihres Bedürfnisses zu erkennen, dem jeweils »Anderen«, Ergänzenden immer auch Wert beimessen zu wollen. Die Medienkünstlerin und Komponistin Andrea Sodomka erwähnte zwar die Wichtigkeit der Technik in ihrer Familie, ohne sie jedoch verantwortlich dafür zu machen, dass sie, nachdem sie zunächst bildende Kunst studiert hatte, gerade in der technischen Kunst die Herausforderungen fand, ihre künstlerischen Vorstellungen am adäquatesten zu realisieren. Der Philosoph und Kurator Boris Manner wiederum arbeitete sich über Lyrik, Kunstgeschichte, Kulturmanagement, Schauspiel, Regie und Lebensphänomenologie durch eine Reihe von Kunstbezügen, um nun seine spezifische Form der Begleitung künstlerischer Prozesse am Zentrum für Kunst- und Wissenstransfer der Universität für angewandte Kunst zu verankern. Die Professorin an der Filmakademie Wien/mdw Gerlinde Semper begann mit der Fotografie und einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium, bevor sie zum Film wechselte und nun als stellvertretende Leiterin der Filmakademie fungiert. Katharina Gsöllpointner wuchs »mit der Kunst auf« – der Vater war als Professor an einer

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Kunstuniversität kultur- und kunstpolitisch sehr involviert – und begann sich für Kommunikation in den verschiedensten Kontexten zu interessieren. Sie arbeitete im Kunst- und Kulturbereich, u.a. für die Ars Electronica, war kuratierend, journalistisch und in der PR-Arbeit tätig, fand jedoch über die Medienkunst wieder zur Wissenschaft und unterrichtet gegenwärtig im Bereich der künstlerischwissenschaftlichen Forschung. Die Philosophin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow studierte Philosophie und war parallel als Künstlerin tätig, bis der Professor, bei dem sie dissertierte, sie aufforderte, sich für einen der Bereiche zu entscheiden. Dann »lud er mich bei sich vor und sagte, wenn ich noch eine einzige Ausstellung mache, promoviert er mich nicht mehr«. Geophysiker und Künstler, Linguistin und Filmemacherin, Philosophin und Bildhauerin – um die Personen vorzustellen, erschienen diese Labels zwar hilfreich, doch die Selbstzuschreibungen sind wesentlich komplexer und mitunter konfliktuös.48 Angelika Brechelmacher verleiht dem Ausdruck, wenn sie in diesem Zusammenhang von »Notfallsidentitäten« spricht. Eine Zeit lang sei ihr eine Einordenbarkeit schon abgegangen, »da hätte ich sehr gerne ganz klar sagen wollen: das bin ich und das mache ich«. Doch obwohl sie immer wieder damit hadert, findet sie diese Randpositionen auch ansprechend. Mittlerweile empfinde sie die Klarheit als nicht mehr so wesentlich: »Vielleicht ist es eine Frage des Selbstbewusstseins.« Festzustellen bleibt, dass in gesellschaftlichen Feldern wie Kunst und Wissenschaft disziplinenübergreifende Identitäten großteils nicht vorgesehen sind und nach wie vor Entscheidungen erforderlich erscheinen. Trotzdem verorten sich Personen in einem Und respektive in einem Dazwischen. Das auf Mehrsprachigkeit beruhende hybride Feld erlaubt also spezielle Einblicke in das Spektrum von Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst. Wie lassen sich zudem nun konkrete künstlerisch-wissenschaftliche Praxen beschreiben – einerseits auf der persönlichen Ebene, andererseits aber auch auf der strukturellen, als der Verbindung von Kunst und Wissenschaft?

Im Cross-over Seit einiger Zeit, Ende der 1990er-Jahre, hat vor allem die bildende Kunst die Wissenschaften zum Thema gemacht und Interesse daran gezeigt, Cross-overs

48 Um in diesem Text die Interviewpartnerinnen und -partner vorzustellen und einen Eindruck zu vermitteln, werden hier zwar auch disziplinäre Zuschreibungen bemüht, dies aber im Bewusstsein darüber, dass sie die Komplexität der Identitäten nicht (immer) hinreichend beschreiben.

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zu untersuchen. Die Appropriation wissenschaftlicher Arbeitsweisen, Installationen, fiktiver wissenschaftlicher Arbeitsweisen wie Versuchsaufbauten in Anlehnung an naturwissenschaftliche Ausdrucks- und Darstellungsweisen erschienen als neue Positionen künstlerischer Arbeitsweisen. Interessiert daran waren vor allem Prozesskünstler_innen, die für die kunsttheoretische Untermauerung ihrer Werke auf wissenschaftliche Theorien zurückgriffen und sich naturwissenschaftlichen Fachwissens bedienten, sowie ökologisch interessierte Künstler_innen, die sich wissenschaftliche Vorgehens- und Präsentationsweisen zu eigen machten. Als Vorläufer dieser künstlerischen Positionen werden wissenschaftsparodistische Strategien in der Kunst der 1910er- und 1920er-Jahre wie die von Marcel Duchamp und Max Ernst genannt oder auch die von Joseph Beuys ab den 1960er-Jahren thematisierte Synthese von Kunst und Naturwissenschaft, von rationalen und nicht-rationalen Wissensformen.49 Mit diesen Strategien wurden nicht nur neue künstlerische Zugänge gefunden. Im selben Atemzug stellten sie auch Grundlagen der Wissenschaft wie Objektivität, Autonomie und Passivität infrage. Ebenso hinterfragten sie damit die Trennung von Natur und Kultur, vom Objekt als dem sogenannten Natur-Pol und dem Subjekt als dem sogenannten Gesellschafts-Pol. Darüber hinaus wurde nicht zuletzt der alleinige Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften fragwürdig und das historisch Kontingente der Wissensansprüche geriet in den Fokus.50 In den erzählten Erfahrungen der Interviewpartnerinnen und -partner werden einige Positionen des Crossover sichtbar. Das Interesse der Kunst an der Wissenschaft verbindet die bildende Künstlerin Agnes Fuchs mit der Einsicht, dass Kunst ja selbst als eine Art von Forschung angesehen werden könne. Wobei es ihr wichtig ist zu betonen, dass das bedeuten würde, »die Grenzen, an denen sich die Disziplinen unterscheiden, bestehen zu lassen«. In ihren eigenen Arbeiten gehe es u.a. um »eine Versuchsanordnung, wo man als Betrachter selbst zum Objekt der Betrachtung wird.« Diese frühen Arbeiten verstehen sich bereits als »Messinstrument, das die Wahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter vermisst.« Sie sind benützbar zum Erkenntnisgewinn. »Die aktuellen Arbeiten erforschen Interpretationssysteme und Vorgänge des Übertragens und Überset-

49 Vgl. Martin Müller, Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Schamanismus und Erkenntnis im Werk von Joseph Beuys, Alfter 1994, 208, sowie Adriani Götz/Konnertz Winfried/Thomas Karin, Joseph Beuys, Köln 1973, 45 f. 50 Vgl. u.a. Christine Haag, Flucht ins Unbestimmte. Das Unbehagen der feministischen Wissenschaften an der Kategorie, Würzburg 2003

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zens, der Messtechnik und der Kunst. Eine Untersuchung der Maschinenwelt und Messtechnik« – aber auch im übertragenen Sinn. Als Artist in Residence im HWK Delmenhorst, dem Hanse-Wissenschaftskolleg, Institute for Advanced Studies, begleitete Agnes Fuchs kürzlich u.a. eine Bohrkern-Expedition. Was daran für eine Künstlerin interessant sei? Hier habe sie die Möglichkeit selbst Feldforschung zu betreiben und zu erfahren, woran Wissenschafter arbeiten. Ihre Strategien kennenzulernen. Durch das Kennenlernen finde vor allem ein Ausdifferenzieren und Korrigieren von Bildern und Vorstellungen statt. So entstanden mehrere Werkserien und Recherchen an den wissenschaftlichen Institutionen, dem MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, dem Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen und dem Cognium – Zentrum für Kognitionswissenschaften der Universität Bremen. Obwohl es sich um ganz andere Themen und Sprachen handle, finde die Initiative zur Auseinandersetzung statt. »Im Versuch, das jeweils Eigene zu erklären«, verschiebe sich in diesem Setting der Blickwinkel und lege neue, interdisziplinäre Perspektiven frei. Unter dem Motto »Kunst als Forschung« arbeitet Florian Dombois seit vielen Jahren. Als Leiter des Instituts für Transdisziplinarität der Hochschule der Künste in Bern auch für sogenannte Qualifikations- und Forschungsprojekte verantwortlich, thematisierte er aus dem Blickwinkel des Künstlers den Verzicht, »akademische Forschung leihweise zu importieren«. Sein Anspruch lautet: »Wenn wir forschen, dann sollten wir künstlerisch forschen.« Detaillierter formulierte er dies in »Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen«.51 Das Denken im »nicht-ratioʀden Gebiet«, das Robert Musil als Gegensatz zum Vernunftbetonten in einer Neubeschreibung von Immanuel Kant thematisierte,52 fand auch im bildnerischen Denken seinen Ausdruck. Bildnerisches Denken ist vor allem mit Joseph Beuys zu einem Begriff geworden, in dem das Un-Nennbare und das Gegebene in einen Zusammenhang gebracht werden. Neben ihm wird auch Paul Klee als einer genannt, der auf die Relativität der sichtbaren Dinge hinwies und in seinen Werken, d.h. sowohl in der Darstellung als auch in seinen Schriften für eine Erweiterung des Denkens plädierte.53 Dabei re-

51 Florian Dombois, Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen, Bern 2006 http://www.hkb.bfh.ch/fileadmin/PDFs/Kommunikation/HKB_ _2006_FD.pdf 52 Robert Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1978 (orig. 1919), 1025–1030, sowie Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998 (orig. 1781) 53 Theodora Vischer, Joseph Beuys. Die Einheit des Werkes, Köln 1991

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kurrierte er auf ein Denken auf der Grundlage praktischer Erfahrungen im kreativen Prozess. Damit sind Künstlertheorien, also sprachliche Äußerungen von Kunstschaffenden zur Kunst, in ihrer ganzen unterschiedlichen Ausformulierung angesprochen.54 Wenn Joseph Beuys betonte, wie grundlegend das Zeichnen seine Sprache verändert habe, so wies er damit auch auf die produktive wechselseitige Beeinflussung dieser vielfach als getrennt betrachteten Ebenen hin. Auch die philosophisch wie künstlerisch tätige Elisabeth von Samsonow ließ keinen Zweifel daran, wie wesentlich das künstlerische Tun für ihr Denken sei und in welch enger Verknüpfung miteinander sie diese beiden Bereiche erlebe. »Ich gehe zwischen Schreibtisch und Werkbank hin und her. Das sind für mich die beiden Tische, um die es geht.« Während des bildhauerischen Tuns tauchten Einfälle für ihre philosophische Arbeit auf, während sie schreibe, falle ihr wiederum ein, was die Skulptur jetzt brauche. Pointiert ausgedrückt: »Ich würde überhaupt nicht denken können, wenn ich nicht diese künstlerische Arbeit machen könnte.« Gerade die Nicht-Trennung von Subjekt und Objekt sei, so auch Henk Borgdorff, ein wesentliches Merkmal der Forschung in der Kunst. Obwohl unter dem Begriff sowohl research on the arts als auch for the arts und in the arts subsumiert sei, stellte der Begriff nicht zuletzt die Trennung von Theorie und Praxis infrage. Oder in der Bemerkung von John Dewey: »Die seltsame Vorstellung, der Künstler denke nicht, …während der Wissenschafter nichts anderes tue.«55 Malen, so fuhr er fort, bedeute für ihn »Denken und zwar Denken in einer seiner tiefgreifendsten Formen«.56 Wie nahe er das bildnerisch-künstlerische Denken dem philosophischen empfinde, vermittelte auch Wolfgang Welsch, als er die postmoderne Philosophie »aus dem Geist der modernen Kunst« heraus erklärte und damit auf die philosophische Relevanz künstlerischen Denkens verwies.57 In diesem Sinne sind auch Befunde wie: die Kunst als »Kompensations-Instanz« avanciere nun zur »Korrektur-Instanz« von mehr als symbolischer Bedeutung.58 Elisabeth von Samsonow argumentiert dementsprechend eine derzeitige Überlegenheit der Kunst auf wissenstheoretischer bzw. philosophischer Ebene. Zugute komme den

54 Matthias Bunge, Zwischen Intuition und Ratio. Pole des bildnerischen Denkens bei Kandinsky, Klee und Beuys, Stuttgart 1996 55 John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1988 (orig. 1934), 23 56 Ebd., 59 57 Wolfgang Welsch, Die Geburt der modernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst, in: Philosophisches Jahrbuch, 97. Jg. 1990, 15–37, 16 58 Wolfgang Welsch, Kunst und Wissenschaft, in: Kunstforum, Bd. 85, 1986, 125–129, 128

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Künstler_innen und das zeichne sie gegenüber den Wissenschafter_innen aus, dass sie nicht von den von ihnen geschaffenen Bildern »hypnotisiert« seien. Ihr Fazit: »Also insofern finde ich im Moment die Kunst eigentlich die überlegene Wissensformation.« Und: »Die Imagination hat immer schon die zweite Evolution gesteuert, das ist der Steuermechanismus, um den es geht.« Diskurse über die Deutungsmacht und Herrschaft, über hegemoniale Ansprüche und die Verfügung über Ressourcen schwingen auf allen Ebenen – den persönlich-individuellen, den institutionellen und den philosophisch-epistemologischen, auf denen Wissenschaft und Kunst in Beziehung treten – mit. Festgefahrene Machtkonstellationen, die sich in institutionellen Strukturen verfestigt haben, wie der Kampf um Ressourcen, der diese Strukturen bedient und bestätigt, tragen nun freilich nicht dazu bei, einen Dialog zwischen den beiden Feldern in Gang zu bringen. Neuere, den sich verändernden Gegebenheiten adäquatere Modelle bzw. Orientierungsmöglichkeiten für die Projektförderung und institutionelle Verankerung befinden sich in den Anfängen. So Gerlinde Semper, nach einer erfolgreichen Projektbewilligung über die Unzulänglichkeit von Ausschreibungs/Kriterien: »Da hatte ich Glück, ich habe den Nagel auf den Kopf getroffen und konnte Gelder lukrieren.« Und erläuternd: »Klar war mir in Wirklichkeit, nicht, was da die Kriterien sind.« Die Problematik, dass nach wie vor an wissenschaftlichen Standards orientierte Kriterien zur Anwendung kommen, die über die Qualität künstlerischer oder Arbeiten im Cross-over entscheiden, bestätigt auch eine Schweizer Studie, die Florian Dombois im Gespräch erwähnte: »Und eine der Hauptforderungen, die daraus abgeleitet wurde, war, dass es Gutachter im Schweizer Nationalfonds geben solle, die selbst künstlerische Forschung betreiben oder sich wenigstens damit auskennen. Ganz simpel.« Der Performative Turn, der auf die Handlungsdimensionen in Kunst und Wissenschaft fokussiert, hat die Sicht auf Performativität als Wissensgenerierung gelenkt. Dabei geht es nicht um die Reduktion darauf, welche Aussagen über etwas getroffen werden, sondern vielmehr darum, wie Wissen in welchen Ausformungen und Schattierungen zur Artikulation kommt. In den Worten von Elke Bippus kann das z.B. heißen, es geht um »Kunst als epistemische Praxis«.59 Erfahrung durch Kunst stärkt Wissenskulturen, in denen Wissen als Tun und als Prozess sichtbar wird. Entsprechend plädiert sie dafür, die Eigenheiten künstlerischer Forschung nicht zu nivellieren, d.h. wissenschaftlichen Parametern anzugleichen, sondern daran zu arbeiten, das ihr eigene Potenzial zu begreifen und offenzulegen. Aus dieser Perspektive schärfen wir den Blick für hybride Misch-

59 Elke Bippus, Einleitung, in: dies. (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich-Berlin 2009, 7–23, 8

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formen von Wissen, für »Mikrologien«60 und plurale Ordnungen des Wissens, die auch auf habituellem, implizitem Wissen61 basieren.

Manifestationen des Hybriden Das Hybride manifestiert sich in unterschiedlichen Konstellationen und Intensitäten. Nach den von Familie und schulischem Umfeld geprägten Erfahrungen kann das Studium als weiterer Knotenpunkt an Einfluss- und Wechselwirkungsfaktoren festgemacht werden, an dem sich die Frage nach der Homogenität oder Heterogenität von Lebenswegen und Karrieren stellt. Für welches Fach oder welche Fächer entscheide ich mich, welche muss ich damit aber auch zurücklassen oder meine ich zurücklassen zu müssen? Was bedeutet das für mein inneres Gleichgewicht, was für meine beruflichen Chancen? Anhand von Boris Manners Werdegang zeigt die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft folgende Schnittstellen. Er, der, der Lyrik verbunden, mit dem Studium der Kunstgeschichte beginnend, sich der Philosophie zuwandte und u.a. mit Film aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln her arbeitete, setzt jetzt die Fülle erworbener Fähigkeiten zusätzlich zu seinem Analyse- und Abstraktionsvermögen »als Technik im Umgang mit junger Kunst« ein. Ihm seien beide Bereiche wichtig gewesen, er habe sich nicht für einen entscheiden wollen. »Ja, ich will das Analytische einerseits und andererseits den Prozess. Aber wirklich im Prozess mit dabei sein, nicht nur als Wissenschafter den Prozess zu dokumentieren, zu kommentieren, zu ordnen.« Wie das vorzustellen sei? Verkürzt und pragmatisch gesagt: Er steige zu einem gewissen Zeitpunkt in den künstlerischen Prozess ein, gehe eine Zeit lang mit, trage bei und steige wieder aus. Bei Angelika Brechelmacher artikulierte sich das von ihrer Person nicht zu trennende Bedürfnis, Wissenschaft und Kunst in ihrem Leben zu wissen, darin, dass sie zunächst Ethnologie und Sprachwissenschaften zu studieren begonnen, sich aber dann in Richtung Film bewegt hatte. Nun ist sie sowohl in wissenschaftlichen als auch in künstlerischen Kontexten, die sie im Bildungsbereich situiert, tätig. Auf die Beziehung zwischen den beiden Bereichen angesprochen:

60 Ein Begriff, der kaum mehr in Verwendung ist, »kleine« Dinge als wichtig und bedeutungsvoll bewertet, ursprünglich jedoch für eine »Sucht« gebräuchlich war, über Kleinigkeiten viel Aufhebens zu machen. 61 Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension, New York 1966, sowie Tasos Zembylas/Claudia Dürr, Wissen, Können und literarisches Schreiben Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis, Wien 2009

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»Für mich ist es getrennt.« Brauchen aber würde sie alles. Für die Institution, in der sie arbeite, die Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universität Klagenfurt, stehe zwar der akademische Exzellenzcharakter im Vordergrund, dennoch finde sie hier auch die Möglichkeit, das Künstlerische zu integrieren. Wie also Bereiche in den Werdegängen verbunden werden können, ist individuell höchst unterschiedlich. Dürfen, können, müssen Grenzen dabei aufrechterhalten bleiben? Oder sind sie nicht mehr vonnöten? Florian Dombois plädiert für die Praktik der jeweiligen Rückübersetzung in den eigenen Horizont: »Ich war nie überzeugt, dass man die Fronten wechseln soll.« Das bedeute jedoch nicht, dass nicht auch das Gemeinsame von Wissenschaft und Kunst von Interesse für ihn sei. Für ihn hieß das: Was ist jeweils das Movens oder über welche Kategorien ist der Prozess des Suchens in Kunst und Wissenschaft gesteuert? Was bedeutet das für das Selbstverständnis von Künstler_innen, was für das künstlerische Selbst? »Dann ist dieser Gegensatz Wissenschaft – Kunst auch nicht mehr so wichtig. Zunächst ist man mal jemand, der sich mit dieser Welt auseinandersetzt, der von ihr überfordert ist, aber trotzdem versucht, sich darüber klar zu werden und nicht zu kapitulieren. Man stellt sich in Frage, man stellt die Welt in Frage, aber gleichzeitig versucht man auch eine erkennbare Form zu behaupten – dem etwas entgegenzusetzen und sich selber daran zu entwickeln.«

Kunstwissenschaft/Wissenschaftskunst? Vielleicht ist es hilfreich, an dieser Stelle noch einmal einen Schritt zurück zu machen, um die Frage zu präzisieren, was denn heute die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft einerseits und die Kunsthaftigkeit der Kunst andererseits ausmacht. Oder anders formuliert: Aufgrund welcher Basis werden Grenzen gezogen und was macht sie so nötig? Dieter Mersch nimmt drei wesentliche Parameter – Identität, Universalität und Kausalität – bei der Schaffung natur/wissenschaftlichen Wissens aus. Dabei korrespondiert Identifizierbarkeit mit Vorstellungen von Allgemeingültigkeit und Begründbarkeit, während die Beglaubigung durch Sprache bzw. durch Diskurse erfolgt. An der Gültigkeit bzw. Sinnhaftigkeit der Paradigmen Logozität und Mathematizität, Wiederholbarkeit von Experimenten und der Voraussetzung eines Kausalnexus übte die neuere Wissenschaftstheorie bereits vehement Kritik, sei es durch den Hinweis auf die Geschichtlichkeit von Begriffen, wie in der Arbeit von Lorraine Daston, auf die ich bereits Bezug nahm, oder von Ian Hackings, der darauf verwies, in welchem Ausmaß Experimente immer ein Eigen-

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leben führten. In dieselbe Richtung der Argumentation geht auch die Erweiterung der Wahrnehmung auf die impliziten Dimensionen des Wissens sowie die Momente der Unbeherrschbarkeit und Unkontrollierbarkeit in der wissenschaftlichen Praxis.62 Wie zeichnet sich nun die Kunsthaftigkeit von Kunst aus? Folge ich der Argumentation von Dieter Mersch weiter, so unterläuft Kunst als eine andere Art der Erkenntnisproduktion den Anspruch auf Diskursivität bzw. lässt sie auf einer Metaebene reflexiv werden.63 Sie ist experimentell reflexiv und statt Theorien und Methoden bedient sie sich des tacit knowledge. Hier geht es um Wahrnehmungen, Singularitäten, um ästhetische Argumente wie Konjunktion und Intervention, um Wissen als Bildung und Kultur, um eine Form des Wissens, die Jean-François Lyotard als dem wissenschaftlichen Wissen gegenübergestellt betrachtete.64 Damit ist eine Praxis angesprochen, in der auch Kriterien wie Gerechtigkeit, Effizienz, Glück etc. zum Ausdruck kommen dürfen. Kunst fungiere als Differenzpraktik, die sich dem Sinnlichen widme, auf das Exemplarische verweise und in diesem Sinne eine Erkenntnispraxis darstelle. Während es der Wissenschaft um Analyse, Darstellung und Symbolisierung gehe, gehe es der Kunst um deren Aufhebung, um das nicht Analysierbare, nicht Darstellbare, nicht Symbolisierbare. Sie beschreibe eine ganz eigene Beziehung zur Welt, d.h. auch den heutigen Perspektiven von Kunst und Wissenschaft ist das Bipolare grundlegend eingeschrieben. Die Philosophie präsentiert sich in diesem Ensemble immer wieder, und das bedeutet nun nicht, dass sie das prinzipiell ist,65 als eine Art des Dazwischens. Die Liebe zur Weisheit, wie der Begriff in der Übersetzung lautet, eröffnet in diesen Diskursen noch einmal ein eigenes Feld, in dem das Denken im Zentrum steht. Die Abgrenzungsfrage nimmt auch hier einen wichtigen Raum ein. So kommt z.B. zur Sprache, ob es denn überhaupt legitim sei, Philosophie separiert zu nennen und sie damit in so etwas wie eine Sonderposition zu heben. Oder auch anders herum: Gibt es zwischen Philosophie und Kunst überhaupt eine Grenze? Wenn der Inhalt des Denkens nicht von seiner Form zu trennen sei, so Jacques

62 Vgl. Ian Hacking, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1983, sowie Hans-Jörg Rheinberger, Iterationen, Berlin 2005, 61 ff. 63 Vgl. Dieter Mersch/Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München 2007 64 Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1999 (orig. 1979) 65 Vgl. dazu u.a. Wilhelm Berger/Peter Heintel, Die Organisation der Philosophen, Frankfurt a. M. 1998

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Derrida in »Artists, Philosophers and Institutions«,66 so stünden bereits Fragen des Kunstschaffens zur Disposition. Martin Heidegger wiederum verwies in seinen Ausführungen »Was heißt Denken?« auf die Unzulässigkeit von Dualitäten wie Verstand oder Gefühl, Rationalität oder Irrationalität etc. in Denkbewegungen. Für ihn sei gerade die Mehrdeutigkeit ein wesentliches Merkmal des Denkens sowie die Unausschöpflichkeit, die Philosophie in die Nähe von Kunst rückten.67 Der philosophische Essay in seiner Charakteristik als auf Erkenntnis abzielender Text in ästhetischer Form versinnbildlicht als weiteres Beispiel eine Herangehensweise bzw. eine Form, die sich sowohl gegen die Subsumierung unter die Wissenschaft als auch unter die Kunst verwahrt.68 »Die freigesetzte Reflexivität, die sich an ihm entzündet, gleicht derjenigen von künstlerischer Forschung, die sich ebenso wenig im rein Sinnlichen erschöpft«,69 so Kathrin Busch, die vor allem die Offenheit und Bereitschaft zur Grenzüberschreitung betont, die sie sowohl in manchen Herangehensweisen der Künste wie auch in der Philosophie ortet. Für Marcus Steinweg äußert sich das Spezifische in Kunst und Philosophie vor allem in der Beziehung zum Nicht-Wissen. Denn es gehe im Grunde darum, die Grenzen des Wissbaren zu erfahren. Dazu bedürfe es des experimentellen Charakters, d.h. dem Sich-Öffnen für das Unbekannte. Das mag auch für die Interviewpartnerinnen und -partner eine wesentliche Rolle spielen, denn für viele ist die Philosophie im Verlauf ihrer Biografie und in ihrem Grenzgang zwischen Wissenschaft und Kunst immer wieder eine bedeutende Referenz. Susanne Valerie Granzer beschreibt die Attraktion folgendermaßen: »Ich war immer angezogen von der Sprache – auf das Wort zu hören – anders, als wir es alltäglich tun – und auch darauf hören zu lernen, was ungesagt bleiben muss, weil es keine Sprache mehr hat. Sich diesem Blick zu verschreiben, diesen Blick zu riskieren, ihn zu suchen und zu versuchen, wieder und wieder und immer wieder, ist das nicht das Versprechen der Kunst des Theaterspielens?« Die Zuwendung zur Kunst des Schauspiels klingt hier ebenso an wie die zur Philosophie. Zur Disposition stehen dabei immer die Denkverhältnisse in ihrer historischen Geformtheit. »Die aufgeklärte Position, dass wir autonome Subjekte sind

66 Jacques Derrida, Artists, Philosophers and Institutions, in: Rampike 3, 1984/85, 34–36 67 Martin Heidegger, Was heißt denken? Stuttgart 1992 (orig. 1952) 68 Vgl. Adorno 1958 69 Kathrin Busch, Wissenskünste. Künstlerische Forschung und ästhetisches Denken, in: Elke Bippus, Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich-Berlin 2009, 141–158, 157

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mit einem freien Willen, mit der Vernunft als Instrument, mit dem wir die Welt quasi ›in Ordnung halten können‹ oder ›zum Guten wenden können‹, oder wie immer Sie das formulieren wollen, blendet die passive mediale Seite unserer Existenz aus. Dieses Selbstverständnis ist historisch in uns abgelagert. Es trifft nur die halbe Wahrheit, bis hin zum Selbstbetrug, bin ich verführt zu sagen, zu glauben, dass wir ständig die Täter sind, dass WIR alles bewirken und bewerkstelligen. Auch die Grammatik unserer Sprache, ihre Subjekt-Prädikat-Struktur suggeriert, dass immer ICH es bin, der etwas tut.« Da werde eine wesentliche Ebene ausgeblendet, die nicht in dieses Konstrukt passe. In der künstlerischen Praxis jedoch ist diese Ebene erfahrbar: »Der Schauspieler erfährt hautnah, dass on stage eine zweite Seite unserer Existenz ins Spiel kommt.« Und resümierend: »Nie wird Können und Gelingen ihre Differenz aufheben können! Nie!« Die Philosophie biete ihr ein geeignetes Instrument, Blick und Sprache zu schärfen, um einem umfassenden ökonomischen Denken die Stirn zu bieten und in unsere Lebensformen zurückzuspielen, was in der Kunst des Schauspiels zu erfahren ist. Neben der Doppelgleisigkeit, einer Form des Und, lassen sich unter Crossover noch weitere Formen subsumieren, in denen das Und selbst bis zu dem Punkt seiner Auflösung getrieben wird. So betonte Andrea Sodomka vor allem die Querverbindungen von Kunst und Wissenschaft: »Es ist eben nicht Kunst und Wissenschaft, sondern es ist ein Zwischenbereich.« Bereits das Und würde zu viel an Getrenntheit andeuten. Also Kunstwissenschaft oder Wissenschaftskunst? »Ja, wo das ›Und‹ nicht da ist. Wobei natürlich die beiden Begriffe Kunstwissenschaft und Wissenschaftskunst zwar sehr viel sagen, aber es auch nicht ganz treffen.« Obgleich sie sich als Künstlerin bezeichnet, fühlt sie sich auch als Forscherin im wissenschaftlichen Sinn, »sehr analytisch, was für die künstlerische Persönlichkeit nicht immer gut ist. Was auch nicht immer zu guten Ergebnissen führt, aber irgendwann einmal ist man sich ja dessen bewusst, dass das auch irgendwie zusammenspielen muss, dass beide Systeme zusammenspielen müssen«. Nicht zufällig tauchte in diesem Gespräch die Figur des Künstlerforschers Leonardo da Vinci auf. Sie stellt eine historische Referenz dar und erinnert an die bestehende Tradition einer solchen Herangehensweise, wenngleich sich das Konzept, dem das einsame, männlich konnotierte Künstler-Genie tief eingeschrieben ist, in dieser Art freilich nicht mehr auf heutige Verhältnisse übertragen lässt. Andrea Sodomka zur gegenwärtigen Form: »Wir müssen Netzwerke leben, wir können gar nicht mehr anders.«

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Lebensentscheidungen Berufsentscheidungen zeigen sich so in ihrer Dimension als Lebensentscheidungen. Es sind Entscheidungen für eine Arbeit am Interface, für Identitäten im Dazwischen, für Persönlichkeiten eines künstlerisch-wissenschaftlichen Selbst. Zweifellos habe sie sich damit auch für eine Lebensform entschieden, so Elisabeth von Samsonow. »Dass ich eben immer auf dieser Gestaltungsebene bleibe und nicht sozusagen in das Schicksal absacke.« Aus der Sicht Harald Hubers heißt es, sich nicht entscheiden zu müssen – entweder für die Kunst oder für die Wissenschaft. »Das war eigentlich im Studium schon so angelegt. Ich komme immer wieder an Grenzen, sowohl zeitlich wie auch vom Anspruch her. Bis jetzt aber habe ich die Entscheidung vermieden und habe vor, so zu verbleiben. Ich will mich nicht entscheiden.« Angelika Brechelmacher wieder formulierte es so: »Es war ein Für-vieles-offen-Sein und Eigentlich-alles-machen-Wollen und ein Nicht-Entscheiden oder vielleicht ein scheinbares Nicht-Entscheiden für eine Sache, sondern auch ein immer Etwas-Neues-ausprobieren-Wollen.« Für Elisabeth von Samsonow ergeben sich daraus Assoziationen zu einer Künstler/Persönlichkeit, die als »sozusagen interdisziplinäres Hologramm« denkt, schreibt, zeichnet, malt und so weiter. Die Fantasie von Ganzheit, der Anspruch auf Ganzheit steht damit im Raum. Die Geniediskurse in Kunst und neuzeitlicher Wissenschaft bestärkten durch die Ausschließlichkeit der beruflichen Zuwendung eine Trennung der gesellschaftlichen Bereiche. Der Mythos der Unvereinbarkeit prägte eine Reihe von Institutionen. Nach Helga Nowotny ist die Aufrechterhaltung von Mythen ein »probates Mittel«, sich der Loyalität der Mitglieder zu versichern.70 Mythen verdeckten und leugneten Widersprüche. Der Mythos von der Unvereinbarkeit der Wissenschaft bekräftigte den Charakter dieses Berufes als Berufung in dem Ausmaß, dass er kein Und zulasse, keine Vereinbarkeit mit anderen Lebensbereichen möglich sei. Eine ähnliche Konstellation findet sich auch in der Vorstellung vom Künstler/Genie, das, sich in seinem Tun vollkommen abschottend, ganz seiner Begabung zu folgen hatte. Dass hier, wohl nicht zufällig, Frauen, die dem Reproduktionsbereich zugeordnet hier Verantwortung tragen sollten, ausgeschlossen wurden, spricht eine eigene Sprache und leistete den argumentativen und strukturellen Barrieren gegenüber Frauen im Wissenschafts- und Kunstbe-

70 Helga Nowotny, Gemischte Gefühle. Über die Schwierigkeiten des Umgangs von Frauen mit der Institution Wissenschaft, in: Karin Hausen/Helga Nowotny (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt a. M. 1990 (orig. 1986), 17–30

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reich Vorschub.71 Personen, die also an den Schnittstellen tätig sein wollen, stellen damit auch die Konzepte davon, wer wir und wie wir zu sein haben, infrage. Sie stellen Vorstellungen des Selbst infrage und regen an, sie nicht allein im Modus des Entweder-Oder, sondern in dem des Und zu denken. Wenn wir andere Denksysteme heranziehen, wird der Konstruktions- und Herrschaftscharakter dieser Vorstellungen auch auf anderen Ebenen deutlich. So findet sich z.B. in der chinesischen Philosophie tendenziell das Bemühen, Dualismen und die damit verbundenen Wertgefälle aufzuheben.72 Doch auch in der Geschichte des westlichen Denkens waren Bewertungen innerhalb des dichotomen Denkens Entwicklungen ausgesetzt. Herbert Mainusch thematisierte in diesem Kontext die Frage nach der Einheit, die nicht getrennt von der der Vielheit bzw. der Dialektik von Einheit und Vielheit betrachtet werden kann.73 Wenn ich hier vereinfacht von Wissenschaft und Kunst spreche, so weiß ich doch gleichzeitig, dass damit auf der einen Seite einige Tausend verschiedene Wissenschaftsfächer gemeint sind74 und auf der anderen Seite das weite Spektrum zwischen Poesie und Metallplastik, das breite Feld der Musik sowie der bildenden Kunst, oder auch der Bereich zwischen Konzeptkunst und neuen Medien, um nur einige Anhaltspunkte im Bereich der künstlerischen Disziplinen zu nennen, die in diesem einen Begriff untergebracht werden. Auch wenn wir es nicht immer aussprechen, wissen wir, dass bereits innerhalb der Wissenschaften und der Künste Diversitäten in einem hohen Ausmaß mit gemeint sind, die ihrerseits jeweils durch Ein- und Abgrenzungen, durch Aus- und Einschlüsse begründet sind. Und, um die Seite der Praxis nicht zu vergessen, dass dadurch Zugänge zu den Ressourcen strukturiert und gesteuert werden. Disziplinengrenzen sind damit, wie die eines Selbst, nicht als Grenzen des Gegenstandes selbst zu begrei-

71 Doris Ingrisch, »Alles war das Institut!« Eine lebensgeschichtliche Untersuchung über die erste Generation von Professorinnen an der Universität Wien, Wien 1993, sowie Waltraud Heindl/Marina Tichy (Hg.), »Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück…«. Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1993 72 Ninian Smart, Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit, Darmstadt 2006 73 Odo Marquart, Einheit und Vielheit. Statt einer Einführung in das Kongressthema, in: ders. (Hg.), Einheit und Vielheit, Hamburg 1990, 1–10 74 Franz Xaver Kaufmann, Interdisziplinäre Wissenschaftspraxis, in: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt a.M. 1987, 63–81, 64 sowie UNESCO, Transdisciplinarity Stimulating Synergies, Integrating Knowledge, http://unesdoc.unesco.org/images/0011/001146/114694eo.pdf, 37

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fen, sondern als historisch und erkenntnistheoretisch fundiert.75 Und damit werden sie auch in ihrer Veränderbarkeit greifbar. Herbert Mainusch bringt auch punktuell die Wertzuschreibungen der Philosophen, Kunst und Wissenschaft betreffend, wieder ins Gedächtnis. Beginnend bei Aristoteles, der Dichtkunst von Historiografie und Philosophie abgrenzte, führt er den Bogen weiter zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Kunst als Vorhof der Rationalität betrachtete und damit die Ratio als Gipfel des menschlichen Geistes festschrieb. August Wilhelm Schlegel wiederum zeichnete, dieser Hierarchie entgegentretend, ein gleichrangiges Gebilde von Ratio und Kunst.76 Auch Friedrich Nietzsche, der »zutiefst davon überzeugt ist, daß der Dualismus von Kunst und Wissenschaft – so wie andere Dualismen auch – unbedingt aufgehoben werden muß, daß der moderne Künstler nur als Wissenschaftler möglich ist und der moderne Wissenschaftler unbedingt zugleich Künstler sein muß,«77 thematisierte diese Beziehung in spezifischer Weise. Unter Einheit solle nicht eine Mischung von Kunst und Wissenschaft verstanden werden, sondern eine Aufforderung, die Hierarchien abzubauen, neue Formen zuzulassen und damit zu experimentieren. In diesem Sinne argumentierte auch der Physiker Richard Toellner, der aus der Sicht der Naturwissenschaften bekräftigte, dass es nicht die Summation sei, die zu beabsichtigen anstehe, sondern Integrationsverfahren, deren Ebenen und Sprache/n uns jedoch noch nicht zur Verfügung stünden und peu à peu erst zu erarbeiten wären.78

75 Jürgen Mittelstraß, Wohin geht die Wissenschaft? Über Disziplinarität, Transdisziplinarität und das Wissen in einer Leibniz-Welt, in: ders., Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt a. M. 1989, 60–88 76 Herbert Mainusch, Die Vielfalt der Künste und die Einheit der Wissenschaft, in: ders./Richard Toellner (Hg.), Einheit der Wissenschaft. Wider die Trennung von Natur und Geist, Kunst und Wissenschaft, Opladen 1993, 69–80, 73/74 77 Ebd., 76 78 Richard Toellner, Die Physik und die Einheit der Wissenschaft, in: Herbert Mainusch/Richard Toellner 1993, 228–233; vgl. auch Ernst Peter Fischer, Sowohl als auch. Denkerfahrungen der Naturwissenschaften, Hamburg-Zürich 1987

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Sinnliche Wissenschaft Welche Erfahrungswerte ergeben sich also an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft – sowohl auf der persönlichen wie auf der strukturellen bzw. theoretischen Ebene? Zu welchen Themen führen sie, welche Fragestellungen eröffnen sie, welche Sprachen entwickeln sie? Angelika Brechelmacher: »Vielleicht gibt es Leute, die sinnliche Wissenschaft machen, das kann ja sein.« Sinnliche Wissenschaft? Was für eine auf den ersten Blick absolut paradoxe, den herkömmlichen Paradigmen total widersprechende Vorstellung! Hennig Klauß hatte es sich nichtsdestotrotz zur Aufgabe gemacht, den Stellenwert von Sinnlichkeit in der Wissenschaft zu untersuchen. Dies vor allem in Hinsicht darauf, welche Erfahrungen durch sinnliche Herangehensweisen initiiert werden und welche Auswirkungen dies auf das wissenschaftliche Subjekt haben könnte.79 Was in späterer Folge von der Wissenschaftskritik und insbesondere der feministischen Wissenschaftskritik thematisiert wurde, klingt hier bereits an: dass der Ausschluss der Sinne ein herrschaftliches Subjekt-ObjektVerhältnis schafft und perpetuiert, eine Distanz und Trennlinie, die sehr klar ein Machtverhältnis intendiert, das sich in den klassisch-bürgerlichen Geschlechterverhältnissen wiederfindet. Dies steht bezeichnenderweise in Übereinstimmung mit der impliziten, diesen Verhältnissen adäquaten Hierarchie der Sinne. Werden Sinne in die Wissenschaften miteinbezogen, dann wird freilich dem Sehen die Bedeutung schlechthin zugewiesen. Die seit Platon belegte Dominanz des Visuellen ist für die abendländische Ausrichtung charakteristisch, d.h. die Hierarchisierung von Auge und Ohr als Erkenntnisorgane sowie der anderen Sinne ist in die Geschichte der Philosophie eingeschrieben.80 Die feministische Filmwissenschaft hat, die Geschlechterordnung mitdenkend, ihrerseits auf den als männlich konnotierten Blick des Sehenden im Gegensatz zum weiblich konnotierten Gesehen-Werden hingewiesen.81 Die Entwicklung der Bedeutung vom

79 Henning Klauß, Zur Konstitution der Sinnlichkeit in der Wissenschaft. Eine soziologische Analyse der Wandlungen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, Rheda-Wiedenbrück 1990 80 Christoph Wulf/Dietmar Kamper/Jürgen Trabant (Hg.), Das Ohr als Erkenntnisorgan, Paragrana 2, H.1/2, Berlin 1993; Robert Jütte, Geschichte der Sinne, München 2000; Holger Schulze (Hg.), Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012 81 Laura Mulvey, Visuelle Lust und narratives Kino, in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M. 1994 (orig. 1985), 48–65, sowie Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender Studien. Eine Einführung, Stuttgart 2000

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visuellen Paradigma zu dem des auditiven, wie es derzeit nachvollziehbar ist, ist demnach auch als Entwicklung zu lesen, in der es verstärkt um die Qualität der davor kaum in den Fokus genommenen Beziehungsebene geht.82 Die Verleugnung des weiblich konnotierten Körpers an sich findet im traditionellen Selbstverständnis von Wissenschaft und Kunst als getrennten Bereichen ebenfalls ihre Entsprechung. »Wenn ich es energetisch sehe«, so Angelika Brechelmacher weiter, »dann verliere ich, wenn ich wissenschaftlich arbeite, meinen Körper. Ab den Schultern nach oben arbeitet es da. Beim Film ist es eigentlich der ganze Körper, Bewegung im ganzen Körper.« Solche Aussagen können als Befund dieser strukturellen Trennung gelesen werden. Eine Öffnung für das Körperwissen fand zunächst auf Ebenen wie z.B. der Aufstellungsarbeit statt, die sich zwar wissenschaftlicher Anbindungen und Methoden bedient, ohne dass jedoch »wissenschaftlich exakt«, d.h. nach den klassischen wissenschaftlichen Kriterien von Messbarkeit und Wiederholbarkeit etc. nachgewiesen werden konnte, auf welchen Mechanismen das hier zum Tragen kommende Wissen beruht. Dies hält das Körperwissen jedoch nicht mehr davon ab, in besonderem Maße dazu beizutragen, unsere Erkenntnis-, Denk- und Handlungsräume zu erweitern.83 Aber auch der Somatic Turn resp. Corporal oder auch Body Turn in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Anthropologie, der Politikwissenschaft etc., der seit den 1990er-Jahren als eine Art Paradigmenwechsel zu verzeichnen ist und in Kombination mit dem Performative Turn in die Theaterwissenschaft, Sportwissenschaft und Historische Anthropologie Eingang gefunden hat, signalisiert eine Umorientierung und Neudefinition in Bezug auf Körperwissen. Indem der Körper als theoretische Kategorie miteinbezogen wird, gelangen körperliche

82 Wolfgang Welsch, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?, in: Paragrana 1993/ 1– 2, 87–103 83 Vgl. einerseits: Inge Baxmann (Hg.) unter Mitarbeit von Franz Anton Cramer und Melanie Gruß, Körperwissen als Kulturgeschichte. Die Archives Internationales de la Danse (1931–1952). Wissenskulturen im Umbruch, Band II, München 2008; Michael Meuser, Körper-Handeln. Überlegungen zu einer praxeologischen Soziologie des Körpers, in: Robert Gugutzer (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, 95–116; Stefan Hirschauer, Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: Angelika Wetterer (Hg.), Geschlechterwissen und soziale Praxis, Frankfurt a. M. 2009, 82–95; Franz Bockrath/Bernhard Boschert/Elke Franke (Hg.), Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung, Bielefeld 2008, sowie zur Aufstellungsarbeit u.a. Insa Sparrer, Systemische Strukturaufstellungen. Theorie und Praxis, Heidelberg 2006

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Wissens- und Erkenntnisformen immer mehr in den Blick und bereichern dadurch das Spektrum der Welterfahrung im Sinne einer praxeologisch orientierten Theorie der Praxis Pierre Bourdieus, dem Versuch, Mikro- und Makroebenen miteinander in Beziehung zu setzen. In der Vorstellung eines Doing Sociology wurde dieser Ansatz als körperbasierte Epistemologie sichtbar. Körper werden darin nicht nur als – weiblich konnotierte – Objekte der Betrachtung angesehen, sondern als Mittel der Erkenntnisproduktion wahrgenommen, die »vom Körper als Untersuchungsinstrument und Vektor der Erkenntnis ausgeht«,84 wie es in einer Reihe von Künsten immer schon der Fall war. George Devereux hatte bereits Mitte der 1960er-Jahre darauf hingewiesen, dass in der Wissenschaft durch vermeintlich objektivierende Methoden vor allem eine Angstreduktion erhofft wurde. Dadurch würde sich jedoch der Subjekt-Objekt-Dualismus verstärken und das Interaktive geriete aus dem Blick.85 Gegenübertragungsphänomene86 bzw. die »affektiv-emotionalen Phänomene, die mit diesem Konstrukt-Begriff bezeichnet werden«87 nicht zu beachten, ja, ihre Existenz vielleicht sogar zu leugnen, mache sich als methodisch unkontrollierbarer Einfluss auf den Erkenntnisprozess bemerkbar. D.h., dass Körperwahrnehmung und Selbstreflexion einen überaus wichtigen Puzzlestein jedes Forschungsprozesses darstellen müssten. Neuere bildungs- bzw. wissenssoziologische Sichtweisen knüpfen an diese Erkenntnis an und argumentieren mittlerweile in die Richtung eines zusätzlichen Erkenntnisgewinns durch die Erarbeitung leib- und körpernaher Forschungsinstrumente und einer methodisch-kontrollierten Erweiterung der Erkenntnisebenen durch Körperwissen.88

84 Loïc Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, Konstanz 2003, 270 85 Georges Devereux, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt a. M. 1998 (orig. 1973) 86 Vgl. u.a. Paula Heimann, On countertransference, in: International Journal of Psychoanalysis, Bd. 31, 1950, 81–84 87 Franz Breuer, Wissenschaftliche Erfahrung und der Körper/Leib des Wissenschaftlers. Sozialwissenschaftliche Überlegungen, in: Clemens Wischermann/Stefan Haas (Hg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000, 33–50, 46 88 Anke Abraham, Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag, Opladen 2002, sowie Anke Abraham/Beatrice Müller (Hg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld 2010

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Alexander Gottlieb Baumgarten, der Begründer der Ästhetik als eigener philosophischer Disziplin und Theorie des sinnlichen Erkennens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts,89 hatte den Menschen bereits als sinnlich-geistiges Wesen, als einen felix aestheticus, charakterisiert. Er hatte die sinnliche Erkenntnis, die cognitia sensitiva zum Thema gemacht, die sich besonders dafür eigne, die Komplexität von Zusammenhängen, in denen Sinnstrukturen sichtbar würden, zu erkennen. In seinem Konzept der Ästhetik wertete er sowohl Sinnlichkeit als auch Wahrnehmungsfähigkeit auf und entwarf ein Bild von einer kunstähnlichen Wissenschaft, einer Wissenschaft zwischen Mimesis und schöpferischer Konstruktion. Die dadurch angestrebte Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit strebte eine Überbrückung der Kluft zwischen Kunst und Wissenschaft an.90 Alexander Gottlieb Baumgarten situierte die sinnliche Erkenntnis – das Einbildungsvermögen, den Witz, das Darstellungsvermögen etc. – als analogon rationis, also analog und gleichgestellt zur kognitiven Wissenschaft. Zugewiesen wurde sie unterschiedlichen Erkenntnisvermögen, dem »oberen«, also Denken und Sprache, versus dem »unteren«, den Empfindungen sowie der Kreativität, der Erinnerung etc. Validität konnte durch die Steigerung von Komplexität und Vieldeutigkeit geschaffen werden, durch das Gewinnen extensiver Klarheit, wie er es nannte. Was später vor allem als Rationalitätskritik aufgefasst wurde, ließ nie die Analogie zu den Geschlechtervorstellungen und -wertungen vermissen. Leyla Haferkamp bezeichnete dies in Referenz auf Baumgartens Ausspruch, Ästhetik sei die »jüngere Schwester« der Logik, als ein »becoming girl of philosophy«.91 Dabei rekurriert sie auf Gilles Deleuze’ Kontextualisierung des Mädchens als Inbegriff der Diesheit, des Wesens, »the very epitome of haecceity«. »Thus girls do not belong to an age group, sex, order, or kingdom: they slip in everywhere, between orders, acts, ages, sexes; they produce molecular sexes on the line of flight in relation to the dualism machines they cross right through.«92 Diese Denkfigur stehe also für die Qualität des Dazwischen, des Transversalen.

89 Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold, Hamburg 1983 (orig. 1735) 90 Vgl. Steffen W. Gross, Felix aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen, Würzburg 2001, 72 91 Leyla Haferkamp, Analogon rationis. Baumgarten, Deleuze and the ›Becoming Girl‹ of Philosophy, in: Deleuze Studies, Vol. 4, 2010, 62–69 92 Gilles Deleuze/Félix Guattari, A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, Minneapolis 1987, 276–277

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Was aber heute sinnliche Wissenschaft bedeuten könnte, ist damit noch nicht beantwortet.

Wie Yin und Yang Immer wieder steht also die Struktur der Beziehung von Wissenschaft und Kunst im Fokus, und wir werden dadurch, wie bei den Geschlechtern, ebenso oft auf die Frage ihres Verhältnisses zueinander zurückgeworfen. Welche anderen, neuen Bilder sind denkbar, die nicht mehr nur Über- und Unterlegenheiten reproduzieren, d.h. die Wissenschaft über die Kunst oder die Kunst über die Wissenschaft stellen? Vielleicht ist es hilfreich, dieser Frage über die Bedeutungsebene von Kunst und Wissenschaft im Leben von Künstler_innen und Wissenschafter_innen nachzugehen. Beim Nachdenken darüber, was denn eigentlich Wissenschaft und was Kunst für sie persönlich bedeute, kam immer die Beziehung zwischen diesen beiden Feldern in den Blick. So auch bei Angelika Brechelmacher: »Es ist ein bisschen so wie Yin und Yang. Das strukturierte, im Idealfall klare Intellektuelle, das ist die Wissenschaft, Yang. Und Kunst ist für mich dann das Sinnliche, das Yin, das Dunkle, wo schon auch die Lebensfreude drinnen steckt und die Kommunikation und das Einander-Spüren.« Polarität wird in westlichen Denkbegriffen als das Verhältnis von Polen, die einander zwar bedingen, aber gegensätzlicher Natur sind, bezeichnet. Diese stark mit Wertungen und Dominanzen verbundene Relation wurde mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft eng an die Geschlechterhierarchie gekoppelt. Das Bewusstsein um die Einheit von polaren Gegensätzen, wie sie im östlichen Denken vertreten ist, und um ihre Gleichwertigkeit, die die Beziehung zwischen den beiden bestimmt, sodass sie zusammen das Tao, die Ausgewogenheit bzw. das Ganze bilden, ist im westlichen Denken in dieser Form nicht Teil der kulturellen Vorstellungswelt. Dass wir uns die Gegensätze als fließend vorstellen können, dass das Überwiegen einer dieser Polaritäten die Balance stört und immer eine Ausgewogenheit für ein Gleichgewicht vonnöten bzw. anzustreben ist, ist unserem dichotomen Denken ebenfalls eher fremd. Welch anderes Bewusstsein über die Pole im westlichen Denken herrscht, dokumentiert u.a. die hohe gesellschaftliche Bewertung der linken Gehirnhälfte und der entsprechend dominierenden rational-analytischen Herangehensweise an die Welt, die sich in der Ausrichtung nahezu aller Sozialisationsinstanzen und Bildungsinstitutionen widerspiegelt. Der in Taoismus und Konfuzianismus verwendete Begriff Tàijí – die großen Gegensätze, das höchste Prinzip des Kosmos – vermittelt hingegen ein Denken, in

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dem der grundlegenden Einheit der Gegensätze in allen Dimensionen der Kultur, sei es der Gesellschaftstheorie, der Architektur, der Medizin etc., Ausdruck verliehen wird. Fragen wir uns, welche Bedeutung die Bereiche Wissenschaft und Kunst für uns haben und in welcher Beziehung zueinander wir sie wahrnehmen, so steht die Antwort immer im Kontext der grundlegenden Prinzipien unseres Denkens. Doch sie sind in Bewegung. Der Begriff des Rhizoms, wie er von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt wurde, ist ein Versuch, eine neue Form von Ordnung zu denken.93 Im Bemühen, hierarchische Strukturen anders zu denken, verwendeten sie das Wurzelgeflecht als Metapher für eine Wissensorganisation und Weltbeschreibung, in der Überkreuzungen, Überschneidungen, Querverbindungen oder Verflechtungen ein der Welt adäquateres Bild vermitteln können. Die Dichotomie überwindend eröffnen rhizomatische Strukturen den Blick auf die Vielheit in der Einheit. Es ist ein verflochtenes System, in dem Verdichtungen ebenso wie Verästelungen ihren Platz haben und Unterschiedliches miteinander in Verbindung treten kann. Auch das vernetzte Denken ist ein über das Ursache-Wirkungs-Schema hinausgehender Zugang, der an der Wechselwirkung von Faktoren interessiert ist.94 Netze, so Hartmut Böhme, seien »geschlossene selbstregulierte Welten mit einem historischen Index«, die mit In- und Umwelten in Verbindung stehen.95 Er beschreibt ihren Charakter als Heterarchien, Konstrukte und Wirkmächte. Dieses »Neuland des Denkens« zu beschreiten, wie Frederic Vester es formulierte, besteht darin, das technokratische lineare Denken zugunsten des biokybernetischen zurückzulassen, in dem das Augenmerk auf Steuerungs- und Regelvorgänge liegt, d.h. auf Wirkungsgefügen und Gleichgewichtsprozessen sowohl der Mikro- als auch der Makroebene.96 Nicht zufällig geht es in diesen Überlegungen um Qualitäten wie die Nutzung von Verschiedenartigkeit durch Austausch ebenso wie um die Nutzung statt der Bekämpfung eigener Kräfte nach dem Jiu-Jitsu-

93 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, sowie dies. 1987 94 Vgl. Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, München 1999; Michael Gleich, Web of Life. Die Kunst vernetzt zu leben, Hamburg 2002 95 Hartmut Böhme, Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion, in: Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou, Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln 2004, 17–36, 21; Jan Broch/Markus Rassiller/Daniel Scholl, Netzwerke der Moderne. Erkundungen und Strategien, Würzburg 2007 96 Frederic Vester, Neuland des Denkens, München 1993

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Prinzip. Es geht um die Kunst zu steuern, Aktion und Re-Aktion in Einklang zu bringen. Dies war auch für den Begründer der Kybernetik als Wissenschaft der Kommunikation und Kontrolle, Norbert Wiener, bereits Anfang der 1940erJahre von Bedeutung, wobei der Fokus auf den Schnittstellen von Disziplinen und Theorien bzw. deren Steuerung und Regulation lag.97 Kybernetik ist also als eine Art und Weise des Denkens zu verstehen, in dem es erneut um die Bedeutung des Wie, nicht des Was geht. »Nehmen Sie das Ensemblespiel, das für das Max Reinhardt Seminar so wichtig ist«, so Susanne Valerie Granzer. »Auf der Bühne, wenn eine Aufführung wirklich glückt, wenn sie zum Ereignis wird, hat jeder seinen Platz, an dem er gesehen und gehört wird. Alle sind wichtig. Alle sind aufeinander angewiesen. Nicht jeder spielt den Hamlet, nein, das nicht, nicht alle sind Protagonisten, aber man schenkt sich vice versa Aufmerksamkeit. Achtsamkeit. Hat Achtung voreinander. Alle brauchen einander. Jeder ist nur so gut wie der andere. Man ermöglicht einander in die jeweils besten Potenzen. Hören und Antworten, in dieser Reihenfolge, das ist Ensemblespiel, das ist Dialog.« An dieser Stelle nahm sie den Faden zu den Gedanken über die Beziehungs- und Denkstrukturen in der Historie auf. »Das dreht die aufgeklärte Position völlig um. Nicht ICH mache etwas, sondern primär ich HÖRE auf den ANDEREN.« »Meine Schwerpunktinteressen sind Texte, Erfindungen, Utopien«, so Andrea Sodomka, »Davon gehe ich aus. Also das inspiriert mich.« In dem sie interessierenden Bereich sei es nahezu unmöglich, die technische Geschichte von der künstlerischen Umsetzung zu trennen. »Das ist ja auch gar nicht wirklich aufrechtzuerhalten, wenn man das genau ansieht.« Denn: »In einem Bereich, der sich mit technologischer Kunst beschäftigt, existieren diese Grenzen einfach nicht zwischen Wissenschaft, Technik, Forschung, Kunst.« Es handle sich um eine andere, eine neue Logik. Bezeichnenderweise erzeugen Künstler_innen im technologischen Bereich nämlich weder Bilder noch Klänge. Was sie erzeugen, sind Datenkompositionen. »Weil der Computer, man kann ihn nennen, wie man will – Werkzeug, Philosophie, ich weiß nicht was – eines tut: er unterscheidet nicht zwischen Bild und Klang. Das sind alles Daten.« Border Studies, ein neues Wissenschaftsfeld in den Bereichen Cultural Studies, Ethnic Studies, Multicultural Studies und postmoderne Anthropologie,

97 Ernst von Glasersfeld, Kybernetik, in: Leon R. Tsvasman (Hg.), Das große Lexikon Medien und Kommunikation. Kompendium interdisziplinärer Konzepte, Würzburg 2006, 216–217

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nimmt Identitäten, Disziplinaritäten und Kulturpolitiken in den Blick.98 Sie beschäftigen sich mit Grenzen, Grenzen als Konventionen und soziale Herrschaftspraktiken. Grenzen sind in diesem Verständnis keine eindeutigen, widerspruchsfreien Zonen. Sie werden vielmehr als Räume betrachtet, in denen Einflusssphären und Zuständigkeiten verflochten sind.99 Georg Simmel hatte ja bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, wie sehr die Grenzenlosigkeit des Raumes die subjektive, konstruktivistische Grenzziehung begünstige und dadurch eine »soziologische Tatsache, die sich räumlich formt« ermögliche.100 Im US-amerikanischen Sprachgebrauch wird Grenze als frontier – im Gegensatz zur trennenden Linie border – als Bereich betrachtet, in dem Bekanntes mit Unbekanntem sich zu etwas Neuem formiert. Die Border Theory wird dementsprechend auch in vielen kulturwissenschaftlich-soziologischen Gebieten relevant, wie z.B. in den Überlegungen zur Work/Family Integration, wo unsichtbare Grenzen die Rollen der einzelnen Mitglieder bestimmen und deren Überschreitung Veränderungen veranlasst.101 Der Blick auf den Konstruktionscharakter der Grenzen eröffnet sodann neue arbeitspolitische wie familienpolitische Perspektiven und entfaltet dementsprechend in Organisationskulturen seine gestaltende Wirkung. Auch die Grenzen, die uns zwischen Wissenschaft und Kunst so unumstößlich erscheinen, sind in diesem Sinne sich immer in Bewegung befindliche Grenzkonstrukte, deren Anerkennung in diversen Kontexten unterschiedlich sinnvoll erscheinen kann. In einer individuellen Disposition spiegelt sich das in folgender Formulierung: »Ich möchte mich in dem gesamten Feld bewegen können. Das war die bewusste Entscheidung. Die Grenze zu überschreiten war die bewusste Entscheidung«, so Andrea Sodomka. Sie beschreibt ihren Zugang zu Kunst und Wissenschaft nicht dahingehend, alternierend einmal in diesem, einmal in jenem Feld aktiv zu sein, sondern als exakt an Schnittstellen arbeitend. Innovative professionelle Kulturen leisten hier einen wesentlichen Beitrag zu ei-

98

Vgl. u.a. Scott Michaelson/David E. Johnson (Hg.), Border Theory. The Limits of Cultural Politics, Minnesota 1997

99

Vgl. Benjamin Davy, Wilde Grenzen, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 9/2002, 527–537

100 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, 694-695 101 Sue Campbell Clark, Work/family border theory. A new theory of work/family balance, in: Human Relations, 53/6/2000, 747–770, sowie Blake A. Ashforth/Glenn E. Kreiner/Mel Fugate, All in a day’s work. Boundaries and micro role transitions, in: Academy of Management Review, 25/3/ 2000, 472–491

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ner Veränderung der Denkverhältnisse. Für diesen Bereich, dieses Dazwischen, ist bislang noch kein eigenes System mit einem Kanon für Belohnungen bzw. Sanktionen sowie Karriereverläufen etabliert, wie wir es in den Wissenschaften oder auch in den Künsten mit mehr oder weniger klaren, zumindest aber implizit geregelten Orientierungslinien in Bezug auf Sozialisationsanforderungen, Habitus, Ausbildung und Berufsverläufe kennen. Dadurch besteht zwar einerseits ein hoher Freiheitsgrad, andererseits aber auch die Schwierigkeit der Unzuordenbarkeit, der fehlenden Überschaubarkeit und Sicherheit, die ein Regelsystem bietet. Personen, die sich trotzdem für einen solchen Weg im Dazwischen entscheiden, sehen sich mit dem Verzicht auf eine lineare Laufbahn mit allen vorhersehbaren Bonifikationen und Statusgewinnen konfrontiert. Durch ihr Tun beginnen sich jedoch neue Modelle abzuzeichnen. Andrea Sodomka im Versuch, die Richtung zu beschreiben, in die sie sich bewegen: »eine horizontale Verfolgung einer Karriere – eine vernetzte und keine lineare, keine vertikal-hierarchische.« Damit werden auch im Bereich der Karrieren, der beruflichen wie der persönlichen Laufbahnen, neue Wertigkeiten thematisiert. Dass sich in diesem neuen Künstler_innen-Bild verbergende Schema vernetzter Karrieren ist allerdings wesentlich mehr als eine Randbemerkung wert, manifestieren und spiegeln sich darin ja immer auch latent gesellschaftliche Veränderungen. Was es allerdings konkret heißt, wenn es sich um Karrieren handelt, die in den künstlerisch-wissenschaftlichen Förderlandschaften (noch) nicht wirklich vorgesehen sind, wie kompliziert, wie desillusionierend dies sein kann, die hohe Frustrationstoleranz, die ein solcher Weg voraussetzt, diese Erfahrungen teilen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – alle, die sich an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft bewegen. Susanne Valerie Granzer: »Interdisziplinarität ist in vieler Munde. Sie wird theoretisch willkommen geheißen und propagiert. Aber wenn man ernst damit macht, greifen natürlich auch die alten Spuren auf der einen und der anderen Seite. Die Einteilung in klassische Sparten wird schlagend, die Fördertöpfe funktionieren weitgehend nach wie vor so. Da ist zwar viel in Bewegung, doch die Erfahrungen, die man machen kann, sind ambivalent.« Der Mut, sich im Dazwischen zu bewegen, wird durch die fehlenden Strukturen extrem auf die Probe gestellt. Andrea Sodomka fasst die Kritikpunkte paradigmatisch zusammen: »Die Forschung sagt, wir können Künstler_innen keinen Forschungsauftrag geben, denn das ist ja nicht ernsthaft. Und die Künstlerförderung sagt, das ist Wissenschaft, das gehört in die Forschung. Was das Verfolgen solcher Ideen, wenn nicht grundsätzliche finanzielle Ressourcen da sind, unwahrscheinlich schwierig macht.« Unsichtbare Barrieren, die selbst dort Wirkmächtigkeit entfalten, wo sie im Grunde der Begegnung von Kunst und Wissenschaft entgegenkommen sollen, nämlich in den Förderinstitu-

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tionen, arbeiten damit an der Verunmöglichung dessen, was anzustreben sie vorgeben – der Entstehung experimenteller Räume. »Manchmal habe ich Lust, alles hinzuschmeißen und überhaupt nichts mehr zu machen, also nur noch freie Schriftstellerin und freie Bildhauerin zu sein, weil das so ein verrücktes Leben ist«, so Elisabeth von Samsonow.

Innovationskulturen … Was aber wird nun von den Akteurinnen und Akteuren in diesem Feld als hilfreich und unterstützend erlebt? Sowohl das Bild von den Künsten wie das von den Wissenschaften habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, bemerkte Florian Dombois einleitend. »Von vielen Wissenschaftern würde ich mir wünschen, dass sie ihre Kunstvorstellung aus dem 19. Jahrhundert ablegen und aktualisieren würden. Das wünsche ich mir übrigens auch umgekehrt von vielen Künstlern, deren Vorstellung vom Wissenschafter oft mehr mit dem 19. Jahrhundert als mit heute zu tun hat.« Dann wäre vielleicht auch Fördergebern klar, »warum es sich lohnt, wissenschaftlich-künstlerische Projekte zu finanzieren, die den Leuten das Nachdenken ermöglichen.« Für Künstler_innen bedeute künstlerisches Forschen eine wichtige Alternative zum ergebnis- und produktorientierten Kunstmarkt. Dementsprechend müssten aber auch die Fördermaßnahmen darauf abzielen, ergebnisoffene und nicht-produktorientierte Zugangsweisen zu finanzieren. »Alle innovative Forschung ist auch auf Subventionen angewiesen. Ohne ökonomische Förderung gerät sie bald ins Stocken. Ohne Geld kann man nicht wirklich innovativ forschen. Das ist ein Faktum«, so Susanne Valerie Granzer. Um innovativ zu forschen, bedarf es passender Orte und passender Strukturen, die zumeist erst geschaffen werden müssen. Und um den experimentellen Faktor voll ausschöpfen zu können, müssten es »furchtlose Menschen sein, die sich vor überhaupt niemandem blamieren können«, resümierte Elisabeth von Samsonow. Es braucht also einen geschützten und sicheren Raum, in dem sich experimentelles Denken entfalten kann. Existenzangst kommt dem Wagemut nicht zugute, das derzeitige System der Professuren auf Zeit unterstützt diese Voraussetzung allerdings in keiner Weise. Als Pierre Bourdieu in »Homo academicus« die Machträume der Universitäten beschrieb, zeichnete er bereits die Figur des arrivierten Häretikers, desjenigen, der über eine gesicherte universitäre Stellung verfügend diese nützt, um randständige Positionen voran-

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zutreiben.102 Denn erst aus der Position der Arriviertheit in diesem Sinne hat Experimentelles die Basis, in den Bereich der Anerkennung zu gelangen. »Kunst«, so Elisabeth von Samsonow, entspräche dem »Moment an der Wissenschaft, der die bild- und symbolisch gesteuerten Elemente an der Wissenschaft deutlich machen kann. Also insofern sind sie gar nicht getrennt. D.h. Kunst ist eine Dimension von Wissenschaft. Und Wissenschaft ist natürlich eine Dimension von Kunst«. In diesem Sinne ließ auch Annegret Huber keine Zweifel aufkommen: »Klar, Wissenschaft ist eine Kunst.« Und detaillierter: »Wenn ich jetzt Musik als Kunstgegenstand mit Wissenschaft umkleide, dann ist eigentlich Wissenschaft die Kunst«, sie schmunzelte, »die diese Aspekte herauslösen kann.« Auch und gerade, um Kunst und Wissenschaft neu zu denken, bedarf es sicherer, geschützter Räume. Wenn sie die historische Dimension vom Wesen der Disziplin trenne, würde deutlich, dass es die Geschichte sei, welche die Spaltung verursacht habe. Elisabeth von Samsonow: »Bifurkation, wie es so schön heißt«, also die Verästelung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften durch die Veränderung der Parameter sei da am Werk gewesen, um dieses System entstehen zu lassen. Dieser Tendenz gelte es nun entgegenzuarbeiten. »Unzipping philosophy« betitelte sie die in einer Publikation versammelten Versuche in diese Richtung, ein Statement einer Kunstuniversität, einen profilierten Rahmen theoretischer Auseinandersetzungen abzugeben.103 Was es ihrer Ansicht nach am meisten dafür brauche, diese Tendenz weiterzuführen, seien avantgardistische Forschungszentren, in denen ein Re-Arrangement von Kunst und Wissenschaft möglich sei. Und es brauche Förderprogramme, in denen auf den ersten Blick »hirnrissige Projekte«, d.h. grenzüberschreitende Vorhaben bewilligt werden, die ein ernst gemeintes Experimentieren erlauben. Solche Projekte müssten den Freiraum haben, auch scheitern zu dürfen. Elisabeth von Samsonow resümierend: »Es müssten Peers her, die richtige Räume der Ermutigung schaffen können.« Oder Boris Manner: »So ein kleines Hirnhaus, wo eben das Unabsehbare passiert.« Was braucht es noch, um Innovation zu ermöglichen? In der klassischen Definition von Innovation nach Josef Schumpeter würden vor allem, so das Modell, vorher getrennte Bereiche miteinander in Verbindung gesetzt. Er selbst hatte die Definition auf die Kombination von Produkten und Märkten, Techniken und Finanzkapital bezogen. Durchsetzen würde sich dann, so der gesellschaftliche Aspekt, was sich in irgendeiner Form dem Vorhandenen gegenüber als überlegen

102 Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1988, 180 ff. 103 Elisabeth von Samsonow (Hg.), Unzipping Philosophy. Wissen/Kunst, Wien 2009

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erweise.104 Heute wird das Entstehen von Innovation auch mit wissenschaftlichen Durchbrüchen in Verbindung gebracht, die sich zwar der unmittelbaren Planbarkeit entziehen, jedoch ganze Wirtschafts/Sektoren radikal zu verändern imstande sind. Innovation sei gewissermaßen zum Hoffnungsträger einer fragilen Zukunft geworden und entfalte ihre Wirkung, indem sie eine gesellschaftliche, aus der Ungewissheit der Zukunft sich speisende Leerstelle abwehre, so Helga Nowotny.105 Nachhaltiger Innovation wird derzeit die Rolle übertragen, Schutz vor der Ungewissheit der Zukunft zu bieten. Nachhaltig bedeutet in diesem Kontext, auf das Potenzial der Innovation zu immer weiteren Innovationen bauen zu können. Der Begriff der Innovationskultur/en ist dementsprechend auf die gesamte Gesellschaft beziehbar. Konsument_innen bzw. Nutzer_innen werden miteinbezogen, da sie es sind, die Innovationen akzeptieren und in dieser Weise erst den Innovationscharakter bestätigen und bekräftigen. Unterschiedliche Haltungen und Sinnsysteme verweisen dabei auf durchaus plurale Zugänge von Innovationskulturen. Um Impulse dafür zu initiieren, wissen Organisationen vor allem Augenmerk darauf zu legen, wie die Prozesse zu strukturieren sind. Wieder also steht das Wie im Mittelpunkt des Interesses. Es ist zu bedenken, welche Spielbzw. Freiräume zur Verfügung stehen sollen bzw. müssen und welche Möglichkeiten der Kommunikation bzw. Interaktion inner- und außerhalb des fachlichen Arbeitsgebietes verfügbar sind. Und last but not least welcher Wert Kreativität, Problemlösungskompetenzen sowie Verantwortungsbewusstsein in diesen Kulturen, die sich immer auch als Lernkulturen verstehen, zugeschrieben wird. In seinen Überlegungen zur fünften Disziplin, in denen Peter M. Senge den Begriff der Lernenden Organisation prägte, nehmen nicht zufällig die Lern- bzw. Entwicklungsprozesse der Menschen in diesen Organisationen und in Verbindung damit über die Personen hinaus der Systeme selbst den entscheidenden Stellenwert ein.106

104 Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1911, sowie Jan Fagerberg/David C. Mowerey/Richard R. Nelson (Hg.), The Oxford Handbook of Innovation, Oxford 2005 105 Helga Nowotny, Unersättliche Neugier. Innovation in einer fragilen Zukunft, Berlin 2005 106 Peter M. Senge, Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Stuttgart 2003 (orig. 1990); Chris Argyris/Donald A. Schön, Die lernende Organisation. Grundlagen, Methoden, Praxis, Stuttgart 1999 (orig. 1996)

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… und trotzdem sich beziehen Elisabeth von Samsonow: »Mir schwebt natürlich immer so etwas vor wie ein Monte-Veritá-artiges Leben.« Und dann: »Ja, wo sind denn diese Utopien hingekommen? Ich kann es immer nur auf ganz kleinem Raum realisieren und suche mir gerade wieder meine Wahlverwandten zusammen.« Was für das sogenannte private Feld gilt, gilt erst recht für Institutionen – das Einbeziehen von Differenzkategorien wie Nationen, Generationen etc. potenzierten den Intelligenzquotienten der jeweiligen Community. In den Gesprächen mit den Akteurinnen und Akteuren fielen immer wieder Namen von Wissenschafter_innen und Künstler_innen, die Wege des Dialogs mit Kunst und Wissenschaft in ihrem eignen Tun und/oder im Tun mit anderen bereits gegangen sind. Prominent ist da zunächst Leonardo da Vinci, der Künstlerforscher der Renaissance schlechthin, oder auch Leon Battista Alberti, Mathematiker, Architekt, Theoretiker und Schriftsteller, Musiker und Maler zu nennen.107 Vielleicht weniger prominent, doch eine der wenigen ersten Frauen, von der wir wissen, dass sie kreativ wissenschaftlich arbeitete, und dadurch eine wertvolle Referenz, ist die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebende Mathematikerin Ada Lovelace, die zudem im Ruf steht, das erste Computerprogramm entworfen zu haben.108 Oder auch Leon Theremin, Wegbereiter des Synthesizers und der Fernsehtechnologie, sowie Nikola Tesla, Erfinder des ersten Radiosenders und der ersten Fernsteuerung, in deren Wirken Kunst/Forschung/ Technologie nicht voneinander unterschieden werden können. Auch der als Filmregisseur bekannte Sergej Eisenstein war ausgebildeter Zivilingenieur, Schauspieler sowie Filmtheoretiker und mit den unterschiedlichsten Logiken wie auch der Mathematik oder Psychoanalyse vertraut. Vielseitigkeit bestätigt auch ein neuer Blick auf Egon Schiele, in dessen weiterer Aufarbeitung des Nachlasses sich seine dichterische Seite manifestiert. Frieda Kahlo als bildende und Sprachkünstlerin wurde in den Gesprächen ebenso genannt wie Theodor W. Adorno, Arnold Schönberg oder Hans Werner Henze in ihren Grenzüberschreitungen von musikalischem Schaffen und musiktheoretischer Reflexion. Oder Quincy Jones, Arrangeur von Ray Charles, Frank Sinatra und Michael Jackson, der ebenso musikwissenschaftliche Studien betrieb. Die Sprache kam auch auf zeitgenössische Künstler wie Jochen Gerz, der, sich der Sprache ebenso bedie-

107 Leon Battista Alberti, Vita, hg. und eingel. von Christine Tauber, Frankfurt a. M.Basel 2004 108 Sadie Plant, Nullen und Einsen. Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien, Berlin 1998

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nend wie der Fotografie, der Performance etc., seine Ausstellungen disziplinenübergreifend als Environments versteht und künstlerische Arbeiten schafft, in deren Fokus die Beziehung von Objekt und Umgebung steht. Aber auch der Musikologe Nicholas Cook oder der Pianist, Musikwissenschafter und Pädagoge Jürgen Uhde fungieren prototypisch als Modelle für die Selbstverständlichkeit gelebter multipler Kompetenzen. Hier kommt der Begriff des Eklektischen zum Tragen, eklektisch in der Bedeutung der Spätmoderne, die der griechischen Übersetzung »ich wähle aus« sowie den Hybriditätsdiskursen nahe ist und nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden will.109

Gespräch/s/Gestaltung/s/Räume Der hier dokumentierte Prozess der Trennung und Wieder-Annäherung von Kunst und Wissenschaft beschreibt, so meine ich, den Weg von einer Reduktion zu einer Steigerung der Komplexität unseres Weltverstehens. Sei es in Richtung der Differenzierung bzw. des intersektionalisierten Blicks auf die Geschlechter, sei es die transdisziplinäre Perspektive über die Grenzen der Disziplinen hinweg oder auch die Balancierungsversuche zwischen rationalen und außersprachlichen Diskursen. Dass die gesellschaftlichen Felder bzw. Wissenslandschaften in Veränderung begriffen sind, steht derzeit wohl nicht infrage. Wie sie sich jedoch verändern (können), steht zur Diskussion. Diesen Gestaltungsspielraum gilt es zu nützen. Wenn es sowohl den Wissenschaften als auch den Künsten allein schwer fällt, den Herausforderungen der Spätmoderne zu begegnen, und damit das Gespräch zwischen beiden unabdingbar wurde, um neue Kulturen entstehen zu lassen, sollten wir der Schnittstelle, dem Gespräch respektive der Qualität des Gesprächs besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Gesprächspartner_innen, die zwischen Kunst und Wissenschaft tätig sind, thematisierten immer wieder die Bemühungen und Schwierigkeiten, in eine produktive Form von Kommunikation zu gelangen. Selbst dann, wenn Initiativen gestartet und Orte für die Begegnung zwischen Wissenschaft und Kunst geschaffen würden, sei es nun eine Arbeitsgruppe, ein Jour Fixe oder ein ganzes Institut, das diese Verbindung auf seine Fahnen geschrieben hat. Gerlinde Semper äußert sich unumwunden über einen primär aus Wissenschafterinnen und Wissenschaftern besetzten interuniversitären Arbeitskreis: »Ich kann nur sagen, wir verstehen einander überhaupt nicht

109 Vgl. Charles Jencks, Spätmoderne Architektur, Stuttgart 1981 (orig. 1980), der eine Neubewertung des Begriffs einleitete.

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– in Wirklichkeit – von Ausnahmefällen abgesehen.« Und sie bringt den Begriff der Resonanz als Beispiel. Während der Physiker ein rein physikalisches Phänomen darin sehe, verbinde sie damit vor allem die Reaktion des Publikums. Auf welcher Ebene könne da ein Austausch möglich werden? Und resümierend: »Letztlich ist es immer eine Suche nach Wahrheit. Aber jeder Bereich hat eine völlig andere Sprache.« Die tiefe gesellschaftliche Fragmentierung spiegelt sich in diesen Erfahrungen wider. Sie stehen einem gemeinsamen Denken im Wege, stehen, um es von einer anderen Ebene zu betrachten, der Entfaltung von etwas wie einer kollektiven Intelligenz im Wege. Kollektive Intelligenz, die, bereits bei Aristoteles angedacht, in der Kybernetik als bewusster Umgang mit dem geistigemotionalen Feld verstanden wird. Doch welche Schritte sind vonnöten, um verschiedene Kulturen, Sprachen, Verständnisse im Sinne verschiedener Denk- und Handlungsweisen miteinander in Beziehung zu setzen? Welche Ansätze dafür gibt es? Dazu an dieser Stelle ein, mir zentral erscheinender Gedanke. Eingangs zitierter David Bohm, Begründer der Bohmschen Mechanik und alternativer Interpretationen der Quantenmechanik, entwickelte zusammen mit dem Religionsphilosophen Martin Buber, dem Begründer des dialogischen Prinzips, die Dialogmethode. Die Wiederentdeckung des Gesprächs als Dialog fand in den 1980er-Jahren statt. Dialog versteht sich als Gesprächsmethode und neue Form der Wissenskommunikation, in der gemeinsames Lernen im Vordergrund steht, für Individuen ebenso wie für Organisationen.110 »Das ist das, was Ralph Waldo Emerson als ›die hohe Freiheit des guten Gesprächs‹ bezeichnet hat.« 111 Dialog versteht sich als Raum für alle Formen des Wissens und könnte in diesem Sinne auch den Wissenschaften und Künsten als Anregung dienen, in einer neuen, der Spätmoderne adäquaten Art und Weise ins Gespräch zu kommen, um Wahrnehmungen miteinander in Verbindung zu bringen und neue Denkweisen zu erzeugen. Im Dialog haben wir die Chance, unser Bewusstsein zu erweitern und Verantwortung für unser Denken zu übernehmen. Denn an den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst und in ihrem Dialog findet sich einer der Schlüssel zu neuen Kulturen.

110 Vgl. David Bohm, Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, Stuttgart 1998 111 Vgl. Isaacs 2002, 53

II. AKTEURINNEN und AKTEURE im GESPRÄCH

ANFÄNGE/AFFINITÄTEN

»Ich könnte mir keinen schöneren Beruf vorstellen.«

GERLINDE SEMPER Regisseurin/Univ.-Prof.in an der Filmakademie/ Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Ich habe an der Graphischen1 Fotografie studiert und absolviert, das Bild stand immer im Vordergrund meiner künstlerischen Tätigkeit. An der Wirtschaftsuniversität Wien studierte ich Werbung und Verkauf und habe also da eine kaufmännische Seite drinnen. Ich machte die Meisterprüfung in Fotografie und erhielt den Gewerbeschein. In der künstlerischen Ausdrucksweise hat mir dann eigentlich die Sprache gefehlt. Das war der Grund, warum ich von der Fotografie zum Film wechselte. Natürlich ist auch das bewegte Bild ein Plus an Aussagekraft gegenüber der Momentaufnahme Fotografie, aber es war vor allem, dass ich die Sprache dabei vermisst habe. Das war der Grund, warum ich an die Filmakademie gegangen bin. Ja, ich könnte mir keinen schöneren Beruf vorstellen. Beruflich habe ich mit Wissenschaft eigentlich nicht viel am Hut.

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Höhere Graphische Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt in Wien

64 | W ISSENSCHAFT , K UNST & G ENDER »In diesem Moment wurde ich zu einem kritisch denkenden Menschen.«

ANNEGRET HUBER Univ.-Prof.in für Musikwissenschaft, Schwerpunkt Analyse der Musik, Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik/ Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Also, ich habe natürlich – wie viele Kinder – Klavier gelernt. Ein ziemlich einschneidendes Erlebnis war, als an der Musikschule, wo ich den Unterricht hatte, ein Musiktheorielehrer engagiert wurde. Der unterrichtete Allgemeine Musiklehre. Dieses Fach, das hier an der Universität ein bisschen als unkünstlerisch verpönt ist, durch das man im Laufe des Studiums halt durch muss. Für mich war das damals eine Offenbarung! Weil ich festgestellt habe, das ist die Sprache, in der ich mit meiner Klavierlehrerin über Musik reden kann! Und schmunzelnd: Ich war ein ziemlich bockiges Kind und dieses bockige Kind wollte dann halt manche Dinge so spielen, wie es sich das denkt. Die Gründe der Klavierlehrerin waren nie gut genug. Aber in dem Moment, wo sie mir eine Analyse schrieb, war ich zu überzeugen. Also, so viel zum Verhältnis von Wissen und Argumentation in der künstlerischen Praxis. Es hat mich trotzdem nicht davon abgehalten, dem Klavier immer noch die erste Stelle in meinem Herzen einzuräumen. Das heißt, ich habe als Kompromiss mit meinen Eltern zunächst nicht Musikpädagogik studiert, sondern Schulmusik in Stuttgart. Das hat aber dazu geführt, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Zu dem Zeitpunkt war klar, dass als Gymnasiallehrerin keine Jobs zu bekommen waren. Wenn ich also schon Klavier unterrichten musste, dann wollte ich Klavierlehrerin werden. Das war das Argument den Eltern gegenüber, um das rein Praktische tun zu dürfen. Es ging dann nur über das KlavierkonzertfachStudium hier in Wien. Denn der Lehrer, den ich in Lübeck gefunden hatte, war nach Wien gegangen. So war es halt »nur«, in Anführungszeichen, das Konzertfach. Meine Eltern waren eigentlich ziemlich entsetzt, weil sie Sorge hatten, was wäre, wenn dem Kind etwas mit den Händen passiert. Hier in Wien habe ich wieder zur Musiktheorie gefunden, was ich Diether de la Motte2 verdanke. Nachdem ich mich mit meinem vorherigen Lehrer ziemlich überworfen hatte – wegen einer Kritik am Kanon, da ich fand, es gab zu wenig

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Diether de la Motte (1928–2010), deutscher Musiker, Komponist, Musiktheoretiker und von 1988–1996 Hochschullehrer an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien

A KTEURINNEN

UND

A KTEURE

IM

G ESPRÄCH

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zeitgenössische Musik in diesem Prüfungscurriculum – kam ich über einen Umweg zum Diether de la Motte. Bei Doblinger3, wo ich neue Musik kaufen wollte, lagen auf einmal Noten von Fanny Hensel herum. Fanny Hensel führte zu Diether de la Motte. In diesem Moment wurde ich zu einem kritisch denkenden Menschen. Seit ich das Studium beendet habe, überprüfe ich schmunzelnd, ob das, was man mir jemals beigebracht hat, überhaupt stimmt. Und da bin ich durch die Auseinandersetzung mit der Musik von Frauen dazu gekommen, dass manche Dinge, die man zu wissen glaubt, nicht mit dem kompatibel sind, was man durch das Analysieren über die Musik von Frauen erfährt. Und dieses Spannungsfeld führte zu den Kulturwissenschaften.

»Und, ja, ich möchte nirgends anders sein.«

SUSANNE VALERIE GRANZER Schauspielerin mit Doktorat für Philosophie, Univ.-Prof.in am Max Reinhardt Seminar/Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Es gab einen Kindheitswunsch, der wohl auch durch sehr frühe Theaterbesuche mit meinen Eltern im Burgtheater geweckt wurde. Von diesem Wunsch habe ich schon im Vorschulalter gesprochen. Ich kann mich gut daran erinnern. Auch an diese ersten Theaterbesuche. Das war der »Verschwender« mit Inge Konradi und dann »Einen Jux will er sich machen«. In der Volksschule haben wir übrigens auch eine Verfilmung dieser Theateraufführung gesehen. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Es war die reine Spiellust, die mich da angesteckt hatte. Der Wunsch, Schauspielerin werden zu wollen, hat sich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr gehalten. Parallel dazu gab es ein frühes Interesse an Fragen, die den Alltag sprengen. Ich habe mir – bereits damals – in meiner Gymnasialzeit einen Kreis gesucht, der schon Philosophie studiert hat. Es gab unendlich viele Gespräche, und ich war mit viel Literatur ausgestattet. Ich habe mit sechzehn James Joyce gelesen. Nichts verstanden. Aber ich war fasziniert. Ich habe Thomas Mann gelesen, ich habe Musil gelesen, den »Mann ohne Eigenschaften«, ich habe ihn in sechs Wochen, wie ich immer sage, im wahrsten Sinne des Wortes »aufgegessen«. In Erinnerung geblieben ist mir ein Zitat, das ich damals auswendig gelernt habe. Ein Zitat aus der Begegnung zwischen Ulrich und Agathe, den Geschwistern, also dem Mann ohne Eigenschaften und seiner Schwester. Es

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Renommierte Musikalienhandlung in der Wiener Innenstadt

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findet sich im Kapitel »Die siamesischen Zwillinge«: »Es gibt einen Zustand in der Welt, dessen Anblick uns verstellt ist, den aber die Dinge manches Mal da oder dort freigeben, wenn wir uns selbst in einem auf besondere Art erregten Zustand befinden. Und nur in ihm erblicken wir, dass die Dinge ›aus Liebe‹ sind.« Ich würde vielleicht heute andere Formulierungen vorziehen. Aber das, was hier angesprochen wurde – die Ausnahmesituation, in der uns die Welt anders aufgeht, als wir sie alltäglich wahrnehmen, wie in einem Umspringbild – das hat mich damals als »Parallelaktion« –lachend, nicht als Parallelaktion wie in Musils Kakanien, sondern als parallele Faszination zum Theater, zur Spiellust – gepackt und nicht mehr losgelassen. Nach der Matura mit achtzehn Jahren habe ich die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar bestanden und mich parallel in Philosophie inskribiert. Das war natürlich eine Illusion. Das konnte ich in dieser Entwicklungsphase nicht nebeneinander realisieren. Aber ich habe immer wieder viel gelesen, Literatur, auch philosophierende Schriften. Eine frühe, sicher auch prägende Schrift war Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«. Denken heißt überschreiten, las ich da. Oder Hoffnung, Erwartung, Intention auf die noch ungewordene Möglichkeit. Oder, das Rätsel Augenblick. Diese Sätze begleiten mich noch heute. Es gab für mich immer Überschneidungen zwischen Kunst und Philosophie. Beide fokussieren Fragen nach dem Sein und Werden des Menschen. Auf unterschiedliche Weise. Der theatrale Künstler wird ganz physisch praktisch im acting on stage damit konfrontiert. Denn besteht seine Kunst nicht letztlich darin, seine Existenz zur Aufführung zu bringen, indem ihm Augen und Ohren, Herz und Verstand anders als alltäglich im Miteinander auf der Bühne aufgehen? In ausgezeichneter Weise? Er also, genau wie Musil schreibt, in einem besonders erregten Zustand zu einer anderen Wahrnehmung der Welt kommt? Ich mache jetzt einen Schnitt. Später habe ich im Engagement in Frankfurt am Schauspielhaus – da wollte ich unbedingt hin, denn ich hatte als Österreicherin, als Wienerin einen sogenannten politischen Nachholbedarf – ein Mitbestimmungsmodell kennengelernt. Dabei kam ich in das Desaster all der Fragwürdigkeiten einer basisdemokratischen künstlerischen Institution. Lachend. Diesem Desaster verdanke ich allerdings, dass ich mich damals entschloss, parallel zu den Proben an die Uni zu gehen. Ich habe mir die Struktur eines Studiums quasi »ausgeliehen«, um parallel zum Theaterspielen nun mit der Philosophie ernst zu machen. Nächster Cut. Dann hat es mich nach Wien verschlagen, an das Burgtheater und an das Reinhardt-Seminar als Professorin. In diese biografische Schnittstelle gehört auch das Magisterium und das Doktorat. So ist schließlich aus der langen Zeit an

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traditionellen Theatern und dem Studium der Philosophie an ihrer Schnittstelle meine jetzige künstlerische Arbeit entstanden: »Philosophy on Stage«. Ein Format, an dem meine beiden Leidenschaften, das Theater und die Philosophie, zusammenkommen und das ich nun gemeinsam mit dem Philosophen Arno Böhler schreibend und performend realisiere. Jüngst mit dem letzten viertägigen Festival »Philosophy on Stage‚ #3« im Haus Wittgenstein in Wien mit über 1.000 Besucherinnen und Besuchern. – Und, ja, ich möchte nirgends anders sein.

»Ich habe eigentlich mit dem Schreiben begonnen, Lyrik.«

BORIS MANNER Autor, Kurator, Kulturmanager, Zentrum für Kunst und Wissenstransfer/ Universität für Angewandte Kunst Wien Das ist schwierig, das kann ich gar nicht sagen. Ich habe eigentlich mit dem Schreiben begonnen, Lyrik, bis Anfang zwanzig. Das ist, einmal einfach gedacht, Kunst. Da man damals nicht creative writing studieren konnte, das gab es in den deutschsprachigen Ländern in den 1970er-Jahren noch nicht, und da die Aussicht, sich als Lyriker zu positionieren sich ja nicht gerade grandios darstellte, begann ich, Kunstgeschichte zu studieren. Und bin dann von der Kunstgeschichte, Kunstgeschichte als Darstellungstechnik künstlerischer Genesen, weggegangen. Weil mir das zu eng war, weil ich die Kunstgeschichte eigentlich als Schnittstelle empfand, die aber so, wie sie hier praktiziert wurde, nicht funktioniert. Dann studierte ich Philosophie und las recht früh begeistert Paul Feyerabends »Wissenschaft als Kunst«. Sowohl Wissenschaft als auch Kunst verbegrifflichen zu wollen, muss zu kurz greifen, denn Wissenschaft umfasst ja dann als Allgemeinbegriff die Molekularbiologie bis zur Musikwissenschaft. Und das sind Ordnungs- oder Forschungsprinzipien, die eigentlich völlig inkompatibel sind. Abgesehen von einer pragmatischen Ebene. In der Kunst ist es ähnlich. Allein schon die Begrifflichkeit Kunst und Wissenschaft verunklärt mehr als sie definieren kann. Ich finde, da beginnt schon die Problematik. Das sind immer soziale Übereinkünfte. Wahrscheinlich würde ein guter Genforscher einen schlechten immer noch als Wissenschafter bezeichnen, auch wenn er Scheiße macht. In der bildenden Kunst spielt die Definition, glaube ich, eine wichtige Rolle – was ist Kunst, was ist nicht Kunst. Viel eher noch als in den Nachbarkünsten.

68 | W ISSENSCHAFT , K UNST & G ENDER »Mein Lieblingsfach war Mathematik. Und von daher spannt sich das Interesse an Kunst oder an einem Kunststudium schon ganz anders auf.«

AGNES FUCHS Bildende Künstlerin/Wien Schon die frühen Versuchsanordnungen und die aktuellen Arbeiten erforschen Interpretationssysteme und Vorgänge des Übertragens, der Messtechnik und der Kunst. Grundsätzlich hatte ich schon immer eine Affinität zu den Naturwissenschaften, genauer gesagt zur Mathematik. Und von daher spannt sich das Interesse an Kunst oder an einem Kunststudium schon ganz anders auf, denke ich. Bei der Entscheidung, was man machen, was man studieren möchte, hat man im Grunde genommen keine Idee davon, was das dann wirklich sein wird. Im Laufe der Zeit realisiert man, was das überhaupt sein kann, was das überhaupt ist. So gesehen lernt man, dass der Gegenstand, auf den man sich zubewegt, sich auch verändert. An der Hochschule oder jetzt Universität für angewandte Kunst, wo ich studierte, war markant, dass wir nicht von Anfang an auf ein Medium festgelegt waren und relativ viel Theorie hatten. Morphologie, Kunstgeschichte, Semiotik etc. und die Auswahl zwischen verschiedenen Medien, sowohl den neueren Medien als auch Zeichnung grundlegend, Malerei, dreidimensionalem Gestalten. Da gab es schon innerhalb des universitären Betriebs eine gewisse Art von Interdisziplinarität, was die Medien betrifft. Das hat sicher eine Offenheit gefördert und Möglichkeiten eröffnet, sich mit verschiedenen Dingen aus verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen. Die Mathematik zeigte sich schließlich immer wieder – in der Logik, wie künstlerische Arbeiten bei mir angelegt waren. Weil sie wie Versuchsanordnungen oder Beweisverfahren aufgebaut waren. Es gab immer wieder Parallelen, z.B. in den Installationen und Bildserien über Messinstrumente. Da findet eine Untersuchung der Maschinenwelt und Messtechnik statt, aber auch im übertragenen Sinn, »die ästhetische Maschine steht hier im Mittelpunkt«.4

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Vgl. David Komary, Accept All Cookies, 2005 Artists: Agnes Fuchs/Haroon Mirza, http://members.aon.at/agnes.fuchs/texte/accept engl.pd

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»Erdforschung konnte man nur bei den Geophysikern studieren und nicht bei den Künstlern.«

FLORIAN DOMBOIS Künstler, Leiter des Instituts für Transdisziplinarität/ Hochschule der Künste Bern Ich komme familiär aus der Kunst und bin unter dieser 68er-Befreiung im künstlerischen Umfeld groß geworden. Meine Eltern nahmen mich immer überallhin mit. Das heißt, ich war bei Theater- und Tanzvorstellungen, bei Ausstellungen usw., die Akademie der Künste Berlin, documenta, das waren meine Spielplätze. Das Studium der Geophysik war eher ein Zufall gewesen, muss ich gestehen, es war sicher nicht Berufung. Ich war auf einem altphilologischen Gymnasium und interessierte mich sehr für griechische Philosophie. Mit Mathematik und Physik hatte ich nie Probleme, doch die Entscheidung für Geophysik kam so zustande: Es war Informationstag an der TU Berlin und ich lief durch die Gänge, als ich durch Zufall Freunde von mir in einer Vorlesung sah und zu ihnen in den Hörsaal abbog. Vorne zeigten sie schöne Bilder von Wüsten und herumfahrende Jeeps und ich weiß nicht, was alles. Diese Faszination, in die Landschaft zu gehen, ging mir unter die Haut. Kunst oder Wissenschaft – das war für mich nie eine Frage. Es hat mich damals nicht interessiert. Vielmehr habe ich versucht, Kompetenzen, die mir wichtig waren und die ich glaubte brauchen zu können, zu akquirieren. Nachträglich würde ich die Studienwahl Geophysik auch als Opposition gegen meine Eltern interpretieren, als Befreiungsschlag. Mein Vater ist Ausstellungsarchitekt, da scheint Erdbebenforschung nicht ganz unpassend, oder? Ich hatte zwar immer viel Kontakt zu Leuten aus der Kunst, aber Nahbeschau und Selbstinszenierung wollte ich nicht. Ich hatte da keinen Nerv für. Der Künstler als »Genie«, das interessiert mich einfach nicht. Und Erdforschung, was ich heute noch mache, konnte man nur bei den Geophysikern studieren und nicht bei den Künstlern. Ich bemerkte allerdings erst während des Studiums – so nach ein, zwei Jahren – dass das für mich in eine ganz falsche Richtung ging. Ich überlegte, ob ich abbrechen soll, hatte aber noch nicht so richtig die Alternative parat, auch konzeptuel nicht, und dachte dann, nein, das mache ich jetzt lieber fertig. Ich kann ja immer noch irgendwo anders hin. Und es gab ja viele Dinge im Studium, die mich durchaus interessiert haben. Nur haben sie’s halt auf die falsche Art behandelt, fand ich. Und in der Dissertation hab ich dann versucht zu verstehen, warum im Studium immer nicht das zum Zuge kam, was mich an der Erde und Landschaft interessiert hätte. Sie hieß »Was ist ein Erdbeben?« und war eine

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Untersuchung sehr unterschiedlicher Darstellungsformen von Erdbeben. Denn plötzlich wurde mir klar, dass die wissenschaftliche Darstellungsform jene Momente verhindert, die mir wichtig waren und sind. Und so wurde es eine Doktorarbeit über den Einfluss der Form auf den Inhalt. Das Thema Kunst und Wissenschaft wurde erst nach dem Studium für meine Arbeit wichtig. Wenn wir sagen: Die Darstellungsform ist der zentrale Horizont, in die wir unser Denken hinein entwerfen, dann haben wir mit den Wissenschaften einen sehr elaborierten Horizont, aber eben nicht den Horizont, in dem ich denke. Wissenschaft, das ist wie eine große Autobahn des Denkens, – da geht es wirklich schnell und man kann ganz viele Autos gleichzeitig fahren –, ich bin dagegen wohl eher auf einer kleinen Landstraße unterwegs. Es gibt wenige Leute, die so etwas machen. Insofern ist es vielleicht weniger die Frage einer Opposition von Kunst und Wissenschaft, als einer von Mainstream und alternativen Formen des Denkens. Mit der Kunst geht es mir oft ähnlich, auch hier gehöre ich mit meinen Erd- und Landschaftsforschungen wohl nicht zum Mainstream. Aktuell reden viele Leute über Bologna Reform und Artistic PhDs, etwas, das in England und Skandinavien weniger erfolgreich war, würde ich sagen, weil sie sich auf die Opposition von Theorie und Praxis gestützt haben, oder wie es so schön heißt practice based research. Ich glaube, das ist eben nicht ein Problem von Praxis und Theorie, sondern es ist eine Frage der Darstellungsformen. Diese Auffassung habe ich in den letzten zehn Jahren auch öffentlich stark vertreten.

»Ich finde ja, dass ich keines wirklich bin. Weder das eine noch das andere.«

ANGELIKA BRECHELMACHER Ethnologin, Sprachwissenschafterin, Filmemacherin, Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, IFF/ Universität Klagenfurt Lächelnd. Ich finde ja, dass ich keines wirklich bin. Weder das eine noch das andere. Mein Werdegang? Wahrscheinlich hat es mit dem Studium begonnen. Das waren Ethnologie und Sprachwissenschaften, und sehr bald bekam ich mein erstes Kind. Dann war eine lange Pause, und in dieser Zeit kam ich durch den Vater meines ersten Kindes in eine sehr kreative Clique, die viel mit Film zu tun hatte. Das war die erste direktere Berührung mit Film. Es machte mir ziemlich Spaß. Die ganze Clique spielte in den Filmen mit, das hat uns sehr zusammengeschweißt. Dann kam mein zweites Kind. In der Zeit, als ich mich vom Vater

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meines zweiten Kindes trennte, nahm ich das Studium wieder auf und machte langsam dieses Studium fertig. Daneben arbeitete ich und hatte eben diese zwei Kinder, das war irgendwie recht viel auf einmal. Zuerst spielte ich ein paar Rollen, kleine Rollen, in, na ja, gar nicht so kleinen Filmen, und dann bot mir ein Freund an, bei ihm Regieassistenz zu machen. Da rutschte ich hinter der Kamera wieder in dieses Feld hinein. Das war Organisatorisches und ein bisschen am Drehbuch mitarbeiten. Ich habe davon gelebt. An der IFF war ich zunächst in der Administration, mit dem Studium wurde ich im Jahr 2000 fertig, da war dann schon mein drittes Kind da.

»Damals war die Verbindung von Kunst und Leben etwas sehr Aktuelles!«

HARALD HUBER Soziologe, Komponist, Pianist, Univ. Prof. am Institut für Popularmusik/Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Der persönliche Werdegang beginnt in Niederösterreich. In meinem Elternhaus wurde musiziert, und ich wuchs zweisprachig auf. Zum einen mit dem klassischen Klavier und zum anderen mit Tanzmusik und Jazz, weil der Vater eine Tanz- und Unterhaltungskapelle betrieb. Das heißt, die musikalische Vielfalt war schon frühzeitig angelegt. Im Oberstufen-Realgymnasium in Wiener Neustadt kam das Violoncello hinzu, und ich konnte auf diese Art und Weise Orchesterund Kammermusikerfahrung sammeln. Auf der anderen Seite pflegte ich Jazz und Improvisation und spielte Rock. Damals war die Verbindung von Kunst und Leben etwas sehr Aktuelles! Ich wurde in dieser Spät-Hippie-Zeit sozialisiert, wo man sich für Musik und Politik interessierte und auch zwischen Politik und Kreativität einen Zusammenhang sah. Das führte zum Entschluss, nicht nur Musik zu studieren, sondern auch Soziologie. Das heißt, ich habe quasi ein zweigleisiges Studium gemacht. Einerseits Lehramtsstudium, was ja sehr wohl künstlerisch wie auch sozial angelegt ist, aber eben auch definitiv freikünstlerische Dinge wie Komposition und Elektroakustik sowie eine Zeit lang Cello/Konzertfach, was ich aber dann wegen einer Verletzung bleiben lassen musste. Und zum anderen studierte ich an der Universität Wien Sozialwissenschaften, allen voran Soziologie und das zweite war das Lehramtsfach Philosophie, Psychologie, Pädagogik. Als Studentenvertreter bemühte ich mich sehr darum, dass der Bereich der populären Musik, also Pop und Jazz, im Lehrveranstaltungsangebot hier am Haus Eingang findet, was zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht der Fall

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war. – Das war ja der Hintergrund, warum Friedrich Gulda im Jahr 1969 den Beethovenring, eine Ehrung des Hauses, nicht annahm, da er monierte, dass das Haus nur einen geringen Teil der Weltmusikkulturen abbilde. Ich wurde dann zu meiner Überraschung relativ schnell nach meinem Abschluss im Alter von sechsundzwanzig Jahren eingeladen, mich bei einer Ausschreibung für eine Einführungsvorlesung in Pop und Jazz zu bewerben, bekam die Vorlesung und unterrichte daher seit dem Studienjahr 1980/81. So eine Vorlesung kann man zwar einerseits als Musiker machen, andererseits aber ist es natürlich ein gesellschaftliches Thema, also ein Thema der Soziologie, der Kultursoziologie, der Jugendsoziologie. So habe ich am Institut für Höhere Studien, IHS, ein Post-Graduate-Studium gemacht und dann auch zusätzliche Lehrauftragsstunden bekommen, die ich nicht zu unterrichten hatte, für den sogenannten wissenschaftlichen Bereich Popularmusik, der über einen langen Zeitraum hier am Institut für Musikpädagogik angesiedelt war. Als die Universität mit dem UG 20025 in die neue Struktur kippte, war die Chance für die Errichtung eines eigenen Instituts für Popularmusik gekommen. Dieses Institut versteht sich als ein künstlerisches und wissenschaftliches Institut, hat derzeit an die fünfzig Mitarbeiter und seit 2003 eine eigene Studienplanvariante der Instrumental- und Gesangspädagogik. Es kann jetzt sowohl als ein Klassikstudium wie auch als ein Popularmusik-Studium absolviert werden.

»Schließlich habe ich diese Professur tatsächlich bekommen!«

ELISABETH von SAMSONOW Künstlerin, Philosophin, Univ.-Prof.in für philosophische und historische Anthropologie der Kunst/Akademie der bildenden Künste Wien Das ist der Passion erste Station. Mit Lachen in der Stimme. Philosophie studiert in München und Kunst gemacht. Nachdem mein Professor nicht nur davon Wind bekommen hat, sondern ich ihm natürlich Einladungen zu meinen Ausstellungen schickte, lud er mich bei sich vor und sagte, wenn ich noch eine einzige Ausstellung mache, promoviert er mich nicht. Denn er habe nicht vor, Dilettanten auszubilden, das würde auf ihn selber zurückfallen. Das war also die erste Station.

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Mit dem Universitätsgesetz 2002 hatten die Universitäten ihre innere Organisation autonom zu regeln und sich im Studienrecht am Bologna-Prozess zu orientieren; vgl. Bettina Perthold-Stoitzner, Universitätsgesetz 2002, 2. Aufl., Wien 2009

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Ich beschäftigte mich damals theoretisch mit Giordano Bruno und arbeitete mit meinen Studierenden an Übersetzungen aus dem Lateinischen. Unsere Übersetzung kam heraus und mein Professor, ein patriarchalisches Monstrum, in München gab es eigentlich nur solche, muss ich dazu sagen, entzog mir den Lehrauftrag. Er sagte, es sei nicht nur so, dass er um seinen Ruf fürchten muss, wenn eine Künstlerin bei ihm lehrt, sondern auch, wenn eine Künstlerin über eine Figur lehrt, die so problematisch ist wie Giordano Bruno, der kein Philosoph sei, sondern ein Dichter. Ich ging in den Wald und schrie dort ein paar Stunden lang die Bäume an. Ein derartiges Selbstgespräch habe ich vorher und nachher nie wieder geführt. Diese Ungerechtigkeit musste hinausgebrüllt werden. Später kam ich dann noch mal zurück an den »Ort des Verbrechens« und sah, dass mein Doktorvater selbst ein »Bruno-Seminar« anberaumt hat. Nicht doch! Mit einem meinem Seminar ganz ähnlichen Titel! Nicht zu fassen! Können Sie sich vorstellen, wie es mir da ging? Das ist doch ungeheuerlich! Nun gut, dann kam ich nach Wien und habe mein »Bruno-Projekt« Peter Sloterdijk angeboten, weil ich von einem seiner Studierenden hörte, er habe in der Vorlesung Bruno herausgestrichen und gesagt, da müsse man jetzt eine Übersetzung machen. Ich dachte, oh Gott, wenn Sloterdijk das herausbringt, dann habe ich meine bisherige Arbeit umsonst gemacht. Ich muss mit ihm sprechen. Er hat dann mein Bruno-Buch mit einem Vorwort in seiner Reihe herausgegeben.6 Eines Morgens ruft er mich an und sagt, an der Akademie kommt eine Professur zur Ausschreibung. Bewerben Sie sich doch! Und ich sagte, wieso denn ich? Ja, bewerben Sie sich doch. Ich reichte meine Bewerbung ein. Ich rechnete mir keine Chancen aus. Das schien mir wie reinste Lotterie. Ich dachte im Stillen bei mir, das ist fein, eine Kunstakademie, wo ich doch Künstlerin bin, das passt eigentlich gut. Ich traf Sloterdijk im Kaffeehaus, und er sagte zu mir, zur Interviewerin gewandt – Sitzen Sie gut, ja? –, er sagte, es sei besser, wenn ich nicht sagen würde, dass ich Künstlerin bin! Nein! Er meinte – und er hatte sicher damals recht –, es würde hier am Haus schlecht ankommen. Dann würden sich nämlich die Kunstprofessoren mit meiner Kunst beschäftigen. Sie sollen sich aber eigentlich mit meinem theoretischen Ansatz beschäftigen, weil es eine Theorieprofessur war. Und schließlich habe ich diese Professur tatsächlich bekommen!

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Elisabeth von Samsonow/Peter Sloterdijk (Hg.), Giordano Bruno, Philosophie jetzt!, München 1999

76 | W ISSENSCHAFT , K UNST & G ENDER »Für mich waren – von Anfang an eigentlich – Konzepte wichtig, waren Hintergründe wichtig, waren Ideen wichtig, Utopien wichtig.«

ANDREA SODOMKA Medienkünstlerin, Komponistin/Wien Für mich waren – von Anfang an eigentlich – Konzepte wichtig, waren Hintergründe wichtig, waren Ideen wichtig, Utopien wichtig. Von meinen ersten Schritten als Künstlerin an, das heißt von einem Zeitpunkt, wo ich noch mit Malerei beschäftigt war. Sehr, sehr schnell wurde mir die Beschäftigung mit Malerei allein zu wenig. Ich hatte das Gefühl, da muss es noch viel mehr geben. Die Malerei, das Medium, war für mich nicht das Geeignete, um in historische und technische Hintergründe tiefer einzudringen. Ich kam dann sehr schnell zu technologischer Kunst, weil es mich unwahrscheinlich reizte, mit Technik umzugehen. Vorher spielte das in meinem Leben überhaupt keine Rolle. Ich komme zwar aus einer Technikerfamilie, war aber als Mädchen relativ unberührt davon oder wurde auch nicht hingeführt. Mit Technik umzugehen war für mich eine unwahrscheinliche Herausforderung. Ich kam dann rasch zur Musik, zur elektronischen Musik, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Weil ich in der Musik sah, dass da Gedankenmuster, Konzepte, Ideen und Strukturen für mich leichter zu verwirklichen sind. Ich hatte nur das Problem, ich habe nie ein Musikinstrument gelernt, war von der Musik her genauso wie von der Technik vollkommen losgelöst und hatte keine Ahnung, wie denn das so funktioniert. Aber fasziniert hat es mich irrsinnig. Ich studierte, parallel zum Studium an der Angewandten,7 elektronische Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst, wo ich mich sehr früh mit Computergrafik auseinandersetzte und mit Video und Fotografie. Elektronische Musik und Computermusik waren für mich unwahrscheinlich wichtig. Einmal habe ich damit die Hürde zur Technik überwunden und dann die Hürde zur Musik. Der Computer war für mich die einzige Möglichkeit, Musik zu machen. Anfang der 1980er-Jahre, in einer Zeit, wo es keine Computersysteme gab wie heute, wo ich mich, wie ich das jetzt mache, an mein Netbook setze und die kompliziertesten Programme ablaufen lasse, waren das teilweise noch Großrechnersysteme, wo eine Sekunde Klang durchschnittlich zwölf Stunden rechnete. Und dann kam man drauf, das war es jetzt aber doch nicht. Was einen ganz schön disziplinierte. An der Geschichte der technologischen Kunst wurde auch

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mein theoretisches Interesse befriedigt. Ich hatte zwei Jahre Theaterwissenschaft studiert, zwar mit Begeisterung, aber aus Zeitmangel musste ich es aufgegeben. Zwischen dem Studium der bildenden Kunst und dem der Musik war das einfach nicht mehr möglich. Aber ich interessierte mich immer weiter für Theorien und Schriften, in denen Künstler Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen, sich mit neuen Technologien, mit neuen Medien auseinanderzusetzen, Konzepte zu entwickeln, Utopien zu entwickeln und sehr begeistert waren, obwohl diese Konzepte ja zum ganz großen Teil noch nicht realisierbar waren. Film und Radio spielten darin eine große Rolle. Und Radio, Radiokunst, spielt für mich heute noch eine ganz große Rolle. Ich beschäftigte mich da auch sehr mit der Theorie. Anfang der 1990er-Jahre kam ich über das ORFKunstradio zur Radiokunst und nahm an vielen Projekten, auch internationalen, teil. Der nächste logische Schritt war dann die Kommunikationskunst. Wir haben sehr früh begonnen, uns mit realen Netzwerken, noch vor dem Internet, zu beschäftigen. Wenn ich jetzt WIR sage, dann meine ich Alien Productions, das ist das Netzwerk, in dem ich denke, arbeite und entwickle. Alien Productions wurde von Martin Breindl, Norbert Math, August Black und mir als Netzwerk für Künstler_innen, Wissenschafter_innen, Techniker_innen, Literat_innen, also für Menschen, die sich für die Praxis und Theorie technologischer Kunst interessieren und Konzepte entwickeln, gegründet. Es ist ein offenes Netzwerk, das im Moment um uns drei – Martin Breindl, Norbert Math und mich – als Seele, als Motor, als Herz und Kopf kreist, in jedem Projekt aber erweitert wird und eben nicht nur um Künstler, sondern projektabhängig, um diverseste Fachleute.

»Seither bin ich immer an der Schnittstelle zwischen Kunst, Kultur und Wissenschaft unterwegs.«

KATHARINA GSÖLLPOINTNER Kunst-, Kommunikations-, Medienwissenschafterin, Coach & Supervisorin, Organisationsberaterin/mediengarten, Institut für systemische Medienforschung Wien Vielleicht muss ich da ganz früh mit meiner Familie anfangen. Ich bin von Geburt an mit der Kunst in Berührung. Mein Vater ist Künstler, war an der Kunstuniversität in Linz Professor und betrieb Kulturpolitik und Kunstpolitik. Ich wuchs sozusagen mit der Kunst auf. Es war dann natürlich einmal das The-

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ma, ob ich nicht auch Künstlerin werden möchte. Ich zeichnete, malte und bastelte viel, was man eben so in jungen Jahren macht. Aber mit diesem erfolgreichen Vater im Hintergrund traute ich mich nicht wirklich. So studierte ich Lehramt Englisch und Germanistik, denn Literatur interessierte mich immer sehr, kam aber drauf, dass ich mir nicht vorstellen konnte, Lehrerin zu sein. Durch Zufall stieß ich damals auf die sehr junge Kommunikationswissenschaft und Publizistik, ich habe ja in Salzburg studiert, und da bekam ich das Gefühl: Das ist es! Die Medien, die Kommunikation, das ist es eigentlich, was mich interessiert. Ich sattelte um, studierte relativ schnell fertig und schrieb meine Dissertation über Alltagskultur und Kulturkritik. Das heißt, ich erforschte mit wissenschaftlichen Methoden die Kommunikation über Kultur. Über dieses Thema kam ich in den Kunst- und Kulturbereich, machte verschiedene PR-Projekte für Ausstellungen und war dann auch intensiv journalistisch tätig. 1990 wurde ich gefragt – ich war vorher schon in verschiedenen Jobs bei der Ars Electronica in Linz tätig –, ob ich das Festival nicht leiten möchte, und habe das dann getan. Ich war hauptsächlich für Management und Organisation zuständig, aber auch als künstlerischer Beirat für das Programm. Peter Weibel war damals der künstlerische Leiter. Über die Medienkunst kam ich wieder zurück zu den Medien, zur Kommunikation und zur Kommunikationswissenschaft. Im Bereich Medienkunst begann ich mehr wissenschaftlich zu arbeiten. Da interessierte mich genau diese Schnittstelle zwischen Ästhetik und Gestaltung von Realität. Wie gestaltet Kunst Kommunikationsprozesse? Welche Medien, welche Technologien verwendet sie dazu? Wie setzt sie sich mit der Medialität bestimmter Technologien auseinander? Das war mein Umweg hin zur Wissenschaft. Seither bin ich immer an der Schnittstelle zwischen Kunst, Kultur und Wissenschaft unterwegs. Zwischendurch habe ich kuratiert, war als Beirat für Medienkunst im Ministerium, aber immer als Theoretikerin, nie als Künstlerin. Obwohl ich eingeladen wurde und kleine künstlerische Projekte machte, habe ich mich nie als Künstlerin verstanden.

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AMBIVALENZEN/ SCHNITTSTELLEN GERLINDE SEMPER In dem Mail, in dem Sie sich angekündigt haben, bilde ich mir ein mich zu erinnern, stand, Kunst und Wissenschaft nähern sich einander an. Mit Lachen. Glauben Sie das wirklich? Also ich glaube, hier herrscht vor allem eine Rivalität und meiner Ansicht nach geht es primär um Ansehen und Anerkennung. Heute genauso wie damals. Ich sehe nicht, dass sich Wissenschaft und Kunst annähern, die sprechen eine völlig andere Sprache. Ich glaube, gemeinsam ist ihnen maximal, dass beide Visionen haben. Die Ausgangsbasis der Arbeitsgruppe »Wissenschaft und Kunst« war, Schnittstellen zu finden. Mittlerweile finde ich es nicht uninteressant, denn es gibt Denkanstöße. Man beschäftigt sich dann mit Dingen, mit denen man sich vielleicht nicht beschäftigen würde, wenn man jetzt nur in seinem eigenen künstlerischen Bereich bliebe. Ein Kollege von mir hat einmal versucht, den Musikern klar zu machen, wie ein Filmregisseur über ihre Arbeit denkt: Wie nehme ich ein Orchester auf? Wissen Sie, unsere Leute finden es eigentlich viel interessanter, wenn der Cellist sich die Schuhe auszieht, als was er oben tut. Oder wenn der Paukist zwischendurch in der Nase bohrt. Dem Regisseur ist die Partitur eigentlich nicht so wichtig. Das bringt es aber auf den Punkt, nicht? Auch die Künste untereinander reden ja nicht immer dieselbe Sprache. Man kann auch die Wissenschaft untereinander nicht gleichsetzen. Das scheitert ja schon einmal dort. Genauso, wie man die Künste nicht gleichsetzen kann. SUSANNE VALERIE GRANZER Dass es eine alte »Ranküne« zwischen Philosophie und Theater gibt, wie Nietzsche es nennt, darf nicht verschwiegen werden. Das finden Sie schon bei Aristoteles, der meinte, die Tragödie veranschauliche in der Aufführung, was im Lesen nicht erfasst werden könne. Sie wäre also nur für die notwendig, deren Potenz für ihre Lektüre nicht ausreiche. Umgekehrt hatte das Theater immer eine Abneigung gegen das »Denken« unter Anführungsstrichen. Dabei wird allerdings eine wichtige Frage übersprungen – nämlich, welches Denken hier gemeint ist. Welches Denken hier abgelehnt wird. Meiner Erfahrung nach wird es mit logisch abstraktem Denken gleichgesetzt und nicht in seinem performativen Vollzug, der Kopf, Herz und Bauch betrifft, sage ich einmal salopp.

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Als ich begonnen habe, Philosophie zu studieren, habe ich begonnen, mich verdächtig zu machen. Das bekam ich am Theater rückgespielt. Ich gehe fremd. Man könne nicht zwei Herren oder zwei Damen dienen. Entweder jemand gehört dem Theater an oder nicht. Aber Philosophie zu studieren und parallel in einem sogenannten akademischen, wissenschaftlichen Bereich? Schüttelt den Kopf – und lacht. BORIS MANNER Künstlerische Forschung wäre Forschung betreiben mit künstlerischen Methoden, künstlerischen Techniken. Die Frage ist, ob es das wirklich gibt…Oder ist es nur Behübschung, wenn man sagt, wissenschaftliche Prozesse werden künstlerisch dargestellt? Dann ist es eigentlich nur Design. Also wie weit das dann tatsächlich Forschung im Sinne der Forschung nach neuen Medikamenten ist? Tatsächlich analogisierbar dem zehnmaligen Übermalen einer Leinwand? Wie derartige Denkprozesse passieren, ist völlig unterschiedlich zu dezidiert teleologisch orientierten Forschungs- und Erkenntnisprozessen. Das ist zwar auch ein Vorgang, das ist zwar auch Inhalt, vielleicht auch ein Ziel, aber es ist nicht zweidimensional, es ist dreidimensional. Zu seiner Tätigkeit, seinem Anteil in diesen Prozessen. Das ist eine Auseinandersetzung im Sinne einer Reflexion oder eines Mitgehens oder Mitdenkens über einen gewissen Zeitraum. Vielleicht ist das aber genau so eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst. AGNES FUCHS In unserer kulturellen Definition von Wissenschaft ist ziemlich klar definiert, dass sie gewissen Spielregeln zu folgen hat. Spekulation gilt eher in dem Bereich, in dem sie dazu dienen kann, eine Fragestellung zu formulieren, nicht aber als Ergebnis. In der Kunst hingegen ist es der Aspekt der Spekulation hinsichtlich einer Mehrdeutigkeit der Zuordnung und der Anteile des Vervollständigens durch den Betrachter oder den Kontext entscheidend. Das ist sogar ein wesentliches konstituierendes Moment der Kunst. Auch in der Kunst gelten bestimmte logische Kriterien. Kunst hat immer ein Interesse an wissenschaftlichen Ergebnissen und Kunst ist sicherlich eine Art von Forschung. Ich glaube, das kann man schon sagen. Und trotzdem kann man die Grenzen, an denen sich die Disziplinen unterscheiden, bestehen lassen. Man ist in der Kunst ja auch daran interessiert etwas – gegenwärtig Relevantes – zu formulieren. Kunst ist auch eine selbstreflexive Untersuchung, die die Gegenwart und die Positionierung einer

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Gesellschaft betrifft. Für mich ist die Frage bezüglich dieses Imperativs, Kunst und Wissenschaft sollen miteinander arbeiten, interessant. Warum eigentlich, wäre meine Frage? Wieso stellt sich das so dar, dass es auch seitens der Wissenschaft ein Bedürfnis gibt? Was bedeutet diese Ambition? FLORIAN DOMBOIS Ich war nie in der Wissenschaft heimisch. Oft kam ich mir eher wie ein Ethnologe vor, als einer, der sich nur wundert. Meine Freunde waren immer Künstler und mein Horizont wohl eben doch die Kunst, trotz allem. ANGELIKA BRECHELMACHER Die Hochschulforschung läuft über wissenschaftliche Förderschienen, also FWF8 oder EU oder beides. Das läuft klassisch ab, mit qualitativen Interviews, mit Experten/ Expertinnen-Interviews, mit Online-Interviews, mit Auswertungen, mit dem Verfassen eines Berichts. Die andere Schiene meiner Tätigkeit sind biografische Projekte, wo es, im Idealfall, einen filmischen Teil dazu gibt. Die Filme sind eigentlich sehr karg, immer nur die Geschichten von den Interviewten, die, auf eine bestimmte Art zusammengestellt, wieder eine zusammenhängende Geschichte ergeben. Eine neue vielleicht, mit einem interkulturellen oder grenzüberschreitenden Blick. Was mir bei diesen Projekten ganz wichtig ist, ist das Zweisprachige. Wenn ich sage, ich beschäftige mich mit Kunst, dann ist es nichts, was ich abgeschlossen und alleine für mich mache, um mir Ausdruck zu verleihen, sondern es ist immer etwas mit vielen Leuten, etwas sehr Soziales. Und etwas sehr Emotionales. Wissenschaft hingegen ist immer etwas, wo ich auch ein bisschen kämpfen muss, um Disziplin, darum, Gedanken weiterzuverfolgen, um eine Linie für die Texte. Trotzdem ist es eine Herausforderung, sonst wäre ich nicht hier. Ich müsste die Weitsicht haben und so gut planen können, dass ich sage, ich mache aus einem Fördertopf ein künstlerisches Projekt, finde aber auch einen wissenschaftlichen Topf, in dem ich dann inhaltlich dazu arbeiten kann. Aus einem einzigen Fördertopf, glaube ich, geht es nicht. Es gibt in meinem Leben noch, ich weiß nicht, ob das da hineinpasst, eine weitere Schiene, und zwar die ganz sinnliche. Das ist Shiatsu, die rein körperliche Ebene. Und ich habe das Gefühl, ich brauche sie alle drei!

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Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung, Einrichtung zur Förderung der Gundlagenforschung

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HARALD HUBER Ich kenne sonst kein Institut in Österreich, das sowohl ein wissenschaftliches wie ein künstlerisches Institut ist. Auch weltweit scheint das einigermaßen rar zu sein. Ich war sehr stolz, dies bei der Institutsgründung des Instituts für Popularmusik zuwege gebracht zu haben. Im Studienplan ist es gelungen, die Sphären zu mischen. Und die Studierenden haben überhaupt kein Problem damit, zu üben und kreativ zu sein, Konzerte zu spielen, Dinge zu recherchieren, etwas darüber zu schreiben und ihre Bakkalaureatsarbeiten zu verfertigen und sich dann im Magisterstudium in eine Magisterarbeit hineinzustürzen! Das Problem (dass eine Mischung der Arbeitsweisen nicht funktioniert) ist in Auflösung begriffen, weil jetzt eine nächste Generation herangebildet wird, die das nicht mehr als Problem betrachtet. Wir haben im Institut eine Teamlösung in der Leitungsebene, und ich bin Teil dieses Teams. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich die Integration von Kunst und Wissenschaft in einer Teamsitzung ganz direkt ansprach. Was ist jetzt damit? Es interessieren sich zwar die Wissenschafter für die Kunst, aber nicht die Künstler für die Wissenschaft. Daraufhin reagierte ein Kollege sofort und wollte sich gleich mit mir treffen. Also da zeichnet sich auch der Beginn eines Dialogs ab. In vergnügtem Ton. Ja, die Inspiration liegt einerseits in der Person und vor allem darin, dass ich es für mich nicht trennen kann. Ich komme gar nicht auf die Idee, das ist vollkommen unmöglich. Ich bin gleichzeitig ausübender Musiker, nach wie vor auf der Bühne, und als Komponist tätig. Ich kann mir nicht vorstellen, warum man das trennen sollte. Denn es befruchtet sich ja gegenseitig außerordentlich. Indem ich künstlerische Erfahrungen mache, kann ich ganz anders darüber schreiben. Andererseits kann ich durch das Recherchieren viel an Reflexion entwickeln und an Ausdrucksvermögen, was mir wieder bei der künstlerischen Arbeit zugutekommt. Das ergibt einen anderen Zugang, denn mir ist es sehr wichtig, dass ich tatsächlich auf der Bühne stehe und selbst in der Musik bin. Das unterscheidet diesen Ansatz z.B. von der Musiksoziologie, dass ich im Prinzip jemand bin, der mit den Künstlerkollegen des Popularmusik-Instituts auf Augenhöhe kommunizieren kann. Die Grenzen sind fließend, es sind zwei verschiedene Wege, Erfahrungen zu verarbeiten. ELISABETH von SAMSONOW Das ist natürlich sehr interessant, weil wir es mit einer großen Bewegung von Entdifferenzierung zu tun haben, wobei die Gender-Differenz die eine ist und die

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Differenzierung zwischen den Fakultäten und den Wissensformen die andere. Meiner Meinung nach hängt das zusammen. Mühsam wurde bislang ein Wissensideal, das in diese ganzen Spezialisierungen geteilt ist, aufrechterhalten. Vor allen Dingen die Differenz zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, subjektgestützte und subjektlose Wissensformen – es ist beinahe amüsant. Jeder große Physiker war natürlich ein subjektgestützter Wissender, EXTREMST sogar. Das waren alles Poeten, Wissens-Poeten. Jetzt bekommen wir ein Gesetz, dass wir in allen Gremien vierzig Prozent weibliche Mitglieder haben müssen. Wie denn? Als was treten die denn auf? Wer überprüft das und wer überprüft das wie? Dass ich die Hose hinunterlasse oder was muss ich eigentlich machen? Oder sieht man es an der Frisur? Die Leute können sagen, ich empfinde mich als weiblich oder männlich. Sagte ich: Unter diesen Vorzeichen lege ich mir sofort ein männliches Pseudonym zu! KATHARINA GSÖLLPOINTNER Die Kunst wird vonseiten der Politik immer mehr verwissenschaftlicht, und die Wissenschaft wird, ich nenne es jetzt einmal amerikanisiert, im Sinne der naturwissenschaftlichen Kriterien. Das heißt also, diese ganzen Begutachtungssysteme und Publikationssysteme etc. greifen auf die soft sciences über. Bis hin zur Erschließung der Künste, die mittlerweile wissenschaftlich, aber zumindest forschend arbeiten sollen.

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KUNST/WISSENSCHAFT/LEBEN SUSANNE VALERIE GRANZER Für mich war Freiheit immer ein wichtiger Faktor. Es wäre mir unvorstellbar, obwohl ich sehr viel arbeite, im weitesten Sinn fremdbestimmt zu arbeiten. Ich kann sagen, alles, ja, fast alles, was ich tue, tue ich gerne und aus Lust. Aus Leidenschaft. Ich schreibe gerade an einem Buch, was ich übrigens nicht tun müsste, keinerlei äußerer Druck drängt mich dazu – das Buch wird heißen »Schauspieler außer sich«,9 und einmal zitiere ich eine Stelle von Platon, an der er von einem Hüpfer spricht. Von einem Hüpfer, der bei allen jungen Lebewesen zu beobachten wäre. Einfach so. Ein Sprung aus Freude. Genau das ist es. Sich nicht in Reih und Glied disziplinieren zu lassen, sondern aus der Reihe tanzen, im wahrsten Sinne zu tanzen, zu hüpfen, zu hopsen, zu springen. Und dieser kleine Freudensprung, der nicht ökonomisierbar ist, der nicht berechenbar ist, hat seinen Zweck in sich. Wie zum Beispiel auch Freundschaft ihren Zweck in sich hat. Das ist für mich ein wichtiges Thema. Der Hüpfer ist nicht kalkulierbar, nicht voraussehbar, nicht programmierbar, sonst ist er kein Freudensprung oder sonst ist Freundschaft keine Freundschaft. Das hat mich immer angezogen. Das habe ich immer zu realisieren versucht und versuche ich weiterhin. Ja, davon ist etwas am Gelingen. Das darf ich sagen. Und dafür bin ich meinem Leben sehr dankbar. BORIS MANNER Ich habe mir jetzt die Freiheit erarbeitet, nicht ordnend und nicht historisch mit Kunst umgehen zu können. Ich bin tatsächlich eine Zeit lang im Prozess. Das ist, was mir Spaß macht. Nein, das ist das falsche Wort, das ist, wo ich zu Hause bin. Das ist wie In-meinem-Bett-Sein. Da habe ich gar keine Distanz, da muss ich über keine Schwelle gehen. So etwas kann man sich nicht als Berufswunsch mit siebzehn Jahren ausdenken. HARALD HUBER Es ist eine doppelte oder vielleicht sogar dreifache Leidenschaft. Ich arbeite gerne, leidenschaftlich gerne künstlerisch – komponieren, es auf die Bühne bringen, produzieren. Aber leidenschaftlich gerne lese ich auch wissenschaftliche Fachli-

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Susanne Valerie Granzer, Schauspieler außer sich. Exponiertheit und performative Kunst, Bielefeld 2011

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teratur. Ich habe eine Magisterarbeit über Wissenschaftstheorie geschrieben. Das ist genauso eine Leidenschaft. Und das dritte ist die pädagogische Leidenschaft. ELISABETH von SAMSONOW Ich dachte schon einmal, so im Winter, das Bildhauern in der kalten Werkstatt muss ich jetzt nicht unbedingt haben, und dachte, vielleicht male ich jetzt einfach wieder oder zeichne oder mache irgendwie etwas, das nicht so schwer geht. Oder ich lasse es überhaupt bleiben, das Denken und Schreiben ist ja ohnehin so toll. Schreiben ist ja etwas irrsinnig Schönes. Aber ich merke dann, dass mir das Schreiben und Denken auch keinen Spaß mehr macht. Das ist bei mir inzwischen so verbunden. Wenn ich das eine nicht mache, geht das andere auch nicht, so schaut’s aus. Dass es so radikal verbunden ist, so tief verwurzelt, das war mir selber eigentlich nicht so klar. ANDREA SODOMKA Ein anderes Denken ist es auf jeden Fall. Man muss sich selbst trainieren, mit undenkbaren Systemen zu tun zu haben. Manchmal, wie zum Beispiel im Bereich der Quantenphysik, nicht nur für uns undenkbar. Also immer wieder in neue Systeme einzusteigen, verändert das Denken extrem. Weil es ein systemisches Denken wird. Ein weiterer Punkt ändert das Denken auch sehr, das sind die Netzwerke, ist das Vernetzen mit anderen Wissensformen und anderen Menschen. Das ist jetzt etwas, wo Künstlerinnen und Künstler meistens nicht so gut trainiert sind, zumindest die meiner Generation nicht, weil es bis zu dieser Generation eigentlich um das Gegenteil ging. Um den Geniekult, der mir schon immer wahnsinnig auf die Nerven gefallen ist. Das Biedermeiersche Sich-auf-dieeigene-Person-Zurückziehen. Für eine künstlerische Laufbahn ist es also ein enormer Schritt, weil wir so nicht trainiert wurden. Ich möchte das unter einem Begriff subsumieren, weil ich mir, wie gesagt, schwertue, das Ganze zu trennen. Der Begriff ist Wissen. Und Wissen bedeutet für mich sehr viel. Das kann eine ästhetische Lösung sein, und es kann aber auch eine analytisch hart erarbeitete Struktur sein. Das zusammen ist das, was mich fasziniert, das Wissen. Und aus diesem Wissensdrang habe ich angefangen, mich so zwischen diesen Welten zu bewegen.

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VER/ORTUNGEN FLORIAN DOMBOIS Die Frage, was man ist, ist ja sowieso keine einfache, und die muss man irgendwann für sich entscheiden. Es gibt verschiedene Gründe, warum man sich für etwas entscheidet. Es gab Phasen der Unsicherheit, das muss ich gestehen. Gerade zum Ende des Studiums ist man sowieso gar nichts, oder? Man hat noch nichts gemacht, man hat nur das Versprechen, dass man einmal etwas wird. Und dann muss man sich irgendwo verorten. Wenn man sich dann im Nirgendwo verortet, ist das riskant. Es gibt die Ansprüche und Methoden, die ich den Wissenschaften verdanke und die ich nicht missen möchte. Ich lege Wert auf Sorgfalt und eine gewisse Strenge und Aufrichtigkeit. Das klingt ein bisschen protestantisch, schmunzelnd, ist es ja vielleicht auch. BORIS MANNER Ich verstehe mich nicht als Philosoph, sondern als jemand, der Philosophie »technisch« gebraucht. Das heißt? Ich nütze die Fähigkeiten, die ich mir erworben habe, also Analysevermögen und Abstraktionsvermögen als Technik im Umgang mit junger Kunst. ANGELIKA BRECHELMACHER Das war immer schon das Schwierigste, immer schon. Eine Antwort zu geben auf die Frage: Was machst du jetzt? Ich habe es gerne und ich hadere damit, dass ich Randpositionen einnehme. Ich gehöre irgendwo dazu, aber doch auch nicht so ganz, ein bisschen zum Rand und doch vielleicht auch zu etwas anderem, d.h. es ist wichtig, Notfallsidentitäten, lächelnd, bei der Hand zu haben. ELISABETH von SAMSONOW Also, ich hatte immer wieder so ein Gefühl, ich hätte eine doppelte Identität, als wäre ich eine Lügnerin und Betrügerin. Immer, wenn Leute mich fragen, was ich bin, würde ich am liebsten in Ohnmacht fallen, weil ich es nicht sagen kann. Ich kann bis heute nicht sagen, was ich bin. Die Leute sagen diesbezüglich die groteskesten Sachen über mich. Die einen sagen, ich bin Anthropologin, die vierten sagen, ich bin Philosophin, die fünften sagen, ich bin Esoterikerin, die siebten

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sagen – was weiß ich – eben Kunstprofessorin, aber es ist immer alles falsch. Ich würde mich als Künstlerin und Philosophin bezeichnen, aber am liebsten wäre mir eine zusammengefasste Begrifflichkeit wie die Künstlerphilosophen, wie in der Renaissance oder etwas in der Art. Ich hatte ein Forschungsprojekt eingereicht und einer der peer reviewer schrieb, Samsonow ist überhaupt noch nicht in Erscheinung getreten, sie hat noch keine Publikation vorzuweisen. Das ist, als wäre ich zwei verschiedene Personen, als hätte ich zwei verschiedene Homepages, die nicht einmal einen Verweis aufeinander haben. So funktioniert die bikamerale Psyche. Mir kommt sehr entgegen, dass sich alles jetzt so verändert. Jetzt wage ich selbst stärker, die Verbindungen herzustellen. ANDREA SODOMKA Es ist eine Gratwanderung, eine unwahrscheinlich arge Gratwanderung. Irgendwo dazwischen geht es sich dann aus. Als Karriere ist das kein tauglicher Weg. Es ist Wahnsinn. Es ist eigentlich Wahnwitz. Es gibt keine soziale Sicherheit, es gibt, was in Anbetracht des 21. Jahrhunderts, in Anbetracht dessen, dass alle davon reden, wie wichtig diese Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Wissenschaft sind, keine Programme, die solche Künstlerinnen und Künstler auffangen können. Eigentlich ist es unbegreiflich. Es ist unvorstellbar, dass die Karrierewege noch immer getrennte sind. Mir ist das mein ganzes Leben lang so gegangen, und ich nahm das natürlich bewusst in Kauf. Man kann ja nicht anders. Es geht deswegen nicht anders, weil ich dann wieder dahin zurückgehen würde, wo ich mich als begabte junge Malerin, als begabte Komponistin oder Fotografin zu Tode langweilen würde. Also da gibt es keinen Weg zurück. KATHARINA GSÖLLPOINTNER Ich habe nach Beendigung meiner Coaching- und Supervisionsausbildung relativ lange gebraucht, diese Identität in den anderen Feldern unterzubringen. Das war sogar ein Prozess, wo ich selber noch einmal Supervision in Anspruch genommen habe, um zu klären, wie ich damit umgehe.

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ZUKÜNFTIGES/PERSPEKTIVISCHES GERLINDE SEMPER Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man hergeht und sagt, Wissenschafter und Künstler bilden Arbeitsgruppen. Ich bleibe jetzt einmal beim Film. Mich würde zum Beispiel interessieren, wie setze ich das Thema Zeit filmisch um. Da könnte mich interessieren, mit einem Physiker zusammenzuarbeiten, ein Drehbuch mit ihm gemeinsam zu entwickeln und als Gemeinschaftsprojekt umzusetzen. Wir hatten eine Tänzerin in der Gruppe, vielleicht findet sich auch ein Maler, der mitmacht. Dass man solche Kooperationen bildet, denn nur in der Zusammenarbeit, glaube ich, lassen sich die Schnittstellen finden. Ein gemeinsam entwickeltes Drehbuch. Wie stelle ich Zeit dar? Da gibt es ja hunderttausend Möglichkeiten, nicht!? SUSANNE VALERIE GRANZER Wie fangen alle Märchen an? Mit: »Es-war-einmal«. Man kann das weiterschreiben zu »Es-wird-einmal!« AGNES FUCHS Es braucht die Freiräume, die ein Interesse zwischen Kunst und Wissenschaft, wenn es vorhanden ist, organisieren. Möglichkeiten, wo grundsätzlich eine Basis konstruiert werden kann. ANGELIKA BRECHELMACHER Wenn ich zu den energetischen Ebenen hinspüre, so dürfte die Wissenschaft nie alleine existieren. Mit einem Lächeln in der Stimme. Es muss immer auch diese sinnliche Ebene von Kunst da sein. HARALD HUBER Wie könnte das gehen? Wenn interessante Arbeiten fertig werden, Magisterarbeiten, dass die – zweimal im Semester – präsentiert werden, sodass die Künstlerkollegen sie wahrnehmen können. Dass sie, wie ich in ein Konzert gehe, kommen und sich das anhören.

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ELISABETH von SAMSONOW Ich kann mir immer nur auf ganz kleinem Raum eine Community schaffen und suche mir gerade wieder meine Wahlverwandten zusammen. Und auf die Universität bezogen. Wo ist hier unser wunderbar durchwachsenes Zusammensein mit den verschiedenen Generationen? Wir brauchen unbedingt einen 60-Jährigen oder eine 60-Jährige hier. Wir brauchen eine 50-Jährige und eine 40-Jährige, und wir brauchen eine 35-Jährige. Wir brauchen das alles, und dann brauchen wir die 19-jährigen Studenten, und dann brauchen wir die Dissertanten, die sind dazwischen drin. Wir brauchen diese ganzen Intelligenzen! Ich beschäftige mich viel damit, warum die 1970er-Jahre in die Hosen gegangen sind. Das war meine Generation, meine Hoffnung. Man hat gedacht, jetzt kommt das Goldene Zeitalter. Was es bräuchte? – Räume! Also es müssten jetzt irgendwie so ein paar Peers her, die richtig Räume der Ermutigung schaffen. Die Sinn für das Experimentelle haben, die die Leute so ermutigen können, dass sie Dinge aussprechen, von denen bisher die Meinung festgeschrieben war, dass die nicht zur Sache gehören. Dass es so etwas wie ein kybernetisches Forschen gibt, dass es ganz stark bezogen wird auf das Leben der Personen, dass sich die einbringen dürfen. Ich habe gemerkt, dass die Leute, kaum waren sie entfristet, die Klappe weiter aufgerissen haben. Das Gute war, dass sie nicht mehr um ihren Job fürchten mussten, denn das macht kleinmütig. Man züchtet diesen abhängigen Kleinmut mit den jetzigen Strukturen. Das ist schlecht. Das dient der Überwindung der Grenzen nicht. Nischen sollten jetzt zu avantgardistischen Forschungszentren werden. Das ist das Re-Arrangement, das jetzt bevorsteht. ANDREA SODOMKA Eine Foundation, die auch einen Schwerpunkt für Projektstipendien zwischen Kunst und Wissenschaft hat. Für Projekte, die weder rein wissenschaftlich noch reine Kunstprojekte sein dürfen. So etwas bräuchte es. Es gibt schon Ansätze dazu, nur, es wird noch immer nicht unterschieden zwischen diesen und solchen, bei denen sich Künstlerinnen und Künstler von der Wissenschaft inspirieren lassen, aber in ihrem eigenen Metier bleiben. Das ist etwas anderes. KATHARINA GSÖLLPOINTNER Ich glaube, wenn Künstlerinnen bzw. Künstler mit Wissenschafterinnen und Wissenschaftern wirklich kommunizieren wollen, brauchen sie, ja, Orte und moderierte Situationen. Vielleicht Übersetzungen, es geht eigentlich um Übersetzungen!

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WISSEN/ S /ORDNUNGEN GERLINDE SEMPER Ich würde über Wahrheit gar nicht zu diskutieren anfangen. ANNEGRET HUBER Das Grundproblem beim Musik-Analysieren ist immer, wie stelle ich mir vor, dass eine Konvention einer Zeit aussieht. Ich sage bewusst Konvention und nicht Norm. Eine Konvention ist das Konstrukt einer Norm, und man muss sich fragen, wie gehe ich mit den Abweichungen, also mit Differenz um? Differenz istviel schwieriger zu argumentieren als die Übereinstimmung mit dem, was man für eine Konvention hält. Der Diskurs führt zu Wissen. So muss man den Diskurs also mitanalysieren. Deshalb sind diese Strukturen so wahnsinnig zäh und so wenig zu hinterfragen, denn man hat etwas, das als bewährtes Wissen kursiert. Es ist natürlich auch dieses Wissen, das Identität schafft und eine Tradition, die weitergegeben werden will. Leider ist es einfach salonfähig, symbolische Gewalt auszuüben, indem man Leute marginalisiert. Wenn ich mir also etwas wünsche, dann würde ich gerne ein Vorbild dafür sein, auf solche symbolische Gewalt zu verzichten. Dabei geht es nicht zuletzt um Studienpläne, Prüfungsformen, Lehrinhalte und Wissensformen, die Studienplänen zugrunde liegen. ELISABETH von SAMSONOW Die Kunst-Wissenschafts-Ebenen wurden ja vorher als verschiedene Wissensgeschlechter behandelt, als verschiedene Typologien, als verschiedene ethische Haltungen des Wissens mit allem Drum und Dran. Wie bei verschiedenen Tiersorten, wo man keine Hybride daraus machen kann. Wie komischerweise Karnickel und Hasen, obwohl sie einander so ähnlich sind, lachend, kreuzen kann man sie nicht. So ähnlich kommt mir das vor – das künstlerische Wissen und diese hard science. Vielleicht sollte die Spannung aufrecht bleiben. Es sollte ja nicht zu einer völligen Identifizierung von allen Wissens- und Kunstformen kommen. Spannung muss bleiben, die ist ja produktiv. BORIS MANNER Es wäre toll, wenn es eine Institution gäbe, die sich ausschließlich den Schnittstellen widmen würde.

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METHODEN/PRAXEN FLORIAN DOMBOIS Was mich an Kunst und Wissenschaft interessiert ist, dass beide Seiten, wenn man sie denn als Seiten bezeichnen will, damit beschäftigt sind, etwas zu verstehen. Beide haben ihre eigenen Methoden, um sich klar zu werden, aber diese Neugier, dieses Insistieren, dieser Drive, dieses Abarbeiten und dieses Immeran-dem-Umschlag-vom-Bekannten-ins-Unbekannte-Operieren, das ist für mich beiden gemein. Und es gibt sogar gemeinsame Ideale dabei z.B.: Genauigkeit, Leichtigkeit, Konsequenz. Naja, das habe ich einmal in einem Buch behauptet.10 ANNEGRET HUBER Es gilt, die Methodenvielfalt aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzuführen. Diese Erfahrungswerte, die man im Spielen hat, die man im Arrangieren und Musik-Erfinden hat, in die Theorie einbringen. Und dann auch die kritischen Instrumente, die man aus den Kulturwissenschaften hat – nichts zu glauben, was man nicht selber dekonstruiert hat. Schmunzelnd. Es ist eine Herausforderung, denn dadurch wird man leicht zur Eklektizistin. Das muss man mitvermitteln. Zur Praxis gehört, dass man nicht nur übernimmt, sondern erst einmal schaut, was es gibt. Den Prozess muss man haarscharf mitvermitteln. Es muss klar sein, wie man dazu gekommen ist. HARALD HUBER Das hat generell etwas mit der Kunst der Improvisation zu tun. Improvisation heißt ja, ich hebe eine Art von Zensur in mir auf und nehme, was kommt. Dazu kommt natürlich musikalische Bildung. Man kann zu allem, was es auf der Welt gibt, eine musikalische Improvisation machen. AGNES FUCHS Als Künstlerin in einem wissenschaftlichen Environment, ihre Erfahrungen als Artist in Residenc:. Ich habe die Möglichkeit, in den Instituten während der eigenen Projekte, oder im Gespräch mit Wissenschaftern, zu erfahren oder mir

10 Florian Dombois/Yeboaa Ofosu/Sarah Schmidt (Hg.), genau.leicht.konsequent. Ein dreifaches Rendezvous der Künste und Wissenschaften, 3 Bde., Basel 2009

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anzusehen, woran und wie gearbeitet wird. Und im Versuch, das jeweils Eigene zu erklären, verschiebt sich in diesem Setting der Blickwinkel und legt neue, interdisziplinäre Perspektiven frei. Das ist sehr spannend. Sinn der Sache ist auch, dass die Wissenschafter die Strategien der Künstler kennenlernen. Das Projekt ist insofern gut angelegt, als das Nebeneinander des Alltags das Potenzial hat, dass man wirklich miteinander kommuniziert. Für den internen Dialog gibt es die Möglichkeit einer Tea Time um halb fünf, was sehr unkompliziert ist. Man hört einfach zu schreiben auf oder zu arbeiten, und braucht ohnehin Kommunikation. Dann sitzt man sich gegenüber und bespricht, was einen interessiert. Das ist der Schlüssel einer ungezwungenen Kommunikation, das funktioniert ganz gut. ELISABETH von SAMSONOW Ich mache über meine Kunst auch meine eigenen Texte. Und rate das auch meinen Studierenden. Das war natürlich auch ein ewiges Leiden, dass Künstler zu mir gesagt haben, Entschuldigung, du bist so verhirnt, du kannst keine richtige Künstlerin sein. Das geht nicht, also entweder … oder. Für mich ist das die gleiche Sache! Es sind Formen des Schaffens. Für mich ist auch die Philosophie eine Form des Schaffens, ich bin als Mensch ein sprachbegabtes Wesen. Wieso sollte ich dann nicht in dem schaffen können, was meine tägliche Kunst ist – das Sprechen und Denken? ANDREA SODOMKA Das ist der Forschergeist dahinter, mich jetzt nicht auf etwas zu verlassen, was vorhersehbar sein könnte, sondern eben genau das Gegenteil zu tun. Auch wenn es manchmal zuerst einmal nicht unbedingt befriedigende ästhetische Ergebnisse gibt, ist das für mich ein wichtiger Punkt, mich an diesen Schnittstellen zu bewegen. In einem Bereich, der sich mit technologischer Kunst beschäftigt, existieren diese Grenzen zwischen der Wissenschaft, der Technik, der Forschung, der Kunst einfach nicht. Sie können nicht existieren. Weil Künstler, wenn sie sich ernsthaft mit technologischer Kunst und mit Computer und Möglichkeiten dieser Art auseinandersetzen, ja eigentlich nichts anderes tun als – ich könnte jetzt Gerfried Stocker zitieren, es gibt viele andere, die das auch gesagt haben und historisch war das ganz klar –, einen missuse of technology zu betreiben. Das heißt nichts anderes, als zu schauen, okay, was kann denn das Ding jetzt noch außer dem, wofür es gebaut wurde. Damit entwickeln sie es weiter!

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Wir Künstlerforscher dürfen ja Dinge tun, die Wissenschafter nicht tun dürfen. Wie zum Beispiel bei Oral-History-Projekten als künstlerischen Projekten, bei denen uns viele Wissenschafter sagten, dass sie über das Thema mehr aussagten als wissenschaftliche Untersuchungen. Das ist ein Freiheitsgrad und hat nichts mit Nicht-Wissen zu tun oder Nicht-die-Materie-Beherrschen. Ein Freiheitsgrad, den wir bekommen, wenn wir auf diese lineare Laufbahn verzichten. Das ist eine bewusste Entscheidung. Die ist nicht einfach, weil da natürlich immer wieder mitspielt, dass man von niemandem mehr wirklich ernst genommen wird. Doch da ist eine internationale Szene, die international denkt, international vernetzt ist, wo ich aufgrund meiner Ideen und Gedanken sehr schnell drinnen war. Da tauchen immer wieder Vorbilder auf. Das können aber auch welche sein, die zwanzig Jahre jünger sind als ich. Weil sich der Umgang mit der Technologie extremst verändert hat. Ich weiß sehr viel, ich kann sehr viel, aber was ich nicht kann, ist, damit umzugehen wie eine Generation, die mit dem Computer aufgewachsen ist. Da sind Strukturen, die ich denken kann, die mir vertraut sind, da sind Ideen, Konzepte und Gedanken drin, die mir vertraut sind. Und aus diesem Grund sind es gleichzeitig auch die Künstlerinnen und Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, die mir vertraut sind, die ich verstehe. Wir arbeiten seit einiger Zeit mit der quantenphysikalischen Gruppe von Anton Zeilinger zusammen, um Konzepte für Quantenkunst zu entwickeln. Was wir alle miteinander nicht denken können! Aber es lässt uns nicht los. Wir dachten zuerst, wir werden kein Wort verstehen, und sie werden kein Wort von uns verstehen, was nicht der Fall war. Wir haben einander sofort verstanden! Natürlich nicht im Detail, aber es war überhaupt kein Kommunikationsproblem. Aus dem Möglichkeitsbereich heraus gemeinsam an etwas zu arbeiten, ist relativ einfach. Wir sind durch lange Jahre, an den Grenzen bzw. in den Zwischenbereichen zu arbeiten, ja sehr geschult. Ich muss die Sprache des anderen soweit beherrschen und mich bemühen, sie mir anzueignen, sodass wir kommunizieren können. Das ist ein vollkommen normaler Vorgang. Nachdem wir eine relativ breite Basis an Technikwissen und historischem Wissen haben, geht das schon. Egal, was wir tun, wir beschäftigen uns immer mit den Hintergründen, und zwar so ernsthaft wie nur irgendwie möglich. Das, wo wir uns mit anderen treffen, ist eine Schnittmenge an Fachwissen. Es sind nicht Laien, der eine künstlerisch nicht gebildet, der andere wissenschaftlich nicht gebildet, die über etwas sprechen, wovon beide nichts verstehen. Sondern es ist eine Schnittmenge von Fachwissen, von Ideen, von Konzepten.

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KATHARINA GSÖLLPOINTNER Das letzte transdisziplinäre Projekt – ästhetisches Know-how – hat sicher deswegen so gut funktioniert, weil meine Kollegin eine straighte klassischwissenschaftliche Karriere hatte. Nicht institutionell, aber sie hatte diverse Stipendien, die man zu haben hat, APART-Stipendium usw., und Veröffentlichungen in einschlägigen Zeitschriften oder Journalen. Heißt das, Sie müssen sich dann auch immer wieder Partnerinnen, Partner suchen, die den Kriterien des jeweiligen Systems entsprechen? Genau, Partner, Partnerinnen des jeweiligen Systems. Egal, in welcher Rolle ich aber bin, ich habe durch meine Ausbildung und Erfahrung die Tendenz, eine Metakommunikation herzustellen, lächelnd, im Privaten genauso wie im Professionellen.

III. Das UND erproben – WISSENSARCHITEKTUREN und GESCHLECHTERORDNUNGEN im PROZESS

»Zu jeder Gesellschaftsform gehört ein spezifisches wissenschaftliches Wissen und eine bestimmte Wissensordnung. Gesellschaftliche Krisen korrespondieren mit Krisen des Wissens und ermöglichen die Entstehung eines neuen Gesellschaftskonzeptes und neuen wissenschaftlichen Wissens sowie eine neue Wissen(schaft)sordnung.1

D YNAMISIERUNGEN IN V ERÄNDERUNG

– D ER W ISSENSBEGRIFF

SELBST IST

Die Auswirkungen der Dynamiken der durch Spätmoderne, Globalisierung und deren Krisen entstehenden Problemaufrisse einerseits, durch neue Arbeits-, Lebens- und Denkverhältnisse andererseits, sind allerorts spürbar. Universalitätsansprüche, Objektivitätsvorstellungen und vermeintliche Sicherheiten sind brüchig

1

Heike Kahlert, Wissenschaftsentwicklung durch Inter- und Transdisziplinarität. Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung, in: dies./Barbara Thiessen/Ines Weller (Hg.), Quer denken – Strukturen verändern. Gender Studies zwischen Disziplinen, Wiesbaden, 2005, 23–60, 25

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geworden und die Grenzen des Wissens treten immer deutlicher vor Augen.2 Denken wir nur an die Folgeschäden der Modernisierungsprozesse. Die ganz offensichtlich auf allen Ebenen stattfindenden Veränderungen lösen – nach wie vor – Ängste und Widerstände aus. Nach wie vor bergen sie aber auch Chancen, das Bisherige in seinen Strukturen, Funktionen und Bedeutungen zu hinterfragen und neue Perspektiven zu entwickeln, im Bereich der Wirtschaft oder der Ökologie ebenso wie in der Technik, der Politik, der Organisationsentwicklung oder der Kommunikation des Alltags. Wie wir den Herausforderungen dieser Zeit begegnen, wie wir sie nützen, für unser Leben und unser Denken, ist aus dieser Perspektive als ein nicht zu unterschätzender Gestaltungsraum zu betrachten, der und an dem uns zu beteiligen, trotz aller Verunsicherungen und Widernisse, offen steht. In den folgenden Überlegungen lese ich die in Richtung Wissensgesellschaft3 stattfindenden Veränderungen der Spätmoderne als einen Umbruch von Denkverhältnissen, wie sie in der Geschichte immer wieder, einmal mehr, einmal weniger radikal, zu verzeichnen waren. Die Art und Weise, wie wir in einer bestimmten Zeit zu denken gewohnt sind, die Denkverhältnisse also sowie die Impulse, welche die Dynamik des Denkens verändern und die jeweiligen Möglichkeitsräume öffnen, erscheinen gerade aus der Perspektive der Denk-Räume der Gender Studies von besonderem Interesse. In dem in vielen Bedeutungsfacetten oszillierenden Begriff Gender werden Wissens-, Macht-, Geschlechter- und Herrschaftsverhältnisse als Produkte von Denkverhältnissen lesbar, die es zu dekonstruieren, aber auch weiterzuentwickeln und zu verändern gilt. Dieser Wissens-Raum4 ist freilich immer in Verbindung zu anderen Bereichen wie den Postcolonial Studies, den Men’s Studies, den Queer Studies, den Diversity Studies etc., aber auch den klassischen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Film-, Theater- und Medienwissenschaft, den Sozial- und Naturwissenschaften etc. zu betrachten, kurz, als Forum zu sehen, in dem in inter- und transdisziplinärer Herangehensweise der Komplexität von Problemstellungen begegnet werden kann. Oder anders formuliert: ein WissensRaum, der traditionelle Grenzen außer Kraft setzend eine Offenheit kultiviert, um Komplexität in Betrachtungen und Erkenntnisse miteinbeziehen zu können.

2

Lyotard 1999, aber auch Helga Nowotny, Es ist so. Es könnte auch anders sein. Über

3

Vgl. u.a. Vogel 2004, 639–660

4

Vgl. dazu die Diskurse zu Wissensräumen u.a. in Karen Joisten (Hg.), Räume des

das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1999

Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld 2010

D AS UND

ERPROBEN

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Eine dieser Grenzen ist jene, welche die Achse zwischen Wissen und NichtWissen markiert. Seit der Aufklärung wird davon ausgegangen, dass wir alles erklären und verstehen können, dass immer mehr neues Wissen zu generieren ist. Alles, so die Weiterführung, sei wissbar und damit beherrsch- und steuerbar. Als die wissenschaftssoziologischen Untersuchungen von Karl Mannheim und Max Scheler jedoch das Nicht-Wissen wieder in die wissenschaftliche Diskussion brachten, musste der Einsicht Platz gegeben werden, dass jedes Wissen gleichzeitig Unwissen produziert.5 Ein Mehr an Wissen erzeugt nicht, wie vermutet, weniger Nicht-Wissen, indem es dieses dezimiert. Im Gegenteil, Nicht-Wissen erfährt als Produkt und Folge von Wissen eine Steigerung.6 Doch ich möchte zuerst noch einen Schritt zurückmachen, um die Aufmerksamkeit auf den Wissensbegriff selbst zu lenken, den Wissensbegriff in seinen zeitlich und örtlich spezifischen epistemischen Ausprägungen. Als was also können wir Wissen heute verstehen? Nach dem Begründer des Radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfeld kann Wissen als vorläufige Überzeugung über die Welt betrachtet werden.7 Oder, wie Jean-François Lyotard es formulierte: »Es ist nicht so, dass ich etwas beweisen kann, weil die Realität so ist, wie ich sage, sondern solange ich beweisen kann, ist es erlaubt zu denken, dass die Realität so ist, wie ich es sage.«8 Das heißt, der Wissensbegriff selbst hat sich von seinem Anspruch her radikal verändert. Und damit ist einmal mehr die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir Wissenschaft betreiben. Im Konstruktivismus hat dieses Hinterfragen statischer Wissens-Bilder seine bislang radikalste Ausformung gefunden. Konstruktivistische Methodologie zielt dementsprechend, so Ernst von Glasersfeld, auf »die Interpretation dessen, was man macht, das heißt Interpretation eigener Handlungen und eigener mentaler Operationen. Und das ist konstruktivistisch auch nur, weil wir es so nennen.«9 Oder, wie Niklas Luhmann es auszudrücken pflegte, Methodologie entspreche der Selbstbeobachtung der Wissenschaft.10 Mit diesen Betrachtungsweisen betreten neue Paradigmen

5

Christoph Engel/Jost Halfmann/Martin Schulte (Hg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, Baden-Baden 2002

6

Peter Wehling, Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwis-

7

Paul Watzlawick/Peter Krieg (Hg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Kon-

sens, Konstanz 2006 struktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, München 1991, 17 8

Lyotard 1999, 78

9

Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus. Idee, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt a. M. 1997, 360

10 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Berlin 1990

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wie Reflexion, Intuition, Antizipation und Kommunikation den Kosmos der Wissenschaft. Wesentlich ist darin die Annahme, dass eine Welt, wie sie wirklich ist, nicht unabhängig von unserer Erkenntnis existiert. Die feministische Wissenschaftstheorie nahm und nimmt an der Gestaltung der Diskussion über Wissen, Wissenskulturen und Wissenschaft intensiv Anteil. Sie nahm und nimmt die Wechselwirkungen von Geschlechtervorstellungen und Wissensordnungen unter die Lupe, fragte und fragt danach, welche Relevanz dem Begriff Geschlecht in der Genese von Wissen sowie in der Konstruktion von Sinnstrukturen zukam11 und übte und übt aufgrund dessen Wissenschaftskritik. Um diese Dynamiken beschreiben zu können, bedarf es wissenschaftstheoretischer Reflexivität, in der wir uns nicht zuletzt auf ein Hinterfragen unserer Position als Wissenschafter_innen in diesem Feld einlassen müssen. In diesem Kontext erfolgte auch die Revision des Begriffs der Objektivität, sodass das Verständnis eines situierten Wissens Platz greifen konnte.12 Erst in der Vielfalt der Perspektiven, so die neuen Vorstellungen von Erkenntnis und Wissen, nähern wir uns den Phänomenen der Welt. Feministisches Standpunkt-Denken/ standpoint feminism/ standpoint theory,13 das Bewusstsein über die Situiertheit von Forschenden, das immer durch einen bestimmten Standort des Wissens bedingt ist, eröffnete den Blick für die Vielzahl an Kategorien, nach denen wir uns in der Welt orientieren – begonnen bei der trinity von class, race, gender bis hin zu den interdependenten Verknüpfungen diverser Kategorien, die im Begriff der Intersektionalität aktuell diskutiert werden. In diesem Sinne fungiert gender analysis nicht zuletzt als ein Instrument der Wissenschaftskontrolle.14

11 Regina Becker-Schmidt, Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Sozialkritik in der Geschlechterforschung, in: Therese Frey Steffen/Therese & Caroline Rosenthal/Anke Väth (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorie und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, 201–222 12 Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Sabine Hark, Diskontinuitäten. Feministische Theorie, Opladen 2007, 305–322 13 U.a. Sandra Harding, The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies. Routledge, 2003, sowie Mona Singer, Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenschaftssoziologie und Cultural Studies, Wien 2005 14 U.a. Londa Schiebinger, Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995 (orig. 1993)

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Im Kontext der Auseinandersetzung mit der reflexiven Moderne15 bzw. mit dem Ende der Eindeutigkeit16 ist die Funktion von Geschlecht mit Sabine Hark als wissens- und wirklichkeitskonstituierender Modus17 als wesentlich zu betrachten, selbst wenn auf den ersten Blick die geschlechtliche Codierung nicht immer sichtbar ist. Diese Befunde möchte ich in der Folge mit der Dynamisierung des Wissensbegriffs zusammenzudenken. Dabei nehme ich die Bewegungen von Geschlechter- und Denkverhältnissen in den Blick und gehe davon aus, dass die Beziehungen von Wissenschaft, Kunst und Gender in ihren epistemologischen Dynamiken die zentrale Dimension dieser Zusammenhänge eröffnen.

B IPOLARITÄT , D IFFERENZ , K OMPLEXITÄT – V OM E NTWEDER -O DER ZUM U ND Die Dichotomie – die Trennung, Segregation im Sinne der Ausschließlichkeit bipolarer Begrifflichkeiten –, die in unserem Denken immer noch manifest ist, ist in Wechselwirkung mit der Konstituierung und Perpetuierung bürgerlicher sowie postbürgerlicher Geschlechtervorstellungen und -verhältnisse zu sehen. Die emergierenden Phänomene der Veränderung – sowohl im Denken als auch im Doing/Undoing Gender, der Art und Weise, wie Geschlecht gelebt wird – können als Ausdruck einer Entwicklung gelesen werden, in der diese vermeintlich statischen, weil als natürlich betrachteten Sichtweisen in Bewegung geraten sind. Ich gehe demzufolge von Geschlechterverhältnissen als Ausdruck paradigmatischer Verdichtungen von Denkverhältnissen aus, und zwar in Hinsicht auf ihre Gewordenheit ebenso wie auf die Dynamiken ihrer Gestaltbarkeit. Das Denken in Bipolaritäten, die miteinander nur in ihrer Inkommensurabilität in Verbindung stehen, strukturiert die Art und Weise, wie wir in den westlichen Kulturen unsere Welt wahrzunehmen gelernt haben. Wir wissen also: Wenn es Tag ist, kann es nicht Nacht sein; wenn es kalt ist, nicht warm; wenn der Weg lang ist, kann er nicht kurz sein; wenn wir rational denken, darf Emoti-

15 Vgl. Ulrich Beck/Wolfgang Bonß/Christoph Lau (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001 16 Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992 17 Sabine Hark, Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht. Geschlechterforschung als kritische Ontologie der Gegenwart, in: Irene Dölling u.a. (Hg.), Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht. Transdisziplinäre Interventionen, Königstein/Taunus 2007, 9–24, 17

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onalität keine Rolle spielen; wenn wir Frauen sind, sind wir keine Männer; wenn wir mächtig sind, sind wir nicht ohnmächtig.18 Diese Klarheit bietet den Rahmen, das, was wir erleben, in das kulturelle Ordnungsmuster von Wirklichkeit einzuordnen. Bipolaritäten verhelfen uns zu einer Vorstellung von Welt, die mit klaren Grenzen – hier dieses, dort jenes – versehen ist. Die entsprechend zugeordnete Hierarchie – gipfelnd in oben, gut, hell – stellt ein gesellschaftliches Wertesystem zur Verfügung, in dem uns zurechtzufinden dann auch in komplizierten Zusammenhängen durch ein eindeutig erscheinendes Regelsystem gegeben sein soll. Diese so plausibel erscheinende Klarheit ist, darin besteht Konsens, mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen unterlegt, die an Eindeutigkeit jedoch verlieren, wenn wir beginnen, die vorgegebenen Denkstrukturen als nicht einzig mögliches Denken infrage zu stellen, ja, sie als Ausdruck historischer Verhältnisse zu dekonstruieren. Sie verlieren an Wirkmächtigkeit, wenn wir aus den historisch geformten Grenzen heraustretend andere Arten des Denkens erproben, damit spielen und uns auf Experimente einlassen. Plötzlich sehen wir nicht nur, was alles durch eine Reduktionen auf einander ausschließende bipolare Positionen verhindert wird – das In-Kontakt-Treten der Pole, der Blick auf das Dazwischen oder die Unmöglichkeit, der Komplexität von Zusammenhängen auch nur annähernd gerecht zu werden –, wir sehen auch, wo diese Art zu denken an ihre eigenen Grenzen stoßend globale Krisen und Probleme hervorruft, ohne auch nur im Geringsten einen Zugriff auf Lösungsmöglichkeiten vorweisen zu können. Die Begriffspaare Subjekt und Objekt, Öffentlichkeit und Privatheit oder Fiktion und Non-Fiktion mögen auf den ersten Blick gänzlich unterschiedliche Kontexte bezeichnen und in unterschiedlichen Sphären verortet sein. Bezeichnenderweise resultieren sie jedoch jeweils aus demselben Denk-Schema, das bipolare Begriffe als strikt getrennt voneinander begreift. Dazu einige Vignetten, welche die in vielen Bereichen gegenwärtigen Dynamiken dokumentieren, wie die Kritik an dieser Dichotomie sowie die Versuche des Darüber-hinausDenkens epistemologische Überlegungen befördert. Das für das wissenschaftliche Denken so wesentliche Subjekt-Objekt-Modell geht bekanntlich davon aus, dass der Erkenntnisgegenstand, das Objekt, unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert. Paradigmatisch ist für diesen Zusammenhang vielleicht die von Karl Jaspers thematisierte Subjekt-ObjektSpaltung zu nennen, die einerseits die unaufhebbare Differenz zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkennender/m als »Grundbefund unseres denkenden

18 Vgl. dazu auch: Wolfgang Müller, Das Gegenwort-Wörterbuch. Ein Kontrastwörterbuch mit Gebrauchshinweisen, Berlin-New York 1998

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Daseins«19 beschreibt, andererseits aber auch Denkbewegungen zu ihrer Überwindung geradezu herausfordert, die jedoch vor allem im Bereich der Metaphysikkritik, der Mystik bzw. religionsphilosophischer Überlegungen verortet wurden.20 Bruno Latour charakterisierte die Subjekt-Objekt-Dichotomie als das prägende kategoriale Gefüge der Moderne.21 Entsprechend der modernen Wissenschaftstheorie wird in der Aufspaltung dann auch die Achse vermutet, auf der eine Reformulierung der Grundlagen der Wissenschaftsforschung vonstatten gehen kann. Über ein weiteres dichotomes Paar – Wort und Welt bzw. Sprache und Welt – entwickelte er seine Gedanken der Neuformulierung einer solchen Beziehung als zirkulierende Referenz, eine der heutigen Wissenschaftsproduktion bestehende angemessene Struktur des Wissensmanagements, bei der es sowohl auf die Elemente als auch auf deren Relationen ankomme.22 Das Fließende der Metapher »zirkulierende Referenz« signalisiert die den Beziehungsebenen innewohnenden Dynamiken im Gegensatz zu starren hierarchischen Positionen. Etwas wie Wahrheit entsteht als Entscheidung entlang der Vermittlungen, die als Transformationsvorgänge zu begreifen sind. Die Vorstellungen von Aktivität und Passivität, einem weiteren dichotomen Paar, das auch der Subjekt-Objekt-Konstellation eingeschrieben ist, hat als Konsequenz zur Folge, dass dem passiven Objekt durch das Subjekt aktiv Sinn zugeschrieben werden kann. Damit konstituieren und perpetuieren sich Herrschaftsund Machtverhältnisse. In einer weiteren Assoziationsebene findet hier die Täter_innen-OpferDichotomie durch das aktive und passive Element ebenso ein Echo wie in unseren Vorstellungen vom tätigen Subjekt und vom erleidenden Objekt. Diese Dichotomie steuerte eine Reihe von Diskursen. So durchlief sie in jenen um Nationalsozialismus und Holocaust23 oder auch in der Frauen-, Männer- und Ge-

19 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1953, 25 20 Vgl. Klaus Rosenthal, Die Überwindung des Subjekt-Objekt-Denkens als philosophisches und theologisches Problem, Göttingen 1970 21 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2000 22 Dazu aber auch: Georg Kneer, Hybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne? Eine Kritik an Bruno Latours Soziologie der Assoziationen, in: ders./Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Beiträge zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2008, 261–305 23 Prominent ist hier Raul Hilberg, Perpetrators, Victims, Bystanders. Jewish Catastrophe 1933–1945, New York 1993, zu nennen, aber auch Gerhard Botz, Opfer/TäterDiskurse. Zur Problematik des Opfer-Begriffs, in: Gertraud Diendorfer u.a. (Hg.),

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schlechterforschung unterschiedliche Stadien des Verständnisses24 und erfährt in der Debatte um die Mechanismen des Missbrauchs25 immer wieder eine Aktualisierung. Hier ist besonders herausfordernd, wie Unrechtbehandlung in Beziehungen trotz des Versuchs, bipolares Denken zu überwinden, klar formuliert werden kann. Die Täter_innen-Opfer-Dichotomie findet sich zudem in jedem geschriebenen oder gesprochenen Satz als unsere Syntax strukturierende Subjekt-ObjektStruktur bzw. Aktiv-Passiv-Konstellation. Mit diesen Sprachstrukturen wachsen wir auf, und nur in diesem Rahmen ist uns sprachlicher Ausdruck möglich, sofern wir nicht diejenigen Nischen aufsuchen, die ein Experimentieren damit erlauben, ohne den Ausschluss aus der Gesellschaft zu riskieren. Obwohl wir es im Grunde wissen, ist es gut, das Bewusstsein dafür zu sensibilisieren, dass und wie die Ebene der Sprache unser Denken von Beziehungssystemen konstituiert und sie in Ordnungskriterien der Welt schlechthin übersetzt. Die feministische und reflexive Wissenschaftstheorie hat mit ihrem kritischen Blick auf diese Dichotomien die Relationen der Subjekt-ObjektBeziehungen hin zu Subjekt-Subjekt-Beziehungen samt allen den Konstellationen innewohnenden Konsequenzen neu zu denken angeregt.26 Erkenntnisprozesse werden dadurch in ihrer Dimension als soziale Ereignisse begreifbar, die mit epistemischen wie sozialen Macht/Verhältnissen in enger Wechselwirkung stehen, ja, diese herstellen.27 Der Dualismus der Begriffe Wahrheit/Nicht-Wahrheit ist in diesem Kontext bereits angeklungen. Die Frage der Wahrheitsdefinition hat, abgesehen vom all-

Zeitgeschichte im Wandel, Innsbruck-Wien 1997, 223–236, oder Heidrun Kämper, Opfer – Täter – Nichttäter: Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945–1955, Berlin 2007 24 Vgl. Karin Windaus-Walser, Frauen im Nationalsozialismus. Eine Herausforderung für die feministische Theoriebildung, in: Lerke Gravenhorst/Carmen Tatschmurat (Hg.), Töchter-Fragen. NS-Frauengeschichte, Freiburg i. Br. 1995, 59–72, sowie Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln 2008; Marita Krauss (Hg.), Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus, Göttingen 2008 25 U.a. Renate Klein/Bernard Wallner (Hg.), Conflict, Gender and Violence, InnsbruckWien 2004 26 Vgl. dazu auch die Erkenntnisse der feministischen Linguistik sowie der Genderlinguistik wie u.a. Gisela Klann-Delius, Sprache und Geschlecht – Eine Einführung, Stuttgart-Weimar 2005 27 Vgl. u.a. Waltraud Ernst, Diskurspiratinnen. Wie feministische Erkenntnisprozesse die Wirklichkeit verändern, Wien 1999

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tagsweltlichen Verständnis von wahr versus falsch, Wahrheit versus Lüge, vor allem den Bereich der Philosophie und der Wissenschaftstheorie beschäftigt. In der Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie – um einige Positionen dieser Diskurse exemplarisch in Hinsicht auf die historische Entwicklung ihres Weltbildes und die Qualität der Beziehungsebene zwischen den Polen herauszugreifen – wurde die Übereinstimmung von gedanklichen Vorstellungen und Wirklichkeit als Wahrheit angenommen. Die Widerspiegelung bezeichnet eine andere Sicht, in der der Wahrheitsbegriff bereits mehr als (dialektisches) Verhältnis zweier Bezugsgrößen formuliert wurde. Auch die Konsensustheorie, welche die konsensuelle Anerkennung einer Aussage zum Inhalt hat, relativierte den Wahrheitsbegriff und damit die strikte Trennlinie zwischen Wahrheit und NichtWahrheit.28 Wahrheit als Erkenntnis aus einem Dialog ist eine weitere Stufe des Verständnisses, die als psychoanalytische Wahrheit, d.h. intersubjektiv zwischen Analytiker_innen und Analysand_innen charakterisierbar ist. In der Beschreibung der dialogischen Wahrheit werden die beiden Begriffe Wahrheit und Dialog, die in der positivistischen Auffassung Gegensätze darstellen, dyadenspezifisch verbunden. Denn das Wiederaufnehmen zerrissener Zusammenhänge wurde von Anna Freud als das erklärte Ziel von Analysen formuliert.29 Die Erstarrung des inneren Dialogs, die unter dem Begriff der Verdrängung bekannt ist, soll in der Analyse durch die Hilfe des äußeren Dialogs wieder in Gang gesetzt werden.30 Dass nun auch in der qualitativen Forschung zunehmend dialogische Kriterien wie Stimmigkeit, Transparenz, Selbstkontrolle etc. einem neuen Verständnis von Wahrheit Platz machen, macht anschaulich, wie sich auch der Wahrheitsbegriff in Veränderung befindet. In der Postmoderne wird Wahrheit darüber hinaus in Begriffe wie Wichtigkeit, Interesse, Notwendigkeit überführt, der radikale Konstruktivismus spricht dementsprechend von konkurrierenden individuellen Wahrheiten, Wahrheiten in einem Plural.31 George Deleuze öffnet die Bezugsgrößen noch einmal: »Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.«32 In diesem Kontext kommt nun auch die Dichotomie von Fiktion und NonFiktion zum Tragen. Die Art und Weise, wie wir uns die Welt erklären – als et-

28 U.a. Harry Frankfurt, On Truth, New York 2006 29 Vgl. Anna Freud, Das Ich und die Abwehrmechanismen, Wien 1936 30 Vgl. Hans Maurer, Beziehung und Erkenntnis. Zum Zusammenhang intrapsychischer und intersubjektiver Strukturen im psychoanalytischen Prozess, Würzburg 2000, 86 ff. 31 Vgl. Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen/Hans Rudi Fischer (Hg.), Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 8. Aufl., Heidelberg 2008 32 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Berlin 2003, 63

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was, das außerhalb unserer Wahrnehmung existiert oder als davon abhängig –, ist auch in den Definitionen von Non-Fiktion und Fiktion, deren Trennlinie oder Überlappungsdichte, relevant. Solange wir davon ausgehen, dass es eine Realität unabhängig von unserer Betrachtung gibt, lässt sich der Unterschied durch ein weiteres duales Paar – das Faktische, also auf Tatsachen Gegründete, sowie als Gegenpart das Fantastische, das aus der Vorstellung und Imagination Stammende – untermauern. Fictio, vom lateinischen Wort für gestalten, formen, sich ausdenken, erfährt so seine Setzung als Widerpart zum angeblich Gegebenen, Nicht-Hinterfragbaren. Die zunehmende Fragwürdigkeit dieser dichotomen Struktur wird dadurch bekräftigt, dass sich selbst die Geschichtswissenschaft in Hinsicht auf ihre Beziehung zu Fakten und Fiktionen damit auseinanderzusetzen hatte. Denn was bedeute das, dass auch sie auf Mittel des Narrativen zurückgreifen muss, um Ereignisse bzw. Verläufe darzustellen.33 Interessant ist hier der Konnex zum Wahrheitsbegriff und dem Aushandeln dessen, in welchem Umfang auch der Fiktion ein Wahrheits- bzw. Erkenntnisgehalt zugeschrieben wird.34 An dieser Stelle wird das Thema der Unterschiede bzw. Parallelen zwischen den aus Kunst und Wissenschaft zu gewinnenden Wahrheiten virulent. Insofern verwundert es nicht, dass das aufbrechende Infragestellen der Dualität von Fiktion und Non-Fiktion aktuell ein Umkreisen, Hinterfragen und Neudefinieren provoziert.35 Alaida Assmann, die hier bereits von einem »verabschiedeten Paradigma«36 sprach, brachte damit zum Ausdruck, dass das Bedürfnis, genau zwischen Fiktion und Realität zu trennen, zurückgegangen sei, erregte jedoch gleichzeitig ein ebenso aussagekräftiges und hohes Maß an Widerspruch. Bezeichnend in dieser Diskussion ist allenfalls, dass die Genese von Fiktion selbst erst mit René Descartes und dem Rationalismus festzusetzen ist, die dem Zweck diente, die Koordinaten des Wissens und des Wissensbegriffes neu zu bestimmen.37 Das nunmehr wieder entstandene Bedürfnis nach Evidenz – einer Evidenz, die sich derzeit in eine Polyphonie von Evidenzen entwickelt – kreist nach wie

33 Vgl. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991 (orig. 1973), oder: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 1979 34 Vgl. u.a. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1973 (orig. 1968), oder Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Berlin 1995 35 Vgl. u.a. die Konferenz »Fact and Fiction. Gender in the Interplay of Art and Science«, Institute for Gender Studies at the Radboud University Nijmegen, the Netherlands, October 2005 36 Alaida Assmann, Fiktion als Differenz, in: Poetica 21/1989, 239–260, 240 37 Vgl. auch Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Berlin 2007

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vor um Wissenskonstellationen sowie epistemologische Fragestellungen und artikuliert den Wunsch nach der Sicherheit des Erkennens, nach Beweisbarkeit und Belegbarkeit. Doch auch hier stehen Positionen zueinander in Widerspruch. Während Wolfgang Stegmüller betont, dass das Evidenzproblem absolut unlösbar sei, stehe, so wiederum Gernot Kamecke, zweifelsfrei fest, dass es Evidenz gebe.38 Im Sinne Ludwig Wittgensteins könne das Evidente als Spiel mit Worten begriffen werden, als ein Spiel, das allerdings nur im Wissen um dessen Regeln und Kriterien funktioniere.39 In kulturwissenschaftliche Begriffe übersetzt kann das bedeuten, einen Gegenstand in »seinen vielen Dimensionen der Artikulation, der Referenz und der Differenz zu fassen (zu) suchen«.40 Anschluss und Echo bildet hier, um andere Aspekte, die sich in diesem Kontext ebenfalls manifestieren, zu thematisieren, die Body-Mind bzw. KörperGeist-Dichotomie, seit der Antike als das hochkomplexe Leib-Seele-Problem bekannt.41 Dies betrifft Fragen, die vor allem die Philosophie des Geistes, the Philosophy of Mind, mit ihrem Fokus auf die Verhältnisse von körperlichen und mentalen Zuständen, herausforderten. Anders als in der östlichen Philosophie, die zwar von unterschiedlichen Einheiten, nicht aber von einem Leib-SeeleDualismus ausgeht, werden getrennte Pole wie innen und außen, Materie und Form zum Thema. Damit ist freilich auch, um es an dieser Stelle zumindest kurz zu erwähnen, der Gegensatz von westlichem und östlichem Denken selbst als bipolares Konstrukt herausgefordert.42

38 Vgl. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlin-HeidelbergNew York 1969, sowie Gernot Kamecke, Spiele mit den Worten, aber wisse, was richtig ist! Zum Problem der Evidenz in der Sprachphilosophie, in: Karin Harrasser/ Helmuth Lethen/Elisabeth Timm (Hg.), Sehnsucht nach Evidenz, Bielefeld 2009, 11– 25, 15 39 Ebd., 24 40 Lutz Musner, Kultur als Textur des Sozialen, in: Harrasser/Lethen/Timm 2009, 99– 102, 101 41 Vgl. Ansgar Beckermann, Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, München 2008; Friedrich Hermann/Thomas Buchheim (Hg.), Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, München 2006; Gernot Böhme, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003 42 Vgl. u.a. Edward Said, Orientalism, New York 1978; Richard Nisbett, The Geography of Thought. How Asians and Westeners Think Differently … and Why, New York 2003, oder auch Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, Bd. II, Frankfurt a. M. 1994, 15–45

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In der Ausformung des cartesianischen Denkens hatte das rationale Denken gegenüber der Körpermaterialität mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen eine extreme Privilegierung erfahren. Diverse Positionen wie Poststrukturalismus oder Phänomenologie stellten diese Privilegierung schließlich infrage und auch in der feministischen Forschung nahm der Körper als Ort sozio-kultureller Einschreibungen einen zentralen Stellenwert ein. Da der Körper in unserem Denken immer mit Vergeschlechtlichung einhergeht, d.h. ab dem bürgerlichen Zeitalter eng damit konnotiert wird, war Judith Butlers Behauptung, Körper seien diskursiv hergestellt, eine große Herausforderung. Die Diskurse über Geschlecht konstituierten, so Judith Butlers Tenor, das Geschlecht. Dadurch erst würde der Körper als ein natürlicher hervorgebracht. Auch das Denken in Kategorien des Transgenders, der Transsexualität bzw. des Transidentitären verweigert es, den Körper als feste gleichbleibende Materialität darzustellen. Es geht von dessen Formbarkeit aus, sei es durch Crossdressing, Hormone oder Operationen. Verändert sich die Geschlechter-Performance, der Habitus einer Person, so steht damit auch das Verhältnis zum Körper, zum Körper-Gefühl, zum Körper-Sein und damit auch die Body-Mind-Dichotomie neu zur Disposition. Auf der Ebene Körper-Geist wurden im Grunde seit der Aufklärung das Wissen und der Gegenpol, das Nicht-Wissen, mitverhandelt.43 Klare ZuordnungsCluster wurden zwar vielfach infrage gestellt, Körper und Geist mitunter als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet, doch die aktive Rolle des Körpers als Ort des Wissens mitzudenken, wurde erst in den letzten Jahren im westlichen Denken aktuell. Mit Michael Polanyis »We know more than we can tell«44 begannen sich die bis dato klar erscheinenden Grenzen zu verschieben. Tacit knowledge, implizites Wissen, eine in den Körper eingebettete Praxis, wird heute integral zu mentalen Funktionen betrachtet. Wissen als verkörperte Praxis spielt vor allem aber nicht nur in der Selbstvergewisserung eine wesentliche Rolle. Inkorporierte Formen von Geschlechterwissen können z.B. im Un/Doing Gender oder im Doing Difference etc. gelesen werden.45 In den Subjektkonzepten und Selbstschemata von heute wird dynamischen Konzepten der Mehrperspektivität Vorschub geleistet,46 ein im »ver-

43 Vgl. u.a. Wehling 2006 44 Polanyi 1966, 4 45 Angelika Wetterer (Hg.), Körper, Wissen, Geschlecht. Geschlechterwissen und soziale Praxis II, Königstein 2010; vgl. auch: Ernst Seidl/Phillip Aumann (Hg.), KörperWissen. Erkenntnis zwischen Eros und Ekel, Tübingen 2009 46 Vgl. Mary Hanrahan, Challenging the Dualistic Assumptions of Academic Writing Representing PhD Research as Embodied Practice, FQS Vol. 4/2 2003, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/703

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körperten Wissen gründender Blick wechselnder Selbstrelationalitäten, wechselnder Zentrierungen und Exzentrizität«47 wird angenommen. Die vermeintliche Opposition zwischen Materialität und Diskurs spielt in diese Überlegungen ebenfalls hinein. In den Gender und Queer Studies wurde diese u.a. von Antke Engel als wesentlich für die Repräsentation im Spannungsfeld von Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion hervorgehoben. Auch in den Cultural Studies kam dem Denken in der Opposition von Sozialem und Symbolischem als zentralem Instrument sozialer Ausschließungspraxen ein wesentlicher Stellenwert zu. In diesem Sinn sprach Stuart Hall z.B. von einem Rassismus ohne Rassen, durch den bestimmte gesellschaftliche Gruppen von materiellen und symbolischen Ressourcen ausgeschlossen werden.48 Eine analoge Konstellation des Dichotomen bietet das Gegensatzpaar Bewusstes-Unbewusstes. Zu diesem ebenfalls in vielen Disziplinen thematisierten Begriffspaar geht es mir an dieser Stelle, wie auch bei den anderen als Gegensatz konstruierten Dichotomien, vor allem um den Aspekt der Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem, also darum, wie getrennt oder in Bezug zueinander sie jeweils ihren Platz einnehmen. Obgleich das Bild von der Spitze des Eisbergs – dessen Sichtbarkeit nur einen minimalen Teil ausmacht, während der Großteil sich dem Blick entzieht –, das in der Psychoanalyse, der Psychologie, aber auch der Pädagogik oder der Betriebswirtschaftslehre nicht zuletzt als Kommunikationsmodell Anwendung findet, eindeutig von einer Gesamt- bzw. Einheit ausgeht, wurde durch die Logik der Wissenschaften das Unbewusste als das »Andere« schlechthin festgeschrieben. Was heißt das? Christina von Braun, Dorothea Dornhof und Eva Johach, die das Unbewusste unter dem Aspekt seiner Rolle für die Wissensproduktion und die Wissensordnung unter die Lupe nahmen, stellten fest, dass es »über die Erzeugung eines kolonialen Metaphernfeldes und den Einsatz von Geschlechtercodes« operiere.49 Nach Wilhelm von Humboldt mussten Geschlecht und Körper in der Hinwendung zur Wissenschaft ge-

47 Hillarion Petzold, Integrative Supervision, Meta-Consulting, Organisationsentwicklung. Ein Handbuch für Modelle und Methoden reflexiver Praxis, 2. Aufl., Wiesbaden 2007, 74 48 Vgl. Antke Engel, Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt-New York 2002, 127–132, bzw. Stuart Hall, Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3, Hamburg 2000, sowie ders., Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument 178, Hamburg 1989, 913–921 49 Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach, Einleitung. Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, in: dies., Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Bielefeld 2009, 9–23, 9

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wissermaßen abgegeben werden, d.h. die Dichotomie der Geschlechter wurde damit auf die Wissensordnung übertragen.50 Dieses, die abendländische Wissenschaft zutiefst prägende Konzept entfaltete seine Wirkmächtigkeit im Ausschluss von Frauen aus höheren Bildungsinstitutionen, da sie – hier findet sich der Konnex zur Materialität des Körpers wieder – das Körperliche geradezu personifizierten. Die für die Definition neuzeitlicher Wissenschaft so wesentliche »Reinheit« sei, so die damalige Argumentationslinie, durch ihre Anwesenheit nicht mehr zu garantieren. Mit diesen Konnotationen wird auch das bipolare Begriffspaar Rationalität und Irrationalität bedient.51 Das Rationalitätsideal bedurfte zwar seines Gegenpols, der Irrationalität, der Mythen und Träume, schrieb diese jedoch dem Bereich des Dunklen und des Weiblichen zu. Da Irrationalität aber als Quelle der Kreativität angesehen wurde, blieb sie, wie das Dunkle und Weibliche, stets verlockend. Das Unbewusste sei insofern, so die Autorinnen, ein Motor der Wissenschaftsproduktion, als es immer wieder Sand ins Getriebe der Wissensordnung streue und dadurch neue Auseinandersetzungen vorantreibe.52 Sich mit dem Stellenwert des Unbewussten zu konfrontieren, ist deswegen für jegliche kritische Herangehensweise unabdingbar. Das Unbewusste in der Wissensordnung zu verankern – Sigmund Freud begann dieses Unterfangen ja bereits – bedeute, Gegensätzliches nebeneinander stehen zu lassen, Zeitlosigkeit zu akzeptieren53 und Widersprüche nicht als Gegensätze aufzufassen. Also durchwegs Qualitäten hereinzuholen, die mit dem klassischen Wissenschaftsbild kollidierten, da sie im Modus des Und situiert sind.54 Wie schwer es den Wissenschaften gefallen ist und vielleicht heute noch fällt, sich mit ihren eigenen unbewussten Seiten auseinanderzusetzen, ist durch

50 Wilhelm von Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur, in: ders., Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 1, (1785–1795), Berlin 1903, 311–334 51 Vgl. auch Dieter Mersch, Abbild und Zerrbild. Zur Konstruktion von Rationalität und Irrationalität in frühneuzeitlichen Darstellungsweisen, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen, Berlin 2006, 21–40 52 Braun/Dornhof/Johach 2009, 9 53 In der Bedeutung von: das System Unbewusstes arbeite nicht nach einem linearen Schema. Vgl. auch: Christian Kupke (Hg.), Zeit und Zeitlosigkeit, Würzburg 2000 54 Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders., GW Bd. XV, Frankfurt 1999 (orig. 1933), 1–197, 80, bzw. Braun/Dornhof/ Johach 2009, 123

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diverse Publikationen zu dokumentieren. Allen voran bereits erwähnte Publikation »Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften«55 von George Devereux oder, etwas zeitnäher, die Untersuchungen über das Unbewusste in aktuellen Diskursen, die Michael Buchholz und Günther Gödde vorlegten.56 Selbstreflexion ist heute zwar bereits zu einem wesentlichen Instrumentarium zeitgemäßer Forschung geworden und damit zu einem Ort, durch den dem Unbewussten ein Platz in der Wissenschaftsproduktion eingeräumt wird, doch von einem State of the Art kann – vor allem im Mainstream der Wissenschaften – dezidiert noch nicht gesprochen werden.57 In dem die Wissenschaft konstituierenden Rahmen bilden die Begriffe Theorie und Praxis ein wesentliches weiteres dualistisches Bild, das vielfach immer noch einen Widerspruch und ein diametral gegenteiliges Handeln suggeriert – der gedankliche Raum, die Überlegungen versus die Empirie, das Erfahrungswissen, Allgemeines versus Spezielles. Karen Gloy hat in ihrer Beschreibung des Paradigmenwechsels des Wissens auch der Beziehung von Weisheit und Wissenschaft Raum gegeben und in der Ablösung vom Subjekt und dessen Erfahrungsdimensionen sowie der Trennung von theoretischer und ethischer Ebene das Obsoletwerden des Weisheitsbegriffs im Prozess der Ausformung von Wissenschaft charakterisiert. Die Bewertungen der Theorie- sowie der Praxis-Ebenen schwingen hier zweifellos mit. In der Neuzeit nahm Weisheit als kontextualisiertes holistisches Wissen, das sich immer auch im Verhalten dokumentiert und die Einheit von Theorie und Praxis explizit pflegt, noch einen wichtigen Stellenwert ein. In der Verwissenschaftlichung des Wissens löste sich jedoch diese ursprüngliche Einheit und ließ den Begriff der Weisheit verschwinden.58 Neben vielen anderen Aspekten erscheint mir gerade auch die ethische Implikation, also die der Verantwortung in Hinsicht

55 Devereux 1998 (orig. 1973) 56 Michael B. Buchholz/Günther Gödde (Hg.), Das Unbewusste in aktuellen Diskursen, Gießen 2005 57 Vgl. zur Diskussion von Psychoanalyse als Grund- und Kulturwissenschaft u.a. Johannes Reichmayr, Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Konzepte, Anwendungen, Gießen 2003, bzw. Harriet W. Meek, The Place of the Unconscious, FQS 4/2 2003 http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0302380 58 Karen Gloy, Von der Weisheit zur Wissenschaft. Eine Genealogie und Typologie der Wissensformen, Freiburg-München 2007, 38 ff. Vgl. auch die Wortgeschichte des Wissensbegriffs 29–37, in der einer der ältesten Wissensbegriffe, »Witz« – eine Substantivierung des Verbs »wissen« –, die intellektuellen inklusive der sinnlichen Aspekte anspricht.

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auf die Generierung von Wissen, die im Begriff der Weisheit impliziert ist, von weitreichender Bedeutung. Zu erwähnen ist hier die Assoziation mit den Möglichkeiten intellektuellen Lebens nach Auschwitz.59 Denn gerade in den Wissenschaften der NS-Zeit, die auch als Gipfel der Entwicklung der Moderne beschreibbar sind, waren dichotom angelegte Begrifflichkeiten zentral, die nicht zuletzt der Inhumanität bzw. der inhumanen Übersetzung in politisches Handeln Vorschub leisteten. Die Annahme von getrennten Sphären, die Unverbundenheit von Wissen und Mitgefühl, wissenschaftlichem Denken und Menschlichkeit trug zu Logiken bei, unter denen die Shoa realisiert werden konnte. Denkschemata wie Kognition versus Erfahrung, Selektion versus Integration oder Entpersonalisierung versus persönlichem Zugang etc. lagen ihnen zugrunde.60 Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgeschichte sind deshalb immer auch, so denke ich, unter der Prämisse der Verhandlung über diese Begriffe und den damit einhergehenden Veränderungen des Wissen/schaft/s/begriffs zu lesen. Interessant in diesem Zusammenhang ist freilich, dass der Practice Turn in den Sozialwissenschaften61 zu Beginn des neuen Millenniums das Denken des Begriffs einer Praxistheorie anregte, die auf einer impliziten Logik von Praxis, also einem praktischen Wissen beruht. Oder anders formuliert: die auf der Materialität sozialer Praktiken, ihrer Inkorporiertheit basiert. Dadurch wird auch das bisherige Verständnis von Akteur_innen wie von Sozialem insgesamt herausgefordert, das sich nun als praxeologische Überlegungen, also theoretische Überlegungen menschlichen Handelns darstellt. Sie gehen auf Pierre Bourdieu als auch Anthony Giddens oder auch schon Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger und Charles Taylor zurück.62

59 Vgl. Ingrisch 2004, wo ich u.a. zu zeigen versuchte, wie die Trennung von Theorie und Praxis, von Subjekt und Sache, von Agierenden und Wissen nicht zuletzt der Verwirklichung der Shoa Vorschub leistete. 60 Vgl. u.a. Doris Ingrisch, Weibliche Exzellenz und Nationalsozialismus an der Universität Wien, in: Mitchell Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Die Universität Wien 1938–1945, Wien-Göttingen 2010, 141–164 61 Vgl. Theodore R. Schatzki/Karin Knorr-Cetina/Karin & Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001 62 Vgl. u.a. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1979; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1980; ders., Méditations pascaliennes, Paris 1997; Anthony Giddens, Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London 1979; Ludwig Wittgenstein,

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Die Cultural Studies sowie die Theorien des Performativen wären als weitere Entwicklungen in die Richtung zu nennen, in welcher der hier angesprochene Nexus von doings, sayings and thinkings63 hergestellt wird. In den Gender Studies war eine solche Dynamik aus der eigenen Geschichte heraus, die ja auf dem Feminismus als politischer Bewegung basiert, ein wesentliches Thema. So trug auch eine der ersten Zeitschriften im deutschen Sprachraum, die im Jahr 1978 gegründeten »beiträge zur feministischen theorie und praxis«, den Anspruch des Verbindenden im Titel. Wissenschaftliche Arbeiten sowie Artikel zu feministischen Praxis-Projekten gleichermaßen vertreten sein zu lassen, dokumentieren das Anliegen, Theorie und Praxis als grundlegende Ebenen in den feministischen Diskursen zu kultivieren. Hier, wie z.B. auch im Feld der Wissensökonomie spielte die dichotome Hierarchisierung von Kopf- und Handarbeit hinein, die sich in der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und den ihr innewohnenden gesellschaftlichen Wertehierarchien entfaltete. In den Definitionen des organisatorischen wie persönlichen Wissensmanagements wird Wissen in beiden Dimensionen, d.h. sowohl in kognitiven, mentalen Prozessen als auch operativen, handelnden, als Kompetenz als auch als Fertigkeit, wahrgenommen.64 Ein anderes Beispiel, die Hierarchie von Kopf- und Handarbeit aufzuheben, ist auch die bereits für den Bereich der Kunst formulierte Sicht von Elke Bippus, forschende Prozesse ließen künstlerische als epistemische Praxis sichtbar werden.65

Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984 (orig. 1953), 225–580, sowie ders., Über Gewissheit, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984 (orig.1969), 113–257; Martin Heidegger, Zeit und Sein, Tübingen 1927; Charles Taylor, To Follow a Rule, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge 1995, 165–180 63 Theodore R. Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002, sowie Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4, August 2003, 282–301 64 Vgl. Ursula Hasler-Roumois, Studienbuch Wissensmanagement, Zürich 2007, sowie Hans-Georg Neuweg (Hg.), Wissen – Können – Reflexion. Ausgewählte Verhältnisbestimmungen, Innsbruck 2000 65 Elke Bippus, Zwischen Systematik und Neugierde. Die epistemische Praxis künstlerischer Forschung, in: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen, 2. H./Frühjahr 2010, 20–24, sowie dies., Forschen in der Kunst. Anna Oppermanns Modell der Welterschließung, in: Ute Vorkoeper (Hg.), Anna Oppermann. Ensembles 1968–1992, Ostfildern-Ruit 2007, 55–64

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Vor dem Hintergrund der Prozesse des Neu-Definierens sind auch die Begriffe Produktion und Rezeption zu begreifen, die die Beziehungsebene von Kunst und Öffentlichkeit in den jeweiligen Ausformungen beschreiben. Die klare bipolare Unterscheidung von hier Kunst und da Betrachtendem geriet zunehmend in eine Krise. Das hatte Folgen für die Definition eines Kunstwerkes und das heißt in weiterer Folge auf den Kunstbegriff selbst, wobei Joseph Beuys’ erweiterter Kunstbegriff nur eine Assoziation von vielen dazu bietet.66 Die hier in so vielen gesellschaftlichen Bereichen hergestellten Bezüge sollen einmal mehr dazu dienen, einen Eindruck davon entstehen zu lassen, wie binäre Denkstrukturen nahezu alle Bereiche unseres Lebens strukturieren und definieren, wie sie ineinandergreifen und einander stützend Plausibilitäten herstellen bzw. Macht-Dispositive konstituieren.67 Doch welches Beispiel auch immer, es sind definitiv Veränderungen, Korrekturen oder Neu-Entwürfe in Hinsicht auf die Beziehungsebene festzustellen. Auf den eben erwähnten künstlerischen Werkbegriff zurückkommend wird deutlich, dass die Rezeption nun nicht mehr als ein von der künstlerischen Praxis getrennter Vorgang angesehen wird. Im Gegenteil. Erst die Rezeption, das Betrachten, das Nachvollziehen treiben den künstlerischen Prozess voran. In diesem Sinne ist die Betrachtung bzw. die Rezeption als wesentliche Komponente künstlerischer Praxis anzusehen. Auch anhand der Begriffe Kunst – Nicht-Kunst,68 ich denke hier z.B. an die Objects trouvé von Marcel Duchamp, an Minimal Art, Earth Art etc., ist das FluideWerden der Grenzen – hier konkret zwischen Alltagsgegenständen und Kunst – gut nachvollziehbar. Was hier passiert, was Nicht-Kunst zu Kunst werden lässt, ist ein Umwerten, ein Transformieren, ein Etwas-in-einen-anderen-Kontext-Stellen. Neues entstehe, so Boris Groys, in Bezugnahme auf kulturelle Archive69 durch das Umwerten von Werten. Insofern sei es das Neue, das die bislang so wesentlichen Fragen nach Wirklichkeit und Wahrheit ablöse. Dies könne als ein Signum der Moderne betrachtet werden.70 Bezeichnenderweise sieht Boris Groys Ökonomie und Kultur dementsprechend nicht, wie vielfach üblich, in einem Ge-

66 Vgl. u.a. Hiltrud Oman, Joseph Beuys. Die Kunst auf dem Weg zum Leben, München 1998 67 Vgl. Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfuss/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987 (orig. 1982), 243–261 68 Vgl. Tasos Zembylas, Kunst oder Nichtkunst, Wien 1997 69 Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 2007, 44 70 Konrad Paul Liessmann, Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung, Wien 1999, 190

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gensatz. Ökonomische Logik sei seiner Ansicht nach vielmehr eine Manifestation kultureller Logik. Die beiden Dimensionen bewegen sich in enger Beziehung zueinander.71 Dementsprechend können innovative Prozesse, Prozesse, in denen das Umwerten wie die Valorisierung im Mittelpunkt stehen, unter Verabschiedung des Glaubens an den Fortschritt auch als kulturökonomische Dynamiken verstanden werden, die um Neubestimmungen von Grenzen kreisen. Das Denken in Begriffen von Öffentlichem und Privatem oder, in einer etwas anderen und dennoch ähnlichen Dimension, von Globalem und Lokalem ist ebenfalls als Ausformung dualistischer Denkschemata auszumachen. Ersteres Beispiel diente immer wieder dafür zu zeigen, welchen Einfluss die Zuordnung in getrennte Sphären auf die Formierung bürgerlicher Geschlechterverhältnisse hatte. Frauen wurden dem privaten Raum zugehörig gedacht, Männer dem öffentlichen Raum. Dementsprechend erfolgte auch die Zuschreibung geschlechterspezifischer Eigenschaften, die bis heute mit leichten Anpassungskorrekturen Neuauflage über Neuauflage erleben. In Turbulenz gebracht wurde dieses Konzept vor allem durch die in der zweiten Frauenbewegung proklamierte Einsicht, dass das Private politisch sei. Durch ein Denken also, dass diese Pole letztlich nicht trennbar seien und nur in enger Wechselwirkung zueinander zu begreifen sind. Dadurch wurde eine massive Kritik an den herrschenden Geschlechterverhältnissen, eine Macht- und Herrschaftskritik in Gang gesetzt. Die Komplementärbegriffe oder auch korrespondierenden Fluchtpunkte öffentlich-privat fanden in den Begrifflichkeiten von Staat und Familie ihre jeweils historisch geprägten Entsprechungen. Auf der Ebene des Symbolischen unterstrichen sie die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit. Strategien der Umdeutung öffentlicher und privater Räume bzw. das Spiel mit den oder die Nicht-Akzeptanz der Zuweisungen stehen deshalb bei den Fragen der Rolle von Genderdimensionen und deren Transformation immer im Fokus. Über den Blick auf Genderverhältnisse lernen wir auch verstehen, dass sich, um nun auf das zweite Begriffspaar zu kommen, Globalisierungsprozesse über Geschlechterordnungen realisieren und auf diese zurückwirken.72 Die Berücksichtigung der Situiertheit und damit die Anerkennung der Differenziertheit von Phänomenen wurde auch hier in der Folge als zentral für die Lösung von Problemen angesehen. Das Verstehen der Wechselwirkung von globalen und lokalen Aspekten mündete in die Generierung eines neuen Begriffs, in dem das Ungetrennte von Globalem und Lokalem Betonung findet, dem Glokalen. Glokales

71 Ebd., 15 72 U.a. Christa Wichterich, Femme global. Globalisierung ist nicht geschlechtsneutral, Hamburg 2003

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Denken unterstützt das Denken in komplexen Bezügen und weist universalisierende Ansätze zurück und damit auch die Dichotomie von Universalem und Partikularem.73 Eine Reihe weiterer Bipolaritäten, die hier eingeschrieben sind, werden dadurch herausgefordert: das Persönliche und das Politische, Politik und Wirtschaft, Innenpolitisches und Außenpolitisches, Nationales und Internationales, um nur einige in diesem Kontext augenscheinliche Begriffspaare zu nennen. Sie zeigen jedenfalls, dass auch auf diesen Ebenen Fragen nach der Konstituierung der/des »Anderen« virulent sind,74 mit denen nicht zuletzt der Blick für das Hybride angeregt wird.75 Diese exemplarischen Beispiele könnten noch durch viele weitere ergänzt werden. Bipolare Strukturen finden sich in den Problematiken wieder, die im Widerspruchsmanagement76 Thema sind – Stichwort: Wie gehe ich damit um, wenn ich feststelle, dass das Eine und das Andere richtig ist? Sie finden sich aber auch in den Diskursen über transversale Vernunft oder über eklektisches Denken77 – Stichwort: Wie baue ich Brücken, wie verbinde ich Themen, um der Vielheit gerecht zu werden? Sie tauchen in den Farben Schwarz und Weiß als Metaphern auf, aus denen Ungleichheiten vermeintlich argumentierbar erscheinen – Stichwort: Kritische Weißseinsforschung.78 Und sie begegnen uns als

73 Vgl. Arturo Escobar/Wendy Harcourt, Creating ›glocality‹, in: Development. The Journal of the Society for International Development Bd. 41, Nr. 2 (1998), 3–5 74 Vgl. Heike Jensen, Globalisierung, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln-Weimar Wien 2005, 139–161 75 Vgl. den Beitrag der Postcolonial Studies, u.a. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1991, oder Ella Shohat (Hg.), Talking Visions. Multicultural Feminism in a Transnational Age, New York 1998 76 Vgl. u.a. Peter Heintel (Hg.), Betrifft: Team. Dynamische Prozesse in Gruppen, Wiesbaden 2006, bzw. Reinhard Steurer/Rita Trattnigg, Nachhaltigkeit regieren. Eine Bilanz zu Governance-Prinzipien und -Praktiken, München 2010 und Mozart 2006, Salzburg, Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen u. Lebensministerium (Hg.), Sustainable Mozart. Kunst, Kultur und Nachhaltigkeit, Salzburg 2007 77 Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, oder auch Marcel Baumgärtler, Wissenschaftstheoretische und multidisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Plädoyer für ein strategisch eklektisches Vorgehen im Bereich der praxisorientierten Psychologie, Frankfurt a. M. u.a. 2005 78 Jana Husmann, Schwarz-Weiß-Symbolik, Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, Bielefeld 2010,

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Grundlagen methodologischer Ansätze, als Induktion, dem Schließen vom Speziellen auf das Allgemeine und als Deduktion, das Folgern vom Allgemeinen auf das Spezielle. Auch hier werden die Pole durch eine dritte Form logischen Vorgehens – die sie verbindende Abduktion – erweitert. Das Entweder-Oder wird darin zu ineinandergreifenden Stadien eines Interpretationsprozesses.79 Diese als weitere Beispiele für das Verbinden und Zusammenführen statt das Trennen, für die Bewegung des Und statt des Entweder-Oders als gegenwärtige Tendenz. In Differenzen bzw. in Transdifferenzen80 zu denken, steht meines Erachtens dafür, immer mehr Komplexität in unserer Wahrnehmung zuzulassen, steht für neue Impulse im Denken. Andreas Reckwitz spricht von »einer Sensibilisierung der kulturwissenschaftlichen Analytik für die Normalität der simultanen Wirkung unterschiedlicher, möglicherweise auch einander widersprechender kultureller Sinnmuster verschiedener ›Herkunft‹ in den gleichen sozialen Praktiken und Diskursen«, also von einem Sensibel-Werden dafür, Unterschied und Widerspruch peu à peu als »Normalfall der Logik der Kultur«81 anzuerkennen. Mittlerweile ist uns ja der Blick für die Differenz und das Zulassen von Mehrdeutigkeit als grundlegende Voraussetzung, kulturelle Prozesse einer spätmodernen Welt dechiffrieren zu können, bewusst. Die Postcolonial Studies, in denen es um die Erforschung kolonialer Mechanismen und deren Interaktionen, Interdependenzen und Effekte auf den verschiedensten Ebenen und damit um normative Ordnungen geht, bilden dafür ein paradigmatisches Beispiel.82 So betrachtet wird Dekolonialisierung im Sinne von Demokratisierung – nicht zuletzt von Wissensformen – verstehbar.

sowie Martina Tißberger u.a. (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus. Critical Studies on Gender and Racism, Frankfurt a. M. 2006 79 Vgl. Elke Billes-Gerhart/Yvonne Bernart, Abduktive Kompetenz und Medienkompetenz. Eine Analyse des medialen Handelns, Göttingen 2005 80 Vgl. Helmbrecht Breinig/Klaus Lösch, Multiculturalism in contemporary societies. Perspectives on difference and transdifference, Erlangen 2002, sowie dies., Lost in Transdifference. Thesen und Anti-Thesen, in: Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke (Hg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a. M. 2005, 454–455 81 Andreas Reckwitz, Generalisierte Hybridität und Diskursanalyse. Zur Dekonstruktion von »Hybriditäten« in spätmodernen populären Subjektdiskursen, in: Britta Kalscheuer/Lars Allolio-Näcke (Hg.), Kulturelle Differenzen begreifen. Das Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht, Frankfurt a. M. 2008, 17–39 82 Vgl. dazu auch feministische Perspektiven, u.a. Marianne Parpart/Jane Marchand (Hg.), Feminism/Postmodernism/Development, New York 1995, sowie Kriemild

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Um es nochmals zu betonen: Nicht Unterschiedlichkeit per se erzeugt Ungleichbehandlungen, das ihr zugeschriebene hierarchische Moment ist dafür verantwortlich zu machen. Oppositionelle Begriffe beschreiben ja, wie Jacques Derrida es pointiert formulierte, »nie die Gegenüberstellung zweier Termini, sondern eine Hierarchie und die Ordnung einer Subordination«.83 Auch in seinem Konzept der différance, das Jacques Derrida bezugnehmend auf die von Ferdinand de Saussure beschriebene Differentialitätsthese entwickelte, werden die Hierarchien im Denken herausgefordert. Bedeutung wird danach immer nur in Differenz zueinander – im Sich-Unterscheiden und Aufeinander-Verweisen – erzeugt und sei dementsprechend nie absolut, sondern immer relational zu begreifen.84 Auch im bereits erwähnten Begriff der Intersektionalität manifestiert sich ein neuer Zugang zu den Differenzkategorien, der die Verwobenheit der Dimensionen sozialer Ungleichheit berücksichtigt und integrativ betrachtet. Ungleichheitsmechanismen, die durch die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer Ethnie, sozialen Schichten bzw. Gruppen, einer sexuelle Orientierung, der Nation, einer Generation etc. entstehen, werden damit in ihrer Verflochtenheit und Dynamik besprechbar gemacht.85 Der Weg von der Aufmerksamkeit für die Kategorie Geschlecht über ihre Differenzierung und Interdependenz bis hin zu Gedanken über ihre Auflösung in einer Post-Gender-Gesellschaft86 zeichnet seinerseits exemplarisch Entwicklungslinien von einem universalistischen Sprechen über die Diversität von anerkennenden und vielleicht auch wertschätzenden Vorstellungen bis zu einer als Befreiungsfantasie konzipierten, die klassischen Gender-Markierungen bereits verlassenden Gesellschaft. Der Begriff der Transdifferenz kann als eine Entwicklungsstufe dieser Denkbewegungen gelesen werden. Er intendiert die »Untersuchung von Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Diffe-

Saunders (Hg.), Feminist Post-Development Thought. Rethinking Modernity, Postcolonialism and Representation, London-New York 2002 83 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1988, 313 84 Jacques Derrida, Die différance, in: Derrida 1988 (orig. 1972), 29–52 85 Davina Cooper, Challenging Diversity. Rethinking Equality and the Value of Difference, Cambridge 2004 86 Vgl. Donna Haraway, A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s, in: Linda Nicholson (Hg.), Feminism, Postmodernism, New York 1990, 190–233, wo sie den Begriff erstmals in dem Sinn erwähnt, dass Frauen eine Befreiung als postbiologische Organismen erfahren würden. Oder auch: Walburga Hülk/Gregor Schuhen/Tanja Schwan (Hg.), (Post)Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld 2006

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renzkonstruktionen auf der Basis binärer Ordnungslogik ausgeblendet werden«.87 Differenzen werden in dieser Logik zwar infrage gestellt, doch als wesentlicher Referenzpunkt nicht bis zu einer Auflösung getrieben. Beabsichtigt ist vielmehr, sie in Schwebe zu halten, sie »gleichsam ins Schwimmen« geraten zu lassen.88 Michael Frank verglich diese Haltung mit Jacques Derridas Verfahren der sous rature, einer literarischen Praxis, die auf Martin Heidegger zurückgeführt wird. Begriffe werden darin zwar benutzt, doch das Unzureichende ihrer Ausdruckskraft und die daraus entstehende Problematik dadurch angezeigt, dass sie mit x-Zeichen durchgestrichen, aber dennoch im Text belassen werden.89 Writing under erasure, wie es im Englischen genannt und in den Cultural Studies aufgegriffen wurde, thematisiert die Problematik der Revision, des ReVisionings von Konzepten, des Abarbeitens an den jeglichen Begrifflichkeiten eingeschriebenen Denkstrukturen. In der Folge möchte ich nun exemplarisch weitere Vorstellungen dieses Verbindens und Zusammenführens und damit neue Qualitäten des Denkens betrachten. Was kann dieses Und, das nun immer wieder vorkam, denn alles bedeuten? Wie kann es umgesetzt werden, wie manifestiert es sich über die genannten Beispiele hinaus? Welche Konsequenzen ziehen Formen des Und nach sich? Welche Konzepte entstanden bereits und welche neuen – im Sinne von Umwertungsprozessen – Denkformen entwickeln sich hier? Aber auch die Frage nach den Kontexten, in denen mit dem Und experimentiert wird, ist für die Fragestellung nach dem Zusammenhang von Wissenschaft, Kunst und Gender wesentlich. Wo und wie wird das Und gedacht?

D ENKKONSTELLATIONEN

IM

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Wie kann ich verbinden, wie kann ich Beziehungen herstellen, welche Realisationen eines nicht trennenden, nicht bipolaren Denkens finden sich? Welche Ansätze und Herangehensweisen eines Denkens im Und können in der einen oder

87 Klaus Lösch, Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte, in: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 26–49, 28 88 Ebd., 27 89 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1992, sowie die Auseinandersetzung von Gayatri Spivak in der englischen Übersetzung, dies., Translators Preface, in: Jacques Derrida, Of Grammatology, Baltimore-London 1974, IX– VXXXVII

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anderen innovativen wissenschaftlichen oder auch künstlerischen Herangehensweise sichtbar werden? Zunächst einmal kann die Stellung des Subjekts in den Wissenschaften und die Veränderung seines Stellenwerts als wesentlicher Indikator für weitere Überlegungen zu den Veränderungen unseres Denkens herangezogen werden. Wie bereits ausgeführt, bildete die Trennung von wissendem Subjekt und Realität die grundlegende Basis der modernen Wissenschaften. Ausgegangen wurde von der Vorstellung, das Beobachtete sei von dem beobachtenden Subjekt unabhängig, existiere ohne dessen Zutun und könne in diesem Sinn durch wissenschaftliche Methoden erforscht und beschrieben werden. Der Quantenphysiker Basarab Nicolescu wies auf den dieser Einstellung vorausgegangenen Bruch mit der antiken Sicht auf die Welt hin, die es der modernen Wissenschaft erlaubte, sich unabhängig von der Theologie, der Philosophie und der Kultur zu entwickeln. Dies sei, aus dieser Perspektive betrachtet, ein positiv zu bewertender Akt zur Freiheit gewesen. Heute hingegen sei es unübersehbar, dass die Folgen dieser Trennung in unserem Denken gerade durch die Illusion der Abgekoppeltheit und Kontrollierbarkeit eine virulente Gefahr für die Welt darstellen. Denn die Trennung bedeutet – »the only knowledge worthy of this name must therefore be scientific and objective«.90 Alle anderen Formen des Wissens wurden abgewertet und dem Bereich des Nicht-Wissens subsumiert. Menschen wurden damit zu Objekten, zur Phrase stilisiert,91 und die in den Naturwissenschaften angewandte Messbarkeit zum Inbegriff einer objektiven Wissenschaft. Dementsprechend ist es umso interessanter, dass gerade die Erkenntnisse einer der Naturwissenschaften, nämlich der Quantenphysik, den grundlegenden Anstoß dafür gaben, die bipolare Weltsicht, das Konzept von Objektivität und Subjektivität und damit die gesamte Konzeption von Wissenschaft neu zu überdenken. War es im traditionellen Denken die Vorstellung einer gleichbleibenden Materie, der die sich verändernde Form gegenüberstand, so konfrontiert uns die Quantenphysik nunmehr damit, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist. Sie geht davon aus, dass das, was da ist, Form ist, Symmetrie ist, Gestalt ist. Mit den

90 Vgl. Basarab Nicolescu, Transdisciplinarity – Past, Present and Future, in: Bertus Haverkort/Coen Reijntjes (Hg.), Moving Worldviews – Reshaping sciences, policies and practices for endogenous sustainable development, Leusden 2006, 142–166, sowie www.movingworldviews.net/Downloads/Papers/Nicolescu.pdf 91 Vgl. Vincente Descombes/Charles Larmore/Jean-Cassien Billier, Dernieres nouvelles du Moi, Paris 2009

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Worten von Hans-Peter Dürr: »Materie/Stoff ist geronnene Form.«92 Das, was heute als das kleinste Erfassbare gilt, ist »ein ständiges Entstehen und Vergehen«. Hier wird nicht von Mit-sich-Identem gesprochen, sondern von Potenzialität, »materiell-energetische(n) Manifestationen des Möglichen«.93 Ernest Rutherford, Louis de Broglie, Max Planck und Albert Einstein bereiteten durch ihre Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Materie zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Boden für eine neue Weltdeutung, die den bislang vertrauten Vorstellungen die Grundlage entzog. Besonders beachtenswert, auch für unseren Kontext, war die neue Sichtweise, Dinge als Prozesse zu erkennen.94 Langsam beginnen auch andere Wissenschaften, diese neuen Paradigmen zur Kenntnis zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Werner Heisenberg deutete vor bereits mehr als einem halben Jahrhundert das Ausmaß dieser Arbeit an, wenn er feststellt: »Many rigidities of the philosophy of the last centuries are born by this black and white view of the world.«95 Die Erkenntnisse der Quantenphysik veranlassten ihn darüber hinaus, eine weitere bipolare Struktur, die Unterscheidung zwischen sogenannten exakten Wissenschaften und Humanwissenschaften, in Zweifel zu ziehen und dafür zu plädieren, neue Formen von Zusammensein und Beziehung als entsprechender und angemessener für unsere Weltsituation zu suchen, zuzulassen, zu erproben. In Bezug auf die hier fokussierte Frage der Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst formulierte er: »The too strong insistence on the difference between scientific knowledge and artistic knowledge comes from the wrong idea that concepts describe perfectly the ›real things‹.« Und: »All true philosophy is situated on the threshold between science and poetry.«96

Beyond Disciplines – Transdisziplinarität und Postdisziplinarität Um nun aus der Bipolarität des Denkens auszusteigen, kreisten Basarab Nicolescus Vorschläge vor allem um eine das »Bi« auf/brechende Vorstellung – »the

92 Hans-Peter Dürr, Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch, München 2009, 86 93 Ebd., 87 94 Ebd., 91 95 Walter Blum/Hans-Peter Dürr/Helmut Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Gesammelte Werke, Vol. C–I, Physik und Erkenntnis, 1927–1955, München 1998, 269 96 Ebd., 363/364

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third party«, »the interaction term«. Im Denken des Dritten, des SichAufeinander-Beziehens entstehe eine Dreifach-Aufteilung, »a ternary partition – subject, object und hidden third«. Dadurch bilde sich ein neues Modell der Realität.97 Der Autor des »Manifesto of Transdisciplinarity«98 nahm die als natürliche Bedingungen betrachteten Gesetze, nach denen Denken passiert, unter die Lupe und legte darin auch Erklärungsansätze offen, die dem transdisziplinären Denken bzw. einem Denken im Und entgegenwirken. Die in den logischen Axiomen formulierten Normen des Denkens setzten ein strenges Schema. Sie gingen, vereinfacht, davon aus, dass A gleich A zu sein habe. Sowie A nicht NichtA und ein Drittes gäbe es nicht. Ein Drittes, das dann zur selben Zeit A und Nicht-A sei. Mit den unser Denken bestimmenden Axiomen konstituierte sich Bipolarität auf dieser und durch diese Ebene. Heute regt der Blick auf die Axiome als Setzungen aber auch dazu an, zu erfassen, dass es möglich ist, neue, andere Denkformen zu entwickeln. Transdisziplinäres Denken ist sicher als ein spannender Versuch in diese Richtung zu lesen. Zwei Bedürfnissen, so die Einschätzung von Helga Nowotny – sie waren in den vorigen Ausführungen bereits Thema –, folge sie, die Transdisziplinarität: »the loss to what is felt to have been a former unity of knowledge« sowie »the expectation that transdisciplinarity contributes to a joint problem solving that it is more than juxtaposition«.99 Transdisziplinarität verfolge vor allem eine Integration von Perspektiven.100 Helga Nowotny hatte bereits vor einiger Zeit auf eine neue Form der Wissensproduktion hingewiesen, Mode 2 genannt, die eine neue Sprache dafür bot, den in der Forschung stattfindenden Paradigmenwechsel zu charakterisieren. »Note«, so macht sie aufmerksam, »the prefix – trans – is shared with another word, namely transgressiveness.«101 Das Grenzüberschreitende ist das Argument, das herangezogen wird, um die Entwicklungen und den Innovationscharakter im Bereich des Interdisziplinären, Multidisziplinären und Transdisziplinären zu charakterisieren. Betrachten wir diese mitunter auch parallel verlaufenden Entwicklungen in Hinsicht darauf, in welchem Ausmaß ein Schritt vom Entweder-Oder zum Und erfolgte, so ist viel-

97

Nicolescu 2006, 149

98

Basarab Nicolescu, Manifesto of Transdisciplinarity, New York 2002 (orig. 1996)

99

Helga Nowotny, The Potential of Transdisciplinarity, in: Julie Thompson Klein u.a. (Hg.), Transdisciplinarity. Joint Problem Solving Among Science, Technology, and Society. An Effective Way for Managing Complexity, Basel 2001, 67–80

100 Vgl. u.a. auch Margaret A. Somerville/David J. Rapport, Transdisciplinarity. Recreating Integrated Knowledge, Oxford 2000 101 Nowotny 2001, 68

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leicht folgende Sicht möglich: die Gleichberechtigung disziplinärer, allerdings getrennt nebeneinanderstehender Ansatzpunkte im Interdisziplinären, das Einfordern einer Reihe von disziplinären Sichtweisen im Multidisziplinären und die Zusammenarbeit diverser wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Perspektiven102 als Kennzeichen des Transdisziplinären bewegen sich deutlich in Richtung einer Neuordnung des Wissens. In der grenzüberschreitenden Haltung der Transdisziplinarität liegt ein Bemühen, einen für alle Beteiligten nutzbaren konzeptuellen Rahmen zu erstellen. Während mit Inter- und Multitransdisziplinarität noch eine eher additive Form des Und praktiziert wird, hat das transdisziplinäre Und einen darüber hinausgehenden, in die Bereiche zurückwirkenden und diese selbst verändernden Charakter. Im transdisziplinären Denken wie in dessen Praxis – ich spreche dies hier zwar dezidiert aus, verstehe aber Denken durchwegs als Handeln, also nicht als ein Entweder-Oder, sondern als ein Und – ist es vielfach die Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die überschritten wird.103 D.h. vor allem der Einbezug der Akteur_innen bzw. der User des jeweiligen Feldes – und damit auch anderer Wissensstände und Wissenskulturen – wird nun als wesentliche gleichberechtigte Position forciert. Für den Bereich der Technik z.B. bestehen bereits eine Reihe wissenschaftshistorischer Arbeiten, die belegen, dass ein solches Vorgehen und die damit einhergehende Veränderung des Ethos dafür verantwortlich zu machen sind, bessere – im Sinne User-freundlichere – technische Lösungen zu finden.104 Diese Formen von Kooperation fordern besonders einen veränderten Umgang mit Unsicherheit und dem sogenannten Nicht-Wissen aufseiten der Wissenschafter_innen heraus.105 Insofern lässt sich die Neudefinition

102 Zu den Konzepten von Transdisziplinarität und ihrer Differenziertheit u.a. Julie Thompson Klein, History of Transdisciplinary Research. Contexts of Definition, Theory, and the New Discourse of Problem Solving, in: Encyclopedia of Life Support Systems, U.K. 2003, http://www.eolss.com., oder Christian Pohl, From Transdisciplinarity to Transdisciplinary Research, in: Transdisciplinary Journal of Engeneering & Science, 1/1, December 2010, 74–83 103 U.a. Michael Gibbons u.a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Society, London u.a. 1994, bzw. Nowotny/Scott/Gibbons 2001 104 Thomas P. Hughes, Rescuing Prometheus. Four Monumental Projects that Change the Modern World, New York 1998 105 Vgl. das Projekt »Transdisciplinarity as Culture & Practice. Analysing Transdisciplinary Sustainability Research Projects in the Program Provision« von Ulrike Felt und Andrea Schikowitz, 2009–2012, sowie Ulrike Felt, Transdisciplinarity as Cul-

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eines Ortes, an dem dafür adäquate Strukturen ausverhandelt werden, ebenfalls als eine aus der Historie heraus angeregte Form des Und lesen: »Going back to an old Greek term, we call it agora. It requires the management of complexity in a public space, which is neither state nor market, neither public nor private, but all of this in different configurations.«106 Dass in diesem Prozess sozialen Werten eine wesentliche Rolle zukommt, ist für die Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses von weitreichender Bedeutung. Die Veränderungen rufen unterschiedliche Reaktionen hervor. Einerseits ist die Rede von einer »kognitiven Revolution«,107 die die Bedeutung für unser Denken und Handeln betont, andererseits jedoch besteht angesichts der disziplinär ausgerichteten Universitäten und Hochschulen große Skepsis, ob der für transdisziplinäres Arbeiten nötige Aufwand sich denn überhaupt lohne. Betrachten wir Disziplinierungen mit Heike Kahlert unter dem Aspekt der »Effekte von Machttechnologien«,108 so tritt die Herrschaftsebene zutage, auf der sich Wissenschaft und Denken bewegen.109 Wenn wir zudem Disziplinen mit Michel Foucault als Felder intellektueller Praxis, als diskursive Formationen sehen,110 die wir trotz ihres Charakters als permanente Aktivität als Einheiten wahrnehmen, so beginnt Wissensproduktion als Prozess verständlich zu werden, in dem auch Wissensterritorien formiert und durch Ein- und Ausschlüsse reglementiert werden. Diese manifestieren sich durch Inhalte, Methoden und die Aktionen der Akteur_innen. Denn immer sind es die Individuen, die den Rahmen gestalten und die Wissensbeziehungen herstellen.111 In diesem Sinne ist die kontroverse Diskussion über Transdisziplinarität eben auch als Aushandlungsprozess von Denktraditionen und Denkkulturen sowie von in sie eingeschriebene Macht- und Herrschaftslagen zu beschreiben.

ture and Practice, in: GAIA Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft, 19/1/2010, 75–77 106 Helga Nowotny 2001, 80 107 Helga Nowotny, The Place of People in our Knowledge, in: European Review 7/2/1999, 247–262 108 Kahlert 2005, 31 109 Vgl. u.a. Thomas Ernst u.a. (Hg.), Wissenschaft und Macht, Münster 2004 110 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973 (orig. 1969), 68 111 Vgl. u.a. Sabine Hark, Inter/Disziplinarität. Gender Studies Revisited, in: Kahlert/ Thiessen/Weller 2005, 61–89

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Obgleich das Aushandeln neuer, allgemeingültiger Standards bzw. Güte- und Erfolgskriterien längst in Bewegung ist112 und elaborierte Ansätze existieren, besteht noch keine Übereinkunft über einen State of the Art und eine entsprechende Forschungskultur.113 Vielleicht muss das auch gar nicht das Ziel sein. Festgehalten werden kann, dass dieses vorläufige Offenhalten zwar einen für Entwicklung notwendigen Spielraum ermöglicht, sich jedoch auf die Förderlandschaft mangels definitiver Richtlinien, die ja auf die Neuorientierung der Forschungslogiken und -kulturen und damit auf den Umbruch wissenschaftlicher Weltbilder reagieren müssen, zwangsläufig oftmals noch hemmend auswirkt. Doch neue Paradigmen haben sich bereits herauszubilden begonnen.114 Bemerkenswert erscheint mir hier ein Doing und Reflecting Transdisciplinarity, d.h. im und durch das Tun zu erfahren, was transdisziplinäres Arbeiten ist, und diese Praxis jeweils zu reflektieren. Dieses Vorgehen kann also als Praxis betrachtet werden, in der theoretische Reflexion eine wesentliche Rolle spielt. Wissenschaft transdisziplinär zu betreiben »stellt – gewissermaßen als unbeabsichtigte Nebenwirkung«, so Edward Krainz, »den Wissenschaftsbetrieb selbst zur Debatte, sowohl hinsichtlich der ›operativen‹ (würde man in Firmen sagen) Prozesse, als auch in Hinblick auf den Sinn von Wissenschaft überhaupt bzw. welche gesellschaftliche Veranstaltung Wissenschaft eigentlich ist.«115 In dieser Entwicklung wird der Wissensbegriff bzw. die Unsicherheit von Wissen ebenso herausgefordert wie die Beziehung von Wissenschaft und Gesellschaft. Ohne es speziell zu artikulieren, werden in diesen Neuverhandlungen von Konzepten auch bislang bipolare Stabilitäten neu gewichtet. Z.B. indem das transdisziplinäre Projekt als System betrachtet wird, in dem disziplinäre und lebensweltliche Denkstile miteinander in Beziehung treten. Kernherausforderung ist jeweils die Integration, die in dem Moment als geglückt erachtet wird, wenn bisher ungesehene, unbeachtete Zusammenhänge hergestellt werden konnten. Ziel ist dabei nicht die Einigung auf einen gemeinsamen neuen Denkstil, die definitive Unter-

112 Stefan Hornbostel/Meike Olbrecht, Peer Review in der DFG. Die Fachkollegiaten, iFQ-Working Paper Nr. 2, Bonn 2007 113 Matthias Bergmann/Engelbert Schramm, Innovation durch Integration – eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Transdisziplinäre Forschung. Integrative Forschungsprozesse verstehen und bewerten, Frankfurt a. M. 2008, 7–18 114 Thomas Jahn, Transdisziplinarität in der Forschungspraxis, in: Bergmann/Schramm 2008, 21–37 115 Ewald E. Krainz, Ende des Disziplinären?, in: Rudolf-Christian Hanschitz/Ester Schmidt/Guido Schwarz, Transdisziplinarität in Forschung und Praxis. Chancen und Risken partizipativer Prozesse, Wiesbaden 2009, 7–14

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scheidung zu einem pluralistischen Zugang liegt vielmehr darin, Berührung zuzulassen und sich selbst dadurch zu verändern. Dieser Anspruch setzt allerdings die Bereitschaft voraus, sich verändern zu lassen oder, noch extremer formuliert, Veränderung sogar anzustreben. Während diese Intention als vage abgetan werden könnte, besteht bereits vielfach Konsens darüber, dass transdisziplinäres Tun in jedem Fall gegenseitiges Lernen initiiert. Dieser Aspekt hat seinerseits weitreichende Implikationen. Denn er setzt eine Forschungshaltung voraus, in der das »Andere« potenziell als etwas Wertzuschätzendes zu betrachten ist und die Differenzierung des eigenen Denkens erstrebenswert erscheint bzw. zumindest nicht davor zurückgeschreckt wird, indem wieder scheinbar eindeutige und sichere Positionen eingenommen werden. Dass der Beziehungsebene der Interagierenden in dieser Konstellation ein wichtiger Stellenwert zukommt, ist zentral. Sie ist es dann auch, welche die soziale Komponente der Wissensgenerierung referiert.116 In diesem Kontext verwundert kaum, dass sich Kompetenzen der Mehrsprachigkeit und Interkulturalität im direkten wie im metaphorischen Sinn günstig auf transdisziplinäre Prozesse auswirken. Julie Thompson Klein: »However, transdisciplinarity, transculturalism, transnationalism have blurred and reordered older binary cultural, social, political, and epistemological distinctions and categories.«117 Von welcher Seite auch immer wir uns dem Transdisziplinären nähern, transdisziplinäres Denken, transdisziplinäre Praxis findet in einem begrifflichen Instrumentarium des Und seinen Ausdruck: Partizipation, Interdependenz, Kooperation, Integration, Permeabilität, Kohärenz, Hybridität etc. sind die charakterisierenden Schlüsselbegriffe. Sie fokussieren auf das Verbindende, kreisen um die Überwindung bislang gezogener Grenzen sowie um Fragen der Neuverortung, Neustrukturierung und Überlappung von Systemen. Ganze Wissenschaftszweige öffneten sich, um in Beziehung zu treten – zur Regierung, zur Industrie, zu anderen Teilbereichen der Wissenschaft, zur Alltagswelt. Auf dieser Basis entstanden neue Formen der Arbeit, neue hybride Felder entwickelten sich.

116 Angela M. O’Donell/Sharon J. Derry, Cognitive Processes in Interdisciplinary Groups, in: Sharon J. Derry u.a. (Hg.), Interdisciplinary Collaboration. An Emerging Cognitive Science, Mahwah 2005, 51–82 117 Julie Thompson Klein, Notes Toward a Social Epistemology of Transdisciplinarity, Communication au Premier Congrès Mondial de la Transdisciplinarité, Convento da Arrábida, Portugal, 2–6 novembre 1994, Bulletin Interactif du Centre International de Recherches et Études transdisciplinaires n°12, Février 1998, http://perso.clubinternet.fr/nicol/ciret/-mis à jour le 10 février 1998

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Das Überschreiten herkömmlicher Grenzen im Rahmen der Transdisziplinarität ist, wie bereits erwähnt, nicht nur ein akademisches Phänomen, sondern steht in Resonanz zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen der Spätmoderne, den Veränderungen der Wissenslandschaften in der zweiten Moderne,118 der Fluidisierung119 und Veränderung des Denkens in ein transversales, brückenbildendes.120 Die diversen Turns in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen dokumentieren in ihrer Art und Weise das sukzessive Sich-Öffnen und Miteinbeziehen immer weiterer, in den Wissenschaften vielfach unberücksichtigter Wissensdimensionen.121 Zudem wird das Infragestellen von bislang strikt gehüteten Grenzen durch intermediale Projekte oder die Hybridisierung künstlerischer Genres nicht zuletzt als zentrale Errungenschaft der künstlerischen Moderne angesehen.122 Neue Studienrichtungen, wie z.B. der Masters of Arts of Transdisciplinarity oder TransArts – reagieren mit einem Infragestellen und Überschreiten künstlerisch-disziplinärer Grenzen auf die Organisationsformen künstlerischen Wissens und siedeln an den Schnittstellen von Kunst, Kultur und Kommunikation. Diese Haltungen sind von einem Anspruch getragen, etwas Weiteres entstehen zu lassen – »so etwa, wie zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein neuer, gleichberechtigter Zusammenhang zwischen Musik und Sprache gesucht wurde – und zur Geburt der Oper führte«.123 Oder Derrick de Kerckhove anlässlich der Ars Electronica 2005 unter dem Titel »Hybrid – living in paradox«: »Kunst ist die Nahrung der Hybridisierung. Sie übersetzt und transportiert die Formen einer Kultur in die einer anderen, indem sie Teile von beiden hervorhebt und mischt.« Sampling sei nicht nur eine digitale Technik, es sei mittlerweile

118 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986 119 Zygmunt Baumann, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003 (orig. 2000), sowie ders., Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt a. M. 2007 (orig. 2005) 120 Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1996 121 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006 122 Vgl. z.B. Erika Fischer-Lichte/Kristiane Hasselmann/Markus Rautzenberg (Hg.), Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, Bielefeld 2010, oder auch Eva Gugenberger/Katrin Sartingen (Hg.), Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Innovation und Wandel in Kultur, Sprache und Literatur Lateinamerikas, Wien-Zürich 2011 123 Patrick Müller, neu: der master in transdisziplinarität, in: zett 08–2, 30 oder http://trans.zhdk.ch/transzhdkch/deutsch/studieninhalt-und-aufbau/positionierung/

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vielmehr ein Lebensstil. Und als Fazit: »Und so gibt es DJs der Kulturen, wenngleich diese in langfristigeren Rhythmen arbeiten.«124 Im Wissenschaftsbereich entstanden ebenfalls neue Richtungen, die spezifisch auf die Schnittstellen, die Ebenen der Verbindung abzielten. Hervorzuheben sind hier vielleicht die Integration and Implementation Sciences, oder auch I2S genannt, eine von Gabriele Bammer initiierte Cross-Cutting-Disziplin, die Konzepte und Forschungsmethoden für komplexe und realweltliche Probleme zur Verfügung stellt. Indem ihnen, ähnlich wie den Transdisciplinary Studies125 die Bedeutung eines eigenen Forschungsbereiches und eines Feldes akademischer Aktivität zukommt, veranschaulichen sie den zentralen Stellenwert, den integrative, synthetisierende Arbeitsweisen mittlerweile in Forschungsprozessen zugesprochen bekommen. »Implementation of transdisciplinarity presupposes humbleness while trying the new disposition to learn from the difficulties and mistakes, willingness to resolve conflicts by exercising the logic of inclusion«, so Maria de Mello über die Qualitäten, die derartige Zugänge erfordern. »Treading this path demands patience, perseverance and confidence« – bezeichnenderweise also Begriffe, die mit bislang weiblich konnotierten Eigenschaften belegt sind. Ihnen wird nun als Grundlage einer neuen Wissenschaftskultur ein zentraler Stellenwert eingeräumt.126 Auch in den Gender Studies – hier zunächst verstanden als umbrella term,127 also als Überbegriff, unter dem dynamische, intersektionale und von ihrem Selbstverständnis her multidisziplinäre Forschung und Lehre einen Platz finden kann – ist Transdisziplinarität ein wesentlicher Zugang. Der Blick auf die »andere Seite« bzw. möglichst viele Aspekte eines Themas ist darin unabdingbar. Aus der Sicht der Gender Studies ist jedoch auch die Frage von großem Interesse, was für die Bifurkation des Wissens ausschlaggebend war bzw. welche Intentio-

124 Derrick de Kerckhove, Hybrid – living in paradox. http://90.146.8.18/de/archives/ festival_archive/ festival_catalogs/festival_artikel.asp?iProjectID=13257 125 Vgl. dazu Somerville/Rapport 2000 sowie http://www.transdisciplinarity.ch/d/index.php und http://basarab.nicolescu.perso.sfr.fr/ciret/english/indexen.htm 126 Maria de Mello, Transdisciplinarity. An Experience in Implementation, basarab.nicolescu.perso.sfr.fr/ciret/bulletin/b16/b16c12.htm 127 »Tentatively I understand gender studies today – seen from the Swedish context – as an umbrella term for an interdiscipline in transit. It is not a safe place for refugees from older disciplines, but more of a meeting point for politically charged, multiple inter- and transdisciplinary research approaches and themes of investigation.« Ulla M. Holm, Interdisciplining Gender Studies in Sweden – a Mission Impossible?, http://www.travellingconcepts.net/holm1.html

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nen dahinter standen. Also nicht allein danach zu fragen, warum heute Tendenzen bestehen, die unterschiedlichen Formen des Wissens als solche auch wahrzunehmen und miteinander in Kontakt zu bringen, sondern die Separation, die dieser Setzung vorausgeht, nicht als selbstverständlich anzusehen. Mit anderen Worten: die Gewordenheit der Separation zu dekonstruieren. Denn gerade Fragen dieser Art, die sich aus einem nicht affirmativen Blickwinkel des Gegebenen generieren, sind es letztendlich, die uns den Strukturen unseres Denkens und Wissens näherkommen lassen und die darin verborgenen Herrschafts- und Machtverhältnisse sowie deren Wirkmächtigkeit freilegen. Die Historizität und erkenntnistheoretische Kontingenz der jeweiligen Wissenschaftskulturen in den Fokus zu nehmen heißt, auf die Entstehenskontexte zu verweisen und damit in den Blick zu nehmen, unter Zuhilfenahme welcher Mechanismen die Formen des Wissens generiert werden. An dieser Stelle erscheinen mir von der Intention dieser Herangehensweise drei Momente wesentlich – das machtsensibilisierende, das reflektierende und das dialogische Moment. Denn sie eröffnen auf diversen Ebenen neue Räume. So sprechen Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt und Kerstin Palm von einer machtsensiblen Transdisziplinarität »als einem Dialog mit sich selbst und dem eigenen Anderen, (…) einem epistemologischen Projekt, das die hegemonialen Bedingungen von Wissenserzeugung kritisch reflektiert«.128 Transdisziplinarität als Forschungsprinzip zielt nicht darauf ab, jegliche disziplinäre Organisation zu durchkreuzen,129 sondern vielmehr darauf, einen neuen Boden für Wissensgenerierung zu schaffen. Mit anderen Worten: einen Ort, eine Perspektive zu kreieren, von dem/der aus es möglich ist, neue Kontexte zu denken, Methoden zu transformieren und Konzepte zu entwickeln. Vielleicht im Sinne von transpositions, wie Rosa Braidotti Methoden des cross-boundary oder transversal transfer bezeichnete:130 »quest for overcoming dualism and reconnecting life and thought (…) it is a joint commitment to re-thinking subjectivity as an intensive, multiple and discontinous process of interrelation.«131 Transversalität bezeichnet nach Gilles Deleuze, Félix Guattari und Michel Foucault eine ahierarchische Praxis der Vernetzung, eine Pendelbewegung, eine

128 Katharina Walgenbach u. a., Einleitung, in: dies. u.a. 2007, 7-23, 20 f. 129 Vgl. u.a. Hark 2005 130 Vgl. Rosa Braidotti, Transpositions. On nomadic ethics, Cambridge 2006, 5–8 131 Rosa Braidotti, Metamorphoses. Towards a materialist theory of becoming, Cambridge 2002, 69

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Konnexion des Heterogenen.132 Also einen Prozess, der ein komplexes, plurales Denken mit neuen epistemischen Kategorien inspiriert. Mit Sabine Hark steht Inter- und Transdisziplinarität als Remedium gegen das Herrschaftswissen.133 Durch diese Art des Denkens werden hegemoniale Ansprüche infrage gestellt. Der Fokus besteht in der Interaktion und dem Bemühen um Verständigung, quer durch die Disziplinen. Die transdisziplinären Räume, die hier geschaffen werden, sind Räume der Begegnung auf gleicher Augenhöhe. Vom Forschungsanspruch her geht es also nicht allein um das Was, das Thema, sondern auch und vielleicht vor allem um das Wie des Forschungsprozesses. Die Gleichwertigkeit aller Betroffenen, die in den Anspruch der Partizipation in transdisziplinäre Prozesse eingeschrieben ist, kann dementsprechend in Resonanz zu den Forderungen nach einer Geschlechterdemokratie gelesen werden, die die gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Belangen zum Ziel hat.134 Ob im wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Bereich, in Aussicht genommen wird jeweils eine neue Kultur des Umgangs miteinander. Dabei besteht nicht die Absicht, Differenzen zu verwischen oder ihre Inexistenz zu konstatieren. Im Gegenteil. Sie in einem ersten Schritt sichtbar zu machen heißt, sich ihrer Gewordenheit bewusst zu werden. Dann kann, in einem zweiten Schritt, ihr Stellenwert neu bestimmt, können Verhältnisse neu gestaltet werden. Dies gilt für geschlechterdemokratische Anstrengungen ebenso wie für transdisziplinäre Herausforderungen. Postdisziplinarität, postdisziplinäres Denken – ein weiterer Versuch, die Entwicklung des Denkens mit Begriffen zu fassen – bewegt sich dann noch einen Schritt weiter. Sie lässt die Disziplinen bereits zurück, sowohl was die Ausgangslage als auch was die Ergebnisse betrifft. Als Illustration dieses Zugangs nennt Andrea Maihofer das Werk von Michel Foucault, das weder als soziologisch noch als philosophisch, weder als historisch noch als psychologisch bezeichnet werden kann und darüber hinaus auch dem Anspruch widersteht, eine neue Disziplin zu generieren. Wesentlich ist Michel Foucault allein das Herstellen von Verbindungen, das ihm durch ein Nomadisieren zwischen den Disziplinen möglich wird. Die Notwendigkeit eines neu auszuverhandelnden disziplinä-

132 Michel Foucault, Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, sowie Deleuze/Guattari 1987 133 Vgl. Hark 2005 134 Vgl. z.B. Birgit Sauer, Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten, in: gender…politik…online: http://web.fu-berlin.de/gpo/birgit_sauer.htm, 2003

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ren Ortes bestand für ihn nicht.135 Ein solcher Zugang setzt den Blick auf Wissensformen als gleichwertige voraus, ein Nebeneinander-Stehen ohne Hierarchisierungsansprüche. Einen solchen Prozess unterstützend kann der Geschlechterforschung eine wesentliche Rolle zukommen. Genderwissen und -kompetenzen bieten im Umgang mit Diversität und inter-, trans- bzw. postdisziplinären Herangehensweisen, kurz: mit dem »Handeln im Ungewissen« ein wertvolles Tool als Übersetzungs- und Orientierungshilfe.136 Aus ihrer eigenen Geschichte stellt sie gerade auch dann einen beträchtlichen Wissens- und Erfahrungsfundus zur Verfügung, wenn es sich dieser Entwicklung Rechnung tragend darum handelt, neue Kriterien zur Bestimmung von Wissenschaftlichkeit und die Etablierung einer neuen Wissenschaftskultur voranzutreiben. The Gap Die in unserer Sprache eingeschriebene binäre Struktur wird vielfach als naturgegeben und unhinterfragbar perpetuiert: Es gibt das Er, das Sie, das Es, d.h. durch den Genus, das grammatische Geschlecht, klare Zuordnungsmöglichkeiten von Nomen. Obwohl es uns im Deutschen wie anderen uns geläufigen Sprachen so selbstverständlich erscheint, ist zu realisieren, dass in mehr als der Hälfte aller Sprachen kein Genus-System existiert.137 In ihren Anfängen zielte feministische Sprachkritik – entsprechend ihrem Anliegen, das androzentrische Weltbild zu destabilisieren – auf die Sichtbarmachung von Frauen und ihren Beitrag zur Welt durch Änderungen im Sprachgebrauch ab. Sie verstand sich als Beitrag zur Sensibilisierung für die der Sprache innewohnenden Machtverhältnisse. Über Änderungen des Sprachgebrauchs sollten Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse initiiert werden. Diese Kritik entlarvte die Sprache als Mittel zur Unterdrückung und als Medium der

135 Andrea Maihofer, Inter-, Trans- und Postdisziplinarität. Ein Plädoyer wider die Ernüchterung, 185–202, in: Kahlert/Thiessen/Weller 2005, 185–202; vgl. auch Nina Lykke, Women’s/Gender/Feminist Studies, a Post-disciplinary Discipline, in: Rosa Braidotti/Edyta Just/Marlis Mensink (Hg.), The Making of European Women’s Studies, Vol. V, Utrecht 2004, 91–102 136 Barbara Thiessen, Inter- und Transdisziplinarität als Teil beruflicher Handlungskompetenzen. Gender Studies als Übersetzungswissen, in: Kahlert/Thiessen/Weller 2005, 249–273 137 Greville G. Corbett, Numbers of Genders, in: The World Atlas of Language Structures Online, http://wals.info/chapter/30

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Gewalt.138 Die Auseinandersetzung mit Sprachnormen erweist sich, es war bereits davon die Rede, immer wieder als lohnenswert, um sich der Denkverhältnisse bewusst zu werden. Verankert in Disziplinen wie der in allen Epochen der Philosophiegeschichte relevanten Sprachphilosophie, die auf die Beziehung von Sprache und Wirklichkeit bzw. Sprache und Denken fokussiert, hinterfragen Sprachwissenschaften, Kulturwissenschaften, Kommunikationswissenschaften etc. diese Referenzsysteme und Sinnzuschreibungen aus der ihnen je eigenen Perspektive. Der Konnex von Sprache, Handlung und Bewusstsein bzw. das Herstellen von Wirklichkeit durch Sprache wurde in der Sprechakttheorie beginnend bei John L. Austins »How to do things with words«139 zu einem wesentlichen Ausgangspunkt, Geschlecht als performative Akte zu denken. Mit der Entwicklung eines performativen Modells von Geschlecht ist der Name von Judith Butler, die als Philosophin und Philologin in diesen Bereichen wirkt, eng verknüpft.140 Die Bedeutung der Wirkmächtigkeit von Sprache wurde dadurch auch auf der Ebene Macht der materialisierenden Wirkung von Diskursen in der Bildung unseres Wissens mehr als deutlich. Queeres Denken, queere Theorie ist einer der Zugänge, dem Dazwischen von Polen Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Der Gap, die Lücke in der Sprache, das Zeichen _, verleiht diesem Anliegen Ausdruck. Er ist ein Statement dafür, die Erodierung der Binarität weiter zu treiben, einen Raum zu öffnen, traditionelle Vorstellungen zu entgrenzen. Der Gap fungiert als Symbol für einen Raum der Gendermigrant_innen,141 einen Raum für das Grenzüberschreitende, an dem jenseits von Gegensätzen gedacht werden darf. Der Gender_Gap bietet eine Darstellungsform, die nicht die heteronormative hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit bedient, deren Kritik die Agenda queeren Denkens ist.142 Neue Bilder zu erfinden, so Antke Engel, reiche jedoch nicht aus. Der Ansatzpunkt von Interventionen sei vielmehr, die Bedingungen des Repertoires kultureller Repräsentationen sowie die ihnen zugrunde liegenden Denkverhältnisse zu hinterfragen, um weit

138 Vgl. Senta Trömel-Plötz (Hg.), Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, Frankfurt a. M. 1984 139 John L. Austin, How to do things with words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, Oxford 1962 140 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 141 Steffen Kitty Herrmann (S_HE), Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung, in: arranca! Nr. 28, 2003, 22–26, http://arranca.org/ ausgabe/28/performing-the-gap 142 Vgl. Sabine Hark, Queere Interventionen, in: Feministische Studien (2) 1993, 103– 109, 104

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über die Erzeugung neuer Parodien und Devianzen hinaus, grundlegend neue Möglichkeiten zu erschließen. Der Gap steht dementsprechend für eine sprachliche Erinnerung, sich in die Möglichkeit des Darüberhinaus des Bipolaren zu begeben. Dem Darüberhinaus in der Sprache Platz zu geben und neue Formen zu finden, dies zu repräsentieren, ist eine Herausforderung, die einen weiteren Puzzlestein dieses Textes bildet, nicht zuletzt weil sich darin auch die Entwicklung hin zu mehr Komplexität, die ich hier zu beschrieben versuche, auf der Ebene des sprachliches Ausdrucks spiegelt. Ein anderes Stilmittel, das Dazwischen zu veranschaulichen, wäre beispielsweise eine Wildcard, ein Begriff aus der Computersprache, der einen Platzhalter oder Joker zwischen zwei Zeichen, zwei Grenzen meint. In unserem Kontext kann es sich als das Trans* zeigen, und zwar für alle Formen des TransPunktPunktPunkt, wie Hans Scheirl es bezeichnete.143

Dialog Wenn es im Kontext von Wissens- und Geschlechterordnungen um Anregungen für eine neue Kultur geht, so skizziert der Dialog, und damit nehme ich die Gedanken aus Teil I wieder auf, sicher ein wesentliches Feld weiterer Möglichkeiten neuer Denkverhältnisse. Die Idee des Dialogs als Raum, in dem alle Wissensformen ihren Platz einnehmen und in Beziehung zueinander treten können, habe ich dort bereits erwähnt.144 Es ist ein Ansatz, der darauf abzielt, Zusammenhänge zu erfassen und damit die Komplexität unseres Denkens zu steigern. Die Anerkennung diverser, nicht-hegemonialer Wissensformen spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die dafür notwendige Methode, diese ebenbürtig miteinander in ein Gespräch zu bringen. Entscheidend für das dialogische Denken ist, nicht einem der Pole zum Recht zu verhelfen, denn das würde heißen, der dichotomen Struktur verhaftet zu bleiben, sondern etwas Neues entstehen zu lassen. David Bohm: »To take part in truth we must see our part in it. There are no ›good guys‹ and ›bad guys‹ separate from ourselves. As members of modern society, we all participate in creating the forces that give rise to what exists, both what we value and what we abhor.«145 Nicht allein im Inhalt, sondern auch in der Struktur Dichotomes aufzulösen, ist dadurch zu charakterisieren, dass ein Dialog ohne eine führende Person oder auch ohne Agenda funktioniert. Die Positionen

143 Ingrisch 2012 144 Vgl. S. 60 145 David Bohm, On Dialogue, London-New York 2004 (orig. 1996), XIII

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Gewinnen versus Verlieren, die ebenfalls ein dichotomes Paar bilden, werden in diesem Setting ebenfalls irrelevant, denn: »In a dialog, everybody wins.«146 Können wir hier mit dem Dialog die Entwickelung hin zu einer neuen Kultur mitverfolgen? Klingt das zu utopisch? David Bohm wie andere dialogisch denkende Personen nahmen und nehmen sehr wohl Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Probleme und sind nicht zuletzt von dem Wunsch durchdrungen, durch ein neues Denken den Entwicklungen der destruktiven Tendenzen in der Welt, wie wir sie derzeit in Bezug auf die Umwelt, die Weltwirtschaft, den Finanzmarkt etc. massiv erfahren, entgegenzuwirken. Das Paradigma des »participatory thought« erscheint mir in diesem Kontext als weiterer Ausdruck eines nicht trennenden Denkens. Und wie sonst ist der Unterschied zur bisherigen Form des Denkens zu charakterisieren? Das wörtliche Denken, »the literal thought«, welcher das Denken nun seit fünftausend Jahren bestimmt, »aims at being a reflection of reality as it is«.147 Diese Art von Denken schließt Ambiguität aus und versetzt uns in den Glauben, Worte seien in der Lage wiederzugeben, wie es ist. Damit steht freilich erneut der Wirklichkeitsbegriff und das ihm zugrunde liegende Weltbild zur Verhandlung. Grundlegend ist also die Frage: Fungieren Unterschiede darin im Sinne des Trennens oder stehen sie dafür, Differentes in Verbindung zu bringen, als in Verbindung stehend zu betrachten?148 Der Dialog regt uns an, uns bewusst zu werden, wie wir miteinander reden, wie wir miteinander umgehen. Dann aber geht er noch einen Schritt weiter, denn er fragt danach, wie wir miteinander denken. Denken als einsame, isolierte, kognitive Tätigkeit, wie sie in Auguste Rodins Skulptur »Der Denker« wohl nicht zufällig männlich personifiziert und vielfach als Gegenpol von Wahrnehmung und Intuition gehandelt wurde, erhält durch den Dialog einen neuen Kontext. William Isaacs, der den Dialog im Kontext der Kommunikationskulturen in Organisationen weiterentwickelte, erinnerte an die Werte in der griechischen Antike – das Wahre, Schöne und Gute –, aus denen sich objektive wissenschaftliche Wahrheit, Ästhetik/Kunst sowie Moral analog ihren eigenen Sprachen entwickelten. Diese Entwicklung ging allerdings mit einer Trennung und Dissoziation der Bereiche Hand in Hand, die im »Es«, »Ich« und »Wir« eine Entsprechung fand. Im echten Dialog werden diese Elemente nun erneut miteinander in Ver-

146 Ebd., 7 147 Ebd., 97 148 Ebd., 102; vgl. dazu auch David Bohm, Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus, München 1987

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bindung gebracht. Johannes F. und Martina Hartkemayer bezeichneten die Fähigkeit dazu als dialogische Intelligenz.149 Wie also funktioniert Denken im Dialog?150 Der Unterschied zum herkömmlichen Denken wird vor allem dadurch markiert, nicht Gedankenmuster zu reproduzieren, d.h. an Erinnerungen anzuknüpfen. Im Dialog denken heißt, sich in den Bereich des bisher Ungedachten zu begeben. Zu einer frischen Sichtweise, zu neuen Einsichten zu gelangen, hängt jedoch wesentlich von unserer Intention und von der Haltung der Beteiligten ab. Für Hans-Georg Gadamer ist es »die antwortende Anwesenheit des anderen, mit dem man das Gespräch sucht, um das Gespräch mit sich selbst fortzusetzen, das man Denken nennt«.151 Der Bezug auf die/den/das Andere/n, die Verbindung, nicht die Trennung entfalten eine wesentliche soziale und politische Dimension. Die Bedeutung des Du für das Ich anzuerkennen, bedeutet Entwicklung. Sie markiert den Wechsel von einer Ich-EsBeziehung zu einer Ich-Du-Beziehung, wie Martin Buber ausführte. Für ihn war alles wirkliche Leben Begegnung, Beziehung in der Gegenwart. Und in Hinsicht auf unsere Suchbewegung nach Formen des Und formulierte er: »Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du.«152 Jacob L. Moreno hatte dem Begriff der Begegnung einige Jahre zuvor bereits einen prominenten Stellenwert beigemessen. Er hatte betont, dass die Begrifflichkeit auch die Silbe »gegen« beinhalte und damit nicht allein das Liebevolle angesprochen sei, sondern auch das Feindselige mitschwinge.153 Beide Pole im Blick habend sei wesentlich für all das Menschliche, das nichts als unpassend ausschließt. Das Denken in Begegnungen befürwortet ein gegenseitiges Erleben und ein intensives Kommunikationsniveau – allerdings ohne Hierarchieunterschiede, auf der gleichen Ebene, mit gleichen Rechten. Damit steht die Qualität des Anteilnehmens, nicht ein Beherrschen, im Mittelpunkt. Mit anderen Worten, die Qualität, die Ordnung ohne hierarchische Wertzuschreibungen herzustellen.

149 Johannes F. Hartkemayer/Martina Hartkemayer, Die Kunst des Dialogs. Kreative Kommunikation entdecken, Stuttgart 2005, 16 150 Vgl. zu den Formen des Denkens auch: Jürgen Mittelstraß, Denken, in: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Stuttgart 2005, 154– 156; Donald Davidson, Bedingungen für Gedanken, in: ders., Probleme der Rationalität, Frankfurt a. M 2006, 233–256; Martin Heidegger, Was heißt denken? Stuttgart 1992 (orig. 1952); John Dewey, How we think, Lexington 1982 (orig. 1910) 151 Hartkemayer/Hartkemayer 2005, 28 152 Vgl. Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1923 153 Vgl. dazu auch, Jacob Levy Moreno, Einladung zu einer Begegnung, Wien 1914, sowie ders., The Principle of Encounter, The Sociometry Reader, Glencoe 1960, 15 f.

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Der Dialog macht es sich zur Aufgabe, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Dies ist der Weg, auf dem eines der wesentlichen Prinzipien für die Dialogpraxis, der Respekt, beruht. Respekt für die anderen, Respekt für sich selbst und Respekt vor den Unterschieden. Dass wir einen solchen Respekt erst wieder zu entwickeln haben, geht ebenfalls auf die Geschichte unseres abendländischen Denkens zurück, auf das Descartsche Denken der Welt als aus einzelnen Teilen bestehende Maschine sowie auf Newtons Erkenntnissen, die Welt bestehe aus einzelnen messbaren Teilchen. Dieses Denken spiegelte sich in den Sozialstrukturen wider. Im Dialog treten nicht primär die Teile, sondern das, was zwischen den Teilen ist, in den Fokus. In Bezug auf den Dialog heißt das, ernst zu nehmen, dass das, was um uns ist, auch in uns ist.154 Dieses Kohärenzprinzip, die Sensibilität für das In-Beziehung-Stehen von Teilen, wird mittlerweile auch in der Entwicklungspolitik als Basis für die Nachhaltigkeit von Entwicklungen beschrieben. Das Prinzip des Respekts zur Anwendung zu bringen, ist in jedem Fall als ein weiterer Aspekt einer Form des Und. Unser Sprachgebrauch unterstützt vielfach ein Festschreiben, nicht ein Denken in Veränderung. Feststellungen werden jedoch sehr schnell zu Bewertungen und diese als objektiv angesehen sowie zur Wirklichkeit stilisiert. Meinungen also auszusetzen, davon ausgehend, dass ein Richtig oder Falsch gar nicht so ohne weiters festzustellen ist, ist ein weiteres Prinzip des Dialogs, in dem das Und wirkt. Suspendieren, wie es im Dialog genannt wird, beschreibt einen Perspektivenwechsel, der dazu dient, vermeintliche Sicherheiten und Gewissheiten aufzuheben. Damit werden die Grenzen unseres Denkens in Schwebe gehalten. Donald Schön prägte dafür den Begriff »Reflexion in Aktion«. Das bedeutet, die eigenen Denkprozesse zu beobachten.155 Dabei handelt es sich um ein Bewusstmachen dessen, was gerade ist, ein Bewusstmachen des Gedankenstroms und der ihn auslösenden Impulse. Es wird also anders als beim mechanischen Weltbild Descartes’ und Newtons auf Bewusstseinsstrukturen rekurriert, aus denen heraus die Welt erfahren wird. Hier wird eine Sensibilisierung für die Impulse unseres Denkens angeregt, für die Bedeutung, ihnen nachzuspüren und sie zu erkunden. In einer Welt, in der das Ansehen dadurch gefestigt wird, Antworten geben zu können, d.h. gesichertes Wissen zum Ausdruck zu bringen, stellt das Innehalten, das Suspendieren vorschneller Antworten eine Herausforderung auch im Sinne eines Commitments dar, wie wir uns in dieser Welt bewegen wollen. Denn diese

154 Vgl. Isaacs 2002, 117 155 Donald Schön, The Reflective Practioner. How Professionals think in Action, London 1983

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Herausforderung bietet die Chance, einen anderen Umgang mit sich, den anderen und der Welt zu kultivieren. Ein weiteres Prinzip des Dialogs ist das Zuhören. Hier wird ebenfalls eine Reihe von Aspekten des Denkens im Und sichtbar. Was passiert, wenn der Dominanz des Sprechens sein Gegenüber, das Hören, ins Zentrum gestellt wird? Erstens schwingt eine Neubewertung der Sinne mit, wie sie bereits kurz angeklungen ist, zweitens werden sie zueinander in Beziehung gesetzt. Damit wird ebenso die Aktiv-Passiv-Dichotomie samt deren Implikation von Tun und NichtTun neu mitverhandelt. Denn Zuhören im dialogischen Sinn heißt ja nicht nur Worte aufzunehmen, sondern an unseren Vorurteilen, Klassifikationen und Projektionen vorbei wahrzunehmen, was da gesagt wird. In dieser Art und Weise fordert Zuhören durch all das, was wir durch den Hörsinn wahrnehmen können, wenn wir uns darauf einlassen, Partizipation heraus. Wie beim Hören von Musik, bei dem die Noten nur einen Bruchteil des Gesamteindrucks ausmachen. Der Hörsinn gilt übrigens als siebenmal schneller als der Sehsinn und zudem als wesentlich genauer als dieser.156 Oder denken wir an Paul Watzlawicks Beziehungsohr,157 das neben dem Inhalt, den wir hören, eine so wesentliche Rolle spielt, weil es die Ebene bezeichnet, über die wir verstehen, wie wir das Gesagte interpretieren sollen. Friedemann Schultz von Thun sprach seinerseits vom VierSeiten-Modell einer Nachricht, in der die Ebenen Sachinhalt, Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell zum Einsatz gelangen.158 Dadurch beginnen wir die Wirkmächtigkeit der Komplexität, in der sich Kommunikation abspielt, zu erahnen. Das Prinzip des Dialogs kann dementsprechend in eine selbstreflexive Haltung, ein sensibles Ohr für die eigenen Denkmuster und ihre Deutungshoheit sowie die Offenheit für neue Erfahrungen übersetzt werden. Das Artikulieren, das letzte der Prinzipien des Dialogs, wird als ein der Improvisation analoger Prozess beschrieben,159 eine Vorgehensweise, in der aus

156 Vgl. Horst Ahlers/Renate Reisch/Lei Wang, Elektronisch Riechen, Schmecken etc. Elektronische Sinnessensorik für Lebensmittel, Medizin, Umwelt und Technik, Hamburg 2010 157 Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern-Stuttgart-Toronto 1969 158 Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 1981 159 Reinhard Gagel, Improvisation als soziale Kunst. Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität, Mainz 2010, oder auch Karl-Heinz Essl/Jack Hauser, Improvisation über »Improvisation«, in: Domi-

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dem Moment heraus alle zur Verfügung stehenden Tools in einem Statement zueinander in Beziehung treten. In der Architektur des Unsichtbaren findet die diesen Prozessen eigene Qualität des Räumlichen und Zeitlichen seinen Ausdruck.160 Hier geht es, ganz knapp formuliert, um ein Und als gleichzeitige Präsenz aller Dimensionen.

Topologie, Tetralemma, VerUneindeutigung Die Suche nach neuen Formen des Denkens hat in vielen Bereichen zu anregenden Versuchen geführt, Möglichkeitsräume der Sprache, des Erlebens und des Seins zu erkunden. Die neuen Räume dokumentieren, dass und wie Veränderungen in unseren Denkgebäuden angestoßen werden können. Sie vermitteln einen Eindruck davon, welchen Strategien angewendet werden können, um Dynamik in festgefahrene Strukturen zu bringen. Oder, um einen Ausdruck aus der therapeutischen Arbeit zu bemühen, wie das Denken in Fluss kommen kann. Drei weitere exemplarische Zugänge sollen dazu Anregungen vermitteln. Kulturwissenschaftlich relevant wurde der Begriff Topologie, der ursprünglich im mathematischen Bereich beheimatet war, durch ein Neu-Denken des Raums als etwas kulturell und medial Geschaffenes. Raum nicht als physikalische Größe zu verstehen, sondern als durch Kultur konstituiert, bringt einmal mehr das herkömmliche dichotome Denken in Bewegung.161 Wie Raum begriffen wird, spricht ja jeweils eine eigene Sprache über die mentalen Lagen von Kulturen. So hatte die Annales-Schule, die für ein einflussreiches historisches Umdenken um Marc Bloch und Lucien Febvre, für Offenheit und Methodenvielfalt steht, bereits mit den »Substanzvorstellungen des Raums«, wie er in der Aufklärung entstanden und dann auch als Basis für die enge Verbindung von Raumbegriff und Raumannexion verantwortlich war, gebrochen. Das Paradigma einer dreidimensionalen Entität wurde zugunsten von Vorstellungen infrage gestellt, die in Richtung relational zueinander bestimmbarer Wechselbeziehungen

nik Schweiger/Michael Staudinger/Nikolaus Urbanek (Hg.), Musik-Wissenschaft an ihren Grenzen, Frankfurt a. M. 2004, 507–516 160 Isaacs 2002, 197 ff. 161 Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007, sowie Edward Soja, Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Oxford 1996; Jörg Dünne (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M. 2006

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gingen. Beziehungen von Kulturen und Räumen fokussierten auf die Frage, wie Raumkonzepte und ihre Techniken zur Konstituierung von Kulturen beitragen.162 Spezifische Raumkonzepte einer Zeit spiegeln sich als Bewusstsein im Denken und strukturieren das Denken mit. Dies zeigte z.B. die Studie von Wolfgang Schäffner zum Denken von René Descartes.163 Er arbeitete die Analogien bzw. strukturellen Homologien zwischen der niederländischen Heeresreform, die Descartes am eigenen Leib erfahren hatte, und seiner Subjektphilosophie in Bezug auf das beiden zugrunde liegende dualistische Konzept der Zweiweltenlehre, heraus. Die Welt der Sinne und der Erfahrung steht in diesem Konzept der intelligiblen Welt genau so gegenüber wie die raum-zeitliche Welt der Welt der Ideen oder die res extensa der res cogitans.164 Der aus einer Tagung am Museum moderner Kunst in Wien hervorgegangene Band »Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie«165 stellt wiederum topologische Denkfiguren in künstlerischen und wissenschaftlichen Kontexten vor, und zwar in der Auseinandersetzung mit Inhalten ebenso wie auf der des Mediums. Topologie als mögliche Denkkonfiguration experimentiert – in aller Heterogenität – mit dem Gestalten von Beziehungsebenen, setzt neue, verbindet, erforscht Zwischenräume und Sinnzuschreibungen.166 Was derartige Ansätze in Disziplinen und Feldern wie Mathematik, Psychoanalyse, Psychologie, Linguistik, Philosophie etc. und Persönlichkeiten wie Leonhard Euler, Kurt Lewin, Jean Piaget, Jacques Lacan, Lygia Clark, Konrad Bayer oder Maurice Merleau-Ponty, Gilles Deleuze

162 Vgl. Sigrid Weigel, Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2/2, 2002, 151–165 163 Wolfgang Schäffner, Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Wagner/Bettina WahrigSchmidt (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, 63–90. Vgl. dazu auch Stephan Günzel, Raum – Topographie – Topologie, in: ders. (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007, 13–29, 15 164 Jürgen Mittelstraß, Zweiweltentheorie, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart 1996, Sp. 870 165 Wolfram Pichler/Ralph Ubl (Hg.), Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie, Wien 2009 166 Vgl. u.a. Peter Bexte, Zwischen-Räume. Kybernetik und Strukturalismus, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielfeld 2007, 219–233 sowie Wolfram Pichler/Ralph Ubl (Hg.), Verkehrte Symmetrien. Zur topologischen Imagination in Kunst und Theorie, Wien 2007

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und Michel Serres verbindet, fasst Wolfram Pichler schließlich in Paradigmen wie Relationalität, Ursprung, Kontinuität/Diskontinuität und Orientierung zusammen.167 Hier treten die Relata zugunsten der Relationen in den Hintergrund und auch die Frage des Ursprungs wird neu gestellt, sei es in Bezug auf den Kosmos, die Ontogenese oder den Individuationsprozess. Als weiteres gemeinsames Merkmal ist die Flexibilität anzusehen, die als Wissen um Kontinuität und Diskontinuität zugleich begriffen werden kann und ein ebensolches Denken befördert.168 Und letztlich wird die Gewissheit der Orientierung durch die Einbettung in unterschiedliche Dimensionen des Denkens infrage gestellt. Stephan Günzel charakterisiert Topologie durch die Beschreibung der Entsprechungen im Verschiedenen.169 Mit der Frage danach, was in der Veränderung gleich bleibt, änderts sich auch die Wahrnehmung. Karl Schlögel in Bezug auf Möglichkeiten von Topologie in der Geschichtswissenschaft: »…der ›Raum‹ der Geschichtsschreibung steckt zwischen den Zeilen, in der Ausbildung des Blicks, in der Entfaltung der Register der Wahrnehmung…«170 Julia Lossau betont dann noch eine weitere Dimension, die sie besonders in poststrukturalistischen, differenz- und machttheoretischen Kontexten ortet, »›Raum‹ als Chiffre für die Anerkennung unterschiedlicher Stellen, Orte oder Standpunkte, von denen aus Bedeutung in kontextspezifischer Art und Weise produziert wird.«171 Bedeutungsveränderungen in Verbindung mit der Ausweitung des DenkRahmens spielen auch in der Tetralemma-Arbeit nach Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd eine wesentliche Rolle. Das Hinterfragen dichotom angelegter Strukturen, wie sie in Begriffspaaren wie Problem versus Lösung, schwer versus leicht oder richtig versus falsch zutage treten, leitet, so die beiden, ein Querdenken ein. Beziehungsanordnungen und ihre Konnotationen bilden Strukturen, die in der Folge als Eigenschaften lebendig werden. Tetralemma-Arbeit beruht auf dem Prinzip, das Aussetzen von Wertungen, das Umwerten und das NeuPositionieren anzustoßen.

167 Wolfram Pichler, Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst, in: ders./Ubl 2009, 13–66, 23 168 Vgl. Ingrisch 2004, wo das Denken in Kontinuitäten und Diskontinuitäten und deren Verwobenheit ein wesentliches Thema war. 169 Vgl. Günzel 2007, 21 sowie Bradford H. Arnold, Elementare Topologie. Anschauliche Probleme und grundlegende Begriffe, Göttingen 1964 170 Karl Schlögel, Räume und Geschichte, in: Günzel 2007, 33–51, 34 171 Julia Lossau, ›Mind the gap‹. Bemerkungen zur gegenwärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht, in: Günzel 2007, 53–68

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Dem Tertralemma, einer aus der indischen Logik stammenden Denkfigur, liegt eine andere Herangehensweise zugrunde als der aristotelischen Logik mit ihrem Prinzip der Zweiwertigkeit und dem ausgeschlossenen Dritten. Es beruht auf vier Sätzen, nach denen eine Aussage 1) nur wahr, 2) nur falsch, 3) sowohl wahr als auch falsch sowie 4) weder wahr noch falsch sein kann. Ab der dritten Position, wo über die Dichotomie des Dilemmas hinaus weitere Positionen im Tetralemma denkbar werden, finden wir uns demnach im Denken des Und wieder. Diese Methode eignet sich deshalb besonders für Fragen, die wir uns in der Regel im Entweder-Oder-Modus stellen. Soll ich etwas tun oder nicht tun? Wähle ich das Eine oder das Andere? Bewege ich mich hierhin oder dorthin? In dieser Art des Denken wird das Eine versus das Andere zumeist mit dem Richtigen versus dem Falschen konnotiert. Im Tetralemma jedoch wird eine gedankliche Vereinigung der beiden Positionen gewagt. Bezeichnend ist nun, dass die Position des Sowohl-als-auch bzw. die Position des Und nicht als in einer einzig denkbaren Form aufgefasst wird, sondern ihrerseits in eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten differenzierbar ist. Wir bekommen also eine Reihe verschiedener Qualitäten im Modus des Und vorgestellt. Es ist, als öffnete das Und bzw. das Sowohl-als-auch etwas wie sein eigenes Universum. Begonnen wird diese sich auf Punkt 3) – etwas sei sowohl wahr als auch falsch – beziehende Reihe, die ich in der Folge als Formen des Und beschreiben möchte, mit einer bekannten Konstellation, – dem Kompromiss. Hier wird die Seite des jeweils Anderen in eine Lösung miteinbezogen, d.h. ein Weg angestrebt, beiden Seiten – bis zu einem gewissen Grad – Raum zu geben. Gleichzeitig erfordert er jedoch, um der Einigung willen von der eigenen Position etwas abzurücken. – Die Bereichsaufteilung, eine weitere Form des Sowohl-als-auch-Falsch, erscheint als pragmatische Lösung, beide Pole in ihrem je Eigenen bestehen zu lassen. In Interaktion treten sie dabei nicht. Hingegen wird angestrebt, Territorien abzustecken, die eine Koexistenz erlauben. – Rhythmus kann als weitere Variante eines Und betrachtet werden, in der polar angelegte Konfigurationen zyklisch bzw. abwechselnd zur Aufführung gelangen. – Die Iteration, vom lateinischen Wort für Wiederholung, geht einen anderen Weg, im Sowohl-als-auch zu agieren. Hier ist der zeitliche Aspekt wesentlich, denn jede Wiederholung erlaubt eine Variation der Bedeutung, die im Rahmen des jeweiligen Kontextes ihre eigene Richtigkeit entfaltet.172

172 Vgl. Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., 1988, 291–314

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– Der Scheingegensatz, eine weitere Variante, spielt mit den als fest angesehenen Positionen. Das Beispiel der »Richtigkeit eines Fehlers«, der zwar auf den ersten Blick einen Widerspruch und Ausschluss aufzeigt, darüber hinaus aber auch ausdrückt, dass Fehler uns zu dem für uns Richtigen führen können, macht die Erweiterung des traditionellen Bedeutungshorizonts gut nachvollziehbar. Wir wissen heute ja, dass es Sinn macht, Krisen auch als Chancen wahrzunehmen, durch die neue Handlungsoptionen entstehen. Diese Form des Und weist erneut darauf hin, wie intensiv unsere Vorstellungen an Bewertungen gebunden sind und was Um- und Neubewertungen erwirken können. – Dies ist auch in einer anderen Form des Sowohl-als-auch, der Thesenverschiebung, gut nachzuvollziehen. In diesem Modell wird einem der Pole ein neuer Wert beigemessen. Ein Beispiel dafür wäre, dass Tradition nicht nur im Sinne des Bewahrens verstanden wird, sondern nur unter Einbezug von Innovation aufrechterhalten werden kann. Im Sinne Lothar Zechlins, der den Zwiespalt zwischen Bewahren und Erneuern für das Selbstbild der Universitäten letztendlich als Paradoxon charakterisierte, da es gelte, die Identität zu bewahren, indem Veränderung zugelassen werde.173 – Dies schließt bereits an die Denkfigur des Paradoxons, eines klassischerweise unauflösbaren Widerspruchs an. Schauen wir sie uns jedoch in Hinblick auf Bewertungspraxen an, so wird das Wesen des Paradoxen vor allem als Reaktion eines bestimmten Konzepts und den darin enthaltenen Wertungen verstehbar. Verändere ich die Wertungen, gerät das scheinbar Unauflösbare in Bewegung. Scheinbare Widersprüche können allerdings sehr tiefe Einsichten vermitteln. Das Oxymoron »Weniger ist mehr!« legt dies dar. Diese rhetorische Figur operiert gezielt mit gegensätzlichen Begriffen, um eine pointierte Darstellung zu erreichen. Die Auflösung der gegensätzlichen Begriffe kommt der Qualität von Gedankenexperimenten gleich, die gezielt einen Erkenntnisgewinn ansteuern.174 – Als übersummative Verbindung zweier Pole kennen wir die Win-winSituation. Sie erzeugt nicht Gewinnende und Verlierende, da alle aus einer solchen Lage profitieren. Eine neue Qualität, ein neues Muster entsteht. Bekannt als das im Harvard Negotiation Project entwickelte Harvard-Konzept bildet es die

173 Zechlin Lothar, Modernisierung der Universität zwischen Tradition und Innovation. Inaugurationsrede an der Karl-Franzens-Universität Graz, 3. 2. 2000, http://www. uniessen.de/pressestelle/dokumente/Tradition_und_Innovation.pdf. 174 Vgl. Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, 3. Aufl., Leipzig 1917

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Basis für mediatorische Interventionen in allen gesellschaftlichen Bereichen.175 Das aus der Verbindung hervorgehende Und, das mehr ist als seine Teile, diese Doppelsieg-Konstellation, setzt allerdings wieder den Respekt beider Pole voreinander voraus, seien es nun Personen, Begriffe oder Lösungsmöglichkeiten. – Das Sowohl-als-auch kann auch durch eine Prämissenverschiebung eine besondere Ausprägung erhalten. Die Veränderung von Haltungen bietet dafür anschauliche Beispiele. Auch die Umorientierung in Sachen Präsuppositionen, also Vorabannahmen bzw. impliziten Voraussetzungen, mit denen wir an eine Sache herangehen, steckt den Rahmen von Referenzsystemen neu ab und erlaubt unerwartete Sichtweisen. – Absorption, eine weitere Ausprägung von Punkt 3 des Tetralemma, beschreibt die Anerkennung eines Aspektes von Pol A durch Pol B. Indem die Pole differenziert betrachtet werden, können teilweise, wenn auch nicht als Ganzes, Umbewertungen stattfinden. Doch auch dies ist ein Schritt, die Starre dichotomer Konstruktionen zu lockern. – Ähnliches findet sich auch in der Kraft, das Nicht-Gewählte des EntwederOder-Modus in das Gewählte einfließen zu lassen. Die Absicht, eine Form zu finden, in der beides enthalten ist, ist auf der energetischen Ebene insofern befreiend, da sie das Hadern und das Festhalten-Wollen dessen, was nicht festzuhalten ist, zurückweist und einer Unschlüssigkeit als Dauerzustand entgegenarbeitet. Dieses Bild, das auf Martin Buber zurückgeht, ermutigt zum Abschied, um diejenigen Kräfte freizusetzen, die sonst an den anderen Pol gebunden blieben.176 – Mehrdeutigkeit, ein weiterer Modus des Und, geht von einem Offenlassen von Festlegung und Einschränkungen unter der Prämisse aus, dass das Zulassen von Unschärfen uns nicht in die Beliebigkeit entlässt, sondern neue Dimensionen eröffnet. Wir wissen heute, wie divers Wirklichkeit aus unterschiedlichen Positionen erscheinen kann.177 Dementsprechend reizt die systematische Ambiguität

175 Roger Fisher/William Ury/Bruce Patton, Das Harvard-Konzept. Der Klassiker der Verhandlungstechnik, Frankfurt a. M. u.a. 2009 (orig. 1981) 176 Buber 1997, 64 177 Der Film Rashomon (Regie: Akira Kurosawa, 1950) wird hier gerne genannt. In der Familientherapie werden unterschiedliche Blickwinkel von Familienmitgliedern als Ausdruck von Mehrdeutigkeit gefasst. U.a. Jan Blackwedel, Systemische Therapie in Aktion. Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren, 3. Aufl., Göttingen 2011

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den Bedeutungsraum durch das Mittel der Mehrdeutigkeit ausgiebig aus.178 Im terminologischen Inventar der Kulturwissenschaften stehen die Begriffe Amphibolie, Ambiguität und Ambivalenz als Lemmata, die – eigener Uneindeutigkeit zum Trotz179 – in diesem Bereich bedient werden können. Sie nehmen es auf sich, Risse sichtbar zu machen und Disharmonien zu thematisieren. Ein Kunstwerk als offen zu bezeichnen, wie Umberto Eco es vorschlug,180 indem er Offenheit als Medium der Bedeutungserzeugung beschrieb, ist nur eine von vielen Möglichkeiten, diesen Raum kenntlich zu machen. – Als Methode der Unschärfe bezeichnen Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd das Ineinanderfließen der Polgrenzen. Wir können uns das als Überlappung vorstellen, in dessen Feld beiden Polen der Aufenthalt möglich wird. – Nicht-Polarität im Sinne Martin Bubers ist ein weiterer Begriff in der Vorstellungswelt des Sowohl-als-auch. Jeder Pol kann als ein Wirbel im dominanten anderen Pol aufgefasst werden. – Und schließlich betont auch Komplementäres, einander Ergänzendes, nicht das Trennende, sondern rückt das Verbindende in den Vordergrund. Den vielfältigen Positionen des Sowohl-als-auch als der dritten Stufe im Tetralemma folgt die vierte Position – das Weder-Noch oder Keines-von-Beiden. Obwohl es auf den ersten Blick so aussehen könnte, als wäre jegliche Suche nach dem Und nun hinfällig, erscheint mir diese Position insofern im Denkraum dieses Modus, da sie in ihrer Art die Trennung der Pole aufhebt und das Dilemma infrage stellend über den ursprünglichen Kontext hinausweist. So werden auf der Stufe des Keines-von-Beiden starr und unveränderlich erscheinende Positionen ebenfalls einem Verflüssigungsprozess unterzogen. Nach diesen vier Positionen – das Eine, das Andere, das Sowohl-als-auch sowie das Weder-Noch wird bezeichnenderweise noch eine weitere Möglichkeit sichtbar – All-das-nicht-und-selbst-das-nicht! Hier wird deutlich, dass die vier Positionen keinen umfassenden Standpunkt bieten können. Und auch in dieser nächsten Einsicht ist keine Endgültigkeit zu erwarten. Vielmehr, so Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd, handle es sich im buddhistischen Sinne um einen Nicht-Standpunkt, eine Nicht-Position. Es ist ein Niveau, auf dem eine andere Ebene erreicht wird. »Gerade weil wir uns erinnern, dass alle Standpunkte un-

178 Vgl. u.a. Matthias Bauer u.a., Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158 (2010), 7–75 179 Frauke Berndt/Stephan Kammer, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, in: dies. (Hg.), Amphibolie, Ambiguität und Ambivalenz, Würzburg 2009, 7–30 180 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973 (orig. 1962)

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vollständig sind«, so der Tenor, »können wir wieder Stellung beziehen und uns kritisierbar machen.«181 Dieses Moment erlaubt einen kreativen Sprung. Eine andere Ebene wird erreicht, etwas Neues ist möglich. In diesem Neuen geht die Entwicklung auf einer anderen Ebene weiter. Das Bild der Spirale ist für eine Entwicklung im Ebenenwechsel immer wieder verwendet worden und mag auch hier hilfreich erscheinen. Vielleicht ist eine solche Position bis zu einem gewissen Grad dem Gender Gap vergleichbar, denn auch er weist aus dem bisherigen Denksystem hinaus in einen bislang noch unerforschten Möglichkeitsraum. Für die Gender Studies sowie die feministische Theorie sind die Bipolaritäten, die für die bürgerliche Gesellschaft, für die Geschlechterverhältnisse und unser Denken in diesen Kategorien bis heute so zentral sind, wesentliche strukturierende Aspekte, die es zu dekonstruieren und immer wieder zu umkreisen gilt. Sie offenzulegen, ihre Entstehung zu kontextualisieren und zu dokumentieren sowie die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ihrer Auflösung auf den verschiedensten Ebenen – seien es soziale, epistemologische oder politische – besprechbar zu machen, ist ein wichtiges Anliegen, wenn es darum geht, die Gewordenheit und die Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen in den Fokus zu nehmen. Was bedeutet der bipolare Modus für die sich daraus entwickelnden Kategorien des Denkens und welche Konsequenzen hätte es, anders mit ihnen umzugehen? Wohin würde uns das führen? Da Geschlecht und Sexualität, wie Antke Engel182 ausführt, wichtige Kategorien gesellschaftlicher Normierungsprozesse und Hierarchisierungen darstellen sowie als Effekte dieser Prozesse lesbar werden, liegt in dieser Gewichtung auch der Kernpunkt der das ganze Kategoriensystem umfassenden Kritik verborgen. Wenn Geschlechterordnungen Folien für gesellschaftliche Strukturierungen bilden, besteht im Weiter- und Darüber-hinaus-Denken von Geschlecht ein wesentliches Veränderungspotenzial. In der Queer Theory wird, und das bildet die Basis all ihrer Ansätze und Ausformungen, das Augenmerk auf eine Destabilisierung der heterosexuellen Ordnung der Gesellschaft gelegt, um dem Binären das Privileg der Formgebung zu entziehen. Auflösung und Vervielfältigung dienten diesem Vorhaben als Strategien. Dies stellte sich jedoch insofern als problematisch dar, da mit der Auflösung auch die analytisch-herrschaftskritische Funktion versickerte. Auch hier empfahl es sich, im Modus des Und zu bleiben: die Bina-

181 Matthias Varga von Kibéd/Insa Sparrer, Ganz im Gegenteil, Tetralemma-Arbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen, 6. Aufl., Heidelberg 2009, 91 182 Engel 2002, 9

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rität zwar einerseits zu hinterfragen, in ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Relevanz andererseits jedoch zu akzeptieren. Die Strategie der Vervielfältigung der Geschlechter in der Theorieproduktion litt ihrerseits wiederum an der strukturellen Dynamik, durch neu gesetzte Hierarchisierungen immer wieder ungleichwertige Ordnungen mit ihren spezifischen Regulativen von Ein- und Ausschlüssen herzustellen. In ihrer Kritik verweist Antke Engel auf andere, diesen Problematiken entgegenwirkende Strategien wie die der VerUneindeutigung und der Destabilisierung, in denen die theoretische und die politische Ebene verbunden sind. Darin werden Existenzweisen in Relation zum normativen System gesehen, das Überschreiten sowie die Abwendung davon nimmt jedoch genauso einen Platz ein. Parallel dazu entwickelten sich Existenzen im Trans, um auf einer anderen Ebene, in einem Dazwischen, Diskurse über den Ausstieg aus der Bipolarität zu entwickeln. All diese sind als Suchbewegungen im Bereich der Verweigerung, den Trans-Existenzen eine »sozio-kulturelle Intelligibilität jenseits des binären Rasters«183 zuzugestehen, anzusiedeln. Sie sind als solche zu verstehen, die neue, darüber hinausweisende Lebensweisen antizipieren. In diesen Prozessen steht die Herstellbarkeit des Und im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, diskursiver Produktion und sozialer Lebbarkeit, Referenz und Konstruktion, Bedeutung und Wirklichkeit zur Disposition. Die VerUneindeutigung kann dabei eine wertvolle Ressource darstellen. Sie kann als queer/feministische Strategie fungieren und ist ein Tool, sich binären, bipolaren Eindeutigkeiten zu entziehen. Eine solche Vorgehensweise zielt nicht allein auf neue Figurationen, sondern auch auf die Mechanismen, durch die sie aus dem Bereich des Nicht-Intelligiblen in den des Intelligiblen gelangen. Wieder wird in dieser Argumentation von getrennten Räumen ausgegangen – denjenigen des Verstandes, also die durch den Intellekt erfassbare Welt mit allen ihren Dimensionen, und denjenigen der sinnlichen Anschauungen. Sie werden allerdings insofern als in Wechselbeziehung stehend verstanden, als das Nicht-Intelligible, wie Judith Butler darlegte, immer den Raum des gesellschaftlichen Intelligiblen destabilisiert.184 Zudem interagiert auch der Bereich des Realisierten permanent mit dem des Nicht-Realisierten.185

183 Ebd., 15 184 Vgl. Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, 230 185 Vgl. in diesem Kontext auch: Harald Straube, Handlungsfähigkeit, Materialität und Politik. Die politischen Theorien von Judith Butler und Donna Haraway, in: Therese Frey Steffen/Caroline Rosenthal/Anke Väth (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorie und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, 123–138

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Durch Bewegungen in diesen Wechselbeziehungen erfahren Herrschaftsverhältnisse Veränderungen. Die feministischen Debatten sind dementsprechend auch in ihrer Entwicklung zu Formen des Und sowie dem Zulassen von Komplexität beschreibbar. Von einer bipolaren Position ausgehend, »ob für die Gleichheit oder die Differenz der Geschlechter gekämpft werden soll« folgten die Überlegungen, »wie für die Gleichheit und die Differenz der Geschlechter zu kämpfen wäre«.186 Differenz wurde darin zu einem wesentlichen Begriff, der das Denken in Oppositionen öffnete. Oppositionen werden dann gewissermaßen zu kontingenten, verschiebbaren Wirklichkeitsinterpretationen verflüssigt, die prozesshaften Charakter aufweisen. VerUneindeutigung kann in experimentellen Praktiken erfahrbar werden. Voraussetzung ist allerdings, den Raum des Wohlvertrauten und des Selbstverständlichen zu verlassen. Grenzen sind zu überschreiten und Räume der Überlappung bieten mitunter nur eine temporäre Verortung zwischen den Kategorien. VerUneindeutigung statuiert die Freiheit, Mehrdeutigkeit bzw. Vieldeutigkeit zu leben und beschreibt eine Alternative zur hegemonialen Konsensbildung, indem sie über die Konsens/Dissensdichotomie hinausgeht.187 Vieldeutigkeit wird durch das Infragestellen von Normen angeregt und durch Abgrenzungsstrategien gegenüber hegemonialen Normalitätsansprüchen realisiert.188 Dazu auch Susan Stryker: »Flesh is a medium, a means of an identity performance.«189 Cyborgs, Post-Genders, Gender-Bending und Gender-Swapping entsprechen Versuchen, der klassisch dichotomen Frauen/Männer-Welt etwas entgegenzusetzen, das über dieses System hinausgeht. Freilich ist auch, wie unterschiedlich moniert wurde, das neoliberale Tendenzen entsprechende machtintegrierende Moment dieser Selbsttechnologien nicht aus dem Blick zu lassen. Denn Befreiungsvisionen sind immer auch in Wechselwirkung zu ihrer politischen Brauchbarkeit zu betrachten.190 Das gilt im Grunde für alle in dieser Studie beschriebenen Tendenzen vom Entweder-Oder zum Und. Mit anderen Worten:

186 Engel 2002, 96/97 187 Ebd., 232 188 Vgl. z.B., Nina Schuster, Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender, Bielefeld 2010, sowie Yvonne Volkart, Fluide Subjekte, Anpassung und Widerspenstigkeit in der Medienkunst, Bielefeld 2006 189 Susan Stryker, Transsexuality. The postmodern body and/as technology, in: David Bell/Barbara M. Kennedy (Hg.), The Cybercultures Reader, London 2000, 588–597 190 Vgl. Jutta Weber, Performing Post/Trans/Techno/Queer. Pluralisierung als Selbstund Machttechnologie, in: Frey Steffen/Rosenthal/Väth 2004, 111-122

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Die Rolle neuer Technologien im Kontext der »Implosion traditioneller Dualismen«191 bleibt also ebenfalls jeweils als Mittel der Ko-Konstruktion von Gesellschaft mitzudenken und zu hinterfragen. Die Strategie der VerUneindeutigung ermöglicht durch kreatives Chaos neue Einsichten und provoziert neue Ordnungen, birgt jedoch durch den Verlust klarer Regeln und erkenntnistheoretischer Fundamente auch die Gefahr einer Beliebigkeit, eines Sich-Verlierens im Individuellen und Subjektiven. Die von Christine Haag beschriebene »Flucht ins Unbestimmte«, die »Flucht aus der Kategorie« thematisiert dementsprechend in einem ersten Schritt die Voraussetzungen, die es braucht, um wissenschaftliches Denken von allen anderen Formen des Denkens abzugrenzen und seinen Wert bestimmen zu können. Denn auch Unbestimmtheiten bewegen sich in historischen Kontexten und haben ihre sich voneinander unterscheidende Wirkungsgeschichte mit den ihr jeweils impliziten Erkenntnishorizonten. Als Medium eines »postmodernen Existenzgefühls«192 fungiert Unbestimmtheit gleichzeitig als zentraler Begriff eines modernen Weltverständnisses. Die postmoderne Position des Triumpostulats – Tod des Subjekts, der Geschichte und der Metaphysik – implizierte die Auflösung des Bestimmten und der Kategorien.193 Eine Verflüssigung konkreter Gestalten, ein »blurring«, »shifting« oder »blending« ist die Folge. Das Unbestimmte selbst jedoch entzieht sich der Beschreibbarkeit und Zuordnung. Bislang ist es in Intermundien194 greifbar geworden, die in diesem Kontext als Raum des Hybriden zu denken versucht wurden. Um dieses Zwischen, den Zwischenraum eines Kategorien- und Grenzen-Denkens zu beschreiben, werden für das Unbestimmte eine Reihe von Begriffe bemüht – Nomadisieren, Flanieren, Mäandrieren sowie das Rhizomatische oder das Vernetzte stellen diskursive Kontexte und Denkbilder zur Verfügung. All diese Logiken sind auch im Bereich der künstlerischen Strategien von Bedeutung. Damit setzen Kunstwerke Impulse zur Neu-Organisation von Systemen und seien sie zunächst in uns selbst. Irritation wirkt destabilisierend und

191 Ebd., 114 192 Gerhard Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten, Frankfurt a. M. 1994, 8 193 Vgl. Haag 2003, 30. Vgl. auch Gerhard Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt a. M. 2000, sowie Andreas Hetzel (Hg.), Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm, Bielefeld 2009 194 Die verweist hier auf den von Epikur geprägten Begriff, der in der Folge mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen wurde.

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setzt Veränderung in Gang. Vortäuschung, Fälschung, Parodie, Travestie, Sabotage des Wertesystems, »Missbrauch« technischer Systeme etc. bis zur Ästhetik der Dysfunktionalität gelten als probate Mittel der Aufmerksamkeitsverschiebung.195 Logiken in Begriffen von Bestimmtem und Unbestimmtem bieten sich als weiteres Beispiel der Verschränkung von Wissens- und Geschlechterordnungen an, in denen wertzuschreibende geschlechterhierarchische Konnotationen sichtbar werden. Im Hylemorphismus, einem im 19. Jahrhundert gebildeten Begriff, dem die Philosophie Aristoteles zugrunde liegt, bestehen Substanzen aus zwei Prinzipien – der Materie und der Form. Das Materielle wurde dabei als das Weibliche, das Grenzgebende bzw. Formende als das Männliche betrachtet. Gleichzeitig wurden sie mit dem Unbestimmten und dem Bestimmten sowie mit dem Unvollkommenen und dem Vollkommenen gleichgesetzt.196 Dadurch entfaltete sich ein dualistischer Bedeutungsraum, in dem das Männliche als das Klare, Feste, Einheitliche, das Weibliche als das Inkommensurable, Vielfältige, Unbegrenzte in den Zuschreibungen von gut und schlecht konnotiert wurde. Mit diesen Konnotationen brechend öffnet sich in feministischen Theorien Unbestimmtheit zu einem Spielraum, der sich verbindlichen Definitionen entzieht und in einem weiteren Schritt sogar zur Voraussetzung von Erkenntnis wird.197 Susanne Völker und Stephan Trinkaus bezeichnen Unbestimmtheitszonen heute als »Räume sozialer Ent-Bindung« und als grundlegend wesentlich für gesellschaftliche De/Regulierungsprozesse.198 Gleichzeitig aber stellt sich jedoch die Frage, ob nicht gerade die Unbestimmtheit nun ihrerseits die Funktion einer neuen Metaebene übernimmt. Denn nun ist sie es, die nach der Demission der Kategorien erneut eine Einheit verspricht. Die Herausforderung bleibt also, weiterhin zu beobachten, in welchen Machtdiskursen – wenn auch als deren Gegenentwurf – sich der Begriff bewegt. Unbestimmtheit in einer auf Bestimmtheit ausgerichteten Welt ist nach wie vor damit konfrontiert, dass Bedeutungsbegründungen immer noch nach einem abgeschlossenen Feld, einer Eindeutigkeit verlangen. Trotzdem zeigt das Bei-

195 Vgl. Nina Zschocke, Der irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit, München 2006 196 Detaillierter: Haag 2003, 38 ff. 197 Ebd., 53 198 Stephan Trinkaus/Susanne Völker, Unbestimmtheitszonen. Ein soziologischkulturwissenschaftlicher Annäherungsversuch, in: Irene Dölling u.a. (Hg.), Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht. Transdisziplinäre Interventionen, Königstein i. Taunus 2007, 61–77

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spiel der Gender Studies, die ja weder ein abgeschlossenes Themengebiet noch ein abgeschlossenes Theoriesystem bieten bzw. bieten wollen und darüber hinaus sogar die eigene Position als eine ihrer Konstanten immer wieder hinterfragen,199 dass es möglich ist, den Ansprüchen einer totalen Anpassungsleistung zum Trotz einen Platz in der Forschungslandschaft zu finden und zu behaupten. Dass dieser changiert und aus je nach gesellschaftlichem Bewusstsein unterschiedlichen Perspektiven in seiner Bedeutung eingeschätzt wird, entspricht dieser Form der Positionierung. Denn zweifellos bieten die Gender Studies – nicht zuletzt deshalb – im für die Spätmoderne so notwendigen Bereich des Querdenkens fundamentale Beiträge mit in alle gesellschaftliche Felder reichenden Implikationen.

Artistic Research/Arts-based Research Wie sehr unser Denken durch die Frage nach dem Und Anregung findet, zeigt sich, um den Kreis hin zur Frage der Beziehung von Wissenschaft und Kunst zu schließen, nicht zuletzt auch explizit in dem großen Fragenkomplex von Artistic Research bis Arts-based Research sowie den neu aufkommenden Zugangsweisen von meaning producers/Bedeutungsproduzent_innen im Bereich Kunst und Wissenschaft.200 Diese Neukonzeptionen sind jeweils als Versuch zu lesen, über das Bipolare hinauszugehen. Der Begriff meaning producers umfasst Künstler_innen ebenso wie Wissenschafter_innen, Kritiker_innen, Vermittler_innen oder künstlerische Forschung als ästhetische Wissenschaft.201 In der Verschränkung diverser Diskursstränge – Anregung von Innovationsprozessen, Formierung der Wissensgesellschaft, Aspekte der Hochschulbildungsreform und Ausbildung neuer Denknormen – flottieren diverse Definitionen, mittels derer neue Gestaltungen des Verhältnisses von Wissenschaft und Kunst in Wissensproduktionen, Zuständigkeiten und Durchkreuzungen erprobt werden. Wissenschaft und Kunst sind in diesen Prozessen der Anforderung ausgesetzt, die Grundlagen des eigenen Denkens zu reformulieren. Während Erfah-

199 Vgl. Ernst 1999 sowie Haags Kritik an der Unbestimmtheit, Haag 2003, 62 ff. 200 Vgl. Beatrice von Bismarck, Work, Projects, and Art Education, in: Dieter Lesage/Kathrin Busch (Hg.), A Portrait of the Artist as a Researcher, Antwerpen 2007, 128–135 sowie http://summit.kein.org/node/233 201 Vgl. Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld 2011

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rungen des Poststrukturalismus – der Krise der Repräsentation mit der Prämisse, dass gelebte Erfahrung durch Texte und Diskurse geprägt und nicht unabhängig davon zu betrachten sei202 – sowie der Bruch mit dem Objektivitätsbegriff aufseiten der Sozial- und Kulturwissenschaften Neuorientierung forderten, regte aufseiten der Kunst das Obsolet-Werden der Vorstellungen vom Künstler-Genie ein Um- und Neudenken der künstlerischen Praxis an, auch was seine Rolle in der und seine Beziehung zur Gesellschaft betrifft.203 Der sich auf wissenschaftlicher Seite entfaltende Poststrukturalismus hatte die Vorstellung objektiver Wirklichkeit zugunsten textueller Repräsentation und multipler, auch inkommensurabler Wirklichkeiten und Wahrheiten verworfen. Forschen und Darstellen wurde als Kristallisation denkbar, ein Begriff, den Laurel Richardson als Bild verwendete,204 um in der Wirkung eines Prismas die unterschiedlichen Reflexionsebenen und Winkel sich immer wieder verändernder Gestalten verständlich zu machen, die in der Forschung erfahrbar werden. Da diese unterschiedlichen Wirklichkeiten sich auch durch unterschiedliche Textsorten eröffnen können, bedeutete, literarische Gattungen und andere künstlerische Artikulationsformen in dieses Spektrum miteinzubeziehen. Bei dieser Herangehensweise erscheint Forschung als Kraft, Wirklichkeit zu transformieren, wie Donna Haraway exemplifizierte.205 Aus der inneren Notwendigkeit, diesen Neukonzeptualisierungen fluider Kulturen und Identitäten auch vom Methodologischen sowie der Darstellung der Ergebnisse her gerecht werden zu können, d.h. die Suche nach unterschiedliche Wahrheiten integrierenden Konzepten zu unterstützen, liegt der Einbezug weiterer Wissensformen wie z.B. künstlerischer Praktiken nahe. Vor allem, weil zu der Ebene des Verstehens auch die Ebene der Veränderung gesellschaftlicher, sozialer Situationen explizit als Anspruch der Forschung miteinbezogen wird. Im Bereich der Kunst wurde im Abschied von der Vorstellung der genuin schöpferischen Kraft das Augenmerk immer mehr auf den Prozess gelenkt und damit auf das dem Prozess zugrunde liegende forschende Moment. Mit anderen Worten: Künstler_innen beziehen nunmehr vielfach Reflexionsebenen über ihre

202 Rainer Winter, Ein Plädoyer für kritische Perspektiven in der qualitativen Forschung, in: FQS 12/1 2009, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/ article/view/1583/3083 203 Vgl. Ingrisch 2012 204 Laurel Richardson, Writing. A method of inquiry, in: Norman K. Denzin/Yvonna S. Lincoln (Hg.), Collecting and interpreting qualitative materials, London 2003, 499– 541 205 U.a. Haraway 2007

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Praxis und die Kontextualität ihrer Praxen mit ein. So befragen Schriftsteller_innen z.B. Beziehungen von Imagination, Faktizität und dem Begriff der Wahrheit ebenso wie Transformationsprozesse ihres Tuns, in die sie als Subjekte eingebunden sind, die sie auslösen und steuern.206 An diesen Entwicklungen wird einmal mehr deutlich, wie wenig Feststehendes der Term Wissenschaft sowie der Begriff der Kunst bezeichnen. Somit ist auch das System der Differenzen, durch das Kunst oder Wissenschaft sich von anderem unterscheidet, als veränderlich zu beschreiben.207 Trotzdem wurde immer wieder bezweifelt, dass der Begriff des Forschens auch für die Kunst zu denken sei. Jedoch: »Vertraut man nämlich auf die epistemologischen Entwürfe z.B. von Cassirer, Goodman oder Picht, erschließt sich mit den anderen Darstellungsformen auch ein neuer Kosmos der Erkenntnis, der a priori nicht durch die wissenschaftliche Forschung erfahren werden kann.«208 Hier wird argumentiert, dass auf diese Weise Wissen hervorgebracht wird, das anders nicht fassbar ist. Mit dieser Einsicht wie mit den Zweifeln wird jedoch nichts Geringeres als die Metaposition und das Monopol der wissenschaftlichen Herangehensweise und Sprache in der Wissensproduktion verhandelt. Linien einer solchen den Wissensbegriff erweiternden Entwicklung sind, wenn auch in anderer Art und Weise, in den kulturwissenschaftlicher Turns – vom Linguistic Turn bis zum Pictorial Turn – nachlesbar.209 In diesen Neuorientierungen der Cultural Studies wurden nämlich Dimensionen von Kultur in den Fokus genommen, die über Texte und Sprache hinausgehen. Das Performative, das Translationale, das Spatiale etc. – sie alle nehmen weitere, außersprachliche Dimensionen in den Blick und diskutieren ihren Beitrag und ihre Wichtigkeit zur Erweiterung unserer Erkenntnisse. Kunst als Forschung findet in künstlerischen Herangehens- und Darstellungsformen ihren Ausdruck. Bilder, Filme, Theaterstücke, Installationen etc. werden dadurch deklarierter als bisher als Wissensformen greifbar. »To put research (back) into the arts, to (again) make visible and explicit the function of research in the arts and in the act of ›creating knowledge‹ (Seggern et al. 2008) is a

206 Vgl. u.a. Anna Banks/Stephen P. Banks (Hg.), Fiction & Social Research. By ice or fire, London 1998, oder konkreter z.B. Milan Kundera, Die Kunst des Romans, München 2007 (orig. 1986) 207 Dieter Mersch, Vom Werk zum Ereignis. Philosophie der Gegenwartskunst. Fünf Vorlesungen, 1. Reflexion und Performativität. Ausbruch der Kunst aus dem Ghetto der Avantgarde, http://nyitottegyetem.phil-inst.hu/kmfil/mersch/kunst_1.htm 208 Dombois 2006 209 Vgl. Bachmann-Medick 2006

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truly ambitious undertaking, because it takes up a vision and a project that originated in the Renaissance. After centuries of separation, it promises to close a loop,«210 so Helga Nowotny. Oder Florian Dombois: »Es muss vielmehr um eine genuine Formulierung des in den anderen Disziplinen gerade nicht Fassbaren gehen.«211 Künstlerische Forschung als historisches Phänomen der Moderne und der Spätmoderne ist, es war schon davon die Rede, nicht zuletzt als Antwort auf die Anforderungen der Akademisierung der Kunstakademien und -hochschulen aktuell geworden. Die Debatten darüber begannen vorwiegend im United Kingdom und in Skandinavien im Bereich der Visual Arts und des Designs.212 Das Ausloten einer Position in den gesellschaftlichen Feldern von Kunst und Wissenschaft in Abgrenzung und Äquivalenz zur wissenschaftlichen Forschung stand dabei im Zentrum.213 Gleichzeitig werden damit Berechtigung und Wertung der unterschiedlichen Formen des Wissens aktualisiert. Dieter Lesagne skizziert in »A Portrait of the Artist as a Researcher«214 pointiert die Komplexität der Situation: »You’re an artist and that means: you’re a dreamer, you’re a clown. That is what some people think. It’s a great excuse for not paying any attention to all the thoughts you have.« Denn was machen Künstler_innen denn schon? Was ist ihre Arbeit? Was zeichnet sie aus? Und zudem, wer braucht das? »So what happens is that you, as an artist, put ideas into projects that others will show in their museum, in their Kunsthalle, in their exhibition space, in their gallery. So you are a thinker. You develop reflections nobody really cares about.« Doch was bedeutet

210 Helga Nowotny, Foreword, in: Michael Biggs/Henrik Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London-New York 2010, XVII–XXVI, XIX 211 Dombois 2006 212 Vgl. auch: Corina Caduff/Fiona Siegenthaler/Tan Wälchli, Art and Artistic Research/Kunst und künstlerische Forschung, Zurich Yearbook of the Arts/Zürcher Jahrbuch der Künste, Bd. 6, Zürich 2010 213 Ein Frage, die besonders in der PhD-versus-PD (Professional Doctorate)-Debatte virulent wurde. Vgl. u.a. Fiona Candlin, Practice-Based Doctorates and Questions of Academic Legitimacy, in: The International Journal of Art and Design Education 19/1, 2000, 96–101, sowie Henk Borgdorff, The debate on research in the arts, http://www.ahk.nl/fileadmin/download/ahk/Lectoraten/Borgdorff_publicaties/The_d ebate_on_research_in_the_arts.pdf, sowie ders., Artistic Research and Academia. An uneasy Relationship, http://www.ahk.nl/fileadmin/download/ahk/Lectoraten/ Borgdorff_publicaties/an-uneasy-relationship.pdf 214 Lesage/Busch 2007

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das, Denker_in zu sein? »You take intellectual risks. You speculate about artistic problems, you critically kick ass. You’re a transcender.« Das, was hier getan wird, das, was hier passiert, entzieht sich den klar abgegrenzten Berufsbildern und selbst den klassischen Künstlerbildern. »You cannot put all your research efforts into one kind of artistic problems. So you interdisciplinarize your reflection. You link the reflections you make. You would say it differently. I know. You say you work within the framework of cultural studies.« Wie ist das vorzustellen? »Within which all over the world you have many buddies. You are a video maker, but also a writer. You have a magazine, you’re an editor, but you also organize conferences. You make videos of interviews with intellectuals. You organize a conference when you present a journal, you insert video stills of interviews with intellectuals in your journal, you organize conferences and you’re the host. You’re part of this little think tank, you walk around at your conference, you talk to people and ask if they want to contribute to your reader, you’re an editor and co-editor, you’re a research coordinator and co-coordinator, you co-edit and coordinate all the time.« In diesem Ausloten des Tuns künstlerischer Forscher_innen schwingt die Frage der Selbst- und Fremdverortung und der Zuschreibung von Bedeutung permanent mit. Dieter Lesage abschließend und die sehr konkrete Problematik der Akademisierung der Kunst ansprechend, in der sich die Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst, der Stellenwert von sprachlichen und außersprachlichen Diskursen über die Welt zugespitzt noch einmal verdeutlicht: »Words don’t have the monopoly of meaning, you know what I’m saying? Images can speak. So I give you images, and you give me that fucking doctorate. Coz’ my images develop hypotheses. My images ask questions. My images write history. My images interpret and reinterpret history. My images defend propositions. My images refute arguments. My images criticize misconceptions. My images are comments. My images are theses.« In welchem Ausmaß diese hier beschriebenen Tendenzen der Grenzverschiebung in die Neueröffnung gesellschaftlicher Territorien, Forschungslandschaften und Ressourcen eingreifen, ist noch nicht absehbar. Die Fülle an Positionen und Diskursen bezeichnet jedenfalls ein Spannungsfeld, in dem es um ökonomische Ebenen ebenso geht wie um identitäre und institutionelle. Und auf allen sind Neu-Verortungen notwendig. Ein Prozess gegenseitiger Einflussnahme und Abgrenzung ist in Bewegung und regt seinerseits Mechanismen der Steuerung und Gestaltung an. Neupositionierungen in diesem fragilen Feld eröffnen

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Terrains epistemisch-ästhetischer Transformation.215 Oder anders formuliert: Der Wissensbegriff selbst steht hier zur Disposition. Auffassungen von künstlerischem Wissen und wissenschaftlichem Wissen prallen aufeinander.216 Sie durchlaufen derzeit einen Bewusstwerdungsprozess, der durch die Möglichkeit, miteinander in einen Dialog zu treten, vorangetrieben wird.217 In Bezug darauf hat Florian Dombois Roland Barthes’ Idee einer mathesis singularis, also einer Wissenschaft bzw. Forschung, die vom einzelnen Gegenstand ausgehend diverse Disziplinen in die Betrachtung miteinbezieht, wieder in die Diskussion eingebracht.218 Nicht die Haltung einer mathesis universalis, einer alles erklärenden Wissenschaft, sondern eine neue Wissenschaft für jedes Objekt ist der Gedanke. Italo Calvino beschrieb Roland Barthes selbst als denjenigen Autor, der diese Idee verkörperte, der zwischen der Allgemeinheit der Wissenschaft und der Betonung des Besonderen oszillierte.219 Elke Bippus thematisierte die Verschiebungen des Wissbaren, der Evidenzen und deren Repräsentanten wiederum, indem sie Ästhetik als transversalen, erkenntnistheoretischen Begriff zu situieren vorschlägt. Dieser bewege sich auch in politischen Bezügen, vor allem dann, »wenn man dies Wahrnehmbare als ein System bedenkt, das Sichtbarkeiten und darüber Evidenzen schafft und damit bestimmt, was der sinnlichen Erfahrung überhaupt gegeben ist. Bestimmt, wer an ihr teilhaben kann und wer als Teilhabender repräsentiert ist«.220 Die hegemonialen Strukturen resümierend formuliert auch sie: »Künstlerische Forschung

215 Vgl. z.B. Michaela Ott, Affizierung. Zu einer epistemisch-ästhetischen Figur, München 2010 216 Für die Künste vor allem Mersch/Ott 2007; Annette W. Balkema/Henk Slager (Hg.), Artistic Research, Amsterdam 2004; Kathrin Busch, Artistic Research and the Poetics of Knowledge, in: Art&Research, Vol. 2, Nr. 2, Spring 2009, 1–7 217 Vgl. u.a. mein derzeitiges Projekt »Kunst und Wissenschaft im Dialog« www.mdw.ac.at/ikm/PageId=1855 218 Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1989, 16, sowie Dombois 2006, 24 219 Italo Calvino, In memoriam Roland Bartes, in: ders., Kybernetik und Gespenster, München-Wien 1984, 176, sowie Susanne Gramatzki/Rüdiger Zymner (Hg.), Figuren der Ordnung. Beiträge zu Theorie und Geschichte literarischer Dispositionsmuster, Köln-Weimar-Wien 2009 220 Bippus 2010, 23. Sie nimmt hier auf Jacques Ranciére Bezug, der ebenfalls Sphären, nämlich die der Kunst mit der der Politik zu verbinden trachtet. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006

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greift das Erkenntnismonopol von Seiten der Wissenschaft bzw. der Naturwissenschaft an.«221 Die Reflexion spielt zwar in beiden Bereichen, Kunst wie Wissenschaft, sofern sie sich als zeitgemäß verstehen, eine wesentliche Rolle in ihrer Selbstwahrnehmung, doch in ihrer Schwerpunktsetzung differieren sie. Während die wissenschaftliche Reflexion tendenziell begrifflich ausgerichtet sei, scanne die künstlerische das Performative und Mediale.222 Eine der Dichotomien, die hier über den Wissensbegriff zur Verhandlung stehen, liegt zudem auf einer Metaebene, nämlich der von Erkenntnis versus praktischem Tun oder, in anderen Begriffen, von Argument versus Handeln. In einer damit verbundenen Dimension steht dann die Bipolarität zwischen propositionalem Wissen – in der Erkenntnistheorie auch als das »Wissen, dass« bezeichnet und die mitunter einzig akzeptierte Form von Wissen223 – und dem »Wissen von« bzw. dem »Wissen, wie« inklusive der ihnen inhärenten Wertzuschreibungen zur Disposition. Helga Nowotny beobachtete dementsprechend auch eine sich verändernde Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, ein Sich-neu-Situieren künstlerischer Produktion und die betonte Eigendefinition von Künstler_innen. Damit einher geht die bereits angesprochene Neuverortung von Kunst im Ausbildungssystem wie durch die Möglichkeiten, die neuen Medien erschließen. Aus ihrer Warte sei die Auseinandersetzung mit Forschung, Kunst und Wissenschaft als Bemühen zu sehen, »bringing the arts back into the fields of research«. Eine Erweiterung des Rahmens erfolge »with the enormous potential to enrich all fields of research«.224 Der Prozess bedinge »re-imagine themselves, their methods and, indeed, their ›worlds‹ if they are to work productively in the 21st Century«.225 Diese gesellschaftlichen Bereiche geraten nun als Felder kultureller Praxen,226 in

221 Bippus 2010, 23 222 Ebd. sowie Barbara Wittmann (Hg.), Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Zürich-Berlin 2009; Christoph Hofmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich 2008; Anke te Heesen/Anette Michels (Hg.), Auf/zu. Der Schrank in den Wissenschaften, Tübingen 2007 223 Jason Stanley/Timothy Williamsen, Knowing how, in: The Journal of Philosophy 98/8, 2001, 411–444 224 Nowotny 2010, XXI 225 John Law/John Urry, Enacting the Social. Economy and Society, 33(3), 2004, 390– 410 226 Vgl. Karl H. Hörning, Kultur als Praxis, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2004, 137–151, sowie Wolf-

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denen sich immer auch Macht verwirklicht,227 in den Blick – analog dem Doing Gender, Doing Knowledge, Doing Identiy etc. ein Doing Culture.228 Mit anderen Worten: Im Tun entstehen Wirklichkeiten. ABR, Arts-based Research, bietet ausgehend vom angloamerikanischen Raum eine Ausweitung der qualitativen Forschung. Während einige Forscher_innen diesen Weg beschreiten, weil sie darin eine Gelegenheit sehen, ihren Forschungsfragen gerechter zu werden, bietet sich für Persönlichkeiten, die sich sowohl im wissenschaftlichen als auch im künstlerischen Bereich zu Hause fühlen, Arts-based Research als Zugang an, die Welt mehrdimensional zu begreifen. Die Ansätze markieren in ihrer Art ein Ausweitung des Raums – »a different space,«229 »a third space«.230 Ihr Tenor ist das Verbindende auf einer Vielzahl von Ebenen – Wissenschaft und Kunst, Theorie und Praxis, das Soziale und das Individuelle, um nur einige signifikante Koordinaten zu nennen. Arts-based Research versteht sich ebenfalls als Reaktion auf das positivistische Weltbild, – es war ebenfalls bereits Thema –, das eine unabhängig vom Forschungsprozess existierende, von den Forschenden getrennte Wirklichkeit voraussetzte. Die Paradigmen qualitativer Forschung hatten diese Sicht herauszufordern begonnen. Aus der Ethnologie sowie der Kulturanthropologie entwickelten sich methodisch kontrollierte, d.h. nachvollziehbar-plausible Verfahren entwickelt, welche die interaktive Ebene des Forschungsprozesses betonten, induktiv bzw. auch abduktiv in ihren Schlussfolgerungen vorgingen und ihre Ergebnisse mit einer Reihe entsprechender Validitätsmethoden absicherten.231 Die Einsicht der Intersubjektivität, d.h. die Wechselwirkung zwischen den Beobachter_innen und dem Beobachteten, den Forschenden und dem Beforschten entsprach der in der Heisenbergschen Unschärferelation als Einfluss der Beobach-

gang Krohn, Wissenschaftsgeschichte, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, 1773 ff., sowie u.a. Max Fuchs, Kunst als kulturelle Praxis, Kunsttheorie und Ästhetik für Kulturtheorie und Pädagogik, Wiesbaden 2011 227 Vgl. dazu auch Bourdieu 1987 228 Im Sinne von Handlungsgepflogenheiten, in dem kultureller Sinn praktiziert wird. Vgl. Karl H. Hörning/Jutta Reuter, Doing Culture. Kultur als Praxis, in: dies., Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Sozialer Praxis, Bielefeld 2004, 13, 9–16 229 Ronald J. Pelias, A Methodology of the Heart. Evoking Academic and Daily Life, Walnut Creek 2004, 11 230 William F. Pinar, Foreword, in: Rita L. Irwin/Alex de Cosson (Hg.), A/r/tography. Rendering self through arts-based living inquiry, Vancouver 2004, 9–25 231 U.a. Ines Steinke, Kriterien qualitativer Forschung, Weinheim 1999

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tenden auf das Beobachtete sehr eindrücklich formulierten Interdependenz. Wesentlich für dieses andere Weltbild war freilich auch die politische Entwicklung, das Aufkommen sozialer Bewegungen, die neue Fragen stellten und Methoden herausforderten, die adäquate Antworten zu finden imstande sein sollten. In diesem Ensemble nahmen die Frauenbewegung und die daraus entstehende feministische Forschung einen auf vielen Ebenen zu beschreibenden Stellenwert ein.232 Als alternatives methodologisches Genre entwickelten sich auf dieser Basis Formen der Arts-based Research, die wiederum als Erweiterungen wissenschaftlicher Zugänge zu sehen sind. Aus der Notwendigkeit, auf Fragen zu reagieren, die mit herkömmlichen Methoden nicht zu erreichen sind, verhandeln sie bisherige Standards neu. Damit repräsentieren sie, so meine Lesart, einen über das Bisherige hinausgehenden Bewusstseinsstand. Doch in welcher Weise manifestiert er sich nun in der wissenschaftlichen Forschung? Und welche Tools eignen sich dafür? Die Künste, so Patricia Leavy, »at their best, are known for being emotionally and politically evocative, captivating, aesthetically powerful, and moving. Art can grab people’s attention in powerful ways.«233 Künstlerische Herangehensweisen bieten Ebenen des Verstehens, die den klassischen Zugängen wie Darstellungsformen der Wissenschaft nicht zur Verfügung stehen. »In this way, arts-based practices can be employed as a means of creating critical awareness or raising consciousness.«234 Alle Themen, die sich mit sozialer Gerechtigkeit beschäftigen oder auch Identitäten zum Inhalt haben, können, so Patricia Leavy, von diesen Ansätzen profitieren. Ethische und politische Dimensionen von Forschung finden dadurch Unterstützung, Dialoge können angeregt werden. Ein besonderes Beispiel für einen ABR-Zugang mag die Musik sein. Louis Armstrongs Ausspruch »What we play is life« ist ein bezeichnendes Statement für die Ungetrenntheit von Musik und Leben, wie sie sich für einen Künstler des 20. Jahrhunderts darstellt. In Patricia Leavys argumentativer Formulierung für den Einbezug der Künste in die Wissenschaft klingt das dann folgendermaßen: »The use of music in social research methodologies can be viewed less as an experiment and more as a realisation.«235 Musik macht es möglich, dem, was nicht

232 Vgl. für die Entwicklung feministischer Forschung in Österreich u.a. Doris Ingrisch/Brigitte Lichtenberger-Fenz, Hinter den Fassaden des Wissens. Eine aktuelle Debatte, Wien 2000 233 Patricia Leavy, Method Meets Art. Arts-Based Research Practice, New York 2009, 12 234 Ebd., 13 235 Ebd., 101

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durch wissenschaftliche Praktiken vermittelt werden kann, Ausdruck zu verschaffen. Auch die Philosophie beschäftigte dieses Phänomen immer wieder.236 Musik stand darin ebenso für Paradigmen der Ordnung wie für Wege zur Erkenntnis.237 Und schließlich weist die Technik des Dekomponierens, die wir im 20. Jahrhundert finden, auch in diesem Medium auf den Prozess hin, Wertegebäude systematisch auseinander zu nehmen, zu hinterfragen und neue Werte auszuprobieren. Ein konkretes Beispiel könnte da das Fluide sein, das derzeit in der Musik ebenso intensiv erfahrbar ist wie im spätmodernen Leben.238 »A work of art no matter how old and classic is actually, not just potentially, a work of art only when it lives in some individualized experience,«239 so John Dewey. Ohne die Komponente der persönlichen Erfahrung sei Kunst Partitur oder Text. Die Hervorbringung erfolgt im Tun. Erst im Moment dieser Transformation entsteht Musik. In diesem jeweils einmaligen Setting, in der je speziellen Beziehung findet Literatur, Musik, Theater etc. statt.240 Was kann das für die Forschung bedeuten? Was für die Wissenschaft? Mit anderen Worten: Was wird durch die Eigenart dieser Medien für die Forschung sensibilisiert? Wie können wir uns das also vorstellen? Bleiben wir bei dem Beispiel Musik im Kontext der Arts-based Research, so kann Musik als Forschungsmethode sowohl in der Datenanalyse, in der Interpretation als auch in der Repräsentation verwendet werden. Der Aspekt des »storytelling«241 ist dabei nur einer von vielen, denken wir nur daran, welche Zusammenhänge sich eröffnen, wenn wir musikalische Systeme beschreiben und in

236 Vgl. Wayne D. Bowman, Philosophical perspectives on music, New York 1998 237 U.a. Herbert M. Schueller, The Idea of Music. An Introduction to Musical Aesthetics in Antiquity and the Middle Ages, Kalamazoo 1988; Sabine EhrmannHerfort/Ludwig Finscher/Giselher Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Bd. 2, Kassel 2002 238 Vgl. u.a. Liora Bresler, What musicianship can teach educational research, in: Music Educational Research 7/2, 169–183 239 John Dewey, Art as experience, Carbondale 1989 (orig. 1934), 113 240 Vgl. Louise M. Rosenblatt, The Reader, the Text, the Poem. The Transactional Theory of the Literary Work, Carbondale 1978; dies., Literature as Exploration, New York 1995 (orig. 1938) 241 Vgl. Storytelling als Methode u.a. Stephen Denning, The Leader’s Guide to Storytelling. Mastering the Art and Discipline of Business Narrative, San Francisco 2005, oder Annette Simmons, The Story Factor. Inspiration, Influence, and Persuasion through the Art of Storytelling, Cambridge 2001

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ihren diversen Facetten von sozialen Beziehungen und Machtrelationen, von Strukturen, Vorstellungen und Verhandlungen von Welt auf uns wirken lassen. Dementsprechend eignet sich dieses Medium speziell, um kollektiven Identitäten bzw. Zugehörigkeiten auf die Spur zu kommen. Doch bereits allein der allgemeinere Aspekt, Menschen auf die – in unserer westlichen auf das Visuelle ausgerichteten Kultur – nur in bestimmten Kontexten wertgeschätzte Dimension des Hörens zu sensibilisieren, eröffnet neue Denkräume – »access and shed light on parts of social experience that other textual or visual forms may fail to capture«.242 Konkret könnte es nun darum gehen, die Aufmerksamkeit auf die Form, das Timbre und/oder die Melodie zu lenken, um nur drei Aspekte im Bereich der Musik zu thematisieren. Die Form einer Lebensgeschichte, die Bedeutung dieser Form, das Zusammenpassen der einzelnen Teile, die die Form bilden, sind – sobald wir das Erfassen dieser Ebenen zulassen – für die Erkenntnis sowie adäquates Schreiben über einen Gegenstand von hoher Relevanz. Den Rhythmus in den Fokus zu nehmen, könnte wiederum heißen, der Geschwindigkeit in einer Erzählung Beachtung zu schenken, aber auch den Tempi und der Beziehung zwischen ihnen sowie der Bedeutung, die daraus entsteht. Der Aspekt des Timbres richtet seine Reflexion auf den Ton, die musikalische oder eben soziale Klangfarbe, die Ebene des Wie, also wie etwas gesagt oder getan wird. Damit wird das Augenmerk auf die Kommunikationsstile gelenkt. Die Melodie in der Forschung zu beachten, entspräche schließlich der Aufmerksamkeit für die plotline, also die Struktur bzw. die Sequenzen, die Inhalte ebenso betreffend wie das Schreiben darüber. Bei einem weiteren Nachdenken über Musik in der qualitativen Forschung kommt, nehmen wir Musik nicht nur als Text, sondern auch als Performance wahr, unweigerlich als weitere Wissens-Ebene der Körper ins Spiel und damit eine zumindest partielle Aufhebung der Körper-Geist-Dichotomie. Sowohl das Machen als auch das Erfahren ist in der Musik mit dem Körper verbunden. Louise Bresler spricht hier von einer Body-Mind-Presence.243 Darin wird das hypothetische Entweder-Oder erneut in seiner Form als Und sichtbar. Noch stehen wir am Anfang, die Komplexität und die Ebenen des Austauschs zwischen Musik und qualitativer Forschung im Detail zu verstehen sowie die Arten und Weisen, durch die Musik gesellschaftliche Strukturen reflektiert und konstruiert. Die Wahrheiten, die in diesen und anderen ABR-Projekten produziert werden, entsprechen situierten, partialen und kontextuellen Wahrhei-

242 Leavy 2009, 106 243 Bresler 2005, 177

D AS UND

ERPROBEN

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ten. Sie fordern traditionelle, universalistische, aus dem positivistischen Denken entwickelte Qualitätsstandards heraus und testen neuen innovativen Weltbildern adäquatere Zugänge aus. Anita Sinner spricht hier von einer Bewegung, die von rigor – Strenge, Präzision, Genauigkeit – in Richtung vigor – Vitalität und Lebenskraft – geht.244 Die Qualitätskriterien sind dann Verstehen, Resonanz, verschiedene Bedeutungen und Mehrdimensionalität. Sie repräsentieren einen Zugang zur Welt, in der die Beziehungsebenen gegenüber der analytischen in den Vordergrund treten. Einen Zugang, in dem Grenzen verändert werden und immer wieder neue Räume entstehen dürfen. Patricia Leavy konstatiert dazu, »therefore, methodological innovation is not simply about adding new methods to our arsenal for the sake of ›more‹, but rather opening up new ways to think about knowledge-building: new ways to see.«245 Komponieren, Weben, Orchestrieren etc. sind nun die Bilder, die für diese Art von Forschung, ihre Intention und damit auch ihr Weltbild stehen.246

244 Anita Sinner u.a., Arts-Based Educational Research Dissertations. Reviewing the Practices of New Scholars, in: Canadian Journal of Education 29/4, 1223–1270, 1252 245 Leavy 2009, 254 246 Vgl. auch Elisabeth von Samsonow, Weben Kleben Vernetzen Verbinden Verknoten Verzahnen Destillieren Synthetisieren. In den Ateliers der TransakteurInnen, in: Samsonow 2009, 15–29

Outro Den Denk/Raum des Und weiter öffnen

»The test of a first rate intelligence is the ability to hold two opposed ideas in the mind at the same time, and still retain the ability to function.«1

Das Thema Wissenschaft und Kunst ist ein hoch brisantes und durchaus kontroversiell diskutiertes, zu dem nicht zuletzt politische Positionen bezogen werden. Die Inspiration kann in einer Reihe neuer Sichtweisen, der Ausbildung neuer Sensibilitäten, Wahrnehmungsmodi und Interpretationen gesehen werden.2 Sie fungieren als Puzzlesteine eines neuen Denkens. So würde ich auch gerne die hier dargelegten Reflexionen verstanden wissen – nicht als Antworten, die etwas abschließen, sondern als Fragen, die Denk-Räume öffnen. In meiner Studie über Künstler_innen als Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne hatte das Und als Inspiration für ein neues Denken bereits meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.3 In den Reflexionen über Kunst und Wissenschaft bin ich erneut auf dieses Und gestoßen, das zu verhandeln in diesen Bereichen zu einem zentralen Thema geworden ist, auf der Ebene der Akteur_innen ebenso wie auf der theoretischen Ebene. Wissenschaft, Kunst und Gender zusammen zu denken kann, so meine ich, durch seine einzigartigen Kulminationspunkte viele weitere Anregungen geben, dem Und eine Chance zu geben, Intelligenzen und Wahrnehmungen weiter zu erforschen und zu entwickeln. 1

Scott Fitzgerald, The Crack-Up, in: Esquire, April 1936, http://www.esquire.com/

2

Vgl u.a. Ingeborg Reichle/Frank Rösl, Wissenschaft und Kunst. Eine disziplinäre An-

3

Ingrisch 2012

features/the-crack-up näherung, in: Gegenworte 23/2010, 12–15

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Doris Ingrisch Doris Ingrisch ist Professorin für Gender Studies am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte bewegen sich in den Bereichen Gender und Cultural Studies, Wissenschaftsgeschichte, Exil-/Emigrationsforschung sowie Qualitative Methoden. www.mdw.ac.at/ikm/

Lisette Rosenthal Geboren 1964 in Kirchen/Sieg, Deutschland. Nach der Ausbildung zur Handweberin und mehrjähriger Arbeit im sozialtherapeutischen Bereich folgte von 1993–2000 das Studium der Malerei/Tapisserie an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein, Halle/S. und Akademie der Bildenden Künste , Wien. Die künstlerische Arbeit bewegt sich in unterschiedlichen Bereichen. Schwerpunkt bildet die Malerei. Lebt als Bildende Künstlerin in Wien.

Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur Dezember 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6

Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur April 2013, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5

Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 Januar 2013, ca. 496 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge Mai 2013, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1

Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts Januar 2013, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1

Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Dezember 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

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Image Ursula Bertram (Hg.) Kunst fördert Wirtschaft Zur Innovationskraft des künstlerischen Denkens Oktober 2012, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2102-0

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen Dezember 2012, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

Patricia Stella Edema Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930) Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2203-4

Doris Guth, Elisabeth Priedl (Hg.) Bilder der Liebe Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit August 2012, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1869-3

Birgit Hopfener Installationskunst in China Transkulturelle Reflexionsräume einer Genealogie des Performativen Februar 2013, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2201-0

Walburga Hülk Bewegung als Mythologie der Moderne Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry Juni 2012, 242 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2008-5

Doris Ingrisch Wissenschaft, Kunst und Gender Denkräume in Bewegung Dezember 2012, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2197-6

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst Mai 2012, 246 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

Viola Luz Wenn Kunst behindert wird Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland Juni 2012, 558 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2011-5

Kerstin Schankweiler Die Mobilisierung der Dinge Ortsspezifik und Kulturtransfer in den Installationen von Georges Adéagbo Dezember 2012, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2090-0

Florian Schaper Bildkompetenz Kunstvermittlung im Spannungsfeld analoger und digitaler Bilder November 2012, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2190-7

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