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German Pages 319 [322] Year 2014
Yaman Kouli
Wissen und nach-industrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956
Geschichte Franz Steiner Verlag
VSWG – Beihefte 226
Yaman Kouli Wissen und nach-industrielle Produktion
vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet
band 226
Yaman Kouli
Wissen und nach-industrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung aus: Włodzimierz Borodziej / Hans Lemberg (Hrsg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven Band 1. Zentrale Behörden, Wojewodschaft Allenstein (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2000. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10655-9
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
II.
Zum Verhältnis von wissenschaftlich produziertem Wissen und industrieller Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3.
Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen als wirtschaftstheoretisches Problem . . . . . . . . . . . Wissen, Hauptinput für industrielle Produktion? . . . . . . . . . Annäherung an ein Wissensmodell: Die drei Formen des Wissens Zur Speicherbarkeit von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen der Nicht-Speicherbarkeit von Wissensnetzwerken . . . .
. . . . . .
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25 27 29 29 35 38
4.
Sonderfall Niederschlesien? – Wissensnetzwerkmodell und „Wirtschaftswunder“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4.1. Der Ansatz der Rekonstruktionsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.2. Die Catch-up-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien? Die niederschlesische Industrie und ihre Entwicklung von 1936 bis Kriegsende . . . . . . . . 49 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Warum Niederschlesien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“ – Die wirtschaftliche Bedeutung Niederschlesiens im Deutschen Reich Forschungs- und Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geographische Verteilung der niederschlesischen Industrie . . . Bedeutung Niederschlesiens für die deutsche Industrie . . . . . . Qualifikation und Ausbildung der Beschäftigten in der niederschlesischen Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . 49 . . . .
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54 54 55 61
. . . . 66
3.
Die Entwicklung des niederschlesischen Industriepotenzials bis 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Entwicklung der einzelnen Wirtschaftszweige bis 1944 anhand der Beschäftigtenzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. 1936–1939: Eine niederschlesische Industrialisierung? . . . . . . . 3.3. 1939–1942: Niederschlesiens Industrie während der ersten Kriegshälfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 73 . . . 75 . . . 82 . . . 88
6
Inhaltsverzeichnis
3.4. 1942–1945: Niederschlesien im Totalen Krieg . . . . . . . . 4. 1943/44: Niederschlesien und die ostdeutschen Gebiete in der Speer’schen Rüstungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Praxis der Verlagerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Motive, Umfang und Folgen der Verlagerungen . . . . . . .
. . . . . . 93 . . . . . . 95 . . . . . . 96 . . . . . . 102
5.
Materielles und immaterielles Kapital Niederschlesiens zu Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Das Produktionspotenzial 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Eine neue Produktionsweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Eine verengte Perspektive – die Folgen der Überbetonung von Zerstörungen und Demontagen . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 109 . . . . . 109 . . . . . 112 . . . . . 115
IV. Eine „neue“ Industrie. . . – die Entwicklung der industriellen Produktion Niederschlesiens nach Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . 119 1. 2. 2.1. 2.2.
Forschungsstand und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Festung Niederschlesien?“ – Die Legende der Stunde Null . . . . Kriegszerstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demontagen und Rückverlagerungen durch die Wehrmacht und die Rote Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6.
. . . 119 . . . 123 . . . 124 . . . 129 . . . 134
1945–1956: Die „Polonisierung“ der Wirtschaft in den Neuen Gebieten und die Wirtschaftspolitik bis 1956 . . . . . . . . . . . . . . Festigung der polnischen Staatsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verwaltung in den sog. „Wiedergewonnenen Gebieten“ 1945–1949 Die Operationsgruppen und die Maßnahmen zur Übernahme der deutschen Wirtschaft (1945–1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Etablierung der Planwirtschaft 1947–1949: Der Dreijahresplan . . Zwischenbilanz: Wie erfolgreich war die Übernahme der Industrie? . . Der Sechsjahresplan 1950–1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 136 . 139 . 140 . . . .
145 153 159 162
4. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.1. Der Zustand der niederschlesischen Industrie 1956 . . . . . . . . . . . . 172 4.2. Gab es eine niederschlesische Rekonstruktion? . . . . . . . . . . . . . . 188 V.
1. 2.
. . . mit „neuen“ Beschäftigten – Die „Erblast“ der Vertreibung und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Eine neue Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Entscheidungsgrundlagen zur Wirtschaftspolitik in den Neuen Gebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.1. Welches Bild hatten die Verantwortlichen von den Neuen Gebieten? . . 196
7
Inhaltsverzeichnis
2.2. Die Rolle der Forschungsinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Vertreibung und Besiedlung in den Neuen Gebieten . . . . . . . Forschungsstand zur Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beginn der Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Besiedlung der Neuen Gebiete . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederaufbau trotz gepackter Koffer – Waren die Neuen Gebiete ein Provisorium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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202 202 204 209
. . . . 215
4. „Dem Wissen auf der Spur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. „Tabula Rasa et Fabrica Vacua“ – Ausbildung in Niederschlesien nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Interessenasymmetrie zwischen Ministerien und Firmenchefs . . 4.3. Folgen des Mangels an „komplementärem“ Wissen . . . . . . . 4.4. Die Vertriebenen in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . .
. . . . 222 . . . .
VI. „Wissen und nach-industrielle Produktion“: Ergebnisse dieser Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neuinterpretation der industriellen Nachkriegsentwicklung Niederschlesiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Motive und Folgen der Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . 3. Wissen, Wissensarbeit und nach-industrielle Produktion . . . 4. Die Spätfolgen der Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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223 231 242 252
. . . . . . 263 . . . .
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263 266 268 270
VII. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.2.
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsnamen-Konkordanz der schlesischen Städte . . . . . . . . Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe Betriebe, die noch keine Fertigung aufgenommen haben . . . . Betriebe, die wegen Verlagerung in Unterhandlung standen . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
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. . . . . . . .
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273 275 278 278 289 292 292 294
VIII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 IX. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
TABELLENVERZEICHNIS III.1. III.2. III.3. III.4. III.5. III.6. III.7. III.8. III.9. III.10. III.11. III.12. III.13. III.14. III.15. III.16.
Anteil der Beschäftigten und der Industrie Niederschlesiens an den Industriezweigen 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteil der jeweiligen Industriezweige am Nettoproduktionswert Niederschlesiens 1936 – Bergbau und Grundstoffindustrien . . . Bau- und Investitionsgüterindustrien . . . . . . . . . . . . . . . Verbrauchsgüterindustrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitskräfte mit Angehörigen nach Wirtschaftsbereichen 1939 . Erwerbspersonen 1939 nach ihrer Stellung im Beruf . . . . . . . Beschäftigte in der Land- und Forstwirtschaft Niederschlesiens . Beschäftigte in Industrie und Handwerk in der Provinz Niederschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschäftigte in der niederschlesischen Industrie 1936–1944 . . . Entwicklung der Bruttoproduktion der ostdeutschen Gebiete . . Entwicklung der Bruttoproduktion des Deutschen Reiches . . . Jährliches Wachstum des Nettoproduktionsindex 1936–1939 . . Zahl der freiwilligen Schließungen bis Ende 1942 . . . . . . . . Zahl und Gesamtbetriebsfläche der verlagerten Betriebe . . . . . Anteil der Rüstungs-Inspektionsbereiche an der oberirdischen Verlagerung (Gesamtverlagerung) in ihrer Größenfolge . . . . . Anteil der Rüstungs-Inspektionsbereiche an der oberirdischen Verlagerung der Fertigungsflächen in ihrer Größenfolge . . . . .
. . . 63 . . . . . .
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64 64 65 71 71 76
. . . . . . .
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76 76 83 83 87 92 98
. . . 101 . . . 102
IV.2.
Entwicklung des Outputs ausgewählter Industrieprodukte . . . . . . . 189
V.1. V.2.
Pro-Kopf-Produktion 1936 im Deutschen Reich und in Polen . . . . . 197 Anteil der Neuen Gebiete an der Bevölkerung und an der Fertilitätsrate Polens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
ABBILDUNGSVERZEICHNIS III.1. Karte Polens mit den Neuen Gebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 III.2. Karte Niederschlesiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 IV.1. Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2. Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3. Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4. Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.5. Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.6. Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1956 (in den Grenzen von 1950) . . . IV.7. Anteil der Industriezweige an der Industrieproduktion Niederschlesiens 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.8. Anteil der Industriezweige an der Industrieproduktion Niederschlesiens 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.9. Steinkohleproduktion Niederschlesiens 1935–1960 . .
. . . . . . . . . 176 . . . . . . . . . 177 . . . . . . . . . 178 . . . . . . . . . 179 . . . . . . . . . 180 . . . . . . . . . 181 . . . . . . . . . 184 . . . . . . . . . 185 . . . . . . . . . 190
VORWORT Die vorliegende Dissertation ist an zwei Universitäten entstanden. Während meiner Mitgliedschaft im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Bielefelder Graduiertenkolleg „Archiv-Macht-Wissen – Organisieren, Kontrollieren, Zerstören von Wissensbeständen von der Antike bis zur Gegenwart“ wurden die Quellen recherchiert sowie die Arbeit konzipiert. Die Graduate School in History and Sociology unterstützte mich durch die Bereitstellung von Reisemitteln. Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz gewährte mir ein achtmonatiges Stipendium zur Fertigstellung der Dissertation. An der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz wurde sie schließlich eingereicht. Wie viele Qualifikationsarbeiten profitierte auch diese von unzähligen Kommentaren, Fragen und Hinweisen. Die in ostwestfälischer Klarheit geführten offenen Diskussionen im Graduiertenkolleg an der Universität Bielefeld halfen, der Arbeit ihre Form zu geben. In Gesprächen mit Angelika Epple, Levke Harders, Thomas Welskopp und David Gilgen von der Abteilung Geschichte der Universität Bielefeld sowie mit Andreas Kunz und Joachim Berger vom Institut für Europäische Geschichte in Mainz wurde die Argumentation der Doktorarbeit immer wieder kritisch auf ihre Plausibilität hin abgeklopft. Darüber hinaus haben Stefan Kowal von der Uniwersytet im. Adama Mickiewicza Posen und J˛edrzej Chumi´nski von der Wirtschaftsakademie Breslau durch ihre Kenntnis der Forschungsliteratur geholfen, die wichtigsten polnischen Publikationen zu berücksichtigen. Vor allem Herr Chumi´nski scheute keine Kosten und Mühen, um mir selbst für Breslauer Verhältnisse schwer zugängliche Bücher, Aufsätze und Quellen zugänglich zu machen und wenn nötig nach Deutschland zu schicken. Ohne diese Hilfe und ihren Einblick in die polnische wirtschaftshistorische Forschung hätten der Arbeit zahlreiche Dokumente nicht zur Verfügung gestanden. Mareike Menne hat mit kritischen Blick die Arbeit in ihrer Endphase durchleuchtet. Meine Betreuer Rudolf Boch und Werner Abelshauser unterstützten mich auf jede nur erdenkliche Weise, und ihre Beitrag zur Fertigstellung dieser Arbeit kann nicht überschätzt werden. Ich danke auch den Herausgebern der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – und hier insbesondere Günther Schulz – für die Aufnahme meiner Dissertation in ihre Reihe. Mit der Hilfe von Katharina Stüdemann und Harald Schmitt vom Franz-Steiner-Verlag verlief die Publikation der Arbeit reibungslos. Meiner Frau Agnieszka verdanke ich schließlich die Dissertation. Mein Interesse für Polen und die polnische Sprache gehen allein auf sie zurück. Ohne sie hätte ich diese Untersuchung niemals angefertigt. Ihr widme ich diese Arbeit. Chemnitz, im April 2013
Yaman Kouli
I. EINLEITUNG „Welche Rolle spielt wissenschaftlich produziertes Wissen im industriellen Produktionsprozess?“ Die Einfachheit der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Frage ist auf den ersten Blick möglicherweise überraschend. Die aktuell in den Medien zu verfolgende Debatte über den Fachkräftemangel scheint diese Frage auch sehr deutlich zu beantworten. Aus ihr geht hervor, dass produktionsrelevantes Wissen, also auch Fachwissen, der wichtigste Faktor für den ökonomischen Erfolg Deutschlands sowie zahlreicher anderer Staaten ist. Materielle Produktionsfaktoren wie Rohstoffe, Energie und manuelle Arbeitskraft sind notwendige Bedingungen für wettbewerbsfähige industrielle Produktion. Gut ausgebildete Arbeitskräfte stellen hingegen in vielen Fällen eine hinreichende Bedingung dar. Hieraus ergibt sich eine Frage, deren Beantwortung bis heute eine der Herausforderungen der modernen Wirtschaftswissenschaften ist: Wie hoch ist das Abhängigkeitsverhältnis von materiellen Produktionsfaktoren und immateriellem Kapital? Um hier zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen schlägt der ungarische Ökonom Franz Jánossy das fiktive und in seinen Augen undurchführbare Experiment vor, die Produktionsmittel von der Arbeitskraft zu trennen und zu prüfen, welche Folgen dies für die Wirtschaft hat.1 Eine Untersuchung, der es gelingt, einen solchen Fall genauer zu analysieren, würde einen wichtigen Beitrag zur Frage der Rolle von wissenschaftlich produziertem Wissen im industriellen Produktionsprozess leisten. Ein geeignetes Untersuchungsobjekt für eine solche makroökonomische Analyse muss mehrere Voraussetzungen erfüllen. Zunächst muss es sich um eine Region mit einer entwickelten Industrie und intaktem Anlagekapital handeln. Zweitens muss wissenschaftlich produziertes Wissen eine wichtige Rolle im Produktionsprozess spielen. Und abschließend muss es zu einem möglichst umfassenden Bevölkerungsaustausch gekommen sein. Die Analyse der industriellen Entwicklung einer Region, die diese Bedingungen erfüllt, kann bei der Beantwortung der angesprochenen Fragen helfen. Eine Region, die diesen Anforderungen entspricht, ist das Niederschlesien der Nachkriegszeit. Im Rahmen der ethnisch-territorialen Neuordnung Europas während und nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit dem Potsdamer Kommuniqué2 abge1 Franz Jánossy, Das Ende der Wirtschaftswunder. Erscheinung und Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung (Probleme sozialistischer Politik, Bd. 12), Budapest 1966, S. 13. 2 Die Form der „Mitteilung der Dreimächtekonferenz von Berlin“ wird in der Literatur verschieden beurteilt. Verbreitet ist die Bezeichnung „Potsdamer Protokoll“. Heinrich Bartsch schreibt vom „Potsdamer Abkommen“, ebenso wie Philipp Ther und zahlreiche andere Autoren. HansAdolf Jacobsen und Mieczysław Tomala nennen das Dokument ein „Kommuniqué“; vgl. Heinrich Bartsch, Geschichte Schlesiens. Land unterm schwarzen Adler mit dem Silbermond. Seine Geschichte, sein Werden, Erblühen und Vergehen, Würzburg 1985, S. 322; Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in
16
I. Einleitung
schlossen wurde, kam es zu einem gewaltigen Einschnitt in der Geschichte Polens und Deutschlands. Deutschland verlor einen großen Teil seiner Fläche von 1937, Polen beinahe die Hälfte. Trotz der Kompensation für Polen schrumpften beide Länder in der Fläche um ein Viertel.3 Für die deutschen Ostprovinzen und somit auch für Niederschlesien bedeutete dies einen beinahe vollständigen Austausch der dort lebenden Bevölkerung. Während die deutsche Bevölkerung diese Gebiete bis 1947 verließ, wurden dort polnische Siedler in großer Zahl angesiedelt. Diese Konstellation macht aus der Industrie Niederschlesiens ein lohnenswertes Forschungsobjekt. Dies gilt insbesondere, da eine Untersuchung der Vertreibung auf die langfristige wirtschaftliche Entwicklung dieser Region bisher nicht unternommen wurde. Die Beschäftigung mit der industriellen Entwicklung Niederschlesiens nach 1945 fördert Widersprüche zutage, die bisher nicht überzeugend aufgelöst wurden. Die BRD erlebte ein überraschend starkes wirtschaftliches Wachstum während der 50er und 60er Jahre. Die ehemaligen deutschen Ostgebiete, die infolge der nach der Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945 faktisch manifestierten polnischen Westverschiebung zunächst unter polnische Verwaltung kamen und schließlich 1990 endgültig ein Teil Polens wurden, erlebten ein solches sog. „Wirtschaftswunder“ nicht. Der Begriff „Wirtschaftswunder“ hatte in den 60er und 70er Jahren in verschiedenen Ländern Konjunktur. Das hohe Wirtschaftswachstum unter anderem in der BRD, in Japan, in Frankreich, in Italien, in Russland und in der DDR4 überraschte die Zeitgenossen. Wirtschaftshistoriker und Ökonomen haben zahlreiche Anstrengungen unternommen zu erklären, weshalb es in den 1950er und 1960er Jahren in vielen Ländern ein so hohes Wachstum gab. Auffällig ist hier, dass das Wirtschaftssystem bei der Frage des wirtschaftlichen Wachstums scheinbar keine Rolle spielte: Die Wirtschaft der UdSSR wuchs von allen Ländern am schnellsten.5 Das wirtschaftliche Wachstum der BRD und der DDR in den 50er und 60er Jahren könnte den Verdacht aufkommen lassen, dass die „Nachfolger“ des Deutschen Reiches auf wirtschaftlicher Ebene „aus dem Vollen schöpfen konnten“ und Polen 1945–1956 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 127), Göttingen 1998, S. 43; Hans-Adolf Jacobsen/Mieczysław Tomala (Hrsg.), Bonn – Warschau 1945–1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation, Köln 1992, S. 53. Der Begriff „Abkommen“ impliziert völkerrechtliche Verbindlichkeit. Genau diese sollte jedoch noch lange umstritten bleiben. Zwar hatten die Konferenzen der „Großen Drei“ in Jalta und Potsdam eine „normative Kraft“, das allein rechtfertigt jedoch nicht, von einem Abkommen auszugehen. Angesichts der Tatsache, dass eine Friedensverhandlung erst für die Folgejahre geplant war, erscheint die Bezeichnung „Kommuniqué“ als die Überzeugendste; vgl. Włodzimierz Borodziej, Die Katastrophe. Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Adrian von Arburg (Hrsg.), Als die Deutschen weg waren. Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland (rororo Sachbuch), Reinbek bei Hamburg 2007, 84–111, hier S. 85. 3 Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 44. 4 Freilich handelte es sich hier meist um Selbstbeschreibungen, wie etwa im Titel der Monographie von Müller und Reißig: Hans Müller/Karl Reißig, Wirtschaftswunder DDR. Ein Beitrag zur Geschichte der ökonomischen Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1968. 5 Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1995, S. 259.
I. Einleitung
17
entsprechend in beiden Fällen die Voraussetzungen für ein „Wirtschaftswunder“ vorhanden waren. Im Analogschluss würde dies bedeuten, dass auch in den ehemaligen deutschen Ostgebieten6 die Voraussetzungen für ein hohes wirtschaftliches Wachstum gegeben waren. Niederschlesien war gerade in industrieller Hinsicht eine bedeutende Region der Neuen Gebiete und partizipierte bis Kriegsende 1945 als Teil des Deutschen Reiches an seinem hohen Produktionspotenzial. Dieses ging mit der Verschiebung der deutschen Ostgrenze als Ergebnis der Potsdamer Konferenz auf Polen über. Die beiden deutschen Staaten konnten ihr wirtschaftliches Potenzial nutzen und während der zweiten Hälfte der 40er Jahre und während der 50er Jahre hohe Wachstumsraten verzeichnen. Schon zwei Jahre nach Ende des Krieges zeigte sich, dass in der Trizone nur noch die Genehmigungen seitens der Besatzungsmächte einer Wiederaufnahme der Produktion im Wege standen.7 Die ehemaligen deutschen Ostgebiete hingegen waren hier weniger erfolgreich. Selbst Niederschlesien, auf das sich diese Arbeit konzentriert und das das wirtschaftlich stärkste der damaligen deutschen Ostgebiete war8 , konnte nicht an seine frühere Leistungsfähigkeit anschließen. Zwar stellten auch schon frühere Arbeiten die Frage, weshalb die wirtschaftliche Entwicklung der Neuen Gebiete unterhalb ihres Potenzials verblieb. Die Antworten, welche hier von der meist polnischen Forschung vorgebracht wurden, sind wenig überraschend: – Wegen der Kriegshandlungen und den Demontagen sei die industrielle Grundlage in weiten Teilen zerstört gewesen.9 – Der Mangel an Kapital und Arbeitskräften habe es unmöglich gemacht, das Produktionspotenzial überhaupt zu nutzen.10 – Es habe dem Interesse der Provisorischen Regierung in Lublin widersprochen, dass die neuen polnischen Westgebiete wirtschaftlich allzu erfolgreich waren. 6 Die korrekte Bezeichnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete ist heikel. In Polen wurden sie zunächst als „Wiedergewonnene Gebiete“ („Ziemie Odzyskane“) bezeichnet, später neutral als „Nord- und Westgebiete“ („Ziemie Zachodnie i Północne“) In der Mehrzahl der Fälle werden die Gebiete in dieser Dissertation als „Neue Gebiete“ bezeichnet. 7 Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart (Beck’sche Reihe), 2. vollst. überarb., aktual. u. erw. Neuaufl., München 2011, S. 115 f. 8 Jerzy Kociszewski, Proces integracji gospodarczej ziem zachodnich i północnych z Polska˛ [Der Prozess der wirtschaftlichen Integration der West- und Nordgebiete mit Polen] (Prace naukowe Akademii Ekonomicznej im. Oskara Langego we Wrocławiu, Bd. 816; 130), Breslau 1999, S. 25 f. 9 So z. B. Włodzimierz A. Szymankiewicz, Budownictwo w Okresie Wst˛epnej Odbudowy Kraju [Das Bauwesen im Zeitraum des beginnenden Wiederaufbaus des Landes], in: Bolesław Orłowski/Józef Piłatowicz (Hrsg.), Inz˙ ynierowie w Polsce w XIX i XX wieku, Tom 5 [Ingenieure in Polen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 5], Warschau 1997, 111–155, hier S. 111. 10 Vgl. Zygmunt Kazimierski, Polski przemysł zbrojeniowy w latach 1945–1955 [Die polnische Rüstungsindustrie 1945–1955] (Wyz˙ sza Szkoła Działalno´sci Gospodarczej w Warszawie, Bd. 2), Warschau 2005, S. 104.
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I. Einleitung
– Die polnische Verwaltung der Neuen Gebiete sei damals von den Siedlern als provisorischer Zustand wahrgenommen worden. Daher sei die Bewirtschaftung dieser Gebiete nur „halbherzig“ betrieben worden, ein stärkeres Wachstum habe demnach an der Motivation der Akteure scheitern müssen. Diese Argumente sind jedoch bei näherer Betrachtung nicht zwingend. Das Argument der desaströsen Kriegshandlungen und Demontagen wurde schon auf die BRD und die DDR angewandt. Lindlar listet hier etwa folgende zeitgenössische Belege für die schlechte Ausgangslage Westdeutschlands auf: „verheerende Kriegszerstörungen, Demontagen, (. . . ) der Flüchtlingszustrom aus dem Osten, ein zerrüttetes Währungssystem, Schwarzmärkte, eine allgemeine Knappheit lebensnotwendiger Güter, die Abwesenheit einer handlungsfähigen Regierung und die große Unsicherheit über die politische Zukunft“.11 Freilich schienen all diese Ausgangsbedingungen nicht auszureichen, um das Wirtschaftswunder zu unterbinden. Würde das Argument der hohen Bedeutung materieller Zerstörungen und Ressourcen sowie Demontagen also stimmen, hätten sie sich als langfristiges Hindernis für das wirtschaftliche Wachstum der DDR und der BRD erweisen müssen. Das Gegenteil war jedoch der Fall, wie David Gilgen am Beispiel der DDR hervorhebt: Die Höhe von Reparationsleistungen und das Fernbleiben vom European Recovery Program können „eine verzögerte Wirkung plausibel erklären, nicht jedoch ein Zurückbleiben in langer Sicht.“12 Aukrust geht noch einen Schritt weiter: „We have been aware that the countries which have grown most rapidly during the 1950’s are precisely those who were most severely hit during the war.“13 Somit kann man den Eindruck gewinnen, dass umfangreiche Zerstörungen nicht zu weniger, sondern zu mehr Wachstum führen. Aus der Höhe der Zerstörungen lässt sich daher keine Prognose für das zukünftige Wachstum ableiten. Hinzu kommt, dass die These der umfassenden Zerstörung Polens durch den Krieg nicht mehr uneingeschränkt vertreten wird.14 Und auch das Argument, eine allzu positive wirtschaftliche Entwicklung der ehemaligen deutschen Ostgebiete habe nicht dem politischen Willen der Provisorischen Regierung in Lublin entsprochen, ist nicht haltbar. Es war das erklärte Ziel des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete, die ehemaligen deutschen 11 Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität (Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung, Bd. 77), Tübingen 1997, S. 30. 12 David Gilgen, DDR und BRD im Vergleich. Ausgangslage und Wachstumsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Karl von Delhaes/Wolfgang Quaisser (Hrsg.), Vom Sozialismus zur Marktwirtschaft. Wandlungsprozesse, Erlebnisse und Perspektiven, München 2009, 117–135, hier S. 122. 13 Odd Aukrust, Factors of Economic Development: A Review of Recent Research, in: Weltwirtschaftliches Archiv 93.2 (1964), 23–43, hier S. 30. 14 Dies gilt jedoch nicht für die Frage der Demontagen. Polnische Autoren weisen darauf hin, dass die Vernachlässigung und die Demontagen größere Auswirkungen hatten als die Zerstörungen; vgl. Anna Magierska, Die Anfänge der Organisation der Wirtschaft in den Wiedergewonnenen Gebieten (Februar-September 1945), in: Studia Historiae Oeconomicae 20 (1993), 249–282, hier S. 250 f.
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Ostprovinzen rasch zu ökonomischem Erfolg zu führen.15 Auf diese Weise sollte jeglichen Revisionsansprüchen mit dem Argument begegnet werden können, die wirtschaftliche Integration der Neuen Gebiete sei so weit fortgeschritten, dass eine Abtrennung dieser Gebiete katastrophale Folge haben würde. Der sicherlich unwissenschaftliche Begriff des „Wirtschaftswunders“ hatte zunächst zur Folge, dass die Forschung intensiv nach den Sondereffekten der Nachkriegszeit in der BRD Ausschau hielt. So wurden zunächst externe Faktoren wie die Währungsreform und der Marshallplan für entscheidend gehalten.16 Diese Erklärungsansätze, welche die verschiedenen „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit als einmalig und außergewöhnlich darstellten, konnten jedoch nicht hinreichend überzeugen. Die Wirtschaftstheorie hat an zahlreichen Beispielen zeigen können, dass äußere Schocks wie Naturkatastrophen oder Kriege auf Volkswirtschaften zwar kurzfristig eine lähmende Wirkung entfalten können. Auf lange Sicht jedoch kehren Volkswirtschaften wieder zu ihrem Wachstumspfad zurück.17 Damit nun die „schwachen“ Jahre kompensiert werden, lassen sich nach Schocks Jahre überdurchschnittlichen Wachstums beobachten. In diesem Modell ist ein Wirtschaftswunder kein „Wunder“, sondern – bleibt man bei der Terminologie Harrods – eine „natürliche“ Folge. Die Annahme eines Automatismus’, dem gemäß umfassende Zerstörungen ein Wiedererreichen des früheren Produktionsniveaus verhindern, ist also nicht gerechtfertigt. Hiervon ausgehend, befinden wir uns mit der Frage wieder am Anfang: Warum verzeichnete Niederschlesien gerade in den 50er Jahren so geringe Wachstumsraten? Warum waren in Niederschlesien über 1500 Wirtschaftsbetriebe im Jahre 1953 nicht nutzbar?18 Die in dieser Untersuchung eingenommene Perspektive kann auch helfen, diese Frage zu klären. Die Rekonstruktionsthese selbst soll nicht im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen. Ihre theoretischen Voraussetzungen können jedoch verstehen helfen, weshalb Niederschlesien ein interessantes Untersuchungsobjekt repräsentiert. Die Rekonstruktionstheorie geht von einem bestimmten „Setting“ aus, das eine notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Wiederaufbau ist. Diese ceteris-paribusAnnahme – also die Annahme, dass bis auf die untersuchte Variable alle anderen Variablen konstant bleiben – ist im Fall der BRD und auch der DDR sinnvoll, auf das Niederschlesien der Nachkriegszeit kann sie jedoch nicht ohne Einschränkun15 Martin Krzoska unterstreicht diesen Punkt: „Zentrales Element polnischer Politik nach 1945 war neben der Sicherung der Oder-Neiße-Grenze insbesondere der Wiederaufbau der ,Wiedergewonnenen Gebiete’“; Markus Krzoska, Władysław Gomułka und Deutschland, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43.2 (1994), 174–213, hier S. 179. 16 So z. B. noch 1964 der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt; Knut Borchardt, Die Bundesrepublik Deutschland, in: Karl Häuser/Knut Borchardt (Hrsg.), Deutsche Wirtschaft seit 1870, Tübingen 1964, 253–328, hier S. 253; auch aktuell wird diese Annahme vertreten, so etwa Veronika Heyde, Amerika und die Neuordnung Europas vor dem Marshallplan (1940–1944), in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 58.1 (2010), 115–136, hier S. 115. 17 Vgl. Roy F. Harrod, Towards a Dynamic Economics. Some Recent Developments of Economic Theory and their Application to Policy, London 1948, S. 85 ff. Harrod spricht hier von einer „natürlichen Fortschrittsrate“, die Schocks durch Phasen verstärkten Wachstums ausgleiche. 18 Vgl. AAN PKPG/2840.
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gen angewandt werden. Die ehemaligen deutschen Ostprovinzen unterscheiden sich was ihre Nachkriegsentwicklung angeht deutlich von der BRD und der DDR: Das bedeutendste „Alleinstellungsmerkmal“ der Nachkriegsgeschichte Niederschlesiens wie der gesamten ehemaligen deutschen Ostgebiete war zweifellos die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Mit dem Verlust der arbeitenden deutschen Bevölkerung ging auch das zentrale Mittel für die erfolgreiche Nutzung und Rekonstruktion des Industriepotenzials verloren: „produktionsrelevantes Wissen“. Damit wird eine weitere Forschungslücke überdeutlich: Was ist produktionsrelevantes Wissen? Und auf welche Weise wird es in den Produktionsprozess eingebracht? Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist industrielle Produktion auf wissenschaftliches Wissen angewiesen, wenn sie auf dem Markt bestehen will. Dies gilt für Waren sämtlicher Industriebereiche, etwa die Nahrungsmittelindustrie, die Elektrotechnische Industrie, die Metallindustrie, die Pharmaindustrie, die Textilindustrie und auch für viele andere. Ohne wissenschaftlich produziertes Wissen ist die Herstellung dieser Produkte nicht möglich. So einsichtig dieser Gedanke ist, so schwer ist es, ihn in ein ökonomisches Modell zu fassen, das diesen Punkt ausreichend würdigt. Die Produktionsfunktion etwa spezifiziert den Output, der durch eine bestimmte Menge an Input produziert werden kann. Produktion wird hierbei in erster Linie auf messbare Faktoren wie Energie, Rohstoffe und Maschinen reduziert. Wissenschaftlich produziertes Wissen spielt hier nur insofern eine Rolle, als Technologie als ein konstanter Rahmenfaktor betrachtet wird.19 Auf Grundlage der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist es daher z. B. unternommen worden, die Produktionsfunktion um den „Faktor Wissen“ zu erweitern.20 Damit wird der Eindruck erweckt, dass auch Wissen in kleinen Portionen dem Produkt beigefügt wird. Das individuelle Wissen des einzelnen Facharbeiters, sein „Humankapital“, gerät hier in den Fokus. So ist das sog. human resource accounting ein anerkanntes Teilgebiet des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens.21 Die Bedeutung individueller Wissensbestände für den Gesamtproduktionsprozess innerhalb eines Betriebes ist auch nicht von der Hand zu weisen. Der Ansatz geht jedoch nicht weit genug. So wird in diesem Modell vernachlässigt, dass ein Wissensfragment allein noch keine Funktion hat; die Interdependenz von Wissen spielt hier keine Rolle. Dieses Modell unterstellt vielmehr, dass das Fachwissen einzelner Facharbeiter unabhängig vom Wissen Anderer ist. Diese Untersuchung soll zeigen, dass dieses isolationistische Bild von Beschäftigten unzureichend ist, und die Nachkriegsentwicklung Niederschlesiens kann helfen, dies zu belegen. Hierfür werden unabhängig voneinander zwei Phänomene identifiziert. Die eine Entwicklung betrifft den Bruch in der industriellen Produktion Niederschlesiens nach 1945, also nach dem Übergang Niederschlesiens auf Polen. Hierbei soll gezeigt werden, dass sich die Industrieproduktionsniveaus Nie19 Paul A. Samuelson/William D. Nordhaus, Economics, New York et al. 16 1998, S. 103. 20 Rita Asplund, Introduction and Summary, in: dies. (Hrsg.), Human Capital Creation in an Economic Perspective, Helsinki 1994, 1–9, hier S. 6 f. 21 Henning Laux, Die Fabrikation von Humankapital. Eine praxistheoretische Analyse, in: Berliner Debatte Initial 20.3 (2009), 4–15, hier S. 10.
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derschlesiens von vor und von nach Kriegsende deutlich voneinander unterscheiden. Gleichzeitig werden Versuche der Quantifizierung übernommen – fundierte empirische Analysen lässt die Quellenlage nicht zu –, um die industrielle Gesamtproduktion der Ostprovinz über einen längeren Zeitraum darzustellen. Es lässt sich zeigen, dass man bei der Produktion mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hatte, die sich nicht allein auf „die üblichen Verdächtigen“, also die Kriegszerstörungen und die kommunistische Misswirtschaft, zurückführen lassen. Das zweite Phänomen betrifft die polnische Vertreibungspolitik gegenüber der deutschen Bevölkerung. Durch die Aufwertung des Wissens, über das die deutschen Beschäftigten verfügten, lassen sich verschiedene Aspekte der Vertreibung besser einordnen. Dies betrifft etwa den Politikwandel. War es bis Ende der 40er Jahre Ziel, die Deutschen rasch auszusiedeln, wurden nach 1950 zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Deutschen zum Bleiben zu bewegen und ihre Abwanderung zu unterbinden. Als Motiv für diesen bemerkenswerten Politikwechsel wurde im Fall Niederschlesiens deutlich darauf verwiesen, dass die Verfügung über die Arbeitskraft der deutschen Beschäftigten entscheidend war. Ihr Wissen und ihre Qualifikation wurden hier ausdrücklich genannt. Die Historiographie hat die Bedeutung der deutschen Beschäftigten und den Politikwechsel nach 1950 nicht in Verbindung gebracht. Dass dieser Zusammenhang jedoch besteht, lässt sich zeigen und wird im Rahmen dieser Untersuchung nachgewiesen. Zentrales Ziel dieser Arbeit ist es, diese beiden Phänomene in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen. Hierfür wurde ein makroökonomischer Ansatz gewählt.22 In einer Umgebung, in der produktionsrelevantes Wissen eine wichtige Komponente im Produktionsprozess war, wirkte sich der Verlust der deutschen Beschäftigten deutlich negativ aus. Damit ist an dieser Stelle der Schwachpunkt dieser Arbeit genannt: Der Zusammenhang von Produktionsproblemen und dem Verlust der deutschen Beschäftigten lässt sich durchaus plausibel machen. Er lässt sich jedoch in dieser Arbeit nicht durch einen „Blick in den Betrieb“ beweisen. Hierfür wäre es notwendig, im Anschluss an diese Arbeit eine unternehmenshistorische Untersuchung durchzuführen.23 Auf dieser Grundlage sollen schließlich Rückschlüsse auf das Verhältnis von materiellem und immateriellen Kapital gezogen werden. 22 Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich bei Stefan Kowal, Prof. für Wirtschaftsgeschichte an der Uniwersytet im. Adama Mickiewicza in Posen sowie bei Prof. Dr. J˛edrzej Chumi´nski, ebenfalls Professor für Wirtschaftsgeschichte der Wirtschaftsakademie Breslau. Sie haben beide einschlägig veröffentlicht und mich bei der in Polen ausgesprochen schwierigen Quellenrecherche unterstützt, mir eigene Quellen zur Verfügung gestellt und mir in mehr als einem Fall ansonsten nur schwer erreichbare Literatur zugesandt. Durch ihre Kenntnis der Archivsituation war es mir möglich, aussagekräftige Quellen heranzuziehen. Es geht auch auf ihre Empfehlung zurück, nicht zusätzlich noch mikroökonomisch nutzbare Quellen heranzuziehen, da Ihnen keine bekannt seien und es daher mit unverhältnismäßigen Aufwand verbunden sei, diese zu ermitteln. 23 Dieser Ansatz wurde jedoch bewusst nicht gewählt. Aufgrund der schwierigen Quellenlage hätte sich eine solche Arbeit auf die Unternehmensebene beschränken müssen. Damit ließen sich betriebsinterne Produktionsprobleme sicherlich darlegen. Zusätzlich müsste jedoch der Nachweis erbracht werden, die Probleme im genannten Betrieb ließen sich pars pro toto auf ganz Niederschlesien übertragen. Eine solche Annahme wäre jedoch auch hier nur plausibel darleg-
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Für die Untersuchung muss zunächst ein ein schwieriges Problem gelöst werden. Während die Bedeutung von Wissens- und Informationsnetzwerken verschiedenster Art in zahlreichen Arbeiten unterstrichen wurde24 , wird in der vorliegenden Untersuchung die Frage gestellt, welche Folgen ihr Verlust hat. Es ist daher für die Annahme, dass die Vertreibung auch eine Vertreibung des Wissens war, eine notwendige Voraussetzung, dass Wissen nicht speicherbar ist. Dies auf theoretischer Ebene darzulegen ist Ziel des ersten Kapitels. Hierfür werden verschiedene Kategorien von „Wissen“ unterschieden. Diese Differenzierungen dienen der Beantwortung der Frage, welche Formen von Wissen verschriftlicht und somit materiell gesichert werden können, und bei welchen die Speicherung ausschließlich durch Menschen möglich ist. Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung der Industrie Niederschlesiens nach 1936 bis Kriegsende verfolgt. Die Untersuchung dieses ersten Zeitraums dient zwei Zielen. Zunächst ist es notwendig darzulegen, dass Niederschlesiens Industrie nicht, wie in der Literatur regelmäßig vertreten wird, von nur geringer Bedeutung war. Tatsächlich spielte diese Ostprovinz eine vitale Rolle im deutschen Wirtschaftsgefüge. Damit direkt verbunden ist die sich hieran anschließende Frage, ob Niederschlesien im genannten Zeitraum ein „Beispiel technologischer Rückständigkeit“ war, oder ob es zumindest teilweise den Sprung in die nach-industrielle Wirtschaft geschafft hatte. Ebenfalls wird geprüft, welche Bedeutung „Wissen“ im niederschlesischen Produktionszusammenhang hatte. Das wird unter anderem durch eine Betrachtung des Ausbildungssystems erfolgen. Im sich hieran anschließenden dritten Kapitel werden Brüche und Kontinuitäten in der niederschlesischen Industrieproduktion dargestellt. Die wirtschaftshistorische Forschung ist in dieser Frage noch nicht sehr weit, sämtliche Schätzungen über den Erfolg und den Umfang der niederschlesischen Industrieproduktion stammen aus den 50er und 60er Jahren. In den 90er und 2000er Jahren kamen einige Publikationen hinzu, die die Schätzungen der Nachkriegszeit in einem anderen Licht erscheinen lassen. Jedoch wurden diese Relativierungen nicht durch Neuberechnungen ergänzt. In der vorliegenden Untersuchung werden diese Lücken im Rahmen dessen, was die Quellen erlauben, aufgefüllt. Hierfür werden insbesondere Statistiken jeweils aus Polen und dem Deutschen Reich herangezogen, um mittels aussagekräftiger Indikatoren – unter anderem Beschäftigte, Anteil der jeweiligen Industriebranche an der Gesamtproduktion, Stromproduktion – zu plausiblen Ergebnissen zu gelangen. Im vierten und letzten Sachkapitel rückt die Vertreibungspolitik ins Zentrum der Analyse. Eine der Leitfragen wird hierbei sein, welche Bedeutung ökonomische Gesichtspunkte bei der Vertreibungspolitik hatten, mithin verschiedene Akbar, aber nicht beweisbar, so dass auch diese Argumentationskette eine erkennbare Schwäche hätte. 24 Hier sind zahlreiche Beispiele zu nennen, etwa Johannes Fried/Michael Stolleis (Hrsg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, Frankfurt am Main 2009; Adelheid von Saldern, Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der SchoellerHäuser (Beiträge zur Unternehmensgeschichte, Bd. 29), Stuttgart 2009.
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teure auf polnischer Seite ein Interesse daran hatten, deutsche Beschäftigte vor der Aussiedlung zu schützen. Die Aufdeckung der jeweiligen Motivlagen dient der Beantwortung der Frage, weshalb es etwa nach 1950 zur bereits angesprochenen Zäsur in der Aussiedlungspolitik der polnischen Zentralbehörden in Warschau kam. Die Quellen legen nahe, dass wirtschaftliche Gründe – und nicht wie bisher behauptet Politische – im Vordergrund standen. Abschließend werden auf der Grundlage der Beobachtungen Rückschlüsse auf das Verhältnis von Beschäftigten und Produktionsmitteln im Produktionsprozess gezogen. Diesem Vorhaben sind – das kann an dieser Stelle vorweggenommen werden – Grenzen gesetzt. Die Quellen zeigen, dass die Produktion in zahlreichen Fällen von deutschen Beschäftigten abhängig war. Es wird jedoch nicht möglich sein, empirisch die makroökonomischen Produktionseinbußen zu messen, die aus der Vertreibung der deutschen Bevölkerung resultierten. Vielmehr soll es gelingen, einen Zusammenhang von Wissensverlust und Produktionsproblemen plausibel herzuleiten. Von einer Erläuterung der Forschungs- und Quellenlage wird an dieser Stelle der Arbeit abgesehen. Die Kapitel beschäftigen sich mit jeweils sehr unterschiedlichen Themenbereichen. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Schlesien nur sehr wenige wissenschaftliche Arbeiten gibt, die einen Untersuchungszeitraum abdecken, der vor dem Zweiten Weltkrieg beginnt und weit über das Kriegsende hinausgeht. Die Quellenlage und die Forschungsstände, die über den geschilderten Kontext hinausgehen, werden daher jeweils zu Beginn des entsprechenden Kapitels erläutert.
II. ZUM VERHÄLTNIS VON WISSENSCHAFTLICH PRODUZIERTEM WISSEN UND INDUSTRIELLER PRODUKTION 1. PROBLEMSTELLUNG In einer wirtschaftshistorischen Arbeit nach dem Zusammenhang von industrieller Produktion und Wissen zu fragen könnte auf den ersten Blick wirken als trage man „Eulen nach Athen“. Es gilt als Gemeinplatz, dass die in entwickelten kapitalistischen Staaten verorteten Industrien in hohem Maße von Wissen abhängig sind. Wissen ist seit den 1870er Jahren ein Produktionsmittel, das eine zentrale Bedeutung erlangt hat.1 Douglass North hält diese „Ehe von Wissenschaft und Wirtschaft“ für so bedeutend, dass er sie für eine säkulare „wirtschaftliche Revolution“ verantwortlich macht.2 Damit korreliert, dass Anfang der 1870er Jahre unter anderem im Deutschen Kaiserreich ein Wirtschaftswachstum einsetzte, dessen Entwicklung bis heute prägend ist und immer noch andauert.3 Hiermit ist die Frage verbunden, ob der Begriff „industrielle Produktion“ tatsächlich zeitgemäß ist. Industrie ist „industrielle, in Fabriken unter Nutzung von Maschinen konzentrierte Produktion“, die „nicht in einem größeren Spektrum von Gewerbezweigen oder Gewerberegionen [beginnt], vielmehr in wenigen Zentren“.4 Diese Fokussierung auf konzentriertes Kapital, wie sie große Produktionszentren darstellen, ist für die Mitte des 20. Jahrhunderts unzureichend. Die Verwissenschaftlichung der Produktion leitete eine neue Phase von Industrieproduktion ein, bei dem die „systematische Anwendung von Wissenschaft in der Technikentwicklung“ eine
1 So spricht Johannes Abele von einer „starken Tradition der Verwissenschaftlichung von Technik“, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eingesetzt habe; vgl. Johannes Abele, Innovationen, Fortschritt und Geschichte. Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 19), Köln 2001, 9–19, hier S. 13; ähnlich Martin Carrier/ Wolfgang Krohn/Peter Weingart, Historische Entwicklungen der Wissensordnung und ihre gegenwärtigen Probleme, in: dies. (Hrsg.), Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Analysen zur Veränderung der Wissenschaft, Weilerswist 2007, S. 11. 2 Douglass C. North, Structure and Change in Economic History, New York/London 1981, S. 172. 3 Reinhard Spree, Wachstum, in: Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996, 137–156, hier S. 139. 4 Dietmar Petzina, Wirtschaftsstruktur und Strukturwandel: Industrie und Handwerk, in: Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996, 217–229, hier S. 221.
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entscheidende Rolle spielte.5 Ob es sich hierbei um einen „revolutionären“6 Wandel handelt oder lediglich um einen „leichten Kurswechsel“7 kann hier nicht geklärt werden, führt jedoch analytisch auch nur bedingt weiter. Dass seit den 1870er Jahren industrielle – also auf konzentriertem Kapital basierende – Produktion in hohem Maße auf wissenschaftlich produziertes Wissen angewiesen ist, ist weitgehend unbestritten. Die Beschreibung dieser Produktion als „nach-industriell“8 macht jedoch deutlich, dass Kapitalkonzentration allein nicht mehr als hinreichend betrachtet werden kann.9 Erweist sich diese These der hohen Bedeutung von Wissen im industriellen Produktionsprozess bei oberflächlicher Betrachtung als überzeugend, zeigen sich bei genauerer Betrachtung einige Schwierigkeiten. So ist es überraschenderweise ein Problem, eine überzeugende Antwort auf die Frage zu finden, worum es sich bei wirtschaftlich relevantem Wissen genau handelt. Um die Folgen der Trennung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln untersuchen zu können, ist ein solches Modell jedoch wichtig. In einem ersten Schritt werden die verschiedenen Kategorien von Wissen daher genauer untersucht und ein Modell erarbeitet. Unter anderem auf dieser Grundlage kann eine Neubewertung der Entwicklung der niederschlesischen Industrie unternommen werden. Hiervor wird das Wissensmodell den Erklärungsmustern für die „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg gegenübergestellt. Dies bietet sich an, da diese Ansätze teilweise denselben Zeitraum behandeln und sich durch einen Abgleich überprüfen lässt, ob das Wissensmodell eine Theorielücke schließt oder mit den Ansätzen in Widerspruch steht. Hierbei wird auch die Frage verfolgt, welche Kategorien von Wissen materiell gespeichert werden können. Die Notwendigkeit ihrer Beantwortung resultiert aus der Natur dieser Untersuchung. Es ist von Bedeutung, wie dauerhaft der Verlust von Wissen ist. Wenn Menschen, die über bestimmtes Wissen verfügen, nicht mehr zur Verfügung stehen – wie es nach der Vertreibung der Fall war –, kann es theoretisch trotzdem möglich sein, das verlorene Wissen zu ersetzen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass seine Speicherung möglich ist. Dieser Frage wird sich diese Arbeit in einem späteren Kapitel widmen. In einem letzten Schritt wird auf einer abstrakten Ebene erläutert, wie sich gemäß dem Modell das Fehlen von Wissen auf makroökonomischer Ebene auf das Produktionsniveau auswirkt.
5 Richard Tilly, Industrialisierung als historischer Prozess, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), http://nbn-resolving.de/urn:nbn: de:0159-20101025166 (besucht am 30. 12. 2010), Abs. 16. 6 North, Structure and Change (wie Anm. 2, S. 25), S. 171. 7 Tilly, Industrialisierung als historischer Prozess, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG) (wie Anm. 5), Abs. 16. 8 Werner Abelshauser, Die Stärken des deutschen Modells – und der Erfolg des Facharbeiters (Serie: Wie wir reich wurden 41), in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 11.07.2010, S. 42. 9 Erschwerend kommt hinzu, dass Begriffe wie „Finanzindustrie“ oder „Tourismusindustrie“, bei denen der Aspekt der Produktion höchstens eine marginale Rolle spielt, die begriffliche Unschärfe noch verstärken.
2. Wissen als wirtschaftstheoretisches Problem
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2. WISSEN ALS WIRTSCHAFTSTHEORETISCHES PROBLEM Eine der Herausforderungen, denen die Methodik dieser Arbeit gerecht werden muss, ist die Heranziehung eines geeigneten Ansatzes, mit dem es möglich ist, die Bedeutung von Wissen für die Industrie Niederschlesiens während des Zeitraums von 1936 bis 1956 zu untersuchen. Daher soll zunächst in diesem Kapitel unter Berücksichtigung bereits existierender Konzepte ein entsprechendes Modell erarbeitet werden. Dieses ist notwendig, um im Anschluss daran überprüfbare Hypothesen zu formulieren. Die Wirtschaftstheorie kennt durchaus Ansätze, den Produktionsfaktor Wissen zu integrieren. In der Mehrzahl der Fälle wird ökonomisch relevantes Wissen als individuelles Vermögen eines einzelnen Facharbeiters betrachtet. Diese Herangehensweise eignet sich für unternehmenshistorische Analysen, die sich auf der mikroökonomischen Ebene abspielen. Dieser Ansatz deckt sich mit der Herangehensweise der Bildungsökonomie, die Bildung bzw. den Erwerb von Wissen, als „Investition in Humankapital“, also dem individuellen Vermögen eines Einzelnen, betrachtet.10 Für eine Untersuchung auf der makroökonomischen Ebene ist dieser Ansatz jedoch unzureichend, da er sich nicht dazu eignet, das vorhandene „Wissen“ differenziert zu analysieren. Er erlaubt zwar, beispielsweise seinen „Geldwert“ zu messen, etwa durch eine Erhebung der Kosten für Ausbildung und Qualifikation. Er ist jedoch nicht ertragreich, wenn verschiedene Arten von Wissen untersucht werden sollen. Der Durchbruch wissenschaftlich produzierten Wissens im Produktionsprozess brachte tiefgreifende Veränderungen mit sich, die die Wirtschaftstheorie vor einige Herausforderungen stellte und bis heute stellt. Ein Zusammenhang zwischen Wachstum auf der einen und dem Produktionsfaktor „Wissen“ auf der anderen Seite wird in der Wachstumstheorie vorausgesetzt. Das Standardwerk „Economics“ von Samuelson und Nordhaus listet als Antriebskräfte für das Wachstum einer Volkswirtschaft unter anderem das Ausbildungs- und Entwicklungsniveau der Arbeitskraft, Sozialkapital11 und die Qualität von wissenschaftlichem und Ingenieurs-Wissen auf.12 Diese Faktoren werden verschiedenen Bereichen zugewiesen. Das Ausbildungs- und Entwicklungsniveau der Bevölkerung wird den Humanressourcen zugeordnet, das sog. Sozialkapital betrachten sie als Teil des vorhandenen allgemeinen Kapitalbestands, das Forschungs- und Ingenieurs-Wissens als Teil der Technologie. Durch diese Kategorisierung wird Wissen in verschiedene Einzelaspekte zerlegt, wodurch sich dieser Ansatz als theoretischer Ausgangspunkt zur Untersuchung der Evolution einzelner Bereiche in einer Volkswirtschaft eignet. Der einzelne Beschäftigte, der in dieser Untersuchung im Fokus steht, wird als „Träger“ von Wissen nicht problematisiert. Die Samuelson’sche Kategorisierung lässt sich daher nur sehr ein10 Vgl. Friedrich Edding, Bildung, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. 2. Bildung bis Finanzausgleich; zugleich Neuauflage des „Handwörterbuchs der Sozialwissenschaften“, Stuttgart 1980, 1–46, hier S. 4. 11 Der Begriff „social capital“ wurde bewusst mit „Sozialkapital“ übersetzt, um ihn deutlich vom Begriff des „sozialen Kapitals“ des französischen Soziologen Pierre Bourdieu abzugrenzen. 12 Samuelson/Nordhaus, Economics (wie Anm. 19, S. 20), S. 521.
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II. Wissenschaftlich produziertes Wissen und industrielle Produktion
geschränkt für diese Untersuchung heranziehen. Ihr Wert besteht in erster Linie darin, dass sie implizit unterstreicht, dass sich Wissen auf verschiedene Bereiche auswirkt und daher nicht einfach als unabhängige Variable isoliert werden kann. Das „Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft“ kennt weder die Begriffe „Wissen“, „Wissenschaft“ noch „Humankapital“. Nur der Begriff „Bildung“ wird von diesem Standardwerk abgedeckt, wobei Bildung, wie bereits erwähnt, als „Investition in Humankapital“ betrachtet wird.13 Auch hier wird somit Wissen als individuelles Vermögen eines Einzelnen klassifiziert. Messbar wird es dadurch, dass es zu einer Steigerung des wirtschaftlichen Outputs beiträgt, wodurch sich die Investition in Humankapital rentiert. Bertram Schefold, der 2009 im Sammelband „Wissenskulturen“ einen Beitrag mit dem Titel „Wissen als ökonomisches Gut“ verfasste, betrachtet Wissen ebenfalls als etwas, was „oft als an Personen gebunden“ erscheint. Auch hier existiert Wissen nur als individuelles Gut.14 Interdependenzen von Wissen oder Wissensnetzwerken spielen in der Wirtschaftstheorie mithin nur selten eine Rolle, in anderen Wissenschaftszweigen jedoch sehr wohl. Die Entwicklung von Begriffen wie „Wissensgesellschaft“15 , „Innovationskulturen“16 oder „Cluster“17 , also regional begrenzten Industriedistrikten, lassen sich auch als Versuch interpretieren, die Bedeutung von Wissen in einen Kontext einzubetten, der die Ebene des einzelnen Wissensarbeiters verlässt und Gruppen in die Analyse einbezieht. Michael Porter beispielsweise hebt hervor, dass Cluster in erster Linie aus miteinander verbundenen Unternehmen und Firmen bestehen. Die Metapher der „komplementären Beziehungen“18 impliziert dabei eine Interdependenz des Wissens, deren sachliche Begründung noch aussteht. Für diese Arbeit ist es notwendig, ein Wachstumsmodell zur Verfügung zu haben, welches drei Bedingungen erfüllt. Es muss erstens in der Lage sein, das – noch zu konkretisierende – Produktionsmittel „Wissen“ nicht nur als externen Faktor zu akzeptieren, sondern dieses Element ins Zentrum zu stellen. Zweitens muss es sich auf die Epoche des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach 1945 anwenden lassen. Das ist wichtig, weil die hier untersuchte Rekonstruktionsperiode, als die man Phasen wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach externen ökonomischen Schocks auch bezeichnet, in eine Zeit fällt, in der wissenschaftlich produziertes Wissen von entscheidender Bedeutung ist. Drittens muss es geeignet sein, einzelne „Wissens13 Vgl. Edding, Bildung (wie Anm. 10, S. 27), S. 4. 14 Vgl. Bertram Schefold, Wissen als ökonomisches Gut, in: Johannes Fried/Michael Stolleis (Hrsg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, Frankfurt am Main 2009, 79–102, hier S. 94 ff. 15 Vgl. Martin Carrier/Wolfgang Krohn/Peter Weingart (Hrsg.), Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Analysen zur Veränderung der Wissenschaft, Weilerswist 2007. 16 Vgl. Johannes Abele (Hrsg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 19), Köln 2001. 17 Michael E. Porter, Locations, Clusters and Company Strategy, in: Gordon L. Clark/Meric S. Gertler/Maryann P. Feldman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Economic Geography (Oxford Handbooks in Economics), New York 2000, 253–274. 18 Ebd., S. 254.
3. Wissen, Hauptinput für industrielle Produktion?
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fragmente“ nicht nur isoliert zu betrachten, sondern zu berücksichtigten, dass diese in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Mit einem solchen Modell kann auf makroökonomischer Ebene das Verhältnis von Wissen und Industrieproduktion genauer untersucht werden. 3. WISSEN, HAUPTINPUT FÜR INDUSTRIELLE PRODUKTION? 3.1. Annäherung an ein Wissensmodell: Die drei Formen des Wissens Wie bereits erwähnt wurde, tut sich die Wirtschaftswissenschaft mit dem Begriff „Wissen“ schwer, auch wenn es zahlreiche Ansätze gibt, ihn zu integrieren. Dennoch besitzt Walter Krugs Feststellung aus dem Jahre 1967 weiterhin Aktualität, der gemäß das „immaterielle Kapital“ – also in erster Linie Wissen – ein Schattendasein friste.19 Bisher entstandene Ansätze sind nicht immer überzeugend. Die vorherrschende Auffassung, Wissen sei im Individuum befindliches ökonomisch verwertbares Kapital, ist in sich bereits unvollständig, und sie ist unzureichend. Sie ist unvollständig, weil es eine interhumane Wissensebene gibt, die von dieser Theorie außer Acht gelassen wird; unzureichend, weil für ein umfassendes Verständnis von Wissen auch das „im Menschen befindliche“ Wissen in zwei Kategorien unterteilt werden muss. Diese Untergruppen sollen in den folgenden Abschnitten weiter beleuchtet werden. Für einen systematischen Zugriff bietet sich der Ansatz von Richard Nelson an. Er unterscheidet in Bezug auf wirtschaftlich relevantes Wissen folgende Kategorien20 : 1. Ausbildungswissen: Die erste Form von Wissen bezeichnet dasjenige Wissen, das in einer Ausbildung oder in einem Studium erworben werden kann. Es ist standardisiert, so dass im Idealfall jede neu ausgebildete Fachkraft über dasselbe Wissen verfügt. 2. Erfahrungswissen: Die zweite Form des Wissens wird auch als „tacit knowledge“21 bezeichnet. Dieses Wissen umfasst in erster Linie Erfahrungswissen, das zum Ausüben der zu erlernenden Tätigkeit notwendig ist. Ein Beispiel ist das Erlernen eines Musikinstruments, bei dem ein bedeutender Teil des zum spielen notwendigen Wissens nur über Übung erworben werden kann. 3. „Wissensnetzwerke“: Die dritte Form betrifft Gruppen übergreifendes Wissen. Hierbei sind es nicht mehr die „Wissensarbeiter“ selbst, die im Zentrum 19 Walter Krug, Quantitative Beziehungen zwischen materiellem und immateriellem Kapital, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 180 (1967), 36–71, hier S. 36. 20 Vgl. Richard R. Nelson, On the uneven evolution of human know-how, in: ISERP WorkingPaper 3.25 (2003), 1–38, hier S. 3 ff. 21 Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension (A Doubleday Anchor book, Bd. 540), New York 1967.
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II. Wissenschaftlich produziertes Wissen und industrielle Produktion
der Analyse stehen. Der Fokus wird vielmehr auf die Interdependenzen und Kooperationsmechanismen gerichtet.22 Wissen war für die Produktion schon immer von hoher Bedeutung. Die Arbeitsteilung bringt es mit sich, dass sich „Experten“ herausbilden, die sich auf eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren. Dass dieser Experte ebenfalls Wissen – sowohl Ausbildungswissen als auch Erfahrungswissen – akkumuliert, ist evident. Zusätzlich kennt dieser „Experte“ den Gesamtablauf des Produktionsprozesses, an dem er selbst beteiligt ist. Dies bedeutet nicht, dass er selbst alle Schritte beherrscht, er besitzt jedoch ein zumindest rudimentäres Wissen über die einzelnen Produktionsschritte. Das ist schon deswegen notwendig, weil sich Änderungen im Produktionsablauf mindestens indirekt auch auf ihn auswirken können. Dieser Gedankengang soll dazu dienen anzudeuten, welche Bedeutung dieses Wissen in einer arbeitsteiligen Produktionskette hat. Dies deckt sich mit der Beobachtung von Jean Lhomme, der darauf hinweist, dass das Wissen des Einzelnen und das Wissen der Gruppe gleichermaßen wichtig seien.23 Zusätzlich hat sich Ende des 19. Jahrhunderts die Relevanz von wissenschaftlich produziertem Wissen infolge der Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft noch einmal deutlich erhöht. Die makroökonomischen Erscheinungsformen von Wissen methodisch zu erfassen ist die komplexeste Herausforderung dieser Untersuchung. In der Literatur zur Wissenstheorie wird nur selten die mikroökonomische Ebene von der makroökonomischen unterschieden. Zwar geschieht dies häufig implizit, explizit wird diese Differenzierung nur in sehr wenigen Fällen vorgenommen. Betrachtet man die bisherige Forschung zum Humankapital, dominiert klar die betriebliche Ebene: Ein Facharbeiter wird ausgebildet, damit er sein individuelles Wissen rentabel einsetzen kann. Fortbildungen dienen dazu, Einzelne mit mehr Wissen auszustatten und ihre Produktivität zu erhöhen. Die Bildungsökonomie beispielsweise verfolgt das Ziel, einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Bevölkerung und dem hieraus resultierenden wirtschaftlichen Ertrag herzustellen. Das mag der Grund dafür sein, dass die Wirtschaftstheorie den Begriff Humankapital nicht scharf von Begriffen wie Ausbildung getrennt hat.24 Die Tatsache, dass wissenschaftlich produziertes Wissen seit den 1870er Jahren die ökonomische Entwicklung zahlreicher Staaten entscheidend prägte, bedeutet jedoch nicht, dass ihre jeweilige Entwicklung in jedem Fall miteinander vergleichbar sei. Im Gegenteil haben sich die Staaten jeweils auf verschiedene Branchen 22 Zahlreiche verschiedene wissenschaftliche Veröffentlichungen beschäftigen sich mit dieser Problematik. Eine der aktuellsten Veröffentlichungen erschien kürzlich im Zusammenhang des Forschungskollegs 435 der Deutschen Forschungsgemeinschaft; vgl. Fried/Stolleis (Hrsg.), Wissenskulturen (wie Anm. 24, S. 22). Auch die „Nachrichten aus der Wissensgesellschaft“ versuchen, Wissensordnungen methodisch zu erfassen; vgl. Carrier/Krohn/Weingart (Hrsg.), Nachrichten aus der Wissensgesellschaft (wie Anm. 15, S. 28). 23 Jean Lhomme, Pour une sociologie de la connaissance économique [Für eine Soziologie des wirtschaftlichen Wissens] (Nouvelle bibliothèque scientifique), Paris 1974, S. 51. 24 Vgl. Edding, Bildung (wie Anm. 10, S. 27), S. 1.
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und Industriezweige spezialisiert.25 Dass verschiedene Volkswirtschaften mit verschiedenen Institutionen auch verschiedene Fähigkeiten hervorbringen, hat die wirtschaftshistorische Forschung an unterschiedlichen Stellen nachgewiesen.26 Dies hat Rückwirkungen auf die makroökonomische Wissensebene. Ein gewinnbringendes Wissensnetzwerkmodell muss in der Lage sein, diese Spezifika zu berücksichtigen. Die methodische Erfassung von auf der Makroebene angesiedeltem Wissen ist jedoch bisher nur unzureichend gelungen. Zwar gibt es soziologische Ansätze, die einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten können, doch diese sind für die vorliegende Untersuchung nur bedingt hilfreich. Ein Beispiel ist die Innovationstheorie. Ihr Ziel ist es, zu erklären, unter welchen Bedingungen es zu technologischem Wandel kommt, von welchen Faktoren er beeinflusst wird und über welche Kommunikationswege die Innovation ihren Weg in den Produktionsprozess findet. Ausgehend von der Annahme, dass Innovationen nur dann erfolgreich verbreitet werden können, wenn sie auf einer funktionierenden Wissensinfrastruktur aufbauen können, listet der Soziologe Johannes Weyer verschiedene Ansätze aus der Innovationstheorie auf, um den Mechanismus aufzuschlüsseln.27 Exemplarisch ist das von Tushman und Rosenkopf entwickelte „Modell der sozialen Evolution von Technik“.28 In diesem Modell werden Ingenieur-Communities und Paradigmen in den Mittelpunkt gestellt. Die Autoren betrachten technischen Wandel als einen sich regelmäßig wiederholenden evolutionären Prozess. Ausgehend von einem vierstufigen Zyklus kommt es hier zunächst (1) zu einer technologischen Diskontinuität, womit eine wichtige technologische Erfindung gemeint ist. Dieser (2) folgt eine Ära der Reifung. Nach der Etablierung dominanter Designs (3) kommt eine Zeit allmählichen Wandels (4). Bei Auftreten einer neuen „bahnbrechenden Erfindung“ beginnt dieser Zyklus von vorne. Die Annahme einer „sozialen Evolution“ zeigt deutlich, dass in diesem Ansatz die betriebliche und somit mikroökonomische Ebene verlassen wird zuguns25 Genauer hierzu etwa Peter A. Hall/David Soskice, Introduction to Varieties of Capitalism, in: dies. (Hrsg.), Varieties of capitalism. The institutional foundations of comparative advantage, Oxford 2 2004, 1–68. 26 Hierzu existiert bereits ein umfangreiches Schrifttum, so etwa: Werner Abelshauser, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung (Kulturwissenschaftliche Interventionen, Bd. 4), Berlin 2003; Peter A. Hall/David Soskice (Hrsg.), Varieties of capitalism. The institutional foundations of comparative advantage, Oxford 2 2004; J. Rogers Hollingsworth, Continuties and Changes in Social Systems of Production: The Cases of Japan, Germany and the United States, in: J. Rogers Hollingsworth/Robert Boyer (Hrsg.), Contemporary Capitalism. The Embededness of Institutions, Cambridge 1997, 265–310; Werner Abelshauser/David A. Gilgen/Andreas Leutzsch (Hrsg.), Kulturen der Weltwirtschaft (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft), Göttingen 2012. 27 Vgl. Johannes Weyer, Konturen einer netzwerktheoretischen Netzwerksoziologie, in: Johannes Weyer u. a. (Hrsg.), Technik, die Gesellschaft schafft. Soziale Netzwerke und Technikgenese am Beispiel von Airbus, Astra-Satellit, Personal Computer und Transrapid, Bielefeld 1997, 7–40, hier S. 8. 28 Vgl. Michael L. Tushman/Lori Rosenkopf, Organizational Determants of Technological Change: Towards a Sociology of Technical Evolution, in: Research in Organizational Behaviour 14 (1992), 311–347, hier S. 316 ff.
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ten eines Versuchs, den sozialen Kontext bei der Entstehung von Innovationen in Untersuchungen miteinbeziehen zu können. Dies liegt an der Zielsetzung der Innovationsforschung. Sie will ermitteln, weshalb sich moderne Technologien in einer bestimmten Umgebung entwickeln und durchsetzen, während andere scheitern.29 Reinhold Bauer beispielsweise versucht in seiner Untersuchung gescheiterter Innovationen, ex negativo den Bedingungen für erfolgreiche technologische Neuerungen näher zu kommen.30 Somit liegt hier eine Konzentration auf bestimmte Technologien vor, so etwa jenen vom Dampfantrieb über den Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb.31 Tatsächlich sind zahlreiche soziologische Ansätze von der Zielsetzung geprägt, technischen Wandel zu untersuchen. Der Gewinn dieser Ansätze liegt darin, dass sie Wissen nicht mehr ausschließlich „in den Köpfen der Facharbeiter und Wissenschaftler“ verorten, sondern deutlich machen, dass Wissensarbeiter in einen sozialen Kontext eingebettet sein müssen, damit sie ihre Produktivität entfalten können. Die teilweise Verortung des Wissens in einen sozialen Kontext hat aber auch zur Folge, dass es sich tendenziell dem analytischen Zugriff entzieht. Wissen innerhalb des „Kopfes eines Wissensarbeiters“ oder innerhalb eines Betriebs lässt sich methodisch leichter erfassen als Wissen in einem „sozialen Kontext“. Martin Heidenreich versucht dieses Problem zu lösen, indem er „organisatorische Felder“ diagnostiziert, innerhalb derer dieses Wissen gespeichert ist. Beispiele hierfür sind Branchen, regionale Industriedistrikte oder „großtechnische Systeme“, also „Organisationen, Berufsbilder, Gesetze, wissenschaftliche Einrichtungen und Ausbildungsstätten, die um die Entwicklung und Nutzung einer gemeinsamen Technologie zentriert sind“.32 Auch hier wird betont, dass „Humankapital“, also individuelles Wissen, notwendige Bedingung für die Produktion nachgefragter Produkte sei, aber noch keine hinreichende.33 Für die vorliegende Untersuchung hat dieser Ansatz zwar den Nachteil, dass er ausschließlich dann herangezogen werden kann, wenn einzelne Branchen oder Industriezweige untersucht werden müssen. Er verdeutlicht jedoch, dass Wissen nur dann sinnvoll untersucht werden kann, wenn das „komplexe Wechselspiel ,zwischen’ Wissenschaft, Wirtschaft und Politik“ berücksichtigt wird.34 Die Betonung der Wissenschaft ist eine Folge dessen, dass sich Heidenreich vorrangig für den Entstehungsprozess von Innovationen interessiert. Die vorliegende Untersuchung widmet sich jedoch nicht in erster Linie der Befähigung zur Entwicklung von Innovationen, sondern der Befähigung zur Weiterführung und Aufrechterhaltung industrieller Produktion. Dass auch hierfür Wissen notwendig ist, ist zwar evident. Dass Wissensnetzwerke jedoch nicht erst im dyna29 Johannes Weyer, Techniksoziologie. Genese, Gestaltung und Steuerung sozio-technischer Systeme (Grundlagentexte Soziologie), Weinheim 2008, S. 157 ff. 30 Reinhold Bauer, Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel (Campus-Forschung, Bd. 893), Frankfurt am Main 2006, S. 289 ff. 31 Vgl. Weyer, Techniksoziologie (wie Anm. 29), S. 165. 32 Martin Heidenreich, Die soziale Strukturierung technischen Wissens, in: Günter Clar/Julia Doré (Hrsg.), Humankapital und Wissen, Heidelberg/Berlin 1997, 63–86, hier S. 74. 33 Ebd., S. 63. 34 Ebd.
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mischen Innovationsprozess, sondern schon im – was die technische Entwicklung betrifft – statischen Produktionsprozess eine wichtige Rolle spielen, ist eine entscheidende Erkenntnis, wenn die Rolle von Wissen in einem Herstellungsprozess untersucht werden soll. Ein Angebot für ein solches statisches Modell macht der Informatiker Ole Hanseth in seinem Aufsatz „Knowledge as infrastructure“.35 Auch er geht von individuellem Wissen aus. Hierbei greift er die beiden Arten individuellen Wissens – also Ausbildungswissen und Tacit Knowledge – auf und fügt ihnen eine weitere Eigenschaft hinzu: „Individual pieces of knowledge are not independent of each other.“36 Hanseth unterstreicht hier den Umstand, dass einzelne Wissensfragmente zunächst nur einen geringen Wert haben. Wenn jedoch eine Gruppe von Menschen komplementäres Wissen besitze, so steigere sich der Wert jedes einzelnen Wissensfragmentes bedeutend. Hanseth hat dieses Modell in erster Linie auf eine Gruppe von Menschen angewandt. Dieses Modell hat jedoch weit mehr Potenzial. Man kann es beispielsweise auch auf Industriedistrikte anwenden. Am Beispiel eines solchen Clusters kann mittels des Modells gut veranschaulicht werden, welche Bedeutung die Verflechtung der einzelnen Wissensarbeiter hat: Ein Einzelner bzw. ein einzelner Betrieb hat die Fähigkeit, Motoren für Fahrzeuge herzustellen. In einer Umgebung, in der sämtliche Produktionszyklen nicht auf dieses Zwischenprodukt angewiesen sind – beispielsweise in der Pharmaindustrie –, ist diese Fähigkeit überflüssig. Diese Fähigkeit wird erst nutzbar, wenn Akteure hinzukommen, die die übrigen Komponenten für den PKW produzieren, auf die sie sich spezialisiert haben. Das scheint auf den ersten Blick banal. Dieses Gedankenspiel macht jedoch Eines ganz deutlich: Erst die komplementären, also einander vervollständigenden Wissens-Einzelteile, die wiederum auf einzelnen einander ergänzenden Wissensbeständen basieren, ermöglichen die Herstellung eines vollständigen Autos. Der „Wert des Produktionsmittels Wissen“ hängt also sehr stark von seiner Umgebung ab. Es wird erst dann nutzbar, wenn es eine Gruppe von Facharbeitern gibt, die das komplementäre Wissen besitzt.37 Und erst, wenn eine Gruppe von Beschäftigten komplementäres Wissen besitzt, bilden sie ein Wissensnetzwerk. Hanseths Netzwerk-Wissen-Theorie basiert auf zwei Annahmen: 1. Individuelle „Wissensteile“ stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander und sind interdependent. 2. Das Wissen verschiedener Individuen ist durch gemeinsame Schnittmengen 35 Ole Hanseth, Knowledge as Infrastructure, in: Chrisanthi Avgerou (Hrsg.), The Social Study of Information and Communication Technology. Innovation, Actors and Contexts, Oxford 2005, 103–118. 36 Ebd., S. 104. 37 Diese Interdependenz besitzt Ähnlichkeiten mit dem Konzept des „Collective Mind“. Weick und Roberts beziehen sich hierbei am Beispiel eines Flughafens auf Denkkollektive, bei denen die Handlungen und Entscheidungen Einzelner starke Rückwirkung auf die Gruppe haben; vgl. Karl E. Weick/Karlene H. Roberts, Collective Minds in Organizations: Heedful Interrelating on Flight Decks, in: Administrative Science Quarterly 38.3 (1993), 357–381, hier S. 360.
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im Wissens- und Erfahrungsbestand miteinander verkoppelt. Dieses gemeinsame Wissen ist in Routinen und Praktiken integriert. Entsprechend sind diese Individuen, Routinen und Praktiken miteinander verbunden und werden interdependent. Es gibt also einen Wissensbestand, der den Wissensarbeitern gemein ist. Damit lässt sich das individuelle Wissen in zwei voneinander zu unterscheidende Arten unterteilen. Neben dem individuellen Wissen, das der Wissensarbeiter für seine eigene Tätigkeit benötigt, gibt es ein „Schnittmengenwissen“. Dieses besteht wiederum aus zwei Komponenten. Im einen Fall handelt es sich um gemeinsame Standards, über die sämtliche Wissensarbeiter einer gemeinsamen Branche verfügen. Diese sind Teil des Ausbildungswissens. Diese Vernetzung definiert Hanseth als standardisiertes Netzwerk mit folgenden Eigenschaften. Es ist (1) schwer zu verändern, (2) unsichtbar und (3) eine gemeinsame Ressource für eine Vielzahl von Menschen. Diese Qualitäten verleihen dem Netzwerk eine besondere Stabilität.38 Zur branchenspezifischen Standardisierung der Wissensarbeiter kommt ihr Wissen übereinander. Ein Facharbeiter beispielsweise kennt seine Rolle im Rahmen eines Produktionsprozesses. Zusätzlich weiß er, welche Rolle die anderen ausfüllen und über welche Fähigkeiten sie verfügen.39 Deren Fähigkeiten entsprechen zwar nicht seinen eigenen, doch ist ihm bekannt, welche Aufgabe andere im Rahmen des Produktionsprozesses erfüllen. Durch seine individuellen Fähigkeiten – sein Humankapital – erfüllt also der einzelne Wissensarbeiter auf der Grundlage eines gemeinsamen Standards seine Aufgabe im Produktionszusammenhang. Zusätzlich weiß er – dies ist Teil seines Schnittmengenwissens – um seine Rolle im Produktionszusammenhang. Dieses Wissen wird nicht standardisiert im Rahmen einer Ausbildung vermittelt, sondern wird durch die individuellen Erfahrungen des „Wissensarbeiters“ gewonnen.40 Es ist Teil seiner „tacit knowledge“. Der gemeinsame Standard und seine bewusste Rolle innerhalb des Produktionszusammenhangs verleiht dem Wissensarbeiter die Fähigkeit, im Netzwerk zu agieren. Diese wird durch sein individuelles Wissen ergänzt. Diese „spezifische Netzwerkfähigkeit“ macht aus einzelnen Wissensarbeitern mit einander ergänzenden Fähigkeiten ein Wissensnetzwerk.41 Die Arbeiter stehen somit in einem Komplementärverhältnis. Dieses Modell wertet auch diejenigen Teilnehmer deutlich auf, die über eine formal geringe Ausbildung verfügen. Durch die Fähigkeit des Einzelnen, im Netz38 Hanseth, Knowledge as Infrastructure (wie Anm. 35, S. 33), S. 107. Auf Grund dieser Stabilität spricht Hanseth auch weniger von einem Netzwerk als von einer Infrastruktur. 39 Nelson beschreibt dieses Phänomen am Beispiel einer medizinischen Operation; vgl. Nelson, Evolution of human know-how (wie Anm. 20, S. 29), S. 5. 40 Hutchins hat die Bedeutung von „überlappendem“ Wissen am Beispiel der Schiffsnavigation veranschaulicht. Edwin Hutchins, The Technology of Team Navigation, in: Jolene Galegher/ Robert E. Kraut (Hrsg.), Intellectual teamwork: Social and technological foundations of cooperative work, Hillsdale (NJ) 1990, 191–220, hier S. 209 f. 41 Eine ebenfalls interessante Frage ist in diesem Zusammenhang, wo die „Institutionen“, also die gemeinsamen Denk- und Handlungsweisen, zuzuordnen sind. Vieles spricht dafür, dass sie ebenfalls über die Erfahrung erworben werden. Für die vorliegende Frage ist die Beantwortung dieser Frage jedoch unerheblich; vgl. Abelshauser, Kulturkampf (wie Anm. 26, S. 31), S. 3.
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werk wirkungsvoll zu agieren, ist er auch bei scheinbar geringem Humankapital ein wichtiges Element des Wissensnetzwerks.42 Der Verweis auf das Komplementärverhältnis, in dem sich Arbeiter befinden, wirft jedoch die prinzipielle Frage auf, ab wann von Wissensarbeitern gesprochen werden kann. Verdienen Angelernte, Facharbeiter oder sogar nur Ingenieure diese Bezeichnung? Wie hoch muss das technologische Niveau einer Tätigkeit oder des Produktionszusammenhangs sein, damit man den agierenden Arbeiter als „Wissensarbeiter“ qualifizieren kann? Diese Frage wird in der vorliegenden Untersuchung nicht prinzipiell beantwortet werden können, sie wird uns jedoch im Folgenden noch beschäftigen. Vor dem Hintergrund der Aufwertung des immateriellen Kapitals stellt sich zusätzlich die Frage, welche Bedeutung materiellem Kapital im Produktionszusammenhang zukommt. Die Verfügbarkeit materieller Ressourcen ist weiterhin notwendige Bedingung für Produktion. Sind diese Ressourcen etwa aufgrund äußerer ökonomischer Schocks nicht mehr vorhanden, ist ihre ungestörte Fortführung nicht möglich. Es ist also notwendig, dass die Nachfrage nach materiellem Kapital befriedigt wird. Dies bedeutet auch, dass materielles und immaterielles Kapital ebenfalls in einem Komplementärverhältnis stehen. Die industrielle Produktion ist umso besser gewährleistet, je mehr sich Nachfrage und Angebot an materiellem Kapital im Gleichgewicht befinden. Das beschriebene Modell eines Netzes von Wissensträgern, die durch komplementäre Wissensbestände und deren spezifische Netzwerkfähigkeit miteinander gekoppelt sind, gewinnt seine Stabilität auch aus einer anderen Eigenschaft: seiner Reproduzierbarkeit. Das Netzwerk muss die Fähigkeit besitzen, einzelne Elemente ersetzen zu können, falls dies notwendig ist. Gründe sind leicht vorstellbar. Der Tod oder die Verrentung eines einzelnen Wissensarbeiters muss von einem Netzwerk kompensiert werden können. Wichtig ist dabei, dass die durch den Verlust entstandene Lücke wieder passend gefüllt wird. Mit dem Wissensnetz inkompatibles Wissen wird wie ein Fremdkörper nur einen geringen produktiven Wert haben. Daher ist es wichtig, dass das Ausbildungsregime entsprechend neue „kompatible“ Fachkräfte ausbildet. Gelingt dies nicht, ist es fraglich, ob die neuen Fachkräfte ähnlich produktiv arbeiten können.43 3.2. Zur Speicherbarkeit von Wissen Das im vorangegangenen Kapitel erarbeite Modell kann dazu beitragen, die Begriffe Wissen und Wissensnetzwerke zu operationalisieren. Dieses Modell lässt sich gleichermaßen auf Betriebe, regionale Industrieverbünde und auch auf ganze Volkswirtschaften anwenden. Mit seiner Hilfe kann man erklären, warum bestimmte Gebiete auf eine bestimmte Produktionslinie festgelegt sind und weshalb die Wechselkosten sehr hoch sind. In dieser Untersuchung wird das Modell auf Niederschlesien angewandt. Anhand dieses Teilgebiets der ehemaligen deutschen Ostprovinzen kann – 42 Weick/Roberts, Collective Minds (wie Anm. 37, S. 33), S. 359. 43 Eine Untersuchung des Berufsausbildungssystems im „deutschen“ vor 1945 und im „polnischen“ Niederschlesien nach 1945 wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch vorgenommen.
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wenn auch nur auf einer abstrakten Ebene – geprüft werden, wie hoch die gegenseitige Abhängigkeit von materiellem Kapital auf der einen und Wissensnetzwerken auf der anderen Seite ist. Hieraus können Rückschlüsse auf das immaterielle Kapital gezogen werden. Anschließend erfolgt eine Annäherung an die Frage, wie hoch die Bedeutung von „gewachsenen“ Wissensnetzwerken für die Aufrechterhaltung industrieller Produktion ist. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den damaligen deutschen Ostprovinzen nach 1945 war gleichbedeutend mit der Auflösung der in Niederschlesien existierenden Wissensnetzwerke, und nicht etwa „nur“ der individuellen Wissensbestände. Wäre dies der Fall, ließe sich das verloren gegangene Wissen quantitativ durch Beantwortung der Frage messen, wie viele Facharbeiter, Ingenieure etc. nach der Vertreibung nicht mehr in Niederschlesien tätig waren. Das Wissensnetzwerk wird jedoch nicht von einem Einzelnen, sondern von einem Kollektiv von Wissensarbeitern „gewusst“. Dieses Kollektiv kann zwar, wie zuvor erläutert, den Verlust Einzelner kompensieren. Durch die Vertreibung wurde jedoch das vollständige Netzwerk aufgelöst. Das Argument, dass die Vertreibung der in Niederschlesien lebenden deutschen Bevölkerung den Verlust des Wissens zur Folge hatte, setzt jedoch voraus, dass Wissen in seinen drei Formen nicht ersetzbar war. Es stellt sich also die Frage, ob es neben dem Wissensarbeiterkollektiv weitere „Speichermedien“ hätte geben können. Anders formuliert wird hier die Frage der Archivierbarkeit von „immateriellen“ ökonomischen Wissen in seinen drei Ausformungen gestellt.44 Lässt sich Wissen also speichern? Ausbildungswissen ist der materiellen Speicherbarkeit am nächsten. Für das Erlernen einer Sprache oder eines Handwerks ist – zumindest theoretisch – das autodidaktische Studium mittels Lehrbücher möglich. Lehrpläne, Curricula etc. sind weitere Quellen, die herangezogen werden können, um ohne den „Wissenden“ Zugang zum Ausbildungswissen zu erhalten. Diese Methode ist sicherlich ineffizient, aber theoretisch möglich. Ausbildungswissen ist durchaus speicherbar. „Tacit Knowledge“ bzw. Erfahrungswissen geht über das reine Ausbildungswissen hinaus. Es handelt sich, wie bereits erläutert wurde, um Erfahrungswissen, das bei der Ausübung von Tätigkeiten erworben wird. Gerade zu Beginn der Ausübung bis dato unbekannter Tätigkeiten zeigt sich regelmäßig, dass durch die gewonnene Routine und die Erfahrung der Facharbeiter die Produktivität erhöht wird, häufig sogar bei gleich bleibendem Einsatz materieller Ressourcen. Dieser Effekt, der in der Ökonomie Lernkurveneffekt45 genannt wird, kann eine sehr starke Wirkung entfalten, die sich auf makroökonomischer Ebene messen lässt.46 44 Zum folgenden siehe auch Yaman Kouli, Die Grenzen des Archivs. Zur Vergänglichkeit und Persistenz ökonomischen Wissens, in: Archiv und Wirtschaft 42.1 (2009), 22–29, hier S. 22 ff. 45 Siegmar Stöppler, Lerntheorie und Lernprozesse, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft 5. Lagerhaltung bis Oligopoltheorie; zugleich Neuauflage des „Handwörterbuchs der Sozialwissenschaften“, Stuttgart 1980, 24–32, hier S. 28. 46 Barry Bluestone/Bennett Harrison/Gabriele Ricke, Geteilter Wohlstand. Wirtschaftliches Wachstum und sozialer Ausgleich im 21. Jahrhundert (Frankfurter Beiträge zu Wirtschafts-
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An dieser Stelle könnte die Frage gestellt werden, weshalb Belegschaften im Rahmen ihrer Ausbildung nicht vermittelt wird, wie produktiv gearbeitet wird. Die Antwort auf diese hypothetische Frage gibt Horvath: „People know more than they can tell.“47 Wenn Menschen also Wissen besitzen, das sie nicht „erzählen“ können, dann ist auch eine – z. B. schriftliche – Externalisierung des Wissens nicht möglich. In der Aussage Horvaths steckt mithin die implizite Konzession, dass eine Ausbildung niemals vollständig sein kann. Gewissermaßen „sehenden Auges“ werden Menschen an Aufgaben herangeführt, bei deren erstmaliger Ausführung sie nur bedingt geeignet sind, den Anforderungen gerecht zu werden. Eine Weitergabe dieses Wissens im Rahmen einer Ausbildung ist nicht auf theoretischer Ebene möglich, sondern ausschließlich auf der Praktischen. Und auch hier muss akzeptiert werden, dass es nicht möglich ist, diese Form des Wissens vollständig verbal zu vermitteln.48 Aus dieser Beschaffenheit der „tacit knowledge“ lässt sich folgern, dass sie sich auch nicht materiell speichern lässt: „Wissen ohne ein wissendes Gehirn gibt es nicht.“49 Jeder Wissensarbeiter muss sich die „tacit knowledge“ selbst erarbeiten. Hinzu kommt, dass es aus psychologischer Sicht umstritten ist, ob dem Anwender im Einzelfall überhaupt bewusst ist, dass er über bestimmtes Wissen verfügt und deswegen „automatisierte“ Handlungsprozesse durchführen kann.50 Wie verhält es sich mit der Speicherbarkeit von Wissensnetzwerken? Ein Wissensnetzwerk wird, wie bereits beschrieben wurde, durch eine komplementäre Gruppe von Wissensarbeitern gebildet, die eine gemeinsame Wissensschnittmenge besitzt. Diese Schnittmenge besteht teilweise aus dem gemeinsamen Standard, teilweise aus dem Wissen um die Rolle, die alle am Produktionsprozess Beteiligten ausfüllen. Im ersteren Fall handelt es sich um Ausbildungswissen, im letzteren Fall um „tacit knowledge“. Die Speicherbarkeit beider Wissensformen wurde bereits diskutiert: Der gemeinsame Standard ist Teil des Ausbildungswissens und somit speicherbar. Das Wissen um die Rolle der am Produktionsprozess Beteiligten ist Teil der „tacit knowledge“ und somit nicht außerhalb des Menschen archivierbar. Die individuelle „tacit knowledge“ von Beschäftigten, also sowohl die individuellen Erfahrungen als auch die Erfahrungen als Beitragender zu einem Gesamtproduktionsprozess, entziehen sich der Speicherbarkeit. Bei Ausbildungswissen wie und Sozialwissenschaften, Bd. 7), Frankfurt am Main 2002, S. 93, 97. 47 Joseph A. Horvath, Preface. Tacit Knowledge in the Profession, in: Robert J. Sternberg/Joseph A. Horvath (Hrsg.), Tacit knowledge in professional practice. Researcher and practitioner perspectives, Mahwah (NJ) 1999, ix–xiii, hier S. ix. 48 Unabhängig davon ist ein guter Lehrer in der Lage, dem Lernenden dieses Wissen zugänglicher zu machen; vgl. Weick/Roberts, Collective Minds (wie Anm. 37, S. 33), S. 368. 49 Markus Reihlen/Klaus Sikora, Phänomenologischer versus technologischer Ansatz für das Wissensmanagement im Unternehmen – Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit J.-C. Spenders Konzept der Knowledge-based Theory of Firm, in: Georg Schreyögg (Hrsg.), Wissen in Unternehmen. Konzepte, Maßnahmen, Methoden, Berlin 2001, 119–159, hier S. 132. 50 Hieraus ging das Konzept des „implicit memory“ hervor, mittels dessen untersucht wird, wie unbewusstes Wissen gespeichert und abgerufen wird; vgl. Arthur S. Reber, Implicit learning and tacit knowledge. An essay on the cognitive unconscious (Oxford psychology series, Bd. 19), New York 1993, S. 16 f.
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bei Wissen über Standards ist eine Speicherung zwar möglich. Es ist damit jedoch noch keine Aussage getroffen, ob diese Externalisierung von Wissen in Medien auch bedeutet, dass dieses Wissen über diesen Weg auf neue Beschäftigte übertragbar ist. Unabhängig von dieser Frage lässt sich somit zunächst für Niederschlesien konstatieren, dass gemäß diesem abstrakten Modell die Vertreibung der Deutschen auch eine endgültige Vertreibung teilweise unersetzbarer – komplementärer – Wissensbestände war. Es wird noch untersucht werden, ob die Erfahrungen Niederschlesien diese zunächst abstrakte Annahme bestätigen. 3.3. Folgen der Nicht-Speicherbarkeit von Wissensnetzwerken Wissensnetzwerke sind nicht archivierbar. Es gibt kein Archiv, also keinen „kollektiven Wissensspeicher“, mit dessen Hilfe sie vollständig „konserviert“ werden können.51 Das bedeutet, dass es nach der Vertreibung keine Möglichkeit gab, Zugriff auf das verlorene Wissen zu erhalten. Der Verlust war endgültig.52 Dieser Befund hat Konsequenzen für diese Untersuchung. Eine hiervon ergibt sich aus dem kontrafaktischen Charakter dieser Studie und betrifft die Untersuchungsmethode. Ziel ist unter anderem, auf das Wissensnetzwerk Niederschlesiens dadurch Rückschlüsse zu ziehen, dass die Folgen der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und des Verlusts des Wissens auf die Entwicklung der niederschlesischen Industrie untersucht werden. Die Tatsache, dass sich Wissensnetzwerke nicht archivieren lassen, bedeutet auch, dass ein direkter analytischer Zugriff nicht möglich ist. Es gibt keinen „direkten“ Weg, die Lücken herauszuarbeiten, die der Verlust der Wissensnetzwerke bewirkt hat.53 Es müssen daher indirekte Methoden gefunden werden um zu untersuchen, wie sich der Verlust des Wissens auswirkte. Die besondere Herausforderung ist, Methoden zu entwickeln, eine Analyse auf makroökonomischer Ebene durchzuführen. Eine erste Möglichkeit besteht darin, denjenigen eine Stimme zu geben, die den Verlust des Wissens kompensieren mussten. Aus der Interdependenz des Wissens und der Komplementarität von immateriellem und materiellem Kapital lässt sich theoretisch ableiten, dass ein Verlust des immateriellen Kapitals zu Störungen im Produktionsprozess führen würde. Wenn es zu Störungen kam, lassen sie sich durch Quellen herausarbeiten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Veröffentli51 Zur Definition eines Archivs vgl. beispielsweise Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (C. H. Beck Kulturwissenschaft), broschierte Sonderausg., München 2003, S. 344; Anja Horstmann/Vanina Kopp, Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, in: dies. (Hrsg.), Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt am Main 2010, 9–22, hier S. 10. 52 Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist, ob der Verlust des Wissens überhaupt als solcher erkannt wurde. Diese Frage wird ebenfalls untersucht. 53 Zu dieser Problematik siehe auch Yaman Kouli, Die Rettung des Archivs – Ein Vorschlag zur Analyse eines Wissensnetzwerks, in: Anja Horstmann/Vanina Kopp (Hrsg.), Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt am Main 2010, 221–233.
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chungen des „Allgemeinen Statistikamts“ GUS (Główny Urzad ˛ Statystyczny), die makroökonomische Analysen ermöglichen. Auch der Schriftverkehr seitens der Betriebsleiter gibt Aufschluss darüber, wie sich das Fehlen des immateriellen Kapitals auf die Produktion auswirkte. Eine hilfreiche Ergänzung wäre sicherlich die Untersuchung eines Betriebes oder Unternehmens in den damaligen deutschen Ostprovinzen, die sich auf die mikroökonomische Ebene beschränkt. Eine solche Arbeit, die als Einzelbeispiel sehr aufschlussreich Auskunft geben könnte, ist jedoch bisher ein Desiderat geblieben. Diese Herangehensweise zur Untersuchung der Folgen des Verlusts der Wissensnetzwerke in Niederschlesien kann durch die Untersuchung vergleichbarer Fälle flankiert werden. Ebenso wie die Neuen Gebiete war auch das Sudetenland von der Vertreibung der deutschen Bevölkerung betroffen. Die Beantwortung der Frage, ob sich im Sudetenland vergleichbare Störungen des Produktionsgleichgewichts herausarbeiten lassen, würde die auf Niederschlesien bezogene Argumentation stützen und ihr mehr Plausibilität verleihen. Eine letzte Spur zur Untersuchung der Bedeutung von Wissensnetzwerken führt streng genommen nicht über die Folgen des Verlusts des Wissens, sondern über die Beschaffenheit der Wissensnetzwerke. Hierbei wird untersucht, in welchen Bereichen die Vertriebenen in der BRD wieder wirtschaftlich tätig wurden, oder anders formuliert: Was geschah mit den Wissensnetzwerken, als sie sich in ihre einzelnen Bestandteile auflösten? Zwischen 1946 und 1962 kamen 13,2 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge in die Bundesrepublik, davon 9,6 Millionen bis 1950. Dennoch herrschte 1965 mit etwa 147.000 Arbeitslosen praktisch Vollbeschäftigung.54 Es drängt sich daher die Frage auf, welche Rolle die Vertriebenen auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt spielten. Die Tatsache, dass sie rasch wieder eine Arbeit fanden, bedeutet zunächst nur, dass es eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften gab. Hieraus lässt sich nicht ableiten, ob sie überwiegend ungelernte Tätigkeiten ausübten, oder ob sie ihr Wissen nutzen konnten und sich als Facharbeiter in die Wissensnetzwerke integrierten oder vielleicht sogar Neue schufen. Ihre Erfahrungen, die sie im jeweiligen Wissensnetzwerk gewonnen hatten, waren nach ihrer Migration nach Westdeutschland teilweise obsolet geworden. Zwar verfügten sie über dieselben Branchenstandards wie die in der späteren BRD ansässigen Wissensarbeiter. Ihr „Rollenwissen“, also ihr Wissen um die Aufgaben der Wissensarbeiter in einem Produktionsprozess, bezog sich jedoch auf einen anderen Betrieb und somit auf einen anderen Produktionszusammenhang. Die Frage ist daher, ob es ihnen möglich war, sich in einen neuen Produktionszusammenhang einzufinden und ihre Erfahrungen und Fähigkeiten den neuen Bedingungen anzupassen. Unter anderem diese Fragestellungen werden im Folgenden genauer verfolgt.
54 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 292 f., 297.
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4. SONDERFALL NIEDERSCHLESIEN? – WISSENSNETZWERKMODELL UND „WIRTSCHAFTSWUNDER“ Ein Teil des Untersuchungszeitraums – die Jahre von Kriegsende bis 1956 – fällt in die Epoche des sog. „supergrowth“.55 Zwischen Ende der 40er Jahre und 1973 kam es in mehreren Staaten zu hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Die Wissenschaft hat mehrere Vorschläge gemacht, um diese ökonomische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären. Diese Modelle sollen hier nicht einzeln rekapituliert werden. Dies haben unter anderem Werner Abelshauser56 , Ludger Lindlar57 und auch Nicholas Crafts58 unternommen. Für die Bedeutung des Produktionsfaktors Wissen während des Untersuchungszeitraums sowie für die – auch wenn dies nicht im Kern dieser Arbeit steht – Frage der industriellen Nachkriegsentwicklung Niederschlesiens sind diese Ansätze von besonderer Bedeutung. Ausgehend von der zunächst abstrakt formulierten Hypothese, dass eine der Folgen der Vertreibung der Verlust der niederschlesischen Wissensbestände war, stellt sich die Frage, welche Rollen Wissen in den beschriebenen Theorien spielten. Qualifizieren die Ansätze Wissen als relevanten Produktionsfaktor? Und wie ist die Überzeugungskraft der in den Diskurs eingebrachten Theorien – dies umfasst neben der Rekonstruktionsthese die Strukturbruchhypothese, die Lange-Wellen-Hypothese sowie die Aufhol- bzw. Catch-up-These – einzuschätzen? Die ersten beiden Annahmen, die Strukturbruchhypothese und die Lange-Wellen-Hypothese, erweisen sich hier als wenig hilfreich. Die Advokaten der Strukturbruchthese nennen die sog. „Soziale Marktwirtschaft“ und ihren ordnungspolitischen Rahmen als entscheidendes Element zur Entfachung dieses verstärkten wirtschaftlichen Wachstums. So sei die wettbewerbsfeindliche Kartellwirtschaft während des Nationalsozialismus zugunsten eines ordoliberalen Rahmens abgeschafft worden.59 Die Abkehr von dieser Wirtschaftspolitik habe sich – so die Argumentation – entsprechend auf das Wirtschaftswachstum ausgewirkt. Wissen spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Ebenfalls hat diese Annahme den Mangel, von einem deutschen Sonderfall auszugehen. Eine Anwendung auf andere „WirtschaftswunderStaaten“ erlaubt dieser Ansatz nicht. Auch für die Vertreter der Lange-Wellen-Hypothese spielt der Produktionsfaktor Wissen keine zentrale Rolle. Gemäß dieses Modells gibt es lange Zyklen wirtschaftlichen Wachstums, die das konjunkturelle Wachstum überlagern.60 Davon 55 Rolf H. Dumke, Reassessing the Wirtschaftswunder: Reconstruction and Postwar Growth in West Germany in an International Context, in: Oxford Bulletin of Economics and Statistics 52.2 (1990), 451–491, hier S. 486. 56 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 283 ff. 57 Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder (wie Anm. 11, S. 18), S. 42 ff. 58 Nicholas Crafts/Gianni Toniolo, Postwar Growth: an Overview, in: dies. (Hrsg.), Economic Growth in Europe since 1945, Cambridge 1995, 1–37. 59 Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder (wie Anm. 11, S. 18), S. 46 f. 60 Diese können etwa durch neue Innovationen initiiert werden; vgl. Reinhard Spree, Lange Wellen wirtschaftlicher Entwicklung in der Neuzeit. Historische Befunde, Erklärungen und Untersuchungsmethoden (Zentrum für Historische Sozialforschung, Bd. 4), Köln 1991, S. 61.
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ausgehend, dass die Wirtschaftswunderzeit und der Anstieg einer neuen KondratieffWelle zeitlich zusammenfallen, betrachtet sie es als „historischen Zufall“, dass es während der Nachkriegszeit zu einem solchen Wirtschaftswachstum kam. Auf die Spitze getrieben bedeutet das, dass der Zweite Weltkrieg im Rahmen dieser Annahme für das hohe Wachstum der Nachkriegszeit keine Rolle spielt.61 Die beiden genannten Theorien werden zwar immer wieder erwähnt, wenn die Ansätze zur Erklärung des Wirtschaftswachstums der 50er und 60er erläutert werden. Mit Nachdruck vertreten werden sie jedoch selten. Dies gilt umso mehr für die beiden letzteren Theorien, die Aufhol-Hypothese und die Rekonstruktionsthese.62 4.1. Der Ansatz der Rekonstruktionsthese Einer der bedeutendsten Erklärungsansatze für das „Wirtschaftswunder“ ist die sog. Rekonstruktionsthese. Sie geht von einer Beobachtung aus, die der ungarische Ökonom und Theoretiker Ferenc Jánossy63 für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus Messergebnissen der Wirtschaftsleistung verschiedener Staaten abgeleitet hat. Auch Jánossy wollte mit seinen Arbeiten eine Antwort auf die Frage finden, wieso zahlreiche Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg eine solch enorme Wachstumsphase erlebt haben. Als erstaunlich empfand er hierbei vor allem, dass das Wachstum in den beobachteten Volkswirtschaften nicht erkennbar vom Wirtschaftssystem abhing. Die (kommunistische) UdSSR wie die (kapitalistischen) westeuropäischen Staaten profitierten gleichermaßen von hohem Wirtschaftswachstum. Ausgangspunkt ist seine Feststellung, dass Volkswirtschaften eine Stetigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung auf lange Sicht64 innewohne. Dies bedeutet, dass Volkswirtschaften bei konstanten Rahmenbedingungen und unter der Voraussetzung der Abwesenheit von äußeren Schocks eine stetige Trendlinie kennen, die das volkswirtschaftliche Produktionsniveau determiniert. Diese Trendlinie besteht auch dann fort, wenn ein äußerer Schock, wie er der Zweite Weltkrieg war, das Produktionsniveau stark senkt. Sobald die äußeren Hemmnisse keinen Einfluss mehr auf die Volkswirtschaft ausüben, strebt das Produktivitätsniveau der Trendlinie entgegen. Dieses Streben zurück zur Trendlinie nach äußeren ökonomischen Schocks geschieht in zwei Phasen. In der ersten Phase, in die das stärkste Wachstum fällt, kehrt 61 Vgl. hierzu ders., Wachstum (wie Anm. 3, S. 25), S. 144–146. 62 Hier sticht Wehler hervor, der die Strukturbruch-These für einflussreich hält, im Gegenzug jedoch die Aufholhypothese für empirisch nicht haltbar; Hans-Ulrich Wehler, Bundesrepublik und DDR. 1949–1990 (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5), München 2008, S. 53. 63 Ferenz Jánossy (geb. am 03.07.1914, gest. am 18.03.1997, jeweils in Budapest) war Maschinenbauingenieur. Nach Studienaufenthalten in Wien, Berlin und Moskau erhielt er 1939 das Ingenieursdiplom. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Straflager kehrte er 1946 nach Ungarn zurück. Nach verschiedenen Positionen in der ungarischen Verwaltung war er zwischen 1957 und 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ungarischen Planungsagentur. Seine Forschungsgebiete sind die wirtschaftliche Leistung von Staaten und die Messung wirtschaftlicher Entwicklung; siehe Jánossy Ferenc Szakkollégium (Ferenc-Jánossy Collegium for Advanced Studies, Franz-Jánossy-Kollegium für höhere Studien), http://jfszk.hu/page.php?6, zuletzt geprüft am 20.06.2011. 64 Jánossy, Ende der Wirtschaftswunder (wie Anm. 1, S. 15), S. 9.
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das Produktivitätsniveau auf den Stand zurück, den es hatte, als der äußere Schock seine Wirkung entfaltete. Damit ist jedoch die Phase intensiven Wachstums nicht vorbei. Im Modell Jánossys setzt sich die „ideale“ Trendlinie unbeirrt von äußeren Einflüssen weiter fort. Das Wachstum flacht hier daher nur leicht ab und bildet einen Aufholprozess zum langfristigen Wachstumspfad ab. Wenn der Vorkriegsstand wieder erreicht wurde, dann ist das ideale Produktivitätsniveau zwischenzeitlich weiter gestiegen. Es beginnt somit eine zweite Phase, bei der das Niveau „eingeholt“ wird, das erreicht worden wäre, wenn der äußere Schock ausgeblieben wäre. Das Wachstum in dieser Phase ist schwächer als während der ersten Phase, aber immer noch weit stärker als das „normale“ Wachstum, das von der Trendlinie markiert wird. Doch was ist diese Trendlinie? Harrods Modell der „natürlichen Fortschrittsrate“65 kann hier weiterhelfen. Bei Harrod ist die natürliche Fortschrittsrate determiniert durch das Wachstum des Arbeitskräftepotenzials und durch den technischen Fortschritt. Arbeit und Kapital begrenzen hier das Produktionspotenzial nach oben hin. Zwischen diesen beiden Faktoren herrscht ein Gleichgewicht, und der „natürliche Fortschritt“ setzt sich so lange fort wie dieses Gleichgewicht gewährleistet wird. Kommt es zu einer Störung, also einem äußeren ökonomischen Schock wie etwa einem Krieg, ist das Gleichgewicht gestört, und die Produktion nimmt entsprechend ab. Ein Ungleichgewicht ist gleichbedeutend mit einer Knappheit an einem für die Produktion notwendigen Input. Unter diesen Bedingungen ist es unter geringem Einsatz des knappen Gutes möglich, die Produktionsreserven effektiv zu nutzen. Befindet sich das aktuelle Produktionsniveau weit unterhalb des aktuellen Potenzials, steigt die Grenzproduktivität des Kapitals entsprechend an. Je mehr sich das aktuelle Produktionsniveau dem Potenzial nähert, desto geringer ist die Grenzproduktivität des neu eingesetzten Kapitals. Sinkt die Produktivität wieder auf das Niveau, das sie hatte, als das Produktionsniveau der natürlichen Fortschrittsrate entsprach, ist der Aufholprozess abgeschlossen. Wurde das Gleichgewicht wieder erreicht, sind die langfristigen Wachstumsraten wieder auf dem Stand, auf dem sie vor Eintreten des äußeren Schocks waren.66 Somit wird in diesem Modell ein dem System immanenter Mechanismus beschrieben, der scheinbar automatisch funktioniert. Dies erinnert stark an Mill, der in Anlehnung an Hypokrates von Cos die rasche Regenerationsfähigkeit von Volkswirtschaften als vix medicatrix naturae, als natürliche Heilkräfte bezeichnete.67 Doch was sind die Voraussetzungen dieser Regeneration? Unter welchen Umständen ist ein solcher Verlauf möglich? Dies ist eine der Fragen, auf die diese Arbeit eine Antwort finden möchte. Wachstum bezeichnet „i. d. R. die langfristige Zu- und Abnahme des Wirtschaftspotenzials, d. h. desjenigen Produktionsergebnisses einer Volkswirtschaft, das 65 Roy F. Harrod, Dynamische Wirtschaft. Einige neuere Entwicklungen der Wirtschaftstheorie und ihre Anwendung auf die Wirtschaftspolitik (Sammlung Die Universität, Bd. 8), Wien/München 1949, S. 102 ff. 66 Vgl. Roy F. Harrod/Eckart Schiele, Dynamische Wirtschaftstheorie (Campus-Texte Wirtschaftswissenschaften), Frankfurt am Main 1976, S. 23 f. 67 John Stuart Mill, Principles of Political Economy (Bd. 1), London 4 1857, S. 93.
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zustande kommt, wenn alle Wachstumskräfte (Produktionsfaktoren) voll ausgelastet werden“.68 Dieses extensive Wachstum während einer Rekonstruktionsphase basiert in erster Linie auf der Ausschöpfung vorhandener Produktionsreserven. Brachliegendes Anlagekapital wird wieder in Gang gesetzt und somit wieder produktiv. Es handelt sich bei der Rekonstruktionsthese damit um einen angebotsorientierten Ansatz.69 Erst wenn die erste Phase abgeschlossen ist, das alte Produktionsniveau wieder erreicht und das Produktionsniveau neue Höchststände erreicht, steigt die Bedeutung effizienterer Nutzung von Input für die Produktion. Dieses beschleunigte Wachstum endet erst, wenn der alte Produktionsstand wieder erreicht ist. Das Produktionswachstum während dieser Phase ist Ergebnis der Verfügbarkeit materieller Ressourcen sowie von der Fähigkeit, dieses zu nutzen. Wenn also nach der Rolle von Wissen in Rekonstruktionsphasen gefragt wird, so ist nicht nur die Frage der Verbesserung der Technologiebasis betroffen, die schließlich eine Frage nach den Bedingungen für neue Innovationen darstellen würde. Es geht ebenfalls um die Frage, welche Rolle Wissen im Rahmen der Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme von Produktion spielt. Die Definition von Wachstum und die Rekonstruktionsthese decken beide den Produktionsfaktor Wissen, der Wissensnetzwerke einschließt, nur unvollständig ab. Das Humankapital, also das individuelle Ausbildungswissen, das zu diesen Wachstumskräften gehört, wird noch von der eben genannten Definition für Wachstum eingeschlossen. Wissensnetzwerke spielen hier jedoch keine Rolle. Der Aspekt, dass die einzelnen Humankapital besitzenden Wissensarbeiter voneinander abhängig sind, wird nicht berücksichtigt. Dass die Bedeutung der Interaktion der wirtschaftlichen Akteure von Relevanz ist, steht jedoch außer Frage. Aktuelle Ansätze aus der Entwicklungspolitik gehen daher so weit, makro- und mikroökonomische Aspekte kurzzeitig völlig auszublenden, um auch diesen Aspekt wirtschaftlicher Entwicklung in den Blick nehmen zu können.70 Jánossy kommt sehr früh zu dem Schluss, dass die menschliche Arbeitskraft der entscheidende Faktor sei.71 Er wendet den Verweis auf die Qualifikationsstruktur der Bevölkerung als globales Erklärungsmuster an. Damit unterstellt er jedoch implizit eine Gleichförmigkeit in den „Wissensbeständen“ der Staaten, die vom starken Wirtschaftswachstum profitierten, ohne genauer auf die Spezifika der verschiedenen Volkswirtschaften einzugehen. Seinen Überlegungen liegt dabei kein klares Modell von Arbeitskraft und dem dahinterstehenden Wissen zur Verfügung, mit 68 Spree, Wachstum (wie Anm. 3, S. 25), S. 137, 143. 69 Ebd., S. 143. 70 So etwa das Konzept der „Systemischen Wettbewerbsfähigkeit“; vgl. Jörg Meyer-Stamer, Systemische Wettbewerbsfähigkeit: Vom zufälligen Konzept zum Benchmarking-Tool, in: Tilman Altenburg/Dirk Messner/Klaus Eßer (Hrsg.), Wettbewerbsfähiges Lateinamerika. Herausforderungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus Eßer (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte), Bonn 2001, 175–194, hier S. 175 ff. 71 Vgl. Bernd Klemm/Günther Trittel, Vor dem Wirtschaftswunder. Durchbruch zum Wachstum oder Lähmungskrise? Eine Auseinandersetzung mit Werner Abelshausers Interpretation der Wirtschaftsentwicklung 1945–1948, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 35 (1987), 571–624, hier S. 583; Jánossy, Ende der Wirtschaftswunder (wie Anm. 1, S. 15), S. 11.
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dem er diese These belegen könnte. Die Rekonstruktionsthese hat also an dieser Stelle eine Lücke. 4.2. Die Catch-up-Hypothese Eine ebenfalls in der Wissenschaft vertretene Erklärung für die aus zeitgenössischer Sicht überraschend starken Wachstumsphasen ist die „Catch-up-Hypothese“.72 Die Frage, welche der beiden Thesen die Entscheidende für die Phase des verstärkten Wirtschaftswachstums nach 1948 ist, wurde von der Forschung nicht eindeutig geklärt. Dies liegt unter anderem daran, dass beide Ansätze nicht für grundsätzlich unzutreffend gehalten werden. Die Verteidiger beider Ansätze sind durchaus davon überzeugt, dass das jeweils andere Phänomen eine gewisse Bedeutung gehabt habe und sich daher beides beobachten lasse. Offen ist allein die Frage, welcher Effekt den größeren Einfluss hatte. Die beiden Ansätze sind in ihren Beobachtungen wenn nicht deckungsgleich, so doch in ihren Grundannahmen ähnlich. Die Vertreter beider Hypothesen betonen unisono, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen dem geringen Produktionsniveau am bzw. unmittelbar nach Ende des Krieges und dem starken Wirtschaftswachstum, das diesem Krieg folgte. Die genaue Ursache hierfür wird jedoch jeweils unterschiedlich begründet. Bei der Aufholthese spielen zwei Faktoren eine Rolle. Einer ist direkte Folge der Kriegshandlungen und Demontagen. Die zerstörte Infrastruktur, die zerstörten und demontierten Betriebe, die zerrütteten Handelsbeziehungen und noch weitere Faktoren hätten die Industrie praktisch lahmgelegt. Zusätzlich unterstellt die Catch-up-Hypothese einen Produktivitätsrückstand zwischen dem Technologieführer USA und den Wirtschaftswunderstaaten. Zu dieser Technologie, die geeignet war, enorme Produktivitätsreserven frei zu setzen, hatten die anderen Staaten, also insbesondere die westeuropäischen Staaten und Japan, vor 1945 keinen Zugang. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hätten veränderte Weltmarktbedingungen einen Technologieaustausch ermöglicht. So konnten neben Japan insbesondere die europäischen Staaten von diesen neuen Technologien profitieren, die vom Weltmarktführer USA erlernt werden konnten.73 Es wird hier also angenommen, dass ein Wissenstransfer von den USA zu technologisch weniger entwickelten Staaten stattgefunden habe. Der hieraus resultierende Rückstand wurde bis Anfang der 70er Jahre „aufgeholt“ und ermöglichte die hohen Wachstumsraten. Bezüglich der Produktivität kann es als gesichert gelten, dass es nach 1950 zu einer Annäherung zwischen den USA und einigen europäischen Staaten gekommen 72 So z. B. Lindlar, Abramovitz, Crafts, Tilly, mit Einschränkungen Stokes; vgl. Moses Abramovitz, Thinking About Growth. And other essays on economic growth and welfare (Studies in economic history and policy), Cambridge 1991, S. 187 ff.; Raymond G. Stokes, Technology and the West German Wirtschaftswunder, in: Technology and Culture 32.1 (1991), 1–22, hier S. 19–22; Crafts/Toniolo, Postwar Growth (wie Anm. 58, S. 40), S. 19, Tilly, Industrialisierung als historischer Prozess, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG) (wie Anm. 5, S. 26), Abs. 25. 73 Crafts/Toniolo, Postwar Growth (wie Anm. 58, S. 40), S. 19.
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ist.74 Die Qualifizierung dieses Vorgangs als Aufholprozess impliziert, dass verschiedene Volkswirtschaften unter der Voraussetzung, dass sie Zugang zu vorher unbekannten Technologien hätten, Produktivitätsniveaus erreichen können, die sehr nahe beieinander liegen. Wenn Zugang zur Technologie der Volkswirtschaft mit der höchsten Produktivität möglich ist und erfolgreich genutzt wird, dann nähert sich die sog. „Totale Faktorproduktivität“ – also die notwendige Menge eingesetzter Produktionsfaktoren für eine konstanten Ertrag – derjenigen der besten bzw. produktivsten Volkswirtschaft an. Bei Barro und Sala-i-Martin wird dies als β -Konvergenz bezeichnet.75 An dieser Stelle liegt also ein Aufholprozess auf ökonomischer Ebene vor, dem ein Technologietransfer vorangeht.76 Die Rekonstruktionshypothese hingegen betrachtet die Phase intensiven Wachstums nicht als Aufholprozess in dem Sinne, dass ein bestimmtes zu erreichendes Ideal angestrebt wird. Vielmehr wird die Quelle der wirtschaftlichen Dynamik im „Inneren“ lokalisiert. Beide Ansätze gehen somit von derselben Beobachtung aus: Das tatsächliche Produktionsniveau war unmittelbar nach Kriegsende deutlich eingeschränkt. Der Kernstreitpunkt beider Ansätze liegt in der Frage, was diese Wachstumsraten ermöglicht hat. Die Rekonstruktionstheorie in ihrer Anwendung auf die BRD geht im Gegensatz zur Catch-up-Hypothese davon aus, dass es ein hohes Produktionspotenzial gegeben habe, das Grundlage für die hohen Wachstumsraten war. Die Vertreter der Catch-up-Hypothese sehen dieses Potenzial nicht, sondern betonen, dass der Zugang zu neuen Technologien dieses Wachstum erst theoretisch ermöglicht habe. Gemäß der Rekonstruktionsthese war das Produktionspotenzial also weiterhin hoch, das Wachstum nur durch äußere Faktoren beschränkt. Die Anwälte der Aufholthese betonen, dass die deutsche Industrie einen technologischen Rückstand aufholte. Hieraus folgt, dass es zwar Produktivitätsreserven gab, das Produktionspotenzial nach Kriegsende aber in den Augen der Vertreter der Aufholthese nicht so weit oberhalb der aktuellen Produktion lag wie die Vertreter der Rekonstruktionsthese versichern. Inwieweit wird das Produktionsmittel „Wissen“ von der Aufholhypothese erfasst? Die Protagonisten der Catch-up-Hypothese argumentieren, dass ein Techno74 Vgl. Bart van Ark/Nicholas Crafts, Catch-up, convergence and the sources of post-war European growth: introduction and overview, in: dies. (Hrsg.), Quantitative aspects of post-war European economic growth, Neuauflage von 1996, Cambridge 1999, 1–26, hier S. 5. Eine offene Frage ist jedoch, ob dieser Aufholprozess tatsächlich erst 1950 einsetzte, wie die Vertreter dieser These es nahelegen; Angus Maddison, Macroeconomic accounts for European countries, in: Bart van Ark/Nicholas Crafts (Hrsg.), Quantitative aspects of post-war European economic growth, Neuauflage von 1996, Cambridge 1999, 27–83, hier S. 36. Zwar kann durch die Bezugnahme auf das Jahr 1950 belegt werden, dass die Produktivität zu diesem Zeitpunkt gering war. Ob dies jedoch durch den Technologierückstand verursacht wurde oder durch den äußeren ökonomischen Schock, den der Zweite Weltkrieg darstellte, lässt sich allein dadurch nicht klären. Der Annahme, der Aufholprozess habe erst 1950 durch den Zugang zu neuen Technologien begonnen, wird daher auch widersprochen; vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 287 f. 75 Robert J. Barro/Sala i Martin, Xavier, Convergence across states and regions, in: Brooking Papers in Economic Activity 21.1 (1991), 107–182, hier S. 112. 76 Crafts/Toniolo, Postwar Growth (wie Anm. 58, S. 40), S. 23.
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logietransfer stattgefunden habe. Dieser sei möglich gewesen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg die Handelsbarrieren sukzessive fielen und so Technologien des – was die Pro-Kopf-Produktivität betrifft77 – Weltmarktführers USA allgemein verfügbar wurden. Doch welche waren das? Diese Frage wird nicht immer klar beantwortet, was zu einem Problem führt. Die Annahme, die USA hätten – freiwillig oder unfreiwillig – durch die Kraft des Beispiels sowie durch Handel zahlreichen Staaten zu einem Wirtschaftswunder verholfen, setzt voraus, dass sich diese BestPractice-Technologie auch auf alle Staaten gleichermaßen anwenden lässt. Vor dem Hintergrund des Wissensnetzwerkmodells erscheint das jedoch fragwürdig. Die zuvor beschriebenen Wissensnetzwerke sind auf die jeweilige Branche spezialisiert. Im Zusammenhang von Technologietransfers ist es daher nicht sinnvoll, von Volkswirtschaften zu sprechen, sondern vielmehr von kleinen regionalen Verbünden, die miteinander verflochten sind und in einem bestimmten Industriebereich einen hohen Grad an Spezialisierung vorweisen können. Diese Spezialisierung auf bestimmte Gebiete erfolgte gerade deswegen, weil die Anreize hier besonders hoch waren und in diesem Bereich auf hohem technologischem Niveau produziert werden konnte. Dies brachte mit sich, dass Deutschland auf diesen Gebieten – zu nennen sind hier der Maschinenbau, die Chemische und die Elektroindustrie – weltweit führend war. Lindlar betont auch selbst, dass Deutschland kein „typisches Beispiel für technische Rückständigkeit“ sei.78 Die Wissensnetzwerke bestimmter Produktionszusammenhänge unterscheiden sich also voneinander, selbst dann, wenn es sich um dieselbe Branche handelt. Das bedeutet, dass jeweilige Weiterentwicklungen verschiedener Technologien innerhalb bestimmter Branchen nur für diejenigen Wissensnetzwerke interessant sein können, die wiederum selbst in diesem Bereich Technologien besitzen. Somit erhält die Aufholhypothese bereits auf theoretischer Ebene eine Einschränkung. Ein technologischer Aufholprozess ist für eine Industrie nur dann attraktiv, wenn es sich um eine Weiterentwicklung der eigenen Technologie handelt. Dass das nicht immer der Fall ist, ist leicht vorstellbar. Nur bei wenigen Technologien kann man von einer allgemeinen Anwendbarkeit auf verschiedene Bereiche sprechen. Die Annahme eines umfangreichen Technologieimports in verschiedenen Industriebranchen ist vor diesem Hintergrund nur schwer haltbar. Nicholas Crafts nennt eine konkrete Technologie, die ihren Eingang in andere Volkswirtschaften gefunden hat, und verweist hier auf den Taylorismus.79 Bei dieser auf den amerikanischen Ingenieur Frederick Winslow Taylor zurückgehenden Form der Betriebsführung werden Produktionsprozesse in kleinste Arbeitsschritte unterteilt. Ziel ist, durch die Einführung einfacher Arbeitsschritte die Produktivität zu erhöhen.80 Crafts diagnostiziert unter anderem hier die Produktionsreserven, die 77 78 79 80
Vgl. Crafts/Toniolo, Postwar Growth (wie Anm. 58, S. 40), S. 21. Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder (wie Anm. 11, S. 18), S. 91. Crafts/Toniolo, Postwar Growth (wie Anm. 58, S. 40), S. 25. Das „Scientific Management“ Taylors diente ebenfalls dem Zweck, die Kontrolle der Betriebsleitungen auf die einzelnen Beschäftigen verstärken, um eine Leistungssteigerung zu ermöglichen; Thomas Welskopp, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Bezie-
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das Wachstum nach 1950 ermöglicht hätten.81 Die Anwendbarkeit tayloristischer Fertigungsmethoden setzt jedoch Produktionsmethoden voraus, die sich an standardisierter Massenproduktion wenigstens anlehnen und auf Skaleneffekten basieren, da nur dort die Einführung einfacher und häufig zu wiederholender Arbeitsschritte zu einer Steigerung der Produktion führt. Diese Herstellungsweise hätte dem Produktionssystem sämtlicher Volkswirtschaften entsprechen müssen. Diese Annahme, die Crafts zwar nicht konkret benennt, aber doch unterstellt, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als problematisch. So zeigten sich gerade in der Produktion in Deutschland die Anfänge dessen, was Wolfgang Streeck für die Folgezeit als „diversifizierte Qualitätsproduktion“ bezeichnet, die gerade nicht auf hohen Produktionszahlen basiert.82 Spielraum für standardisierte Massenproduktion war hier nur in einem begrenzten Rahmen vorhanden, so etwa bei Volkswagen, und auch hier nur bis Ende der 60er Jahre.83 In den Berthawerken der Firma Krupp in Breslau scheiterte ihre Einführung.84 Bezieht man diese Überlegungen auf das Beispiel Niederschlesien, lässt sich das Ausbleiben des „Wirtschaftswunders“ dadurch erklären, dass das „passende“ technologische Vorbild nicht existierte. Freilich ist dieser Ansatz auch nur schwer auf andere Staaten anzuwenden. Auch die Frage, welcher Staat als Generator der wirtschaftlichen Entwicklung der UdSSR fungierte, ist bisher unbeantwortet geblieben. Aus der Konvergenz bei der Produktivität kann man also nicht zwingend darauf schließen, dass ihm ein Wissenstransfer voranging. Das hat zur Folge, dass das ganze Erklärungsmodell ein Wachstumspotenzial postuliert, ohne es belegen zu können. Vor dem Hintergrund des herausgearbeiteten Wissensmodells erweist sich daher die Aufholthese nur als eingeschränkt hilfreich. Dies deckt sich auch mit dem Ergebnis makroökonomischer Untersuchungen. Denison etwa kam Ende der 1960er Jahre zu dem Schluss, dass sich das hohe Wirtschaftswachstum mancher westeuropäischer Staaten – er listet hier Norwegen, Deutschland, England, Belgien, Dänemark und die Niederlande auf – nur zu einem sehr geringem Maße durch einen sich auf die gesamte Volkswirtschaft erstreckenden technologischen Aufholprozess erklären lässt.85 Wenn also selbst im Fall der westeuropäischen „Wirtschaftswunderstaaten“ dem Aufholprozess nur eine marginale Rolle zugestanden wird, ist auch
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hungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e. V.), Bonn 1994, S. 430. Crafts/Toniolo, Postwar Growth (wie Anm. 58, S. 40), S. 21 f. Wolfgang Streeck, Nach dem Korporatismus: Neue Eliten, neue Konflikte, in: MPIfG Working Paper 05/4 (2005), http://www.mpi- fg- koeln.mpg.de/pu/workpap/wp05- 4/wp05- 4.html (besucht am 30. 09. 2013). Abelshauser, Kulturkampf (wie Anm. 26, S. 31), S. 127 ff. Ders., Rüstungsschmiede der Nation? Der Kruppkonzern im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit 1933 bis 1951, in: Lothar Gall (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, 267–472, hier S. 375 ff. Er sieht diesen Aufholprozess nur für Frankreich und mit Einschränkungen für Italien; vgl. Edward F. Denison, Why Growth Rates Differ. Postwar Experience in Nine Western Countries (The Brookings Institution), Washington D. C. 4 1970, S. 283, 285.
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der These, Niederschlesien habe das technologische Vorbild gefehlt, von dem andere Staaten profitieren konnten, die argumentative Grundlage entzogen. Die Rekonstruktionsthese besitzt mithin die größte Erklärungskraft.86 Die genannten Überlegungen machen deutlich, dass die Frage der Ausgangsbedingungen für den Wiederaufbau beleuchtet werden müssen. Dies betrifft auch die Frage, wie die materiellen Voraussetzungen für einen Wiederaufbau waren. Hierfür ist es notwendig, das Produktionspotenzial Niederschlesiens zu ermitteln. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob Niederschlesien möglicherweise ein Beispiel für wirtschaftliche Rückständigkeit war und somit die Bedeutung von Wissen im Produktionsprozess der Industrie Niederschlesiens auf falschen Annahmen beruht. Die Untersuchung der Bedeutung der Arbeitskräfte und ihrer Wissensbestände für die industrielle Produktion zwischen 1936 und 1956 ist hiermit aufs Engste verbunden. Daher wird im folgenden Kapitel der Umfang des in Niederschlesien vorhandenen industriellen Anlagekapitals sowie seine Bedeutung für das Deutsche Reich ermittelt.
86 Dies deckt sich auch mit den Untersuchungen zur wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung anderer osteuropäischer Staaten. Im späteren Teil dieser Arbeit wird auf die Fälle Ungarn und Tschechoslowakei eingegangen; vgl. Tamás Vonyó, Socialist Industrialisation or Post-War Reconstruction? Understanding Hungarian Economic Growth 1949–1967, in: The Journal of European Economic History 39.2 (2010), 253–300; David Wester Gerlach, For Nation and Gain. Economy, Ethnicity and Politics in the Czech Borderlands, 1945–1948, Pittsburgh 2007.
III. ENTWICKELTE INDUSTRIEREGION NIEDERSCHLESIEN? DIE NIEDERSCHLESISCHE INDUSTRIE UND IHRE ENTWICKLUNG VON 1936 BIS KRIEGSENDE 1. WARUM NIEDERSCHLESIEN? Es ist ein Vorhaben dieser Arbeit, aus den Folgen des Austauschs der arbeitenden Bevölkerung in Niederschlesien, der zwischen 1945 und 1947 erfolgte, Rückschlüsse auf die Bedeutung von Wissen im Produktionsprozess zu ziehen. Dafür ist es notwendig, den Zustand und das Potenzial der niederschlesischen Industrie zu Kriegsende zu kennen sowie herauszuarbeiten, welche Charakteristik sie hatte, als sie nach der Potsdamer Konferenz in polnische Verwaltung überging. Hierbei werden abhängig von der jeweiligen Quellenlage Angaben zur absoluten Produktion gemacht werden sowie die Entwicklung einzelner Wirtschaftszweige herausgearbeitet. Verlässliche quantitative Ergebnisse werden jedoch, so wünschenswert sie auch wären, punktuell und nur in eingeschränktem Maße möglich sein. Bevor jedoch eine Untersuchung zur Industrie Niederschlesiens erfolgt, muss präziser erläutert werden, weshalb sich diese Arbeit auf Niederschlesien beschränkt. Auf den ersten Blick könnte eine Untersuchung der gesamten Neuen Gebiete sinnvoller sein. Es ist langfristig wünschenswert, dass die Forschung diesen Weg beschreitet. Für eine einzelne Arbeit wäre dieses Vorhaben jedoch zu ambitioniert. Dies liegt nicht nur an praktischen Erwägungen wie der Größe der zu untersuchenden Gebiete. Hervorzuheben ist auch, dass sich die Neuen Gebiete in wirtschaftliche Regionen unterteilen, die eine jeweils eigene Charakteristik aufweisen. So ist in Oberschlesien stark die Schwerindustrie konzentriert, Ostpreußen und Pommern sind agrarisch geprägt. Niederschlesien hat eine gut entwickelte Industrie und besitzt auch einen starken Agrarsektor. Ferner hat Schlesien eine traditionsreiche Textil- und Bekleidungsindustrie. Folgt man Seraphim, fielen vom gesamten industriellen Produktionswert der damaligen deutschen Ostgebiete 64 Prozent auf Schlesien (also Ober- und Niederschlesien), 16 Prozent auf Ostpreußen, 14 Prozent auf Ostpommern und sechs Prozent auf Ostbrandenburg.1 Konrad Fuchs schreibt hierzu: „Der umfangreichen Industrieproduktion sowohl im grundstofferzeugenden wie auch im verarbeitenden Bereich mit den Schwerpunkten Oberschlesien, Waldenburg-Neurode und Breslau stand die landwirtschaftliche Produktion kaum nach, zumal wenn man sie unter dem Aspekt ihrer Veredelung betrachtete, die wiederum zur Entwicklung einer über das Land verstreuten Industrie geführt hatte.“2 1 Peter-Heinz Seraphim, Die Wirtschaft Ostdeutschlands vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Handbuch (Die Deutschen Ostgebiete, Bd. 1), Stuttgart 1952, S. 35. 2 Konrad Fuchs, Vom deutschen Krieg zur deutschen Katastrophe (1866–1945), in: Norbert Conrads (Hrsg.), Schlesien, Berlin 1994, 535–692, hier S. 674–676.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Diese verschiedenen Charakteristika der Neuen Gebiete lassen es sinnvoll erscheinen, sich auf einzelne Regionen zu konzentrieren. Niederschlesien als eigene Verwaltungseinheit existierte bis 1940 nicht. Dass es überhaupt dazu kam, war das Resultat einer empfunden Notwendigkeit. Durch die Besetzung Polens nach Kriegsbeginn im September 1939 wurde Ostoberschlesien der Provinz Schlesien zugerechnet. Der Gau Schlesien umfasste vor Kriegsbeginn 36.696 Quadratkilometer bei einer Bevölkerung von 4.815.797, wodurch es bereits vor Kriegsbeginn der zweitgrößte Gau war. Nach Kriegsbeginn wurden 10.586 Quadratkilometer mit 2.674.663 Einwohnern hinzugefügt, wodurch ein Gebiet von weit über 47.000 Quadratkilometern Fläche mit über 7,5 Millionen Einwohnern entstand3 – so groß, dass Hitler am 1. April 1941 offiziell die Teilung Schlesiens bekannt gab. Fritz Bracht, vorher Assistent von Josef Wagner, wurde Gauleiter und Oberpräsident Oberschlesiens. Karl Hanke, einer der Assistenten Goebbels, wurde am 1. Februar 1941 Gauleiter und Oberpräsident Niederschlesiens.4 Die Provinz Niederschlesien hatte eine Fläche von 26.981 Quadratkilometern, der weit überwiegende Teil – 24.795,95 Quadratkilometer – fiel auf den Teil Niederschlesiens östlich der Neiße. Die Kreise westlich der Neiße – Hoyerswerda sowie Teile der Kreise Görlitz-Stadt, Görlitz-Land und Rothenburg – fielen an die spätere DDR.5 Niederschlesien eignet sich auch deswegen für diese Untersuchung, weil die dortige Industrie sowie jene Oberschlesiens innerhalb der ehemaligen deutschen Ostgebiete am weitesten entwickelt war. Die oberschlesische Industrie war sehr stark auf die Schwerindustrie konzentriert und somit auf einen Zweig, dessen Bedeutung im Laufe des 20. Jahrhunderts kontinuierlich abnahm. Dass er nach 1948 trotzdem einen starken Aufschwung erlebte hatte mit den Sondereffekten der Nachkriegszeit zu tun, in der die Nachfrage nach schwerindustriellen Produkten wie Kohle und Stahl auf einem „anachronistisch“ hohen Niveau lag.6 Ergänzend wird ebenfalls die Entwicklung des Bruttoanlagekapitals Niederschlesiens, soweit die Quellen dies zulassen, einer genaueren Analyse unterzogen. Genau dies ist in den letzten fünfzig Jahren nicht unternommen worden. Dieses Problem diagnostizierte Fiedor Karol bereits im Jahr 1965.7 Zwischenzeitlich hat sich an diesem Zustand wenig geändert. So fand im Juni 2005 ein Symposium zu
3 Vgl. Sebastian Siebel-Achenbach, Lower Silesia from Nazi Germany to communist Poland ´ ask 1942–49, New York 1994, S. 20; Alfred Konieczny, Sl ˛ a wojna powietrzna lat 1940–1944 [Schlesien und der Luftkrieg 1940–1944] (Acta Universitatis Wratislaviensis, Bd. 1983), Breslau 1998, S. 22. 4 Siebel-Achenbach, Lower Silesia (wie Anm. 3), S. 21; Das Schlesienbuch 1942. Handbuch für die Provinzen Niederschlesien u. Oberschlesien, Breslau 1942, Gau Niederschlesien, S. 5. 5 Ernst Bahr, Der niederschlesische Raum und seine Verwaltungseinteilung seit 1945, in: Ernst Bahr/Kurt König (Hrsg.), Niederschlesien unter polnischer Verwaltung (Ostdeutschland unter fremder Verwaltung), Frankfurt am Main/Berlin 1967, 1–28, hier S. 1. 6 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 204, 208 f. ´ ask 7 Fiedor Karol, Dwa dwudziestolecia. Dolny Sl ˛ w ramach gospodarki niemieckiej i polskiej [Zwei Jahrzehnte. Niederschlesien im Rahmen der deutschen und polnischen Wirtschaft], in: ´ aski Sl ˛ kwartalnik historyczny Sobótka 20 (1965), 34–70, hier S. 35.
1. Warum Niederschlesien?
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den polnischen Nord- und Westgebieten statt.8 Auch hat Jerzy Kociszewski 1999 eine Habilitationsschrift vorgelegt, die sich mit der wirtschaftlichen Integration der polnischen Nord- und Westgebiete beschäftigt.9 Die wissenschaftliche Forschung hat sich jedoch nur sehr eingeschränkt mit der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Gebiete vor Kriegsende beschäftigt. Ausgangspunkt der Untersuchungen war in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Annahme, dass die Gebiete vom Krieg stark getroffen wurden und Polen ein Gebiet erhielt, das große Rohstoffvorkommen hatte, jedoch eine stark zerstörte Industrie. Dies stellt auf mehreren Ebenen ein Problem dar. Zunächst hat sich die Annahme, die Neuen Gebiete seien im Krieg stark zerstört gewesen, als nicht zutreffend erwiesen. Ausnahmen sind hier in erster Linie Großstädte wie Breslau, Stettin oder Danzig. Der Fokussierung auf materielle Faktoren und die gleichzeitige Außerachtlassung immaterieller Faktoren liegt die implizite Überzeugung zugrunde, dass sich die Wirtschaftskraft eines Wirtschaftsraumes allein durch die Messung des vorhandenen materiellen Kapitals messen lasse. Diese Annahme beeinflusste die Forschung bis heute entscheidend. Aufgrund der Quellensituation wurde für diese Untersuchung das Jahr 1936 als Ausgangspunkt gewählt. In der Wissenschaft hat sich für eine quantitative Analyse der Industrie des Deutschen Reiches der Industriezensus des Statistischen Reichsamts von 1936 als äußerst wertvoll erwiesen.10 Er enthält Angaben sowohl zu verschiedenen Regionen sowie Wirtschaftszweigen. Für die Ermittlung des ökonomischen Status quo Niederschlesiens – wie auch des übrigen damaligen Deutschen Reiches – ist er die mit Abstand wichtigste Quellengrundlage. Durch eine Analyse dieses Zensus kann ein Referenzpunkt für die wirtschaftliche Entwicklung Niederschlesiens herausgearbeitet werden. Ein entsprechender Zensus für 1939 existiert leider nicht, obwohl er zwischenzeitlich geplant wurde.11 Komplexer ist es, die wirtschaftliche Entwicklung Niederschlesiens und somit das Wachstum des Anlagekapitals bis Kriegsende zu untersuchen. An wirtschaftshistorischen Untersuchungen zum Deutschen Machtbereich als Ganzes mangelt es nicht. Es gibt zahlreiche Studien zur Wirtschaftspolitik im Dritten Reich, etwa die
8 Aus diesem ging ein Tagungsband hervor; vgl. Andrzej Sakson (Hrsg.), Ziemie Odzyskane 1945–2005. Ziemie Zachodnie i Północne. 60 lat w granicach pa´nstwa polskiego [Die Wiedergewonnenen Gebiete 1945–2005. Die West- und Nordgebiete. 60 Jahre in den Grenzen des polnischen Staates] (Ziemie zachodnie: Studia i Materiały, Bd. 23), Posen 2006. 9 Jerzy Kociszewski, Proces integracji gospodarczej ziem zachodnich i północnych z Polska˛ [Der Prozess der wirtschaftlichen Integration der West- und Nordgebiete mit Polen] (Prace naukowe Akademii Ekonomicznej im. Oskara Langego we Wrocławiu, Bd. 816; 130), Breslau 1999. 10 Die Deutsche Industrie. Gesamtergebnisse der Amtlichen Produktionsstatistik, Berlin 1939. 11 Vgl. J. Adam Tooze, The Rosetta Stone of German Industry: The Reich’s Census of Industrial Production 1936, in: Christoph Buchheim (Hrsg.), German industry in the Nazi period (Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 174, 3), Stuttgart 2008, 97–115, hier S. 107.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Arbeiten von Rolf-Dieter Müller12 , Adam Tooze13 oder Dietrich Eichholtz.14 Auch Christoph Buchheim und Abelshauser15 haben zur Forschung beigetragen. Ihnen liegt jedoch kein regionaler Fokus zugrunde. Direkte aktuelle Studien, die sich auf einzelne Regionen beschränken, gibt es nur einige Wenige, zu Niederschlesien existieren sie kaum. Eine sehr gute Ausnahme dieser Regel ist die Dissertation von Gregor Thum zu Breslau.16 Freilich lässt auch diese Untersuchung das Breslau der Zeit vor 1945 weitgehend unbeachtet. Hinzu kommt die Stadtgeschichte Stettins, die sich jedoch nur rudimentär dem wirtschaftlichen Wiederaufbau widmet.17 Vergleichbares gilt für einen Sonderbereich der Entwicklung der deutschen Kriegswirtschaft: Auch die Verlagerung der kriegswichtigen Betriebe im Rahmen der Speer’schen Rüstungspolitik wurde bisher kaum untersucht. Aus verschiedenen Gründen wurden zwischen 1942 und 1944 einige Betriebe in andere Regionen des deutschen Machtbereichs verlagert, eine von ihnen war Niederschlesien. Hierdurch hat sich das dortige Industriepotenzial deutlich erhöht. Die polnische Historiographie lässt diesen Aspekt meist vollständig außer Acht, weshalb sich diese Arbeit auch den Verlagerungen widmen wird. Für die Untersuchung werden neben der erwähnten Literatur Quellen herangezogen, die sich in verschiedenen Bundesarchiven befinden. In Berlin-Lichterfelde ist der Bestand des Speer-Ministeriums sowie der Gauwirtschaftskammer Niederschlesien bedeutsam. Im Bundesarchiv „Ostdokumentation“ in Bayreuth befinden sich Dokumente der Breslauer Filiale des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die für diese Analyse herangezogen werden. Im Freiburger Militärarchiv werden insbesondere die Kriegstagebücher für Niederschlesien konsultiert. Ergänzend für die weitere wirtschaftliche Entwicklung sind zudem die Untersuchung von Bruno Gleitze18 sowie mit Einschränkungen das Werk von Rolf Wagenführ19 wichtige Grundlagen. Freilich muss an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass die Arbeiten von Gleitze und Wagenführ gleichzeitig wissenschaftliche Forschungsli12 Rolf-Dieter Müller, Albert Speer und die Rüstungspolitik im Totalen Krieg, in: Bernhard R. Kroener (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 5/2. Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte), München 1999, 275–773. 13 J. Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, Bonn 2007. 14 Dietrich Eichholtz/Joachim Lehmann/Hagen Fleischer, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1985, München 1999. 15 Etwa Christoph Buchheim (Hrsg.), German industry in the Nazi period (Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 174, 3), Stuttgart 2008; Werner Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), 503–538. 16 Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin 2003. 17 Vgl. Jan Musekamp, Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005 (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, Bd. 27), Wiesbaden 2010, S. 219–228. 18 Bruno Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956. 19 Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 2 1963.
1. Warum Niederschlesien?
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teratur und Quellen darstellen. Insbesondere der politische Hintergrund des Statistikers Gleitze bedarf einer genaueren Untersuchung, da seine Schriften von enormer Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind. Wie noch gezeigt werden wird, machen seine Schriften deutlich, dass die Ostgebiete 1944 wirtschaftlich weit entwickelt und industrialisiert waren. Die entsprechende Publikation „Ostdeutsche Wirtschaft“ wurde 1956 publiziert. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie weit Bruno Gleitze vom Zeitgeist, der Mitte der 50er Jahre bezüglich der Frage der ehemaligen deutschen Ostgebiete vorherrschte, erfasst war. War Gleitze ein „kalter Krieger“?20 Bruno Gleitze wurde am 4. August 1903 in Berlin geboren. Er war früh gewerkschaftlich engagiert und studierte ab 1926 an der Friedrich-Wilhelm-Universität Wirtschaftswissenschaften und Statistik. Am 2. Mai 1933 wurde er zusammen mit dem Leiter der Deutschen Arbeitsfront DAF Robert Ley kurzzeitig verhaftet. Er war zu keinem Zeitpunkt Mitglied der NSDAP, woran mehrere Anstellungen beim Institut für Konjunkturforschung, dem Vorläufer des heutigen DIW Berlin, scheiterten. Nach Kriegsendende war er für den Aufbau der Deutschen Zentralverwaltung der Finanzen in Berlin Ost und der SBZ verantwortlich. 1946 wurde er zudem ordentlicher Professor für Statistik der späteren Humboldt-Universität sowie Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Nach Gründung der DDR 1948 verließ er Ostberlin. Zu diesem Schritt entschied er sich unter anderem deswegen, weil er trotz seiner Tätigkeit als Präsident des Statistischen Zentralamts, dem Nachfolger des Statistischen Reichsamts, keine Zahlen veröffentlichen durfte.21 1956 wurde er Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften in Köln. Er war Mitglied im „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ sowie von Dezember 1966 bis September 1967 – allerdings erst als fünfte Wahl sowie äußerst glücklos agierend22 – Minister für Wirtschaft und Verkehr in Nordrhein-Westfalen. Auf der Schuldenkonferenz in London 1952 basierten die Diskussionen auch auf den Statistiken, die in seiner 1956 veröffentlichten Publikation zur Wirtschaft der ehemaligen deutschen Ostprovinzen herangezogen wurden. Er trat mit 16 in die SPD ein, bezeichnete sich selbst als „Sozialist“ und hegte große Sympathie für planwirtschaftliche Konzepte.23 Vor dem Hintergrund dieses Lebenslaufs wird deutlich, dass Bruno Gleitze kein ideologisches Interesse daran hatte, die verlorenen Gebiete überzubewerten. Es handelte sich bei ihm um einen überzeugten Sozialisten, der davon ausging, dass planwirtschaftliche Elemente wichtig für die Etablierung sozialen Friedens seien. Sein Verzicht auf die Posten in Ostberlin lässt sich ebenfalls nicht auf eine grundsätzliche Aversion gegen den Kommunismus zurückführen. Ein „kalter Krieger“ war Bruno Gleitze nicht. Sein Zahlenwerk zu den Gebieten jenseits von Oder und Neiße stellt bis heute eine wichtige Forschungsgrundlage dar. 20 Zum Folgenden siehe Karl Christian Thalheim, Bruno Gleitze – Lebensgang und wissenschaftliche Leistung, in: Bruno Gleitze u. a. (Hrsg.), Bruno Gleitze als Wirtschafts- und Kulturforscher, Berlin 1978, 13–31. 21 Nix Zahlen. Lesen Sie mal diesen Steppentext, in: Der Spiegel 3.2 (08.01.1949), 6–8, hier S. 8. 22 Bericht über Bruno, in: Der Spiegel 21.21 (15.5.1967), 46–48, hier S. 47. 23 Vgl. ebd., S. 47 f.; Nix Zahlen (wie Anm. 21), S. 6.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Auf polnischer Seite gibt es ebenfalls wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit diesem Thema befassen. So setzen mehrere in Polen erstellte statistische Jahrbücher bereits im Jahr 1939 mit ihrer Untersuchung ein, um so ein Bild über die industrielle Entwicklung der Neuen Gebiete zu erhalten.24 Fiedor untersucht in seinem Aufsatz von 1965 Niederschlesien im Rahmen der deutschen und der polnischen Wirtschaft. Er hebt hervor, dass Niederschlesiens wirtschaftliche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg „katastrophal“ gewesen sei25 – ein Argument, das in der aktuellen Forschung nicht unumstritten ist. Problematisch an diesem Aufsatz ist, dass er einer politischen Zielsetzung folgt. So zeichnet der Aufsatz das Bild eines unterentwickelten Gebietes, das am Rande des Deutschen Reiches vernachlässigt worden sei. Zwar habe sich dies während der 30er Jahre verbessert. Dennoch sei Niederschlesien in erster Linie ein Rohstoff- und Arbeitskräftereservoir gewesen. Erst unter polnischer Herrschaft habe sich das geändert.26 Diese Einschätzung wird noch zu hinterfragen sein.27 2. „EIN BEISPIEL FÜR TECHNOLOGISCHE RÜCKSTÄNDIGKEIT?“ – DIE WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG NIEDERSCHLESIENS IM DEUTSCHEN REICH 2.1. Forschungs- und Quellenlage Die Wahl des Zeitraums für die Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung Niederschlesiens birgt einige Herausforderungen. Diesen hat sich die Geschichtswissenschaft am Beispiel der ehemaligen deutschen Ostgebiete bisher kaum gestellt. Wie bereits erwähnt hat das Reichsamt für wehrwirtschaftliche Planung 1936 einen Industriezensus erstellt. Dies geschah, weil für die wirtschaftliche Planung eine Untersuchung benötigt wurde, die den Stand der Industrie des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 zuverlässig ermittelte. Dieses Werk hat sich in der Wissenschaft als wichtige Quelle erwiesen, auch wenn hier Einschränkungen gemacht werden müssen. So sollte der Zensus insbesondere als Planungsgrundlage für eine Kriegswirtschaft dienen. An dieser Intention lässt das Werk keinen Zweifel. Im Vorwort stellt Wilhelm Leiße, der bei der Konzeptionierung des Zensus eine entscheidende Rolle spielte28 , klar, dass eine eventuelle Kriegswirtschaft plan24 So etwa Stanisław Smoli´nski/Mieczysław Przedpelski/Bohdan Gruchman, Struktura Przemysłu Ziem Zachodnich w latach 1939–1959 (3 Tomy) [Die Struktur der Industrie der Westgebiete 1939–1956 (3 Bände)] (Studia nad zagadnieniami gospodarczymi i społecznymi Ziem Zachodnich), Posen 1961. 25 Karol, Dwa dwudziestolecia (wie Anm. 7, S. 50), S. 34. 26 Ebd., S. 49, 70. 27 Ein weiterer Grund, der Niederschlesien für eine genauere Untersuchung attraktiv macht, ist die Feststellung, dass dieser Teil der ostdeutschen Provinzen am wenigsten vom Krieg und den Demontagen durch die Deutschen getroffen wurde. Dieser Punkt wird noch genauer thematisiert; vgl. Stanisław Jankowski, Przejmowanie i Odbudowa Przemysłu Dolno´slaskiego ˛ 1945–1949 [Übernahme und Aufbau der niederschlesischen Industrie 1945–1948], Warschau 1982, S. 60. 28 J. Adam Tooze, Statistics and the German State, 1900–1945. The making of modern economic knowledge (Cambridge studies in modern economic history, Bd. 9), Cambridge 2001, S. 194.
2. „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“
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wirtschaftlichen Charakter haben müsse. Diese müsse „auf gründlicher statistischer Planungsarbeit“ fußen. Daher solle die Arbeit ein „Gesamtbild der deutschen Industrie“ unterbreiten.29 Auch die Arbeit von Gleitze zu den Neuen Gebieten setzt im Jahr 1936 ein.30 Das Gros der historischen Überblickswerke zu (Ober- und Nieder-)Schlesien beendet seine Untersuchung mit dem Jahr 1945. Das gilt für die Sammelwerke von Norbert Conrads31 und von Josef Joachim Menzel.32 Auch das Werk von Winfried Irgang33 schließt mit dem Jahr 1945 ab, bietet vorher jedoch einen kurzen Ausblick auf die Folgejahre, insbesondere die Vertreibung. Eine Ausnahme ist das Werk von Sebastian Siebel-Achenbach, das sich über den Zeitraum von 1942 bis 1949 erstreckt.34 Das Jahr 1945 stellt auch für diese Untersuchung eine Hürde dar, was sich in der Methodik niederschlägt. In diesem Kapitel wird die Phase untersucht, in der Niederschlesien Teil des Deutschen Reiches war. Die Quellen erlauben es, die Verschiebung der Arbeitskräfte in den Industriezweigen Niederschlesiens zwischen 1936 und 1944 nachzuvollziehen. Eine wichtige Quelle hierfür ist eine Erhebung der Gauwirtschaftskammer Niederschlesien.35 Hinzu kommt eine Untersuchung des niederschlesischen Instituts für Wirtschaftsforschung.36 Anhand der eingesetzten Arbeitskräfte wird verfolgt, wie sich die Industriezweige Niederschlesiens nach 1936 entwickelten. Dieser Arbeit kommt entgegen, dass eine Vergleichbarkeit der Regionen des Deutschen Reiches ausdrückliches Ziel des Industriezensus war.37 Ihr Nachteil ist, dass sie tatsächlich nur die Industrie untersucht, das Handwerk jedoch nicht. Dies ist gerade im Fall Niederschlesiens wichtig, wo das Handwerk – wie überhaupt in den Neuen Gebieten – eine wichtige Stellung einnahm.38 2.2. Geographische Verteilung der niederschlesischen Industrie Zunächst wird die Bestandsaufnahme zur Wirtschaft Niederschlesiens 1936 mit einer Beschreibung seiner wirtschaftsgeographischen Beschaffenheit eingeleitet. Anschließend wird eine Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesamt29 Die Deutsche Industrie, S. 3, 12. 30 Bruno Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956. 31 Norbert Conrads (Hrsg.), Schlesien, Berlin 1994. 32 Josef Joachim Menzel/Ernst Birke (Hrsg.), Geschichte Schlesiens 1740–1918/45 (Geschichte Schlesiens, Bd. 3), Stuttgart 1999. 33 Winfried Irgang (Hrsg.), Schlesien. Geschichte, Kultur und Wirtschaft (Historische Landeskunde, Bd. 4), 2. korrigierte Auflage, Köln 1998. 34 Sebastian Siebel-Achenbach, Lower Silesia from Nazi Germany to communist Poland 1942– 49, New York 1994. 35 BA R 11/70, S. 67 ff. 36 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 53 ff. 37 Die Deutsche Industrie, S. 16. 38 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 4; allgemeiner Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 15.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
heit der etwa 3.200 Industriebetriebe vorgenommen.39 Zwar kann an dieser Stelle die industrielle Verteilung innerhalb Niederschlesiens nicht en detail erfolgen. Die Präsenz wichtiger Industrien soll hier dennoch kurz beleuchtet werden, damit die Charakteristik Niederschlesiens erkennbar wird. Die Verwaltung des Dritten Reiches kannte bis 1941 kein klar abgegrenztes Verwaltungsgebiet Niederschlesien, sondern nur die Provinz Schlesien. Erst in jenem Jahr wurde der Gau Niederschlesien geschaffen.40 Mit Ausnahme des Kreises Hoyerswerda wurde ganz Schlesien von der Reichsrüstungsinspektion VIII – die Reichsrüstungsinspektionen wurden am 1. April 1941 per Dekret geschaffen – erfasst. Am 1. April 1943 wurde eine Aufteilung dieses Wehrkreises vorgenommen. Die Reichsrüstungsinspektion VIIIa umfasste die Verwaltungseinheiten Breslau und Liegnitz, die Reichsrüstungsinspektion VIIIb die vorigen Verwaltungseinheiten Oppeln und Kattowitz. Mit Schlesien werden häufig schwerindustrielle Zentren assoziiert. Diese Sicht ist jedoch ungenau, da sich seine schwerindustriellen Zentren weit überwiegend in Oberschlesien befanden. Die im Vergleich zu Oberschlesien bescheidenen niederschlesischen Kohlevorkommen waren auf das Waldenburger Revier sowie auf die Vorkommen in den nordwestlichen Sudeten begrenzt. Das Waldenburger Gebiet in den Mittelsudeten war daher tatsächlich schwerindustriell geprägt. Dort befanden sich jedoch weniger als fünf Prozent der späteren polnischen Steinkohlevorkommen.41 Hinzu kommen die Braunkohlevorkommen im Westen Niederschlesiens in der Nähe von Görlitz und Zgorzelec sowie Muskau und Hoyerswerda.42 In Niederschlesien gab es zudem zahlreiche Zentren für den Maschinenbau, die sich über die ganze geographische Breite Niederschlesiens erstreckten. Der sog. Kraftmaschinenbau etwa war in Hirschberg, Waldenburg, Breslau und Schweidnitz angesiedelt. In Neiße (West-Oberschlesien), Breslau, Ratibor und Bunzlau wurden Werkzeugmaschinen hergestellt, in Breslau, Liegnitz und Brieg Holzbearbeitungsmaschinen. Görlitz, Grünberg und Landeshut lieferten Textilmaschinen. Die wichtige Stellung Breslaus für die niederschlesische Industrie resultierte somit auch aus seiner Bedeutung für den Maschinenbau. Das zeigte sich auch an anderer Stelle. Die Linke-Hofmann-Werke waren, folgt man Rudolf Neumann, eine der größten Waggonfabriken Europas.43 Ähnliches gilt für die Lokomotivproduktion.44 Zusätzlich war Breslau Zentrum für Fabrikausrüstungen und Präzisionsinstrumente.45 39 Reichsweit gab es etwa 125.000 Industriebetriebe; vgl. Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 14. 40 Schlesienbuch (wie Anm. 4, S. 50), S. 249. ´ ask 41 Antoni Wrzosek, Dolny Sl ˛ [Niederschlesien], in: Kazimierz Piwarski/Stanisława Zajchowska (Hrsg.), Polnische Verwaltungsarbeit in den deutschen Ostgebieten 1945–1955 [Original: Odbudowa Ziem Odzyskanych] (Ziemie Staropolski, Bd. 38), Posen 1957, 89–130, hier S. 92. 42 Die Städte Görlitz, Muskau und Hoyerswerda gingen nach Kriegsende auf die SBZ/DDR über und wurden dort Teil des Braunkohlereviers. 43 Rudolf Neumann, Die ostdeutsche Wirtschaft, in: Gotthold Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete des Deutschen Reiches, Würzburg 4 1957, 164–208, hier S. 190. 44 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 72. 45 Neumann, Die ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 43), S. 190.
2. „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“
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Abbildung III.1.: Karte Polens mit den Neuen Gebieten
Quelle: Beilage zu Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hrsg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven Band 1. Zentrale Behörden, Wojewodschaft Allenstein, (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2000.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Abbildung III.2.: Karte Niederschlesiens
Ausschnitt der Karte Polens (S. 57).
2. „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“
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Neben Breslau gibt es auch in weiteren Städten Produktionsstätten für Maschinenbau und Metallverarbeitung. Die Uhrenerzeugung sowie die Produktion elektrischer Zähler befand sich in Schweidnitz.46 Die Städte Görlitz, Grünberg, Hirschberg und Liegnitz waren industrielle Zentren für die Maschinenbau- und auch für die Verbrauchsgüterindustrie.47 Ferner befand sich in Kraftborg nahe Breslau ein Ferrolegierungswerk, in Frankenstein nördlich von Glatz wurde in Hüttenproduktion Nickel hergestellt.48 Auch die in den Neuen Gebieten gelegene Gießereiindustrie war überwiegend auf Niederschlesien konzentriert: Von 12.000 Beschäftigten waren 7.000 in Niederschlesien tätig.49 Ein weiterer wichtiger Industriezweig Niederschlesiens war die Textil- und die damit eng verbundene Bekleidungsindustrie. Freilich muss hier eine Einschränkung erfolgen. Zwar war die Ostprovinz in diesem Wirtschaftszweig tätig, seine Bedeutung darf jedoch nicht überschätzt werden. An der reichsweiten Textil- und Bekleidungsindustrie hatte Niederschlesien einen Anteil von 4,6 bzw. 5,5 Prozent, bei der Zahl der Beschäftigten war der Anteil mit 5,3 bzw. 4,7 Prozent von ähnlicher Größenordnung.50 Außer in Breslau finden sich zahlreiche Niederlassungen entlang der nach Süden hin verlaufenden Grenze. Dies umfasst Guben51 , Löwenberg, Goldberg, Landeshut und Liegnitz.52 Auch beim Bekleidungshandwerk dominierte Niederschlesien unter den Neuen Gebieten, ohne dass ein klares Zentrum auszumachen ist.53 Hinzu kam, dass die verschiedensten Untergruppierungen vertreten waren. So war die Bastfaserindustrie insbesondere im Südosten nördlich des Sudetengebirges, also in Landeshut, Waldenburg, Schweidnitz, Bolkenhain, Hirschberg, Löwenberg und Lauban, vorzufinden.54 Die Baumwollindustrie war auf die Kreise Reichenbach und Glatz konzentriert, die Wollverarbeitung unter anderem auf Sagan, Görlitz – das nach 1945 geteilt wurde –, Grünberg – das nach 1945 nicht zur Wojewodschaft55 Breslau gehörte –, Sprottau und Liegnitz. Niederschlesien vereinte auf sich zwar 72 Prozent der ostdeutschen Textilindustrie, dies geschah jedoch wie bereits erwähnt
46 Neumann, Die ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 43, S. 56), S. 190. 47 Kurt König, Die gewerbliche Wirtschaft Niederschlesiens seit 1945, in: Ernst Bahr/Kurt König (Hrsg.), Niederschlesien unter polnischer Verwaltung (Ostdeutschland unter fremder Verwaltung), Frankfurt am Main/Berlin 1967, 133–273, hier S. 133 ff. 48 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 61. 49 Ebd. 50 Vgl. III.1, S. 64. Der Anteil der Industriezweige an der niederschlesischen Gesamtproduktion wird im späteren Verlauf der Arbeit besprochen. 51 Gemeint ist hier das Guben auf polnischer Seite. Die Stadt an der Neiße wurde nach 1945 geteilt. Der polnische Name für den Stadtteil östlich der Neiße war Gubin, auf Seite der DDR blieb der deutsche Name Guben erhalten. 52 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 87. 53 Ebd., S. 87 f. 54 Neumann, Die ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 43, S. 56), S. 193. 55 Das polnische Wort „Województwo“ wird auch häufig durch „Woiwodschaft“ ins Deutsche übersetzt. Die Begriffe „Woiwodschaft“ und „Wojewodschaft“ sind bedeutungsidentisch, in dieser Arbeit wird das Wort „Wojewodschaft“ verwendet.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
auf niedrigem Niveau.56 Ferner waren nicht alle Werke von großer Bedeutung. Die Reißereien in Grünberg, Sprottau und Schweidnitz waren drei von insgesamt fünf Betrieben in den Neuen Gebieten. Sie hatten zusammen einen Anteil von fünf Prozent an der reichsweiten Produktion. Flachs- und Hanfröstereien waren in Landeshut, Freystadt, Schweidnitz, Glogau und Militsch vorzufinden, Kammgarnspinnerein fanden sich in Breslau, Bunzlau, Lauban, Hirschberg und Waldenburg sowie in den Kreisen Sprottau, Grünberg und Hirschberg. Hinzu kamen Baumwollspinnereien im Kreis Reichenbach sowie Jutespindeln in Landsberg an der Warthe und in Freystadt. Auch die Flachs-, Hanf- und Hartfaserspinnerei wurde ebenso wie die Woll- und Baumwollweberei in Niederschlesien betrieben.57 Die Lebensmittel- und Genussindustrie hatte ebenfalls eine erhebliche Bedeutung.58 Der Erzeugungswert der Lebensmittel- und Genussindustrie überstieg den des Bergbaus dieser Region.59 Grundlage war die ertragreiche Produktion von Kartoffeln. Hiervon ausgehend wurden sowohl Kartoffelstärke – Glogau und Guhrau60 – als auch Spiritus hergestellt. Die niederschlesische Zuckerindustrie war ebenfalls von Rang, wobei dies auf die gesamten ehemaligen deutschen Ostgebiete zutrifft: In den Neuen Gebieten wurde etwa ein Viertel des im Deutschen Reich produzierten Zuckers angebaut. Die Erzeugung befand sich unter anderem in Breslau, Brieg, Strehlen und Schweidnitz.61 Nördlich des Sudentengebirges war die Industrie der Steine und Erden prägend. Innerhalb der Ostgebiete war die Zahl der Beschäftigten dort am größten. Wegen der breiten geographischen Streuung der Industrie der Steine und Erden können hier jedoch nicht alle Niederlassungen aufgezählt werden.62 Im Kreis Bunzlau standen Zementfabriken, die Keramische Industrie der Neuen Gebiete war praktisch vollständig auf Niederschlesien, genauer auf Breslau, Waldenburg, Schweidnitz und Bunzlau konzentriert.63 Auch die Glasindustrie hatte in Niederschlesien eine hohe Bedeutung. 10.300 von 13.900 der in den Ostprovinzen in diesem Bereich arbeitenden Personen taten dies in Niederschlesien. Dies betraf die Städte Sorau und Sprottau, die beide nach 1945 nicht zur Wojewodschaft Breslau zählten, Habelschwerdt, Hirschberg und Glatz, wo sich umfangreiche Produktionsstätten für Hohlglas befanden, dazu standen Fensterglashütten in Bunzlau.64 Die Papierindustrie hinterließ nur lokal Spuren. So standen in Sagan und in Priebus jeweils wichtige Zeitungspapierfabriken, die acht Prozent bzw. drei Prozent der Reichsproduktion an Zeitungspapier erzeugten.65 In Oberleschen, Janno-
56 57 58 59 60 61 62 63 64 65
Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 81. Ebd., S. 83–85. Vgl. Abb. IV.7, S. 184. Neumann, Die ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 43, S. 56), S. 194. Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 92. Ebd., S. 94 f. Genauer hierzu ebd., S. 130 f. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 80.
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witz und 66 wurde Spinnpapier produziert, in Rothenburg und Sorau wie auch in Guben war die Pappenherstellung verortet.67 Damit sind die Industrien genannt, die Niederschlesien seine Prägung verliehen. In den übrigen Fällen hatten die Industriebranchen nur eine lokal stark begrenzte Bedeutung. Dies gilt etwa für die Chemieindustrie. Infolge der Steinkohlevorkommen gab es in Waldenburg ebenso wie in Westoberschlesien eine Steinkohledestillation, wo unter anderem Rohbenzol hergestellt wurde.68 In Breslau wurden dazu Waschmittel und Glyzerin produziert, Haut- und Lederleim in Neusalz sowie Knochenleim in Bremberg. Lacke und Anstrichmittel wurden in Liegnitz und Breslau hergestellt.69 In Giersdorf befand sich eine Kautschukwarenerzeugung. In Waldenburg wurde bereits 1935 ein Werk zur Herstellung von synthetischen Treibstoff errichtet.70 Der Nordosten Niederschlesiens – er umfasst die Kreise Guhrau, Militsch, Trebnitz, Groß Wartenberg und Namslau – war nur wenig industrialisiert. Dort muss vielmehr von einer agrarischen Ausrichtung gesprochen werden.71 Diese überblicksartige Darstellung zeigt, dass die Wirtschaft Niederschlesien breitgefächert war. Zwar gab es einzelne prägende Industriezweige, doch keiner kann für sich beanspruchen, die industrielle Charakteristik der gesamten Region zu bestimmen. Auch der Bergbau oder die Textilindustrie, die häufig mit Niederschlesien verbunden werden, können diese Rolle nicht für sich in Anspruch nehmen, auch wenn sie, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, einen beachtlichen Anteil an der industriellen Produktion Niederschlesiens hatten. 2.3. Bedeutung Niederschlesiens für die deutsche Industrie Nach der im vorangegangenen Abschnitt erfolgten Beschreibung stellt sich die Frage, wie sich die Industrie Niederschlesiens in diejenige des Deutschen Reiches einfügte. Welche Rolle spielte sie für das Deutsche Reich? An dieser Stelle sind verschiedene Aspekte zu unterscheiden. So ist zunächst die Beantwortung dieser Frage für das Jahr 1936 – dem Ausgangsjahr dieser Untersuchung – nötig. Wie bereits erwähnt wird vereinzelt auf polnischer Seite vertreten, dass es sich bei den deutschen Ostgebieten um wirtschaftlich benachteiligte Peripherie gehandelt habe.72 Umgekehrt betonte die deutsche Seite die hohe Bedeutung der deutschen Ostgebiete für die gesamtdeutsche Wirtschaft.73 Beide Standpunkte sind erkennbar politisch beeinflusst, und in der aktuellen polnischen Forschung wird hervorgehoben, dass sich etwa die Rohstoffsituation Polens durch die Westverschie66 Ob das Priebus im heutigen Landkreis Görlitz oder jenes der polnischen Wojewodschaft Lebus gemeint ist, konnte nicht abschließend ermittelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um das in Lebus gelegene Priebus/Przewóz handelt. 67 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 80. 68 Ebd., S. 63. 69 Ebd. 70 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 28. 71 König, Gewerbliche Wirtschaft (wie Anm. 47, S. 59), S. 133 ff. 72 So etwa Karol, Dwa dwudziestolecia (wie Anm. 7, S. 50), S. 34. 73 Vgl. Seraphim, Wirtschaft Ostdeutschlands (wie Anm. 1, S. 49), S. 54–60.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
bung deutlich gebessert habe. Ein Beispiel ist der polnische Wirtschaftshistoriker Zygmunt Kazimierski, der betont, durch die Neuen Gebiete sei etwa die Förderung von Steinkohle um 80 Prozent gesteigert worden. Hinzu kamen Eisenerz, Blei, Zink, Kaolin sowie weitere Buntmetalle.74 Der Fokus auf die Verfügbarkeit von Rohstoffen lässt jedoch außer Acht, dass sich das industrielle Potenzial einer Region auch aus seiner Produktivkraft speist. Bei der Produktivkraft wiederum sind die materiellen Voraussetzungen – Industriebetriebe, Infrastruktur, Energieversorgung – ebenso relevant wie die „immateriellen Voraussetzungen“ – Ausbildungsniveau, Berufsschulnetz, vorherrschende Produktionsweise. Vor dem Hintergrund des Ziels der vorliegenden Arbeit, aus der Entwicklung der Industrie Niederschlesiens Rückschlüsse auf die Bedeutung von produktionsrelevantem Wissen zu ziehen, ist das „immaterielle Kapital“ von besonderem Interesse. Die Ostgebiete hatten 1936 einen Anteil von zwischen zehn und elf Prozent am gesamtdeutschen Sozialprodukt und von 6,5 Prozent an der gesamtdeutschen Industrieerzeugung. Gleichzeitig lag der Bevölkerungsanteil bei etwa 13,9 Prozent.75 Das zeigt, dass der Industrialisierungsgrad der Neuen Gebiete 1936 unterhalb des Deutschen Reiches westlich von Oder und Neiße lag. Auch das niederschlesische Institut für Wirtschaftsforschung in Breslau sprach 1939 mit Bezug auf die technische Ausrüstung der Betriebe in Niederschlesien von einem „West-Ost-Gefälle“.76 Mit einem Blick auf die Nettoproduktionswerte der einzelnen Zweige kann die Industriestruktur genauer umrissen werden. In der Industrie Niederschlesiens nimmt die Nahrungs- und Genussmittelindustrie mit drei Milliarden RM 1936 den höchsten Nettoproduktionswert ein77 , gefolgt von der Textilindustrie mit 2,8 Milliarden RM, dem Maschinenbau (2,6 Milliarden RM), der Elektrizitäts- und Gasversorgung (2,0 Milliarden RM) und der Eisen- und Stahlwarenindustrie (1,8 Milliarden RM).78 Laut Zensus hatte Niederschlesien 1936 einen Anteil von 2,9 Prozent am gesamten Nettoproduktionswert der Industrie des Deutschen Reiches.79 Die folgende Tabelle dient der genaueren Beschreibung der niederschlesischen Industrie. Die erste Spalte gibt für jeden Industriezweig innerhalb des Deutschen Reiches an, welchen Anteil die in Niederschlesien Beschäftigten haben.80 Analog beinhaltet die zweite Spalte Angaben zum Nettoproduktionswert.81 74 Vgl. Kazimierski, Polski przemysł zbrojeniowy (wie Anm. 10, S. 17), S. 98. 75 Im Gesamtreich lebten 69,3 Millionen Menschen, in den Ostprovinzen 9,6 Millionen; Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 2 f., 58. 76 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 87. 77 Der Zensus gibt anstatt den Bruttoproduktionswert den Nettoproduktionswert an. Beim Bruttoproduktionswert handelt es sich um die Summe der bei der Herstellung eines Endprodukts verarbeiteten Rohstoffe und Halbfabrikate. Dies führt zu Doppelzählungen, welchen den Wert unter Umständen unberechtigt hoch erscheinen lassen. Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn preisintensive Rohstoffe wie Edelmetalle eingesetzt werden. Daher werden zur Ermittlung des Nettoproduktionswerts die Werte der Vorprodukte, Rohstoffe und weiterer Hilfsmittel wie Energie subtrahiert; vgl. Die Deutsche Industrie, S. 17. 78 Die Deutsche Industrie, S. 13 f. 79 Ebd., S. 114. 80 Ebd., S. 128 ff. 81 Ebd., S. 146 f.
2. „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“
Tabelle III.1.: Anteil der Beschäftigten und der Industrie Niederschlesiens an den Industriezweigen 1936 Industriezweig Reichsweiter BeAnteil an der schäftigtenanteil reichsweiten (in %) Industrie (in %) Bergbau 4,7 3,7 Kraftstoffindustrie 1,4 1,0 Eisen schaffende Industrie – – Nichteisenmetallindustrie 0,8 0,7 Gießereiindustrie 4,1 3,0 Eisen- und Stahlwaren1,2 0,9 industrie Maschinenbau 1,7 1,4 Stahl- und Eisenbau 4,4 4,2 Fahrzeugindustrie 1,2 0,9 Elektroindustrie 0,5 0,3 Feinmechanische und 1,1 1,1 Optische Industrie Metallindustrie und 0,8 0,6 verwandte Gewerbe Industrie der Steine 8,1 6,9 und Erden Keramische und Glasindustrie 12,3 9,4 Sägeindustrie 5,7 4,7 Holz verarbeitende Industrie 3,9 3,1 Chemische Industrie 1,0 0,6 Chemisch-Technische Industrie 1,9 1,4 Kautschuk- und Asbestindustrie – 0,04 (zus. mit Oberschlesien) Papier-, Pappen-, Zellstoff6,7 6,4 und Holzstoffindustrie Druck und Papierverarbeitung 2,9 2,6 Lederindustrie 2,0 1,7 Textilindustrie 5,3 4,6 Bekleidungsindustrie 4,7 5,5 Industrie der Öle und Fette, 1,2 0,5 Futtermittel und tierische Leime Spiritusindustrie 9,3 8,8 Nahrungs- und Genussmittel4,6 3,1 industrie
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Tabelle III.1.: Anteil der Beschäftigten und der Industrie Niederschlesiens an den Industriezweigen 1936 Industriezweig Reichsweiter BeAnteil an der schäftigtenanteil reichsweiten (in %) Industrie (in %) Elektrizitäts- und Gasversorgung 4,2 3,2 Baugewerbe und sonstige Industrie4,3 4,1 zweige Gesamt 3,8 2,9
Tabelle III.2.: Anteil der jeweiligen Industriezweige am Nettoproduktionswert Niederschlesiens 1936 – Bergbau und Grundstoffindustrien (in %) Bergbau 8,40 Kraftstoffindustrie 0,25 Eisen schaffende Industrie 0,00 Nichteisenmetallindustrie 0,40 Gießereiindustrie 2,13 Industrie der Steine und Erden 8,60 Keramische und Glasindustrie 4,67 Chemische Industrie 0,93 Gesamt 25,38
Tabelle III.3.: Bau- und Investitionsgüterindustrien (in %) Eisen- und Stahlwarenindustrie 1,55 Maschinenbau 3,81 Stahl- und Eisenbau 2,35 Fahrzeugindustrie 0,80 Elektroindustrie 0,49 Feinmechanische und Optische Industrie 0,40 Metallindustrie und verwandte Gewerbe 0,50 Baugewerbe und sonstige Industriezweige 17,80 Gesamt 27,3
2. „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“
Tabelle III.4.: Verbrauchsgüterindustrien (in %) Sägeindustrie Holz verarbeitende Industrie Chemisch-Technische Industrie Kautschuk- und Asbestindustrie Papier-, Pappen-, Zellstoff- und Holzstoffindustrie Druck und Papierverarbeitung Lederindustrie Textilindustrie Bekleidungsindustrie Industrie der Öle und Fette, Futtermittel und tierische Leime Spiritusindustrie Nahrungs- und Genussmittelindustrie Elektrizitäts- und Gasversorgung Gesamt
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1,51 2,27 1,04 0,01 2,98 2,59 1,08 13,14 4,18 0,22 2,04 9,42 6,42 40,48
Die relativen Angaben von Tabelle III.1 allein sind nur bedingt hilfreich, da sie nicht vermitteln, wie hoch der tatsächliche Ausstoß der dortigen Industrie war. Ein geringer Anteil einer im Gesamtreich hohen Industrieproduktion kann durchaus bedeuten, dass dieser Industriezweig trotzdem beachtlich ist. Für eine genauere Beschreibung der industriellen Struktur Niederschlesiens ist es daher zielführend, den jeweiligen Produktionsausstoß in ein Verhältnis zur niederschlesischen Gesamtnettoproduktion zu setzen. Dies ist in den Tabellen III.2, III.3 und III.4 erfolgt. In Niederschlesien sind sowohl die „klassischen alten“ als auch die „neuen“ Industrien vorzufinden, letztere haben dort jedoch im Vergleich geringere Bedeutung.82 Betrachtet man die Tabellen III.2 bis III.4, so wird deutlich, dass der Bergbau als Teil der Schwerindustrie mit 8,4 Prozent zwar einen beachtlichen Beitrag zur Industrieproduktion Niederschlesiens leistet. Das gilt jedoch auch für andere Wirtschaftszweige. Die Textilindustrie hat einen Anteil von über 13 Prozent. Zusammen mit der Bekleidungsindustrie nimmt dieser Zweig einen Anteil von 17,32 Prozent ein. Auch die Bauindustrie Niederschlesiens (17,8 Prozent) spielte eine wichtige Rolle. Die Industrie der Steine und Erden und die Keramische und Glasindustrie (8,6 und 4,67 Prozent) stechen ebenfalls hervor. Jenseits der Industrien, die eine klare Spitzenstellung in Niederschlesien einnehmen, gibt es auch eine große Zahl von Industriezweigen, die zwar nicht gleichermaßen bedeutend sind, aber dennoch merklich zum Nettoproduktionswert beitra82 Die Kennzeichnung von „alten“ und „neuen“ Industrien stellt den Versuch dar, diejenigen Industriezweige, welche erst nach der „zweiten wirtschaftlichen Revolution“ aufkamen und in sehr hohem Maße auf wissenschaftlich produziertem Wissen basieren (hier insbesondere die Chemische Industrie und die Elektrotechnik), von denen zu unterscheiden, die bereits länger existieren und üblicherweise Stoffumwandlung betreiben (z. B. Schwerindustrie); vgl. Abelshauser, Kulturkampf (wie Anm. 26, S. 31), S. 105.
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gen. So sind hier die „traditionellen“ Industriezweige zu nennen: die Nichteisenmetallindustrie, die Gießerei- sowie die Eisen- und Stahlwarenindustrie, der Maschinenbau, der Stahl- und Eisenbau sowie die Fahrzeugindustrie. Diese zusammen haben einen Anteil von etwa elf Prozent. Zudem darf die Terminologie von „alter“ und „neuer“ Industrie nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch bei der sog. alten Industrie um stark wissensbasierte Bereiche handelt.83 Ferner stechen Bereiche hervor, die eine starke Affinität zur Agrarwirtschaft haben. Dies betrifft insbesondere die Nahrungs- und Genussmittelindustrie, die Sägeindustrie, die Holz verarbeitende Industrie, die Lederindustrie sowie die Druck- und Papierverarbeitung zusammen mit der Papier-, Pappen-, Zellstoff- und Holzindustrie. Abschließend sind Wirtschaftsbereiche zu nennen, die zwar einen geringen Beitrag zur Gesamtproduktion leisten, jedoch zeigen, dass Niederschlesien eine diversifizierte Industrie besaß. In diesem Rahmen sind auch die neuen Industrien zu nennen: die Elektroindustrie, die Chemische sowie die Chemisch-Technische Industrie, die Feinmechanische und die Optische Industrie. Gleitze macht in seiner Untersuchung deutlich, dass der Industrialisierungsgrad in den Neuen Gebieten 1936 unterhalb desjenigen des Deutschen Reiches lag.84 Dies galt, betrachtet man das Jahr 1936, auch für Niederschlesien. Gemäß dem Industriezensus von 1936 hatte Niederschlesien einen Nettoproduktionswert von durchschnittlich 3288 RM pro Kopf, im Gesamtreich (in den Grenzen von 1937) waren es 4300 RM.85 Damit lag der Pro-Kopf-Nettoproduktionswert Niederschlesiens 23,5 Prozent unterhalb des Reichsdurchschnitts. Damit scheint sich zunächst die Annahme zu bestätigen, es habe sich bei den Ostprovinzen um auch wirtschaftlich „periphere“ Gebiete gehandelt. 2.4. Qualifikation und Ausbildung der Beschäftigten in der niederschlesischen Industrie Neben Umfang und Art der Industrieproduktion ist die Frage relevant, welche Bedeutung wissensbasierte industrielle Produktion Niederschlesiens hatte. Damit verbunden ist die Frage der Berufsausbildung. Partizipierte es am Ausbildungssystem des Deutschen Reiches, oder beruhte die industrielle Produktion Niederschlesiens auf un- bzw. angelernten Arbeitskräften? Diese Frage wird beantwortet, indem sie in Bezug auf das gesamte Deutsche Reich gestellt wird und anschließend geprüft wird, ob Niederschlesien dem Muster entsprach. In den letzten 15 Jahren sind zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten entstanden, die einen Beitrag dazu leisteten, verschiedene „Kapitalismen“ qualitativ zu differenzieren. Theoretischer Ausgangspunkt war in den meisten Fällen die Neue 83 So z. B. bei Krupp, wo sich auf wissenschaftlichem Wissen basierende Neuentwicklungen regelmäßig als entscheidend für das Unternehmen erwiesen; vgl. Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 354 f. Dieser Sachverhalt wird im weiteren Verlauf noch genauer diskutiert. 84 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 3, 58. 85 Zum Vergleich: In der Provinz Westfalen lag die Industrieproduktion pro Kopf bei 4360 RM, in Südbayern bei 4309 RM; vgl. Die Deutsche Industrie, S. 144, 146.
2. „Ein Beispiel für technologische Rückständigkeit?“
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Institutionenökonomik. Sie untersucht Institutionen, allgemein anerkannte „Spielregeln“, Denk- und Handelsweisen, die menschliche Interaktion formen.86 Unter anderem auf dieser Grundlage basiert das Konzept vom „Sozialen System der Produktion“. Es geht davon aus, dass gesellschaftlich verankerte Institutionen die Produktionsmöglichkeiten gleichzeitig einschränken und erweitern.87 In zahlreichen wirtschaftshistorischen Aufsätzen wurde es unternommen, das soziale System der Produktion verschiedener Länder zu spezifizieren, um so unter anderem die Beobachtung besser erklären zu können, dass Länder häufig in wenigen Industriezweigen auf dem Weltmarkt erfolgreich sind, während sie in anderen keine oder nur geringe Erfolge vorweisen können.88 Eine Arbeit, die sich spezifisch mit der deutschen Entwicklung und ihren Alleinstellungsmerkmalen nach den 1870er Jahren beschäftigt, hat Abelshauser vorgelegt. Er argumentiert, dass der bereits erwähnte Durchbruch von wissenschaftlich produziertem Wissen, dass in Deutschland ein soziales System der Produktion – er selbst nennt es Produktionsregime – entstand, das in immer stärkerem Maße die qualifizierte Berufsausbildung der angehenden Beschäftigten sicherstellt. Ebenso diagnostiziert er als Hauptattribut, das dem deutschen Produktionsregime zugesprochen werden kann, Langfristigkeit. Dieses findet sich in vielen Bereichen wieder89 : – Hochqualifizierte Stammbelegschaften als zentrales Element effektiver Produktion, – langfristige Bindung der Belegschaft an den Betrieb, – eine spezifische Berufsausbildung, die allen Branchenfachkräften dasselbe theoretische Wissen vermittelt, sorgt für einen offenen Technologietransfer und gewährleistet, dass neues Wissen rasch der gesamten Branche zur Verfügung steht, – gewachsene Industrie-Bank-Beziehungen für langfristige Planung und – historisch gewachsene regionale Verbundsysteme. Dies sind gleichermaßen die Eigenschaften, die Hall und Soskice dem deutschen Produktionsregime für das Ende des 20. Jahrhunderts zuschreiben.90 Diese Institutionen dienen unter anderem dazu, wissenschaftlich produziertes Wissen rasch zu 86 Genauer zum Begriff der Institutionen siehe Douglass C. North, Institutions, institutional change and economic performance (Political economy of institutions and decisions), Cambridge 18 2004, S. 3 und Kapitel I; Hall/Soskice, Introduction to Varieties of Capitalism (wie Anm. 25, S. 31), S. 9. 87 Hollingsworth, Continuties and Changes (wie Anm. 26, S. 31), S. 266. 88 Der Sammelband von Hall und Soskice widmet sich hier unter anderem Schweden, Deutschland, Groß-Britannien, den USA und Dänemark; vgl. Hall/Soskice (Hrsg.), Varieties of capitalism (wie Anm. 26, S. 31). 89 Vgl. Abelshauser, Kulturkampf (wie Anm. 26, S. 31), S. 103 ff. 90 Hall/Soskice, Introduction to Varieties of Capitalism (wie Anm. 25, S. 31), S. 18–23.
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verbreiten, damit es sich in der Produktivität bemerkbar macht und seine Wirkung entfalten kann. Materielles Kapital wie Maschinen, Energie etc. hat hier die Rolle von „komplexen Instrumenten“. Sie können umso besser genutzt werden, je besser die Facharbeiter mit ihrer Bedienung vertraut sind. Das deutsche Produktionsregime ist in besonderer Weise dafür geeignet, neu geschaffenes Wissen auf breiter Ebene verfügbar zu machen. Neue Technologien werden über das Ausbildungssystem den nachkommenden Facharbeitern gelehrt, so dass Sie eine spezielle Ausbildung erfahren und auf aktuellem technologischen Niveau arbeiten können. Der offene Technologietransfer, durch den der Branchenstandard zeitnah auch Ausbildungsstandard wird, ist hier von zentraler Bedeutung. Das macht deutlich, dass nicht nur die Produktion von Wissen wichtig ist, sondern ebenso eine Infrastruktur, die die rasche Verbreitung dieses Wissens sicherstellt. Die Kopplung von Wissenschaft und Wirtschaft ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgestaltet, und in verschiedenen Ländern wurden jeweils eigene Institutionen zur Lösung dieses Problems entwickelt. Dass das Deutschland des späten 20. Jahrhunderts in zahlreichen Wirtschaftssegmenten in hohem Maße von Wissensnetzwerken – verstanden als jeweils in komplementärer Abhängigkeit stehende spezialisierte Gruppe von Beschäftigten – abhängig ist, die auf einem gut ausgebildeten und häufig spezialisierten Beschäftigtenstamm basieren, diese Forschungsmeinung wird auf breiter Ebene vertreten.91 Diese Darstellung kann jedoch nicht ungeprüft auf das Deutschland der 30er und 40er Jahre projiziert werden.92 Zunächst ist das Duale Ausbildungssystem neben der universitären Ausbildung ein zentrales Element für die Verbreitung sowohl von Wissen als auch technologischer Standards. Das damals wie heute in Deutschland etablierte System der Dualen Berufsausbildung kann hier als anschauliches Beispiel dienen. Hierbei werden in einer bis zu drei Jahre dauernden Ausbildung Fachkräfte sowohl in der betrieblichen Praxis als auch auf theoretischer Ebene in den Berufsschulen ausgebildet. Hierbei bestimmen die Unternehmen zusammen mit den Gewerkschaften die Lehrinhalte und gewährleisten auf diese Weise, dass die Fähigkeiten der Facharbeiter den Bedürfnissen der Branche entsprechen.93 Durch dieses Ausbildungssystem ist ein Mechanismus etabliert, der gewährleistet, dass frei gewordene Stellen schnell durch „passende“ Beschäftigte besetzt werden – „passend“ deswegen, weil Aus91 So etwa durch Abelshauser, Hollingsworth und Welskopp; Vgl. Thomas Welskopp, Birds of a Feather. A Comparative History of German and US Labor in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hrsg.), Comparative and transnational history. Central European approaches and new perspectives, New York 2009, 149–177, hier S. 149; Werner Abelshauser, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung (Kulturwissenschaftliche Interventionen, Bd. 4), Berlin 2003; J. Rogers Hollingsworth, Continuties and Changes in Social Systems of Production: The Cases of Japan, Germany and the United States, in: J. Rogers Hollingsworth/Robert Boyer (Hrsg.), Contemporary Capitalism. The Embededness of Institutions, Cambridge 1997, 265–310.; aktuell hierzu ebenfalls Abelshauser/Gilgen/Leutzsch (Hrsg.), Kulturen der Weltwirtschaft (wie Anm. 26, S. 31). 92 Vgl. Welskopp, Birds of a Feather (wie Anm. 91), S. 139. 93 Abelshauser, Kulturkampf (wie Anm. 26, S. 31), S. 104.
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zubildende durch die frühe Einbindung in den betrieblichen Ablauf von Beginn an ins Wissensnetzwerk integriert werden. Auch deswegen können in Deutschland Technologien über einen längeren Zeitraum verfolgt und somit immer spezifischer werden.94 Damit stellt sich die Frage, wie hoch die Bedeutung der jeweiligen Beschäftigten im hier untersuchten Zeitraum für die industrielle Produktion ist. Einer Antwort auf diese Frage auf die Spur zu kommen ist unter anderem Ziel dieser Arbeit. Das für die wirtschaftliche Produktion notwendige Wissen kann auf einer breiten gut ausgebildeten (Fach-)Arbeiterschaft beruhen. Zwingend der Fall sein muss das jedoch nicht.95 Anders formuliert wird hier die Frage nach dem durchschnittlichen Ausbildungsniveau der deutschen Beschäftigten Ende der 30er Jahre sowie während des Krieges gestellt. Die Ausbildung von Facharbeitern erfolgte im Kaiserreich zunächst in den Handwerksbetrieben.96 Mit dem Handwerksgesetz von 1897 wurde das Duale Ausbildungssystem kodifiziert. Die Handwerksbetriebe waren auch zunächst die Hauptquelle für Facharbeiter, aus der sich nebst Anderen auch die aufstrebenden neuen Industrien – die Chemische und die Elektrotechnische Industrie – bedienten. Die Industrie entwickelte jedoch in den Folgejahren ein eigenes Ausbildungsnetz, was sie von den Handwerksbetrieben weniger abhängig machte. Das führte zu zahlreichen Konflikten. Sie bezogen sich in erster Linie auf das in der Ausbildung vermittelte Wissen und auf die Zertifizierungsverfahren. Dieser Konflikt zog sich bis in die 20er Jahre hin und wurde bis 1933 nicht gelöst. Zwar konnten die in der Industrie ausgebildeten Facharbeiter in den Handwerkskammern ihre Abschlussprüfung absolvieren und waren somit formal mit den Auszubildenden des Handwerks gleichgestellt. Verschiedene Formen der „Gängelung“ zeigten jedoch, dass dieser Kompromiss nicht tragfähig war. Während des Nationalsozialismus kam dieses Problem wieder auf. Grund war der nach 1935 einsetzende Mangel an Fachkräften, der durch den Abbau der Arbeitslosigkeit entstand. Das NS-Regime hatte hierbei das Ziel, mehr Industriefacharbeiter ausbilden zu lassen. Aus diesem Grunde wurden die Industrie- und Handelskammern den Handwerkskammern gleichgestellt.97 Dies bedeutete, dass die 94 Daher ist es auch fraglich, ob sich in hochspezialisierten Clustern die Beobachtung Aroras und Gambardellas bestätigen lässt, dass Wissen seit Mitte der 80er Jahre einen generelleren Charakter annehme und sich allgemeiner nutzen lasse; vgl. Ashish Arora/Alfonso Gambardella, The Changing Technology of Technological Change: General and Abstract Knowledge and the Division of Innovative Labour, in: Reserach Policy 23 (1994), 523–532, hier S. 523 f. 95 Siehe hierfür modellhaft die Darstellung von Peter Hall und David Soskice, die darauf hinweisen, dass etwa in den USA das Wissen auf eine hervorragend ausgebildete, kleine Gruppe von Forschern, Entwicklern etc. limitiert ist. Die Abhängigkeit von wissenschaftlich produziertem Wissen allein setzt also noch nicht voraus, dass jeder Beschäftigte darüber verfügt; vgl. Hall/ Soskice, Introduction to Varieties of Capitalism (wie Anm. 25, S. 31). 96 Zum Folgenden vgl. Kathleen Ann Thelen, How institutions evolve. The political economy of skills in Germany, Britain, the United States, and Japan (Cambridge studies in comparative politics), Neuauflage, Cambridge 2006, S. 39 ff. 97 Ebd., S. 222.
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Industrie nun selbst Prüfungen durchführen und abgeschlossene Ausbildungen zertifizieren konnte. Damit konnte jeder Industrie- oder Handwerksgeselle sowohl im Handwerk als auch in der Industrie arbeiten. Ein weitere wichtige Maßnahme für das Ausbildungssystem war das Reichsschulgesetz von 1938. Dieses Gesetz machte das Duale Ausbildungssystem gesetzlich bindend. 1933 waren 45 Prozent der Industriearbeiter Facharbeiter, 20 Prozent waren angelernt. Die übrigen 35 Prozent hatten keine Berufsausbildung.98 Nur ein Drittel der in der Industrie Beschäftigten hatte also keinen Ausbildungsabschluss. Dennoch stieg schon vor dem Jahr 1938 die Zahl der Ausbildungsverhältnisse stark an. Grund hierfür war der zuvor bereits angesprochene Fachkräftemangel. Hauptverantwortlicher für die erfolgreiche Realisierung dieses Ausbildungssystems war Karl Arnhold, der 1925 auch das „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung“ (DINTA) gründete.99 Es wurde 1933 in die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) integriert und erhielt den Namen „Amt für Betriebsführung und Berufserziehung“.100 Misst man den Erfolg des Gesetzes daran, wie groß der Anteil der Schulabgänger war, die in der Industrie eine Ausbildung begannen, war es eine Erfolgsgeschichte: „After 1938 about 90 percent of all boys leaving grammar school, together with increasing numbers of those who had left earlier, entered three-year apprenticeships in industry, artisanship (Handwerk), commerce, or agriculture.“101 Das Reichsschulgesetz hatte somit im Ergebnis eine „lückenlose Einführung der industriellen Berufsausbildung“102 zur Folge.103 Aus diesen Ausführungen lässt sich ableiten, dass die Bevölkerung im Deutschen Reich gut ausgebildet war – ein Umstand, der für das sog. deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit von hoher Bedeutung war.104 Doch galt das auch für Niederschlesien? Empirische Quellen, mit denen diese Frage eindeutig beantwortet werden könnte, stehen nicht zur Verfügung. Zwar gibt es verschiedene Arbeiten, die sich mit der Zahl der Vertriebenen aus den verschiedenen Regionen beschäftigen105 , jedoch schlüsseln diese nicht auf, wie stark die Berufsgruppen jeweils vertreten waren. Nur Gleitze bietet eine Aufstellung an, bei der die Arbeitskräfte nach Wirtschaftsbereichen und die Stellung im Beruf, jeweils für das Jahr 1939, nach – aus damaliger Sicht – Ost-, Mittel- und Westdeutschland gegliedert sind106 : 98 John Gillingham, The Deproletarianization of German Society – Vocational Training in the Third Reich, in: Journal of Social History 19.3 (1986), 423–432, hier S. 428. 99 Ebd., S. 424. 100 Ebd. 101 Ebd., S. 428. 102 Abelshauser, Kulturkampf (wie Anm. 26, S. 31), S. 107. 103 Der Erfolg überraschte sogar die Machthaber selbst, und sie bemühten sich in der Folge sogar, einen größeren Anteil der Schulabgänger wieder von einer Ausbildung abzuhalten. Die Versuche scheiterten jedoch; vgl. Gillingham, Deproletarianization of German Society (wie Anm. 98), S. 427. 104 Vgl. Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder (wie Anm. 15, S. 52), S. 535. 105 Vgl. Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen Teil I. Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940–1985, Bonn 1986. 106 Vgl. Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 30 f.
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Tabelle III.5.: Arbeitskräfte mit Angehörigen nach Wirtschaftsbereichen 1939 (in %) OstMittel- Berlin WestDeutdeutdeutdeutsches schschschReich land land land insg. Wirtschaftsbereiche Land- u. Forstwirtschaft 34,1 18,0 0,7 20,6 20,7 Industrie u. Handwerk 35,8 51,5 48,6 48,1 47,2 Handel und Verkehr 15,9 17,2 29,4 18,0 18,2 Öffentliche Dienste 11,9 11,1 18,4 11,0 11,6 Häusliche Dienste 2,3 2,2 2,9 2,3 2,3 Wirtschaft insgesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
Tabelle III.6.: Erwerbspersonen 1939 nach ihrer Stellung im Beruf (in %) OstMittel- Berlin Westdeutdeutdeutschschschland land land a) in Land- und Forstwirtschaft Selbständige 19,7 18,7 – 23,6 Mithelfende Familienangehörige 44,7 45,0 – 59,4 Arbeiter, Angestellte, Beamte 35,6 36,3 – 17,0 b) in Industrie und Handwerk Selbständige 11,2 8,4 6,7 10,0 Mithelfende Familienangehörige 2,6 2,3 1,6 1,8 Angestellte und Beamte 8,6 10,7 19,3 11,5 Arbeiter 77,6 78,6 72,4 76,7 Vergleicht man die Angaben zur Beschäftigtenstruktur des damaligen Ostdeutschlands mit denen Mittel- und Westdeutschlands, fällt zunächst auf, dass der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten in Ostdeutschland mit 34,1 Prozent deutlich höher lag als in den übrigen Provinzen, während es sich bei den Beschäftigten in Industrie und Handwerk genau umgekehrt verhielt. Die Angaben Gleitzes beziehen sich auf die Ostprovinzen als Ganzes. Bei Betrachtung der Wirtschaftsstruktur der jeweiligen Provinzen wird deutlich, dass sich die dortige Landwirtschaft in erster Linie auf Pommern und Ostpreußen konzentrierte, auch wenn die agrarische Prägung Niederschlesiens nicht von der Hand zu weisen ist. Es ist daher anzunehmen, dass sich die Industriebeschäftigten auf Schlesien konzentrierten, während insbesondere in Pommern und Ostpreußen die Zahl der in der Land-
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und Forstwirtschaft Beschäftigten überdurchschnittlich hoch war. Innerhalb des Bereichs „Industrie und Handwerk“ zeigt sich, dass der Anteil der Erwerbspersonen nach ihrer Stellung im Beruf in West-, Mittel- und Ostdeutschland nur wenig voneinander unterschied. Ein weiterer Aspekt ist die Zahl der Berufsschulen. 1937/38 gab es in Niederschlesien 101 Berufs- und Fachschulen, 51 befanden sich im Regierungsbezirk Breslau, 50 im Bezirk Liegnitz.107 Die Ostprovinz besaß mithin ein Berufsschulnetz, es fügte sich sich in das reichsdeutsche Ausbildungssystem ein. Die Beschäftigtenstruktur zeigt, dass sich der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Handwerk in Niederschlesien nah am Reichsdurchschnitt bewegte. Das Netz von Berufsund höheren Schulen macht deutlich, dass die Berufsausbildung ein elementarer Bestandteil der niederschlesischen Industrie war. Damit lässt sich die Diagnose Gleitzes bestätigen: Innerhalb „der ostdeutschen (Gemeint sind die Gebiete jenseits von Oder und Neiße, Y. K.) Landwirtschaft, der Industrie, des Handwerks, des Handels usw. (. . . ) [sind] die sozialen Strukturbilder nicht anders als sonst in Deutschland, von einigen typischen Merkmalen abgesehen.“108 Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass die stark wissensbasierten Zweige der Elektro- und Chemischen Industrie sowie des Maschinenbaus jenseits ihrer eigenen Branchengrenzen eine tiefgreifende Wirkung entfalteten. Dieser Hinweis ist möglicherweise trivial, da die wirtschaftshistorische wie sozialhistorische Forschung an verschiedenen Stellen gezeigt hat, dass Technologien regelmäßig auch sozial verankert sind.109 Diese Hypothese lässt sich sicherlich für verschiedene Produktionsregimes bestätigen, für diese Untersuchung wichtig ist jedoch der Aspekt, dass durch diese neuen bzw. – im Fall des Maschinenbaus – fundamental gewandelten Industriezweige auch die Wissensanforderungen in weiteren Industriebranchen im Deutschen Reich gestiegen sind. Zunächst ist hier die Kopplung der drei genannten Branchen untereinander zu nennen – Joachim Radkau spricht hier von einem Dreieck.110 Die Herstellung neuer Metall- bzw. Stahlsorten etwa lasse sich ohne die Chemische Industrie nicht sinnvoll gestalten. Diese spielten wiederum im Maschinenbau eine wichtige Rolle. Überhaupt waren die Chemische und die Elektroindustrie „nicht mehr mit bestimmten Produkten zu identifizieren“, sondern zu „Technologien geworden: zu universal anwendbaren Verfahren, die eine spezifische Kompetenz erfordern“.111 Die Chemische Industrie und die Elektroindustrie wurden zu Schlüsselindustrien der Schwerindustrie. Auch hatte die Elektrifizie107 Vgl. Handbuch der Schulen im Gau Schlesien, Band 1, Regierungsbezirk Breslau, Breslau 1939; Handbuch der Schulen im Gau Schlesien, Band 2, Regierungsbezirk Liegnitz, Breslau 1937. 108 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 30. 109 Vgl. etwa Thomas P. Hughes, The Evolution of Large Technological Systems, in: Wiebe E. Bijker/Thomas P. Hughes/Trevor J. Pinch (Hrsg.), The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of Technology, Cambridge 12 2005, 51–82, hier S. 51. 110 Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, umfassend überarb. u. aktual. Ausg., Frankfurt am Main und New York 2008, S. 135. 111 Ebd., S. 269. Zum Folgenden, wenn nicht anders angegeben, siehe ebd., S. 268–285.
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rung in der Mechanisierung der kleinen und mittleren Betriebe Entwicklungsschübe gebracht, auch wenn schließlich die konstant hohe Nachfrage nach bedarfsnahen Gütern und Dienstleistungen der Flexibilität der Kleinbetriebe entgegenkam und ihr Überleben sicherte. Von beiden Entwicklungen wird Niederschlesien profitiert haben. Diese sektoralen Querverbindungen lassen sich gut am Krupp-Konzern beobachten, der auch innovativen Werkstoffen wie dem Hartmetall „Widia“ oder der Produktion von Nickel- und rostfreiem Stahl seinen Erfolg verdankte. Sonderstähle wurden unter anderem als Zahnersatz verwendet.112 Ein weiteres Beispiel sind Kunstfasern, die weit über die Chemische Industrie hinaus unter anderem in der Textilindustrie zu einem wichtigen Element der Produktion geworden sind.113 Wegen dieser Abhängigkeiten zwischen den Industriezweigen betont Petzina, dass die sich Verwissenschaftlichung der Produktion „im Übergang von einfachen zu komplizierteren Produktionsmethoden“ sowie „in den Veränderungen der Branchen zueinander“ gezeigt habe.114 Niederschlesien mit seiner breitgefächerten Industrie war hier keine Ausnahme. Damit lässt sich die These, bei Niederschlesien handle es sich um einen peripheren Wirtschaftsraum, nicht halten, im Gegenteil. Die Angaben zur niederschlesischen diversifizierten Industriestruktur ebenso wie die oben hervorgehobenen Eigenschaften der Beschäftigtenkohorten und des Ausbildungssystems machen das deutlich. Tatsächlich war Niederschlesien auf dem Sprung in die wissensbasierte, nach-industrielle Wirtschaft. 3. DIE ENTWICKLUNG DES NIEDERSCHLESISCHEN INDUSTRIEPOTENZIALS BIS 1944 Die bisherige Darstellung beschränkte sich bis auf wenige Ausnahmen auf das Jahr 1936. Gleichermaßen wichtig ist jedoch, wie sich die niederschlesische Industrie bis 1945 entwickelte. Das ist notwendig, um den Erfolg bei der Ingangsetzung im Rahmen der polnischen Wirtschaftspolitik richtig einordnen zu können. Die Forschung zum Industriepotenzial des Deutschen Reiches ist teilweise anachronistisch vorgegangen. Während für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie zur Deutschen Demokratischen Republik durchaus anerkannte Untersuchungen existieren115 , ist das für die ehemaligen deutschen Ostgebiete nur sehr begrenzt der Fall. Seit dem Jahr 1935 hatten die Investitionen im Deutschen Reich das Ziel, die Rüstungskapazitäten zu erhöhen.116 Das hatte auf die Qualität des Anlagekapitals 112 113 114 115
Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 18, 20 f. Ernst Bäumler, Ein Jahrhundert Chemie, Düsseldorf 1963, S. 106 f. Petzina, Industrie und Handwerk (wie Anm. 4, S. 25), S. 224. Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 70; André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 625), Bonn 2007, S. 28; Rolf Krengel, Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung der Industrie im Gebiet der Bundesrepublik von 1924 bis 1956, Berlin 1958. 116 Tooze, Ökonomie der Zerstörung (wie Anm. 13, S. 52), S. 247; Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder (wie Anm. 15, S. 52), S. 512.
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der deutschen Industrie sowie auf den Nettoproduktionswert Auswirkungen. Es ist aus verschiedenen Gründen davon auszugehen, dass das Bruttoanlagevermögen im Deutschen Reich nach 1936 deutlich zugenommen hat. Die Höhe der Investitionen ist jedoch umstritten.117 Es hat sich auch als Problem erwiesen, Angaben zu den Ostprovinzen zu erhalten. Zwar geht z. B. Abelshauser davon aus, dass sich das Bruttoanlagevermögen 1945 20 Prozent oberhalb dessen von 1936 befunden hatte.118 Jedoch basieren seine Angaben auf den Zahlen von Rolf Krengel, der das Anlagevermögen der Industrie auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von 1924 bis 1956 empirisch untersucht hat.119 Somit betreffen diese Zahlen nur die spätere BRD. Krengel legt in seiner Arbeit nicht offen, wie es ihm gelang, für die Zeit von 1924 bis 1945 die Zahlen für die Bundesrepublik zu isolieren. Er spricht dieses Problem zwar an, präsentiert jedoch keine explizite Lösung.120 Eine ähnliche Aufstellung hat Steiner für die DDR vorgenommen. Teilweise mit den Werten Krengels arbeitend, geht er davon aus, dass das Bruttoanlagevermögen in diesen Gebieten 1945 23,1 Prozent höher lag als 1936. Hierbei sind die Abschreibungen und die Kriegszerstörungen bereits mit berücksichtigt.121 Beide machen jedoch keine Angaben zu der Frage, wie sich das Bruttoanlagevermögen in den damaligen deutschen Ostgebieten entwickelt hat. Somit kann man die Erhebung Krengels nur als Anhaltspunkt dafür nehmen, dass auch in der späteren DDR und in den Neuen Gebieten das Anlagevermögen anstieg. Zusätzliche verlässliche Zahlen zum Anlagevermögen im Deutschen Reich sind nicht vorhanden. Im Ergebnis sind diese Angaben nicht dazu nutzbar, um an präzise Daten zum Bruttoanlagevermögen der Neuen Gebiete zu gelangen. Die Quellenlage zur Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in der Industrie Niederschlesiens ist gut. Sie erlaubt es, Angaben zur Entwicklung Niederschlesiens zu gewinnen. Eine Untersuchung der Beschäftigtenzahlen hat den großen Vorteil, gegenüber „Manipulationen“ weniger anfällig zu sein. Als Quellen für die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen dient neben dem Industriezensus von 1936 und den Studien des Breslauer Wirtschaftsforschungsinstituts eine Erhebung der Gauwirtschaftskammer Niederschlesien aus dem Jahre 1944. Wichtig ist an dieser Stelle die Frage der Verlässlichkeit der Daten. Bezüglich des Zensus gibt es hier in der Wissenschaft wenig Zweifel. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze beispielsweise betrachtet die Erhebung des Statistischen Reichsamts als verlässlichen Ausgangspunkt für die Erforschung der deutschen Industrie.122 Die Daten des Statistischen Dezernats der Gauwirtschaftskammer Schlesien haben keinen solchen Bekanntheitsgrad. Die Frage ihrer Zuverläs117 Aktuell hierzu siehe Jonas Scherner, Nazi Germany’s preparation for war: evidence from revised industrial investment series, in: European Review of Economic History 14.3 (2010), 433–468. 118 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 70. 119 Rolf Krengel, Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung der Industrie im Gebiet der Bundesrepublik von 1924 bis 1956, Berlin 1958. 120 Vgl. ebd., S. 82 f. 121 Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 115, S. 73), S. 28. 122 Tooze, German industry (wie Anm. 11, S. 51), S. 97. Im Falle des Zensus gibt es jedoch auch
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sigkeit kann daher nicht so umfassend beantwortet werden, dass jegliche Zweifel ausgeräumt werden können. Einige Anhaltspunkte sprechen jedoch für Ihre Richtigkeit. Die Auflistung der Zahl der Arbeitskräfte wurde als Geheim eingestuft.123 Dies bedeutet, dass eine Veröffentlichung mit dem Ziel, durch Fehlinformationen auf die Meinungsbildung der Öffentlichkeit oder der Kriegsgegner einzuwirken, nicht angestrebt wurde. Gemäß dem beiliegenden Schreiben war einer der Adressaten der Erhebung unter anderem die dem Reichswirtschaftsministerium unterstehende Reichswirtschaftskammer.124 Dass Ämter gezielt mit Falschinformationen ausgestattet werden sollten, kann praktisch ausgeschlossen werden. Ähnliches gilt für den Industriezensus. Ziel war auch hier, eine Grundlage für die weitere wirtschaftliche Planung zu besitzen. Bei den Untersuchungen des niederschlesischen Instituts für Wirtschaftsforschung kann ebenfalls angenommen werden, dass gezielte Manipulation keine Rolle spielte. 3.1. Entwicklung der einzelnen Wirtschaftszweige bis 1944 anhand der Beschäftigtenzahlen Die zur Verfügung stehenden Quellen erlauben es zu zeigen, wie sich die Charakteristik der niederschlesischen Wirtschaft veränderte. Dies ist möglich, da die Quellenangaben für die Beschäftigtenzahlen in der niederschlesischen Industrie herangezogen werden können. Für die Jahre 1938 und 1943 etwa hat das niederschlesische Institut für Wirtschaftsforschung eine Übersicht erstellt. Sie gibt einen groben Überblick darüber, wie viele Beschäftigte in den jeweiligen Wirtschaftsbereichen tätig waren. Sie enthält folgende Auflistungen125 :
entgegenstehende Ansichten. Insbesondere Rainer Fremdling betrachtet die Untersuchung sehr kritisch und geht davon aus, dass sämtliche Angaben wesentlich höher angesetzt werden müssen. So sei die Zahl der Arbeitskräfte 50 Prozent (also knapp zwölf Millionen anstatt der angegebenen acht Millionen (Die Deutsche Industrie, S. 15.)), die Löhne 16 Prozent, die Bruttowertschöpfung 25 Prozent und die Bruttoproduktion 20 Prozent höher als berechnet gewesen. Auch betrachtet er die Methodik als problematisch. Im Zensus wurden naturgemäß die 14 Industriebereiche untersucht, denen eine militärisch strategische Bedeutung zugemessen wurde; Rainer Fremdling, German Industrial Employment 1925, 1933, 1936 and 1939: A New Benchmark for 1936 and a note on Hoffmann’s Tales (Research Memorandum GD-94b), Groningen, 2007, S. 4. 123 BA R 11/70, Bl. 67 ff. 124 BA R 11/70, Bl. 66. 125 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 113.
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Tabelle III.7.: Beschäftigte in der Land- und Forstwirtschaft Niederschlesiens männl. weibl. insg. davon: Ziv. AusBesch. Besch. länder, Ostarbeiter, Kriegsgefangene Juni 1938 111.231 103.334 214.565 19.000126 August 1943 151.647 163.072 314.719 156.713
Tabelle III.8.: Beschäftigte in Industrie und Handwerk in der Provinz Niederschlesien männl. weibl. insg. davon: Ziv. AusBesch. Besch. länder, Ostarbeiter, Kriegsgefangene Juni 1938 374.953 98.633 473.386 – August 1943 299.544 151.614 451.158 86.423 Eine weitere wichtige Quelle, die genaue Angaben zur Zahl der Beschäftigten enthält, wurde vom Statistischen Dezernat der Gauwirtschaftskammer Niederschlesien erstellt. Sie stellt eine Ergänzung zu zwei Karten dar, die die Bedeutung der jeweiligen Industrien in den jeweiligen Kreisen an der Zahl der jeweils Beschäftigten messen.127 Die erste Karte gibt den Stand im Januar 1942 wieder, die zweite jenen vom März 1944. Zur Ergänzung der beiden Karten sind drei Listen beigefügt. Eine Aufstellung gibt an, wie viele Industriebetriebe sich jeweils 1942 und 1944 in den jeweiligen Kreisen befanden. Die beiden weiteren Listen beinhalten genaue Informationen über die Zahl der Beschäftigten, aufgegliedert nach dem jeweiligen Industriezweig. Addiert man die jeweiligen Daten, so ergeben sich für die Jahre 1942 und 1944 für die jeweiligen Berufszweige folgende Zahlen. Die Informationen zu 1936 wurden hierbei dem Industriezensus entnommen: Tabelle III.9.: Beschäftigte in der niederschlesischen Industrie 1936–1944 1936 1942 1944 Bergbau 26.952 28.193 35.725 Eisenschaffende Industrie 0 67 1.235 Metallindustrie128 630 460 1.581 Gießereiindustrie 7.179 6.393 10.065 Kraftstoffindustrie 479 226 289 126 Zusatzangabe: Geschätzt. 127 BA R 11/70, Bl. 67 ff. 128 Im Zensus „Die Deutsche Industrie“: Nichteisenmetallindustrie.
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Tabelle III.9.: Beschäftigte in der niederschlesischen Industrie 1936–1944 1936 1942 1944 Stahl- und Eisenbau 6.370 8.176 12.907 Maschinenbau 9.422 18.622129 36.278 Fahrzeugindustrie 1.937 7.368 11.403 Luftfahrtindustrie a) 3.473 29.142 Elektroindustrie 1.322 5.213 22.934 Feinmechanische und 1.074 1.273 3.127 Optische Industrie Schiffbau b) 480 1.202 Eisen-, Stahl- und 5.307 12.325 17.654 Blechindustrie Werkstoffverarbeitende und c) 1.894 3.840 verwertende Industrie Metallwaren und verwertende 1.811 1.413 1.385 Industriezweige130 Steine und Erden 32.795 15.678 18.297 Holzverarbeitende Industrie 9.926 11.390 12.726 Glasindustrie d) 3.426 3.697 Keramische Industrie 19.735 5.222 5.319 Sägeindustrie 6.130 5.717 6.645 Chemische Industrie 3.379131 9.218 19.756 Papiererzeugende Industrie 6.655 5.879 6.243 Papierverarbeitende Industrie e) 4.698 3.979 132 Druck 8.267 3.972 3.198 Lederindustrie 3.851 2.811 2.971 Textilindustrie 48.714 37.083 30.340 Bekleidungsindustrie 10.721 16.095 18.682 Lebensmittelindustrie 7.627 11.316 11.790 Brauerei und Mälzerei 3.272 2.651 2.264 Zuckerindustrie 14.560 5.651 6.335 Spiritusindustrie 2.748 1.982 1.586 Gesamt 243.139133 238.365 342.541
129 Möglicherweise bis zu 900 mehr, wegen mangelnder Lesbarkeit nicht erkennbar; vgl. BA R 11/70, Bl. 67. 130 Im Zensus „Die Deutsche Industrie“: Metallwarenindustrie und verwandte Gewerbe. 131 Im Zensus vermutlich zusammen mit der „Chemisch-Technischen Industrie“. 132 Im Zensus zusammen mit dem Bereich „Papierverarbeitung“. 133 Zusammen mit den Bereichen „Metallwarenindustrie und verwandte Gewerbe“ sowie „Industrie der Öle und Fette, Futtermittel und tierischen Leime“.
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Ergänzende Hinweise sind an dieser Stelle notwendig. Die beiden Erhebungen sind weitestgehend, aber nicht vollkommen vergleichbar gestaltet. Der Zensus „Die Deutsche Industrie“ beinhaltet weder die Kategorie „Luftfahrt“ (a) noch die Kategorie „Schiffbau“ (b). Fremdling geht jedoch davon aus, dass die Luftfahrtindustrie Teil der Fahrzeugindustrie war.134 Dasselbe gilt für die Kategorie „Werkstoffverarbeitende und -verwertende Industrie“ (c). Die Kategorien „Glasindustrie“ und „Keramische Industrie“ sind im Zensus zusammengefasst. Daher wurde Erstere zur Kategorie „Keramische Industrie“ hinzugefügt. Ebenso wurde mit den Kategorien „Papiererzeugende Industrie“ und „Papierverwertende Industrie“ verfahren. Dem gegenüber enthält der Zensus zwei Kategorien, die nicht in der Erhebung der Gauwirtschaftskammer Niederschlesien vorzufinden sind. Dies betrifft die „Metallwarenindustrie und verwandte Gewerbe“ mit 1.811 Beschäftigten sowie die „Industrie der Öle und Fette, Futtermittel und tierischen Leime“ (465 Beschäftigte). Beide Wirtschaftsbereiche sind jedoch, betrachtet man die Beschäftigtenzahlen, zu unbedeutend, als dass sie zu problematischen Verzerrungen führen würden. Die Angaben zu den Beschäftigten erlauben es, die Entwicklung der Industrie Niederschlesiens teilweise nachzuvollziehen. Gleitze etwa vertritt, nach 1936 und insbesondere nach 1939 habe sich die Industrie der Neuen Gebiete in hohem Maße entwickelt und in der Folge die westdeutsche Industrie beinahe eingeholt.135 Anhand der vorgestellten Daten kann diese Behauptung am Beispiel Niederschlesiens auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Interessant ist zunächst die Entwicklung der Gesamtzahl der Beschäftigten. So hat es zwischen 1936 und 1942 keine signifikante Änderung der Gesamtbeschäftigtenzahlen gegeben, wohl aber einige Verschiebungen innerhalb der Industrien. In einigen Industriezweigen erfolgten beachtliche Rückgänge. Dies gilt für die Industrie der Steine und Erden, wo sich die Zahl der Beschäftigten mehr als halbierte, ähnlich wie beim Druck und bei der Keramischen und Glasindustrie. Bei der Textilindustrie gab es einen absoluten Rückgang um über 11.000 Beschäftigte. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der in der Bekleidungsindustrie Beschäftigen um etwa 5.300. Die Statistiken wurden von verschiedenen Institutionen erstellt, möglicherweise gab es hier also unterschiedliche Zuordnungen. Doch auch unter dieser Annahme ist ein klarer Rückgang der hier Beschäftigten um mindestens 5.700 erkennbar. Bei der Zuckerindustrie waren 1942 im Vergleich zu 1936 fast nur noch ein Drittel beschäftigt, und auch bei der Spiritusindustrie gab es einen signifikanten Rückgang. Die Abnahme in der Zuckerindustrie lässt sich immerhin teilweise erklären. Gemäß dem Zensus waren in der Lebensmittelindustrie 1936 beinahe 4.000 Beschäftigte weniger tätig als 1942, in der Zuckerindustrie hingegen 9.000 mehr. Im Zensus ist die Zuckerindustrie als Teilbereich der Lebensmittelindustrie aufgeführt. Möglicherweise wurden in beiden Erhebungen die Zuordnungen der Beschäftigten auf unterschiedliche Weise vorgenommen. In jedem Fall ging die Zahl der in diesem Bereich Beschäftigten um mehr als 5.000 zurück. 134 Vgl. Fremdling, German Industrial Employment (wie Anm. 122, S. 75), S. 5. 135 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 11 f.
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Dem gegenüber haben sich die Beschäftigtenzahlen in anderen Bereichen stark erhöht. Zu nennen sind hier unter anderem der Stahl- und Eisenbau und der Maschinenbau, wo es sogar zu einer Verdopplung kam. In der Fahrzeugindustrie und in der Elektroindustrie kam es zu einer Vervierfachung, in der Eisen-, Stahl- und Blechindustrie zu einer Verdopplung und in der Chemischen Industrie zu einer Verdreifachung. Poralla, der 1955 ein Buch zur Chemischen Industrie Polens veröffentlichte, bestätigt, dass die Zahl der großen Chemieunternehmen in den deutschen Ostgebieten während des Krieges wuchs.136 Hinzu kommen die Bereiche Luftfahrt und Schiffbau, die im Zensus überhaupt nicht als Kategorien vorgesehen sind. Der Zensus selbst war vollständig.137 Es ist also davon auszugehen, dass diese Kategorien durch andere Industriebereiche erfasst wurden. Zu beachten ist jedoch, dass jene Beschäftigten, die in den 1942 separat auftauchenden Industriezweigen tätig waren, ebenfalls für den deutlichen Anstieg der Gesamtbeschäftigtenzahl verantwortlich sind. Dies betrifft neben der „Werkstoffverarbeitenden und -verwertenden Industrie“ und dem „Schiffbau“ vor allem die Luftfahrt, wo der Anstieg am auffälligsten ist. Ein Vergleich mit den Beschäftigtenangaben aus der Erhebung des niederschlesischen Instituts für Wirtschaftsforschung ist nicht möglich. Während das Wirtschaftsforschungsinstitut die Beschäftigten in Industrie und Handwerk zusammenfasste138 , beschränkte sich der Zensus auf die Industrie.139 Somit verlieren die Zahlen des Breslauer Instituts zwar nicht ihre Aussagekraft, eine klare Entwicklung lässt sich an ihnen jedoch ebenfalls nicht ablesen. Sie weisen jedoch auf einen anderen Umstand hin. Laut Tabelle III.8 waren im August 1943 etwa 20 Prozent der in der Industrie Tätigen Zwangsarbeiter. Dieser Befund relativiert den Anstieg der „Industriebeschäftigten“ um etwa 100.000 im Jahr 1944, wobei weiterhin ein klarer Anstieg gegenüber 1942 zu erkennen ist. Eichholtz geht davon aus, dass der Vierjahresplan, der für die Zeit von 1936 bis 1940 konzeptioniert war, „eine Verlagerung bedeutender Ressourcen an Produktionsmitteln und Arbeitskräften aus dem Sektor der Friedensproduktion (. . . ) in den der Rüstungsproduktion“ bedeutete.140 Diese Entwicklung lässt sich auch am Beispiel Niederschlesiens bestätigen. Freilich wurde diese Ressourcenverlagerung nach 1936 noch nicht konsequent vollzogen. Abelshauser bringt diese Art der Wirtschaftspolitik auf den Punkt: „Soviel Butter wie nötig, so viele Kanonen wie möglich.“141 Dem steht die Darstellung von Tooze entgegen, innerhalb des Deutschen Reiches seien 1935 70 Prozent und 1936 80 Prozent aller vom Staat abgenommenen Waren und Dienstleistungen auf die Wehrmacht gefallen.142 Tatsächlich 136 Curt Poralla, Das Profil der polnischen Chemiewirtschaft nach dem Kriege (Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen, Bd. 3), Berlin 1955, S. 6 f. 137 Tooze, German industry (wie Anm. 11, S. 51), S. 97. 138 Siehe Tabelle III.8, S. 76. 139 Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 15. 140 Eichholtz/Lehmann/Fleischer, Kriegswirtschaft 1939–45 (wie Anm. 14, S. 52), Bd. 1, S. 16. 141 Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder (wie Anm. 15, S. 52), S. 512. 142 Tooze, Ökonomie der Zerstörung (wie Anm. 13, S. 52), S. 247.
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ist ein Forschungsstreit über die Frage entbrannt, weshalb die Industrieproduktion zwischen 1939 und 1942 stagnierte.143 Die vermutlich erste Interpretation bietet Wagenführ an. Laut seiner These handelt es sich für den untersuchten Zeitraum um eine „Friedensähnliche Kriegswirtschaft“.144 Diese Frage hat in der Forschung zu einer intensiven Diskussion geführt.145 Die Frage, was genau Friedens- und Kriegsproduktion ist, ist jedoch für die Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht leicht zu beantworten. Im Deutschen Reich gab es nur sehr wenige Fabriken, deren einzige Kompetenz es war, Waffen zu produzieren. Die Herstellung von Waffen und Munition war nur eine Fähigkeit der Produktionsstätten unter Mehreren. Industriebetriebe, die für die zivile Produktion von z. B. PKW und Motorrädern genutzt wurden, wurden nach Kriegsbeginn für die Herstellung von Militärfahrzeugen herangezogen. Erst durch die Umstellung auf Kriegsproduktion wurden Betriebe mit einer breiten Produktpalette zu „Waffenfabriken“. Das konnte in verschiedenen Regionalstudien, etwa für Sachsen146 und für den Gau Schwaben147 , gezeigt werden. Diese Flexibilität ist einer der zentralen Fähigkeiten der Facharbeiter, nicht bloß bei der Bedienung der Werkzeugmaschi143 Vgl. Dietmar Petzina/Werner Abelshauser/Anselm Faust (Hrsg.), Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945 (Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 3), 1978, S. 61. 144 Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 26. 145 Albrecht Ritschl beispielsweise geht nicht davon aus, dass bis 1941 von einer „vollständigen Ausrichtung der Wirtschaft auf die Rüstung“ gesprochen werden könne; Albrecht Ritschl, Wirtschaftspolitik im Dritten Reich – Ein Überblick, in: Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, Bd. 23), 2. ergänzte Aufl., Düsseldorf 1993, 118–134, hier S. 131. Müller und Richard Overy nehmen an, die geringe Produktion sei eine Folge der Unfähigkeit der Machthaber gewesen, die Umstellung auf die Kriegsproduktion in ausreichender Konsequenz durchzuführen. Die These Wagenführs einer reinen Friedenswirtschaft gilt daher als widerlegt. Müller spricht von einer „Übergangswirtschaft“; vgl. Rolf-Dieter Müller, Die Mobilisierung der deutschen Wirtschaft für Hitlers Kriegführung, in: Bernhard R. Kroener (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 5/1. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte), Stuttgart 1988, 349–689, hier S. 365. Tooze argumentiert, dass es zwar zu einer Modernisierung des Maschinenbestands gekommen sei, diese Investitionsstrategie jedoch so intensiv verfolgt wurde, dass andere objektiv notwendige Projekte – Investitionen in die Landwirtschaft sowie eine Bekämpfung des nach 1937 einsetzenden Arbeitskräftemangels – nicht verfolgt wurden. In seinen Augen könne daher nur von einer „punktuellen Modernisierung“ gesprochen werden; J. Adam Tooze, „Punktuelle Modernisierung“: Die Akkumulation von Werkzeugmaschinen im „Dritten Reich“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2003), 79–98, hier S. 96, 98. Aktuell hierzu siehe auch Scherner, Preparation for war (wie Anm. 117, S. 74). 146 Exemplarisch etwa Ulrich Heß, Sachsens Industrie in der Zeit des Nationalsozialismus: Ausgangspunkte, struktureller Wandel, Bilanz, in: Werner Bramke (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert, Sonderausgabe (Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen, Bd. 2), Leipzig 1998, 53–88, hier S. 74; sowie Jochen Leimert, Sowjetische Demontagen im Stadt- und Landkreis Chemnitz, in: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins, 73. Jahrbuch (Chemnitz und sein Umland), Chemnitz 2003, 87–106, hier S. 90. 147 Jeffrey Fear, Die Rüstungsindustrie im Gau Schwaben 1939–1945, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 35.2 (1987), 193–216, hier S. 198 f.
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nen. Sie können aufgrund ihrer Ausbildung verschiedene Waren herstellen, ohne dass hier eine zeitraubende Umstellung im Produktionsablauf vollzogen werden muss. Ein niederschlesisches Beispiel ist die Breslauer Waggon- und Maschinenfabrik Linke-Hofmann-Werke AG. Sie wurde im Laufe des Krieges immer stärker für die Kriegsproduktion herangezogen. Zunächst wurden hier Kübelwagen produziert, anschließend wurden schienengebundene Spezialfahrzeuge geordert. Neu für die Linke-Hofmann-Werke war die Entwicklung und Lieferung von EisenbahnPanzerzügen und später auch weiterer militärischer Spezialprodukte.148 Somit ist zwar eine Unterscheidung zwischen Friedens- und Kriegsproduktion sinnvoll. Beides konnte jedoch in ein- und denselben Betrieben erfolgen. Tooze betont selbst, dass dies gerade die entscheidende Qualität der deutschen Werkzeugmaschinen war: Sie waren vielseitig, flexibel, und – von einem Facharbeiter bedient – für eine weite Produktpalette geeignet.149 Es ist daher irreführend, wenn Alfred Konieczny von einem starken Anstieg der Zahl der schlesischen Rüstungsbetriebe ausgeht und dies auf den Neubau neuer Betriebe zurückführt.150 Tatsächlich handelte es sich hier mehr um eine Zuschreibung als um eine grundlegende Umstellung der Produktion. Teilt man die Industriezweige in „Gewinner“ und „Verlierer“ auf, ist ein teilweise signifikanter Rückgang bei der Zahl der Beschäftigten in folgenden Industriezweigen zu erkennen: – – – – – –
Steine und Erden Keramische Industrie Textilindustrie Lederindustrie Brauerei und Mälzerei Zuckerindustrie
Demgegenüber gab es einen deutlichen Anstieg in folgenden Industrien: – – – – – – – – – – – –
Bergbau Stahl- und Eisenbau Maschinenbau Fahrzeugindustrie Luftfahrtindustrie Elektroindustrie Feinmechanische und Optische Industrie Schiffbau Werkstoffverarbeitende und -verwertende Industrie Holzverarbeitende Industrie Chemische Industrie Lebensmittelindustrie
148 Vgl. Konrad Fuchs, Die Wirtschaft, in: Josef Joachim Menzel/Ernst Birke (Hrsg.), Geschichte Schlesiens 1740–1918/45 (Geschichte Schlesiens, Bd. 3), Stuttgart 1999, 105–164, hier S. 160. 149 Tooze, Punktuelle Modernisierung (wie Anm. 145), S. 81. 150 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 24.
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Die Mehrzahl der „Gewinnerindustriezweige“ ist als rüstungsrelevant einzustufen. Es handelt sich hier daher um eine Entwicklung, wie sie vor dem Hintergrund der Kriegsindustrie zu erwarten war. Eine Ausnahme ist die Lebensmittelindustrie. Möglicherweise wurde ein Teil der Nahrungsmittelproduktion des Reiches in Richtung „Kornkammer“ verlagert. Doch wie ist die Arbeitskräfteentwicklung jenseits dessen zu interpretieren? Welche Rückschlüsse lassen sich in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung Niederschlesiens ziehen? Und wie unterscheidet sich die Entwicklung Niederschlesiens von derjenigen des übrigen Reiches? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu prüfen, auf welchem Pfad sich die Industrie des Deutschen Reiches befand. Gerade für den vorliegenden Zeitraum von 1936 bis Kriegsende ist das mit einigen Schwierigkeiten verbunden. In den Untersuchungszeitraum fallen zwei Zäsuren. Ausgehend vom Jahr 1936 stellt der Kriegsbeginn im Jahr 1939 die erste Zäsur dar. In diesen Zeitraum fällt die Zeit der Aufrüstung.151 Nach Kriegsbeginn stellt das Jahr 1942 die zweite Zäsur für die Wirtschaft des Dritten Reiches dar, die den Übergang in eine kompromisslose Kriegswirtschaft markiert. Die drei Jahre von 1942 bis 1945 unterscheiden sich in dieser Hinsicht deutlich von der ersten Kriegshälfte von 1939 bis 1942. Im Folgenden werden die jeweils drei Jahre andauernden Phasen auf die Frage hin untersucht, wie sich das niederschlesische Industriepotenzial entwickelte und inwieweit sich die Entwicklung der ostdeutschen Region von derjenigen in den anderen Gebieten des Deutschen Reiches unterschied. 3.2. 1936–1939: Eine niederschlesische Industrialisierung? In diesem Abschnitt wird untersucht, wie sich Niederschlesien nach Erhebung des Industriezensus bis Kriegsbeginn entwickelte. Zwar kam es nach 1935 zu hohen Investitionen in der deutschen Industrie. Zusätzlich zur Frage, wie sie zu beurteilen sind – auf den Forschungsstreit wurde bereits hingewiesen – stellt sich bei Niederschlesien das zusätzliche Problem, dass unklar ist, wie die Ostprovinzen von diesen Investitionen profitierten. Dass hier Sonderfaktoren zu berücksichtigen sind, unterstreicht etwa Gleitze, indem er darauf hinweist, dass es zwar tatsächlich einen reichsweiten intensiven Ausbau der Industrie gegeben habe, jedoch: „Ostdeutschlands industrieller Aufschwung aus der vorangegangenen Wirtschaftskrise vollzog sich weniger schnell.“152 Die Forschung zu Niederschlesien leidet unter dem Problem, dass für diese Region regelmäßig Studien herangezogen werden, die sich nicht nur mit Niederschlesien, sondern mit größeren Regionen beschäftigen, von denen Niederschlesien nur einen Teil darstellt. Aktuelle Arbeiten, die sich mit Niederschlesien oder mit Schlesien beschäftigten, sind rar. Zwar gibt es etwa die Arbeit von Konieczny.153 Es handelt sich hierbei jedoch um ein narrativ gestaltetes Werk, das weder selbst 151 Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 16 ff. 152 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 11. ´ ask 153 Alfred Konieczny, Sl ˛ a wojna powietrzna lat 1940–1944 [Schlesien und der Luftkrieg 1940– 1944] (Acta Universitatis Wratislaviensis, Bd. 1983), Breslau 1998.
3. Die Entwicklung des niederschlesischen Industriepotenzials bis 1944
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den Versuch unternimmt noch dazu geeignet ist, eine Gesamteinschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung Schlesiens bis Kriegsende vorzunehmen. Für die damaligen Ostprovinzen enthält nur die Arbeit Gleitzes empirisches Datenmaterial.154 Er zeichnet die Entwicklung der ostdeutschen Gebiete für die Zeit von 1936 bis 1939 sowie von 1939 bis 1944 nach. Hierbei kommt er zu folgenden Ergebnissen (1936 = 100)155 : Tabelle III.10.: Entwicklung der Bruttoproduktion der ostdeutschen Gebiete (in %) 1936–1939 1939–1944 Bergbau und Grundstoffe + 15,5 + 82,0 Bau und Investitionsgüter + 3,2 + 45,6 Verbrauchsgüter + 26,5 – 19,0 Gesamte Industrie
+ 15,5
+ 29,8
Tabelle III.11.: Entwicklung der Bruttoproduktion des Deutschen Reiches (in %) 1936–1939 1939–1944 Bergbau und Grundstoffe + 20,0 + 14,1 Bau und Investitionsgüter + 37,7 + 26,9 Verbrauchsgüter + 19,2 – 27,6 Gesamte Industrie
+ 26,8
+ 5,7
Das Wachstum nach 1936 hat eine besondere Aussagekraft, weil 1936 die Produktionskapazitäten und Arbeitskraftreserven ausgereizt waren, das Produktionsniveau von 1936 mithin in etwa dem tatsächlichen Potenzial entsprach.156 Dies bedeutet konsequenterweise, dass nach 1936 weiteres Produktionswachstum nicht durch eine bessere Nutzung vorhandener Ressourcen möglich war, sondern nur durch eine Ausweitung der Produktionsbasis. Im untersuchten Zeitraum ist somit ein beachtlicher Anstieg der Verbrauchsgüterindustrie (26,5 Prozent) zu beobachten, der deutlich über demjenigen des Deutschen Reiches liegt (19,2 Prozent). Ansonsten entwickelte sich die Bruttoproduktion der damaligen ostdeutschen Gebiete, vergleicht man sie mit dem Gesamtreich, klar unterdurchschnittlich. Dies gilt für den Bereich „Bergbau und Grundstoffe“ ebenso wie für den Bereich „Bau und Investitionsgüter“. Gerade im letzten Fall 154 Vgl. Krengel, Anlagevermögen (wie Anm. 115, S. 73), S. 83; Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 169 ff. 155 Ebd., S. 11. 156 Vgl. Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder (wie Anm. 15, S. 52), S. 518; Scherner, Preparation for war (wie Anm. 117, S. 74), S. 443.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
zeigt sich, dass es in den ostdeutschen Gebieten kaum eine Dynamik gab. Für die kriegswichtigen Industrien bzw. für die Rüstungswirtschaft des Deutschen Reiches spielten die ostdeutschen Gebiete bis Kriegsbeginn daher keine Rolle. Eine genauere Studie, die sich auf Niederschlesien konzentriert, wurde vom niederschlesischen Institut für Wirtschaftsforschung in Breslau erstellt. Dieses Institut wurde im Jahr 1938 geschaffen. Es hatte die Rechtsform eines Vereins und war eine Niederlassung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Sein vollständiger Name lautete „Schlesisches Institut für Wirtschafts- und Konjunkturforschung e. V.“.157 Seine Aufgabe war laut Satzung unter anderem die Erforschung und Beobachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse und Bewegungsvorgänge. Das Institut existierte nur kurz, es hat jedoch während seiner Tätigkeit mehrere wissenschaftliche Arbeiten durchgeführt. Ziel war in der überwiegenden Zahl der Fälle, die Entwicklung der schlesischen Wirtschaft zu dokumentieren, wobei hier ein deutlicher Schwerpunkt auf Niederschlesien gelegt wurde. Eine für die vorliegende Untersuchung sehr wichtige Arbeit trägt den Titel „Kontingentierung von Wirtschaftsgütern und Lebensmitteln im Gau Niederschlesien“.158 Sie ist undatiert, enthält jedoch unter anderem eine Analyse zu den strukturellen Veränderungen in Niederschlesien bis 1943. Zusätzlich liegt eine Liste aller bis zum 1. Oktober 1943 nach Niederschlesien verlagerten Betriebe bei.159 Die Arbeit wurde daher vermutlich Ende 1943 erstellt. Diese Erhebung bestätigt, dass Niederschlesien vor 1939 gegenüber den deutschen Provinzen westlich von Oder und Neiße einen Entwicklungsrückstand hatte. Begründet wird dies mit dem für die Landwirtschaft ungünstigen Klima sowie der schlechten Verkehrsanbindung. Beide Faktoren hätten sich stark nachteilig auf die wirtschaftliche Entwicklung Niederschlesiens ausgewirkt.160 Insbesondere die Folgen des Versailler-Vertrages, die Niederschlesien zu einem Grenzgebiet machten, sollen hier entscheidend verantwortlich gewesen sein.161 Die Erhebung ist in zwei Teile untergliedert. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der „Schlechterstellung Schlesiens gegenüber den übrigen Wirtschaftsgauen im Reich (Stand 1939)“, der zweite trägt den Titel „Strukturelle Veränderungen seit Kriegsausbruch (Stand 1943)“. Dies macht bereits deutlich, dass es sich für die Zielsetzung dieser Arbeit potenziell um eine reichhaltige Quelle handelt. Zwar bietet auch sie keine belastbare Basis für quantitative Analysen. Sie ermöglicht jedoch, die Charakteristik der niederschlesischen Industrie zu ermitteln. Anlage 5 jener Arbeit beschäftigt sich mit der technischen Ausrüstung der niederschlesischen Betriebe.162 Sie ist in verschiedene Wirtschaftsgruppen untergliedert: Steine und Erden, Holzverarbeitende Industrie, Keramische Industrie, Sägeindustrie, Chemische Industrie, Papier-, Pappen-, Zellstoff- und Holzerzeugung, Gie157 158 159 160 161 162
BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 26. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 53. Ein Teil dieser Liste ist jedoch verschollen. Vgl. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 75 ff. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 55. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 87.
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ßereiindustrie, Maschinenbau, Elektroindustrie, Spirituosenindustrie und Textilindustrie. Hierbei konzentriert sie sich auf einzelne Großbetriebe und leitet an diesen Einzelbeispielen den Zustand der entsprechenden Industrie in ganz Niederschlesien ab. Die Erhebung zeichnet ein differenziertes Bild der niederschlesischen Industrie und weist auf verschiedene Probleme hin. Der Zustand zahlreicher Bereiche wird dabei durchaus kritisch bewertet. So stehe in Groß Hartmannsdorf (Kreis Bunzlau) die Kalk- und Portlandzementwerke GmbH, die jedoch einen Rationalisierungsrückstand gegenüber den mittel- und westdeutschen Betrieben – beispielsweise dem Steinbruch Rüdersdorf bei Berlin – habe. Die Chemische Industrie ist auf Breslau konzentriert, wobei hier nur die Seifenindustrie erwähnt wird, von der zudem ein düsteres Bild gemalt wird: „Es gibt in Schlesien keine einzige moderne Seifenfabrik.“163 Beim Maschinenbau werden ebenfalls Probleme diagnostiziert. So fehlten hier in hohem Maße Facharbeiter und Maschinen. Letzteres sei teilweise durch fehlende Unterstützung bei der Zuteilung und Lieferung neuer Maschinen, teilweise durch die Notwendigkeit der Abtretung von Maschinen zugunsten im Westen befindlicher Betriebe verursacht worden. Die Folge: „Die Metallindustrie in Schlesien ist gegenüber der mittel- und westdeutschen Industrie in jeder Hinsicht noch als wenig entwickelt und sogar als rückständig zu bezeichnen.“164 So gelte dies konkret für die „Främbs & Freudenberg“ Maschinenfabrik in Schweidnitz sowie für die Armaturenfabrik „Christ & Co. Gmbh“ in Grünberg. Auch bemängelt die Arbeit die Ausrichtung des niederschlesischen Maschinenbaus. So fehle es an einer Werkzeugindustrie, ergo an Fertigungsstätten für Werkzeuge und Vorrichtungen, an Werkzeugmaschinenfabriken und an Halbzeugwerken. Auch vermissen die Autoren „qualitätsmäßig hochstehende Gießereien für Leicht- und Schwermetallguß“.165 Die Lederindustrie, konkret die Lederfabrik der „F. W. Moll A. G.“ in Brieg, wird als Opfer des Krieges gesehen. Wegen der Prioritätenverschiebung durch die Wiederaufrüstung seien Investitionen nicht getätigt worden, wodurch die ostdeutsche Lederindustrie stark zurückliege. Eine Ausnahme dieser Regel stelle nur die Firma Bata in Ottmuth dar. Von anderen Wirtschaftsgruppen wird ein deutlich positiveres Bild gezeichnet. Bei der Keramischen Industrie zeichnete sich Niederschlesien insbesondere durch die Herstellung günstiger und für den Export vorgesehener Produkte aus. Die niederschlesischen Betriebe seien jedoch durch verstärkten Abzug von Arbeitskräften sowie fehlender Lieferungen neuer Maschinen benachteiligt. Eine Ausnahme ist die Krister Porzellanmanufaktur in Waldenburg, die als eine der führenden Porzellanmanufakturen im Deutschen Reich beschrieben wird.166 Die Sägeindustrie Niederschlesiens wird ebenfalls als im Deutschen Reich führend angegeben. Die Wirtschaftsgruppe „Papier-, Pappen-, Zellstoff- und Holzstofferzeugung“ wird als gleichwertig mit derjenigen im Westen betrachtet. Für die Gießereiindustrie gilt 163 164 165 166
BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 92. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 93. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 93. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 91.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
dies gleichermaßen. Exemplarisch werden hier die Henriettenhütten in Prinkenau (Bezirk Liegnitz) erwähnt, die zur „Warsteiner und Herzoglichen Schleswig-Holsteinischen Eisenwerke AG“ gehören.167 Die Elektroindustrie wird ebenfalls positiv gesehen. So urteilt die Arbeit im Zusammenhang mit den Heliowatt-Werken in Schweidnitz: „Die technische Ausrüstung der Werke in Schlesien ist gleichwertig denen des Westens“.168 Die Spirituosenindustrie befinde sich auf dem selben Niveau wie diejenige Westdeutschlands. Dies gelte auch für die Schaumweinkellerei der „Grempler & Co. GmbH“ sowie die Weinbrennerei Heinrich Raetsch A. G., die sich beide in Grünberg befanden. Abschließend wird die Wirtschaftsgruppe Textilindustrie angesprochen. Die Leinenindustrie am Beispiel der „Leinag Leinenindustrie A. G.“ in Landeshut sowie die „Deutsche Wollwaren-Manufaktur A. G.“ in Grünberg werden als konkurrenzfähige Industriebetriebe qualifiziert. Nur die Baumwollspinnerei und Weberei „Rosenberger & Ruesker“ in Reichenbach trübt dieses Bild, da hier die technische Ausrüstung insbesondere während der Weltwirtschaftskrise stark gelitten hätte und es so zu einem Rückstand gegenüber dem Westen gekommen sei. Wie unterscheidet sich nun die Industrie Niederschlesiens vom reichsweiten Durchschnitt? Die Untersuchung zur technischen Ausrüstung der niederschlesischen Industriebetriebe macht deutlich, dass es in einigen Bereichen einen Rückstand gegenüber den Gebieten des Deutschen Reiches westlich der Oder-Neiße-Grenze gab. Jedoch zeichnet der Bericht kein Bild einer hoffnungslos veralteten Industrie, die keinen nennenswerten Beitrag zum Produktionswert des Deutschen Reiches erbringen konnte. Im Gegenteil macht der Bericht deutlich, dass es durchaus Entwicklungspotenzial gab. Die Zahlen zum Nettoproduktionsindex der ostdeutschen Gebiete belegen dies. So stieg zwischen 1936 und 1939 der Nettoproduktionsindex der Ostdeutschen Gebiete jährlich um 4,9 Prozent, derjenige des Deutschen Reiches um 8,2 Prozent.169 Betrachtet man die drei Industriebereiche Bergbau und Grundstoffindustrie, Bau- und Investitionsgüterindustrie sowie die Verbrauchsgüterindustrie isoliert, zeigt sich, dass dieses Wachstum gerade in den Bereichen generiert wurde, die nicht in direktem Zusammenhang zur Rüstung stehen.
167 168 169 170
BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 92. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 94. Vgl. Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 173. Vgl. ebd.
3. Die Entwicklung des niederschlesischen Industriepotenzials bis 1944
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Tabelle III.12.: Jährliches Wachstum des Nettoproduktionsindex 1936–1939 (preisbereinigt, in %)170 Ostdeutsche Deutsches Gebiete Reich Bergbau und Grundstoffindustrie 4,9 6,2 Bau- und Investitionsgüterindustrie 0,9 1,1 Verbrauchsgüterindustrie 8,2 6,0 Gesamte Industrie (ohne Energiewirtschaft)
4,9
8,2
Vergleicht man die quantitative Analyse Gleitzes mit den Beschreibungen des schlesischen Instituts für Wirtschaftsforschung, so zeigt sich, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt zwischen dem Zustand eines Industriezweigs und der Zugehörigkeit des Industriezweigs zu einer der drei Kategorien. Bei der niederschlesischen Bergbau- und Grundstoffindustrie, die neben dem Bergbau noch die eisenschaffende, die Nichteisenmetall und die Grundstoffindustrie, die Industrie der Steine und Erden sowie die Chemische und Kraftstoffindustrie umfasst, spiegelt teilweise die Keramische Industrie sowie die Gießereiindustrie das hohe Wachstum wider. Das Gegenteil gilt für die Industrie der Steine und Erden, die Chemische Industrie sowie mit Einschränkungen für die Metallindustrie. Die Bau- und Investitionsgüterindustrien Niederschlesiens – sie umfassen die Eisen-, Stahl- und Metallwarenindustrie, die Maschinen-, Stahl- und Fahrzeugbauindustrie einschließlich der Schiffbau und Flugzeugindustrie, die Elektroindustrie, die Feinmechanische und Optische Industrie sowie die Bauindustrie – kennen Licht wie auch Schatten. So werden beim Maschinenbau und in der Metallindustrie Probleme diagnostiziert, die Elektroindustrie wird positiv bewertet. Auch die Verbrauchsgüterindustrie, bestehend aus der Holzindustrie einschließlich der Sägeindustrie, der Papierindustrie und dem Druckgewerbe, der Textilindustrie, der Leder- und Bekleidungsindustrie und der Nahrungsund Genussmittelindustrie, bestätigt diesen Eindruck. Die Lederindustrie wird kritisch gesehen, jedoch die Sägeindustrie, die Papier-, Pappen-, Zellstoff- und Holzstofferzeugung, die Spirituosenindustrie und die Textilindustrie sehr positiv. Zumindest für die Verbrauchsgüterindustrie kann daher konstatiert werden, dass der positive Eindruck klar dominiert. Die Angaben Gleitzes zum Wachstum der Nettoproduktion beziehen sich auf die Industrie – mit Ausnahme der Energiewirtschaft – der gesamten Gebiete jenseits von Oder und Neiße, direkte Zahlen zu Niederschlesien enthalten sie nicht. Die Tabellen III.2, III.3 und III.4171 geben an, welchen Anteil die jeweiligen IndustrieKategorien am Nettoproduktionswert Niederschlesiens hatten. Da die Entwicklungen der jeweiligen Industriekategorien in Ostdeutschland ebenfalls bekannt sind, kann zumindest abgeschätzt werden, wie sich deren Entwicklung auf die Industrie 171 Vgl. S. 64 f.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Niederschlesiens auswirkte. Vom Anteil der jeweiligen Industriebereiche am Nettoproduktionswert Niederschlesiens kann unter Heranziehung der oben angegebenen Tabellen zum Industriewachstum in den gesamten Ostgebieten auf das Wachstum in Niederschlesien geschlossen werden. Hieraus ergibt sich, dass die dortige Nettoproduktion (ohne die Energiewirtschaft) von 1936 bis 1939 jährlich um etwa 4,9 Prozent wuchs und damit nah am Durchschnitt der deutschen Ostprovinzen lag. Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei nur um einen Näherungswert handelt. Er setzt implizit voraus, dass die Industrie in den damals ostdeutschen Gebieten homogen wuchs und es keine regionalen Unterschiede gab. Diese Annahme stellt zwar eine Vereinfachung dar, dennoch zeigt sich, dass die Nettoproduktion Niederschlesiens bereits in diesem Zeitraum beträchtlich anstieg. Diese Feststellung ist für die Untersuchung bedeutend, weil dieses Wachstum nicht durch die Nutzung noch freier Kapazitäten generiert wurde. Die freien Kapazitäten der reichsdeutschen Industrie waren nur für das Wachstum bis 1936 verantwortlich. Vergleicht man nun die Industrie Niederschlesiens aus dem Jahr 1936 mit derjenigen des Jahres 1939, wird ein deutliches Wachstum erkennbar. Die Annahme von Konieczny jedoch, dass Schlesien bereits vor dem Krieg eine besondere Rolle für die deutsche Rüstungswirtschaft spielte, trifft – wenn auch mit Einschränkungen – nur auf das stark schwerindustriell geprägte Oberschlesien zu.172 3.3. 1939–1942: Niederschlesiens Industrie während der ersten Kriegshälfte Mit Kriegsbeginn änderte sich die wirtschaftliche Großwetterlage. Der Bedarf an Kriegs- und Rüstungsgütern stieg, was sich entsprechend in der Ausrichtung der Industrieproduktion niederschlug. Freilich wurde die niederschlesische Industrie wie diejenige des gesamten Reiches nicht umfassend auf Rüstungsproduktion umgestellt. Bis Ende 1941 war „die Wirtschaft Schlesiens (Ober- und Niederschlesiens, Y. K.) immer noch stark auf die Produktion von Gütern für den zivilen Bereich ausgerichtet“.173 Die Frage ist, wie sich die Wirtschaft Niederschlesiens vor diesem Hintergrund entwickelte. Die Zahlen Gleitzes geben für die gesamten ostdeutschen Gebiete ein Wachstum des Nettoproduktionswertes bis 1944 von über 25 Prozent gegenüber 1939 an, und von 45,3 Prozent gegenüber 1936.174 Bei Betrachtung der Entwicklung in den einzelnen Industriekategorien fällt auf, dass dieses Wachstum sehr ungleich verteilt war. Im Vergleich zu 1936 lag der Nettoproduktionswert bei der Verbrauchsgüterindustrie 1944 nur 7,5 Prozent höher, beim Bergbau und der Grundstoffindustrie 97,5 Prozent. Bei der Verbraucherindustrie müssen jedoch die sog. Stilllegungsaktionen berücksichtigt werden, was an anderer Stelle in dieser Arbeit noch erfolgen wird. Die Bau- und Investitionsgüterindustrie wuchs um 48,8 Prozent, was etwa dem Produktionswachstum der ostdeutschen Industrie entsprach. Diese Entwicklung ist deswegen auffällig, weil gerade der letztgenannte Industriesektor bis 1939 172 Vgl. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 22 f. 173 Fuchs, Geschichte Schlesiens (wie Anm. 148, S. 81), S. 160. 174 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 173.
3. Die Entwicklung des niederschlesischen Industriepotenzials bis 1944
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praktisch stagnierte, die Verbrauchsgüterindustrie hingegen war der Wachstumsmotor. Hier gab es mithin eine starke Rückentwicklung seit Kriegsbeginn, bei den anderen beiden Sektoren einen starken Anstieg. Eine Interpretation dieser Zahlen ist wichtig für eine möglichst realistische Schätzung des damals ostdeutschen und somit auch niederschlesischen Produktionspotenzials. Die vorliegenden Zahlen allein bilden zusätzlich nicht die Zäsur im Jahr 1942 ab. Die hierbei entstehende Lücke muss durch andere Quellen geschlossen werden. Dies wird im folgenden Kapitel unternommen. Fuchs vertritt die These, dass die schlesische Wirtschaft nach Kriegsbeginn im zivilen Bereich weiter expandierte. Diese Diagnose basiert teilweise auf seiner Feststellung, dass es bei mehreren Industriebereichen, die der zivilen Wirtschaft zugerechnet werden, zu einem leichten Anstieg des Produktionswertes kam. Er listet hier die Glas- und Keramische Industrie, das Druckgewerbe, die Nahrungsmittelindustrie, die Brauerei und Mälzerei sowie die Zuckerindustrie auf.175 Diese waren jedoch mit Ausnahme der Nahrungsmittelindustrie genau diejenigen Industrien, in denen es von 1936 bis Januar 1942 einen starken Rückgang in der Beschäftigung gegeben hatte, wie sich Tabelle III.9176 klar entnehmen lässt. So ist es zwar nachvollziehbar, dass es in Schlesien bis 1942 eine Konzentration auf die Produktion sog. ziviler Güter gab. Fuchs erweckt jedoch durch seine Quellen den Eindruck, es habe bis 1942 einen längerfristigen Anstieg gegeben.177 Angesichts der Entwicklung in der Beschäftigung ist das jedoch wenig wahrscheinlich. Zwar beziehen sich die Fuchs’ Angaben auf ganz Schlesien und somit auch auf Oberschlesien. Dass jedoch der schwerindustriell geprägte Gau Oberschlesien in den genannten Industrien den Rückgang Niederschlesiens überkompensieren konnte, ist praktisch ausgeschlossen. Gemäß dem Industriezensus von 1936 waren dies Industriebereiche, die in Oberschlesien nur eine geringe Bedeutung hatten. Auch der Einsatz von Zwangsarbeitern kann diese Diskrepanz nicht erklären. Tabelle III.8178 belegt, dass es bis 1943 zu einem absoluten Rückgang der Beschäftigten kam, wobei hier die Zwangsarbeiter mit berücksichtigt wurden. Der Erkenntniswert der Zahlen Fuchs ist daher äußerst gering. Wesentlich wahrscheinlicher ist ein besonderen Umständen geschuldeter Sondereffekt. Im Sommer 1940 wurden „vorübergehend gestoppte friedenswirtschaftliche Investitionen wieder aufgenommen, die Herstellung von Konsumgütern stieg und die Rüstungsproduktion stagnierte“.179 Somit ist ein kurzfristiger Anstieg in den genannten Bereichen durchaus möglich – ein Langzeittrend lässt sich aus diesen Zahlen nicht ableiten. Leider wurde für das Jahr 1939 kein Industriezensus erstellt wie für das Jahr 1936, ein Umstand, den zu beantworten auch Tooze schwer fällt.180 Am 17. Mai 1939 wurde zwar eine Betriebszählung durchgeführt, bei der auch Beschäftigten175 176 177 178 179 180
Fuchs, Geschichte Schlesiens (wie Anm. 148, S. 81), S. 160. Vgl. S. 77. Fuchs, Geschichte Schlesiens (wie Anm. 148, S. 81), S. 160. Vgl. S. 76. Ritschl, Überblick (wie Anm. 145, S. 80), S. 131. Tooze, Statistics (wie Anm. 28, S. 54), S. 215.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
zählungen erfolgten.181 Jedoch wurde bei diesen Zählungen eine andere Methodik genutzt als beim Industriezensus von 1936. Die Betriebszählung von 1939 erfasst sowohl die Industrie als auch das Handwerk Niederschlesiens und kommt hierbei auf über 500.000 Beschäftigte. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg von Beginn an spürbare Folgen für die Wirtschaft hatte. Eisen und Stahl waren für die reichsdeutsche Rüstungsindustrie entscheidende Rohstoffe. Nach Kriegsbeginn wurde die Zuteilung dieser wie auch anderer Rohstoffe – etwa Kohle und Mineralöl – auf die Rüstungsindustrie konzentriert.182 Dieser Mangel an entsprechenden Rohstoffen machte sich auch in Niederschlesien bemerkbar. So fehlten der niederschlesischen Industrie der Steine und Erden beispielsweise 300 Tonnen Eisen, um Rationalisierungspotenziale nutzen zu können.183 Das kann auch als Beispiel dafür angesehen werden, dass es wichtig ist, zwischen der tatsächlichen Produktion und dem Produktionspotenzial zu unterscheiden. Diese Unterscheidung spielt bereits in der Wirtschaftswissenschaft eine wichtige Rolle. Wachstum ist, wie bereits erläutert wurde, das Wachstum des Produktionspotenzials. Potenzial und tatsächliche Produktion sind mithin nicht identisch. Das Potenzial begrenzt lediglich die Produktion nach oben hin. Der Rückgang in der Verbrauchsgüterindustrie ist nicht identisch mit einem Rückgang beim Produktionspotenzial in der Verbrauchsgüterindustrie. Für diese Arbeit ist die Frage, wann und weshalb der Rückgang erfolgte, nicht unwichtig. Wagenführs These einer „friedensähnlichen Kriegswirtschaft“ ist von der Forschung nicht übernommen worden.184 Die Annahme jedoch, dass die deutsche Wirtschaft 1939 noch nicht kriegsbereit war, wird in der Forschung nicht bestritten. In diesem Zusammenhang hebt Abelshauser mit Hinweis auf Overy noch einen anderen Umstand hervor. Im Jahr von 1939 auf 1940 hat es die stärkste Verschiebung von Arbeitskräften hin zur Rüstungswirtschaft gegeben. Waren es 1939 noch 21,9 Prozent der in der Industrie Beschäftigten, die die Nachfrage des Militärs befriedigten, waren es 1940 – jeweils zum 31. Mai – 50,2 Prozent.185 Diese Verschiebung steht jedoch im Widerspruch zur Feststellung, dass erst nach 1942 die Rüstungsproduktion so stark anstieg, dass sie den Erfordernissen des Krieges gerecht wurde. Abelshauser begründet dies damit, dass ein Großteil der Ressourcen noch für die Schaffung zahlreicher Betriebe benötigt wurde und sich der entsprechende Nutzen erst später zeigen konnte.186 Tatsächlich gab es in Niederschlesien zahlreiche Betriebe, deren Fertigstellung nach Kriegsbeginn noch nicht beendet war. Der Anstieg der Rüstungsbetriebe, den Konieczny ausmacht187 , ist hier jedoch nicht relevant, handelt es sich hier meistens um eine andere Art der Nutzung 181 Vgl. Nichtlandwirtschaftliche Arbeitsstättenzählung. Die nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten in den Reichsteilen und Verwaltungebezirken (Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 17. Mai 1939), in: Statistik 568.4 (1942), S. 17–37. 182 Müller, Mobilisierung (wie Anm. 145, S. 80), S. 436. 183 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 87. 184 Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 26. 185 Richard J. Overy, War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 294. 186 Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder (wie Anm. 15, S. 52), S. 528. 187 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 24.
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bereits bestehender Werke. Jedoch fand ein „systematischer Ausbau der Rüstungsindustrie“ statt, der auch bei der Zuteilung von Baumaterialien, Rohstoffen und Arbeitskräften prioritär behandelt wurde.188 Zu nennen sind hier Niederlassungen von Rheinmetall-Borsig, die in Hundsfeld, einem Ort Nahe Breslau, errichtet wurden, ebenso wie die Berthawerke AG in Fünfteichen bei Breslau.189 Erstere erzeugten Apparaturen für die Bomber, Visiere für die Flugabwehr sowie Zünder für die Luftwaffe. Der Ausbau begann hier Mitte 1941 und wurde Ende 1942 abgeschlossen. In den Berthawerken konnte die Produktion am 17. Februar 1943 beginnen.190 Hinzu kam ein Chemiewerk der IG Farbenindustrie, das nach 1939 in Dyhernfurth errichtet wurde.191 In Ludwigsdorf stand eine Schießpulverfabrik, in der 1943 2.000 Arbeiter, hierunter auch jüdische und ausländische Zwangsarbeiter, beschäftigt waren.192 Das zeigt, dass tatsächlich zahlreiche Betriebe zum Zeitpunkt des Überfalls auf Polen noch nicht fertiggestellt waren.193 Hinzu kommen die bereits erwähnten Stilllegungsaktionen. Dabei wurden Betriebe geschlossen, die als nicht rüstungsrelevant betrachtet wurden. Freilich waren diese Aktionen zu Kriegsbeginn noch von wenig Erfolg gekrönt. Die erste Stilllegungsaktion im Winter des Jahres 1940 war nicht konsequent. Müller schätzt, dass es sich bei den Stilllegungen in den meisten Fällen eher um Ausfälle aufgrund logistischer oder anderweitiger Schwierigkeiten handelte.194 Das niederschlesische Institut für Wirtschaftsforschung hat auch zu den Stilllegungsaktionen Untersuchungen durchgeführt, aus denen unter anderem folgende Auflistung hervorging195 :
188 189 190 191
192 193 194 195
Ebd., S. 25. Ebd.; Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 302. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 26. Vgl. Günther W. Gellermann, Der Krieg, der nicht stattfand. Möglichkeiten, Überlegungen u. Entscheidungen der deutschen obersten Führung zur Verwendung chemischer Kampfstoffe im Zweiten Weltkrieg, Koblenz 1986, S. 61. Es handelte sich hierbei um eine Fabrikationsanlage für den Nervenkampfstoff Tabun, die im Juni 1942 in Betrieb ging. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 27. Hinzu kommt noch ein Aus- und Neubau zahlreicher Chemiewerke in Oberschlesien; vgl. ebd., S. 28 f. Müller, Mobilisierung (wie Anm. 145, S. 80), S. 451. Vgl. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 193.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Tabelle III.13.: Zahl der freiwilligen Schließungen bis Ende 1942 Fachgruppen Breslau Provinz Anteil an jeweils -Stadt vorhandenen Betrieben (in %) Nahrungs- und Genussmittel 249 561 7,6 Tabak 35 45 6,2 Bekleidung, Textil, Leder 78 156 16,7 Raumgestaltung und Musik 28 67 21,8 Eisenwaren, Elektro- u. Haushalts23 110 11,8 gerät Gesundheitspflege, Chemie, Optik 66 111 15,7 Kraftfahrzeuge, Kraftstoffe, Garagen 27 218 25,1 (ohne Tankstellen) Maschinen 32 16 9,3 Kohle 69 105 9,4 Bürobedarf, Lederwaren, Spielzeug, 22 67 7,4 Kunstgewerbe Rundfunk 33 82 44,1 Juwelen, Uhren, Gold- und Silber11 52 15,0 waren Gesamt 673 1.670 10,6 Folgt man der Tabelle, wurden somit in Niederschlesien bis 1942 2.343 Betriebe geschlossen. Es handelte sich nicht um Industrie- oder Handwerksbetriebe, sondern um Einzelhandelsbetriebe.196 Eine Schließung von knapp über zehn Prozent der niederschlesischen Einzelhandelsbetriebe kann nicht als Zeugnis einer konsequenten Umstellung auf Kriegsproduktion gelten, insbesondere wenn hier die Warenhäuser ausgenommen waren. Zudem geben die Autoren der Studie zu bedenken, dass die Einzelhandelsdichte in Niederschlesien geringer sei als in den übrigen Gauen197 und in erster Linie Betriebe oder Betriebsteile geschlossen wurden, in denen Einberufungen zum Wehrdienst und der Mangel an Ersatzkräften die Schließung ohnehin erzwangen.198 Diese Zahlen bestätigen somit die Einschätzung Müllers, der gemäß die Stilllegungsaktion vor dem Hintergrund des vorhandenen Potenzials unzureichend war. Es ist daher davon auszugehen, dass es zwar nach Kriegsbeginn – anders als Fuchs es beispielsweise darstellt – kaum Wachstum in der Verbrauchsgüterindustrie gab. Der stärkste Rückgang wird jedoch erst im Rahmen des „Totalen Krieges“ erfolgt sein. Umgekehrt stellte die Kohleversorgung, also die Energiebeschaf196 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 190. 197 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 189. 198 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 194.
3. Die Entwicklung des niederschlesischen Industriepotenzials bis 1944
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fung, einen Engpassbereich dar, weshalb die ostdeutschen Gebiete hier bereits nach Kriegsbeginn ein beachtliches Wachstum vorzuweisen hatten. Geht man davon aus, dass die Gebiete Pommern und Ostpreußen auf dem Gebiet der Rohstoffbeschaffung nur sehr wenig vorweisen konnten, wird sich dieses Wachstum insbesondere auf Nieder- und Oberschlesien konzentriert haben. In der Bau- und Investitionsgüterindustrie ist davon auszugehen, dass es bis 1942 ein konstantes Wachstum gegeben hat. 3.4. 1942–1945: Niederschlesien im Totalen Krieg Im Folgenden wird auf die Speer’sche Rüstungspolitik in Bezug auf die deutschen Ostgebiete eingegangen. Das Jahr 1942 wird in der Literatur als wichtige Zäsur in der Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches bezeichnet. In diesem Jahr begann der Übergang in den sog. „Totalen Krieg“. Unmittelbar hiermit verbunden ist der Name Albert Speer. Dieser wurde Nachfolger von Fritz Todt, nachdem dieser am 8. Februar 1942 bei einem Flugzeugabsturz an der Ostfront starb.199 Dieser Wechsel ging mit einer Stärkung und Straffung der Verwaltung einher. Der Einfluss und der Aufgabenbereich der Gauleiter wurde im Bereich Rüstungsproduktion deutlich erhöht, indem sie am 6. April 1942 auch „Bevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ wurden. Im November kam der Titel „Reichsverteidigungskommissar“ hinzu. Dieser war für die Rüstungsproduktion im jeweiligen Bezirk sowie für die Verteidigungsvorbereitung zuständig.200 Die wirtschaftshistorische Forschung zum Deutschen Reich ist einhellig der Auffassung, dass in der Ära Speer der industrielle Output massiv gesteigert werden konnte. Im Jahr 1944 wurde gegenüber 1939 ein Anstieg des Pro-Kopf-Ausstoßes von 60 Prozent erreicht, der niedrige Stand von 1941 wurde verdoppelt.201 Ein Anstieg der Produktivität ist zwar nur bedingt geeignet, Auskunft über das Anlagekapital zu geben. Letzteres ist ein limitationaler Faktor des Produktionsniveaus einer Industrie. Steigt das Produktionsniveau, liegt eine Annäherung zwischen maximal möglichem und tatsächlichem Ausstoß vor. Ein Wachstum des Anlagekapitals und eine Erhöhung des Outputs sind somit in den seltensten Fällen deckungsgleich. Trotz dieser wichtigen Einschränkung kann aus dem Produktionsanstieg geschlossen werden, dass auch das Anlagekapital weiter stieg. Die Ereignisse an der Ostfront im Winter 1941/42, als die Heeresgruppe Mitte der Wehrmacht vor den Toren Moskaus eine „vernichtende Niederlage“ erlitt und damit durch die Rote Armee einen „enormen Schock“ versetzt bekam, ließen Hitler zu der Erkenntnis gelangen, dass das Ausmaß der Kriegsanstrengungen ungenügend sei.202 Infolge dessen wurden auf Grundlage des Führerbefehls vom 10. 199 Alan S. Milward, Fritz Todt als Minister für Bewaffnung und Munition, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 14.1 (1966), 40–58, hier S. 58. 200 Siebel-Achenbach, Lower Silesia (wie Anm. 3, S. 50), S. 21. 201 Vgl. Eichholtz/Lehmann/Fleischer, Kriegswirtschaft 1939–45 (wie Anm. 14, S. 52), Bd. 2, S. 265 f. 202 Tooze, Ökonomie der Zerstörung (wie Anm. 13, S. 52), S. 577.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Januar 1942 bedeutende Erhöhungen unter anderem bei der Produktion von Panzerwaffen und Munition fast jeden Kalibers angeordnet. Zudem sollte der Produktion von Flugzeugen und Flakgeschützen sowie des entsprechenden Vormaterials und der entsprechenden Werkzeugmaschinen Priorität eingeräumt werden.203 Ein hilfreicher Anhaltspunkt für die Untersuchung des niederschlesischen Produktionspotenzials ist auch hier die Beschäftigtenentwicklung. Laut Übersicht des niederschlesischen Instituts für Wirtschaftsforschung waren im August 1943 etwa 450.000 Beschäftigte in Industrie und Handwerk tätig, davon über 86.000 Zwangsarbeiter.204 Entsprechend arbeiteten etwa 364.000 Nicht-Zwangsarbeiter in den Betrieben. Das hohe Niveau der Zahl der Arbeitskräfte ist vor dem Hintergrund einer immer stärker werdenden Konkurrenz zwischen Industrie und Wehrmacht um die Arbeitskräfte ein weiteres Indiz für das Wachstum der niederschlesischen Wirtschaft.205 Es ist daher davon auszugehen, dass der Anstieg der Zahl der Beschäftigten auf etwa 272.000206 im März 1944 das Minimum dessen darstellte, was an Arbeitskraft für die Industrie notwendig war. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass auch 1943 Stilllegungsaktionen durchgeführt wurden. Auch diesmal hat das niederschlesische Wirtschaftsforschungsinstitut eine Aufstellung angefertigt. Ihr gemäß kamen im Frühjahr 1943 nochmal 1.035 Stilllegungen hinzu, von denen jedoch 487 wieder aufgehoben wurden, so dass etwa 500 – die Autoren betonen selbst, dass diese Zahlen nicht absolut gesichert sind – tatsächlich stillgelegt wurden.207 Durch diese Maßnahmen wurden immerhin 3.000 – ein Viertel davon Frauen – von zwischen 20.000 und 26.000 im Einzelhandel Beschäftigten frei und konnten an anderer Stelle eingesetzt werden. Freilich dürfen auch diesmal die Stilllegungen nicht überschätzt werden208 , unter anderem weil die im Einzelhandel beschäftigten Arbeitskräfte in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht die notwendigen Qualifikationen besaßen und somit alles andere als eine „Facharbeiter-Reservearmee“ darstellten.209 Eine weiterer wichtiger Faktor, der die Entwicklung der niederschlesischen Industrie stark beeinflusste, sind die Rüstungsverlagerungen während des Zweiten Weltkriegs. Die Untersuchung des dortigen Anlagekapitals bis 1945 ist untrennbar mit einer von einer Analyse des Umfangs der Verlagerungen verbunden. Sie wird im folgenden Kapitel unternommen.
203 Alan S. Milward, Die Deutsche Kriegswirtschaft 1939–1945 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 12), Stuttgart 1966, S. 63. 204 Vgl. Tabelle III.8, S. 76. 205 Vgl. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 24. 206 Diese Zahl kommt zustande, wenn davon ausgegangen wird, dass von 340.000 Industriebeschäftigten in Niederschlesien 20 Prozent Zwangsarbeiter waren. 207 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 195 f. 208 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 194. 209 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 195.
4. Die ostdeutschen Gebiete in der Speer’schen Rüstungspolitik
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4. 1943/44: NIEDERSCHLESIEN UND DIE OSTDEUTSCHEN GEBIETE IN DER SPEER’SCHEN RÜSTUNGSPOLITIK Eine bisher nur wenig erforschte Episode der deutschen Wirtschaftsgeschichte ist die Verlagerung von rüstungsrelevanten Betrieben während der Ära Speer 1943 und 1944.210 Der Themenkomplex wird zwar regelmäßig erwähnt, jedoch nur selten genauer analysiert. Die mangelnde Forschung trug dazu bei, dass hier häufig Annahmen getroffen wurden, deren wissenschaftliche Begründung ausstand.211 Eine Studie zu den Verlagerungen wurde bisher nicht verfasst. Die polnische Literatur ignoriert die Verlagerungen bis auf eine Ausnahme vollständig. Lediglich der polnische Historiker Konieczny widmet sich diesem Thema in seiner Monographie ´ ask zu Nieder- und Oberschlesien „Sl ˛ a wojna powietrzna lat 1940–1944 (Schlesien und der Luftkrieg 1940–1944)“ in einem kurzen Kapitel.212 Der Autor stellt jedoch keine Untersuchungen zum Umfang der Verlagerungen an, die helfen könnten, die Folgen für das Wirtschaftspotenzial Schlesiens realistisch einzuschätzen. Dennoch leistet diese Monographie einen wichtigen Beitrag zur Forschung. Auch eine Regionalstudie zum im Osten Nordrhein-Westfalens gelegenen Lippe enthält einen Beitrag zum Thema.213 Trotz der Fokussierung auf Lippe kann hier teilweise nachvollzogen werden, welche Motive bei den Verlagerungen der Betriebe eine Rolle spielten. Das populärwissenschaftliche Werk von Werner Wolf214 über die Luftangriffe auf die deutsche Industrie beschäftigt sich ebenfalls mit ihnen. Auch der Aufsatz von Ulrich Heß zu Sachsens Industrie während des Nationalsozialismus untersucht sie kurz.215 Olaf Groehler hat in seiner Arbeit „Bombenkrieg gegen Deutschland“ ebenfalls ein Kapitel den Industrieverlagerungen gewidmet.216 Damit sind die Arbeiten, die sich am intensivsten mit den Verlagerungen be210 Albert Speer (geb. 19. März 1905, gest. 1. September 1981), trat 1931 in die NSDAP ein und bekleidete bis Kriegsende zahlreiche Ämter. Ab 1941 war er u. a. Mitglied des Reichstages für den Distrikt Berlin West. Im Februar 1942 folgte er Fritz Todt als Minister für Bewaffnung und Munition, ab 1943 Minister für Rüstung und Kriegsproduktion. Speer war insbesondere zu Kriegsende einer der engsten Vertrauten Hitlers. Er wird in erster Linie für den enormen Anstieg bei der Rüstungsproduktion 1944 verantwortlich gemacht; vgl. Robert S. Wistrich, Who’s who in Nazi Germany (Who’s who series), London 1995, S. 237–239. 211 So erwähnen Gilgen und Gleitze die Verlagerungen, ebenso wie Müller und Groehler: vgl. Werner Wolf, Luftangriffe auf die deutsche Industrie 1942–45, München 1985, S. 125 ff.; Gilgen, DDR und BRD im Vergleich (wie Anm. 12, S. 18), S. 119; Olaf Groehler, Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990, S. 285 ff. Müller, Rüstungspolitik (wie Anm. 12, S. 52), S. 356–365. 212 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 48–55. 213 Andreas Ruppert/Hansjörg Riechert, Herrschaft und Akzeptanz. Der Nationalsozialismus in Lippe während der Kriegsjahre. Analyse und Dokumentation (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C: Quellen und Forschungen, Bd. 41), Opladen 1998, S. 106–114; ebenfalls Hansjörg Riechert/Andreas Ruppert/Hans F. W. Gringmuth, Militär und Rüstung in der Region Lippe 1914 bis 1945 (Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe, Bd. 63), Bielefeld 2001, S. 203–225. 214 Werner Wolf, Luftangriffe auf die deutsche Industrie 1942–45, München 1985. 215 Vgl. Heß, Sachsens Industrie (wie Anm. 146, S. 80), S. 78 ff. 216 Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211), S. 284–293.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
schäftigen, bereits genannt. Es sind nur wenige, und die Autoren haben sich gegenseitig in kaum einem Fall zur Kenntnis genommen. Die Frage, in welchem Umfang Betriebe in die damals ostdeutschen Gebiete verlagert wurden, ist für die vorliegende Arbeit jedoch von hoher Relevanz, wenn die Höhe des Anlagekapitals in Niederschlesien zu Kriegsende realistisch eingeschätzt werden soll. Aufgrund der nur geringen Forschung zu diesem Themenfeld wird sich diese Untersuchung den Verlagerungen in angemessenem Umfang widmen. Die Quellenlage zu den Verlagerungen ist unübersichtlich. Im Bundesarchiv Lichterfelde gibt es zahlreiche Karten zu den wichtigsten verlagerten Betrieben, wobei jede Karte einen anderen rüstungsrelevanten Industriezweig abdeckt.217 Diese Karten werden jedoch bedauerlicherweise nicht von Dokumenten begleitet, die genauere Informationen zu den Verlagerungsbetrieben enthalten. Quantitative Angaben lassen sich hieraus kaum entnehmen. Hierfür können jedoch die Kriegstagebücher der einzelnen Rüstungsinspektionen herangezogen werden. Sie wurden auch für die Rüstungsinspektion VIIIa, also Niederschlesien, geführt. Diese vierteljährlich erscheinenden Berichte geben wieder, in welcher Zahl Betriebe in die einzelnen Rüstungsinspektionen verlagert wurden.218 Genauere Angaben zu den Verlagerungen enden im September 1944, dennoch sind sie eine wichtige Quelle. Eine Auflistung der verlagerten Betriebe findet sich jedoch auch hier nicht. Hier erweist sich nochmals die Arbeit des niederschlesischen Instituts für Wirtschaftsforschung als entscheidend. Diese hat eine Auflistung der verlagerten Betriebe bis zum 1. Oktober 1943 erstellt.219 Damit deckt sie zwar nicht den gesamten Zeitraum ab, während dem Verlagerungen erfolgten. Dennoch ist sie äußerst hilfreich.220 Ebenso wurde im Dezember 1944 im Rahmen der „Studien zum Luftkriege“ in Heft 8 für den Chef des Generalstabs, 8. Abteilung, eine Studie mit dem Titel „Folgerungen für die Struktur des Wirtschaftslebens aus den bisherigen Luftkriegserfahrungen“ erstellt. Dieser liegt auch eine Karte bei, die das Ausmaß der Verlagerungen in die einzelnen Rüstungsinspektionen thematisiert.221 4.1. Die Praxis der Verlagerungen Bevor auf die Motive und Folgen der Verlagerungen eingegangen wird, soll die Praxis und der Ablauf genauer beleuchtet werden.222 Die Verlagerungen begannen – sieht man von wenigen Verlagerungen im Jahr 1939 ab223 – Ende 1942. Zunächst 217 218 219 220
Vgl. BA R 3/4112. Vgl. BA-MA RW 20-8/23–29. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 119 ff. Eine Aufstellung der im Rahmen der Quellenlage bekannten verlagerten Betriebe findet sich am Ende dieser Arbeit. 221 BA-MA RL 2-IV/155. 222 Das folgende Kapitel basiert auf Yaman Kouli, Economic policy and the movement of factories in the German sphere of influence during World War II (1943/44) – the role of Lower Silesia and the Eastern German territories, in: Studia Zachodnia 15 (2013), 33–47. 223 Diese Verlagerungen waren – folgt man dem niederschlesischen Institut für Wirtschaftsforschung – eine Folge der Tatsache, dass Niederschlesien nach Beginn des Feldzugs gegen Polen
4. Die ostdeutschen Gebiete in der Speer’schen Rüstungspolitik
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beschränkten sie sich auf Engpassbetriebe, wobei im Jahr 1942 immerhin 26 Anträge auf Verlagerung gestellt wurden.224 Die Verlagerungen wurden von einer latenten Nachfrage nach lokalen Arbeitsund Fachkräften begleitet. Dieses Problem bestand seit Beginn der Verlagerungen.225 Im Fall der Firma Hagenuk in Reichenbach beispielsweise wurden 1.000 Fachkräfte angefordert, davon 150 aus Köln. Sie suchten daher Kontakt mit den lokalen Arbeitsämtern, dem lokalen Bevollmächtigten der SS für die „Beschäftigung“ der Juden – der auch in Oberschlesien tätigen sog. Organisation Schmelt.226 In einigen Fällen wurden zusätzlich KZ-Nebenlager errichtet, die als Arbeitskräftereservoir unter anderem für die Verlagerungsbetriebe dienen mussten. Verschiedene Produktionsstätten griffen auf dieses Mittel zurück.227 Im Falle Niederschlesiens hat das Lager in Groß Rosen teilweise diese Rolle übernommen.228 Am 26. Januar 1943 meldete die Rüstungsinspektion VIIIa dem Amt für Verteidigungsangelegenheiten der Wehrmacht 200 geeignete leerstehende Objekte, bei 20 Weiteren war noch eine Räumung notwendig.229 Prinzipiell waren die Unternehmen, die verlagert werden wollten, verpflichtet, sich selbst einen Aufnahmebetrieb zu suchen und dann einen entsprechenden Antrag zu stellen. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese Weisung insbesondere für kleinere Betriebe galt und größere Betriebe von der Politik unterstützt wurden. Ein Beispiel ist der Besuch des Gauleiters Niederschlesiens Hanke, der am 14. April 1943 in Landeshut Räume einer Textilfirma inspizierte und auf ihre Eignung hin überprüfte, ob die Schweinfurter Firma Kugelfischer aufgenommen werden könnte.230 Zwischen Juli und September 1943 wurden die Verlagerungen intensiviert. Handelte es sich im Herbst 1942 nur um eine Maßnahme, durch die Engpassbetriebe in sichere Gebiete verlagert werden sollten231 , wurde fast genau ein Jahr später Hanke von Speer angewiesen, 500.000 m2 Betriebsfläche in der niederschlesischen Textilindustrie für Verlagerungen zur Verfügung zu stellen.232 Auch in der Folgezeit waren die Verlagerungen indirekt mit der Betriebsstilllegungsaktion gekoppelt, die ebenfalls 1943 unternommen wurde. Folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der
224 225 226
227 228
229 230 231 232
kein Grenzgebiet mehr war und so „die unsichere Grenzlandlage Niederschlesiens beseitigt“ war; vgl. BA Ost-Dok. 10/682, 115. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 49. Ebd. Ebd.; Die „Organisation Schmelt“ – ihr Namensgeber war Albrecht Schmelt – war für die Rekrutierung von auch jüdischen Arbeitskräften in den schlesischen Gebieten verantwortlich; vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, S. 367. Vgl. Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 290. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 24; genauer hierzu Bogdan Cybulski, Obozy podporzadkowany ˛ KL Gross-Rosen (stan bada´n) [Die Unterlager des KZ Groß-Rosen (Untersuchungsstand)], Groß Rosen 1987. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 49. Ebd., S. 50 f. Müller, Rüstungspolitik (wie Anm. 12, S. 52), S. 356. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 52.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Verlagerungen 1943 und 1944233 : Tabelle III.14.: Zahl und Gesamtbetriebsfläche der verlagerten Betriebe Zahl der verGesamtfläche der verlalagerten Betriebe gerten Betriebe in 1.000 1. Quartal 1943 31 2. Quartal 1943 24 410,0 m2 3. Quartal 1943 122 426,6 m2 4. Quartal 1943 26 88,5 m2 1. Quartal 1944 57 72,9 m2 2. Quartal 1944 63 91,5 m2 3. Quartal 1944 50 80,4 m2 Gesamt 373 1.169,9 m2 Bei Betrachtung der Tabelle III.14 wird deutlich, dass sich die Verlagerungen seit 1943 auf einem hohen Niveau befanden, jedoch gleichzeitig Schwankungen unterworfen waren. Während der ersten Hälfte des Jahres 1943 wurden 55 Betriebe verlagert, in der zweiten Jahreshälfte 148, 122 davon zwischen Juli und September. Dies stellt einen bedeutenden Anstieg dar. Zwischen April und Juni 1944 wurden nochmal etwa 60 Betriebe (91.500 m2 ) nach Niederschlesien verlagert234 , bis September 1944 kamen 50 (80.000 m2 ) Weitere hinzu. Der starke Anstieg bei den Verlagerungen erfolgte wenige Tage nach dem Führer-Erlass vom 28. Juni 1943. Hierin beauftragt Hitler den Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion Speer, „die Verlagerung der wichtigsten Rüstungsfertigungen aus besonders luftgefährdeten Gebieten weitestgehend und schnellstens durchzuführen“. Hierfür durften auch Beschlagnahmungen und Betriebsstilllegungen durchführt werden.235 Die Folge war, dass bis November 1943 beim Rüstungsministerium so viele Anträge auf Verlagerung eingingen, dass das Ministerium völlig überfordert war.236 Die 1,13 Millionen m2 Betriebsfläche für die verlagerten Betriebe, von denen die Kriegstagebücher ausgehen, spiegeln nur wider, welche Betriebsfläche sie in der Rüstungsinspektion VIIIa Niederschlesien einnehmen. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit den Angaben der erwähnten Studien, die davon ausgehen, dass am 1. September 1944 1,117 Millionen m2 belegt wurden, was in etwa den Angaben der Kriegstagebücher entspricht.237 Die ursprüngliche Betriebsfläche der verlagerten Betriebe lag deutlich höher, bei über 1,3 Millionen m2 .238 Ein Problem bleibt jedoch bezüglich der Zahl der verlagerten Betriebe. Während die obige Tabelle von 373 233 234 235 236 237 238
Quelle: Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 52; BA-MA RW 20-8/23-29. Ebd., S. 53. Vgl. BA R 3101, Bl. 122. Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 286. Vgl. BA-MA RW 20-8/28, Bl. 83; BA-MA RL 2-IV/155, Anlagen. BA-MA RL 2-IV/155, Anlagen.
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verlagerten Betrieben ausgeht, nennt die eben genannte Studie nur 170 Betriebe, die nach Niederschlesien verlagert wurden.239 Möglicherweise – der Widerspruch lässt sich nicht vollständig auflösen – wirkt sich hier aus, dass die Studie nur diejenigen Betriebe berücksichtigt, die mehr als 500 m2 Betriebsfläche hatten.240 Unter den Betrieben beispielsweise, die der Elektroindustrie zugeordnet waren – nur für diese Wirtschaftsgruppe liegen Listen der verlagerten Betriebe vor – belegte tatsächlich ein beträchtlicher Teil weniger als 500 m2 im Aufnahmebetrieb.241 Wenn diese nicht berücksichtigt wurden, ließe sich erklären, wie es zu der Lücke kam. Die Dokumentation der Kriegstagebücher endet im September 1944. Die Frage, wie weit die Verlagerungen fortgesetzt wurden, ist nur mit Einschränkungen zu beantworten. Verschiedene Dokumente lassen darauf schließen, dass zumindest die Planung vorsah, die Verlagerungen über das Jahr 1944 hinaus fortzusetzen. In einem Brief vom 18. Oktober 1944, also beinahe drei Wochen nach der letzten Veröffentlichung des Standes der Verlagerungen im Rahmen der Kriegstagebücher, weist der Reichswirtschaftsminister Walther Funk das Oberbergamt in Breslau darauf hin, dass Albert Speer die Waldenburgische Bergbau AG (Wabag) auffordert, 3.000 m2 Betriebsfläche zu sperren. Sie sollten einem Frontreparaturbetrieb zur Verfügung gestellt werden.242 Auch andere Dokumente deuten darauf hin, dass die Verlagerungen im September 1944 noch nicht zum Abschluss gekommen waren. Im Rahmen des sog. Brandt-Planes – Prof. Brandt war der Generalkommissar für das deutsche Gesundheitswesen – sollten Ende 1944 auch Pharmaziewerke verlagert werden. Kolb Generalbevollmächtigter für Sonderfragen der Chemischen Erzeugung, schrieb daher am 14. September 1944 einen Brief an den Chef des Planungsamtes im „Vierjahresplan“ sowie des Rohstoffamtes im Rüstungsministerium Hans Kehrl.243 Diesem liegt eine Liste der verlagerten sowie noch zu verlagernden Betriebe bei, wobei es ich auch hier meist um Pharma-Werke handelt.244 Die Liste ist auf dem Stand Ende August 1944, enthält jedoch auch Verlagerungen, deren Ausführung zum damaligen Zeitpunkt noch ausstand. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Planungen jemals in das Stadium der Realisierung kamen. Ein auffälliges Beispiel sind hier die I. G. Farbenindustriewerke in Leverkusen, die in großer Zahl in das niederschlesische Parchwitz verlagert werden sollten.245 Das sollte jedoch in den Monaten Juli bis Dezember 1945 geschehen. Zu diesen Verlagerungen wird es nicht mehr gekommen sein. Selbst die Frage, ob die Produktion der I. G. Farben für das Medikament Atebrin wie geplant im Dezember 1944 von Leverkusen nach Parchwitz verlagert wurde, muss offen bleiben. Auch die „Studien zum Luftkriege“, die Ende 1944 erstellt wurden, geben hier 239 240 241 242 243
BA-MA RL 2-IV/155, Anlagen. Vgl. BA-MA RL 2-IV/155, S. 2 des Vorworts der Anlage. Vgl. BA R 3/250–264. Vgl. BA R 3101/31184. BA R 3/1955, Bl. 352 ff.; zu Kehrl siehe Rolf-Dieter Müller, Hans Kehrl – ein ParteibuchIndustrieller im „Dritten Reich“?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1999), 195–213, hier S. 196. 244 BA R 3/1955, Bl. 358. 245 BA R 3/1955, Bl. 358.
100
III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
nur bedingt Auskunft.246 Sie enthalten eine Auflistung der Verlagerungen, die auf dem Stand vom 1. September 1944 ist und die übrigen Verlagerungen bis Ende 1944 antizipiert. Gemäß dieser Studie wurden im letzten Quartal des genannten Jahres reichsweit noch Verlagerungen von 2,2 Millionen m2 geplant, wodurch sich die bereitgestellte Verlagerungsfläche von 1. September bis zum 31. Dezember 1944 von über 13 Millionen auf 15,3 Millionen m2 erhöht hätte.247 Ob es hierzu kam, lässt sich jedoch nicht mehr klären. Selbst in den Ministerien der Bundesrepublik Deutschland scheint es keine Übersicht über den Umfang der Verlagerungen gegeben zu haben. Hierauf deuten die Befragungen der „Angehörigen der politischen Führungsschicht aus den ostdeutschen Vertreibungsgebieten zum Zeitgeschehen von 1939–1945“ hin.248 Die zweite der hier zu beantwortenden Fragen betraf die Industrieverlagerungen. Dort gaben die Befragten an, welche Betriebe in welche Stadt sowie in welchen lokalen Betrieb verlagert wurden. Das spricht dafür, dass eine klare Übersicht über den Umfang der Verlagerungen nicht existierte. Anfang 1945 kamen die Verlagerungen zum Ende. Am 25. Januar 1945 verfügte Speer ein generelles Verbot von Betriebsverlagerungen. Wörtlich hieß es, dass „jede noch nicht in Angriff genommene Verlagerung (. . . ) ab sofort zu unterbleiben habe“.249 Damit endeten die Verlagerungen offiziell. Es gab jedoch bereits Mitte 1944 Anzeichen dafür, dass die Aufnahmekapazitäten zur Neige gingen.250 Groehler verweist darauf, dass die Reichsverteidigungskommissare ihre eigenen Regionen teilweise als „restlos überfüllt“ ansahen und daher seit Sommer 1944 vehement gegen jede sich abzeichnende weitere Verlagerung vorgingen.251 Ein Grund hierfür war, dass der Erfolg der Stilllegungen 1943 geringer war als erwartet. Zwar wurden 13 Prozent der etwas über 22.000 niederschlesischen Einzelhandelsbetriebe (ohne Warenhäuser) geschlossen, doch wäre mehr notwendig gewesen.252 Auch das noch vorhandene Potenzial weiterer Stilllegungen schätzte das Breslauer Institut für Wirtschaftsforschung als gering ein.253 Die „Studien zum Luftkriege“ bestätigen diesen Eindruck und erlauben ebenfalls, die Verlagerungen nach Niederschlesien in einen gesamtdeutschen Kontext einzubinden. Der Autor gibt an, dass gemäß seiner Schätzung Dreiviertel der Kapazitäten erschöpft seien.254 Die Gesamtfläche der Verlagerungsbetriebe zeigt, in welchem Umfang verlagert wurde. Zum 1. September 1944 waren im gesamten Deutschen Reich über 13 Millionen m2 Betriebsfläche durch Verlagerungsbetriebe belegt, wobei ihre Ursprungsbetriebsfläche, also die Fläche, die die Betriebe an ih246 BA-MA RL 2-IV/155. 247 BA-MA RL 2-IV/155, Anteil der Ämter des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion an der oberirdischen Verlagerung. 248 Vgl. BA Ost-Dok. 8/721–735. 249 Ruppert/Riechert, Herrschaft und Akzeptanz (wie Anm. 213, S. 95), S. 110; Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 286. 250 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 53. 251 Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 286. 252 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 199. 253 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 207. 254 BA-MA RL 2-IV/155, S. 11.
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rem Stammsitz belegten, über 16 Millionen m2 betrug. Diese Fläche verteilte sich wie folgt auf die einzelnen Rüstungsinspektionen255 : Tabelle III.15.: Anteil der Rüstungs-Inspektionsbereiche an der oberirdischen Verlagerung (Gesamtverlagerung) in ihrer Größenfolge Rüstungsinspektion Fläche in m2 Anteil (in %) XVII Wien 1.885.761 11,21 IVa Dresden 1.865.838 11,09 Oberrhein 1.777.058 10,57 VIIIa Breslau 1.324.947 7,87 III Berlin 1.321.865 7,87 Prag 1.086.228 6,46 IX Kassel 1.013.290 5,39 XIII Nürnberg 906.279 5,39 XIIa Wiesbaden 844.300 5,02 IVb Reichenberg 822.912 4,89 XIb Magdeburg 627.999 3,73 VII München 561.495 3,33 V Stuttgart 550.496 3,27 II Stettin 504.785 3,00 X Hamburg 443.765 2,63 XXI Posen 319.083 1,89 XI Münster 300.069 1,78 VIIIb Kattowitz 252.649 1,50 XIa Hannover 176.552 1,05 XVIII Salzburg 164.059 0,97 XX Zoppot 55.244 0,33 I Königsberg 21.605 0,13
255 Vgl. BA-MA RL 2-IV/155, Anlagen.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
Tabelle III.16.: Anteil der Rüstungs-Inspektionsbereiche an der oberirdischen Verlagerung der Fertigungsflächen in ihrer Größenfolge Rüstungsinspektion Fläche in m2 Anteil (in %) IVa Dresden 1.409.935 13,30 Oberrhein 1.317.880 12,45 XVII Wien 854.598 8,07 III Berlin 827.550 7,81 Prag 737.635 6,96 VIIIa Breslau 717.393 6,77 XIII Nürnberg 597.429 5,64 IX Kassel 549.162 5,28 XIIa Wiesbaden 534.300 5,04 XIb Magdeburg 469.915 4,44 IVb Reichenberg 450.910 4,27 V Stuttgart 431.742 3,96 VII München 336.930 3,18 II Stettin 289.570 2,74 XI Münster 235.530 2,22 X Hamburg 217.583 2,06 XXI Posen 203.914 1,92 VIIIb Kattowitz 161,819 1,55 XIa Hannover 106.059 1,01 XVIII Salzburg 99.246 0,94 XX Zoppot 31.443 0,29 I Königsberg 14.400 0,14
4.2. Motive, Umfang und Folgen der Verlagerungen Eine interessante Frage ist, was die Motive und die treibenden Kräfte hinter den Verlagerungen waren. Zwar scheint die Antwort bei oberflächlicher Betrachtung offensichtlich: Flucht vor dem Luftkrieg. Diese Erklärung greift jedoch zu kurz. Es gab schon vor den Luftangriffen Ansätze, die Industriestruktur des Deutschen Reiches nach bestimmten Gesichtspunkten zu verändern. Es müssen verschiedene Interessenskomplexe voneinander unterschieden werden. Das erste und in der Forschung am stärksten unterstrichene Argument im Zusammenhang mit der Dislozierung der Rüstungsbetriebe war der Schutz der Rüstungsproduktion vor den Luftangriffen der Alliierten. Der sog. „Luftschutzkeller“ Ostdeutschland schien damals aus verschiedenen Gründen besonders attraktiv, weshalb Niederschlesien bei den Verlagerungen in besonderem Maße berücksichtigt wurde. Der Anstieg der in der niederschlesischen Industrie Beschäftigten kann hier-
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für als Beleg dienen.256 Im Jahr 1943 lag Niederschlesien am weitesten von allen gegnerischen Fliegerverbänden entfernt. Dies galt auch für die übrigen ostdeutschen Gebiete, weshalb diese ebenfalls Ziel von Verlagerungen waren.257 Auch im Fall des Krupp-Konzerns wurde Ostdeutschland insbesondere deswegen gewählt, weil das Risiko von Luftangriffen dort gering war.258 Der Fokus auf die deutschen Ostprovinzen, die später von Polen verwaltet wurden, verstellt jedoch den Blick auf die Tatsache, dass diese Provinzen nicht überdurchschnittlich von den Verlagerungen profitierten. Addiert man die Verlagerungen in die Inspektionen Breslau, Stettin, Posen, Kattowitz, Zoppot und Königsberg, ergibt sich eine Summe von 14,72 Prozent. Berücksichtigt man nur die verlagerte Fertigungsfläche, liegt der Wert bei 13,41 Prozent. Die Verlagerungen nach Österreich (Rüstungsinspektion Wien und Salzburg) betrugen 12,18 bzw. 9,01 Prozent, in die heutige Tschechische Republik (Rüstungsinspektionen Prag und Reichenberg) 11,35 bzw. 11,23 Prozent, in die ehemalige DDR (Rüstungsinspektion Dresden und Berlin) 18,96 bzw. 21,11 Prozent.259 Die ostdeutschen Gebiete waren somit nur ein Zufluchts- und Verlagerungsort von mehreren. Für die spätere BRD waren die Verluste jedoch beachtlich: 57,84 bzw. 54,76 Prozent der verlagerten Betriebe lagen 1949 jenseits des „Eisernen Vorhangs“ sowie in Österreich und standen somit nach 1945 nicht mehr zur Verfügung. Bei den Verlagerungen waren präventive Maßnahmen die Ausnahme. In den meisten Fällen erfolgte die Verlagerung erst, wenn der erste Luftangriff bereits die Fertigungsstätte getroffen hatte. Im Fall des Krupp-Konzerns wurde nur ein Betrieb präventiv verlagert. Es handelte sich hierbei um die Widiaproduktion, die im November 1942 in das niederschlesische Langenbielau verlagert wurde.260 In einem Schreiben vom 14. Februar 1948 bestätigt Hans Rudolph, dass „vorsorgliche Verlegungen“, soweit er sich erinnern könne, zumindest im Falle Krupps „kaum zu verzeichnen“ gewesen seien.261 Auch Groehler betont, dass sich erst nach Bombenangriffen „in der Einstellung maßgeblicher Industrieller und Rüstungsmanager (. . . ) ein Sinneswandel“ vollzogen habe.262 Somit schien Niederschlesien ein geeigneter Luftschutzkeller nicht nur für die Bevölkerung263 , sondern auch für die Rüstungsindustrie zu sein.264 256 257 258 259
260 261 262 263 264
Vgl. Tabelle III.9, S. 77. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 115. Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 376. Vgl. die Tabellen III.15, III.16, S. 101 f. Die Rüstungsinspektion III (Berlin) bestand zu etwa 40 Prozent aus Gebieten, die nach der Potsdamer Konferenz auf Polen übergingen, was die Angaben teilweise relativiert. Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 438. Schreiben von Hans Rudolph an Klaus Henning vom 14. Februar 1948; Eigentum des Lehrstuhls für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Bielefeld. Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 285. Vgl. Müller, Rüstungspolitik (wie Anm. 12, S. 52), Abb. S. 362. Auch andere Industrien wurden in Gebiete verlagert, wo Schäden durch Luftangriffe als unwahrscheinlich angesehen wurden. In zahlreichen Fällen kam es auch zu Höhlen- und Bunkerverlagerungen; vgl. Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–
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Die Lage änderte sich jedoch, als am 12. Mai 1944 der Angriff auf die deutsche Treibstoffproduktion begann, was auch die oberschlesischen Hydrier- und Synthesewerke um Blechhammer, Przywor und Kandrzin einschloss. Dem folgte die Besetzung der Flugbasen nördlich von Rom im Juni 1944. Erst dann war Schlesien nicht mehr außer Reichweite. Die 15. amerikanische Luftflotte zeigte mit ihren Angriffen, dass auch der „Luftschutzkeller“ nicht mehr sicher war.265 Sieht man von diesen wenigen Angriffen jedoch ab, blieb die Industrie intakt.266 Auf die Frage, wie sich die Kriegshandlungen auf das Anlagekapital Niederschlesiens auswirkten, wird noch genauer eingegangen. Das nächste zu diskutierende Motiv hinter den Verlagerungen betrifft die Wirtschaftspolitik. Es wurde bereits angesprochen, dass nach dem „Endsieg“ auch eine Reorganisation der deutschen Industrie vorgesehen war. Dies war mehr als nur ein Hirngespinst, sondern tatsächliche Handlungsanleitung für die damalige Industriepolitik. So wurde die agrarische Prägung der ostdeutschen Gebiete damals durchaus zur Kenntnis genommen.267 Diese sollte jedoch einer industriellen Erschließung weichen, bei der neben einer industriellen Erschließung des Ostens eine „Auflockerung der industriellen Großkomplexe eine besondere Rolle“ spielte.268 Die niederschlesische Industrie war geeignet, hierbei eine besondere Rolle zu spielen. In einer Denkschrift zur niederschlesischen Industrie von 1937 (Dr. Saath) heißt es etwa: „Niederschlesien hat industriell gesehen, (sic) bis auf einige wenige mittlere Zusammenballungen stark dezentralisierte Industrieniederlassungen. Dies bietet neben manchem wirtschaftlichen Nachteil doch wehrwirtschaftliche (sic) gesehen auch viele Vorteile, da einem luftangreifenden Feinde die Zerstörungen solcher zerstreut liegender Unternehmungen viel schwerer fallen muß, (sic) als die der großen Industriezusammenballungen.“269 Schon während der zweiten Hälfte der 30er Jahre verfolgte die Rüstungspolitik das Ziel, sich nicht mehr allein auf die industriellen Schwerpunkte Oberschlesien, Ruhrgebiet und Sachsen zu konzentrieren, sondern die industriellen Zentren mehr über die Fläche des deutschen Machtbereichs zu verteilen.270 Zwar wird hieraus deutlich, dass das damalige Ostdeutschland auch aus wirtschaftspolitischer Sicht eine besondere Rolle spielte. Das bedeutete jedoch nicht, 1945 (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 50), Düsseldorf 1998, S. 857. Fuchs, Katastrophe (wie Anm. 2, S. 49), S. 678 f. Ebd., S. 681. BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 102. Vgl. Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt am Main 1991, S. 356. Das Ziel der Dezentralisierung der Rüstungsproduktion wurde auch auf andere Weise verfolgt. So wurde beispielsweise die Flugzeugproduktion des Me262 in ein Waldlager in Bayern verlegt; vgl. Christian Gödecke, Hitlers geheime Flugzeugfabriken. Düsenjäger im Dickicht, in: Spiegel-Online 30.11.2010, einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/18081/hightech_im_wald.html (besucht am 30. 11. 2010). 269 „Denkschrift über die Provinz Niederschlesien unter besonderer Berücksichtigung ihrer wehrwirtschaftlichen Bedeutung“, ca. 1937, BA MA, RW 20-8/36, Bl. 24. 270 Vgl. Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 16, 19. 265 266 267 268
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dass nicht auch kurzfristige Erwägungen von höchster Bedeutung waren. Durch die geographische Verteilung der Betriebe sollte es nicht mehr möglich sein, lokale Rüstungsproduktion durch gezielte Luftangriffe lahm zu legen. Groehler geht davon aus, dass schon nach 1933 die Rüstungsindustrie auf eine bestimmte Weise umgebaut werden sollte, um „die Luftgefährdung des bestehenden und vor allem des neugeschaffenen Kriegspotenzials so minimal wie nur möglich zu halten“. Dieser Plan sei jedoch gescheitert. Im Gegenteil hätten sich die neuen Rüstungsbetriebe um die alten Fertigungsstätten konzentriert, was die Gefahr noch erhöht habe.271 Schlesien profitierte davon, dass es nicht wie die Zielgebiete im Deutschen Reich westlich der Oder-Neiße-Grenze weniger als 1.000 km von London entfernt lag, sondern zwischen 1.200 und 1.300 km.272 In der für Angriffe auf deutsche Städte erstellten Liste des britischen Bomber Command waren nur zwei niederschlesische Städte aufgeführt, und zwar Görlitz und Breslau. Auch nach der Landung der Alliierten in Italien betrug der Abstand zwischen dem süditalienischen Foggia und Schlesien 1.000 bis 1.100 km.273 Die US Air-Force stand gleichzeitig unter dem bis Anfang 1944 steigenden Druck, erfolgreicher und mit weniger Verlusten zu agieren, als es bisher der Fall war.274 Vor diesem Hintergrund musste die Überquerung von über 1.000 km zur Erreichung des Angriffsziels abschreckend wirken. Die Weisung Speers vom 1. Juni 1943 macht ebenfalls deutlich, dass die Verlagerungen in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Reaktion auf Luftangriffe waren: „Die Verlagerung bombenbeschädigter Betriebe ist besonders dringlich. Die schweren Luftangriffe und Fertigungsausfälle sind vornehmlich darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil der Rüstungsindustrie in Großstädten massiert ist. Die Rüstungsindustrie muss daher weitgehends aufgelockert werden und in die weniger luftgefährdeten Gebiete verlagert werden.“275 Das Motiv der Streuung von Betrieben erklärt ebenfalls, warum auch Regionen wie das „abseits der Industrie- und Rüstungszentren gelegene Lippe“ zu einem regionalen Zentrum für den Flugzeugbau wurde.276 Die Tatsache, dass diese Gegend insbesondere stark durch die Holz- und Möbelindustrie sowie Handwerksbetriebe geprägt war, stand der Verlagerung in diese Region offenbar nicht entgegen. Die Ostgebiete wiesen eine vergleichbare Charakteristik auf, woraus man schließen kann, dass diese nicht etwa nur eine „Notlösung“ waren. Die Dezentralisierung der deutschen Rüstungsproduktion brachte für die Regionen nicht nur Vorteile. Sie führte auch lokal zu Arbeitskräfteengpässen und verursachte einen immer stärkeren Zustrom von Evakuierten und belastete folglich die Stromversorgung.277 Die Bevölkerung Schlesiens wuchs auch, weil im Zuge der 271 272 273 274 275
Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 284. Vgl. Wolf, Luftangriffe (wie Anm. 211, S. 95), 22 ff. Vgl. ebd., S. 22 ff. Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 210. ZStA Potsdam, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Nr. 77, Bl. 33, zit. in: ebd., S. 285. 276 Ruppert/Riechert, Herrschaft und Akzeptanz (wie Anm. 213, S. 95), S. 99. 277 Ebd., S. 114. In Lippe wurden die Probleme in der zweiten Hälfte 1944 auch wegen eines
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Angriffe auf Berlin Anfang 1943 immer mehr Behörden verlegt wurden. So war allein die Zahl der in Breslau lebenden Menschen bis Kriegsende von 626.000 auf etwa eine Million gestiegen.278 Eine weitere Hypothese bezüglich der Verlagerungen wurde von Abelshauser aufgeworfen. Er schreibt, es habe die Hoffnung gegeben, Industrieverbünde zu schaffen: „. . . durch gezielte Verlegungen [sollten] Synergieeffekte hervorgerufen werden, so dass im Idealfall eine neue, rationalere Dislozierung der deutschen Rüstungsindustrie entstanden wäre, als sie historisch gewachsen war.“279 Hierbei handelt es sich um eine Fortsetzung der zuvor diskutierten Auflockerungs-These, sie steht aber auch im potenziellen Widerspruch zu ihr. Sie geht davon aus, dass das Ziel nicht mehr bloß eine Beseitigung der Anfälligkeit gegenüber Bombenangriffen war, die als „positiven Nebeneffekt“ noch die Auflockerung der deutschen Industrielandschaft bewirkte, sondern gleichzeitig eine gezielte Neuzusammensetzung der Industriestruktur. Der Begriff „Industrieverbund“ ist unter Umständen anachronistisch. Er geht u. a. auf Porter zurück, der mit diesem Begriff einen Verbund komplementär wirtschaftender, also sich gegenseitig ergänzender wirtschaftlicher Akteure bezeichnet, die durch entsprechende „Verzahnung“ die Kosten senken und effizient wirtschaften.280 Somit war der von Porter verwendete Begriff „Cluster“ zwar unbekannt, die Vorstellung sich gegenseitig ergänzender wirtschaftlicher Akteure sicherlich nicht. Diese Annahme steht auf theoretischer Ebene – wie bereits erwähnt – unter Umständen dem Ziel einer Auflockerung entgegen. Das ist dann der Fall, wenn der angestrebte Verbund auf eine geographisch eng begrenzte Fläche limitiert ist und somit wieder die Gefahr der Anfälligkeit gegenüber Luftangriffen besteht. Die Annahme einer erfolgreichen Schaffung solcher Verbünde erscheint jedoch auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Die meisten verlagerungswilligen Betriebe waren verpflichtet, sich selbst einen Aufnahmebetrieb zu suchen. Erst wenn dieser gefunden war, konnte ein entsprechender Antrag beim Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion gestellt werden. Das Speer-Ministerium legte großen Wert darauf, bei den Verlagerungen eine zentrale Rolle einzunehmen.281 Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die einzelnen Betriebe jeweils auf das Finden eines Aufnahmebetriebs konzentrierten und Fragen wie etwa der Effekt des eigenen Betriebs auf die lokale Wirtschaft irrelevant waren oder zumindest in der Mehrzahl der Fälle hinter anderen Argumenten zurückstehen mussten. Und auch bei größe-
278 279 280 281
Angriffs auf andere Energieversorger akut, so dass am 30. Januar 1945 der lokale Energieversorger, die Wesertalzentrale, beschloss, am 31. Januar um 14 Uhr die Ausschaltung der nicht rüstungsrelevanten Betriebe vorzunehmen. Im Einzelnen betraf das die kleineren Betriebe der Papier-, Kali- und Kalkindustrie, der Zementindustrie, der Ziegeleien und Dachsteinwerke, der feuerfeste und der Kieselgurindustrie, der Glasindustrie, der Keramischen Industrie sowie der Lederindustrie; vgl. Ruppert/Riechert, Herrschaft und Akzeptanz (wie Anm. 213, S. 95), S. 115 f. Johannes Kaps, Die Tragödie Schlesiens 1945/46 in Dokumenten, München 1962, S. 11. Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 440 f. Porter, Clusters and Company Strategy (wie Anm. 17, S. 28), S. 254 f. Vgl. BA-MA RL 2-IV/155, Anlagen.
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ren Betrieben zeigte sich, dass der angestrebte Ort, an den der Verlagerungsbetrieb angesiedelt werden sollte, nicht immer möglich war. Dies war beispielsweise bei der Firma Patin aus Berlin der Fall. Diese sollte zunächst nach Pommern in das ˙ heutige Zaganie verlagert werden. Da das aus unbekannten Gründen nicht möglich war, wurde schließlich das niederschlesische Mittelsteine Verlagerungsort.282 Vor dem Hintergrund dieser Praxis scheint es unwahrscheinlich, dass eine Schaffung von „Clustern“ tatsächlich gelang. Auch die bereits erwähnte Weisung Speers vom 1. Juni 1943 lässt nicht darauf schließen, dass eine sinnvolle Verlagerung angestrebt wurde: „Die Verlagerung bombenbeschädigter Betriebe ist besonders dringlich. Die schweren Luftangriffe und Fertigungsausfälle sind vornehmlich darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil der Rüstungsindustrie in Großstädten massiert ist. Die Rüstungsindustrie muss daher weitgehends aufgelockert werden und in die weniger luftgefährdeten Gebiete verlagert werden. Überlegungen, ob die Wirtschaftsstruktur eines Gebietes die Aufnahme neuer Industrien zulässt, können jetzt nicht mehr ausschlaggebend sein und müssen zurücktreten. Alle geeigneten und frei zu machenden Gebäude und Räumlichkeiten müssen für diesen Zweck herangezogen werden.“283
In der Frage der Verlagerungspraxis deuten die „Studien zum Luftkriege“ darauf hin, dass es einen latenten Konflikt zwischen der Wirtschaft und dem Rüstungsministerium gab. Der Autor schreibt, dass sich „gegenseitig ergänzende Industrien nicht durch lange Transportwege getrennt sein“ dürften, und dass sämtliche Fertigungsstufen in einer Mehrzahl von kleinen und mittleren Werken zu vereinigen seien, damit bei Ausfall eines Werkes nicht gleich die Lähmung der gesamten Endproduktion drohe. Anschließend betont er jedoch: „Hinter diesen wehrpolitischen Notwendigkeiten muss die Forderung der Wirtschaft, die Produktion allein nach rationalen Gesichtspunkten der Fabrikation usw. aufzubauen, zurücktreten.“284 Es ist nicht genau zu erkennen, ob es sich bei den Hinweisen um Lehren für die Zukunft oder um eine generelle Verlagerungsstrategie handelt. Offenbar entsprach es jedoch dem Interesse der Wirtschaftsakteure, die Wirtschaftsbetriebe möglichst günstig zu positionieren. Das Zitat der Studie deutet demgegenüber darauf hin, dass im Zweifel militärischen Aspekten bei der Entscheidung des Ministeriums Priorität eingeräumt wurde. Ein weiteres Problem war, dass die Stilllegungsaktion keinen durchschlagenden Erfolg brachte. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Wahl des Aufnahmebetriebs stark von der Frage bestimmt wurde, wie viel freie Betriebsfläche zur Verfügung stand – selbst wenn es auf politischer Ebene eine solche Zielsetzung gegeben hätte, wofür es jedoch keine Hinweise gibt. Der Annahme der Intention der Schaffung von Industrieverbünden steht auch das Argument entgegen, dass das Gros der Betriebe erst nach massiven Luftangriffen überhaupt verlagert wurde. Folgt man der Darstellung Groehlers, war die Schaffung von Industrieverbünden nicht erfolgreich: Anstatt des Generierens von Synergieeffekten hatten die ver282 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 51. 283 ZStA Potsdam, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Nr. 77, Bl. 33, zit. in: Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 285. 284 BA-MA RL 2-IV/155, S. 14.
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lagerten Betriebe mit längeren Lieferwegen zu kämpfen.285 Das belegt die These Müllers, die Verlagerungen hätten Nachteile für die deutsche Rüstungswirtschaft bedeutet und so die Luftoffensive der Alliierten eine indirekte Wirkung auf die Rüstungsindustrie des Deutschen Reiches gehabt.286 Ein weiteres Motiv, das im Rahmen der Verlagerungen eine Rolle gespielt hat, betraf nicht die Wirtschaftspolitik, sondern die wirtschaftlichen Interessen der Aufnahmebetriebe. Wie erläutert mussten sich Betriebe, die sich selbst in andere Gebiete verlagern wollten, zunächst einen Aufnahmebetrieb suchen, der bereit war, den Betrieb bzw. den Betriebsteil aufzunehmen.287 Von diesen Aufnahmebetrieben wurde die erbetene Konzession nicht immer nur als Last empfunden. Es ist ein interessantes Detail, dass die Verlagerung von Betrieben begrüßt wurde, da mit ihnen die Hoffnung verbunden wurde, dass die Betriebe auch nach Kriegsende bleiben würden.288 Heß betont das am Beispiel Sachsens: „Die kleinen und mittleren Unternehmen sahen im Einstieg in branchenfremde Produktion häufig die einzige Chance, ihr Unternehmen aufrechtzuerhalten.“289 Ebenso warben die Städte und auch wichtige Behörden Betriebe gezielt an und begrüßten so die Erhöhung des lokalen Produktionspotenzials. Im Rahmen der Stilllegungsaktion schwach ausgelastete Textilbetriebe sahen zudem in der Aufnahme eines Rüstungsbetriebs die Möglichkeit, die vorhandenen Kapazitäten wieder besser ausschöpfen zu können.290 Hieraus lässt sich erkennen, dass der Aufnahmebetrieb nicht notwendigerweise aus der selben Wirtschaftsbranche stammen musste wie der Verlagerungsbetrieb. Im Gegenteil handelte es sich gerade bei der Textilindustrie um einen Industriezweig, der gut geeignet war, um die Teil- oder Montageproduktion der Flugzeugindustrie aufzunehmen.291 Auch in Niederschlesien gab es eine ausgeprägte Textilindustrie. Tabelle III.9292 zeigt einen starken Anstieg der Beschäftigtenzahlen in der Luftfahrtindustrie zwischen 1942 und 1944. Während 1942 etwa 3.500 Arbeiter in der Luftfahrtindustrie beschäftigt waren, stieg die Zahl bis 1944 auf beinahe 30.000, was Heß’ These auch für das Beispiel Niederschlesien bestätigt. Es muss jedoch betont werden, dass die Aufnahme nicht nur Vorteile für den Aufnahmebetrieb brachte, sondern sich im Gegenteil häufig als sehr folgenreich erwies. So kam es im Rahmen der Verlagerungen dazu, dass Werke zugunsten des zu verlagernden Betriebs verdrängt wurden. Auch wurde die Abwesenheit der Inhaber genutzt, die als Soldaten im Krieg oder verstorben waren.293 Die Anwesenheit der verlagerten Betriebe wurde daher in bestimmten Fällen kritisch gesehen – insbesondere dann, wenn sich die Firmen dauerhaft einzurichten begannen. Man fürchtete, 285 286 287 288 289 290
Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 290. Vgl. Müller, Rüstungspolitik (wie Anm. 12, S. 52), S. 356. Vgl. Riechert/Ruppert/Gringmuth, Militär und Rüstung (wie Anm. 213, S. 95), S. 205. Vgl. Siebel-Achenbach, Lower Silesia (wie Anm. 3, S. 50), S. 22. Heß, Sachsens Industrie (wie Anm. 146, S. 80), S. 79. Roland Peter, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 44), München 1995, S. 267. 291 Heß, Sachsens Industrie (wie Anm. 146, S. 80), S. 79. 292 Vgl. S. 77. 293 Ruppert/Riechert, Herrschaft und Akzeptanz (wie Anm. 213, S. 95), S. 111.
5. Materielles und immaterielles Kapital Niederschlesiens zu Kriegsende
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dass gewachsene Strukturen unter anderem im Handwerk zerschlagen werden würden.294 Zieht man Bilanz, welche Gründe bei der Verlagerung der Betriebe die einflussreichsten waren, ist das Ergebnis eindeutig: „Nicht weniger als reichlich zwei Drittel aller Verlagerungen galten dem Schutz reiner Rüstungsproduktion.“295 Die Firmen scheuten regelmäßig zunächst eine Verlagerung, da die Angelegenheit in der jeweiligen Situation nicht als dringlich empfunden wurde. Wenn diese dann durch Bombenangriffe praktisch erzwungen wurde, muss angenommen werden, dass eine rasche Umsiedlung Priorität besaß und Aspekte wie die Schaffung von Industrieverbünden oder die Interessen der Aufnahmebetriebe nur in den seltensten Fällen bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielten. Die Flucht vor den Luftangriffen war Hauptmotiv.
5. MATERIELLES UND IMMATERIELLES KAPITAL NIEDERSCHLESIENS ZU KRIEGSENDE 5.1. Das Produktionspotenzial 1944 Wie hoch war also die Ausstattung mit Anlagekapital zu Kriegsende? Nachdem der Ablauf der Verlagerungen sowie die dahinterstehenden Motive beleuchtet wurden, bleibt die Frage offen, wie sich die umfangreiche Verlagerungstätigkeit ausgewirkt hat. Beim Versuch einer Bilanz der Verlagerungen müssen zwei Ebenen unterschieden werden. Die erste Ebene betrifft den kurzfristigen Erfolg und seine Auswirkung auf das Produktionsniveau der deutschen Rüstungsindustrie. Hier werden die Folgen der Betriebsverlagerung verschieden beurteilt. Müller betont, dass eine Wirkung der Verlagerungen zeitliche Verzögerungseffekte bei der Rüstungsproduktion gewesen seien. Er möchte mit diesem Argument auch den Umstand relativieren, dass die Luftangriffe im Jahr 1943 nur geringen direkten Schaden verursacht haben. Tatsächlich hätten die Luftangriffe doch eine Wirkung auf die Produktion gehabt, nur eben eine Indirekte.296 Auch Eichholtz geht davon aus, dass die Verlagerung mit Einbußen für die Produktion verbunden gewesen sei. Dies habe unter anderem daran gelegen, dass insbesondere die Verlagerungen hohe Anforderungen an die Beschäftigten und somit auch an ihre Qualifikation gestellt hätten. Auf der anderen Seite wird vertreten, dass bei der Verlagerung die positiven Effekte überwogen. Eichholtz betont, dass die Verlagerung trotz der Verzögerungseffekte teilweise der einzige Weg gewesen sei, die Produktion überhaupt fortzusetzen.297 Auch Groehler macht sich diese Ansicht implizit zu eigen.298 Zudem ist zu beachten, dass der Höhepunkt in der Produktion erst im Juli 1944 erreicht wor294 295 296 297 298
Ebd. Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 287. Müller, Rüstungspolitik (wie Anm. 12, S. 52), S. 356 f. Eichholtz/Lehmann/Fleischer, Kriegswirtschaft 1939–45 (wie Anm. 14, S. 52), Bd. 3, S. 25. Vgl. Groehler, Bombenkrieg (wie Anm. 211, S. 95), S. 284 f.
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III. Entwickelte Industrieregion Niederschlesien?
den ist.299 Beachtet man den Umfang der Verlagerungen, der zudem zu Zweidrittel den Schutz der Rüstungsindustrie betraf, so scheint es zumindest unwahrscheinlich, dass die Verlagerungen zu einem signifikanten Produktionseinbruch führten, der von der übrigen Industrie, die nicht von den Verlagerungen betroffen war, überkompensiert wurde. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des beachtlichen Produktionsanstiegs während der „Ära Speer“.300 Ein Problem bleibt, dass sich bei der Prüfung der Entwicklung des Produktionspotenzials Niederschlesiens Verlagerungen und Investitionen in einzelne Betriebe nicht voneinander unterscheiden lassen. Nicht jeder Anstieg der Produktionszahlen ist direkt auf Verlagerungen zurückzuführen. Die methodische Schwierigkeit wird am folgenden Beispiel deutlich. Zwei Drittel der Verlagerungen wurde zugunsten der Rüstungsindustrie vorgenommen, es gab jedoch auch in NichtRüstungsbranchen ein beachtliches Wachstum. Folgt man Gleitze, so stieg etwa die Garnerzeugung von 46.600 Tonnen 1936 (6,4 Prozent der Reichsproduktion) auf 71.700 Tonnen 1944, was 15,1 Prozent der reichsdeutschen Gesamtproduktion entsprach.301 Vergleichbares lässt sich bei der Schuhproduktion sowie bei der Nahrungsmittelindustrie beobachten.302 Es kann davon ausgegangen werden, dass dieses Wachstum nicht ausschließlich durch die Verlagerungen generiert wurde. Auch „klassische“ Investitionen werden hier eine wichtige Rolle gespielt haben. Für diese Arbeit ist es jedoch nur wichtig, die materielle Ausgangslage Niederschlesiens 1945 realistisch einschätzen zu können, weshalb die methodische Frage des Grunds für den jeweiligen Anstieg des Bruttoanlagekapitals von untergeordneter Bedeutung ist. Die Frage des kurzfristigen Effekts auf die deutsche Rüstungsproduktion ist daher für die vorliegende Arbeit unerheblich. Für diese Untersuchung ist vielmehr entscheidend, wie sich die Verlagerungen auf das niederschlesische Produktionspotenzial auswirkten. Diese Frage wurde von der Forschung nie verfolgt. Das ist überraschend, wenn man sich vor Augen führt, dass eine Beantwortung dieser Frage Erkenntnisse zu den Ausgangsbedingungen der ehemaligen deutschen Ostgebiete hätte liefern können. Ähnliches gilt für die Frage der Höhe des Anlagekapitals. Bei den ehemaligen deutschen Ostgebieten wurde die Frage nach dessen „Schicksal“ nie gestellt. Schon eine einfache Bilanzierung ist schwierig. Hinzu kommt, dass zusätzlich zum Anstieg des Bruttoanlagekapitals die Frage des Umfangs der Kriegszerstörungen in Niederschlesien gestellt werden muss. Das Argument der hohen Zerstörungen, das bis in die 70er Jahre ein Allgemeinplatz nicht nur in der wirtschaftshistorischen Forschung war, lässt sich am Beispiel Niederschlesiens nicht bestätigen, wie noch gezeigt werden wird. Offen bleibt die Frage 299 Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder (wie Anm. 11, S. 18), S. 33; Strategic Bombing, S. 7; Wagenführ, Industrie im Kriege (wie Anm. 19, S. 52), S. 191; ebd., S. 80; Alan S. Milward, Der Zweite Weltkrieg. Krieg, Wirtschaft und Gesellschaft 1939–1945, München 1977, S. 109. 300 Vgl. Strategic Bombing, S. 7. 301 Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 83. 302 Ebd., S. 88, 91.
5. Materielles und immaterielles Kapital Niederschlesiens zu Kriegsende
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einer Bilanzierung der Verlagerungen sowie des Anstiegs des Bruttoanlagekapitals. Wie wirkte sich die Verlagerung von mindestens 373 Betrieben mit 1.169.885 m2 (Stand September 1944) Betriebsfläche aus? Als Ausgangspunkt kann die Tabelle III.9 zur Entwicklung der Beschäftigtenzahlen genutzt werden. Hier wird ein Anstieg der Beschäftigten um etwas über 100.000 gemessen. Dieser Anstieg erfolgte zwischen 1942 und 1944, also genau in jenem Zeitraum, in dem die Verlagerungen ihren Höhepunkt erreichten. Was lässt sich hieraus über das Produktionspotenzial ableiten? Tabelle III.8303 gibt für Industrie und Handwerk Niederschlesiens an, dass im August 1943 etwa 20 Prozent der Beschäftigten Zwangsarbeiter waren. Übernimmt man diesen auch für die Industrie selbst, so bedeutet das, dass von den 340.000 Industriebeschäftigten etwa 68.000 Zwangsarbeiter waren. Der Einsatz von KZ-Häftlingen für die Zwangsarbeit begann im Laufe des Jahres 1942.304 Die Karte des Statistischen Dezernats der Gauwirtschaftskammer Schlesien, die 240.000 Industriebeschäftigte für die Ostprovinz angibt, bezieht sich auf Januar 1942, als Zwangsarbeiter noch kaum eine Rolle spielten. Von den 100.000 zusätzlichen Beschäftigten waren mithin 68.000 Zwangsarbeiter, 32.000 waren reguläre Beschäftigte. Zieht man die Schätzungen von Spoerer zur Produktivität von Zwangsarbeitern in der Industrie heran, kann man von einer Produktivität von bis zu 60 Prozent der KZ-Zwangsarbeiter, gemessen an der deutschen Produktivitätsnorm, ausgehen.305 Legt man den Wert auf 50 Prozent fest, so entspricht der Anstieg der Beschäftigten um 68.000 Zwangsarbeiter dem Einsatz von 34.000 der deutschen Produktivitätsnorm entsprechenden Beschäftigten. Hieraus ergibt sich ein Anstieg des Produktionspotenzials von Januar 1942 bis März 1944 um etwa 27 Prozent.306 Wie passt das zu den übrigen Befunden? Gemäß Gleitzes Berechnungen stieg die industrielle Nettoproduktion der Ostprovinzen von 1936 bis 1944 um 49,9 Prozent.307 In der DDR und in der BRD lag das Bruttoanlagekapital 1945 23,1 bzw. 20,7 Prozent oberhalb des Niveaus von 1936.308 Nimmt man die Kriegszerstörungen hinzu, lag der Anstieg bei 38,1 Prozent. Berücksichtigt man den Anstieg bei der Produktion, beim Bruttoanlagekapital sowie beim Arbeitskräftebedarf sowie den Umfang der Verlagerungen, kann ein Produktionsanstieg der Industrie Niederschlesiens bis Kriegsende im Umfang von etwa 50 Prozent angenommen werden.309 303 Siehe S. 76. 304 Tooze, Ökonomie der Zerstörung (wie Anm. 13, S. 52), S. 615. 305 Mark Spoerer, Profitierten Unternehmen von der KZ-Arbeit? Eine kritische Analyse der Literatur, in: Historische Zeitschrift 268.1 (1999), 61–95, hier S. 68–70; Tooze, Ökonomie der Zerstörung (wie Anm. 13, S. 52), S. 615–617. 306 Geht man davon aus, dass 30 Prozent der Beschäftigten Zwangsarbeiter waren, ergibt sich ein Anstieg des Produktionspotenzials um 21 Prozent. 307 Vgl. Tabelle III.10, S. 83. 308 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 70; Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 115, S. 73), S. 28; Krengel, Anlagevermögen (wie Anm. 115, S. 73), S. 98–107. 309 Zur Prüfung der Ausgangsbedingungen Niederschlesiens nach Kriegsende müssen auch die Kriegszerstörungen und Demontagen geprüft werden. Dies erfolgt in den folgenden Kapiteln.
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Eine weitere Möglichkeit der Abschätzung der niederschlesischen Industrieentwicklung kann über den Stromverbrauch erfolgen. Strom hat die Eigenschaft, nicht bzw. nur sehr schwierig lagerbar zu sein. Darüber hinaus ist es ein universelles Verbrauchsgut der Industrie, das praktisch nicht durch andere Stoffe ersetzt werden kann.310 Die Zunahme der Stromproduktion in den Ostprovinzen – Zahlen allein für Niederschlesien stehen leider nicht zur Verfügung – deckt die Annahme sowohl des Anstiegs selbst als auch des angenommenen Aufholprozesses gegenüber dem übrigen Deutschen Reich. Während die dortige Stromproduktion von 1936 bis 1943 von 2.923 GWh um 93 Prozent auf 5.631 GWh stieg, erhöhte sich die Stromproduktion im übrigen Deutschen Reich – in den Grenzen von 1937, ohne Königsberg – „nur“ um 77 Prozent (1936: 39.379 GWh, 1943: 69.825 GWh).311 Die beinahe Verdopplung der Stromproduktion stützt ebenfalls die Annahme, dass sich das Produktionspotenzial Niederschlesiens von 1936 bis Kriegsende um etwa 50 Prozent erhöhte. Verschiedene Faktoren sprechen dafür, dass dieser Schätzwert – und um mehr handelt es sich hier nicht – jedenfalls nicht zu hoch ist. So gab es trotz des dokumentierten Anstiegs der Zahl der Industriebeschäftigten, die von den Stilllegungsaktionen flankiert wurden, eine latente Knappheit von Arbeitskräften. Diese wurde im Jahre 1944 mehr als deutlich. Laut den Kriegstagebüchern wurden in jenem Jahr monatlich etwa 30.000 Arbeitskräfte erfolglos angefordert.312 Eine Konsequenz war, dass in einem Viertel der niederschlesischen Betriebe Reparaturen zurückgestellt werden mussten, weil die hierfür nötigen Fachkräfte fehlten.313 Dies deutet darauf hin, dass bei einer größeren Zahl von Arbeitern eine höhere Auslastung des Anlagekapitals möglich gewesen wäre. 5.2. Eine neue Produktionsweise? Kam es bis Kriegsende zu einer Veränderung der Produktionsweise, die weniger auf „Wissen“ angewiesen war? Diese Frage zielt auf den Untersuchungsgegenstand 310 Diese Argumente wurden von Albrecht Ritschl übernommen. Im Zusammenhang einer Forschungskontroverse legte er dar, weshalb sich Strom als Indikator zur Messung von Industrieproduktion eigne. Er nennt als weiteres Argument unter anderem eine konstante Durchschnittsproduktivität, also ein konstantes Verhältnis von Strom- und Industrieproduktion. Dies muss – wie auch Ritschl es im von ihm untersuchten Fall tut – als fest angenommen werden; vgl. Albrecht Ritschl, Die Währungsreform von 1948 und der Wiederaufstieg der westdeutschen Industrie. Zu den Thesen von Mathias Manz und Werner Abelshauser über die Produktionswirkungen der Währungsreform, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 33.1 (1985), 136–165, hier S. 139. 311 Quelle: Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 210; eigene Berechnungen. Bezüglich der Stromproduktion der deutschen Ostgebiete gingen die polnischen Behörden von einer höheren Produktion aus, als Gleitze sie gemessen hatte; vgl. Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 [Statistisches Jahrbuch der Industrie 1945–1965] (GUS) (Seria „ROCZNIKI ˙ BRANZOWE“ Nr 4), Warschau 1967, S. 547. 312 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 53. 313 Niederschlesisches Institut für Wirtschaftsforschung, Der Stand der Reparaturenfragen in der niederschlesischen Industrie, Eigentum des Autors, S. 48.
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dieser Arbeit. Zwar wurde sie für 1936 bereits beantwortet, jedoch muss auch möglichst ausgeschlossen werden, dass sich dieser Umstand bis Kriegsende fundamental veränderte. Zwei Beispielen machen deutlich, dass dies ausgeschlossen werden kann. Das erste Beispiel ist der hohe Bedarf an Fachkräften in den verlagerten Betrieben. Bei der Verlagerung der Betriebe war die Frage der Facharbeiter ein ständiger Streitpunkt. So heißt es im Kriegstagebuch zum Zeitraum von Januar bis März 1943: „Im Zuge der zahlreichen bereits durchgeführten und noch geplanten Industrieverlagerungen nach Schlesien ist die Arbeitskräftebeschaffung ein schwer lösbares Problem. Die verlagerten Firmen glauben vielfach, auf schlesische Kräfte zurückgreifen zu können. Dies ist jedoch in Bezug auf Fachkräfte völlig unmöglich.“314 Anfang 1943 stieg auch der Bedarf an Arbeitskräften von Januar bis März 1943 von etwas über 12.000 auf über 25.000 Kräfte an. Hierbei ging es nicht nur um reine manuelle Arbeitskraft, denn es stehe „nicht zu erwarten, dass die Abdeckung (des Arbeitskräftebedarfs, Y. K.) in vollem Umfange ermöglicht wird, insbesondere weil die benötigten Fach- und Anlernkräfte fehlen.“315 Die Produktion war mithin stark von Fachkräften abhängig, und diese konnten nicht einfach durch ungelernte Arbeiter ersetzt werden. Diese Diagnose ist umso bemerkenswerter, als Anfang 1943 erst 31 Betriebe verlagert wurden.316 Das Problem verstärkte sich bis Jahresende beträchtlich. So wurde im Bericht zum letzten Quartal des Jahres 1943 betont, dass die Fertigung „ernstlich gefährdet“ sei, wenn die Betriebe nicht eigene Führungs- und Fachkräfte sowie Anlernkräfte aus den Stammbetrieben mitbringen.317 Im dritten Quartal 1943 wurden bei den Rüstungsdienststellen ein Arbeitskräftebedarf von etwas über 16.000 angemeldet: etwa 7.000 Frauen und 9.000 Männer, davon 2.350 Facharbeiter.318 Bis Kriegsende ließ sich dieses Problem nicht mehr lösen.319 Die verlagerten Betriebe waren also in nicht zu unterschätzendem Maß von Fachkräften abhängig. Das spricht dafür, dass eine auf Massenproduktion ausgerichtete Rüstungsindustrie, die weit überwiegend mit angelernten Kräften hätte bewältigt werden können, in Niederschlesien nicht existierte. Das zweite Beispiel unterstreicht diese Beobachtung. 1942 unternahm das Essener Rüstungsunternehmen Krupp den Versuch, eine Rüstungsfabrik in Niederschlesien zu errichten.320 Schlesien bot sich als Produktionsort an, da es weit weniger luftkriegsgefährdet war als das Ruhrgebiet und zudem in weitem Abstand zur Küste lag. Entsprechende Pläne hatte es schon vor Kriegsbeginn gegeben, und es wurde daher auch ein Gelände von 2.000 Hektar Größe in Markstädt – heute Jeltsch-Laskowitz – südöstlich von Breslau erworben. Nach dem Kriegseintritt 314 315 316 317 318 319 320
BA-MA RW 20-8/23, Bl. 123. BA-MA RW 20-8/23, Bl. 120. Vgl. Tabelle III.14, S. 98. BA-MA RW 20-8/26, Bl. 106. BA-MA RW 20-8/25, Bl. 16. Vgl. BA-MA RW 20-8/28, Bl. 83. Zum Folgenden vgl. Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 375–384.
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der USA im Dezember 1941 wurden die Pläne wieder aufgenommen. Ziel war es, Waffenherstellung in fordistischer Massenproduktion zu ermöglichen. Nachdem die Pläne noch während der Amtszeit vom Minister für Bewaffnung und Munition Todt an Angriff genommen wurden, beschlossen Hitler und Rüstungsminister Speer, die Fertigung von leichten und schweren Feldhaubitzen in Breslau vornehmen zu lassen. Damit schien die Hauptvoraussetzung für effiziente Serienproduktion gegeben: eine einheitliche Typenwahl. Der Einstieg in die Massenproduktion lag sehr im Interesse von Unternehmenschef Alfried von Bohlen und Halbach, der bei späterer Gelegenheit unter anderem betonte, dass es ein solches Werk erlauben würde, weniger von Facharbeitern abhängig zu sein. Am 31. März 1942 erteilte das Heereswaffenamt den entsprechenden Auftrag zur Produktion von 400 leichten und 100 schweren Feldhaubitzen. Damit die Einführung von Fließbandfertigung funktionierte, hätte ein Werk errichtet werden müssen, das auf der Grundlage von Einzweckmaschinen so ausgestaltet war, dass ungelernte Arbeiter nach kurzer Einarbeitung die Produktion gewährleisten konnten. Nur so wäre es möglich gewesen, von Facharbeitern unabhängig zu werden. Die 700 Arbeiter, die aus dem Generalgouvernement zugewiesen wurden, wurden zunächst in die Essener Zentrale zur Schulung gesandt. Zusätzlich wurden zahlreiche Facharbeiter von Essen nach Markstädt abgeordnet. Das „Angebot“ des Einsatzes von Zwangsarbeitern wurde vom Breslauer Vorstand mit wenig Begeisterung aufgenommen, da es „unter den herrschenden Bedingungen keinen Bedarf“ gab.321 Die Einführung einer Massenproduktion scheiterte. Die Berthawerke – ihre Namensgebung leitet sich vom Vornamen der Mutter Alfried von Bohlen und Halbachs ab – kamen über Klein- und Mittelserienfertigung nicht hinaus. Dass das Krupp’sche Experiment fordistischer Massenproduktion in den Berthawerken scheiterte, hatte zahlreiche Gründe. Zum Problem, dass die Fachleute fehlten, um überhaupt eine solche Serienproduktion erfolgreich zu implementieren, kamen Schwierigkeiten mit den Zulieferern und der Rohstoffversorgung. Ebenfalls zeigte sich hier, dass die Abhängigkeit von Facharbeitern groß war und nicht einfach aus der Welt geschafft werden konnte. Auch die Annahme, die Umstellung von Mehrzweck- auf Einzweckmaschinen sei problemlos realisierbar, wurde zumindest in diesem Fall widerlegt. Der Fachkräftemangel war dabei nicht auf die Berthawerke beschränkt. Das Problem lässt sich für ganz Niederschlesien diagnostizieren.322 Der Versuch, über Stilllegungen kriegsunwichtiger Betriebe genügend Arbeitskräfte freizusetzen, brachte nicht die erhoffte Wirkung. Zudem zeigt sich, dass auch in dieser ostdeutschen Region die betroffenen Betriebe Mittel und Wege fanden, um den Stilllegungen ganz oder teilweise zu entgehen.323 Die genannten Beispiele – die latente Nachfrage nach Fachkräften sowie das Scheitern einer niederschlesischen Massenproduktion – belegen, dass es von 1936 bis 1944 in Niederschlesien zu keiner Umstellung der Produktionsweise kam. Die 321 Vgl. Abelshauser, Krupp (wie Anm. 84, S. 47), S. 384 f. 322 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 195. 323 BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 195.
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Tatsache, dass trotz des hohen Ausbildungsgrads der deutschen Bevölkerung ein Mangel an Fachkräften herrschte, unterstreicht, dass der Bedarf an immateriellen Kapital zur produktiven Nutzung des materiellen Kapitals hoch war. 6. EINE VERENGTE PERSPEKTIVE – DIE FOLGEN DER ÜBERBETONUNG DER ZERSTÖRUNGEN UND DEMONTAGEN Es wird insbesondere in der polnischen wirtschaftshistorischen Forschung häufig die Ansicht vertreten, die späteren Neuen Gebiete seien während des Zweiten Weltkriegs stark zerstört worden. Tatsächlich ist in der Forschung immer wieder ein Streit darüber entbrannt, wie hoch der Zerstörungsgrad der Industrie im ehemaligen Deutschen Reich war und wie weit die Demontagen diesen noch verstärkten. Der Grad der wahrgenommenen Zerstörungen war ein entscheidender Grund dafür, dass die Phase des beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg als „Wunder“ bezeichnet wurde. Das Ausmaß von Kriegszerstörungen und Demontagen wird auch im Rahmen der Bilanzierung der wirtschaftlichen Bedeutung der Westverschiebung Polens kontrovers diskutiert. Das ist auf den ersten Blick nicht verwunderlich, und bei einem so folgenreichen Ereignis nicht anders zu erwarten. Bei der Gegenüberstellung der territorialen Gewinne im Westen und Verluste im Osten fällt jedoch auf, dass nur auf die materiellen Ressourcen Bezug genommen wird. Kali´nski und Landau listen in ihrem Standardwerk zur polnischen Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert die Kategorien Landwirtschaft, Rohstoffe und Energie sowie die Infrastruktur auf.324 Die Autoren stehen somit für ein Konzept von Wirtschaft Pate, das als „auf materielle Ressourcen beruhend“ qualifiziert werden kann. Von diesem „Gewinn“ wurden die Zerstörungen abgezogen. Eine sinnvolle Bilanzierung des ökonomischen Gewinns durch die Neuen Gebiete hätte jedoch auch die übrigen Produktionskapazitäten mit in den Blick nehmen müssen. Ansonsten entsteht eine Lücke, die dazu führt, dass das wirtschaftliche Potenzial der Neuen Gebiete nicht vollständig erfasst wird. Es ist durchaus fraglich, ob es in Niederschlesien tatsächlich zu einer starken Zerstörung kam, und es gibt zahlreiche Gründe, vom Gegenteil auszugehen. Die Sonderrolle der Neuen Gebiete als „Luftschutzkeller“ unterstreicht zunächst, dass die deutschen Ostgebiete erst in der Spätphase des Krieges Ziel von Angriffen wurden. Selbst im Jahre 1944 kam es nur zu wenigen Angriffen auf Niederschlesien. Der erste erfolgte am 21. Juni 1944 auf eine Raffinerie für Synthesetreibstoff in Ruhland (Kreis Hoyerswerda). Zudem gab es im Jahr 1944 nur ein einziges Flächenbombardement in Niederschlesien: In Breslau starben am 7. Oktober 1944 69 Menschen.325 Zusätzlich hatte Niederschlesien selbst unter den damals ostdeutschen Gebieten eine Sonderrolle. Bei der Bombardierung Schlesiens war Oberschlesien zugunsten Niederschlesiens das häufigere Angriffsziel.326 Die Produktion 324 Janusz Kali´nski/Zbigniew Landau, Gospodarka Polski w XX wieku [Die Wirtschaft Polens im 20. Jahrhundert], 2. überarb. Aufl., Warschau 2003, S. 192 f. 325 Siebel-Achenbach, Lower Silesia (wie Anm. 3, S. 50), S. 29. 326 Vgl. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 27.
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in den Kruppschen Berthawerken in Breslau endete erst im Januar 1945.327 Auch ein Vergleich mit Westdeutschland gibt zumindest Anlass zu Misstrauen. Dort hat sich das materielle Kapital während des Dritten Reichs so entwickelt, dass es „paradoxerweise“ die Voraussetzungen für das Wirtschaftswunder legte.328 Und in den Ostgebieten wurde nicht weniger investiert als im übrigen Deutschen Reich, auch wenn in manchen Fällen die Investitionen im Krieg keinen Nutzen mehr brachten. Der Ausbau der oberschlesischen Chemieindustrie etwa wurde 1942 weiterverfolgt, unter anderem durch eine Intensivierung des Ausbaus der Chemiewerke in Blachstädt und Kandrzin. Jedoch wäre es erst Mitte 1944 – also etwa zu Beginn der Luftangriffe auf Oberschlesien – möglich gewesen, die Produktion aufzunehmen.329 Unabhängig davon, ob es tatsächlich zu umfangreichen Zerstörungen und Demontagen kam – diese Frage wird im Verlauf dieser Arbeit noch genauer verfolgt – ist offen, ob diese Frage überhaupt von hoher Relevanz ist. Diese Annahme liegt dem Verweis auf die direkten Kriegsfolgen implizit zugrunde. Doch ist dies tatsächlich der Fall? Kali´nski und Landau etwa unterstellen zwar implizit, dass Zerstörungen zu einer dauerhaften Senkung des Produktionspotenzials führen. Diese Sicht ist jedoch problematisch und wurde an Einzelbeispielen bereits widerlegt. In Hamburg etwa stellten die Demontagen auf lange Sicht kein Problem dar. Die demontierten Maschinen konnten in zahlreichen Fällen rasch ersetzt werden. Hierbei profitierten die Betriebe davon, dass es einen hohen Bestand ungenutzter Maschinen gab, die sich die Betriebe untereinander verpachten konnten. „Der Wiederaufbau der demontierten Firmen war mit anderen Worten kein strukturelles, sondern ein Liquiditätsproblem.“330 Unabhängig davon haben materielle Produktionsfaktoren ihre Bedeutung nicht gänzlich verloren, im Gegenteil. Die These des britischen Philosophen John Stuart Mill von den „natürlichen Heilkräften“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zerstörungen nicht etwa vollkommen irrelevant sind. Die eingangs postulierte Komplementarität von materiellen und immateriellen Produktionsfaktoren stellt auch Bedingungen an die materiellen Ressourcen, wenn die Produktion aufrecht erhalten werden soll. Dennoch führt die Frage, welche Rolle Kriegszerstörungen für die darauffolgende Produktion spielen, in die Irre. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn man sich die Rekonstruktionsthese nochmals vor Augen führt, die betont, dass ein Mangel an materiellem Kapital allenfalls ein kurzfristiges Problem darstellt. 327 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 26. 328 Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder (wie Anm. 15, S. 52), S. 531. Scherner widerspricht dieser Ansicht, indem er argumentiert, dass die Investitionen in das Anlagekapital 1933 bis 1945 unterschätzt worden seien. Ausgehend davon, dass die Einschätzung des Bruttoanlagekapitals für das Jahr 1945 korrekt ist, folgert er, dass die Kriegszerstörungen höher gewesen seien als bisher angenommen. Zudem betrachtet er 40 Prozent der nach 1939 getätigten Investitionen als „Fehlallokationen“ – sie hätten kaum einen positiven Nutzen für die Produktion gebracht; vgl. Scherner, Preparation for war (wie Anm. 117, S. 74), S. 447 f., 450. 329 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 31, 34. 330 Alan Kramer, Die britische Demontagepolitik am Beispiel Hamburgs 1945–1950 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 40), Hamburg 1991, S. 439.
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Durch die insbesondere in der polnischen Forschung vertretene Annahme, die Neuen Ostgebiete seien umfassend zerstört, wurde die Frage, unter welchen Bedingungen eine erfolgreiche Wiederaufnahme der Produktion gelingen kann, nicht gestellt. Auch eine Gegenüberstellung des Produktionspotenzials der Neuen Gebiete und der Alten Gebiete Polens331 ist nicht erfolgt. Die Quellensituation erlaubt, auch an dieser Stelle über die Stromproduktion zumindest glaubhafte Schätzwerte für das Jahr 1938 zu erhalten. Auf polnischer Seite lag die Stromproduktion 1938 – ohne die später an die UdSSR verlorenen Ostgebiete – bei 3.100 GWh. Die deutschen Ostgebiete, die später an Polen fielen, hatten im selben Jahr eine höhere Stromproduktion. Das polnische Allgemeine Statistikamt GUS ermittelte einen Wert von 4.564 GWh.332 Gleitze bemisst die Stromproduktion auf 3.823 GWh.333 Akzeptiert man die Stromproduktion als glaubwürdige Messgröße für die industrielle Produktion, konnten die deutschen Ostgebiete also eine höhere Produktion aufweisen als die Alten Gebiete Polens. Dieser Eindruck ändert sich auch nicht grundsätzlich, wenn man die Stromproduktion des gesamten polnischen Staatsgebiet der Zwischenkriegszeit – 3.945 GWh – heranzieht.334 Ausgehend vom Axiom, materielle Zerstörungen hätten jegliches Produktionspotenzial unter sich begraben, schien sich jedoch die Frage zu erübrigen, wie sich das Produktionsniveau bis Kriegsende und darüber hinaus entwickelte. Die aufgrund dieser Urteile entstandene Forschungslücke lässt sich auch durch die vorliegende Arbeit nicht schließen, zumal eine präzise empirische Quantifizierung der Entwicklung der niederschlesischen Industrie nicht Ziel dieser Arbeit ist. Der Befund jedoch, dass die Leistungsfähigkeit von Niederschlesiens Industrie hoch war und die dortige Produktionsweise auch auf Wissen basierte, ändert die Ausgangslage und zeigt, dass sich die spezifischen „Laborbedingungen“ der Ostprovinz eignen, den Produktionsfaktor „Wissen“ aus einer anderen Perspektive zu untersuchen. Interessant sind unter anderem folgende Fragen: Was lässt sich aus den Beobachtungen über seine spezifischen Eigenschaften schließen? Und war Wissen ein vernachlässigbarer oder ein limitationaler Faktor für die Ingangsetzung der niederschlesischen Industrie? Um hier zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen, wird im folgenden Kapitel die Entwicklung der Industrie Niederschlesiens herausgearbeitet.
331 Der Begriff „Alte Gebiete“ (Ziemie Dawne) hat sich in der polnischen Historiographie durchgesetzt und bezeichnet die Gebiete Polens in den Grenzen der Zwischenkriegszeit ohne die „verlorenen“ polnischen Ostgebiete. 332 Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 [Statistisches Jahrbuch der Industrie 1945–1965] (GUS), Warschau 1967, S. 547. 333 Vgl. Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 21; eigene Berechnungen. 334 Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 [Statistisches Jahrbuch der Industrie 1945–1965] (GUS), Warschau 1967, S. 547.
IV. EINE „NEUE“ INDUSTRIE. . . – DIE ENTWICKLUNG DER INDUSTRIELLEN PRODUKTION NIEDERSCHLESIENS NACH KRIEGSENDE Im vorangegangenen Kapitel wurde geprüft, ob sich Niederschlesien als „Versuchslabor“ für die Untersuchung der Frage eignet, welche Folgen die Trennung von Produktionsmitteln und Arbeitskräften auf das Produktionsniveau hat. Hierbei wurden sowohl das materielle Kapital als auch das „immaterielle Kapital“ – also die Bedeutung des häufig wissenschaftlich produzierten produktionsrelevanten Wissens – berücksichtigt. Es hat sich erwiesen, dass das Anlagekapital Niederschlesiens bis Kriegsende stark wuchs und dass seine Industrie in ähnlich hohem Maße von Facharbeitern abhing wie das damalige Mittel- und Westdeutschland. Die zu Beginn genannten Bedingungen, die Niederschlesien für eine Analyse der Bedeutung der Rolle von Wissen im industriellen Produktionsprozess qualifizieren, liegen somit vor. In diesem Kapitel wird herausgearbeitet, wie sich die Industrie unter polnischer Verwaltung bis 1956 entwickelte. Die vier Monate vor Kriegsende brachten für die deutschen Ostgebiete tiefgreifende Änderungen mit sich. Sie führten dazu, dass sie unter polnische Verwaltung kamen.1 Das war faktisch nicht erst nach der Potsdamer Konferenz der Fall. Schon Anfang Januar 1945 wurden Ober- und Niederschlesien Kriegsschauplatz, wobei kurz hinter der Front bereits ihre Übernahme vorbereitet und vollzogen wurde. Um die wirtschaftliche Entwicklung für die Zeit nach Kriegsende untersuchen zu können, werden in diesem Kapitel die Maßnahmen beleuchtet, die ergriffen wurden, um eine polnische Verwaltung zu etablieren und die niederschlesische Industrie zu übernehmen. Dabei wird ebenfalls geprüft werden, wie sich einzelne Wirtschaftszweige entwickelten. 1. FORSCHUNGSSTAND UND QUELLEN Bei einer Beleuchtung des Forschungsstandes und der vorhandenen Quellen zur Entwicklung Niederschlesiens sowie der gesamten Gebiete östlich der Oder-NeißeGrenze nach dem Zweiten Weltkrieg muss deutlich zwischen der deutschen und der polnischen Forschung unterschieden werden. Die deutsche Forschungsliteratur zu 1 Formal wurde die Grenzverschiebung erst im Rahmen des deutsch-polnischen Grenzvertrags vom 14. November 1990 endgültig bestätigt. Artikel 2 des in Warschau geschlossenen Vertrages legt die Grenzen zwischen der BRD und Polen fest. In Artikel 3 erklären die deutsche und die polnische Regierung, dass sie auch in Zukunft keine Gebietsansprüche gegeneinander haben werden; Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze, Warschau, 14. November 1990, Jacobsen/ Tomala (Hrsg.), Bonn – Warschau (wie Anm. 2, S. 16), S. 545.
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IV. Eine „neue“ Industrie. . .
den ehemaligen deutschen Ostgebieten ist im Wesentlichen auf die Nachkriegszeit und die 50er Jahre beschränkt. Die Arbeit von Gleitze beinhaltet belastbare Zahlen nur zur wirtschaftlichen Entwicklung Niederschlesiens von 1936 bis 1945. Für die Nachkriegszeit liefert er ausschließlich Angaben zur Vertreibung; gerade hier stellt die Forschung aktuellere Werke zur Verfügung. Weitere Arbeiten, die sich mit den ehemaligen ostdeutschen Gebieten nach 1945 beschäftigen, haben Peter-Heinz Seraphim2 und Gotthold Rhode verfasst.3 Beide sind vom Johann Gottfried HerderForschungsrat iniitiiert worden. Ein weiteres Werk ist das Osteuropa-Handbuch, das von Werner Markert herausgegeben wurde.4 Flankiert wurde diese Forschung von verschiedenen Studien und Untersuchungen, die von den bundesdeutschen Ministerien in Auftrag gegeben wurden. Sie dienten dazu, Informationen über die „ostdeutschen Gebiete“ zu gewinnen und die Höhe des materiellen Verlusts zu quantifizieren. Das Ministerium für die innerdeutschen Beziehungen hat Befragungen der Flüchtlinge aus den Neuen Gebieten durchgeführt, die offenbar darauf abzielten, ein Bild über den Zustand und den Ablauf des Wiederaufbaus der Neuen Gebiete zu erhalten.5 Die Berichte stammen weit überwiegend aus dem Jahr 1951 und decken unter anderem auch niederschlesische Städte ab, z. B. Breslau, Waldenburg und ihm nahe Städte wie Seitendorf, Ostrowo, Hermsdorf, Grüssau-Gertelsdorf und Bad Warmbrunn (beides Riesengebirge) und Gremsdorf-Greulich (bei Liegnitz/Hirschberg). Da sie jedoch in praktisch allen Fällen nur Auskunft zum Jahr 1945 geben, haben sie für diese Arbeit nur einen geringen Wert. Hinzu kamen – vom selben Ministerium – Literatursammlungen und Auflistungen, die das Schicksal der Betriebe erfassten und vereinzelt Auskunft geben.6 Das Interesse an den ostdeutschen Gebieten unter polnischer Verwaltung beschränkte sich jedoch bereits Ende der 50er Jahre auf die Höhe des materiellen Verlusts. Gerhard Reichling veröffentlichte in diesem Zusammenhang 1958 eine Schätzung des „Vermögens der Ostvertriebenen“.7 1964 begannen die Planungen für die Schaffung einer Reparationsschädenkartei für die mittel- und ostdeutschen Gebiete. Der Vorschlag wurde während einer Dienstbesprechung am 11. Februar 1964 im Bundesministerium für Wirtschaft eingebracht, an der auch Gerhard Reichling teilnahm.8 Schäfer, Direktor des Bundesausgleichsamts, äußerte sich zwar kritisch zu diesem Vorhaben, dennoch kam es zur Veröffentlichung durch das Bundesamt für Gewerbliche Wirtschaft.9 Ein weiteres Werk wurde vom Bundesarchiv Koblenz erstellt und trägt den Titel „Denkschrift zur Bewertung der Vermögensobjekte der 2 Vgl. Peter-Heinz Seraphim, Die Wirtschaft Ostdeutschlands vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Handbuch (Die Deutschen Ostgebiete, Bd. 1), Stuttgart 1952. 3 Gotthold Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete des Deutschen Reiches, Würzburg 4 1957. 4 Vgl. Werner Markert (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch Band Polen, Köln/Graz 1959. 5 B 137/1035. 6 Vgl. B 137/933, Bl. 81 ff. 7 Vgl. Gerhard Reichling, Das verlorene Vermögen der Ostvertriebenen auf Grund der Schadensfeststellung im Lastenausgleich, in: Integration 5 (1958), 203–220. 8 B 102/293678, Schreiben von Dr. Schäfer, Direktor des Bundesausgleichsamts, an das Bundesfinanzministerium. 9 Vgl. B 103/433.
1. Forschungsstand und Quellen
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öffentlichen Hand und sonstiger juristischer Personen in den deutschen Ostprovinzen auf Grund von Quellenmaterial“. Es wurde am 1. Februar 1967 fertiggestellt, war jedoch – ebenso wie die Reparationsschädenkartei – nur für den Dienstgebrauch vorgesehen. Die Reparationsschädenkartei wurde im Hinblick auf eine Wiedervereinigung sowie für mögliche Friedensverhandlungen erstellt.10 Bei dieser Motivlage kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass Ziel der Erhebung die Ermittlung eines möglichst hohen Reparationsbeitrages in Form der ehemaligen deutschen Ostgebiete angestrebt wurde. Ähnliches muss für die „Kartei über die Verluste des Anlage- und Vorratsvermögens“ gelten. Die auf polnischer Seite angesiedelten Quellen sind für die Untersuchung der Jahre nach 1945 ertragreicher. Wichtig sind hier zunächst die Dokumente des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete, die insbesondere für quantitative Untersuchungen herangezogen werden. Es wurde im November 1945 gegründet und im Januar 1949 wieder aufgelöst. Seine Aufgabe bestand in der Integration der nun polnischen Nord- und Westgebiete in die polnische Volkswirtschaft. Ebenso werden Dokumente der 1949 gegründeten „Staatlichen Kommission für Wirtschaftsplanung (PKPG)“ herangezogen. Letztere bieten einen guten Einblick in die Entwicklung der sog. Wiedergewonnenen Gebiete Anfang der 50er Jahre. Für qualitative Untersuchungen eignen sich die Dokumente des „Staatlichen Repatriierungsamtes (PUR)“.11 Dokumente zu Einzelfällen, die darüber hinaus zur Verfügung stehen, vervollständigen die Quellenbasis. Die polnische wirtschaftshistorische Forschung zu den Neuen Gebieten lässt sich in drei Phasen gliedern. Die ersten Veröffentlichungen zu den Nord- und Westgebieten Polens entstanden zwischen 1956 und 1970.12 Ähnlich wie auf deutscher Seite waren diese Publikationen stark dem Zeitgeist verhaftet, weshalb sie teilweise Quellencharakter besitzen. Laut Piskorski „diente die polnische Westforschung 10 B 102/293678, Schreiben von Dr. Schäfer, Direktor des Bundesausgleichsamts, an das Bundesfinanzministerium. 11 Das Staatliche Repatriierungsamt (Pa´nstwowy Urzad ˛ Repatriacyjny) war eine am 7. Oktober 1944 durch Dekret des PKWN (DzURP 1944, Nr. 7, Pos. 32.) geschaffene Behörde, deren Aufgabe die Repatriierung der Bevölkerung war. Dies betraf sowohl die Polen, die von den ehemaligen polnischen Ostgebieten in das Landesinnere gebracht werden mussten, als auch die Deutschen, die ausgesiedelt werden sollten; Stefan Banasiak, Działalno´sc´ Osadnicza Pa´nstwowego Urz˛edu Repatriacyjnego na Ziemiach Odzyskanych w Latach 1945–1947 [Die Siedlungstätigkeit des Staatlichen Repatriierungsamtes in den Wiedergewonnenen Gebieten 1945–1947], Posen 1963, S. 29. 12 Stefan Kowal, Das Bild der polnischen Westgebiete in der polnischen wissenschaftlichen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Helga Schultz (Hrsg.), Bevölkerungstransfer und Systemwandel. Ostmitteleuropäische Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 4), Berlin 1999, 17–30, hier S. 20 f.; Adam Makowski, Ziemie Zachodnie i Północne w polityce gospodarczej Polski w latach 1945–1960 [Die West- und Nordgebiete in der Wirtschaftspolitik Polens 1945–1960], in: Andrzej Sakson (Hrsg.), Ziemie Odzyskane 1945–2005. Ziemie Zachodnie i Północne. 60 lat w granicach pa´nstwa polskiego [Die Wiedergewonnenen Gebiete 1945–2005. Die West- und Nordgebiete. 60 Jahre in den Grenzen des polnischen Staates] (Ziemie zachodnie: Studia i Materiały, Bd. 23), Posen 2006, 59–78, hier S. 61.
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der ,wissenschaftlichen Legitimation’ der nach 1945 erfolgten Grenzverschiebungen und – nicht zuletzt – ihrer mentalen Akzeptanz durch die Polen selbst, vor allem durch diejenigen Polen, die ihre Heimat im Osten Polens verloren hatten und vielfach noch lange davon träumten, dorthin zurückkehren zu können“.13 Hier herrscht gegenüber der deutschen Ostforschung eine beachtliche Parallelität, denn die polnische Westforschung war „in gewissem Sinn ein nahezu getreues Spiegelbild der deutschen Ostforschung, obwohl sie sich natürlich nur auf Deutschland konzentrierte, während die deutsche Ostforschung nicht nur Polen, sondern auch andere Gebiete im östlichen Mitteleuropa, vor allem die Tschechoslowakei und die baltischen Länder, in ihrem Blickfeld hatte“.14 Nach 1970, als durch den Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 sowie dem Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 die Oder-Neiße-Grenze durch die BRD als unverletzlich anerkannt wurde, wurde es möglich, historisch unbelastet wissenschaftlich zu forschen. Insbesondere der Warschauer Vertrag sollte „das Misstrauen überwinden helfen, das der Nationalsozialismus zwischen beiden Völkern verursacht hatte“.15 Überraschenderweise wurde jedoch gerade nach 1970 bis etwa dem Jahr der Wende 1990 die Forschung zu den polnischen Nord- und Westgebieten sukzessive eingestellt.16 Dies änderte sich nach 1990, jedoch konzentrierte sich die wirtschaftshistorische Forschung zunächst auf die wirtschaftliche Transformation.17 Seit 1999 sind mehrere Arbeiten entstanden, die sich wieder intensiver mit der Geschichte der Neuen Gebiete beschäftigen. Ein wichtiger Schritt ist die bereits erwähnte Habilitationsschrift von Jerzy Kociszewski. Sie hat jedoch den Anspruch, einen umfassenden Überblick über die gesamten Neuen Gebiete von 1945 bis 1990 zu geben und deckt daher die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen ab. Dieser Ansatz einer „histoire totale“ schränkt den Wert für dieses Projekt etwas ein. Dennoch stellt der Beitrag Kociszewskis trotz seines Lehrbuchcharakters eine wichtige Arbeit dar. Auch die 2002 publizierte Studie von Skobelski18 zum Sechsjahresplan (1950–1955) und der Sammelband zu den Nord- und Westgebieten Polens19 , der aus einer Tagung hervorging, zeugen davon, dass die polnische wirtschaftshistorische Forschung die Neuen Gebieten nicht ganz aus den Augen verloren hat. Der Sammelband von Czesław Os˛ekowski aus dem Jahr 1999 leistet hier ebenfalls 13 Jan M. Piskorski, Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung, in: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 3.1 (1996), 379–389, hier S. 381. 14 Ebd., S. 382. 15 Mieczysław Tomala, Die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Adolf Jacobsen/Mieczysław Tomala (Hrsg.), Bonn – Warschau 1945–1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation, Köln 1992, 9–23, hier S. 15. 16 Kowal, Bevölkerungstransfer und Systemwandel (wie Anm. 12, S. 121), S. 21. 17 Ebd., S. 22. 18 Robert Skobelski, Ziemie Zachodnie i Północne Polski w okresie realizacji planu sze´scioletniego 1950–1955 [Die West- und Nordgebiete Polens bei der Realisierung des Sechsjahresplans 1950–1955] (Historia, Bd. 3), Grünberg 2002. 19 Andrzej Sakson (Hrsg.), Ziemie Odzyskane 1945–2005. Ziemie Zachodnie i Północne. 60 lat w granicach pa´nstwa polskiego [Die Wiedergewonnenen Gebiete 1945–2005. Die West- und Nordgebiete. 60 Jahre in den Grenzen des polnischen Staates] (Ziemie zachodnie: Studia i Materiały, Bd. 23), Posen 2006.
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einen wertvollen Beitrag.20 Was leider fehlt sind überzeugende makroökonomische Schätzungen, die die überlieferten Annahmen kritisch überprüfen. Ein Problem ist dazu weiterhin, dass es zwischen der deutschen und der polnischen Forschung wenig Austausch gibt. Die Schriftenreihe der Universität Frankfurt an der Oder „Frankfurter Studien zur Grenzregion“ stellt hier einen der wenigen Ansätze dar, die gegenseitige Wahrnehmung zu intensivieren. Trotz dessen hat sich wenig am 1999 von Stefan Kowal diagnostizierten Problem geändert, dass es keine „ernsthaften Initiativen [gebe], um die Forschung (. . . ) unter neuen Gesichtspunkten voranzutreiben“.21 2. „FESTUNG NIEDERSCHLESIEN?“ – DIE LEGENDE DER STUNDE NULL Nachdem die Frage verfolgt wurde, wie sich das wirtschaftliche Potenzial Niederschlesiens bis 1945 entwickelt hat, soll im Folgenden untersucht werden, in welchem Umfang Kriegshandlungen und Demontagen das Anlagekapital Niederschlesiens zerstört haben. Wie erwähnt betont die polnische Historiographie regelmäßig den hohen Umfang der Zerstörungen. Implizit oder explizit wird regelmäßig unterstrichen, dass Niederschlesien stark zerstört war. Zwar wurde die Industrie Niederschlesiens im Vergleich zu anderen ostdeutschen Gebieten am schwächsten vom Krieg getroffen. Jankowiak – der selbst die Annahme enormer Kriegsschäden als Erblast für die Nachkriegsentwicklung nicht explizit vertritt – geht aber trotzdem von einem Zerstörungsgrad der niederschlesischen Industrie von 46 Prozent aus.22 Somit unterstellen diese Ansätze eine „Stunde Null“, die eine erfolgreiche Bewirtschaftung erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht haben. Diese Annahme liegt der weit überwiegenden Zahl der wirtschaftshistorischen Forschungsarbeiten zugrunde. Landau und Kali´nski betonen beispielsweise, dass insbesondere in den ehemaligen deutschen Ostgebieten die materiellen Verluste sehr hoch gewesen seien.23 Zwar wurde bereits deutlich gemacht, dass materielle Zerstörungen ebenso wie Demontagen auf lange Sicht kein Hinderungsgrund für wirtschaftliches Wachstum sind. Dies betrifft jedoch nur den theoretischen Ansatz hinter der Rekonstruktionsthese. Für die wirtschaftshistorische Analyse ist diese Frage trotzdem von hoher Relevanz, wenn der Produktionsfaktor Wissen als Element der anschließenden wirtschaftlichen Entwicklung in den Blick genommen werden soll. Die Frage ist daher, welche Bedeutung diesen Zahlen zugemessen werden kann. Die mutmaßliche Feststellung, dass zahlreiche Gebiete Europas unter umfangreichen Zerstörungen gelitten hatten und ein Wiederaufbau kaum möglich war, entsprach während des Nachkriegsjahrfünfts dem Zeitgeist. Am Beispiel Polens und auch seiner Neuen Gebiete findet jedoch eine Überbetonung der Zerstörungen statt, 20 Czesław Os˛ekowski (Hrsg.), Ziemie Zachodnie i Północne Polski w Okresie Stalinowskim [Die Nord- und Westgebiete während des Stalinismus], Grünberg 1999. 21 Kowal, Bevölkerungstransfer und Systemwandel (wie Anm. 12, S. 121), S. 22. 22 Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 60. 23 Vgl. Kali´nski/Landau, Gospodarka Polski (wie Anm. 324, S. 115), S. 220.
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die auf polnischer Seite teilweise bis heute anhält. Auf westeuropäischer Seite wurden die Erfahrungen einer neuen Analyse unterzogen, in Polen ist dies nicht geschehen. So kann man es etwa interpretieren, wenn Jankowski über die Zerstörungen in Niederschlesien schreibt, dass sich „auf Grundlage der trockenen Zahlen nicht der Umfang der zu überwindenden Schwierigkeiten“ ermessen lassen könne.24 Bei der Analyse der Zerstörungen sind diejenigen Schäden, die durch die Kriegshandlungen entstanden sind, von den Demontagen zu unterscheiden. Aus diesem Grunde werden beide Bereiche separat untersucht, wobei bei den Demontagen noch zwischen den Aktivitäten der Wehrmacht und der Roten Armee differenziert werden muss. Bedauerlicherweise ist eine belastbare quantitative Erhebung des Umfangs der Zerstörungen nicht möglich. 2.1. Kriegszerstörungen Die Frage, wie groß die materiellen Folgen des Zweiten Weltkriegs waren, wird kontrovers diskutiert – nicht nur in Bezug auf Polen. Eichengreen bezeichnet die Kriegsfolgen auf die Produktionskapazitäten in Europa als „surprisingly limited“25 , Abelshauser unterstreicht ebenfalls, dass im Fall des Deutschen Reiches das Produktionspotenzial nur in einem sehr begrenzten Maße zerstört wurde.26 Diese Feststellungen blieben zwar in der Forschung nicht unwidersprochen27 , jedoch herrscht in der wirtschaftshistorischen Forschung weitestgehend Konsens darüber, dass die Folgen des Krieges langfristig kein Hemmnisfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung der westeuropäischen Staaten nach 1945 waren. Steiner bezeichnet auch die Kriegsschäden der späteren DDR mit 15 Prozent des Wertes des Bruttoanlagekapitals von 1936 als gering.28 Für die Rekonstruktionsthese ist die Höhe der Zerstörungen zwar nicht entscheidend. Auf rein theoretischer Ebene ist sogar das Gegenteil der Fall: Je höher die Differenz zwischen aktuellem Produktionsniveau und Produktionspotenzial, desto höher sind die Wachstumsraten, bis das Potenzial wieder erreicht ist. Dem soll hier nicht uneingeschränkt gefolgt werden, doch wird deutlich, dass der Zusammenhang zwischen der Höhe der Zerstörungen und der anschließenden langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung nicht kausaler Natur ist. Fraglich ist, inwieweit in den Neuen Gebieten das materielle Produktionspotenzial eingeschränkt war. Niederschlesien wurde spät Kriegsschauplatz, der Zeitraum für mögliche Zerstörungen durch Kriegshandlungen war auf wenige Monate beschränkt. Im Januar 1945 begann die Offensive der Roten Armee in den ostdeutschen Gebieten. Die Kampfhandlungen endeten zwei Tage nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 10. Mai 1945.29 Zudem habe die Wehrmacht zahlreiche Industriebetriebe demontiert bzw. – wo das nicht möglich war – diese zerstört, 24 25 26 27 28 29
Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 63. Barry Eichengreen, The European Economy since 1945, Princeton 2007, S. 52. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 67. Klemm/Trittel, Vor dem Wirtschaftswunder (wie Anm. 71, S. 43), S. 579. Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 115, S. 73), S. 28. Marek Kinstler, Grupy Operacyjne Komitetu Ekonomicznego Rady Ministrów i Ministerst´ ask wa Przemysłu. Dolny Sl ˛ kwiecie´n-wrzesie´n 1945 [Die Operationsgruppen des Wirtschafts-
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um eine nachträgliche Nutzung unmöglich zu machen. Marek Kinstler, der eine einflussreiche Arbeit zu den Operationsgruppen in Niederschlesien verfasst hat30 , bietet für Niederschlesien eine Aufstellung der Kriegsfolgen an. So seien von 106 niederschlesischen Städten 70 – insbesondere die größeren Städte Breslau, Glogau, Steinau an der Oder, Brieg, Oels, Liegnitz, Bunzlau und Strehlen31 – zerstört gewesen. Ähnliches habe für die Infrastruktur gegolten: Von 1.239 Brücken seien 469 ganz oder teilweise zerstört worden, ebenso 14 von insgesamt 15 Tunneln.32 Andere Forscher schätzen die Zerstörungen ähnlich hoch ein. Anna Magierska, deren Arbeit zur wirtschaftlichen Entwicklung der Neuen Gebiete bis heute häufig zitiert wird, geht von einem Zerstörungsgrad von 73 Prozent aus. Nach ihren Berechnungen waren im Jahr 1945 von 9.255 in den Neuen Gebieten befindlichen Industriebetrieben 6.727 zerstört.33 Das Posener West-Institut ging in seiner Veröffentlichung zur Entwicklung der Neuen Gebiete von 1939 bis 1959 davon aus, dass unmittelbar nach dem Krieg die Produktionskapazitäten um 60 Prozent gesenkt worden seien.34 Ebenso seien 73 Prozent der Industriebetriebe in den Neuen Gebieten zerstört worden.35 An dieser Annahme hielt Gruchman – einer der Autoren der Studie des West-Instituts – auch 1985 noch fest.36 Karol kommt zu der Einschätzung, dass Niederschlesien nach dem Ersten Weltkrieg ökonomisch besser dastand als nach dem Zweiten Weltkrieg.37 Peter Tokarski geht in seiner Dissertation davon aus, dass die Zerstörungen in den Ostgebieten groß gewesen seien und so eine rasche Wiederaufnahme der Produktion verhindert worden sei.38 Er übernimmt hierbei die zeitgenössische Angabe eines Zerstörungsgrades von 73 Prozent.39 Wojciech Roszkowski schätzt, dass die Gebiete, die unter polnische Verwaltung kamen, „während des Krieges in enormen Maße zerstört wurden“.40 Die Zerstörungen beziffert er auf das Dreifache des polnischen Bruttonationaleinkommens von 1938.41
30 31 32 33
34 35 36 37 38
39 40 41
komitees des Ministerrates und des Industrieministeriums. Niederschlesien April-September 1945] (Acta Universitatis Wratislaviensis, Bd. 856), Breslau 1987, S. 29. Ebd. Breslau und Glogau wurden zu Festungen erklärt; vgl. Bartsch, Unterm schwarzen Adler (wie Anm. 2, S. 15), S. 317. Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29), S. 30 f. Anna Magierska, Ziemie zachodnie i północne w 1945 roku. Kształtowanie si˛e podstaw polityki integracyjnej pa´nstwa polskiego [Die West- und Nordgebiete im Jahr 1945. Die Entstehung der Grundlagen der politischen Integration des polnischen Staates], Warschau 1978, S. 54; die Demontagen sind hiervon ebenso erfasst. Vgl. Smoli´nski/Przedpelski/Gruchman, Struktura (wie Anm. 24, S. 54), S. 20. Ebd., S. 55. ˙ Bohdan Gruchman, Ziemie Zachodnie w Zyciu Gospodarczym Polski [Die Westgebiete im wirtschaftlichen Leben Polens], in: Przeglad ˛ Zachodni 41.3 (1985), 13–23, hier S. 15. Karol, Dwa dwudziestolecia (wie Anm. 7, S. 50), S. 34. Peter Tokarski, Die Wahl wirtschaftspolitischer Strategien in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1959 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 4), Marburg 1999, S. 80. Ebd., S. 75. Wojciech Roszkowski, Najnowsza historia Polski 1945–1980. Pełne wydanie [Neueste Geschichte Polens 1945–1980. Vollständige Ausgabe], Warschau 2003, S. 78. Ebd.
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Auch Włodzimierz Borodziej vertritt in seiner aktuellen „Geschichte Polens im 20. Jahrhundert“, dass die ehemaligen ostdeutschen Gebiete „überdurchschnittlich stark verwüstet“ worden seien, wobei er sich auf einen Aufsatz von Hanna J˛edruszczak bezieht, die wiederum Bezug auf die zeitgenössische Erhebung des Büros für Kriegsentschädigung von 1947 nimmt.42 Beata Halicka nennt dieselbe Schätzung von 73 Prozent ebenfalls in ihrer 2013 erschienen Studie zur kulturellen Aneignung des Oderraums, ohne jedoch seine Herkunft zu nennen.43 Die Annahme einer umfassenden Zerstörung der ehemaligen deutschen Ostgebiete wird mithin bis heute vertreten. Die weit überwiegende Zahl der Autoren argumentiert – implizit oder explizit – auf Grundlage zeitgenössischer Quellen und der statistischen Jahrbücher, die während der zweiten Hälfte der 40er Jahre entstanden. Empirische Untersuchungen der Kriegszerstörungen selbst wurden später nicht mehr durchgeführt. Die Beurteilung des Zerstörungsgrades der Neuen Gebiete veränderte sich daher nur wenig, ist also nicht durch aktuellere Forschung hinterfragt worden. Der 1947 verfasste und 2007 neu aufgelegte „Bericht über Polens Verluste und Kriegsschäden in den Jahren 1939–1945“44 hat die polnischen West- und Nordgebiete ausgespart. Für die aktuelle Forschung bedeutet das, dass sie entweder den zeitgenössischen Darstellungen folgen kann, oder sie widerspricht ihnen. Letzteres ist in der Forschung häufig erfolgt. Włodzimierz Brus bespielsweise schätzt die wirtschaftliche Entwicklung Polens nach 1945 sehr positiv ein. Er geht davon aus, dass das polnische Volkseinkommen von 1946 im Vergleich zu 1938 (100) einen Index von 69 hatte.45 Tatsächlich wird in der Wissenschaft auch die Ansicht vertreten, dass die Kriegszerstörungen gerade in den Neuen Gebieten gering waren.46 Unbestritten ist – wie bereits diskutiert wurde –, dass Niederschlesien bis 1944 von Kriegsereignissen weitgehend unberührt blieb.47 Zwar gab es einen Luftangriff auf Breslau durch die Royal Air 42 Vgl. Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 258; Hanna J˛edruszczak, Miasta i Przemysł w Okresie Odbudowy [Städte und Industrie zur Zeit des Wiederaufbaus], in: Hanna J˛edruszczak/Krystyna Kersten (Hrsg.), Polska Ludowa 1944–1950. Przemiany Społeczne, Breslau/Warschau 1974, 279–407, hier S. 279; Rocznik Statystyczny 1947 [Statistisches Jahrbuch 1947] (Główny Urzad ˛ Statystyczny), Warschau 1947, S. 72. 43 Beata Halicka, Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948, Paderborn 2013, S. 232. 44 Vgl. Mariusz Muszy´nski (Hrsg.), Sprawozdanie w przedmiocie strat i szkód wojennych Polski w latach 1939–1945 [Bericht über Polens Verluste und Kriegsschäden in den Jahren 1939– 1945], Warschau 2007, S. 131 ff. 45 Vgl. Włodzimierz Brus, Postwar Reconstruction and Socio-Economics Transformation, in: Michael Charles Kaser (Hrsg.), The Economic History of Eastern Europe 1919–1975, Bd. 2. Interwar Policy, The War and Reconstruction, Oxford 1986, 564–641, hier S. 626. 46 Einer der ältesten polnischen Vertreter diese These ist Jankowski; vgl. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 172. 47 Claudia Kraft, Wojewodschaft Breslau. Das Jahr 1945, in: Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven Band 4. Wojewodschaften Pommerellen und Danzig (Westpreußen), Wojewodschaft Breslau (Niederschlesien) 1945–1950 (Quellen zur
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Force am 13. November 194148 , doch das änderte nichts am Ruf des „Luftschutzkellers“ der ostdeutschen Gebiete, in dessen Folge viele Tausende Deutsche dorthin gebracht wurden, um sie besser vor Luftangriffen zu schützen.49 Erst im Zeitraum zwischen August und Dezember 1944 flog die 15. Flotte der US-Luftwaffe Angriffe auf Schlesien. Sie wurde am 1. November 1943 gegründet und stand unter dem Kommando von Generalmajor James H. Doolittle.50 Hauptziel der in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 durchgeführten Luftangriffe war jedoch nicht Nieder-, sondern Oberschlesien. Das Jahr 1944 brachte für Niederschlesien nur wenige Schäden. Der Angriff vom 21. Juni desselben Jahres auf die Raffinerie für Synthesetreibstoff in Ruhland wurde bereits erwähnt. Am 7. Juli kam es zusätzlich zu Angriffen auf die Syntheseölraffinerien von Blechhammer und Kandrzin im Kreis Cosel in Oberschlesien.51 Hinzu kommt ein Flächenbombardement, das Bomber der Roten Armee am 7. Oktober 1944 über Breslau durchführten.52 Konieczny bestätigt diesen Eindruck indirekt: Seine Arbeit listet sämtliche Luftangriffe auf Schlesien auf. Diese betrafen in praktisch allen Fällen Oberschlesien, das wegen seiner Schwerindustrie Hauptziel der Angriffe war.53 Bis Januar 1945 wurde Niederschlesien kaum vom Krieg getroffen. Bleibt die Frage, wieweit Niederschlesien im Jahr 1945 bis Kriegsende durch Kriegshandlungen zerstört wurde. Der „US Strategic Bombing Survey“54 , der sich für die BRD als wichtige Quelle erwiesen hat, bezieht sich zwar dem Titel nach auf die gesamte deutsche Rüstungsindustrie, spart jedoch die damaligen deutschen Ostgebiete aus. Entsprechend kann auch hier nur eine Abschätzung erfolgen. Eine Betrachtung des Frontverlaufs macht jedoch bereits deutlich, dass die Kriegszerstörungen selbst gering gewesen sein müssen. Die Januaroffensive konzentrierte sich auf Oberschlesien. Marschall Ivan Stepanoviˇc, Führer der Ersten Ukrainischen Front, verfolgte das primäre Ziel, das oberschlesische Industriegebiet zu kontrollieren und die Eroberung Niederschlesiens zunächst zurückzustellen.55 Teile Südniederschlesiens wurden bis Kriegsende nicht von der Roten Armee besetzt und fielen ihr beinahe unzerstört in ihre Hände.56 Zeitgenössische Quellen belegen, dass von 33 Kreisen in Niederschlesien 13 nicht direkt vom Krieg betroffen waren.57 Hieraus Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2004, 357–399, hier S. 361. 48 Andreas R. Hofmann, Die Nachkriegszeit in Schlesien. Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik in den polnischen Siedlungsgebieten 1945–1948 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Bd. 30), Köln 2000, S. 15. 49 Siebel-Achenbach, Lower Silesia (wie Anm. 3, S. 50), S. 23. 50 Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 93 f. 51 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48), S. 16. 52 Siebel-Achenbach, Lower Silesia (wie Anm. 3, S. 50), S. 29. 53 Vgl. Konieczny, Wojna powietrzna (wie Anm. 3, S. 50), S. 115 ff. Vgl. Bartsch, Unterm schwarzen Adler (wie Anm. 2, S. 15), S. 316. 54 The United States Strategic Bombing Survey. The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy. Overall Economic Effects Division, o. O. 1945. 55 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48), S. 17. 56 Ebd., S. 19. 57 AAN MZO/1380, Bl. 190, Bericht über die ökonomische Situation in Niederschlesien, Stand 1. November 1945.
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folgt, dass Kriegszerstörungen in Niederschlesien in geringem Maße und nur lokal begrenzt vorkamen. Thum widerspricht ebenfalls dem Bild eines stark zerstörten Landes. So seien die Neuen Gebiete zwar vom Krieg gezeichnet gewesen, doch: „Nicht überall hatten die Kämpfe im gleichen Maße gewütet. Entlang der Sudeten hatten die niederschlesischen Dörfer und Städte wie Habelschwerdt, Glatz, Reichenbach, Waldenburg, Schweidnitz oder Hirschberg den Krieg sogar unbeschadet überstanden.“58 Hierbei muss jedoch auf eine Ausnahme hingewiesen werden: In Breslau selbst waren zwischen dem 15. Februar und dem 6. Mai 1945 20.000 Häuser und 400 Baudenkmäler zerstört worden, dazu 200 beschädigt.59 Insbesondere das Allgemeine Statistikamt GUS hat diese Zahlen regelmäßig publiziert.60 Zunächst fällt auf, dass sich diese Angabe über den langen Zeitraum hielt. Aus der Zahl der zerstörten Betriebe auf die Zerstörung der Industrie insgesamt zu schließen birgt methodische Risiken. Es kann davon ausgegangen werden, dass nicht jeder zerstörte Betrieb vollkommen vernichtet war, sondern aus verschiedenen Gründen unter einem Produktionsausfall litt, der auch bei 100 Prozent gelegen haben kann. Hieraus lässt sich jedoch nur ableiten, in welchem Zustand sich die Betriebe im Jahr 1945 befunden haben. Es bedeutet nicht, dass sich die Betriebe nicht mit verhältnismäßig geringem Aufwand wieder in Stand setzen ließen, wie es in Rekonstruktionsphasen häufig der Fall ist. Ein umfassender Neuaufbau der sog. Wiedergewonnenen Gebiete war sicherlich nicht notwendig. Tatsächlich war der Rekonstruktionseffekt einer der Gründe für den erfolgreichen Dreijahresplan.61 Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Bilanzierung der Kriegsschäden und Demontagen – allerdings für ganz Polen – von Chumi´nski aufschlussreich. Er geht davon aus, dass 77 Prozent der Industriegebäude, 84 Prozent der energetischen Anlagen und 63 Prozent der technischen Ausrüstungen völlig intakt waren bzw. geringer Reparaturen bedurften.62 Hierbei ist die größte Demontagewelle der Monate Juli und August 1945 bereits berücksichtigt. Angesichts dieser Zahlen ist es fragwürdig, ob tatsächlich – wie Stanisław Jankowski schätzt – 1945 50 Prozent der niederschlesischen Betriebe zerstört waren.63 Die Annahme einer niederschlesischen „Stunde Null“ trifft somit aus rein ökonomischer Sicht nicht zu. Sowohl Wert als auch Umfang des Bruttoanlagekapitals sind stark gestiegen, die Wachstumsraten waren zwischen 1936 und 1944 eben58 Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 16, S. 52), S. 171. 59 Wolf-Herberg Deus, Breslau, in: Hugo Weczerka (Hrsg.), Schlesien (Handbuch der Historischen Stätten, Bd. 316), 2. verb. und erw. Aufl., Stuttgart 2003, 38–54, hier S. 52. 60 Vgl. etwa Statystyka Przemysłu Ziem Zachodnich 1946-1958 [Statistik der Industrie der Westgebiete 1946-1958] (GUS), Warschau 1960, S. IV. 61 Vgl. Paweł Boz˙ yk, Die Volkswirtschaft der VR Polen, Krakau 1975, S. 12. 62 J˛edrzej Chumi´nski, Przemysł w PRL – niewykorzystana szansa modernizacji [Industrie in der Volksrepublik Polen – die ungenutzte Modernisierungschance], in: ders. (Hrsg.), Modernizacja czy pozorna modernizacja. Społeczno-ekonomiczny bilans PRL 1944–1989 [Modernisierung oder scheinbare Modernisierung. Ökonomisch-gesellschaftliche Bilanz der Volksrepublik Polen 1944–1989], Breslau 2010, 316–361, hier S. 319, 352 f. 63 Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 68.
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falls hoch. Und die Kriegszerstörungen wurden in der Literatur überschätzt. Einen Kataklysmus, wie es Adam Makowski nennt64 , hat es in Niederschlesien nicht gegeben. 2.2. Demontagen und Rückverlagerungen durch die Wehrmacht und die Rote Armee Nachdem die Frage der Zerstörungen durch Kriegshandlungen bearbeitet wurde, stellt sich noch die Frage, welchen Effekt die Demontagen auf die niederschlesische Wirtschaft hatten. Prinzipiell wirken sie sich auf die langfristige wirtschaftliche Entwicklung ebenso aus wie Zerstörungen. Und auch bei diesem Thema zeigt sich, dass die langfristige Wirkung häufig überschätzt wird. Am Beispiel Chemnitz etwa stellt Leimert fest: „Erstaunlich ist, dass die Demontagen keine dauerhafte Massenarbeitslosigkeit hervorriefen.“65 Überraschend ist hier vor allem die Annahme, es habe die Gefahr einer dauerhaften Arbeitslosigkeit bestanden. Dieser Aussage liegt die Überzeugung zugrunde, dass materielle Schäden üblicherweise längerfristige Auswirkungen haben, was sich entsprechend auf das Produktionsniveau hätte auswirken müssen – eine Annahme, die bereits als einseitig verworfen wurde. Trotzdem ist die Frage, inwieweit die Wehrmacht und die Rote Armee Anlagekapital abbauen oder zerstören konnten, von Interesse. In welchem Umfang konnten Deutsche im Zeitraum von Januar bis Mai 1945 Betriebe abbauen und nach Mittelund Westdeutschland zurücktransportieren? Dass dies geschehen ist, wird in der Wissenschaft vertreten.66 Offen ist jedoch, in welcher Größenordnung dies geschehen konnte. Die polnische Historiographie hat sich nur wenig mit den Rückverlagerungen seitens der Deutschen in den damaligen deutschen Ostgebieten beschäftigt. Vereinzelt wird angenommen, dass noch zahlreiche Betriebe kurz vor dem Rückzug der Wehrmacht durch die Beschäftigten demontiert oder, wo dies nicht möglich war, zerstört worden seien.67 Diese Annahme beruht auf der Evakuierungsstrategie, die sich hinter dem Akronym ARLZ (Auflockerung, Räumung, Lähmung, Zerstörung) verbarg.68 Dieser „Nero“-Befehl bezog sich zunächst auf diejenigen Gebiete, die außerhalb des Deutschen Reiches nach den Grenzen von 1938 lagen. In den damaligen deutschen Ostgebieten lag der Schwerpunkt auf der Evakuierung der Bevölkerung. Am 29. Januar 1945 wurde die Evakuierung der deutschen Bevölkerung aus zahlreichen Regionen Schlesiens beendet. Diese Entscheidung war eine direkte 64 Vgl. Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 59. 65 Leimert, Sowjetische Demontagen im Stadt- und Landkreis Chemnitz (wie Anm. 146, S. 80), S. 98. 66 So etwa Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 29. 67 Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 30 f.; Stanisław Jankowski, Odbudowa i Rozwój Przemysłu Polskiego w Latach 1944–1949 [Aufbau und Entwicklung der polnischen Industrie 1944–1949] (Historia Gospodarcza Polski Ludowej), Warschau 1989, S. 109 f. 68 Czesław Łuczak, Trzecia Rzesza (Dzieje gospodarcze Niemiec 1871–1990, Tom II) [Das Dritte Reich (Wirtschaftliche Geschehnisse Deutschlands 1871–1990, Bd. 2)], Posen 2006, S. 377.
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Folge aus der Knappheit funktionsfähiger Transportmittel sowie dem Bestreben, die zu evakuierende Bevölkerung vor Hunger und Frost zu schützen.69 Wenn mithin auf die Rücktransporte und Zerstörungen hingewiesen wird, die insbesondere die Wehrmacht vor ihrem Rückzug durchführte, so betrifft dies in erster Linie die polnischen Gebiete. Dies wird durch Jankowski implizit bestätigt. Seine exemplarische und unvollständige Auflistung der teilweise demontierten Betriebe listet die Hütten „Stalowa Wola“ und „Ferrum“ in Kattowitz, die ZiegeleiBetriebe (Zakłady Cegielskie) in Posen, ein Kabel-Betrieb in Oz˙ arów (Wojewodschaft Heiligkreuz), die Fabrik für Stickstoffverbindungen (Fabryka Zwiazków ˛ Azotowych) in Mo´scice (Wojewodschaft Kleinpolen), die Staatlichen Luftfahrtbetriebe (Pa´nstwowe Zakłady Lotnicze) in Mielec, „Stomil“ in D˛ebica (beide Wojewodschaft Karpatenvorland) sowie die Betriebe „Perkun“, „Ursus“ und einen Produktionsbetrieb für Präzisionsmaschinen in Warschau auf.70 Das Gros der Zerstörungen durch die Deutschen vor dem Rückzug scheint auch hier in den Alten Gebieten Polens vorgenommen zu sein. Hieraus lässt sich zwar nicht ableiten, dass die in Niederschlesien durchgeführten Rückverlagerungen und Zerstörungen durch die Deutschen verschwindend gering gewesen seien. Es sind Anfragen an den Gauleiter Niederschlesiens Hans Frank überliefert, in denen er um Unterstützung beim Abtransport von Betrieben gebeten wird. So schreibt beispielsweise Albert Speer am 10. Februar 1945 an Frank: „Verlagerung von Telefunken in Liegnitz und Telefunken in Reichenbach mit Fachkräften ist wegen einzigartiger Röhrenfertigung für Störsender und Ausrüstung von Hochleistungsflugzeugen erforderlich. Ich bitte dich, den Abtransport zu unterstützen.“71 Diese Rückverlagerungen müssen jedoch unter enormen Zeitdruck geschehen sein. Auch bei der Bevölkerung war der Evakuierungsbedarf sehr hoch, und auch dort konnten die vorhandenen und präzise ausgearbeiteten Evakuierungspläne nicht umgesetzt werden.72 Es ist daher durchaus möglich, dass die Deutschen während ihres Rückzugs auch Rückverlagerungen durchführten. Zu einem umfassenden Abtransport kam es jedoch nicht. Ihr Umfang war gering, wie selbst auf polnischer Seite vertreten wird.73 Bei der Frage der Demontagen durch die Rote Armee beschäftigt man sich mit demjenigen Bereich, den die Historiographie üblicherweise als hauptverantwortlich für den Verlust an Anlagekapital in Schlesien betrachtet.74 Es ist zwar nur eine vordergründig wichtige Frage, in welcher Höhe in Niederschlesien bzw. in den gesamten „Wiedergewonnenen Gebieten“ demontiert wurde, sie lohnt dennoch einer genauen Betrachtung. 69 70 71 72 73 74
Łuczak, Trzecia rzesza (wie Anm. 68, S. 129), S. 380. Jankowski, Rozwój Przemysłu Polskiego (wie Anm. 67, S. 129), S. 111. Vgl. BA R 3/1582. Ich danke Andrea Rudorff für diesen Hinweis. Borodziej, Die Katastrophe. Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 2, S. 16), S. 91. Jankowski, Rozwój Przemysłu Polskiego (wie Anm. 67, S. 129), S. 112 f. Vgl. etwa ebd., S. 115 ff. J˛edrzej Chumi´nski, Der Einfluß des Krieges und der Grenzveränderungen auf den Stand der Industrie in Polen, in: Argumenta Oeconomica 7.1 (1999), 43–63, hier S. 47.
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Auf formaler Ebene war die Frage der Demontagen seitens der Roten Armee klar geregelt. Das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung (PKWN) schloss am 9. August 1944 mit Vertretern der UdSSR einen Vertrag ab, der unter anderem präzisierte, was als Kriegsbeute der UdSSR betrachtet werden sollte.75 Diese Klärung war wichtig, weil Kriegsbeute die einzigen Güter sein sollten, auf die die Rote Armee Zugriff hatte. Auf Grundlage dieses Vertrages erließ das Oberkommando der Roten Armee am selben Tag den Befehl Nr. 220172/5. Er sah die Umsetzung des Vertrags vor: Alle Industriegüter auf polnischen Boden – ohne die ostdeutschen Gebiete – gehörten dem polnischen Staat. Kriegsbeute war, was die Deutschen während der Besetzung errichtet hatten. Da hiervon jedoch auch deutsche Einzel- und Ersatzteile und sogar „farbliche Übermalung“ erfasst war, waren faktisch auch zahlreiche polnische Betriebe betroffen.76 Der Vertrag vom 12. Februar 1945 zeugte von einem deutlichen Wandel. Hier einigte sich die Nachfolgerin der PKWN, die Provisorische Regierung Polens, mit der sowjetischen Seite einen Tag nach Ende der Konferenz von Jalta, dass alle zwischen Weichsel und Oder vorhandenen deutschen Besitzungen Polen zustehen und Entnahmen seitens der Sowjetunion in Absprache mit polnischen Behörden erfolgen sollten. Dies entsprach teilweise dem Abkommen des PKWN und der Sowjetregierung vom 26. Juli 1944, in dem die Sowjetregierung dem polnischen Staat die deutschen Ostgebiete zur Kompensation der polnischen Ostgebiete zusprach.77 Rein formal war die Frage der Demontagen damit geklärt, es blieben jedoch auch Fragen offen. Ein Problem war, dass der Vertrag vom 12. Februar 1945 „Kriegsbeute“ nicht genau definierte. Stalin nutzte diese Regelungslücke und definierte Kriegsbeute mittels seines Befehls vom 20. Februar 1945. Entsprechend sollte es sich bei Kriegsbeute um Anlagen, Materialien und Fertigprodukte handeln, die für die Kriegsführung erforderlich waren und aus deutschen oder von Deutschen ausgebauten Unternehmen in Polen oder in den Neuen Gebiete stammten.78 Auch die Übergabe der Betriebe wurde geregelt. Gemäß der Verordnung Nr. 9534 der staatlichen Verteidigungskommission (GOKO) vom 21. Juni 1945 sollten dem polnischen Staat alle Betriebe bis zum 15. August übergeben werden. Hiervon ausgenommen waren nur 102 Betriebe, die seitens der Russen bis zum 7. August 1945 demontiert werden sollten.79 Anschließend sollten sie der Volksrepublik Polen übergeben werden.80 Formal endeten die Demontagen also im August 1945. Freilich war dieser Zeitplan nicht realistisch, und es stellte sich in der Praxis heraus, dass er nicht einzuhalten war.81 Die willkürlichen Demontagen wurden fortgesetzt.82 75 76 77 78 79 80
Jankowski, Rozwój Przemysłu Polskiego (wie Anm. 67, S. 129), S. 115 f. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74), S. 47. Ebd. Ebd. Magierska, Anfänge (wie Anm. 14, S. 18), S. 272. Ryszard Techman, Armia radziecka w gospodarce morskiej Pomorza Zachodniego w latach 1945–1956 [Die sowjetische Armee in der Seewirtschaft Westpommerns 1945–1956], Posen 2003, S. 24. 81 Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 367. 82 Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74), S. 47.
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Zu Kriegsende und darüber hinaus standen mithin zahlreiche Betriebe in den Neuen Gebieten sowie ein beachtlicher Teil der Agrarbetriebe unter sowjetischer Kontrolle. Bei der Demontage der niederschlesischen Industrieanlagen lag der Fokus auf den Anlagen im Süden, wo die Textil- und die Schwerindustrie eine wichtige Rolle spielten.83 Die Sowjetunion hatte hier klare militärische und wirtschaftliche Interessen, weshalb die Gebiete auch zunächst als Kriegsbeute betrachtet wurden.84 Das deckt sich mit der Demontagestrategie, die die Sowjetunion in der DDR verfolgte. Dort hatte die Rote Armee in hohem Maße demontiert, was eine Folge ihrer wirtschaftlichen Interessen war: „Damit (mit den demontierten Industrieanlagen, Y. K) sollte die heimische Wirtschaft angekurbelt (. . . ) werden.“85 Für die Organisation der Demontagen besaß die sowjetische Armee die sog. Abteilungen zur Verwaltung der Beute des nördlichen Armeeverbandes.86 Die sowjetischen sog. „Rückwärtigen Dienste“ hatten jedoch nicht das Personal, alle Fabriken zu besetzen. Daher konzentrierten sie sich auf Großbetriebe.87 Beim Ablauf der Demontagen – sowie der Vertreibungen – spielte die Potsdamer Konferenz eine wichtige Rolle. Verschiedene Akteure – und hier in erster Linie das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete unter Gomułka – strebten an, vor Beginn der Konferenz vollendete Tatsachen zu schaffen und so die eigene Verhandlungsposition während der Potsdamer Konferenz entscheidend zu verbessern.88 Am 16. August, zwei Wochen nach Ende der Konferenz sowie einen Tag nach dem ursprünglich festgelegten Übergabetermin der von den sowjetischen Behörden kontrollierten Betriebe, wurde ein neues Abkommen zwischen der polnischen und der sowjetischen Regierung geschlossen. Vertragspartner auf polnischer Seite war nun jedoch nicht mehr die Provisorische Regierung, sondern die Provisorische Regierung der Nationalen Einheit (Tymczasowy Rzad ˛ Jedno´sci Narodowej, TRJN), die am 28. Juni 1945 unter Beteiligung von Londoner Exilpolitikern gegründet wurde. In diesem Abkommen verpflichtete sich die UdSSR, auf alle Ansprüche in den deutschen Ostprovinzen zu verzichten, ebenso wie auf die Aktien deutscher Industrie- und Transportbetriebe auf dem gesamten Territorium Polens inklusive der Neuen Gebiete.89 83 Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 364. Interessant ist an dieser Stelle, dass Kraft davon ausgeht, dass die sowjetische Verwaltung bei der effektiven Demontage auf deutsche Facharbeiter zurückgegriffen hat. Hieraus leitet sie ab, dass an einer Bindung der Facharbeiter ein hohes Interesse bestand; ebd., S. 364 f. 84 Techman, Armia radziecka (wie Anm. 80, S. 131), S. 21. 85 Leimert, Sowjetische Demontagen im Stadt- und Landkreis Chemnitz (wie Anm. 146, S. 80), S. 92. 86 Oddział Zarzadu ˛ Zdobyczy Północnej Grupy Wojskowej; Techman, Armia radziecka (wie Anm. 80, S. 131), S. 23. 87 Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 48. 88 Dies lässt sich auch in der SBZ beobachten, wo die Demontagen „in großer Hast“ erfolgten; Leimert, Sowjetische Demontagen im Stadt- und Landkreis Chemnitz (wie Anm. 146, S. 80), S. 94. 89 Władysław Mochocki, Die Sowjetarmee in Polen. Die wirtschaftliche Ausbeutung der Wiedergewonnenen Gebiete durch die sowjetische Armee 1945 bis 1947, in: Osteuropa 49.2 (1999), 195–207, hier S. 196; Jankowski, Rozwój Przemysłu Polskiego (wie Anm. 67, S. 129), S. 116.
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Dies war jedoch nicht das letzte Abkommen. Es wurde durch ein Abkommen vom 14. September 1945 präzisiert, das der Chef der Rückwärtigen Dienste der Sowjetarmee, General Fieofan Łagunowund der polnische Vizeminister Henryk Róz˙ a´nski vereinbarten. Hier wurde bestimmt, dass der Roten Armee noch 158 Betriebe zur Verfügung stehen sollten, alle übrigen Betriebe sollten der polnischen Seite zurückgegeben werden.90 Die Unterzeichnung dieses Abkommens legte also fest, dass die Nordgruppe der Roten Armee, die dem sowjetischen Marschall und späteren polnischen Verteidigungsminister Rokossowski unterstand, noch temporär einige Industriebetriebe nutzen konnte.91 Zwar spiegelte diese Einigung nicht die Realität wider: „Noch zu Anfang des Jahres 1947 nutzte die Rote Armee in West- und Nordpolen 490 Industrieobjekte und etwa 750.000 ha Land.“92 Jedoch gilt auch, dass „die Hauptwelle der Demontagen und Devastationen auf die Monate Juli und August 1945“ fiel.93 Bei den Vereinbarungen zu den Demontagen wurde zwischen landwirtschaftlichen Gütern und Industriebetrieben unterschieden. Bis Ende 1947 kam es betreffend der Landwirtschaft zwischen der Nordgruppe der Roten Armee und der polnischen Verwaltung zu vier zeitlich begrenzten Überlassungen. Das erste Abkommen wurde am 8. Oktober 1945 unterzeichnet. Es gewährte der Nordgruppe den Zugriff auf 564 Betriebe mit einer Gesamtfläche von 112.800 ha.94 Faktisch umfasste der Zugriff der Roten Armee wesentlich mehr Güter – im November 1945 mindestens 2945 –, so dass es nach der Intervention der polnischen Verwaltung durch Mikołajczyk am 26. April 1946 zu einem neuen Abkommen kam. Dieses erweiterte den vertraglichen Zugriff auf 912 Güter mit 657.000 ha. Ein Jahr später, am 8. April 1947, kam es zu einem weiteren Abkommen, dass unter anderem der Anpassung an die Verringerung der Größe der Nordgruppe diente. Mikołajczyk und auf sowjetischer Seite General Łagunow als Spitzen der jeweiligen Delegationen vereinbarten, dass die Sowjets über 862 Güter (376.478 ha) verfügen konnten. Das letzte Abkommen wurde am 9. September 1947 geschlossen. Mikołajczyk war inzwischen durch den stellvertretenden Landwirtschaftsminister Stanisław Tkaczow ersetzt worden. Die Zahlen reduzierten sich hier auf 450 Güter mit 160.000 ha, wobei nun die Nordgruppe vertraglich voll über die vor Ort befindlichen Sachwerte und Nutztiere verfügen konnte.95 Hinsichtlich der Industrien hingegen gab es nach 1947 keine weiteren formalen Vereinbarungen. Wie hoch waren nun die Demontagen? Der Umfang und die Bedeutung der Demontagen in den polnischen Nord- und Westgebieten sind in der Forschung umstritten. Władysław Mochocki vertritt die These, die Demontagen von sowjetischer Seite seien enorm gewesen: „Im Bezirk westliches Pommern und den übrigen an Polen gefallenen Gebieten zerstörten die sowjetischen Einheiten die technologische 90 91 92 93 94 95
Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 49. Mochocki, Sowjetarmee in Polen (wie Anm. 89), S. 198. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 53. Ebd. Mochocki, Sowjetarmee in Polen (wie Anm. 89), S. 199. Ebd., S. 199 f.
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Basis von 294 Produktionsstätten.“96 Er betont, dass sich die Demontagen insbesondere auf städtische Agglomerationen konzentrierten. Auch die Annahme, dass von 1928 km Bahnstrecke etwa 957 km, mithin beinahe die Hälfte, zerstört worden sei, erscheint nachvollziehbar. Das Problem zerstörter Infrastruktur und seine hemmenden Wirkungen war in zahlreichen Staaten zu beobachten.97 Mochocki beachtet jedoch nicht, dass die Demontagepolitik der UdSSR vor allem Großbetriebe traf.98 Es bleibt außerdem unklar, ob die UdSSR tatsächlich in diesem Umfang demontiert hat. In den Neuen Gebieten gab es zwar 9.255 Industriebetriebe. Hier handelte es sich jedoch zu einem großen Teil um kleine und mittlere Betriebe.99 Es ist daher fraglich, in welchem Umfang die UdSSR an der ganzen oder teilweisen Zerstörung von 6.727 Industriebetrieben beteiligt war. Die Frage, wie stark die Wirtschaft der Neuen Gebiete und somit auch Niederschlesiens durch die Demontagen in Mitleidenschaft gezogen wurde, lässt sich nicht mehr präzise beantworten. Mochocki nimmt an, dass die Demontagen die Neuen Gebiete wirtschaftlich nachhaltig schwächten. „Ende 1946 gingen die der kommunistischen Führung in Polen oppositionell gesinnten Kräfte davon aus, dass aus den Wiedergewonnenen Gebieten etwa 80 Prozent aller von der Sowjet-Armee übernommenen materiellen Güter in die UdSSR gelangten.“100 Er zieht für diese Interpretation in Ermangelung quantitativer Angaben in erster Linie zeitgenössische Schilderungen heran.101 Diese Herangehensweise ist jedoch problematisch, da Zeitzeugen von Krieg und Demontagen sowie von Vertreibung keine verlässlichen Anwälte für eine objektive Schätzung des Umfangs der Demontagen sind. Auch scheint es wenig nachvollziehbar, dass der relative Verlust durch die Demontagen in den Neuen Gebieten denjenigen aus der SBZ/DDR überschritten haben soll. Steiner hat ermittelt, dass hier die Demontagen aus der Zeit zwischen 1945 und 1948 46 Prozent des gesamten Bruttoanlagevermögens von 1936 entsprachen.102 Gegenüber 1945 bedeutete dies einen Rückgang des Bruttoanlagekapitals um etwa 37 Prozent. Möchte man die Frage beantworten, was sich am stärksten auf den Rückgang des Bruttoanlagevermögens ausgewirkt hat – der Krieg, die Demontagen durch die Wehrmacht oder diejenige durch die Rote Armee –, so lässt sich die Annahme Jankowskis bestätigen, dass die Rote Armee hier den größten Anteil hatte. 2.3. Bilanz Zunächst muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Frage nach der Höhe der materiellen Schäden impliziert, dass ihre Überprüfung von besonderem Er96 Mochocki, Sowjetarmee in Polen (wie Anm. 89, S. 132), S. 201. 97 Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 548), Lizenzausgabe, Bonn 2006, S. 33. 98 Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 115, S. 73), S. 29; Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 48. 99 Vgl. Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 4. 100 Mochocki, Sowjetarmee in Polen (wie Anm. 89, S. 132), S. 201. 101 Ebd., S. 195, 197. 102 Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 115, S. 73), S. 28.
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kenntnisinteresse für die spätere langfristige ökonomische Entwicklung sei. Diese Annahme ist irreführend, führt sie doch zu einer Überbetonung der materiellen Ausgangsbedingungen.103 Wie haben sich Krieg und Demontagen auf das Bruttoanlagekapital ausgewirkt? Auf bundesdeutscher Seite wurden Erhebungen durchgeführt, um den Wert des materiellen Verlustes in den ehemaligen deutschen Ostgebieten glaubwürdig zu beziffern. Ob diese auch zu verlässlichen Zahlen führten, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden. Unabhängig davon wurden diese Zahlen lanciert und in den politischen Diskurs eingebracht. So geht die „Denkschrift zur Bewertung der Vermögensobjekte“ davon aus, dass in der Summe der Sachwert bei 65 Milliarden RM lag.104 Gerhard Reichling hatte bereits einige Jahre vorher versucht, die Höhe des verlorenen „Ostvermögens“ zu ermitteln.105 Er argumentiert auf der Grundlage der Feststellungsbescheide des Statistischen Bundesamts. Er ermittelt eine nach Gebieten differenzierte Auflistung, wobei er zwischen den „deutschen Ostgebieten“, der „Tschechoslowakei“ und „Ost- und Südeuropa“ unterscheidet, und geht davon aus, dass Hausrat (8,4 Milliarden RM), land- und forstwirtschaftliches Vermögen (23,1 Milliarden RM), Grundvermögen (11,5 Milliarden RM), Betriebsvermögen (7,1 Milliarden RM) und Unternehmensanteile (5,5 Milliarden RM) zusammen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten in der Summe einen Verlust von 55,6 Milliarden RM bedeuteten.106 Auffällig ist die jeweilige Zielsetzung. Bei Reichlings Arbeit wurden alle betroffenen Gebiete gleichermaßen berücksichtigt. Bei der Vermögensdenkschrift des Bundesarchivs, welche ebenfalls auf den Arbeiten des Statistischen Bundesamtes beruht107 , haben sich die Autoren ausschließlich auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße konzentriert. 103 Vgl. Gilgen, DDR und BRD im Vergleich (wie Anm. 12, S. 18), S. 122. So hatte Niederschlesien hier ähnliche Probleme zu bewältigen wie etwa die deutschen Besatzungszonen der Westalliierten. Ein Hauptfaktor ist hier die Infrastruktur. Im Fall Niederschlesiens war dieses Problem jedoch anders gelagert. Dort wurde nicht gezielt die Infrastruktur mit dem Ziel zerstört, die Rüstungsindustrie kriegsentscheidend zu verlangsamen. Der geringe Umfang der Zerstörungen in Niederschlesien wird hierfür nicht ausgereicht haben. Für den Wiederaufbau war es jedoch ein Hemmnis, dass die Neuen Gebiete keine direkten Transportverbindungen mit den sog. alten polnischen Gebieten hatten; vgl. Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 59. Das Argument einer unzureichenden Infrastruktur könnte jedoch auch ins Gegenteil verkehrt werden. Zwar war die Verbindung zwischen den Neuen und Alten Gebieten Polens noch schwach entwickelt. Innerhalb der Neuen Gebiete war das Straßennetz aber etwa doppelt so dicht wie in den Alten Gebieten (44 bzw. 22 Kilometer befestigte Straße pro 100 Quadratkilometer), was wiederum eine effektive Allokation der Ressourcen vereinfacht hätte. Hier gab es jedoch regionale Unterschiede. Schlesien besaß etwa 55 km befestigte Straße pro 100 Quadratkilometer, in Pommern und Ostpreußen waren es 30 km, im Westen der Alten Gebiete 39 km; vgl. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 27 f. Damit wird deutlich, dass auch der Verweis auf die Infrastruktur nur eingeschränkte Erklärungskraft besitzt. 104 Denkschrift zur Bewertung der Vermögensobjekte der öffentlichen Hand und sonstiger juristischer Personen in den deutschen Ostprovinzen auf Grund von Quellenmaterial. Bewertungsmöglichkeiten und Ergebnisse, Koblenz 1967, S. 3. 105 Vgl. Reichling, Das verlorene Vermögen (wie Anm. 7, S. 120), S. 208 ff. 106 Ebd., S. 215. 107 Vgl. ebd., S. 212.
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Auch auf polnischer Seite wurden Erhebungen durchgeführt. Seitdem feststand, dass die deutschen Ostgebiete unter polnische Verwaltung gestellt werden, wurden mehrere Erhebungen angestellt, um den „Gesamtwert“ der Neuen Gebiete zu bestimmen. Eine der ersten quantitativen Angaben erhielt der Vorsitzende des Landesnationalrats Polens, Bolesław Bierut am 16. August 1945. Laut ihnen belief sich der Wert der Sachgüter in den Neuen Gebieten auf 9,5 Milliarden Dollar, der Wert der Industriemaschinen soll bei 1.750 Millionen Dollar gelegen haben.108 Diese Zahlen wie auch die Folgenden sind jedoch politisch stark beeinflusst und lassen sich wissenschaftlich kaum überprüfen. Dass sich die Westverschiebung Polens positiv auf sein industrielles Potenzial ausgewirkt hat, wird von der polnischen wie der deutschen Forschung klar unterstrichen. Zwar können diesbezüglich nur in sehr eingeschränktem Maße quantitative Angaben gemacht werden. Das wirtschaftliche Niveau und die Charakteristik der Neuen Gebiete und der ehemaligen polnischen Ostgebiete waren sehr heterogen. In Niederschlesien – ebenso wie in Oberschlesien – war die industrielle Struktur am stärksten ausgeprägt. Jedoch befand sich auch in den übrigen Regionen der Ostgebiete das wirtschaftliche Niveau oberhalb des Durchschnitts der Alten Gebiete.109 Aus dem seit 1936 stark gestiegenen Anlagekapital Niederschlesiens – Gruchman schätzt, dass diese Gebiete „in der Regel viel besser mit Anlagevermögen ausgestattet gewesen [seien] als das übrige Land“110 –, den geringen Kriegsschäden und den in erster Linie auf Großbetriebe beschränkten Demontagen kann geschlossen werden, dass die Ausgangslage Niederschlesiens von der Forschung unterschätzt wurde und der Annahme, Niederschlesien sei umfassend zerstört, nicht zu folgen ist. Die materiellen Ausgangsbedingungen Niederschlesiens nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch nach den Zerstörungen und Demontagen gut. 3. 1945–1956: DIE „POLONISIERUNG“ DER WIRTSCHAFT IN DEN NEUEN GEBIETEN UND DIE WIRTSCHAFTSPOLITIK BIS 1956 Im folgenden Kapitel wird die in den Neuen Gebieten verfolgte Wirtschaftspolitik beschrieben. Mit welchen Maßnahmen wurde versucht, die Wirtschaft der damaligen deutschen Ostgebiete zu übernehmen?111 Der Zeitraum von 1945 bis 1956 lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen. Der Zeitraum von Kriegsende bis Ende der 40er Jahre war stark von den Maßnahmen geprägt, die Neuen Gebiete administrativ zu 108 Mochocki, Sowjetarmee in Polen (wie Anm. 89, S. 132), S. 195. 109 Margaret Dewar, Soviet Trade with Eastern Europe 1945–1949, London/New York 1951, S. 34. 110 Bohdan Gruchman/Ewa Nowi´nska, Die Entwicklung der Wirtschaft Westpolens seit 1945, in: Helga Schultz (Hrsg.), Bevölkerungstransfer und Systemwandel. Ostmitteleuropäische Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 4), Berlin 1999, 121–134, hier S. 125. 111 Die im Titel dieses Kapitels angesprochene „Polonisierung“ bezieht sich in der wissenschaftlichen Literatur häufig auf die Änderung der Bezeichnungen von Straßen, öffentlichen Gebäuden und Monumenten. Dies ist hier ausdrücklich nicht gemeint; vgl. José M. Faraldo, Europe, nationalism and communism. Essays on Poland (Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1051), Frankfurt am Main 2008, S. 44.
3. 1945–1956: Die „Polonisierung“ der Wirtschaft in den Neuen Gebieten
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erfassen und einen „Informationsstrom“ zu etablieren, der es erlaubte, die Gebiete bewirtschaften zu können. Damit verbunden war eine Verbindung der Neuen mit den Alten Gebieten.112 Zahlreiche Aufgaben – die Vertreibung der Deutschen, die Besiedlung durch die polnische Bevölkerung, die Übernahme und Ingangsetzung der Wirtschaftsbetriebe, die Akkumulation von Informationen über die Neuen Gebiete und der dortigen Wirtschaft – mussten oder sollten teilweise zeitgleich bewältigt werden. Dieser Aufgabenkomplex war für diese Phase prägend. Erst für die Folgezeit kann tatsächlich von einer Strategie für Niederschlesien gesprochen werden. Die Westverschiebung Polens wurde – auch wenn am 16. August 1945 der Warschauer Grenzvertrag geschlossen wurde113 – über die Köpfe Polens hinweg beschlossen.114 Schon der Vertrag zwischen der PKWN und der UdSSR vom 27. Juli 1944, der die Curzon-Linie als polnisch-sowjetische Staatsgrenze festlegte, kann mit guten Gründen als Diktat des Kreml bezeichnet werden.115 In Jalta und noch stärker in Potsdam vertrat Stalin den Standpunkt, die neue Westgrenze der UdSSR sei nun bereits etabliert und eine Revision sei nicht mehr durchführbar. Entsprechend forderte er für Polen zur Kompensation die ostdeutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße. Faktisch handelte es sich hierbei um eine Maßnahme, Polen politisch an die UdSSR zu binden. Vor dem Hintergrund möglicher deutscher Revisionsansprüche würde die UdSSR die einzige Garantiemacht für die Gebietsansprüche Polens über die deutschen Ostprovinzen darstellen und Polen dazu zwingen, mit dem ehemaligen Kriegsgegner zu kooperieren. Auch deshalb ist die Westverschiebung Polens als „genialer geostrategischer Zug“ Stalins betrachtet worden.116 Stanisław Mikołajczyk von der Londoner Exilregierung versuchte zwar zu intervenieren, etwa im Vorfeld der Moskauer Außenministerkonferenz Ende November 1943. Schließlich musste er sich jedoch fügen und wählte daher den Weg aktiver Gestaltung, indem er mit Hilary Minc und Bolesław Bierut, seinen politischen Gegnern, an der Potsdamer Konferenz teilnahm.117 Roosevelt und Churchill stimmten der Westverschiebung in Potsdam zu.118 Die Integration der ostdeutschen Gebiete durch Polen wurde freilich nicht erst nach der Potsdamer Konferenz in Angriff ge˙ 112 Gruchman, Ziemie Zachodnie w Zyciu Gospodarczym (wie Anm. 36, S. 125), S. 14. 113 Bernhard Fisch, Stalin und die Oder-Neiße-Grenze. Ein europäisches Problem (Hefte zur DDRGeschichte, Bd. 64), Berlin 2000, S. 24. 114 Vgl. Harold James/Udo Rennert, Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914–2001, München 2004, S. 298 f. 115 Stanisław Ciesielski, Einleitung, in: Stanisław Ciesielski/Klaus-Peter Friedrich (Hrsg.), Umsiedlung der Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Polen in den Jahren 1944– 1947 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 6), Marburg 2006, 1–75, hier S. 29. 116 Vgl. Rudolf Jaworski/Christian Lübke/Michael G. Müller, Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt am Main 2000, S. 335. 117 Vgl. Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 94), München 2001, S. 234, 240, 411 f. 118 Vgl. Wojciech Roszkowski, Historia Polski. 1914–2004 [Geschichte Polens 1914-2004], überarb. und aktual. Aufl., Warschau 2005, S. 145, 155 f.
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nommen. Jedoch erhöhte die Potsdamer Konferenz die Rechtssicherheit für Polen. Zwar existierte zwischen der PKWN und der sowjetischen Regierung bereits ein Abkommen. Die Potsdamer Konferenz brachte jedoch die internationale Anerkennung. Die Übernahme der ostdeutschen Gebiete durch die polnischen Behörden und die Operationsgruppen erfolgte im „Windschatten“ der Roten Armee. Ziel war von Beginn an – im Falle Schlesiens seit Januar 1945 – eine rasche Übernahme. Über die genaue Motivlage herrschen in der Forschung unterschiedliche Ansichten. Häufig wird vertreten, dass die Übernahme der ostdeutschen Gebiete forciert wurde, um sie nach außen hin unumkehrbar erscheinen zu lassen.119 Auch wird argumentiert, die Maßnahmen hätten dem Nachweis gedient, dass Polen zur Administration und Bewirtschaftung dieser Gebiete in der Lage wäre und somit wenig gegen die Unterstellung der Gebiete unter polnische Verwaltung sprechen würde.120 Beide Argumente waren eine Konsequenz der von Gomułka verfolgten Politik der vollendeten Fakten.121 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung und die Polonisierung der Wirtschaft waren in hohem Maße miteinander verschränkt. Die Vertreibung sollte so ablaufen, dass zeitnah durch die Ansiedlung von Polen der Bevölkerungsverlust kompensiert wurde.122 Der Besiedlungsplan sah im Idealfall vor, zu keinem Zeitpunkt mit dem Problem einer zu kleinen Bevölkerung konfrontiert zu sein. Die Prioritäten unmittelbar nach der Verschiebung der deutschen Ostfront hinter die Oder-NeißeLinie waren eindeutig. „Hauptziel der Machthaber (Polens, Y. K.) war damals die schnelle Polonisierung der Industrie.“123 Die zum Teil sowjetnahen polnischen Machthaber rechtfertigten die Westverschiebung Polens. Im Zentrum stand die Behauptung, die auch das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung (PKWN) aufstellte: Die ostdeutschen Gebiete seien polnisch geprägt, da das Reich der Piasten im 10. Jahrhundert n. Chr. bereits bis zu dieser Westgrenze reichte.124 Die Tatsache, dass die Westverschiebung auf sowjetischen Druck hin geschah, rückte in den Hintergrund. Tatsächlich war die Organisation der Neuen Gebiete neben dem Wiederaufbau des Landes das Thema, mit dem man die polnische Bevölkerung am besten mobilisieren konnte.125 119 Vgl. Stanisław Ciesielski, My´sl Zachodnia Władysława Gomułka (1943–1948) [Der Westge´ aski danke Władysław Gomułkas (1943–1948)], in: Sl ˛ kwartalnik historyczny Sobótka 40.1 (1985), 147–160, hier S. 148. 120 Vgl. Faraldo, Europe, nationalism and communism (wie Anm. 111, S. 136), S. 43. 121 Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 55. 122 Hans Joachim von Koerber, Sozialpolitische Probleme Polens in den deutschen Ostgebieten, in: Werner Markert (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch Band Polen, Köln/Graz 1959, 314–326, hier S. 315. 123 J˛edrzej Chumi´nski, Polonizacja przemysłu dolnego s´laska ˛ ze szczególnym uwzgl˛ednieniem Wrocławia (1945–1946) [Die Polonisierung der niederschlesischen Industrie unter besonderer Berücksichtigung Breslaus (1945–1946)], in: Przeglad ˛ Zachodniopomorski 38.2 (1994), 179–203, hier S. 185. 124 Daniel Beauvois, La Pologne. Histoire, société, culture, aktual. und überarb. Aufl., Paris 2004, S. 377. 125 Ebd., S. 385.
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Wie sah die Übernahme und die wirtschaftliche Entwicklung der niederschlesischen Industrie aus? Im Folgenden wird diese Frage für den Zeitraum von Kriegsende bis zur Oktoberwende 1956 beantwortet. Dieser Zeitraum wird in zwei Abschnitte unterteilt. Das erste Jahrfünft ist unter anderem von den Maßnahmen geprägt, die Gebiete und somit auch die Wirtschaft zu übernehmen und die Industrie wieder in Gang zu setzen sowie – insbesondere in Bezug auf die Alten Gebiete – die Grundlage für die Planwirtschaft zu legen. Die Wirtschaftspolitik von 1950 bis 1955 ging von einem abgeschlossenen Verbindungsprozess von Alten und Neuen Gebieten aus und integrierte die Gebiete daher vollständig in die für ganz Polen vorgesehenen Wirtschaftspläne. 3.1. Festigung der polnischen Staatsmacht Bevor beschrieben wird, welche Maßnahmen auf polnischer Seite ergriffen wurden, um die Neuen Gebiete zu bewirtschaften, ist es sinnvoll, die innenpolitische Entwicklung Polens und die Festigung der kommunistischen Herrschaft von 1944 bis 1950 zu verdeutlichen. 1939 verschwand Polen zunächst von der europäischen Landkarte. Vertreter aller Parteien formierten daraufhin in Paris eine polnische Exilregierung. Nachdem auch Frankreich im Sommer 1940 dem Deutschen Reich militärisch unterlag, verlagerte die Exilregierung ihren Schwerpunkt nach London.126 Der Präsident der Republik Polen, Ignacy Mo´scicki, machte von der Möglichkeit der polnischen Verfassung Gebrauch, sein Amt auf eine andere Persönlichkeit zu ´ übertragen. Er bestimmte Marshall Edward Rydz-Smigły zu seinem Nachfolger, ´ während er selbst noch im September 1939 nach Rumänien flüchtete. Rydz-Smigły, der unter den Pseudonymen Adam Zawisza und Adam Tarłowski in Warschau blieb und dort den Widerstand organisierte, erlag jedoch im Oktober 1941 einem Herzinfarkt und erlebte somit das Kriegsende nicht mehr.127 Nach der Befreiung Polens lag ein Machtvakuum vor, das die polnischen politischen Parteien auszufüllen versuchten. Vor diesem Hintergrund wurde der Landesnationalrat („Krajowa Rada Narodowa“, KRN) geschaffen. Das KRN wurde am 1. Januar 1944 gegründet und stellte ein „Ersatz-Parlament“ dar. Auf seiner Grundlage schufen die polnischen Kommunisten mit der Unterstützung Stalins am 21. Juli 1944 das „Polnische Komitee der Nationalen Befreiung (PKWN)“.128 Dieses hatte 126 Vgl. Jaworski/Lübke/Müller, Kleine Geschichte Polens (wie Anm. 116, S. 137), S. 323. ´ ˙ 127 Vgl. Włodzimierz Suleja, Rydz-Smigły, Edward, in: Przemysław Hauser/Stanisław Zerko (Hrsg.), Słownik polityków polskich XX wieku [Handbuch der polnischen Politiker des 20. Jahrhunderts] (Pozna´nskie słowniki biograficzne), Posen 1998, 316–319, hier S. 317 f. 128 Im PKWN, das auch als Lubliner Komitee bezeichnet wird, waren die kommunistische PPR, die sozialistische PPS, der Verband der Polnischen Patrioten ZPP, die Partei der Arbeit SP sowie die Demokratische Partei SD vertreten. Mit der PPS und der SP waren zwei Parteien am PKWN bzw. ab dem 31. Dezember 1944 an der Provisorischen Regierung („Rzad ˛ Tymczasowy“) beteiligt, die gleichzeitig in der Londoner Exilregierung vertreten waren. Sie waren somit in zwei Institutionen aktiv, die beide für sich in Anspruch nahmen, die Interessen Polens legitim zu vertreten. An der konstruktiven Mitarbeit an einer Überführung der Provisorischen Regierung in eine „Einheitsregierung“ hatten sie somit kein Interesse. Nur die SL, an deren Spitze Sta-
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die äußere Form einer Regierung.129 Edward Osóbka-Morawski war der Vorsitzende des Komitees. Er war Sozialist und Schatzmeister der RPPS, die sich im September 1944 mit der PPS vereinigte.130 Die Wirtschaftspolitik bestimmte nicht das PKWN selbst, sondern sein Präsidium, dem das Ressort für nationale Wirtschaft und Finanzen des polnischen Komitees für nationale Befreiung“ („Resort Gospodarki Narodowej i Finansów Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego“) zugeordnet war. Dieses Ressort besaß eigene Unterabteilungen, unter anderem eines für Industrie. Im darauffolgenden Jahr 1945 wurden deren Verpflichtungen vom Wirtschaftskomitee des Ministerrates („Komitet Ekonomiczny Rady Ministrów“) übernommen. Am 6. Januar 1945 wurde zudem das Industrieministerium geschaffen, das die Aufgaben des Ressorts für nationale Wirtschaft übernahm. Seine Zielsetzung war, neben der Leitung der Wirtschaft, „im Namen der neuen Machthaber“ zu allen größeren Industriebetrieben vorzudringen.131 Die ersten Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg fanden im Januar 1947 statt. Hierbei traten die PPS, die PPR, die SL und die SD als „Demokratischer Block“ an, einzige Oppositionspartei war die aus der Exil-SL hervorgegangene PSL. Die Gründung neuer Parteien wurde im Dezember 1945 durch den Landesnationalrat KRN verboten. Damit wurde das Parteienspektrum immer mehr eingeschränkt. Diese Entwicklung setzte sich bis zur Vereinigung der PPR und der PPS zur PZPR im Dezember 1948 fort. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Volksrepublik Polen bis zur Wende 1990 durch die neu gegründete Partei regiert. 3.2. Die Verwaltung in den sog. „Wiedergewonnenen Gebieten“ 1945–1949 Mit dem Übergang der ostdeutschen Gebiete unter polnische Verwaltung sollte der Einfluss Polens auf diese Gebiete möglichst rasch etabliert werden. Die Installierung einer polnischen Verwaltung war somit Teil der Strategie, vor einer möglichen Friedenskonferenz unumkehrbare Fakten zu schaffen. Eine der ersten Maßnahmen war die Ziehung von Verwaltungsgrenzen, die sich danach noch mehrmals änderten. Die erste Aufteilung nahm die Provisorische Regierung am 14. März 1945 vor, als die vier Gebiete Oppelner Schlesien, Niederschlesien, Pommern sowie Ermland und Masuren132 geschaffen wurden. Am 7. Juli wurde die administrative Auf-
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nisław Mikołajczyk stand, wagte den Schritt, an einer kommunistisch dominierten Regierung zu partizipieren. Daher konnte im Juni 1945 die „Provisorische Regierung“ zur „Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit“ („Tymczasowy Rzad ˛ Jedno´sci Narodowej“) umbenannt werden und um die Vertreter der Exil-SL erweitert werden; Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 20. Vgl. ebd.; Andrzej Ajnenkiel, Polskie konstytucje [Die polnischen Verfassungen], Warschau 1991, S. 353. ˙ ˙ Stanisław Zerko, Osóbka-Morawski, Edward, in: Przemysław Hauser/Stanisław Zerko (Hrsg.), Słownik polityków polskich XX wieku [Handbuch der polnischen Politiker des 20. Jahrhunderts] (Pozna´nskie słowniki biograficzne), Posen 1998, 257–258, hier S. 258. Vgl. Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 11 f. Zunächst war nicht von Ermland und Masuren, sondern von Ostpreußen die Rede. Die Übernahme der deutschen Bezeichnung ist auf die Eile zurückzuführen; Włodzimierz Borodziej/
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teilung nochmals geändert, und es entstanden die Wojewodschaften Schlesien133 , Niederschlesien, Westpommern, Ermland und Masuren sowie Danzig. Im Juni 1950 wurden per Gesetz weitere Wojewodschaften geschaffen, und es kamen die Wojewodschaften Koszalin, Grünberg und Oppeln hinzu. Die Wojewodschaft Grünberg wurde teilweise aus nordniederschlesischen Kreisen gebildet, was zu einer Verkleinerung der Wojewodschaft Niederschlesien führte.134 Während des Nachkriegsjahrfünfts wurde die auch im übrigen Polen übliche Verwaltung sukzessive in den Neuen Gebieten installiert, so dass 1949 und 1950 die „Sonderverwaltungen“ für die Neuen Gebiete, in erster Linie das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete, aufgelöst wurden.135 Den ersten administrativen Zugriff auf die Neuen Gebiete erhielt der Landesnationalrat. Die Kontrolle erfolgte über die Wojewoden und die Landräte, die dem am 31. Dezember 1944 gegründeten Ministerium für Öffentliche Verwaltung (Ministerstwo Administracji Publicznej, MAP) unterstanden. Die Wojewoden und Landräte in den Neuen Gebieten standen mit den Nationalräten in Verbindung, durch deren Präsidium sie kontrolliert wurden. Jede Wojewodschaft hatte einen eigenen Nationalrat (Wojewódzka Rada Narodowa), der die Wojewodschaft verwaltete. Die Nationalräte waren zwar formal Selbstverwaltungsorgane. Bis 1954 wurden sie jedoch nicht vom Volk gewählt, und in der Praxis waren sie Stellvertreterorgane des für ganz Polen zuständigen Landesnationalrats.136 Die Verwaltung der Neuen Gebiete unterschied sich in der Praxis jedoch teilweise von derjenigen der Alten Gebiete. Die Regierungsbehörden, hier sind für das Jahr 1945 in erster Linie die Operationsgruppen zu nennen, agierten immer kurz hinter der Roten Armee und waren daher vor den zugeteilten Landräten und Wojewoden vor Ort. Letztere hatten jedoch in den Neuen Gebieten weiter reichende Kompetenzen. Wegen der noch kleinen polnischen Bevölkerung im Jahr 1945 in den nun polnischen Nord- und Westgebieten blieben die Nationalräte ebenfalls personalschwach, was sich erst mit der Ansiedlung der polnischen Bevölkerung änderte. Nach Erkundung des niederschlesischen Gebiets im April und Mai 1945 wurde die Installierung der – in der historischen Rückschau muss man sagen – provisorischen Verwaltung begonnen. Die Kreise Niederschlesiens wurden mit Kreisbevollmächtigten besetzt, der sog. „Regierungsbevollmächtigte der Republik Polen für den Verwaltungsbezirk Niederschlesien“ Stanisław Piaskowski ließ sich zunächst in Trebnitz nieder, bevor er nach Ende der Kämpfe seine Dienststelle in Liegnitz bezog. Im September 1945 verlegte er seine Verwaltung nach Breslau.137 Bis Ende Mai hatten auch alle Kreisbevollmächtigten ihre Dienststellen bezogen. Aus diesen Dienst-
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Hans Lemberg, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven Band 1. Zentrale Behörden, Wojewodschaft Allenstein 1945–1950 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2000, 25–114, hier S. 59. Auch „Województwo s´laskie-d ˛ abrowskie“. ˛ Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 42. Ebd., S. 40. Ebd. Bahr, Der niederschlesische Raum (wie Anm. 5, S. 50), S. 2.
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stellen erwuchsen später die Kreisverwaltungen. Ende September, als Piaskowski den Sitz der Verwaltung nach Breslau verlegte, waren etwa 1.300 Arbeitnehmer in der Verwaltung beschäftigt.138 Die erste provisorische Einteilung der Landkreise in Niederschlesien geht auf eine Verfügung des polnischen Ministerrates vom 29. Mai 1945 zurück. Hierbei wurden 276 Kreise geschaffen, die in ihrer Ausdehnung etwa den alten Amtsbezirken entsprachen.139 Diese Einteilung bestand für etwa vier Jahre. Die Regierungsbevollmächtigten, also formal die Wojewoden, hatten umfangreiche Rechte. Sie waren Organisatoren und Verantwortliche, deren Aufgabe darin bestand, die Gebiete für die Übernahme durch die polnischen Behörden vorzubereiten. Ihr Aufgabenbereich umfasste auch die Sicherheit, die Administration sowie die Wirtschaft.140 Sie hatten das Recht, ohne vorherige Rücksprache mit den Zentralbehörden Entscheidungen zu treffen. Praktisch oblag es ihnen, durch umfassende Entscheidungsbefugnisse rechtliche Probleme unbürokratisch zu lösen. Mit dieser Autorität konnten sie auch gegenüber den Militärkommendaturen der sowjetischen Armee intervenieren.141 In diesen umfangreichen Befugnissen spiegelt sich jedoch auch der Umstand wider, dass es das Hauptanliegen der Regierung war, die noch „fremden“ Neuen Gebiete auch administrativ zu durchdringen. Die Konkurrenz zwischen der Roten Armee und den polnischen Bevollmächtigten, die eine funktionierende Verwaltung installieren wollten, führte in den Neuen Gebieten zu dem, was die Forschung als „Doppelherrschaft“ bezeichnet.142 Verwaltet wurden die Neuen Gebiete zunächst durch das „Büro für die Westgebiete“. Dieses unterstand seit seiner Gründung im Februar 1945 dem Präsidium der Provisorischen Regierung und ab dem 1. Mai dem Ministerium für Öffentliche Verwaltung. Die Neuen Gebiete wurden jedoch später aus dem Verantwortungsbereich dieses Ministeriums herausgenommen und unter die Verantwortlichkeit des „Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete“ („Ministerstwo Ziem Odyzskanych“, MZO) gestellt, das am 13. November 1945 eigens für diese Aufgabe geschaffen wurde.143 Minister war Władysław Gomułka. Damit wurde das Büro für die Westgebiete wieder aufgelöst.144 Der Schaffung eines Ministeriums, das eigens für die Neuen Gebiete zuständig war, ging eine Diskussion und ein Erkenntnisprozess über den Umfang der Aufgabe voraus.145 Insbesondere die Behörde des Generalbevollmächtigten für die Neuen Gebiete bemängelte, dass eine Koordination der Verwal-
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Bahr, Der niederschlesische Raum (wie Anm. 5, S. 50), S. 2. Ebd. Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 84 f. Vgl. ebd., S. 85. Vgl. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 59. DzURP 1945, Nr. 51, Pos. 295; auf deutsch abgedruckt in: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Bd. I/1-I/3), Bonn, Bd. 3, S. 95 f. 144 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 49. 145 Vgl. Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 72 ff.
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tung und der Besiedlung dieser Gebiete nur unzureichend erfolge.146 Heftig wurde im Vorhinein auch die Frage diskutiert, ob die neue Behörde weiterhin dem Ministerium für Öffentliche Verwaltung unterstehen sollte oder nicht.147 Hofmann weist darauf hin, dass hinter den pragmatischen Gründen der Bündelung von Verantwortlichkeiten auch ein machtpolitischer Aspekt zur Gründung führte: „Bezeichnenderweise löste die berechtigte Kritik an dem allgemeinen Behördenwirrwarr solange keine nennenswerte Reaktion aus, als nicht mit dem Übergang des Verwaltungsministeriums (das bis Juni 1945 vom kommunistischen Minister Edward Ochab geleitet wurde) an die PSL ein machtpolitischer Aspekt einen zusätzlichen Anreiz zur Schaffung eines selbständigen Ministeriums für die neuen Gebiete bildete.“148 Die Aufgaben des Ministeriums gingen sehr weit und umfassten etwa die149 – Erarbeitung von Richtlinien für die Politik in den sog. Wiedergewonnenen Gebieten sowie von Bewirtschaftungsplänen und die Überwachung ihrer Ausführung, – die Durchführung einer planmäßigen Besiedlung, – die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern, die zur Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse dienen, – die Führung der nach-deutschen („poniemieckie“) Güter, – die Verwaltung in den Wiedergewonnenen Gebieten, wobei alle Angelegenheiten, die in den alten polnischen Gebieten vom MAP übernommen werden, in den Neuen Gebieten in die Zuständigkeit des MZO fielen sowie – die Koordinierung oder Initiierung der Tätigkeiten der anderen Ministerien und ihnen unterstehenden Organe in den Neuen Gebieten, mit Ausnahme der Bereiche, die in den Zuständigkeitsbereich des Außenministeriums sowie des Ministeriums für Schifffahrt und Außenhandel fallen. Entsprechend befand sich Gomułka in einer einflussreichen Position. Als Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete kontrollierte er ein Drittel des Staatsgebiets. Zudem war er in der am 31. Dezember 1944 geschaffenen Provisorischen Regierung 1. Vizeminister. Die Position des Vorsitzenden des Zentralkomitees der PPR besetzte er bereits seit November 1943.150 Gleichzeitig war Gomułka jedoch in einen innerparteilichen Konflikt verwickelt, der für ganz Polen von großer Bedeutung war. Innerhalb der PPR gab es zwei Strömungen, bei denen auch zwei wirtschaftspolitische Konzepte miteinander konkurrierten. Auf der einen Seite standen die Dogmatiker, zu denen der Industrieminister Hilary Minc, Jakub Berman, Aleksander Zawadzki und Roman Zambrowski gerechnet wurden. Sie verfolgten das Ziel einer möglichst exakten Kopie der Indus146 147 148 149 150
Ebd., S. 78. Ebd., S. 82. Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 93. Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 83. ˙ ˙ Stanisław Zerko, Gomułka, Władysław, in: Przemysław Hauser/Stanisław Zerko (Hrsg.), Słownik polityków polskich XX wieku [Handbuch der polnischen Politiker des 20. Jahrhunderts] (Pozna´nskie słowniki biograficzne), Posen 1998, 90–95, hier S. 91 f.
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trialisierung, wie sie in der Sowjetunion während der 30er Jahre vollzogen wurde. Das beinhaltete eine Umstrukturierung der Wirtschaft und ihrer Organisation sowie eine forcierte Industrialisierung. Gomułka gehörte zusammen mit Franciszek Fiedler, Adam Schaff, Stefan J˛edrychowski und Edward Ochab zu denjenigen, die sich ausdrücklich nicht am sowjetischen Vorbild orientieren wollten.151 Einer der Hauptkonfliktpunkte war die Frage, wie schnell eine Entwicklung hin zum Sozialismus erfolgen sollte. Gomułka setzte sich hier für einen evolutionären Weg ein, bei dem die gesellschaftliche Akzeptanz und somit die Realisierbarkeit der Maßnahmen als Ganzes stark berücksichtigt werden sollte. Dort, wo der gesellschaftspolitische Preis für die Umsetzung der Reformen hin zum Sozialismus zu hoch war, sollte darauf verzichtet werden.152 Minc153 hingegen, der Hauptvertreter der Dogmatiker, wollte möglichst rasch den gesellschaftlichen Wandel von oben realisieren.154 Bei Gomułka hatten daher wirtschaftliche Fragen nicht denselben hohen Stellenwert wie bei Minc, obwohl Gomułka ebenso eine straff organisierte Zentralverwaltungswirtschaft anstrebte.155 1948 wurde Gomułka schließlich politisch ausgeschaltet. Sein Einsatz für einen „polnischen Weg zum Sozialismus“ wurde gegen ihn gewendet, und seine Parteirivalen Minc, Bierut, Berman, Ochab und Franziszek Jó´zwiak warfen ihm 1948 „rechtsnationalistische Abweichungen“ vor. Unter diesem Vorwand wurde er sukzessive seiner Ämter enthoben. Im August 1948 verlor Gomułka seinen Posten als Generalsekretär der PPR, sein Nachfolger wurde Bierut. Das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete wurde im Januar 1949 aufgelöst. Dieses Datum markiert gleichzeitig das offizielle Ende der Übernahme der Neuen Gebiete. Nach dem Sieg der – was die Wirtschaftspolitik angeht – dogmatischen Kommunisten wurde die Zentralisierung der gesamtpolnischen Verwaltung in Angriff genommen. War der Zeitraum von 1945 bis 1949 dadurch gekennzeichnet, dass eine umfassende Verwaltung eingerichtet wurde, sollte nun die Administrationsstruktur so umgestaltet werden, dass „Kommandos“ von den Zentralbehörden wie dem Präsidium des Nationalrates rasch umgesetzt würden. Im Rahmen dessen wurde nicht mehr zwischen den Neuen und Alten Gebieten unterschieden. Kraft Ge151 Vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 50 f. 152 Wojciech Morawski, Poglady ˛ gospodarcze Władysława Gomułki, in: Elz˙ bieta Ko´scik/Tomasz Głowi´nski (Hrsg.), Gospodarka i Społecze´nstwo w czasach PRL-u (1944–1989) (Wrocławskie Spotkanie z Historia˛ Gospodarcza), ˛ Breslau 2007, 326–332, hier S. 327. 153 Minc war Kommunist und Mitglied der PPR, wo er dem dogmatischen Flügel angehörte. Er war somit starker Verfechter eines „radikalen“ Sozialismus. Von 1944 bis 1956 war er Mitglied des KRN sowie des Sejm, dem polnischen Parlament. Von 1944 bis 1947 war er Minister für Industrie, anschließend bis 1949 Minister für Industrie und Handel. Zudem war er Mitglied in allen wichtigen Entscheidungsorganen: 1948–1959 Mitglied des Zentralkomitees der PZPR, 1949–1956 Vorsitzender der PKPG, zusammen mit Bierut und Berman Teil der sog. „Trojka“ während der Phase des Stalisnismus; vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie ˙ Anm. 38, S. 125), S. 109; Stanisław Zerko, Minc, Hilary, in: Przemysław Hauser/Stanisław ˙ Zerko (Hrsg.), Słownik polityków polskich XX wieku [Handbuch der polnischen Politiker des 20. Jahrhunderts] (Pozna´nskie słowniki biograficzne), Posen 1998, 224–225, hier S. 225. 154 Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 51. 155 Vgl. Morawski, Poglady ˛ gospodarcze Władysława Gomułki (wie Anm. 152), S. 328.
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setzes vom 20. März 1950 über die „Territorialen Organe der Staatsmacht“ wurden die Organe zur territorialen Selbstverwaltung sowie die lokale Verwaltung der Regierung aufgelöst.156 Die Behörden auf den Ebenen der Wojewodschaften, Kreise und Gemeinden sowie die Ämter der Wojewoden, Landräte und Gemeindevorsteher wurden abgeschafft. Die Kompetenzen wurden auf die Nationalräte übertragen, vollstreckendes und verwaltendes Organ wurde das Präsidium.157 Diese Struktur blieb über das Jahr 1956 hinaus prägend. 3.3. Die Operationsgruppen und die Maßnahmen zur Übernahme der deutschen Wirtschaft (1945–1946) Im Sommer 1944 waren die Gebiete östlich der Curzon-Linie, die aus heutiger Sicht ehemaligen polnischen Ostgebiete, ebenso wie die ostpolnischen Städte Białystok, Lublin und Przemy´sl durch die Rote Armee und die polnischen Armeen – die Heimatarmee („Armia Krajowa“) sowie die kommunistische Volksarmee („Armia Ludowa“) – von der Wehrmacht befreit.158 Von Januar bis Mai 1945 wurden die ostdeutschen Gebiete durch die Rote Armee übernommen. Anschließend stand Polen vor zahlreichen Herausforderungen. In den Alten Gebieten Polens musste die Verwaltung wiederaufgebaut werden, in den Neuen musste ex nihilo eine polnische Verwaltung etabliert werden. Zusätzlich war es aus wirtschaftspolitischer Sicht notwendig, einen Überblick über die polnische Wirtschaft zu erhalten, da das Deutsche Reich im Generalgouvernement wie in den eingegliederten Ostgebieten wirtschaftlich tätig war. Das Problem fehlender Informationen über die wirtschaftliche Lage war damit nicht nur auf die deutschen Ostgebiete beschränkt. Die in den Alten Gebieten Polens auftretenden Probleme waren denjenigen in den Neuen Gebieten teilweise ähnlich. In beiden Fällen musste es gelingen, eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Wirtschaft vorzunehmen und auf der Grundlage der Befunde eine weitere Strategie zu entwickeln. Unter anderem hierfür wurden die Operationsgruppen geschaffen. Die Operationsgruppen waren eine Einrichtung, die im Juli 1944 ins Leben gerufen wurde. Ihre Arbeit endete etwas mehr als ein Jahr später im September 1945. Sie waren dem Wirtschaftskomitee des Ministerrates sowie ab dem 6. Januar 1945 dem Industrieministerium unterstellt. Die Operationsgruppen hatten unter anderem die Aufgabe, die Industrieanlagen in den Neuen Gebieten zu übernehmen.159 Sie lösten das praktische Problem, dass auf polnischer Seite nach dem Krieg nur wenige Informationen über die Wirtschaft in den Neuen Gebieten vorlagen.160 Sie waren meist kurz hinter der Front tätig und sollten die Betriebe vor unnötigen Zerstörungen schützen sowie die rasche Ingangsetzung der Betriebe gewährleisten.161 Damit 156 157 158 159 160 161
DzURP 1950, Nr. 14, Pos. 129. Vgl. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 41. Jaworski/Lübke/Müller, Kleine Geschichte Polens (wie Anm. 116, S. 137), S. 330. Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 65. Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 5. Ebd., S. 15.
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war eine rasche Begutachtung der Betriebe verbunden. Diese Aufgaben mussten auch die nachfolgenden Behörden bewältigen. Die Befehle an die Kreisbevollmächtigten, die ebenfalls seit Mai 1945 an ihren zugewiesenen Ort ankamen, beinhalteten die Förderung guter Beziehungen zu den sowjetischen Militärkommendaturen, die Bindung an die lokal vorhandene polnische Bevölkerung, eine rasche Inspektion der Region und die Sammlung von Informationen zum Stand der Zerstörungen, der Saat und des Inventars. Auch wurde die rasche Vorbereitung des Empfangs polnischer Siedler empfohlen.162 Eines der Probleme dabei war, dass die Operationsgruppen häufig vor den Behörden selbst vor Ort waren, was ihre Arbeit erheblich erschwerte.163 Zwar hatte die Provisorische Regierung im Februar 1945 Bevollmächtigte ernannt – zuständig für die Neuen Gebiete war Eugeniusz Szyr –, um die Zusammenarbeit zwischen zivilen Behörden und den sowjetischen Militärkommendaturen zu koordinieren.164 Die Zusammenarbeit zwischen den Militärbehörden der Roten Armee und den polnischen Behörden verlief jedoch nicht reibungslos. Zusätzlich waren die Operationsgruppen personell nur schwach ausgestattet. Im Januar 1945 standen für Niederschlesien nur 250 Personen zur Verfügung, was sich jedoch in den folgenden Monaten änderte.165 Zusätzlich standen sie in Konkurrenz zu den Militärkommendaturen, die die Rote Armee in den eroberten Gebieten einrichtete.166 Die Machtkonkurrenz vor Ort betraf auch das vorhandene Anlagevermögen. Per Dekret des Ministerrates vom 2. März 1945 wurde eine „Provisorische Staatliche Verwaltung“ (Tymczasowy Zarzad ˛ Pa´nstwowy, TZP) installiert.167 Ihre Aufgabe war es, alle beweglichen und unbeweglichen Güter in den Alten wie Neuen Gebieten in Obhut zu nehmen. Am 19. April 1945 gab das Ministerium für Öffentliche Verwaltung ein Rundschreiben heraus, in dem die Beendigung der Vollmachten sowie der Tätigkeit der Operationsgruppen in den Alten Gebieten bekanntgegeben wurde.168 In der Nacht vom 20. auf den 21. April wurde auf Initiative der PPR in der Behörde des Generalbevollmächtigten für die Westgebiete eine überparteiliche Kommission aus PPR, PPS und SL gebildet. Am 22. April nahmen die Operationsgruppen in Niederschlesien ihre Tätigkeit zu einem Zeitpunkt auf, an dem sie bereits einige Erfahrung gesammelt hatten.169 Wenige Wochen zuvor, am 14. März 1945, wurden die Neuen Gebiete durch die Provisorische Regierung in vier Verwaltungsbezirke eingeteilt, Stanisław Piaskowski wurde verantwortlich für Niederschlesien. Die übrigen ´ ask drei Verwaltungsbezirke waren das Oppelner Schlesien („Sl ˛ Opolski“), West162 163 164 165 166
Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 101. Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 371. Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 39 f. Ebd., S. 120. Die Militärkommendaturen unterstanden den sog. „Abteilungen des Kommendaturdienstes“ (Wydziały Słuz˙ by Komendanckiej). Der Leiter der Abteilung des Kommendaturdienstes der I. Ukrainischen Front, die auch Niederschlesien befreite, war Oberstleutnant Riepin; vgl. ebd., S. 33. 167 DzURP 1945, Nr. 9, Pos. 45. 168 Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 22 f. 169 Ebd., S. 6.
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pommern („Pomorze Zachodnie“) sowie das Ermland mit den Masuren („Warmia i Mazury“).170 An der Spitze der Verwaltung jedes Gebietes stand somit ein Bevollmächtigter der Provisorischen Regierung. Die aus der deutschen Verwaltung stammenden „Kreise“ in den Neuen Gebieten wurden zu größeren Kreisen – Obwody – zusammengefasst, die Vertreter der Regierung leiteten. Zwischen ihnen und den vier Bevollmächtigten für die Neuen Gebiete waren die Bevollmächtigten des Wirtschaftskomitees des Ministerrates sowie des Industrieministeriums eingeordnet.171 Der Beschluss des Ministerrates vom 14. März bezog sich auf Gebiete, die noch nicht von der Roten Armee übernommen wurden und somit noch außerhalb der Reichweite der polnischen Exekutive lagen. Am 7. April übergab die Provisorische Regierung das Projekt zur Übernahme der deutschen Ostgebiete sowie die entsprechenden Ausführungsverordnungen dem Minister für Öffentliche Verwaltung Edward Ochab. Am 11. April 1945 wurde das PPR-Mitglied Ochab Generalbevollmächtigter für die „Wiedergewonnenen Gebiete“, am 1. Mai wurde das „Büro für die Westgebiete“ dem MAP – und somit Ochab – unterstellt.172 In den meisten Fällen waren es nicht die Operationsgruppen, die als erstes vor Ort waren, sondern die Militärkommendaturen der Roten Armee, die sofort nach der militärischen Übernahme installiert wurden. Eine Übernahme der Gebiete und somit auch der Industrie durch die Operationsgruppen bedeutete also häufig auch eine Übergabe der Gebiete durch die Militärkommendaturen an die polnischen Organe. In Niederschlesien wurde dieser Prozess Ende Mai 1945 in Radebeul bei Dresden offiziell vollzogen. Auf polnischer Seite kamen hierfür der Leiter des Verwaltungsbezirks Niederschlesien und Regierungsbevollmächtigte Piaskowski sowie der Bevollmächtigte des KERM und des Industrieministeriums Jan Iwa´nski, auf sowjetischer Seite die Führung der I. Ukrainischen Front der Roten Armee. Im folgenden Juli wurden die Militärkommendaturen in der Mehrzahl der Städte aufgelöst. Der Chef des Generalstabs der polnischen Armee Generaloberst Władysław Korczyc wurde hierüber am 9. Juli in Kenntnis gesetzt. Nur wenige Städte, hierunter Breslau, Liegnitz und Glogau, blieben jedoch zunächst in sowjetischer Hand.173 Die Schaffung des Industrieministeriums am 6. Januar 1945 hatte für die Operationsgruppen tiefgreifende Folgen. Die Operationsgruppen unterstanden zwar Ende 1944 dem Ressort für nationale Wirtschaft und Finanzen der Regierung, jedoch hatte dieses in der Praxis noch nicht den Einfluss und die Möglichkeiten, eine für alle anderen Behörden bindende Entscheidung bezüglich der Konzeption174 für die Operationsgruppen erfolgreich durchzusetzen. Dies änderte sich, als Minc das neue 170 171 172 173 174
Magierska, Anfänge (wie Anm. 14, S. 18), S. 249. Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 26. Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 73. Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 35. Im Ressort für nationale Wirtschaft und Finanzen konkurrierten drei verschiedene Konzeptionen für die Operationsgruppen: Im 1. Fall wurde eine Integration in die polnische Armee erwogen, im 2. Fall die Schaffung zahlreicher kleiner Gruppen mit Fachleuten verschiedener Branchen sowie politischer Parteien. Das 3. diskutierte Konzept sah vor, dass die Operationsgruppen als Quasi-Beamte die Ankunft der Behörden vorbereiten, ohne selbst beim Wiederaufbau der Wirtschaft tätig zu sein; vgl. ebd., S. 17 ff.
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Industrieministerium übernahm. Das Wirtschaftskomitee des Ministerrates KERM beschloss am 16. Januar bezüglich der Operationsgruppen, dass sie in Form einer möglichst hohen Zahl kleiner Gruppen von Fachleuten verschiedener politischer Zugehörigkeit organisiert werden sollten – ihre Zahl stieg Anfang 1945 auf etwa 750 Mitglieder, im März waren es 2000.175 Zudem wurden sie ausführendes Organ aller im Wirtschaftskomitee vertretenen Ministerien mit Ausnahme des Finanzministeriums und des Ministeriums für Verkehr.176 Sie erhielten daher auch erst im Januar die Bezeichnung „Operationsgruppen des Wirtschaftskomitees des Ministerrates sowie des Industrieministeriums“ („Grupy Operacyjne Komitetu Ekonomicznego Rady Ministrów i Ministerstwa Przemysłu“). Im Industrieministerium war der Hauptmann und Ingenieur Alfred Wi´slicki für die Operationsgruppen verantwortlich, der wiederum direkt dem Industrieminister unterstand. Die formale Rechtslage der verlassenen Vermögen in den Neuen Gebieten wurde durch Dekrete des KRN festgelegt, die im März, Mai und Juli 1945 verabschiedet wurden.177 Sie regelten, wie mit den verlassenen und aufgegebenen Vermögen und Gütern verfahren werden sollte. Als „verlassen“ sollte demnach betrachtet werden, was die Eigentümer aus Gründen verließen, die nicht von ihnen selbst abhingen, womit in erster Linie Deportation und Flucht gemeint war. Diese sollten den Eigentümern zurückgegeben werden. Als „aufgegeben“ galten unter anderem diejenigen Industriebetriebe, deren Eigentümer Deutsche oder das Deutsche Reich waren. Diese gingen in staatlichen Besitz über.178 Diese Differenzierung war unter anderem deswegen notwendig, weil in den Neuen Gebieten auch Menschen polnischer Abstammung lebten, die auch die polnische Staatsangehörigkeit erhielten.179 Die Aufsicht über die verlassenen und aufgegebenen Güter oblag dem „Allgemeinen Provisorischen Amt für Staatliche Verwaltung“ („Główny Urzad ˛ Tymczasowy Zarzadu ˛ Pa´nstwowego“, GUTZP), das wiederum dem Finanzministerium zugeordnet war. In der Praxis zeigte sich, dass zahlreiche Organe für die Übernahme und Ingangsetzung der Industrie zuständig waren – neben den Operationsgruppen z. B. die zentralen Industrievereinigungen und die Selbstverwaltungsorgane.180 Durch diese Maßnahmen wurde in den Neuen Gebieten die Nationalisierung der Industrie dem eigentlichen Verstaatlichungsgesetz schließlich vorweggenommen.181 175 176 177 178 179
Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 20, 26. Ebd., S. 19. DzUPR 1945, Nr. 9, Pos. 45; Nr. 17, Pos. 95; Nr. 30, Pos. 79. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 44. Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass vorher das Ressort für nationale Wirtschaft und die Finanzen des PKWN im September 1944 eine Richtlinie mit dem Titel „Organisationsrichtlinien für die Industrie in Polen (Wytyczne organizacyjne dla przemysłu w Polsce)“ beschloss. Hier wurde unter anderem festgelegt, dass Industriebetriebe, die dem Deutschen Reich, deutschen Gesellschaften oder Personen deutscher Nationalität gehörten, nun Eigentum des polnischen Staates seien. Angesichts des Zeitpunktes der Verabschiedung der Richtlinie muss hervorgehoben werden, dass sie sich auf die Betriebe bezog, die während der deutschen Besatzung in den Alten Gebieten errichtet wurden bzw. von Deutschen dort hinterlassen wurden; Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 12. 180 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 45. 181 Im März 1946 wurde ein weiteres Dekret veröffentlicht, das sich mit den verlassenen und auf-
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Die Privatindustrie verschwand jedoch nicht schon mit der deutschen Bevölkerung. In zahlreichen Fällen konnten Repatrianten, die eigene Maschinen und Werkzeug mitbrachten, Betriebe mit kleiner Belegschaft führen.182 Hierfür wurden sie von der Verwaltung ermächtigt. Repatrianten wurden all diejenigen Polen genannt, die aus Gebieten außerhalb Polens in den in der Potsdamer Konferenz genannten Grenzen stammten. Dies betraf insbesondere die Polen, die östlich der CurzonLinie lebten, und polnische Rückkehrer aus dem Ausland. In der Wahrnehmung der Bevölkerung wurden diese Betriebe von den „Ermächtigten“ in deren Namen geführt. Formalrechtlich jedoch gehörten diese Betriebe dem Staat, verwaltet wurde diese Struktur durch das Allgemeine Liquidationsamt GUL.183 Zwar versuchten die Direktionen der lokalen Industrie (Dyrekcja Przemysłu Miejscowego) hier einzugreifen und die Zahl dieser sog. privaten Betriebe zu begrenzen. Während einer Konferenz am 6. Juli 1946 im Industrieministerium griff Eugeniusz Szyr jedoch klar zugunsten der Privatinitiative ein. Schon am 15. März 1945 machte das Ministerium im Rundschreiben Nr. 116 deutlich, dass diese Eigeninitiative zur Inbetriebnahme und Organisation der Produktion zu unterstützen sei, im Rundschreiben vom 10. August 1945 wurde sogar die Reprivatisierung der Betriebe verlangt, die den lokalen Industriedirektionen unterstanden.184 Auf den ersten Blick schien die Bedeutung der Privatindustrie bis 1946 stark anzusteigen. Von 1945 bis 1946 wuchs die Zahl der hier Beschäftigten von 1.816 auf 4.493.185 Dieses Wachstum vollzog sich jedoch auf niedrigem Niveau.186 Zudem war Minc ein Industrieminister, der schon damals die Installation einer straffen Wirtschaftsverwaltung forderte. Dass sich das Industrieministerium trotzdem für die Privatinitiative einsetzte, steht dazu in einem klaren Widerspruch. Er lässt sich dadurch teilweise auflösen, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Ingangsetzung der Industrie absolute Priorität eingeräumt wurde und die Verwaltung sich noch nicht in der Lage sah, dies zu gewährleisten. Die Unterstützung der Privatwirtschaft endete jedoch, sobald die Administration Zugriff auf die Wirtschaft erhielt.
182 183 184 185 186
gegebenen Werken beschäftigte. In dessen Rahmen wurde das „Allgemeine Liquidationsamt“ („Główny Urzad ˛ Likwidacyjny, GUL“) geschaffen; ebd. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 191. Ebd. Ebd., S. 192. Ebd., S. 192 f. Im März 1948 erreichte dieser Zweig seinen Höhepunkt mit 1.249 privaten Industriebetrieben und 7.793 Beschäftigten. Bis Dezember 1950 gingen diese Werte auf 155 Betriebe mit 749 ´ Beschäftigten zurück; Vgl. Marian Muszkiewicz, Srodowisko pozarolniczego sektora gospo´ asku darki prywatnej na Dolnym Sl ˛ (1945–1950) – cechy wybrane [Die Umgebung des nichtlandwirtschaftlichen Privatsektors der Wirtschaft in Niederschlesien (1945–1950) – ausgewählte Merkmale], in: Elz˙ bieta Ko´scik/Tomasz Głowi´nski (Hrsg.), Społecze´nstwo i gospodarka w badaniach historycznych – dokonania i perspektywy. W 60-lecie polskich bada´n statystycznych ´ asku i gospodarczych na Dolnym Sl ˛ [Gesellschaft und Wirtschaft in historischen Studien – Leistungen und Perspektiven. 60 Jahre polnische statistische und wirtschaftliche Studien in Niederschlesien] (Wrocławskie Spotkanie z Historia˛ Gospodarcza,˛ Bd. I), Breslau 2006, 182–202, hier S. 190.
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Mitte Juli wurde die Auflösung der Operationsgruppen für den 1. August 1945 beschlossen.187 Wenige Wochen zuvor, im Juli 1945, war der Prozess der Besetzung der Verwaltungen in den Kreisen abgeschlossen, und es kam zu ersten Versammlungen der Kreisbevollmächtigten.188 Die Auflösung der Operationsgruppen hinterließ dennoch ein Vakuum, das die Delegatur des Industrieministeriums ausfüllen musste. Der Delegat bzw. der vom Industrieministerium ernannte Sonderbeauftragte für Niederschlesien begann seine Tätigkeit Anfang August 1945. Der Übergang von den Operationsgruppen zum Sonderbeauftragten verursachte jedoch zahlreiche Probleme, da die Bevollmächtigten des KERM ihre Posten verließen und eine Neubesetzung so schnell nicht möglich war. In Ermangelung präziser Anweisungen und Fachleuten, denen diese Gebiete vertraut waren, verlief die Übernahme der Gebiete weit langsamer als ursprünglich geplant.189 Unter anderem wegen dieser Probleme stattete das Industrieministerium die vier Sonderbevollmächtigten – in Niederschlesien war das zunächst Tadeusz Gede190 – mit umfassenden Rechten in allen die Industrie betreffenden Angelegenheiten aus.191 Zum Zwecke der Beherrschung Niederschlesiens wurde es in fünf Kreise aufgeteilt: Zgorzelec, Waldenburg, Weistritz, Breslau und Neusalz.192 Die genaue Struktur der Verwaltungsorganisation, die das Industrieministerium in den Neuen Gebieten installierte, änderte sich sehr häufig, und sie ist auch nicht für jeden Zeitpunkt ermittelbar. Zum Zeitpunkt ihrer Auflösung193 existierten 16 Referate und jeweils eine Abteilung für allgemeine Organisation, Technik und für Investitions- und Umsatzkapital für die Industrie der Wiedergewonnenen Gebiete (Wydział Funduszu Inwestycyjno-Obrotowego Przemysłu Ziem Odzyskanych).194 Ihre Hauptaufgabe war die Übernahme der Betriebe, die noch in sowjetischer Hand waren. Hierbei waren die Delegaturen weniger effizient als die Operationsgruppen vor ihnen.195 Wichtiger war jedoch hier der Auftrag, die praktisch allen Behörden als Handlungsauftrag mitgegeben wurde: die Sicherung und Ingangsetzung von Industriebetrieben. Zu diesem Zwecke schuf die Delegatur im Mai 1946 das „Wirtschaftsbüro der Maschinen und technischen Einrichtungen“ („Biuro Gospodarki Maszynami i Urzadzeniami ˛ Technicznymi“, GMUT), welches wiederum die „Spezialkampagne des Wirtschaftsbüros der Maschinen und technischen Einrichtungen“ 187 Anna Magierska, Przywróci´c Polsce. Przemysł na Ziemiach Odzyskanych 1945–1946 [Polen Wiederherstellen. Die Industrie in den Wiedergewonnenen Gebieten 1945–1946], Warschau 1986, S. 255. 188 Dies., Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 103. 189 Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 97. 190 Magierska, Przywróci´c Polsce (wie Anm. 187), S. 276; Der Posten wurde jedoch noch zweimal neu besetzt, am 5. März 1946 mit dem Ingenieur Józef Szymanski, am 1. November 1946 durch Stefan Janicki, der dies bis zur Auflösung der niederschlesischen Delegatur am 31. Oktober 1947 verantwortlich blieb; vgl. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 100. 191 Ebd., S. 97. 192 Ebd., S. 98. 193 Die Delegaturen wurden im Laufe des Jahres 1947 aufgelöst, in Niederschlesien am 31. Oktober 1947; vgl. Magierska, Przywróci´c Polsce (wie Anm. 187), S. 280 f. 194 Genauer hierzu vgl. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 99 ff. 195 Ebd., S. 101 ff.
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(„Akcja Specjalna Gospodarki Maszynami i Urzadzeniami ˛ Technicznymi“) ins Leben rief, deren Leiter der Ingenieur Aleksander Tafet wurde.196 Die Akcja Specjalna GMUT erfüllte zwei Aufgaben. Eine war die Sicherung und Nutzbarmachung von Maschinen, mit denen dann neue Firmen geschaffen wurden. Auf diese Weise sind etwa eine Motorenfabrik in Hundsfeld und eine Werkzeugmaschinenfabrik in Breslau, dazu in Schweidnitz eine Fabrik für Elektromaschinen sowie eine Fabrik für elektrische Messgeräte und Uhren entstanden. Insgesamt wurden so etwa 140 kleine Industrie- und Handwerksbetriebe in den Industrien geschaffen, die in Niederschlesien von hoher Bedeutung waren: der Textil-, Metall-, elektrotechnischen und Rüstungsindustrie.197 Die effektive Nutzung des vorhandenen Anlagekapitals war also klare Handlungsansweisung. Auch der zweite Aufgabenkomplex der Spezialkampagne der GMUT kann als Beleg dafür dienen, dass auf Seiten der Verwaltung die Überzeugung vorherrschte, Niederschlesien sei in erster Linie eine reichhaltige Quelle für Maschinen und Gebäude. Maschinen und Lagerbestände wurden in großer Zahl – Jankowski geht von 7.100 Werkzeugmaschinen und 3.300 anderen Maschinen mit einem Gesamtwert von 420 Millionen zł aus – in zentrale Lager gebracht. Zwei Lager befanden sich in Breslau und in Neusalz.198 Ähnliche Umgangsmuster lassen sich auch an anderer Stelle beobachten. Im Rahmen der Zusammenlegungen von Betrieben wurden ebenfalls freigewordene Ausrüstungen und Maschinen akkumuliert. Während der zweiten Hälfte des Jahres 1946 wurden an über 370 registrierten Lagern über 12.000 verschiedene Arten von Maschinen aufbewahrt. Hinzu kamen 8.700 Maschinen für die Metall- und Holzindustrie, die an rund 450 Orten gelagert wurden.199 Im Oktober 1947, zum Zeitpunkt der Auflösung der Delegatur, empfahl der Sonderbevollmächtigte Stefan Janicki die Fortsetzung der Sicherung der vorhandenen Maschinen durch die Industrieabteilung der Wojewodschaft. Die polnischen Nordund Westgebiete wurden so teilweise zu einem Reservoir für Maschinen und Werkzeuge. Im Jahr 1946 wurde die Verstaatlichung der gesamten polnischen Industrie in Angriff genommen. Das Programm des PKWN vom Juli 1944 beschäftigte sich als erstes offizielles Dokument mit der Frage des Eigentums über die Industriebetriebe.200 Das Gesetz vom 3. Januar 1946 – das einzige polnische Verstaatlichungsgesetz201 – beinhaltete jedoch keine genauen Anweisungen für die Neuen Gebiete. Diese Anordnungen wurden spätestens durch das Gesetz vom 13. November 1945 vorweggenommen. Es sah vor, dass das Eigentum der zum Feind geflüchteten Bewohner des ehemaligen Deutschen Reiches sowie Danzigs ex lege in den Besitz des polnischen Staates übergeht. Ausgenommen war nur der Besitz der in Danzig 196 197 198 199 200
Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. Ebd., S. 109 f. Ebd., S. 110. Vgl. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 44; Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 111. 201 Nicolas Spulber, The Economics of Communist Eastern Europe, Westport 1957, S. 59.
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lebenden Polen.202 Faktisch wurde mit diesem Gesetz die Industrie der neuen Gebiete verstaatlicht. Das Nationalisierungsgesetz hatte noch eine weitere Funktion: Es führte die Kategorie der „Schlüsselindustrien“ ein, Industrien von hoher Bedeutung für die nationale Wirtschaft. Das entscheidende Element war jedoch nicht die Bezeichnung, sondern ihre Organisationsstruktur. Artikel 3 klassifizierte 17 Industriebereiche, unter anderem den Bergbau, die Hütten-, die Elektro- und die Textilindustrie, als für die nationale Wirtschaft bedeutend. Betriebe, die zu diesen 17 Zweigen gehörten, gingen daher automatisch und ohne Berücksichtigung der jeweiligen Eigentumsverhältnisse in Staatsbesitz über. Dasselbe galt ungeachtet des Zweigs für alle Industriebetriebe, in denen pro Schicht mehr als 50 Beschäftigte arbeiten konnten. Von der letztgenannten Regelung waren nur die Bau- und Installationsbetriebe ausgenommen.203 Der Ministerrat ließ dem Verstaatlichungsgesetz am 11. April 1946 eine Ausführungsverordnung folgen. In diesem Rahmen wurde die „Allgemeine Kommission zur Verstaatlichung der Betriebe“ („Główna Komisja do spraw Upa´nstwowienia Przedsi˛ebiorstw“, GKdsUP) sowie – auf der Ebene der Wojewodschaften – die „Wojewodschafts-Kommissionen zur Verstaatlichung der Betriebe“ („Wojewodzkie Komisje do spraw Upa´nstwowienia Przedsi˛ebiorstw“, WKdsUP) geschaffen. Sie unterstanden beide dem „Zentralen Planungsamt“ („Centralny Urzad ˛ Planowania“, CUP). Leiter der GKdsUP wurde Leon Kurowski, sein Vertreter Jan Topi´nski.204 Das Nationalisierungsgesetz diente auch der Vereinheitlichung der Organisationsstruktur der polnischen Industrie.205 Im Februar 1945 hatte das Zentralkomitee der PPR bereits erfolgreich die Einrichtung der zentralen Industrieverwaltungen durchgesetzt, von denen insgesamt 1945 14 geschaffen wurden. Sie wurden auf Beschluss des KERM im Oktober 1946 aus dem Industrieministerium ausgegliedert und in Staatsbetriebe umgewandelt, die den Status einer Rechtsperson erhielten und die Durchführung der Wirtschaftspläne in den jeweiligen Branchen überwachten.206 Zusätzlich wurden etwa 100 Vereinigungen geschaffen, die nach dem Branchenund Regionalprinzip organisiert waren und deren Organisationsstruktur sich nach 1946 noch mehrmals änderte.207 Im September 1946 nahm die WKdsUP in Breslau ihre Arbeit auf. Ihr Leiter wurde auf Anweisung von Gomułka der Vorsitzende des Breslauer Berufungsgerichts, Antoni Olbromski.208 Die Kommission war ein Gremium von beinahe 30 Personen, in denen zahlreiche Ministerien, der Nationalrat der Wojewodschaft Breslau, die Berufsvereinigungen, die Genossenschaften und der Privatsektor vertreten
202 203 204 205 206 207 208
Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 45. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 114. Ebd., S. 115. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 45. Ebd., S. 44 f. Genauer zu den Vereinigungen vgl. ebd. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 116.
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waren.209 Die Arbeit dieser Kommission war stark von dem Problem geprägt, dass Informationen über die Gebiete fehlten und die Arbeit der verschiedenen Organe – die Kreisreferate für Verpflegung und Handel, die staatlichen Vereinigungen der Lebensmittelindustrie, die Industrie- und Handelskammern sowie die Organisationen der Genossenschaften – koordiniert werden musste. Die Aufgabe der Koordinierung und Informationssammlung übernahm unter anderem ein neu geschaffenes Organ: das „Referat zur Verstaatlichung der Unternehmen“ („Referat Upa´nstowienia Przedsi˛ebiorstw“). Dieses musste seine Industrieverzeichnisse zunächst an das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete schicken. Dieser Vorgang war ungewöhnlich, da das Referat organisatorisch der Abteilung „Verpflegung und Handel“ der WKdsUP zugeordnet war. Letzterem wurden die Industrieverzeichnisse jedoch erst Ende 1946 durch das MZO zugesandt.210 An diesem Beispiel wird deutlich, dass das MZO, dessen vordringlichste Aufgabe die Organisation der Aussiedlung von Deutschen und der Besiedlung durch die polnische Bevölkerung war, auch in der Wirtschaftspolitik Kompetenzen besaß. Die intensive Tätigkeit der Kommission dauerte etwa ein Jahr bis August 1947, zur tatsächlichen Auflösung der WKdsUP kam es jedoch erst am 10. September 1948.211 In der Zwischenzeit hatte die Kommission über 5.740 Vorgänge auf Verstaatlichung bearbeitet, von denen 5.733 positiv beschieden wurden. Nur in zwei Fällen war eine Entschädigung vorgesehen.212 Aus der hohen Zahl der verstaatlichten Betriebe lässt sich klar ablesen, dass nicht nur die etwa 3.200 Industriebetriebe, sondern auch zahlreiche Handwerksbetriebe erfasst wurden. Hinzu kommt, dass es sich hierbei nur um kleine und mittlere Betriebe handelte. Großbetriebe fielen unter die Zuständigkeit der GKdsUP. Praktisch stellten die zahlreichen Zwangsvereinigungen, die es auf Landes- wie auf Regionalebene gab, zusammen mit den Nationalisierungen ein wichtiges Instrument zur Zentralisierung der Wirtschaft dar. Das war auch das primäre Ziel. Im beschriebenen Zeitraum 1945/46 erhielt die polnische Exekutive Zugriff auf die ehemaligen deutschen Ostprovinzen. Somit wurde in dieser Zeit auch die Grundlage für eine zentrale Bewirtschaftung gelegt, und es kam zum ersten mehrjährigen Wirtschaftsplan. 3.4. Die Etablierung der Planwirtschaft 1947–1949: Der Dreijahresplan Die Rolle der Neuen Gebiete im Rahmen der polnischen Wirtschaftspolitik herauszuarbeiten ist nicht unproblematisch. In den Jahren 1945 und 1946 war es das Ziel, die Neuen Gebiete zu erfassen und die Grundlage für eine Wiederaufnahme zu ermöglichen. Ab 1947 sollte die Wirtschaft „ausgebaut“ werden, was bedeutet, dass die vorhandenen Kapazitäten reaktiviert und anschließend genutzt werden sollten. Der Wortlaut des Dreijahresplans unterstreicht, dass die Kapazitäten der Neuen Gebiete für diese Planung fest eingeplante Größen darstellten. Für die Frage nach dem 209 210 211 212
Ebd. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 117 f.
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Erfolg des wirtschaftlichen Wiederaufbaus ist dieser Zeitraum daher von besonderer Bedeutung. Die polnische wirtschaftshistorische Forschung diagnostiziert auch deshalb in den Jahren 1947/48 eine Zäsur.213 Die Phase nach 1947, deren Ende in Polen nach Einschlagen des sog. „Neuen Kurses“ 1953 gesehen wird, wird hierbei als Epoche des Stalinismus bezeichnet.214 In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutete das eine Orientierung am sowjetischen Wirtschaftsmodell.215 Die Auswirkungen dieser Zäsur, die sich zunächst auf wirtschaftspolitischer Ebene abspielte, zeigten sich erst mit Verzögerung in der ökonomischen Entwicklung, wobei hier in erster Linie der Sechsjahresplan zu nennen ist. In den Zeitraum von 1947 bis 1956 fallen die Aktivitäten mehrerer Institutionen und Pläne. In erster Linie betrifft dies den Dreijahresplan. Er erhielt am 2. Juli 1947 auf Beschluss des KRN Gesetzeskraft und war der erste mehrjährige Wirtschaftsplan Polens nach dem Zweiten Weltkrieg.216 Er trug den Titel „Plan des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ („Plan Odbudowy Gospodarczej“) und diente dem Ziel, die Wirtschaft Polens wieder aufzubauen und den Lebensstandard zu steigern, indem das „System vertieft“ wird und „die gesellschaftlich-wirtschaftliche Struktur“ umgebaut wird.217 Dieses Programm beinhaltete die „Liquidierung“ der Kriegsschäden, die Integration der Neuen Gebiete sowie den Abschluss des Wiederaufbaus, mithin das Erreichen des Vorkriegsniveaus. Dazu lag dem Plan „unmissverständlich die Industrialisierung als oberstes und erstes Ziel“ zugrunde.218 Diese Betonung ist deswegen wichtig, weil die polnische Historiographie bisher mehrheitlich ein anderes Bild vom Drei- und Sechsjahresplan gezeichnet hat. Der – positiv konnotierte219 – Dreijahresplan habe hierbei die Konsumgüterindustrie entwickelt und somit eine gute Ausgangslage für den Sechsjahresplan geschaf213 Vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 129 ff.; Ryszard Sudzi´nski, Stalinizacja Polskiej Gospodarki – Uwarunkowania Wewn˛etrzne i Zewn˛etrzne oraz Przekształcenia Strukturalne (1944–1955) [Die Stalinisierung der polnischen Wirtschaft – innere und äußere Abhängigmachung und strukturelle Umbildung], in: Czasy Nowoz˙ ytne 6 (1999), 117–137, hier S. 121. 214 Vgl. ebd., S. 120 f.; David Turnock, The economy of East Central Europe, 1815–1989. Stages of transformation in a peripheral region, London 2006, S. 296. Andere Autoren sehen das Ende des Stalinismus in Polen 1956; so etwa Tony Kemp-Welch, Dethroning Stalin: Poland 1956 and its Legacy, in: Terry Cox (Hrsg.), Challenging communism in Eastern Europe. 1956 and its legacy (Routledge Europe-Asia studies series), London 2008, 73–96, hier S. 78. 215 Vgl. Ryszard Sudzi´nski, Etapy i Kierunki oraz Metody i Formy Ekonomicznego Uzalez˙ nienia Polski od ZSRR w Latach 1944–1989 na tle Pozostałych Krajów Bloku Komunistycznego [Etappen und Richtungen sowie Methoden und Formen wirtschaftlicher Abhängigmachung Polens von der UdSSR 1944–1993 vor dem Hintergrund der übrigen Länder des kommunistischen Blocks], in: Konrad Rokicki (Hrsg.), W obj˛eciach Wielkiego Brata. Sowieci w Polsce 1944– 1993 [In den Armen des großen Bruders. Die Sowjets in Polen 1944–1993], Warschau 2009, 57–94, hier S. 68 f. 216 DzURP 1947, Nr. 53, Pos. 285. 217 Roszkowski, Historia Polski (wie Anm. 40, S. 125), S. 161 f. 218 Vgl. eine erste Skizze des Wirtschaftsplans vom 10. April 1946, AAN, CUP/2967, S. 1, zit. in: Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 130. 219 Vgl. Kali´nski/Landau, Gospodarka Polski (wie Anm. 324, S. 115), S. 234.
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fen.220 Der Sechsjahresplan hingegen habe durch seine einseitige Fokussierung auf die Schwerindustrie zu „leeren Regalen“221 geführt und so die wirtschaftlichen Probleme der 50er Jahre verursacht. Tokarski betont jedoch, dass dieses Bild nicht der Sachlage entspricht und schon der Dreijahresplan, der im Gegensatz zum Sechsjahresplan in erster Linie vom CUP und von der PPS ausgearbeitet wurde, eine klare Fokussierung auf die Industrie vornahm.222 Das vorherrschende Bild der antagonistischen konkurrierenden wirtschaftspolitischen Konzepte der PPS und der CUP auf der einen und der PPR auf der anderen Seite, bei dem sich die PPR schließlich mit sowjetischer Unterstützung durchsetzte, wird durch diese Argumentation infrage gestellt. Die Darstellung, dass auch die PPS ein „Primat der Industrie“ kannte und der Konflikt zwischen PPS und PPR in den Jahren 1946 bis 1948 daher nicht auf die Formel „Konsumgüterindustrie“ vs. „Investitionsgüterindustrie“223 reduziert werden kann, relativiert die vorherrschende Auffassung, dass der innenpolitische Spielraum Polens durch den Einfluss der Sowjetunion äußerst gering gewesen sei – ein Bild, das auch in der aktuellen Forschung gezeichnet wird.224 Tatsächlich strebte auch das von der PPS beherrschte CUP eine klare Dominanz der Schwerindustrie an.225 Die Darstellung, erst der Eingriff der Sowjetunion habe zum „Primat der Schwerindustrie“ geführt, indem sie bei der Gestaltung des Sechsjahresplans intervenierte, greift daher zu kurz. Niederschlesien war – das wurde auch von der zeitgenössischen Literatur zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt – hochindustrialisiert. Das bedeutet, dass die Industrie an der niederschlesischen Gesamtproduktion den größten Anteil hatte, was jedoch nicht die Industrie als Ganzes betraf. Die Privilegierung der Industrie im Rahmen des Dreijahresplans bezog sich nur auf bestimmte Branchen, namentlich die der Energie, des Bergbaus, der Hüttenindustrie sowie des Transportwesens.226 Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums wurden in diesen Bereichen zahlreiche Großbetriebe ausgebaut oder neu errichtet. In Niederschlesien waren es – zumindest gemäß der Planung des Ministeriums für Industrie – die Waggonfabrik Pafawag227 und eine Werkzeugmaschinenfabrik in Breslau und in Bad Warmbrunn, eine Lokomotivfabrik in Hundsfeld, die Chemiefabrik Rokita in Dyhernfurth, die Glashütte in Penzig, die Nickelhütte in Glasegrund, die Kupferhütte in Wansen, das Kupferberg220 Vgl. etwa Skobelski, Ziemie Zachodnie 1950–1955 (wie Anm. 18, S. 122), S. 82. 221 Vgl. Mariusz Jastrzab, ˛ Puste półki. Problem zaopatrzenia ludno´sci w artykuły powszechnego uz˙ ytku w Polsce w latach 1949–1956 [Leere Regale. Das Problem der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des täglichen Lebens in den Jahren 1949–1956] (Nauki Społeczne „u Ko´zmi´nskiego“), Warschau 2004. 222 Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 131. 223 So etwa Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 170. 224 Andrzej Skrzypek, Mechanizmy uzalez˙ nienia. Stosunki polsko-radzieckie 1944–1957 [Mechanismen der Abhängkeit. Polnisch-russische Beziehungen 1944–1957], Pułtusk 2002. 225 Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 136. 226 Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 66. 227 Der Betrieb „Pafawag“ ging aus den Linke-Hofmann-Werken hervor; Czesław Michalak, Pa-fawag, in: Stefan Kuczy´nski (Hrsg.), Trudne dni I. Wrocław 1945 we wspomnieniach pionierów [Schwere Tage. Breslau 1945 in den Erinnerungen der Pioniere], Breslau 1960, 194–198, hier S. 195.
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werk Lena in Goldberg und Betriebe der Elektroindustrie in Breslau, Reichenbach im Eulengebirge sowie in Petersdorf.228 Der Hinweis der jüngsten Forschung darauf, dass der Dreijahresplan der Industrie einen hohen Stellenwert einräumte, bedeutet jedoch nicht, dass die Konsumgüterindustrie bedeutungslos war. Im Gegenteil sollte nach Artikel 3 des Gesetzes der Lebensstandard der Bevölkerung das Vorkriegsniveau übertreffen, und die Nutzung des Produktionspotenzials der Neuen Gebiete sollten hier eine zentrale Rolle spielen.229 In der Industrie sollte der Schwerpunkt von der Konsumgüterindustrie stärker zur Produktionsgüterindustrie verlagert werden. Im Jahr 1949 sollte die Industrieproduktion den Vorkriegsstand übertreffen, in der Landwirtschaft die durchschnittliche Pro-Kopf-Produktion der Jahre 1936 bis 1938 um zehn Prozent überschritten werden. Das Nationaleinkommen sollte den Vorkriegsstand gleichermaßen um zehn Prozent übertreffen.230 Seine Bedeutung erlangte der Dreijahresplan auch dadurch, dass er einer Phase intensiver Verstaatlichung folgte, die auf Grundlage des bereits erläuterten Verstaatlichungsgesetzes vom 3. Januar 1946 vollzogen wurde.231 Ein anderes wichtiges Ziel der Wirtschaftspolitik war die Fortsetzung der Verstaatlichung sämtlicher Wirtschaftsbetriebe. Die Investitionen in die Wirtschaft konzentrierten sich in erster Linie auf die vorhandenen Kapazitäten. Der Ausbau neuer Betriebe war noch nicht geplant.232 Die Strategie für die Neuen Gebiete unterschied sich nicht grundsätzlich von derjenigen für die Alten Gebiete.233 Auf zentraler Ebene wurden bis Ende der 40er Jahre keine entscheidenden Maßnahmen getroffen, die darauf abzielten, die Industriestruktur Polens zu ändern. Im Westen wie im Osten sollten dieselben Industrien bevorzugt werden sowie der Wiederaufbau nach dem Krieg weiter verfolgt werden. Hinzu kam das Ziel der gleichmäßigen Industrialisierung, weswegen auch die Eliminierung der Disproportionen zwischen den Regionen angestrebt wurde. Die endgültige „Verbindung“ der Alten und Neuen Gebiete wurde bereits erwähnt. Ausgearbeitete wirtschaftliche Konzepte gab es für die Neuen Gebiete jedoch nicht.234 Das Ziel bestand darin, die Industrie zum dominanten Wirtschaftssektor Polens zu entwickeln und die Agrarwirtschaft als Leitsektor abzulösen. Hierbei sollten die 228 Vgl. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 174. 229 Ebd., S. 172. Der Dreijahresplan beinhaltete ebenfalls Pläne zur Kollektivierung der Landwirtschaft und den sog. „Kampf um den Handel“ – Aspekte, die in der vorliegenden Arbeit jedoch keine Rolle spielen sollen; vgl. Roszkowski, Historia Polski 1914–2004 (wie Anm. 118, S. 137), S. 192 f. Der Begriff „Schlacht um den Handel“ stammt aus der polnischen Historiographie. Er bezeichnet die staatlichen Maßnahmen 1947 und 1948, die darauf abzielten, den privaten Groß- und Einzelhandel möglichst umfassend durch staatlichen Handel zu ersetzen; vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 108 ff. 230 Roszkowski, Historia Polski 1914–2004 (wie Anm. 118, S. 137), S. 192. 231 Vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 65. 232 Roszkowski, Historia Polski 1914–2004 (wie Anm. 118, S. 137), S. 192. 233 Dieser Punkt wird in der Forschung auch anders beurteilt; vgl. etwa Michael G. Esch, „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 2), Marburg 1998, S. 73. 234 Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 76.
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Neuen Gebiete eine wichtige Rolle spielen.235 Hauptziel war die Wiederingangsetzung der Industrie. In den Neuen Gebieten verlief der Wiederaufbau jedoch generell langsamer als in den Alten.236 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Ein wichtiger Faktor ist in der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Ansiedlung polnischer Siedler zu suchen. Der Plan sah vor, dass während der Übergangsphase die deutsche Bevölkerung sukzessive durch die polnische ersetzt wurde. Dieser Plan ließ sich jedoch nicht wie vorgesehen verwirklichen. Der Grund dafür, dass in der Wirtschaftspolitik keine klare Richtung eingeschlagen wurde, war auch in der innenpolitischen Situation begründet. In den Jahren 1947 und 1948 stritten sich die PPR und die PPS – und vor diesem Hintergrund auch die von ihnen kontrollierten wirtschaftlichen Institutionen CUP und das Industrieministerium – um den wirtschaftspolitischen Kurs. Die Folge war, dass zunächst überhaupt keiner eingeschlagen wurde. Der Wiederaufbau zog die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Dieser sollte in erster Linie in den Betrieben erfolgen, die nur wenig oder überhaupt nicht zerstört waren und in denen eine schnelle Inbetriebnahme möglich war.237 Betrachtet man die besondere Situation in den Neuen Gebieten, also auch in Niederschlesien, wird deutlich, dass sich die Maßnahmen teilweise ausschließlich auf die Alten Gebiete bezogen. Dadurch, dass die deutsche Bevölkerung kaum Rechte hatte und vertrieben wurde, stellte sich das Problem der Enteignung nicht in derselben Form wie in den Alten Gebieten. Die Verstaatlichung der aufgegebenen deutschen Vermögen und Güter geschah praktisch schon 1945 durch die Dekrete des Landesnationalrates.238 Die Maßnahmen in Niederschlesien wie in den übrigen Neuen Gebieten spiegelten ferner das Ziel wider, die Verfügungsgewalt über die Region zu erhalten. Teil davon war es, eine Übersicht über die Neuen Gebiete zu gewinnen. Dieses Problem bestand auch nach Abschluss der Tätigkeit der Operationsgruppen und der Installierung der häufig provisorischen Verwaltungsstrukturen. Ein Instrument zur Erlangung der Kontrolle über die Wirtschaft in den Neuen sowie den Alten Gebieten war daher die Inventarisierung der Betriebe. Diese begann schon kurze Zeit nach Kriegsende, jedoch zunächst auf freiwilliger Basis. Private Industrie- und Handwerksbetriebe konnten sich freiwillig bei der Industrie- und Handelskammer (Izba Przemysłowo-Handlowa) bzw. bei der Handwerkskammer (Izba Rzemie´slicza) registrieren. Das Industrieministerium machte diese Maßnahme nun obligatorisch. Im Oktober und November 1947 wurden vom Ministerrat zwei Dekrete veröffentlicht239 , in dem das Industrieministerium alle Betriebe unabhängig von ihrer Rechtsform zur Registrierung verpflichtete, die vor dem 30. Oktober 1947 ihre Tätigkeit aufnahmen. Den Auftrag hierzu erhielt die Industrie- und Handelskammer. Koordinatorin war die Kammer in der Hauptstadt Warschau, die eigens das sog. 235 Stefan J˛edrychowski/Janna Kormanowa/Hilary Minc, Droga do wielko´sci Polski [Der Weg Polens zu Größe], Paris 1945, S. 18, zit. in: ebd., S. 81. 236 Skobelski, Ziemie Zachodnie 1950–1955 (wie Anm. 18, S. 122), S. 33. 237 Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 175. 238 Vgl. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 44. 239 DzURP 1947, Nr. 66, Pos. 403.
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„Büro zur Registrierung der Industrie“ („Biuro Rejestracji Przemysłu“) ins Leben rief.240 Während des Dreijahresplans wurden zusätzlich die Maßnahmen zur Manifestierung staatlicher Kontrolle in den Neuen Gebieten fortgesetzt. Die Verstaatlichung der Betriebe war auf Grundlage der Gesetze von 1945 und 1946 weit fortgeschritten. Die Privatbetriebe wurden während der drei Jahre sukzessive zurückgedrängt. Ende des Jahres 1946 waren in den privaten Industriebetrieben Polens 10,8 Prozent (137.342) aller Beschäftigten tätig sowie 7,6 Prozent (98.584) im genossenschaftlichen und Selbstverwaltungssektor. 1947 waren es noch 9,8 Prozent, 1948 7,3 Prozent und 1949 3,8 Prozent. Bis 1955 sank dieser Wert auf 0,2 Prozent.241 In Niederschlesien war ihre Bedeutung noch geringer. Im Dezember 1950 waren nur 749 Polen in der Privatindustrie beschäftigt.242 Instrumente der gezielten Benachteiligung waren unter anderem die Erhöhung der Steuern auf die Gehälter in der Privatindustrie und häufige Kontrollen durch die Behörden, was in vielen Fällen mit Bußgeldern verbunden war.243 Zusätzlich wurden die Konzessionen für die Betriebe deutlich restriktiver behandelt, und auch die sog. „Schlacht um den Handel“ (Bitwa o handel) trug hierzu bei.244 Private Betriebe spielten 1956 keine Rolle mehr. Auf zwei Punkte, die in den Zeitraum bis 1949 fallen und die für Polen und die Entwicklung der Neuen Gebiete relevant waren, muss jedoch hingewiesen werden. Der Erste betrifft den Kampf der Kommunisten um die politische Alleinherrschaft. Während einer Versammlung der PPR und der PPS am 18. und 19. Februar 1948 attackierte Industrieminister Minc das CUP und warf ihm vor, sich nicht ausreichend am marxistischen Wirtschaftsmodell zu orientieren, also zu sehr den Konsum und zu wenig die Produktionssteigerung im Blick zu haben. Laut Minc spielten bei den Planungen des CUP konsequent planwirtschaftliche Elemente eine zu geringe Rolle.245 Damit eskalierte ein Konflikt, der auch ein Aufeinandertreffen verschiedener wirtschaftspolitischer Konzeptionen war. Dieser Streit wütete nicht nur zwischen der PPR und der PPS, sondern auch innerhalb der kommunistischen Partei selbst. Hierauf wurde bereits im Rahmen der Schilderung der politischen Ausschaltung Gomułkas hingewiesen. Die Sozialisten sowie die Vertreter der nichtorthodoxen Orientierung innerhalb der PPR unterlagen in diesem Streit. Bierut wurde am 31. August 1948 Generalsekretär der PPR und somit Nachfolger von Gomułka. Am 15. Dezember 1948 kam es schließlich zum Vereinigungskongress der PPS und der PPR, und es entstand die „Vereinigte Polnische Arbeiterpartei PZPR“.246 Im Jahr 1949 geriet Polen somit endgültig unter die Kontrolle der sowjettreuen Kommunis240 241 242 243 244 245
Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 195 f. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 61. ´ Vgl. Muszkiewicz, Srodowisko pozarolniczego sektora (wie Anm. 186, S. 149), S. 190. Vgl. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 203. ´ Muszkiewicz, Srodowisko pozarolniczego sektora (wie Anm. 186, S. 149), S. 200. Beauvois, La Pologne (wie Anm. 124, S. 138), S. 392 f.; Roszkowski, Historia Polski 1914– 2004 (wie Anm. 118, S. 137), S. 183. 246 Beauvois, La Pologne (wie Anm. 124, S. 138), S. 394.
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ten und somit auch stärker unter die Kontrolle Moskaus.247 Für den Industrieminister Minc bedeutete diese Entwicklung, dass er bei der Wirtschaftspolitik mit keinem Widerstand mehr rechnen musste. Als Industrieminister, Mitglied des ZK der PZPR sowie Vorsitzender der PKPG saß er an den entscheidenden Stellen. 3.5. Zwischenbilanz: Wie erfolgreich war die Übernahme der Industrie? Bisher wurden die verschiedenen Maßnahmen erläutert, die Verfügungsgewalt über Niederschlesien zu erhalten und die dortige Wirtschaft in Gang zu setzen. Die zahlreichen industrie- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen waren sehr umfangreich und heterogen. Weit schwieriger als ihre Darstellung ist jedoch die Beantwortung der Frage, wie erfolgreich sie waren. Die Westverschiebung Polens und der Übergang der untersuchten Region unter polnische Verwaltung hatten die Folge, dass es keine statistischen Materialien gibt, die es erlauben, das Wachstum bis Kriegsende und dasjenige nach 1945 in ein klares Verhältnis zu setzen. Neben dem Problem der Messmethode besteht die Schwierigkeit, dass der polnische Złoty und die 1948 eingeführte Deutsche Mark aus verschiedenen Gründen in keinem direkten Wechselkursverhältnis standen. Der Versuch, dieses Problem über den amerikanischen Dollar als Weltwährung zu lösen birgt zu große Risiken. Die polnische Nationalbank NBP setzte das Złoty-DollarVerhältnis hierfür zu willkürlich fest.248 Hieraus folgt, dass ein sachlich fundierter Vergleich des Nach- und Vorkriegsproduktionsniveaus Niederschlesiens unter Heranziehung der jeweiligen Währungen nicht möglich ist. Es stehen jedoch alternative Herangehensweisen offen, den Ablauf des Wiederaufbaus in Niederschlesien einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Die Literatur und die Quellen erlauben es, zu prüfen, welche Unternehmen und Betriebe vom Wiederaufbau erfasst wurden, und welche von ihm nicht berücksichtigt wurden. Ende 1945 wurde dem Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete ein Bericht zur wirtschaftlichen Situation Niederschlesiens zum 1. November 1945 vorgelegt. Dieser neben der Industrie auch die Landwirtschaft, den Handel, die Infrastruktur, den Geld- und Kapitalmarkt, den Arbeitsmarkt und schließlich die Preisentwicklung umfassende Bericht wurde von der „Vereinigung der Genossenschaften für Lebensmittel Społem“ („Zwiazek ˛ Spółdzielni Spoz˙ ywców Społem“) erstellt. Im Bericht wird das Problem formuliert, dass das Interesse an den kleinen und mittleren Unternehmen geringer sei als ihre Bedeutung es fordere. Beispielsweise seien zahlreiche Betriebe der Chemischen Industrie und Metallindustrie noch nicht in Betrieb gesetzt, obwohl ihre Ausstattung vorhanden sei. In kleinen Werkstätten gebe es zusätzlich Maschinen, Zwischenprodukte und Rohstoffe, die weder erfasst noch 247 Georges Castellan, Histoire des peuples de l’Europe centrale, Paris 1994, S. 453. 248 Für die Jahre 1945 und 1946 besitzt die NBP keine Informationen zum Verhältnis von Dollar und Złoty. Zwischen dem 24.11.1947 und dem 29.10.1950 legte sie das Verhältnis auf 1 USD zu 400 zł fest, für den Zeitraum vom 30.10.1950 bis zum 10.02.1957 auf 1 USD zu 4 zł. Vom 11.02.1957 bis zum 31.12.1960 war 1 USD 24 zł wert; Schreiben der polnischen Nationalbank vom 10. Dezember 2010, Dokument im Eigentum des Autors.
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gesichert seien. Der Autor führt dies auf die mangelnde Kommunikation zwischen den Branchenvereinigungen und den Operationsgruppen zurück.249 Dieser Bericht ist aus mehreren Gründen aufschlussreich. Die Hauptwelle der Demontagen und Devastationen fiel – wie an anderer Stelle bereits erläutert wurde – auf die Monate Juli und August 1945.250 Sie werden im vorliegenden Bericht, der gemäß seinem Titel den Stand vom 1. November 1945 wiedergibt, berücksichtigt.251 Trotzdem erweckt der Bericht den Eindruck, dass in den kleinen und mittleren Betrieben viel Kapital in Form von Maschinen, Werkzeugen, Halbfabrikaten und Rohstoffen zur Verfügung stand. Zusätzlich wird hier die Darstellung einer umfassenden Zerstörung der niederschlesischen Wirtschaft zumindest relativiert. Abschließend drängt sich auf Grundlage dieses Berichts die Frage auf, wie in der Folgezeit mit den kleinen und mittleren Betrieben verfahren wurde. Im November 1945 waren die Operationsgruppen bereits aufgelöst, die kleinen und mittleren Betriebe wurden also von ihnen nur äußerst lückenhaft erfasst. Lässt sich das diagnostizierte Problem darauf zurückführen, dass der Bericht ein halbes Jahr nach Kriegsende erstellt wurde und sich der Wiederaufbau zunächst auf die Großbetriebe beschränkte, oder blieb das Interesse an Ihnen weiterhin gering? In diesem Kapitel wurden bereits verschiedene Institutionen – das GMUT, die Operationsgruppen, die Delegaturen des Industrieministeriums – beschrieben, deren Aufgabe es war, die Industriebetriebe zu erfassen und die vorhandenen Maschinen, Werkzeuge etc. sinnvoll zu verteilen. Hierfür zuständig war unter anderem das Department für Liquidation des MZO.252 Es entsprach zu Beginn der wirtschaftlichen Strategie für die Neuen Gebiete, den Wiederaufbau auf Großbetriebe zu konzentrieren.253 Jankowski führt dies darauf zurück, dass bei Großbetrieben von geringeren Produktionskosten ausgegangen wurde.254 Damit bleibt jedoch die Frage weiterhin offen, wie mit kleinen und mittleren Betrieben später verfahren wurde. Mitte 1946 hat sich an diesem Problem wenig geändert, wie sich während einer Konferenz der Interministeriellen Kommission für die Ingangsetzung der Industrie in den Wiedergewonnenen Gebieten (Mi˛edzyministerialna Komisja do spraw Uruchomienia Przemysłu na Ziemiach Odzyskanych) am 6. Juli 1946 zeigte. An ihr nahmen der Vizeminister für die Wiedergewonnenen Gebiete Władysław Czajkowski sowie der Vizeminister des Ministeriums für Industrie Eugeniusz Szyr – also die Vertreter von Gomułka und Minc – teil. Czajkowski betonte auch hier, dass sich in den Neuen Gebieten eine hohe Zahl von Betrieben befinde, die zur Zeit nicht mehr als totes Kapital darstellten.255 Das Protokoll einer geheimen Konferenz, die Anfang 1948 stattfand, belegt, dass dieses Problem in den Folgejahren
249 250 251 252 253 254 255
AAN MZO/1380, S. 194. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 53. AAN MZO/1380, S. 190. Vgl. etwa AAN MZO/977, S. 3. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 173 f. Ebd., S. 174. AAN MZO/1390, S. 51.
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weiterbestand.256 An dieser Geheimkonferenz nahmen die Leiter der Ämter und Behörden auf Wojewodschaftsebene sowie die Abteilungsleiter des Wojewodschaftsamts Breslau teil. Einer der Teilnehmer war der Leiter der Regionaldirektion für innere Planung (Regionalna Dyrekcja Planowania Przestrzennego) und Geograph Antoni Wrzosek, der das von seiner Behörde erstellte „Einführende Konzept für die Regionalplanung“ („Regionalna Koncepcja Planu Regionalnego“) vorstellte. Das Konzept trägt das Datum vom 8. April 1948. Er schildert die Situation der niederschlesischen Wirtschaft und unterstreicht hier, dass die Infrastruktur noch ausgebaut werden müsse. Insbesondere der Süden Niederschlesiens müsse mit den polnischen Hafenstätten Danzig, Stettin und Gdingen verbunden werden. Sehr kritisch bewertet Wrzosek den Umgang mit den kleinen und mittleren Betrieben. Nach seiner Darstellung wurde häufig aus kleinen und mittleren Industriebetrieben in zumeist kleinen Städten Kapital in Form von Maschinen und Rohstoffen abtransportiert.257 Dies war meist eine Folge der sog. „Akcja Komasacyjna“, der Bereinigungsaktion. Nach der Einschätzung Wrzoseks wurden so zahlreiche kleine Städte mit dynamischer Wirtschaft in die Verelendung getrieben. Exemplarisch nennt er hier die Stadt Silberberg.258 Aus der Beobachtung, dass die „Integration“ der kleinen und mittleren Betriebe sowie der entsprechend kleineren Städte und Ortschaften in die Wirtschaftsstruktur 1948 noch nicht befriedigend gelungen war, lässt sich zwar noch nicht ein Scheitern des Wiederaufbaus ableiten. Es macht jedoch deutlich, dass der Wiederaufbau der Handelsnetze zwischen den kleineren Betrieben 1948 noch nicht erreicht wurde. Wie sich noch zeigen sollte, konnte dieses Problem auch später nicht gelöst werden. Auch Gomułka nahm dieses Problem zur Kenntnis. Im Juli 1948 wandte er sich in einem Brief an das Ministerium seines Intimfeinds Minc gegen das Vorhaben, die Wirtschaft der Alten und Neuen Gebiete Polens im Jahr 1949 zu „synchronisieren“. Er tat dies mit dem Argument, die Westgebiete seien kein „monolithischer Wirtschaftsraum“. Zudem machte er in den Neuen Gebieten ein Industrialisierungsdefizit aus. Das Handwerksnetz und das Netz der Kleinindustrie, womit sicherlich die kleinen und mittleren Betriebe gemeint sind, waren seiner Einschätzung nach unzureichend. Ebenjene Betriebe müssten daher unbedingt wieder in Gang gesetzt werden, vor allem da die Liquidierung zahlreicher Handwerksbetriebe das Problem noch verstärkt hätte.259 Anscheinend stieß Gomułka mit seinem Anliegen auf taube Ohren. Jedenfalls sah er sich gezwungen, am 23. November und 6. Dezember desselben Jahres praktisch inhaltsgleiche Briefe an das Industrieministerium zu verschicken, deren Ton deutlich schärfer war. Somit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Wiederaufbau seiner Wirtschaft wie seiner Industrie zumindest bis 1948 vornehmlich auf Großbetriebe sowie größere Städte beschränkt war. Die kleinen und mittleren Industriebetriebe waren zunächst vom Wiederaufbau abgekoppelt. Ausgehend von der Verschrän256 257 258 259
AAN GUPP/415. AAN MZO/415, S. 2 f. AAN MZO/415, S. 3. Vgl. AAN MZO/1422, S. 3 f.
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kung der niederschlesischen Industrie, die – zumindest für reichsdeutsche Verhältnisse – in hohem Maße auf kleinen und mittleren Betrieben basierte, ist hieraus zu folgern, dass nicht nur ihr Potenzial nicht genutzt wurde und der „Wiederaufbau“ bloß auf einen Teil der niederschlesischen Wirtschaft beschränkt war. Es bedeutete auch, dass das Potenzial anderer von ihnen abhängiger Betriebe in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ähnlich wurde mit den Betrieben der Privatindustrie verfahren, die schließlich ebenfalls geschlossen wurden. Im Dezember 1947 umfasste die Privatindustrie 1.076 Betriebe – davon 841 in der Agrar- und Lebensmittelindustrie – mit beinahe 9.000 Beschäftigten.260 Deren Zahl sank jedoch stetig, 1948 waren es noch etwas mehr als 600, Mitte 1949 weniger als 500261 , bis sie 1955 praktisch verschwunden waren. Jankowski schreibt, sie seien „ausgeschlachtet worden“, das vorhandene Material sei also anderen Betrieben zugute gekommen.262 Diese Darstellung scheint zumindest sehr wahrscheinlich. Auf polnischer Seite war es häufig das Ziel, Großbetriebe aufzubauen, in der Privatindustrie handelte es sich in der weit überwiegenden Zahl der Fälle um kleine Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten.263 Dass diese Betriebe daher aufgelöst und das materielle Kapital an anderer Stelle genutzt wurde, erscheint realistisch. Es kann mithin festgehalten werden, dass die Verstaatlichung der niederschlesischen Industrie gelang, während die Privatindustrie stark marginalisiert wurde. Die Bewirtschaftung der kleinen und mittleren Industriebetriebe – darauf deuten die zitierten Quellen hin – verursachte jedoch noch Probleme. Fraglich ist, ob diese in den Folgejahren gelöst werden konnten. 3.6. Der Sechsjahresplan 1950–1955 Kaum ein Wirtschaftsplan in der polnischen Wirtschaftsgeschichte hat einen so schlechten Ruf wie der Sechsjahresplan. Das Gesetz wurde am 21. Juli 1950 verabschiedet264 und folgte dem Konzept der „sozialistischen Industrialisierung“. Hierbei wurde nicht nur das Ziel verfolgt, die Industrie nach sowjetischem Vorbild zu entwickeln. Ebenso sollte der neue Mensch geschaffen werden.265 Große auch propagandistische Bedeutung hatte hierbei die Schaffung der Stadt Nowa Huta (deutsch: „Neue Hütte“) aus dem Nichts.266 Die folgende Darstellung nimmt die wirtschaftlichen Folgen des Sechsjahresplans in den Blick. 260 261 262 263 264 265
Vgl. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 200 f. Ebd., S. 203, 205. Ebd., S. 203. Ebd., S. 200 f. DzURP 1950, Nr. 37, Pos. 344. Vgl. Helga Schultz, Die sozialistische Industrialisierung – toter Hund oder Erkenntnismittel?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1999), 105–130, hier S. 105. 266 Zu Nowa Huta als Zentrum einer kommunistischen Muster-Kulturstadt siehe Boleslaw Janus, The Politics of Culture in Poland’s Worker Paradise: Nowa Huta in the 1950s, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56.4 (2008), 542–553.
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Der Plan „zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Aufbau der Basis des Sozialismus („Plan Rozwoju Gospodarczego i Budowy Podstaw Socjalizmu“)“ verfolgte – so der Wortlaut des Gesetzes – unter anderem das Ziel, den Anteil der Schwerindustrie an der Produktion zu erhöhen. Aus einer agrarisch-industriellen Wirtschaft sollte so eine industriell-agrarische werden. Bezüglich seines Erfolges ist die Beurteilung der Historiographie eindeutig. Adam Krzeminski nennt den Sechsjahresplan in seinen Auswirkungen ein „Desaster“.267 Die Probleme des Sechsjahresplans hätten ebenfalls früh zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt, weshalb er mitverantwortlich für den Posener Aufstand im Juni 1956 gemacht wird.268 Die „forcierte Industrialisierung“ wird als einer der Hauptgründe für die Probleme bei der Konsumgüterindustrie gesehen, die die sozialen Probleme mitverursacht habe. Der Sechsjahresplan sieht sich insbesondere zwei Vorwürfen ausgesetzt: Erstens habe er die Industrie – und hier vor allem die Schwerindustrie – zu Ungunsten der Konsumgüterindustrie und der Landwirtschaft gefördert. Zusätzlich habe der Wirtschaftsplan seine Ziele völlig verfehlt und der polnischen Wirtschaft beträchtlichen Schaden zugefügt. Ein Wandel in der Wirtschaftspolitik hin zu einer deutlichen Priorisierung der Schwerindustrie war schon Ende 1948 zu beobachten, wobei strittig ist, in welchem Jahr der Wandel in der Wirtschaftspolitik betreffend der Neuen Gebiete zu diagnostizieren ist. Makowski beispielsweise erkennt die Wende im Jahr 1948, als die kommunistische PPR und die sozialistische PPS zur „Vereinigte Polnische Arbeiterpartei (PZPR)“ fusionierten.269 Das war der Schlusspunkt einer längeren Entwicklung, bei der die Kommunisten jegliche politische Konkurrenz ausschalteten. Die Vorbereitung des Wirtschaftsplans begann 1948 und wurde 1949 – nun ohne die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf politische Konkurrenz – fortgesetzt. Der Sechsjahresplan war in der Folge der erste Plan, auf den sich der Wandel in der wirtschaftlichen Strategie auswirkte.270 1949 kam es zu weiteren Umstrukturierungen, die sich stark auf die Wirtschaft auswirkten. Nach der faktischen Ausschaltung der sozialistischen PPS und der „Heimatkommunisten“ wurden auch die von ihnen kontrollierten Institutionen aufgelöst. Dies betraf das Zentrale Planungsamt CUP, das durch die sozialistische PPS dominiert wurde, sowie das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete, dessen Minister Gomułka der einflussreichste „Heimatkommunist“ war. Die Maßnahmen zielten darauf ab, den Staat in die Lage zu versetzen, auf sämtliche wirtschaftliche Ressourcen direkt zugreifen zu können.271 Die neu entstandene „Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung“ („Pa´nstwowa Komisja Planowania Gos267 Adam Krzemi´nski, Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay (Beck’sche Reihe, Bd. 476), München 2 1998, S. 127. 268 Vgl. Roszkowski, Historia Polski 1914–2004 (wie Anm. 118, S. 137), S. 221 ff. 269 Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 66. 270 Dass es zu einem eher untypischen Sechsjahresplan kam, lag daran, dass die Wirtschaftspläne in den Sowjetstaaten synchronisiert werden sollten. Ab dem Jahr 1955 waren Fünfjahrespläne die Regel; vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 154. 271 Ebd., S. 48.
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podarczego“, PKPG) löste die CUP als zentrale Behörde zur Erstellung der Wirtschaftspläne ab. Unmittelbar anschließend begannen die Vorbereitungen des Sechsjahresplans. Die erste Vorstellung der Richtlinien fand während des ersten Parteitags der PZPR im Dezember 1948 statt. Als eines der wichtigsten Ziele wurde hier die Eliminierung der „kapitalistischen Elemente“ genannt, die von einer Umwandlung des Kleingewerbes in eine vergesellschaftete Wirtschaft begleitet werden sollte. Bei dieser Gelegenheit forderte Industrieminister Minc, dass die Produktion der vergesellschafteten Industrie um 85 bis 90 Prozent, das Volkseinkommen bis 1955 um 70 bis 80 Prozent steigen sollten.272 Der Wirtschaftsplan trug die Handschrift des Industrieministers Minc, der davon überzeugt war, dass eine Industrie erst dann sozialistisch sei, wenn sich sämtliche Produktionsmittel und der gesamte Produktionsmehrwert in der Hand des Staates befänden – ein Zustand, den er 1948 noch nicht als erreicht ansah.273 Als sich die PPS und die PPR im Dezember 1948 vereinigten, hatte sich Minc mit seiner Ansicht über die Notwendigkeit der Einführung des „sowjetischen Wirtschaftsmodells“ bereits durchgesetzt. Da die Vereinigung beider Parteien faktisch eine Übernahme der Sozialisten durch die PPR war, konnte die neue Staatspartei nun ohne innenpolitischen Widerstand ihre Vorstellung einer sozialistischen Wirtschaft realisieren. Dies umfasste unter anderem die Kollektivierung der Landwirtschaft.274 Der Sechsjahresplan – folgt man dem Gesetzeswortlaut – sah nun eine weitere „Begrenzung der kapitalistischen Kräfte“ vor, eine „intensive Sozialisierung“ sowie die deutliche Steigerung der Industrie- und Agrarproduktion. Die industrielle Gesamtproduktion sollte 1955 im Vergleich zu 1949 um über 158 Prozent steigen. Die Produktion der „Kleinindustrie“ sollte im selben Zeitraum um 358 Prozent steigen, die der mittleren und Großindustrie um 136 Prozent.275 Die schließlich festgelegten Planziele lagen mithin deutlich oberhalb der im Dezember 1948 von Minc vorgestellten Richtlinien. Tatsächlich stiegen die Vorgaben in den eineinhalb Jahren von Dezember 1948 bis Mitte 1950 sukzessive an. Da die Entstehung des Sechsjahresplans bis zu seiner Verabschiedung als Gesetz hier nicht herausgearbeitet werden soll – dies ist von Tokarski bereits überzeugend unternommen worden276 – werden nur die von der polnischen Historiographie genannten Gründe für den Anstieg aufgelistet: – Als ein wichtiges Moment wird der Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 1950 betrachtet. Durch ihn wurde deutlich, dass der Kalte Krieg rasch es-
272 273 274 275
Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 147 f. Ebd., S. 109. Ebd., S. 118 ff. Ustawa o 6-letnim Planie Rozwoju Gospodarczego i Budowy Podstaw Socjalizmu na Lata 1950–1956 [Das Gesetz zum Sechsjahresplan zur Entwicklung der Wirtschaft und des Aufbaus der Basis des Sozialismus für die Jahre 1950–1956], in: Plan Sze´scioletni [Der Sechsjahresplan], Warschau 1950, 85–167, hier S. 93 ff., 98. 276 Vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 146 ff.
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kalieren konnte.277 Die Rüstungsanstrengungen seien anschließend verstärkt worden, was auch eine Prioritätenverschiebung hin zur Rüstung bedeutete. – Ein weiteres Argument ist die Überschätzung der wirtschaftlichen Kapazitäten.278 Der Dreijahresplan wurde übererfüllt, und es gab noch Produktionsreserven in Form nicht in Gang gesetzter Betriebe. Dies und die Überzeugung, durch eine bessere Wirtschaftsplanung könne effektiver produziert werden, habe zu unrealistischen Planzielen geführt. – Zusätzlich wird von der Forschung regelmäßig der sowjetische Einfluss geltend gemacht. So folgt auch Tokarski der These Andrzej Karpi´nskis, dass es sich beim Sechsjahresplan um eine „auf sowjetische Erfahrungen gestützte marxistische Industrialisierungskonzeption“ gehandelt habe. Hierbei sollte zunächst die Schwerindustrie auf- und ausgebaut werden, um anschließend auf dieser Grundlage die übrigen Wirtschaftsbereiche auszubauen.279 Die Sowjetunion übte ihren Einfluss auch direkt aus. So wurden im Januar 1951 die Verteidigungsminister mehrerer sozialistischer Staaten nach Moskau eingeladen. Hier wurden sie aufgefordert, ihre Rüstungsanstrengungen zu verstärken.280 Das Ausmaß des sowjetischen Einflusses wirft tatsächlich Probleme auf, weil eine realistische Beurteilung sehr schwierig ist. Zahlreiche Autoren betonen beim Sechsjahresplan die hohe Abhängigkeit Polens von der UdSSR. Diese Darstellung interpretiert den Sechsjahresplan als Oktroi der UdSSR, den Polen nur noch ausführen konnte.281 Zweifellos war Polen stark von der UdSSR abhängig, und die Westverschiebung war hier ein wichtiges Instrument zur Manifestierung dieser Abhängigkeit, da Polen an die Garantiemacht für die polnischen Staatsgrenzen gebunden war.282 Es wäre daher leichtfertig, die Betonung der politischen Dominanz der UdSSR auf Polen als „überzogen“ zu bezeichnen und sie stark zu relativieren. Dies wurde während der Umsetzung des Sechsjahresplans deutlich. Die Literatur betont, dass – unabhängig von den ursprünglich festgelegten Planzielen – Anfang der 50er Jahre die Verschiebung hin zur Rüstungsindustrie fortgesetzt wurde. Der Zugriff erfolgte hierbei insbesondere über den sowjetischen General Konstanty Rokossowski, der im November 1949 zum polnischen Verteidigungsminister ernannt wurde. Er kämpfte im Zweiten Weltkrieg und führte 1945 die in Polen stationierte Nordgruppe der russischen Armee. Zusammen mit seiner Ernennung zum polnischen Vertei277 Vgl. Kali´nski/Landau, Gospodarka Polski (wie Anm. 324, S. 115), S. 236; Karl Günzel, Die Wirtschaftspolitik der Volksrepublik, in: Werner Markert (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch Band Polen, Köln/Graz 1959, 367–404, hier S. 375. 278 Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 151. 279 Vgl. Andrzej Karpi´nski, Od gospodarki rolniczej do gospodarki przemysłowej [Von der Landwirtschaft zur Industriewirtschaft], in: 25 lat gospodarki Polski Ludowej, Warschau 1969, 45–100, hier S. 56. ˙ ˙ 280 Vgl. Stanisław Zerko, Rokossowski, Konstanty, in: Przemysław Hauser/Stanisław Zerko (Hrsg.), Słownik polityków polskich XX wieku [Handbuch der polnischen Politiker des 20. Jahrhunderts] (Pozna´nskie słowniki biograficzne), Posen 1998, 309–310, hier S. 310. 281 Vgl. etwa Skrzypek, Mechanizmy uzalez˙ nienia (wie Anm. 224, S. 155), S. 270–281. 282 Vgl. Jaworski/Lübke/Müller, Kleine Geschichte Polens (wie Anm. 116, S. 137), S. 335.
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digungsminister wurde er zum polnischen Marschall ernannt. Insbesondere dieser Schritt wird in der polnischen Historiographie als Schritt zur Besiegelung der Abhängigkeit Polens von der UdSSR interpretiert.283 Durch die Nähe Rokossowskis sowohl zur sowjetischen wie auch zur polnischen Führung kann davon ausgegangen werden, dass er den Aufforderungen seitens der UdSSR Nachdruck verleihen konnte. Die oben genannten Gründe führten schließlich dazu, dass das Planziel für das Wachstum der Industrieproduktion um 158,3 Prozent festgesetzt wurde – eine Vorgabe, die die Parteiführung für realisierbar hielt.284 Dieser Wert entspricht der Gesetzesvorlage, die der Sejm am 20. und 21. Juli 1950 verabschiedete, nachdem sie vom ZK der PZPR angenommen wurde.285 Die Zahlen allein spiegeln nicht genau wider, welchen Zielen der Sechsjahresplan diente. So sollte die Produktion der Großindustrie sowie der mittleren Industrie um 236 Prozent wachsen, im Investitionsgüterbereich wurde ein Wachstum in ähnlicher Höhe angestrebt.286 Doch was bedeutete der Sechsjahresplan für die Neuen Gebiete? Der Sechsjahresplan wurde in der Überzeugung ins Leben gerufen, die Integration der Neuen Gebiete sei abgeschlossen. Nach 1949 gab es somit weder ein Ministerium noch eine Behörde, die eigens für die Neuen Gebiete zuständig war. Die Überzeugung, die Anbindung der Westgebiete sei gelungen, hatte Folgen. Während für die Zeit bis 1948 zahlreiche Ausarbeitungen entstanden sind, die sich mit den Neuen Gebieten beschäftigten, änderte sich dies nach Auflösung des MZO und des CUP. Im Zeitraum zwischen 1949 und 1956 ist keine spezielle Untersuchung durchgeführt worden. Das PKPG machte in seiner Planung keinen Unterschied zwischen den Alten und den Neuen Gebieten Volkspolens, eine spezifische Strategie für die Neuen Gebiete wurde mindestens bis 1956 nicht entwickelt.287 Diese Folgen waren jedoch in erster Linie administrativer Natur, deren Folgen für die Wirtschaftsplanung der Neuen Gebiete nur schwer abzuschätzen sind. Wörtlich sah das Begleitgesetz zur Verabschiedung des Sechsjahresplans vor, dass überall dort die Industrie forciert werden sollte, wo sie noch rückständig war. Dies schloss ausdrücklich die Neuen Gebiete mit ein.288 Umgekehrt wurden diejenigen Industriezweige vernachlässigt, denen im Rahmen des Sechsjahresplanes keine Bedeutung zugemessen wurde289 , und die Rüstungsindustrie stark forciert.290 Präzisere Angaben sind dem Gesetz selbst nicht zu entnehmen. Es enthält zwar ein283 284 285 286 287 288
289 290
˙ Vgl. Zerko, Rokossowski (wie Anm. 280, S. 165), S. 310. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 148. Günzel, Wirtschaftspolitik der Volksrepublik (wie Anm. 277, S. 165), S. 375. Hilary Minc, zit. in: Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 149. Grzegorz Strauchold, My´sl zachodnia i jej realizacja w Polsce Ludowej w latach 1945–1957 [Der Westgedanke und seine Realisierung in Volkspolen 1945–1957], Thorn 2003, S. 327. Vgl. Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 67; hierbei ist jedoch davon auszugehen, dass sich dies eher auf die verglichen mit Schlesien schwächer industrialisierten Regionen Ostpreußens und Pommerns bezog. ˙ Gruchman, Ziemie Zachodnie w Zyciu Gospodarczym (wie Anm. 36, S. 125), S. 16. Skobelski, Ziemie Zachodnie 1950–1955 (wie Anm. 18, S. 122), S. 76.
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zelne Abschnitte, die Angaben zu jeder Wojewodschaft machten. Diese sind jedoch allgemein gehalten. In der Wojewodschaft Breslau etwa sollte der Bau der großen Breslauer Fabriken für Elektromaschinen beendet werden; in der Region Bunzlau sollten Bergwerke und Kupfer verarbeitende Betriebe errichtet werden; für Hirschberg wurden Fabriken für Zellulose und Kunsttextilien vorgesehen sowie noch 17 mittlere und kleine Werke. Dazu sollten „eine Reihe existierender Werke ausgebaut“, der Produktionswert der sozialistischen Industrie um 120 Prozent und die Beschäftigung in der Industrie auf über 300.000 Beschäftigte erhöht werden. Doch nicht nur die Industrie sollte ihre Produktion erhöhen: Bei der Agrarproduktion war ein Wachstum um 57 Prozent vorgesehen.291 Makowski geht davon aus, dass der Wirtschaftsplan die Neuen Gebiete vernachlässigt habe: „Man begrenzte die Möglichkeit des Wachstums der Regionen auf Basis eigener Ressourcen und ihrer Aktivierung zugunsten eines makroökonomischen Konzepts zum Wachstum der Wirtschaft des Landes, hauptsächlich für eine forcierte Industrialisierung.“292 Gleichzeitig habe Niederschlesien unter den Neuen Gebieten zusammen mit Westoberschlesien am meisten von den Investitionen profitiert.293 Selbst wenn man also der These folgt, dass die Neuen Gebiete vernachlässigt worden seien, traf dies nicht auf Niederschlesien zu. Es profitierte weiterhin von intensiven Investitionen. 1950 bis 1955 erhielt es 15,5 Milliarden zł, von denen 54,1 Prozent für die Industrie vorgesehen waren. Vergleicht man die Investitionen Niederschlesiens mit denen für die oberschlesischen Wojewodschaften Kattowitz und Oppeln, lässt sich ihre Dimension besser einschätzen. Sie erhielten zusammen 12,9 Milliarden zł, von denen über 60 Prozent für die Industrie vorgesehen waren.294 Somit lagen die Investitionen in die Industrie Niederschlesiens absolut deutlich über denjenigen für das schwerindustrielle Oberschlesien. Tatsächlich waren es insbesondere die nördlichen Gebiete, und hier besonders die Wojewodschaften Allenstein in Pommern sowie Koszalin, in denen nur geringe Investitionen getätigt wurden.295 Ziel war die Schaffung mehrerer industrieller Zentren in ganz Polen, was mit einer entsprechenden Fokussierung von Investitionen verbunden war. Die wirtschaftspolitischen Strategien für die Neuen und die Alten Gebiete unterschieden sich hier nicht grundlegend, wobei Niederschlesien als Industriezentrum eine besondere Stellung einnahm. Die Investitionen bezogen sich somit stark auf Neu- und Ausbauten, weshalb die Forschung zu dem Urteil kam, 291 Ustawa o 6-letnim Planie (wie Anm. 275, S. 164), S. 162 f. 292 „Ograniczono moz˙ liwo´sc´ rozwoju regionów na podstawie własnych zasobów i ich aktywno´sci na rzecz koncepcji makroekonomicznego wzrostu gospodarki kraju, głównie poprzez forsowna˛ industrializacj˛e.“; Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 67. 293 Vgl. ebd. 294 Mirosława Opałło, Procesy Inwestycyjne na Ziemiach Zachodnich w Latach 1950–1957 [Investitionsprozesse in den Wiedergewonnenen Gebieten 1950–1957], in: Przeglad ˛ Zachodni 15.1 (1959), 327–349, hier S. 342, 344. 295 Vgl. ebd., S. 344; die Wojewodschaft Allenstein entstand durch die Verwaltungsreform vom März 1950, änderte 1975 ihre Grenzen und ging 1998 in der Wojewodschaft Ermland-Masuren auf. Die Wojewodschaft Koszalin entstand ebenfalls 1950, änderte auch 1975 im Zuge der Verwaltungsreform ihre Grenzen und ist 1998 in die Wojewodschaft Pommern integriert worden.
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dass das Wachstum in diesem Zeitraum extensiv gewesen sei. Diese Interpretation resultierte aus der Beobachtung, dass ein starkes Produktionswachstum nur dort generiert werden konnte, wo entsprechend hohe Investitionen getätigt wurden.296 Schon Anfang der 50er Jahre zeigte sich in den Neuen Gebieten Polens dasselbe Problem wie in den Alten: Die Vorgaben des Sechsjahresplanes konnten nicht eingehalten werden.297 Diese Probleme ließen sich weder in den Neuen Gebieten lösen noch im übrigen Polen: Auch 1953 und 1954 wurden die Planziele verfehlt.298 Zwar wurde 1953 eine Kurskorrektur angekündigt. Diese war jedoch halbherzig und scheiterte an „fehlender Motivation“.299 Trotzdem war sie deutlich erkennbar, wenn man etwa die Produktion von Munition, Bomben und Handgranaten betrachtet. Sie zeigen nach 1953 einen deutlichen Rückgang, ebenso die Produktion von Pistolen, Gewehren und Maschinengewehren.300 Ein anderer Hinweis Makowskis verdeutlicht die unbefriedigende Forschungslage. Er schreibt, dass entschieden worden sei, den Großteil der Betriebe in den Neuen Gebieten zu zerstören und nur jeden zehnten Betrieb wieder in Gang zu setzen.301 Auch Jankowski unterstreicht, dass nicht alle Betriebe wieder aufgebaut werden sollten, die dort bis 1945 existierten. Der Wiederaufbau sollte auf diejenigen Betriebe begrenzt bleiben, deren Gebäude und Ausstattung nur zu höchstens 20 Prozent zerstört waren, deren Produktion für andere Betriebe wichtig war oder die wichtige Investitionsmittel produzierten. Hierbei handelte es sich insbesondere um den Bergbau, die Metallindustrie, die Hüttenindustrie und die Elektroindustrie.302 Die übrigen Betriebe sollten zugunsten Zentralpolens „ausgeschlachtet“ werden.303 Hierbei wurde jedoch Schlesien, also Ober- und Niederschlesien, bevorzugt. Entsprechend kam es zu zahlreichen Neu- und Ausbauten in Niederschlesien. „Viele unversehrte und unbedeutend zerstörte Kleinbetriebe wurden zur Zusammenlegung vorgesehen, um auf diese Weise große Staatsbetriebe zu schaffen.“304 Die Historiographie hat sich jedoch nicht mit der Frage beschäftigt, ob die Zerstörungen auch tatsächlich umgesetzt wurden. Dass sie jemals durchgeführt wurden, kann durchaus bezweifelt werden. Die Betriebszählung von 1956 lässt darauf schließen, dass es nicht zu einer Beseitigung von 90 Prozent der Betriebe kam. Laut ihr wurden für die Wojewodschaft Bres-
296 297 298 299 300
301 302 303 304
So etwa Skobelski, Ziemie Zachodnie 1950–1955 (wie Anm. 18, S. 122), S. 128. Ebd., S. 77. Roszkowski, Historia Polski 1914–2004 (wie Anm. 118, S. 137), S. 221. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 189. Vgl. Kazimierski, Polski przemysł zbrojeniowy (wie Anm. 10, S. 17), S. 230–232. Nur bei der Flugzeugproduktion und bei der Herstellung von Panzerteilen kam es zu einem leichten Anstieg. Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 68. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 173 f. Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 68. „Wiele ocalałych lub nieznacznie zniszczonych drobnych zakładów przeznaczano do komasacji, by utworzy´c w ten sposób duz˙ e zakłady pa´ns´twowe.“; Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 174.
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lau 2.065 Industriebetriebe gezählt, in der Stadt Breslau 365.305 Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass ein Teil des Niederschlesiens in den Grenzen von 1945 ein Drittel der 1950 entstandenen Wojewodschaft Grünberg ausmachte und dort 875 Betriebe gezählt wurden.306 Hieraus lässt sich ableiten, dass es in Niederschlesien in seinen Grenzen von 1950 mindestens etwa 2.700 Industriebetriebe gegeben hat. Die geplante umfangreiche Zerstörung der Betriebe blieb also überwiegend aus. Auch steht dem der Wortlaut des Sechsjahresplan entgegen. Er sah wie bereits erwähnt bei den kleinen Betrieben ein Wachstum von 358 Prozent vor. Diese beeindruckende Zahl, die auf eine Verviereinhalbfachung der Produktion hindeutet, darf zwar nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Anteil an der wirtschaftlichen Gesamtproduktion „nur“ von acht auf 16 Prozent steigen sollte. Jedoch spricht es zunächst nicht dafür, dass die kleinen Betriebe gezielt vernachlässigt werden sollten. Die Ingangsetzung der Industrie war ein Prozess, der von vielen Hemmnisfaktoren beeinflusst war. So warfen der Zugang zu Rohstoffen, die Zerstörung materiellen Kapitals sowie der zeitaufwendige Zugang zu allen Betrieben Probleme auf, die zunächst gelöst werden mussten. In Niederschlesien bzw. in den ehemaligen deutschen Ostprovinzen kamen noch weitere Probleme hinzu. Sie betrafen zunächst die Bevölkerungspolitik. Nachdem politisch die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung entschieden wurde, wurde automatisch die Besiedlung durch die polnische Bevölkerung beschlossen. Schon während der ersten Jahre des Sechsjahresplans stellte sich heraus, dass zahlreiche kleinere Wirtschaftsbetriebe – also nicht nur Industriebetriebe – nicht in Gang gesetzt werden konnten. Das führte dazu, dass die PKPG Inventuren der Wirtschaftsbetriebe anfertigen ließ, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie mit den Betrieben verfahren werden sollte.307 Diese Erhebungen machen deutlich, dass eine Zerstörung „überflüssiger“ Wirtschaftsbetriebe keine Maßnahme war, die leichtfertig erwogen wurde. Beispielsweise hat die PKPG von den Wirtschaftsplanungskommissionen auf Wojewodschaftsebene (WKPG) eine Liste sämtlicher nicht bzw. nur unzureichend laufender Betriebe angefordert.308 Bei dieser Inventurliste wurde Wert auf Sorgfalt gelegt. Diesen Schluss legt der Brief vom 30. Juni 1953 nahe, der diesen Listen beigelegt ist. Hierin versichert der stellvertretende Vorsitzende der niederschlesischen WKPG Zdzisław Marał, dass in vielen Fällen die Informationen durch Rücksprache überprüft worden seien und die Inventurlisten somit korrekt seien.309 Die Inventurlisten geben keine Auskunft darüber, mit Werken welcher Größe sie sich beschäftigen. Doch zeigen sie, dass es allein in der Wojewodschaft Niederschlesien, das aufgrund der Verwaltungsreform vom März 1950 beinahe 25 Prozent kleiner war als der Regierungsbezirk Niederschlesien vor 1945, über 1.500 nicht oder schlecht laufende Betriebe gab. Angesichts der Tatsache, dass es im – flächenmäßig weit größeren – Niederschlesien von 1944 insgesamt nur wenig mehr als 305 306 307 308 309
Vgl. Smoli´nski/Przedpelski/Gruchman, Struktura (wie Anm. 24, S. 54), S. 169. Vgl. ebd. Vgl. AAN PKPG/2840-2844. Vgl. AAN PKPG/2840. AAN PKPG/2840.
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3.000 Industriebetriebe gab310 , muss hieraus geschlossen werden, dass auch Handwerksbetriebe von der Inventur erfasst wurden. Dies widerspricht der Annahme, die PKPG würde Kleinbetriebe für wirtschaftlich wertlos halten und zerstören wollen. Auch die in der Literatur insbesondere im Zusammenhang mit dem Sechsjahresplan vertretene Annahme, die Schwerindustrie habe eine einseitige Förderung erfahren, die auf Kosten anderer Industriezweige ging – etwa der in Niederschlesien stark ausgeprägten Leichtindustrie –, lässt sich nicht halten. Kazimierz Secomski, Vorsitzender der „Kommission zur Bearbeitung des Problems der verlassenen und nicht laufenen Objekte der Staatlichen Kommission für Wirtschaftsplanung“ („Komisja do opracowania zagadnienia opuszczonych i nieczynnych obiektów przy Pa´nstwowej Komisji Planowania Gospodarczego“), wandte sich im Schreiben vom 18. Mai 1951 an die Wirtschaftsplanungskommission Niederschlesiens mit der Aufforderung, ihm Informationen über den Zustand der ungenutzten Wirtschaftsobjekte der Leichtindustrie zukommen zu lassen, da diese in Warschau noch nicht zur Verfügung stünden. Auch forderte er Informationen über die weiteren geplanten Vorhaben an.311 Diesem Schreiben liegt ebenfalls ein Dokument bei, das 219 nicht laufende Betriebe der Leichtindustrie auflistet.312 Zwei Jahre später, am 24. Dezember 1953, wendet sich Secomski nochmals an die Breslauer WKPG. Dem Schreiben liegt wieder eine Liste mit Industrien von lokaler Bedeutung bei. Hierbei handelt es sich ebenfalls weit überwiegend um Betriebe der Leichtindustrie, und das WKPG wird gebeten, die Liste auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.313 Die Liste an Beispielen, die dokumentieren, dass die Probleme bei der Ingangsetzung zahlreicher Betriebe verschiedener Industriezweige bekämpft wurden und die Wirtschaftsplaner dieser Frage viel Aufmerksamkeit widmeten, lässt sich beliebig fortsetzen.314 Diese Bemühungen um Informationen über die Leichtindustrie sowie über die nicht laufenden Betriebe sprechen sehr deutlich gegen die Unterstellung einer Vernachlässigung. Naheliegender ist eine andere Annahme. Die Ingangsetzung von nicht laufenden Betrieben war ein Problemkomplex, dem die PKPG viel Aufmerksamkeit widmete. Ein Briefwechsel von 1955 macht das deutlich. Die Abteilung für Investitionen (Departament Inwestycji) der PKPG sandte im Juli und August 1955 zahlreiche Briefe an die Planungskommissionen der jeweiligen Kreise (Powjatowa Komisja Planowania Gospodarczego). Hierin wurde Antwort auf die Frage erbeten, weshalb bestimmte Industriebetriebe noch nicht erfolgreich in Betrieb gesetzt worden seien.315 Es ist zwar nicht in allen Fällen bekannt, ob es sich um Betriebe handelte, die erst nach dem Krieg errichtet wurden. Zahlreiche Antwortschreiben verweisen 310 Chumi´nski geht in seiner Aufstellung von 3.008 Betrieben aus, die Aufstellung der Gauwirtschaftskammer Niederschlesien für das Jahr 1944 von über 3.200; vgl. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 57; BA R 11/70, Bl. 73. 311 AAN PKPG/2841, Bl. 1. 312 AAN PKPG/2841, Bl. 5–7. 313 AAN PKPG/2841, Bl. 8 ff. 314 Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zwischen dem PKPG und dem WKPG in Breslau; AAN PKPG/2844, 2842. 315 Vgl. AAN PKPG/2844, Bl 5.
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jedoch auf die Schäden durch Krieg und Demontagen, was bedeutet, dass in den meisten Fällen ältere Betriebe betroffen waren. Was lässt sich hieraus schließen? Der Befund steht zunächst nicht den Diagnosen der bisherigen Historiographie entgegen, dass die kleinen und mittleren Betriebe einen geringeren Beitrag zur Industrieproduktion leisteten als es ihrem Potenzial entsprach und sich die Arbeitskräfte auf große Betriebe konzentrierten.316 Jedoch wurde bisher keine plausible Begründung für das Scheitern der Reaktivierung der Wirtschaftsbetriebe angeboten. Es blieb bei allgemeinen Erklärungsansätzen, etwa dem der prinzipiellen Bevorzugung von Großbetrieben, der einseitigen Kanalisierung der Ressourcen oder der Strategie der „forcierten Industrialisierung“, die mit der Kopie des sowjetischen Wirtschaftsmodells gleichgesetzt wurde. Die genannten Quellen deuten jedoch – zumindest für Niederschlesien – auf eine anderen Grund hin. Dass zahlreiche Betriebe nicht in Betrieb gesetzt werden konnten, war nicht politisch gewollt. Vielmehr muss vom Gegenteil ausgegangen werden: Die Ingangsetzung wurde angestrebt, wovon zahlreiche Quellen zeugen.317 Manche Probleme lassen sich mit den bekannten Argumenten klären, wie etwa dem Mangel an Energie und Rohstoffen. Tatsächlich scheiterte die Ingangsetzung immer wieder teilweise – folgt man dem Wortlaut der Korrespondenz – an notwendigen Lieferungen oder Investitionen. Eine Glasschleiferei in Bunzlau beispielsweise wurde im Jahr 1950 zwar in Betrieb gesetzt, doch wurden die im Krieg und durch die Entwendung der vorhandenen Werkzeuge und Maschinen entstandenen Schäden bis 1955 noch nicht wieder beseitigt.318 Eine Glashütte „Meister Kleinert“ im westniederschlesischen Zgorzelec wurde im Krieg stark – der Autor schreibt zu 90 Prozent – zerstört und blieb es weiterhin.319 Diese Liste ließe sich noch erweitern. Probleme dieser Art hätten jedoch leicht erkannt werden können und eine Lösung wäre durchaus zu realisieren gewesen. Nicht alle Fälle erfolgloser Ingangsetzung lassen sich jedoch auf diese Weise erklären. Sehr häufig wurden die Betriebe auf andere Art und Weise genutzt. Im Kreis Wohlau beispielsweise wurden eine ehemalige Flugzeugteilefabrik sowie eine Fabrik für Radiotechnik als Mechanik-Werkstätten genutzt.320 In Schosdorf scheiterte der Wiederaufbau einer Flugzeugteilefabrik, obwohl das Gebäude noch nutzbar war. Daher wurde ein Sachverständiger aus der Verwaltung der Wojewodschaft angefordert, um zu klären, wie die Fabrik weiter zu nutzen sei.321 Ein ähnliches Problem wird bei der Fabrik für Elektroteile „Ackermann“ in Alt Schönau im Kreis Goldberg genannt. Auch hier gelang die Aktivierung nicht, da nach der technischen Ausschlachtung keine Möglichkeit mehr gesehen wurde, die Firma zu
316 Smoli´nski/Przedpelski/Gruchman, Struktura (wie Anm. 24, S. 54), Bd. 1, S. 75. 317 Vgl. AAN PKPG/2840, 2842; vgl. auch Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 68. 318 Vgl. AAN PKPG/2844, Bl. 22. 319 AAN PKPG/2844, Bl. 32. 320 AAN PKPG/2844, Bl. 5. 321 AAN PKPG/2844, Bl. 25.
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nutzen.322 Ferner wurden zahlreiche Betriebe als Lager genutzt. Dieses Schicksal widerfuhr beispielsweise einer Emaille-Fabrik in Bunzlau, zu der es hieß, sie habe ihren „Produktionscharakter“ verloren – eine Erklärung, die zumindest misstrauisch macht. Zwar bedeutete der Sechsjahresplan selbst eine Verschiebung weg von der Konsumgüterindustrie, doch erklärt das nicht, weshalb es im zweiten Jahrfünft der 40er Jahre nicht gelang, diesen Betrieb in Gang zu setzen, zumal der Bedarf an Konsumprodukten dieser Art sehr hoch war.323 Folgt man Kociszewski, so wurden zwischen 1951 und 1955 21 Prozent bzw. 3.856 der in den Neuen Gebieten befindlichen Industriebetriebe nicht bewirtschaftet.324 Wie zutreffend diese Angabe Kociszewskis genau ist, lässt sich nicht nachvollziehen, da er die Angabe in seiner Habilitationsschrift nicht zitiert. Die Schätzung jedoch, dass etwa 20 Prozent der Industriebetriebe nicht bewirtschaftet wurden, ist glaubwürdig. Diese Zahl betrifft zwar die gesamten Neuen Gebiete. Die Auflistung der nicht laufenden Wirtschaftsbetriebe lässt jedoch darauf schließen, dass auch in Niederschlesien ein großer Teil der Betriebe nicht genutzt werden konnte.325 Die beschriebenen Fälle machen deutlich, dass der Mangel an Ressourcen die Probleme bei der Ingangsetzung zahlreicher Betriebe nicht zu erklären vermag und die Annahme, das Zentrale Planungsamt PKPG habe kleine und mittlere Betriebe vorsätzlich vernachlässigt, nicht als alleinige Erklärung ausreicht. Diese Erkenntnis zwingt dazu, die bisherige Argumentation zur Erklärung der wirtschaftlichen Probleme Niederschlesiens in Frage zu stellen. Dass die Inbetriebsetzung in vielen Fällen scheiterte, lag nicht bloß daran, dass man es nicht wollte. 4. BILANZ 4.1. Der Zustand der niederschlesischen Industrie 1956 In den vorangegangenen Kapiteln wurde der Versuch unternommen, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Neuen Gebieten und in Niederschlesien zu beschreiben. Im Folgenden wird untersucht, wie sie sich auswirkten und wie erfolgreich sie waren. Gelang es, in Niederschlesien einen Rekonstruktionseffekt zu entfachen? Und wie entwickelte sich die industrielle Struktur? Hatten auch nach 1945 die jeweiligen Industriezweige dieselbe Bedeutung wie vor 1945? Eine empirische Untersuchung, die helfen kann, diese Fragen zu beantworten, wurde bisher nicht unternommen. Dies liegt auch an der Quellenlage. Für die niederschlesische Industrie stehen nur wenige Statistiken zur Verfügung, die vom „Allgemeinen Statistikamt“ erstellt wurden. Die Nutzung dieser Statistiken kann zudem nur mit größter Vorsicht erfolgen. Das gilt insbesondere, wenn man versucht, eine Entwicklung nachzuzeichnen, die ihren Ausgangspunkt „auf deutscher Seite“ hat und über das Jahr 1945 hinausgeht. 322 323 324 325
AAN PKPG/2844, Bl. 27. AAN PKPG/2844, Bl. 19. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 68. Vgl. AAN PKPG/2840.
4. Bilanz
173
Ein Grund hierfür sind die verschiedenen Verwaltungsreformen bis März 1950. Die provisorische Grenzfestlegung vom 14. März 1945 wurde am 7. Juli 1945 geändert. Die nördlichen Kreise Niederschlesiens gingen auf Ostpommern über, im Westen Niederschlesiens kam ein kleines Gebiet südlich von Görlitz hinzu. Der Beschluss des Ministerrats vom 29. Mai 1946 legte schließlich die Nordgrenze fest, die seit 1950 die Südgrenze der Wojewodschaft Grünberg bildete. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die Struktur der Kreise und der ländlichen und städtischen Gemeinden eingeführt.326 Durch die Reformen wurde die Wojewodschaft Niederschlesien verkleinert zugunsten der neu geschaffenen Wojewodschaften Grünberg ´ ask (Zielona Góra) im Norden und Oppelner Schlesien (Sl ˛ Opolski) im Süden. Dabei gingen die Kreise Sorau, Sagan, Sprottau, Freystadt und Glogau im Nordwesten Niederschlesiens auf die neue Wojewodschaft im Norden über, Namslau und Brieg wurden Teil Oppelner Schlesiens.327 Damit verringerte sich die Fläche Niederschlesiens östlich der Neiße von etwa 24.800 Quadratkilometer im Jahr 1941 auf etwa 19.000 Quadratkilometer.328 Das hat Folgen für die empirischen Quellen, da sie sich faktisch auf Regionen beziehen, die nicht deckungsgleich sind. Zahlreiche Datensammlungen sind jedoch auf Kreisebene erhoben worden, so dass sich das beschriebene Problem teilweise kompensieren lässt. Auch der Umgang mit den statistischen Jahrbüchern ist mit Problemen behaftet. Diese wurden für das gesamte polnische Staatsgebiet einschließlich der Neuen Gebiete erstellt sowie ab 1957 auch für die Wojewodschaft Niederschlesien. Die Jahrbücher für die Industrie – und auch die Landwirtschaft – beinhalten quantitative Angaben, die es auf den ersten Blick ermöglichen, die Entwicklung nachzuvollziehen. Mit der Nutzung dieser Quellen sind jedoch zahlreiche Probleme verbunden, die ihren wissenschaftlichen Wert einschränken. Bei dem Jahrbuch für die Wojewodschaft Niederschlesien besteht das Problem darin, dass Unklarheit darüber besteht, ob tatsächlich alle Industriebetriebe erfasst sind. Ein Umstand, auf den die Publikation selbst hinweist.329 Zusätzlich besteht das Problem, dass die genossenschaftlich organisierten Industriebetriebe ebenfalls nicht vollständig erfasst sind.330 Diese Einschränkungen haben zur Folge, dass – obwohl die staatliche Industrie berücksichtigt ist – die Brennstoffindustrie inklusive der Kohleindustrie nicht von der Erhebung berücksichtigt wird. Erst für die Zeit ab 1960 gibt es – etwa in der Erhebung „Die West- und Nordgebiete in Zahlen“331 – verlässliche Zahlen, die nach Wojewodschaft und Industriezweig aufgeschlüsselt sind und Auskunft über die Industrieproduktion der Neuen Gebiete geben. Diese Angaben lassen sich nutzen, um die Bedeutung der einzelnen Industriezweige einander gegenüberzustellen.332 326 327 328 329 330 331
Vgl. Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 109 ff. Bahr, Der niederschlesische Raum (wie Anm. 5, S. 50), S. 3 f. Vgl. ebd., S. 1, 4. Rocznik Województwa Wrocławskiego 1957 [Jahrbuch der Wojewodschaft Breslau], S. 5. Ebd., S. 36. Ziemie Zachodnie i Północne w liczbach [Die West- und Nordgebiete in Zahlen] (GUS), Warschau 1966. 332 Das Wachstum, dass in den Statistischen Jahrbüchern aus diesen Angaben abgeleitet wird, ist
174
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Wie hat sich Niederschlesien bis 1956 entwickelt? 1945/46 wurden die oberund die niederschlesische Industrie beim Wiederaufbau stark bevorzugt.333 Niederschlesien nahm nach 1945 eine vitale Rolle in der Wirtschaft Polens ein. Die Zahl der in der niederschlesischen Industrie Beschäftigten stieg von 60.000 im November 1945 auf etwas über 120.000 ein Jahr später.334 Betrachtet man den Erfolg bei der Ingangsetzung der gesamtpolnischen Industrie, scheint das Ergebnis für sich zu sprechen. Im Schnitt wurden im Jahr 1945 66 Prozent der Betriebe wieder in Gang gesetzt.335 Ein Blick auf Niederschlesien trübt diesen Eindruck jedoch. Dort konnten 1945 nur 38 Prozent der 4.734 Betriebe in Gang gesetzt werden, 53 Prozent standen noch still, zu neun Prozent gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine Informationen.336 In den übrigen Neuen Gebieten war die Situation ähnlich: „Die wenigsten arbeitenden Betriebe gab es in den im Westen und Norden gelegenen Wojewodschaften.“337 Die Interpretation dieser Beobachtung ist problematisch. Zunächst lassen sich die Verzögerungen dadurch erklären, dass die Vertreibung der deutschen Bevölkerung und die damit einhergehende Ansiedlung der polnischen Bevölkerung zu Schwierigkeiten bei der Ingangsetzung der Industrie führte. Auch der Problemkomplex fehlender Informationen über die lokale Wirtschaft kann hier als Erklärung dienen. Die Feststellung der rascheren Rekonstruktion der Alten Gebiete lenkt den Blick jedoch auch auf ein anderes Problem. Ob die Neuen oder die Alten Gebiete stärker zerstört waren, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr eindeutig klären. Unbestritten ist jedenfalls, dass die Zerstörungen in den Alten Gebieten von den Zeitgenossen als hoch eingeschätzt wurden und die Literatur hier keine explizite Unterscheidung vornahm.338 Wichtiger als das Ausmaß der Verzögerung ist jedoch die Frage, ob bzw. in welchem Umfang überhaupt möglich war, die Industrie zu reaktivieren.
333 334 335 336
337 338
hingegen verzerrt. Da im kommunistischen Polen der Wert der produzierten Waren nicht durch den Markt, sondern durch die zentrale Planungsbehörde PKPG festgelegt wurde, kann so ein virtuelles Wachstum suggeriert werden, dem kein entsprechendes Produktionsniveau gegenübersteht. Skobelski, Ziemie Zachodnie 1950–1955 (wie Anm. 18, S. 122), S. 34. Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 186. Ders., Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 59. Ebd., S. 58; Jankowski, Rozwój Przemysłu Polskiego (wie Anm. 67, S. 129), S. 130 f. Die Zahl von 4.734 Betrieben deutet darauf hin, dass neben den etwa 3.000 Industriebetrieben weitere Wirtschaftsobjekte von der Zählung erfasst wurden. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 59. Vgl. Marian Eckert, Polish Engineers: Their Contribution to Poland’s Economic Development in the 20th Century, in: Studia Historiae Oeconomicae 25 (2004), 103–117, hier S. 112; Muszy´nski (Hrsg.), Sprawozdanie (wie Anm. 44, S. 126), S. 146-148. Der Ansicht umfassender Zerstörungen in den Alten Gebieten Polens wird jedoch auch von anderer Seite widersprochen: „Wir müssen immer im Auge behalten, dass, mit Ausnahme Warschaus, die Zerstörung Westdeutschlands allein durch die Bombardierung der Städte viel größer war als die Zerstörung hierzulande. Für einen Polen ist dies psychologisch schwer zu akzeptieren, aber außer Warschau wurde keine Großstadt im damaligen Polen zu mehr als 20 Prozent zerstört. Es wurden freilich einige kleinere Städte vernichtet. In Deutschland hingegen waren Dutzende von großen und mittelgroßen Städten betroffen.“; Władysław Bartoszewski, Und reiß uns den Hass aus der Seele. Die schwierige Aussöhnung von Polen und Deutschen, Warschau 2005, S. 20.
4. Bilanz
175
Um auf die Spur der Entwicklung der niederschlesischen Industrie zu kommen, lohnt sich eine Gegenüberstellung mehrerer Indikatoren der Jahre 1936 und 1956. Für diese Untersuchung erlauben es die Quellen, die Verteilung der Beschäftigten sowie der Industrieproduktion auf die Industriezweige einander gegenüberzustellen. Eine Interpretation dieser Angaben kann zwar nur sehr vorsichtig erfolgen. Die Statistiken wurden von verschiedenen statistischen Ämtern erstellt, und die Methodik sowie die Terminologie beider Aufstellungen sind nicht deckungsgleich. Die Statistik zu 1936 fußt auf den Tabellen III.2, III.3 und III.4339 sowie auf dem Industriezensus von 1936.340 Die Tabelle zum Jahr 1960 baut auf einer Erhebung des Allgemeinen Statistikamts der Volksrepublik Polen auf, die 1966 veröffentlicht wurde.341 Neben der Frage der Zuordnung der Betriebe zu den jeweiligen Industriezweigen stellt sich das Problem, dass die Statistik zu 1960 die Wojewodschaft Niederschlesien in seinen Grenzen behandelt, die in der Verwaltungsreform vom März 1950 festgelegt wurden.
339 Vgl. S. 64. 340 Die Deutsche Industrie. Gesamtergebnisse der amtlichen Produktionsstatistik (Schriftenreihe des Reichsamts für Wehrwirtschaftliche Planung 1), Berlin 1939. 341 Ziemie Zachodnie i Północne w liczbach [Die West- und Nordgebiete in Zahlen] (GUS), Warschau 1966.
176
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Abbildung IV.1.: Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1936 Übrige Industriezweige
0,00%
Poligraphieindustrie u. Kulturobjekte
0,00%
Lebensmittelindustrie Fett- und Seifenkosmetikindustrie Leder-, Pelz- und Schuhindustrie
10,55% 0,39% 1,75%
Bekleidungsindustrie
4,29%
Textilindustrie
20,18%
Papierindustrie
6,18%
Holzindustrie
6,65%
Glas- und Fayence-Porzellan-Industrie
8,17%
Industrie der Baumaterialien
13,58%
Abbau von Mineralien u. Abbauprodukten
0,00%
Gummiindustrie
0,00%
Chemische Industrie
2,34%
Feinmechanische u. Optische Industrie
0,44%
Elektroindustrie
0,55%
Baumaschinen- und Metallindustrie
13,27%
Metall- und Nichteisenhüttenindustrie
0,26%
Eisenhüttenindustrie
0,00%
Kraftstoff- und Kokschemieindustrie Produktion elektrischer u. Wärmeenergie
11,36% 0,04%
Quelle: Die Deutsche Industrie, S. 146 f.
177
4. Bilanz
Abbildung IV.2.: Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1942 Übrige Industriezweige
0,00%
Poligraphieindustrie u. Kulturobjekte
0,00%
Lebensmittelindustrie Fett- und Seifenkosmetikindustrie Leder-, Pelz- und Schuhindustrie
8,23% 0,00% 1,18%
Bekleidungsindustrie
6,75%
Textilindustrie
15,56%
Papierindustrie
6,10%
Holzindustrie
Glas- und Fayence-Porzellan-Industrie
7,18% 3,63%
Industrie der Baumaterialien
6,58%
Abbau von Mineralien u. Abbauprodukten
0,00%
Gummiindustrie
0,00%
Chemische Industrie Feinmechanische u. Optische Industrie Elektroindustrie
4,70% 0,53% 2,19%
Baumaschinen- und Metallindustrie
25,23%
Metall- und Nichteisenhüttenindustrie
0,19%
Eisenhüttenindustrie
0,03%
Kraftstoff- und Kokschemieindustrie Produktion elektrischer u. Wärmeenergie
11,92% 0,00%
Quelle: BA R 11/70, Bl. 67–69.
178
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Abbildung IV.3.: Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1944 Übrige Industriezweige
0,00%
Poligraphieindustrie u. Kulturobjekte
0,00%
Lebensmittelindustrie Fett- und Seifenkosmetikindustrie Leder-, Pelz- und Schuhindustrie Bekleidungsindustrie
5,95% 0,00% 0,87% 5,45%
Textilindustrie Papierindustrie
8,86% 3,92%
Holzindustrie
Glas- und Fayence-Porzellan-Industrie Industrie der Baumaterialien
5,65% 2,63% 5,34%
Abbau von Mineralien u. Abbauprodukten
0,00%
Gummiindustrie
0,00%
Chemische Industrie Feinmechanische u. Optische Industrie
6,23% 0,91%
Elektroindustrie
6,69%
Baumaschinen- und Metallindustrie
36,16%
Metall- und Nichteisenhüttenindustrie
0,46%
Eisenhüttenindustrie
0,36%
Kraftstoff- und Kokschemieindustrie Produktion elektrischer u. Wärmeenergie
10,51% 0,00%
Quelle: BA R 11/70, Bl. 70–72.
179
4. Bilanz
Abbildung IV.4.: Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1946 Übrige Industriezweige Poligraphieindustrie u. Kulturobjekte
1,79% 0,00%
Lebensmittelindustrie Fett- und Seifenkosmetikindustrie Leder-, Pelz- und Schuhindustrie
10,44% 0,29% 1,31%
Bekleidungsindustrie
4,95%
Textilindustrie Papierindustrie
24,65%
3,60%
Holzindustrie
5,14%
Glas- und Fayence-Porzellan-Industrie
4,48%
Industrie der Baumaterialien Abbau von Mineralien u. Abbauprodukten Gummiindustrie Chemische Industrie
6,28% 0,00% 0,66% 2,38%
Baumaschinenindustrie und Metallindustrie
13,92%
Metall- und Nichteisenhüttenindustrie
0,08%
Eisenhüttenindustrie
0,29%
Kraftstoff- und Kokschemieindustrie
Produktion elektrischer u. Wärmeenergie
16,92% 2,80%
Quelle: Rozmieszczenie Przemysłu Według Województw i Powiatów w Latach 1946 i 1956 (GUS) [Verteilung der Industrie nach Wojewodschaften und Kreisen], Warschau 1960, S. 3, 26 f., 30.
180
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Abbildung IV.5.: Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1956 Übrige Industriezweige Poligraphieindustrie u. Kulturobjekte
0,66% 2,01%
Lebensmittelindustrie Fett- und Seifenkosmetikindustrie Leder-, Pelz- und Schuhindustrie
10,77% 0,30% 2,80%
Bekleidungsindustrie
4,72%
Textilindustrie Papierindustrie
16,58%
2,04%
Holzindustrie
5,91%
Glas- und Fayence-Porzellan-Industrie
3,88%
Industrie der Baumaterialien
8,19%
Abbau von Mineralien u. Abbauprodukten
0,05%
Gummiindustrie
0,13%
Chemische Industrie
4,28%
Baumaschinenindustrie und Metallindustrie Metall- und Nichteisenhüttenindustrie Eisenhüttenindustrie
22,16% 2,79% 0,32%
Kraftstoff- und Kokschemieindustrie
Produktion elektrischer u. Wärmeenergie
10,75% 1,65%
Quelle: Rozmieszczenie Przemysłu Według Województw i Powiatów w Latach 1946 i 1956 (GUS) [Verteilung der Industrie nach Wojewodschaften und Kreisen], Warschau 1960, S. 3, 26 f., 30.
181
4. Bilanz
Abbildung IV.6.: Verteilung der Beschäftigten Niederschlesiens auf die Industriezweige 1956 (in den Grenzen von 1950) Übrige Industriezweige Poligraphieindustrie u. Kulturobjekte
0,60% 2,00%
Lebensmittelindustrie Fett- und Seifenkosmetikindustrie Leder-, Pelz- und Schuhindustrie
9,66% 0,30% 2,83%
Bekleidungsindustrie
4,89%
Textilindustrie Papierindustrie
16,97%
2,13%
Holzindustrie
5,56%
Glas- und Fayence-Porzellan-Industrie
4,18%
Industrie der Baumaterialien
8,36%
Abbau von Mineralien u. Abbauprodukten
0,06%
Gummiindustrie
0,14%
Chemische Industrie
4,62%
Baumaschinenindustrie und Metallindustrie Metall- und Nichteisenhüttenindustrie Eisenhüttenindustrie
21,12% 3,01% 0,35%
Kraftstoff- und Kokschemieindustrie
Produktion elektrischer u. Wärmeenergie
11,52% 1,68%
Quelle: Rozmieszczenie Przemysłu Według Województw i Powiatów w Latach 1946 i 1956 (GUS) [Verteilung der Industrie nach Wojewodschaften und Kreisen], Warschau 1960, S. 3, 26 f., 30.
182
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Tabelle IV.1.: Beschäftigte in absoluten Zahlen342 Jahr Zahl der Beschäftigten 1936 241.418 1942 238.365 1944 342.595 1946 149.601 1956 309.397 1956 (a) 286.591 Zunächst stellt sich daher die Frage, welche Folgen dies für die Gegenüberstellung der Statistiken hat, die vor bzw. nach 1945 erstellt wurden. Die Abbildungen IV.5 und IV.6343 geben hier Aufschluss. Bei Abbildung IV.5 wurden die Kreise, die 1936 noch Teil der Provinz Niederschlesien waren, berücksichtigt, bei der Abbildung IV.6 nicht. Ausgenommen sind nur die westniederschlesischen Kreise, die nach 1945 der SBZ zufielen. Eine Gegenüberstellung der beiden Abbildungen zeigt, dass sich die Grenzverschiebungen nur geringfügig auf die Verteilung der Beschäftigten auswirkte. Die Abweichungen liegen mit Ausnahme der Lebensmittelindustrie bei unter einem Prozent. Aus der Grenzverschiebung ergeben sich also Abweichungen. Diese sind jedoch so gering, dass sie einer vergleichenden Gegenüberstellung nicht im Wege stehen. Welche Befunde lassen sich den Angaben zur Beschäftigung entnehmen? Zunächst zeigen die Abbildungen, dass es bis 1944 zu einer Konzentration der Arbeitskräfte auf die Baumaschinen- und Metallindustrie kam, was die Rüstungsindustrie mit einschloss. Mehr als ein Drittel aller Industriearbeiter waren dort beschäftigt. Diese Entwicklung wurde bereits problematisiert und erklärt sich durch die Verlagerungen, die Ausweitung der Rüstungsproduktion sowie die Stilllegungsaktionen. Berücksichtigt man die Abbildungen zu den Jahren 1946 und 1956, lässt sich eine „Rückkehr“ zum Stand von 1936 beobachten. Insbesondere der direkte Vergleich der Beschäftigtenstatistiken von 1936 und 1956 zeigt eine deutlich erkennbare Konstanz. Trotz der zeitlichen Entwicklung und dem Zweiten Weltkrieg geht aus den Abbildungen klar hervor, dass es zu keinem signifikanten Bruch kam. Die Gegenüberstellung der Beschäftigtenverteilung in der Industrie Niederschlesiens von 1936 und 1956 ermöglicht auch eine Erarbeitung, in welchen Bereichen sich Niederschlesiens Wirtschaft gewandelt hat und in welchen nicht. Es handelt sich zwar bei beiden Tabellen um relative Angaben, die sich auf verschiedene Gesamtzahlen beziehen. Da 1956 jedoch deutlich mehr Beschäftigte in der Industrie tätig waren als 1936 – 309.000 gegenüber etwa 240.000 20 Jahre davor –, bedeutet das keine „Benachteiligung“ der niederschlesischen Industrie 1956. In mehreren Industriezweigen ist eine klare Konstanz erkennbar. In der Lebensmittelindustrie waren 1936 10,5 Prozent aller Industriebeschäftigten tätig, 1956 10,77 Prozent. In 342 Quelle: Vgl. Abb. IV.1 – IV.6. 343 Vgl. S. 180 und S. 181.
4. Bilanz
183
der Textilindustrie stehen 20,18 Prozent 16,58 Prozent gegenüber. Dieser relative Rückgang war ein absoluter Anstieg von 48.000 auf etwas über 51.000 Beschäftigte. Auch bei der Holzindustrie sowie bei der Kraftstoff- und Kokschemieindustrie gab es nur marginale Verschiebungen. Der auffälligste Unterschied zeigt sich bei der Baumaschinen- und Metallindustrie. Diese nahm 1956 22,16 Prozent oder 68.574 aller Beschäftigten auf. 1936 waren hier 13,27 Prozent oder gut 32.000 beschäftigt. Hier ist der relative wie absolute Anstieg besonders deutlich. Dies spricht dafür, dass die verlagerten Betriebe auch auf polnischer Seite teilweise bewirtschaftet wurden.344 Die hier genutzten absoluten Zahlen bergen das Problem, dass unklar ist, inwieweit die Beschäftigung auf polnischer Seite durch die Nutzung bereits vorhandener Betriebe generiert wurde bzw. dies durch neu erschaffene Betriebe geschah. Die beobachtete Konstanz bei der Beschäftigung spricht jedoch dafür, dass die zu Kriegsende vorhandenen Kapazitäten auch den Nukleus der Industrieproduktion im Jahr 1956 bzw. 1960 bildeten. Damit lässt sich festhalten, dass es eine erkennbare Kontinuität bei der Industriebeschäftigung gab. Eine übermäßige Förderung der Schwerindustrie während des Sechsjahresplans lässt sich aus diesen Abgaben nicht ableiten. Eng mit dem Themenkomplex der Beschäftigung ist auch die Frage verbunden, wie sich die Produktion entwickelte. Gab es Verschiebungen, oder blieb die Bedeutung der einzelnen Industriezweige, etwa der Textil- und Bekleidungsindustrie und der Lebensmittelindustrie, konstant? Der Sechsjahresplan sah eine Steigerung der Chemischen Industrie, der Maschinenbau- und Elektrotechnikindustrie und der Metall- und Nichtmetallverhüttung vor. Die Leichtindustrie sowie die Lebensmittelindustrie sollten hier zurückstehen.345 Auf dieser Grundlage wäre zu erwarten, dass in Niederschlesien auch genau diese Industrien eine höhere Bedeutung hatten als zuvor und umgekehrt die „vernachlässigten“ Industrien entsprechend an Bedeutung verloren. Ein Vergleich beider Grafiken bestätigt diese Erwartungen jedoch nicht. Besonders auffällig ist zunächst die Bedeutung der Lebensmittelindustrie im Jahr 1960. Sie macht mit einem Anteil von etwas über 21 Prozent einen Großteil der Industrieproduktion aus. Dies stellt einen deutlichen Anstieg gegenüber 1936 dar, wo die Nahrungs- und Genussmittelindustrie einen Anteil von etwa zehn Prozent hatte. Als nächster wichtiger Industriezweig ist die Textil- und Bekleidungsindustrie zu nennen, die 1960 einen Anteil von etwa zwölf Prozent hatte. Nimmt man die Leder- und Schuhindustrie sowie die Bekleidungsindustrie hinzu, ergibt sich ein Anteil von über 20 Prozent. 1936 hatten die Textil- und Bekleidungsindustrie einen Anteil von zusammen über 18 Prozent. Somit steigerten diese beiden Industriezweige ihren Anteil von zusammen etwa 23 Prozent 1936 auf 33 Prozent 1960. Damit wuchsen genau jene Industriezweige, die ausdrücklich nur eingeschränkt gefördert werden sollten. Ein Vergleich mit den entsprechenden Produktionswerten ganz Po344 Eine Einschränkung bei der Nutzung der Statistiken ergibt sich daraus, dass die Statistiken zu 1936, 1942 und 1944 die Kategorien „Elektroindustrie“ und „Feinmechanische und Optische Industrie“ beinhalten. Bei den Statistiken zu 1946 und 1956 ist das nicht der Fall. 345 Vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 147.
184
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Abbildung IV.7.: Anteil der Industriezweige an der Industrieproduktion Niederschlesiens 1936 Übrige Industriezweige:
0,40%
Lebensmittelindustrie: Leder- und Schuhindustrie: Bekleidungsindustrie:
9,64%
1,08% 4,18%
Textilindustrie:
13,14%
Poligraphische Industrie:
2,59%
Papierindustrie:
2,98%
Holzindustrie: Porzellan- und Fayence-Industrie:
3,78% 0,00%
Glasindustrie:
4,67%
Industrie der Baumaterialien: Gummiindustrie: Chemische Industrie: Metallindustrie:
26,40% 0,01% 4,01% 2,85%
Industrie der Transportmittel:
0,00%
Elektrotechnik:
0,49%
Maschinen- u. Metallkonstruktionsindustrie:
7,49%
Nichteisenverhüttung:
0,40%
Eisenverhüttung:
0,00%
Brennstoffindustrie: Produktion elektrischer und Wärmeenergie:
8,65% 6,42%
Quelle: Die Deutsche Industrie, S. 146 f.
185
4. Bilanz
Abbildung IV.8.: Anteil der Industriezweige an der Industrieproduktion Niederschlesiens 1960 Übrige Industriezweige:
0,90%
Lebensmittelindustrie: Leder- und Schuhindustrie:
21,24%
3,42%
Bekleidungsindustrie:
4,17%
Textilindustrie: Poligraphische Industrie: Papierindustrie:
12,42% 0,43% 2,98%
Holzindustrie: Porzellan- und Fayence-Industrie:
Glasindustrie:
4,73% 0,87% 1,35%
Industrie der Baumaterialien: Gummiindustrie:
4,12% 0,11%
Chemische Industrie: Metallindustrie:
7,75% 2,76%
Industrie der Transportmittel: Elektrotechnik:
8,56% 4,01%
Maschinen- und…
4,33%
Nichteisenverhüttung: Eisenverhüttung:
5,72% 0,52%
Brennstoffindustrie: Produktion elektrischer und Wärmeenergie:
7,80% 1,80%
Quelle: Ziemie Zachodnie i Północne w liczbach [Die West- und Nordgebiete in Zahlen] (GUS), Warschau 1966, S. 62–65.
186
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
lens zeigt, dass die hervorstechende Bedeutung der Lebensmittelindustrie sowie der Textil-, Bekleidungs-, Leder- und Schuhindustrie kein Alleinstellungsmerkmal Niederschlesiens war. So nahm 1960 die Lebensmittelindustrie einen Anteil von 24,3 Prozent ein, die Textil-, Bekleidungs-, Leder- und Schuhindustrie zusammen 15 Prozent, was landesweit einen Anteil von beinahe 40 Prozent bedeutet.346 Addiert man den Anteil dieser Industriezweige für die Industrieproduktion Niederschlesiens, gelangt man ebenfalls zu etwa 41 Prozent. Damit entsprach der Wert für Niederschlesien dem polnischen Durchschnitt. Vergleichbares gilt für die Produktion Niederschlesiens in der Elektrotechnik – landesweit 3,5 Prozent gegenüber etwa 4,01 Prozent in Niederschlesien –, in der Maschinen- und Metallkonstruktionsindustrie – 5,6 Prozent gegenüber 4,33 Prozent –, in der Chemischen Industrie – 6,3 gegenüber 7,75 Prozent – oder in der Metallindustrie – 4,2 Prozent gegenüber 2,76 Prozent.347 Ähnlich wie bei der Verteilung der Beschäftigten gab es bei der Industrieproduktion zumindest keinen Bruch. In mehreren Wirtschaftszweigen gab es eine klare Konstanz. So gilt dies für die Brennstoffindustrie sowie für die Holz- und Papierindustrie. Die Textil-, Bekleidungs- und Lebensmittelindustrie hatten weiter eine wichtige Stellung. Stellt man den Anteil von gut 25 Prozent der Metallindustrie, der Industrie der Transportmittel, der Elektrotechnik, der Maschinen- und Metallkonstruktionsindustrie sowie der Eisen- und Nichteisenverhüttung im Jahre 1960 dem entsprechend summierten Anteil für 1936 – elf Prozent – gegenüber, ergibt sich somit jedoch ein deutlicher relativer Anstieg. Dieser Vergleich scheint zunächst die Erwartungen zu bestätigen, die man nach Betrachtung der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der 50er Jahre gehabt hätte. Eine solche Interpretation übersieht jedoch, dass die Statistik zu 1936 die Verlagerungen a priori nicht berücksichtigen kann. Der Produktionsanstieg in bestimmten Bereichen lässt sich ebenso wie der entsprechende Anstieg der Zahl der Beschäftigten zumindest teilweise auch dadurch plausibel erklären, dass die Kapazitäten in diesem Bereich durch die Verlagerungen deutlich erhöht wurden. Welchen Anteil jeweils die Verlagerungen und der Ausbau von Kapazitäten zu den Produktionssteigerungen beitrugen, lässt sich zumindest anhand der vorliegenden Quellen nicht ermitteln. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die beobachtete Kontinuität bei der Verteilung der Beschäftigten 1956 und die durchaus erkennbare Diskontinuität bei der Verteilung der Industrieproduktion Fragen aufwirft. Zwar gibt es bei den Statistiken zur Industrieproduktion verzerrende Faktoren. So liegt der Anteil der Industrie der Baumaterialien 1936 mit 26,4 Prozent unnatürlich hoch. Dies ist darin begründet, dass auch „sonstige Industriebereiche“ hierunter subsumiert wurden und sich dieser Faktor nicht isolieren lässt. Hinzu kommt ein weiteres Problem. Im kommunistischen Polen wurde die Industrieproduktion zwar in der Landeswährung Złoty gemessen. Der Wert der Produktionsgüter wurde jedoch nicht über den Markt ermittelt, sondern zentral durch die Staatliche Wirtschaftsplanungskommission PKPG 346 Vgl. Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 (GUS), Warschau 1967, S. 139. 347 Zu den Angaben zu ganz Polen vgl. Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 (GUS), Warschau 1967, S. 139.
4. Bilanz
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und die Wirtschaftsministerien festgelegt. Auch diese Einschränkung muss bei der Interpretation berücksichtigt werden. Wie lässt sich die Bedeutungsverschiebung innerhalb der niederschlesischen Industrie erklären? Ein Erklärungsansatz könnten eingeschränkte Ressourcen sein. Kociszewski etwa beschreibt die Wirtschaftspolitik des Ministeriums für Industrie und Handel für die Neuen Gebiete als „eingeschränkte Rekonstruktion“.348 Dies spiegelt sich auch in den Investitionen wider. Zwischen 1950 und 1955 erhielten die Neuen Gebiete durchschnittlich 23,7 Prozent der Gesamtinvestitionen, bei der Industrie waren es sogar nur 21,4 Prozent. 1956 und 1957 stiegen diese Werte mit 24,4 bzw. 23,3 Prozent nur leicht an.349 Berücksichtigt man, dass die Neuen Gebiete etwa ein Drittel des polnischen Staatsgebiets ausmachten, deren verglichen mit den Alten Gebieten höheres wirtschaftliches Potenzial damals erkannt wurde, erscheinen die Investitionen tatsächlich als unzureichend. Betrachtet man die Zahlen für Niederschlesien, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Von den für die Nord- und Westgebiete vorgesehenen Investitionen gingen zwischen 1950 und 1955 mehr als 35 Prozent nach Niederschlesien.350 Berücksichtigt man zudem, dass in den Neuen Gebieten 40,5 Prozent aller Investitionen in die Industrie gingen351 , wird deutlich, dass von einer Benachteiligung der Industrie gegenüber anderen Wirtschaftszweigen nicht gesprochen werden kann. Die Investitionen haben also in diesem Bereich nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. Auf der anderen Seite hatten die Investitionen bei der Nahrungsmittelproduktion und -industrie eine stärkere Wirkung. 50,4 Prozent aller in Polen in die Landwirtschaft und in die Forstwirtschaft getätigten Investitionen betrafen die Neuen Gebiete.352 Zwar handelt es sich hierbei um die Landwirtschaft und nicht um die Nahrungsmittelindustrie, Letztere hängt jedoch direkt von der landwirtschaftlichen Produktion ab. Daher kann hier von einem engen Zusammenhang ausgegangen werden. Das Phänomen des Wandels der wirtschaftlichen Charakteristik Niederschlesiens kann mithin nicht nur durch die Analyse der Investitionen und ihrer jeweiligen Wirkung erklärt werden. Dass das Produktionsniveau Polens hinter den Erwartungen zurückstand, lag nicht allein daran, dass die Produktion der einzelnen Betriebe an den Planzielen scheiterte. Hier wirkte sich auch das bereits beschriebene Problem aus, dass eine große Zahl der Wirtschaftsbetriebe überhaupt nicht in Gang gesetzt wurde. Das Problem der hohen Zahl nicht erfolgreich bewirtschafteter Industriebetriebe wurde auch bis 1956 nicht gelöst.353 Die Tatsache, dass sich die Aufstellung der Industrieproduktion auf das Jahr 1960 bezieht, während die Angaben zur Verteilung der Beschäftigten aus dem Jahr 348 349 350 351 352 353
Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 51. Opałło, Procesy Inwestycyjne (wie Anm. 294, S. 167), S. 330. Vgl. ebd., S. 335. Vgl. ebd., S. 332. Vgl. ebd., S. 330. So wurde unter anderem die „Akcja zagospodarowania nieczynnych objektów gospodarczych 1951–1955“ [„Aktion zur Bewirtschaftung nicht laufender Wirtschaftsobjekte“] ins Leben gerufen; vgl. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 68.
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IV. Eine „neue“ Industrie. . .
1956 stammen, reicht als Erklärung nicht aus. Das Statistische Jahrbuch für Niederschlesien zum Jahr 1956 sieht hier eine noch größere Diskprepanz. Nach ihr liegt der Produktionswert der Lebensmittelindustrie bei 53 Prozent.354 Dieses Jahrbuch lässt jedoch eine bedeutende Zahl von Betrieben unbeachtet, was seinen wissenschaftlichen Wert stark einschränkt.355 Eine Nutzung der Angaben zu 1960 ist daher verlässlicher. Auch die ansonsten von der Forschung angebotenen Erklärungsansätze bieten an dieser Stelle keinen Ausweg. Die These umfangreicher Zerstörungen der Industrie in den Neuen Gebieten von deutlich über 60 Prozent, wie sie aktuell etwa Kazimierski annimmt356 , wurde bereits verworfen. Auch die theoretisch mögliche Argumentation eines Principal-Agent-Problems – illoyale Siedler betrachten ihre Anwesenheit in den Neuen Gebieten nur als vorübergehend und arbeiten daher unzureichend – vermag vielleicht eine allgemeine Senkung des Produktionsniveaus erklären, aber keine Verschiebung innerhalb der Industriezweige. Der Anstieg des Anteils der Nahrungsmittelindustrie lässt sich nur erklären entweder durch einen deutlichen Produktionsanstieg gerade in einem spezifischen Bereich oder durch einen Rückgang in den anderen Industriezweigen. Die Annahme eines enormen Produktionsanstiegs in diesem Bereich, der dann im ganzen Land hätte stattfinden müssen, widerspräche jedoch der Historiographie, die betont, dass neben der Schwerindustrie der Fahrzeug- und Maschinenbau forciert werden sollte. Sie sieht hier einen wichtigen Grund für den Posener Aufstand und die darauf folgenden politischen Umwälzungen.357 Diese Frage lässt sich deutlich leichter und überzeugender beantworten, wenn es gelingt, die absolute industrielle Produktion von 1936 und von 1960 in ein sinnvolles Verhältnis zu stellen. Ein entsprechender Versuch wird im folgenden Kapitel unternommen. 4.2. Gab es eine niederschlesische Rekonstruktion? Als Rekonstruktionsperioden werden Zeiträume bezeichnet, in denen es eine große Differenz zwischen aktuellem Produktionsniveau und dem Produktionspotenzial gibt. Je höher die Diskrepanz, desto höher ist der Grenznutzen neu eingesetzten Kapitals. Glaubt man den Schilderungen Gruchmans, muss infrage gestellt werden, dass es überhaupt so etwas wie ein Scheitern der Rekonstruktion in den Neuen Gebieten gab. Er betont, dass die Industrieproduktion in einzelnen Zweigen bedeutend das Vorkriegsniveau überstiegen habe. Er bezieht sich hier unter anderem auf die Stromproduktion, die Braunkohle und die Eisenbahnwaggons.358 Auch Makowski ist überzeugt, dass die Bewirtschaftung der West- und Nordgebiete Polens 354 Rocznik Statystyczny Województwa Wrocławskiego 1957 (Prezydium Wojewódzkiej Rady Narodowej) [Statistisches Jahrbuch der Wojewodschaft Niederschlesien 1957 (Wojewodschafts-Präsidium des Nationalrates)], Breslau 1957 S. 37 f. 355 Vgl. ebd., S. 36. 356 Vgl. Kazimierski, Polski przemysł zbrojeniowy (wie Anm. 10, S. 17), S. 93. 357 Zbigniew Landau, The Polish Economic Policy in the 20th Century, in: Studia Historiae Oeconomicae 25 (2004), 47–57, hier S. 54. 358 Gruchman/Nowi´nska, Bevölkerungstransfer und Systemwandel (wie Anm. 110, S. 136), S. 123.
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„einer der wenigen Erfolge“ sei.359 Der Niederschlesienforscher Chumi´nski ist hier – wenn auch in Bezug auf ganz Polen – pessimistischer: „Die nach 1945 entstandene ökonomische und soziale Struktur Polens, die sich von der Vorkriegszeit unterschied, eröffnete trotz empfindlicher Zerstörungen und biologischer Verluste die Chance auf eine rasche wirtschaftliche Entwicklung. Die Voraussetzung bildeten hierfür die Schaffung eines effektiven ökonomischen Systems sowie die erfolgreiche Nutzung der demographischen und natürlichen Ressourcen des Landes. Eine solche Chance wurde weitgehend vertan.“360 Als Gründe nennt er insbesondere den Prozess der Zentralisierung und Bürokratisierung der Wirtschaftsverwaltung, die Einschränkung und schließlich die Liquidierung des privaten Sektors sowie die bevorzugte Förderung der Produktionsmittel herstellenden Zweige.361 Es wäre ein großer Fortschritt, wenn es gelänge, die Entwicklung der absoluten Industrieproduktion von 1936 und von 1960 gegenüberzustellen. Dies setzt eine Erhebung des langfristigen Wachstums der niederschlesischen Industrie oder Wirtschaft voraus. Diese existiert jedoch nicht. Alternativ kann jedoch der Output verschiedener Industrieprodukte gegenübergestellt werden. Aus einer solchen Auflistung könnten Rückschlüsse auf die Gesamtproduktion gezogen werden. Für folgende Produkte liegen verlässliche Angaben vor: Tabelle IV.2.: Entwicklung des Outputs ausgewählter Industrieprodukte362 Produkt 1936 (in t) 1960 (in t) Entwicklung Papier: 165.000 62.200 – 62 % Pappe: 40.000 29.500 – 26 % Zellstoff: 77.000 44.400 – 42 % Zement: 362.000 189.600 – 47 % Steinkohle: 5.000.000 3.101.000 – 38 % Zucker: 120.000 169.200 + 41 % Strom: 1.290 Mio. kWh 1.900 Mio. kWh + 47 %
359 360 361 362
Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 59. Chumi´nski, Einfluß des Krieges (wie Anm. 74, S. 130), S. 61. Ebd., S. 61 f. Berechnungen beruhen auf: Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 (GUS) (Seria ˙ „ROCZNIKI BRANZOWE“ Nr 4), Warschau 1967, S. 237, 266–269; Die Deutsche Industrie, S. 128–147; Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 192–210; Jerzy Kosmaty, Kształtowanie si˛e Technicznej Kadry Kierowniczej Dolno´slaskiego ˛ Zagł˛ebia W˛eglowego w latach 1945–2000 [Die Zusammensetzung des technischen Führungskaders des niederschlesischen Kohlerevieres 1945–2000], Waldenburg 2010, S. 27, 54; eigene Berechnungen.
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1938
1937
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Quelle: Kosmaty: Kształtowanie si˛e Kadry Kierowniczej (wie Anm. 361, S. 189), S. 27, 29, 48, 54.
0
1.000
2.000
3.000
4.000
5.000
6.000
1957
Abbildung IV.9.: Steinkohleproduktion Niederschlesiens 1935–1960 (in 1.000 t)
190 IV. Eine „neue“ Industrie. . .
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Bedauerlicherweise ist es mit den zur Verfügung stehenden Quellen nicht möglich, diese Liste um zusätzliche Produkte zu erweitern. An dieser Stelle wirkt sich auch aus, dass die Produktion von Waren, die auf einer komplexen Technologie beruhten, von den Unternehmen gemieden wurden.364 Was lässt sich aus der Tabelle ableiten? Die industrielle Produktion Niederschlesiens aus dem Jahr 1960 stand in fünf der sieben Bereiche deutlich hinter derjenigen von 1936 zurück. Eine Ausnahme ist hier die Zuckerproduktion, bei der ein Anstieg zu verzeichnen war. Dieser wird jedoch relativiert, wenn man berücksichtigt, dass die Zuckerproduktion 1943 bei 155.000 t lag.365 Die andere Ausnahme ist überraschend: Die Stromproduktion erfuhr ein deutliches Wachstum. Strom war damals wie heute ein entscheidender Produktionsfaktor. Dass dieser – jedenfalls im Vergleich zur Vorkriegszeit – in hoher Menge zur Verfügung stand, widerlegt zumindest für dieses Produktionsmittel die möglicherweise angenommene Knappheit.366 Diese Berechnungen sind vor dem Hintergrund der Verschiebungen bei der Industrieproduktion zumindest plausibel. So ist der Rückgang bei der Produktion von Zement als Teil der Industrie der Baumaterialien in den Statistiken klar erkennbar. Umgekehrt stieg die Produktion von Zucker, die der Lebensmittelindustrie zuzuordnen ist, an, ebenso wie die Bedeutung der Lebensmittelindustrie selbst. Nur der Anteil der Papierindustrie, der auch die Herstellung von Pappe und Zellstoff umfasst, blieb trotz Produktionsrückgang konstant. Dies gilt in vergleichbarer Weise für die Steinkohle. Tabelle IV.9 zeigt, dass hier der Vorkriegsstand nie wieder erreicht wurde. Auf der Grundlage der vorliegenden Zahlen kann abgeschätzt werden, dass die Industrieproduktion von 1960 etwa 30 Prozent unterhalb des Niveaus von 1936 lag.367 Die Literatur betont regelmäßig, dass es auf polnischer Seite einen starken Überhang der Investitionen zugunsten der Investitionsgüterindustrie gegeben habe. Ging es bis 1949 darum, das vorhandene Potenzial nutzbar zu machen, wurde in den Folgejahren die Umstrukturierung der vorhandenen Industrie in Angriff genommen.368 Hier wird implizit unterstellt, dass diese disparate Form der Investition langfristig zu den ökonomischen Problemen Polens führen musste. Dies deckt sich mit der 364 365 366 367
Chumi´nski, Niewykorzystana Szansa (wie Anm. 62, S. 128), S. 325. Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft (wie Anm. 18, S. 52), S. 209. Vgl. ebd., S. 210. Ein Vergleich mit den Angaben der Erhebung von Angus Maddison zeigt, dass die Annahme eines deutlichen Rückstands Niederschlesiens plausibel ist. Für die Zeit ab 1956 lässt sich nachweisen, dass das Bruttoinlandsprodukt Niederschlesiens pro Kopf dem landesweiten Durchschnitt in Polen entsprach; vgl. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. II, LXIV. 1960 lag das Bruttoinlandsprodukt Polens pro Kopf wenigstens 50 Prozent unterhalb des durchschnittlichen Niveaus der westeuropäischen Staaten; Chumi´nski, Niewykorzystana Szansa (wie Anm. 62, S. 128), S. 320; Angus Maddison, The World Economy. Volume 1: A Millennial Perspective – Volume 2: Historical Statistics, Neuauflage, Paris 2006, S. 440, 478 f. Auf Grundlage der Angaben Maddisons lässt sich daher schätzen, dass die Pro-Kopf-Produktivität Niederschlesiens 1956 bei maximal 80 Prozent des Niveaus von 1936 lag. 368 Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 59.
192
IV. Eine „neue“ Industrie. . .
Einschätzung Gruchmans, der gemäß „eine Umwandlung der Zweigstruktur dieser Gebiete als Ganzes“ erfolgt sei, die zum Wachstum der einen und zur Schrumpfung der anderen Wirtschaftszweige führte.369 Die wirtschaftshistorische Forschung hat zwischen diesen beiden Faktoren – Bevorzugung der Investitionsgüterindustrie und Probleme bei der Konsumgüterindustrie – einen Zusammenhang hergestellt, der zumindest für Niederschlesien nicht den Tatsachen entspricht. Die im Titel dieses Abschnitts gestellte Frage, ob es in Niederschlesien einen Rekonstruktionseffekt gab, ist somit beantwortet: Nein, es gab ihn nicht.370 Hinzu kommt ein weiteres Problem. Kociszewski weist bei den Schwierigkeiten der Rekonstruktion in den Neuen Gebieten auf einen wichtigen Punkt hin, wenn er deutlich macht, dass in tausenden Betrieben die Ingangsetzung über einen langen Zeitraum nicht gelang.371 Die hohe Zahl der nicht laufenden Betriebe lenkt die Aufmerksamkeit auf die erheblichen Probleme bei der Bewirtschaftung der niederschlesischen Industrie, die sich – das zeigen die Quellen372 – nicht allein durch Zerstörungen erklären lassen. Ein großer Teil des vorhandenen Anlagekapitals lag brach. Das war nicht etwa Zweck der Wirtschaftspolitik, sondern wurde gezielt, wenn auch nur mit sehr begrenztem Erfolg, bekämpft. Unter anderem diese Feststellung dient im folgenden Kapitel als Grundlage, um das Spannungsfeld von Produktionsmitteln und Arbeitskräften – das Hauptanliegen dieser Arbeit – zu untersuchen. Zwar wurde diese Frage in diesem Kapitel nicht beantwortet. Jedoch wurde gezeigt, dass vorhandenes Potenzial nicht genutzt werden konnte und dieses Unvermögen von der Forschung nicht diagnostiziert wurde. Im folgenden Kapitel soll daher der Blick auf diese Fragen gerichtet werden. Welche Folgen hatte der Bevölkerungsaustauch für die niederschlesische Industrie? Und welche Rückschlüsse lassen sich hieraus für das Verhältnis von Arbeitskräften und Anlagekapital ziehen?
369 Gruchman/Nowi´nska, Bevölkerungstransfer und Systemwandel (wie Anm. 110, S. 136), S. 123. 370 Angesichts des Produktionsrückgangs erübrigt sich auch die Frage nach einem möglichen „Aufholprozess“. 371 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 46. 372 Vgl. etwa der Schriftverkehr in der Wojewodschaft Niederschlesien zur Frage der Bewirtschaftung der nicht oder nur unzureichend laufenden Betriebe; AAN PKPG/2842.
V. MIT „NEUEN“ BESCHÄFTIGTEN – DIE „ERBLAST“ DER VERTREIBUNG UND IHRE FOLGEN 1. EINE NEUE PERSPEKTIVE Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung hatte für die niederschlesische Industrie gravierende Folgen, sie bietet jedoch auch eine in dieser Form sehr selten anzutreffende Konstellation – Trennung von Anlagekapital und Beschäftigten –, deren Untersuchung neue Erkenntnisse zutage fördern kann. Dass von einem Zusammenhang zwischen Vertreibung und Industrieentwicklung ausgegangen werden kann, daran gibt es in der jüngeren Forschung keinen Zweifel. Kociszewski nimmt an, dass die neuen Beschäftigten sowie vor ihnen die Operationsgruppen von Kommunikationswegen abgeschnitten gewesen seien und dass zu wenig Wissen über die Betriebe vorhanden gewesen sei.1 Kraft geht davon aus, dass Niederschlesien „durch den plötzlichen Abzug von Facharbeitern und Erntehelfern (. . . ) ein schwerer Schlag“ versetzt worden sei.2 Die Frage ist somit nicht, ob der Verlust der Arbeitskräfte eine Erblast für die niederschlesische Industrieproduktion darstellte. Sie lautet vielmehr, wie er sich auf die Industrieproduktion auswirkte. Im vorangegangenen Kapitel wurde dargestellt, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Neuen Gebieten und, wo sie isoliert betrachtet werden konnten, in Niederschlesien ergriffen wurden, um die Industrie zu übernehmen und wieder in Gang zu setzen. Dabei kam es sowohl zu Kontinuitäten als auch zu Diskontinuitäten. Zu nennen sind in erster Linie die Verschiebungen bei der Industrieproduktion, die Probleme bei der Ingangsetzung zahlreicher Betriebe und die Konstanz bei der Verteilung der Industriebeschäftigten. 1945 herrschten in Niederschlesien schwierige Voraussetzungen für eine rasche Rekonstruktion. Dies lag bereits daran, dass die Bevölkerung in Niederschlesien viel zu klein war. Nach polnischen Schätzungen lebten im Januar 1946 etwa eine Millionen Deutsche und etwas über 450.000 Polen in Niederschlesien3 , nachdem es am 17. Mai 1939 3.049.037 Bewohner waren.4 Damit lebten 1939 doppelt so viele Menschen in Niederschlesien als 1946, wobei die Grenzverschiebungen und 1 Ebd., S. 69. 2 Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 382. 3 Stanisław Jankowiak, Die Jahre 1946–1950, in: Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven Band 4. Wojewodschaften Pommerellen und Danzig (Westpreußen), Wojewodschaft Breslau (Niederschlesien) 1945–1950 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2004, 401–432, hier S. 403. 4 Ernst Bahr, Die Bevölkerung Niederschlesiens seit 1945, in: Ernst Bahr/Kurt König (Hrsg.), Niederschlesien unter polnischer Verwaltung (Ostdeutschland unter fremder Verwaltung), Frankfurt am Main/Berlin 1967, 29–62, hier S. 29. Hierbei ist berücksichtigt, dass mehrere Kreise an die DDR fielen.
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V. . . . mit „neuen“ Beschäftigten
die „Verkleinerung“ der neuen westpolnischen Provinz entsprechend berücksichtigt werden müssen. In Niederschlesien gab es also insbesondere zu Beginn des Wiederaufbaus Probleme und Hemmnisfaktoren, deren Ursache materieller Natur sind. Dies betrifft auch die Infrastruktur. Die Bevollmächtigten in den Kreisen beschwerten sich sehr früh, dass die geringe Anzahl an funktionierenden Fahrzeugen den Wiederaufbau stark verlangsame. Von 25 Fahrzeugen, über die die Behörde des Generalbevollmächtigten verfügte, waren Mitte 1945 14 nicht funktionstüchtig, und die übrigen elf konnten nicht schnell genug an den Ort gebracht werden, an dem sie gebraucht wurden.5 Piaskowski, Regierungsbevollmächtigter für den Verwaltungsbezirk Niederschlesien, gibt in seinen Erinnerungen an, dass Niederschlesien stark zerstört gewesen sei, weite Gebiete entvölkert, Hunderte von Kilometern vermint, die Ernte wegen des Mangels an Arbeitskraft in Gefahr gewesen sei, immer wieder Brände – auch Waldbrände – ausbrachen sowie der Schienenfuhrpark ausgeräumt und die Dampflokomotiven und Waggons in den meisten Fällen nicht nutzbar gewesen seien.6 Hinzu kamen die schwierigen Beziehungen zu den sowjetischen Militärkommendaturen, Sanitätsprobleme und Nahrungsmittelknappheit.7 Sicherlich ist diese Darstellung in einzelnen Punkten infrage zu stellen. Dennoch macht dieses Zitat deutlich, dass auch die unzureichende Verfügbarkeit materieller Ressourcen sowie verringerte Planungssicherheit den Wiederaufbau gehemmt haben. Hinzu kam ein Problem, dass sich speziell in Niederschlesien stellte. Die offene Frage der polnischtschechoslowakischen Grenze im Süden Niederschlesiens verhinderte es, dass am 14. März 1945, als die vier west- und nordpolnischen Verwaltungsbezirke bestimmt wurden, auch die Grenze Niederschlesiens festgelegt werden konnte.8 Gründe für Verzögerungen beim Wiederaufbau und bei der Wiederingangsetzung der Industrie Niederschlesiens lassen sich in hoher Zahl anführen, jedoch nicht für ihr Ausbleiben und für die Produktionsverschiebungen. Gab es hierfür möglicherweise „immaterielle“ Gründe? Auf theoretischer Ebene wurde bereits deutlich gemacht, wie hoch die Bedeutung von Wissen und Wissensnetzwerken für die Aufrechterhaltung industrieller Produktion ist, wenn sie wissensbasiert ist. Zur richtigen Einordnung der folgenden Darstellung muss hervorgehoben werden, dass die Vertreibung der Deutschen Bevölkerung umfassend war. Auch wenn eine genaue Bilanzierung der Zahl der 1950 in Niederschlesien lebenden Deutschen nicht möglich ist, erscheint eine Annahme von etwas über 50.000 realistisch.9 Berücksichtigt man, dass um 1939 etwa drei Millionen Deutsche in Niederschlesien lebten, kann trotz aller Gegenwehr der Betriebe und Institutionen
5 6 7 8 9
Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 98. Vgl. ebd., S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. ´ aska ´ Beata Katarzyna Cholewa, Migracja Niemców z Dolnego Sl ˛ po II Wojnie Swiatowej [Die Migration der Deutschen aus Niederschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg], in: Przeglad ˛ Zachodni 46.2 (1990), 89–109, hier S. 99.
1. Eine neue Perspektive
195
konstatiert werden, dass die Vertreibung gründlich war.10 Schon 1948 waren nur noch weniger als 60.000 Deutsche in Niederschlesien. Anfangs wurde der Bedarf an deutschen Fachkräften zwar hoch eingeschätzt. Im November 1945 bezifferte der Landesnationalrat den Bedarf auf 300.000 Industriefacharbeiter.11 Jedoch wurde die Zahl nur wenige Monate nach der November-Schätzung nach unten korrigiert. Im Frühsommer 1946 plante man nur noch mit 115.000 deutschen Facharbeitern.12 Die Nachfrage nach deutschen Fachkräften war dabei nicht nur auf die Industrie beschränkt. Auch die Landwirtschaft spielte hier eine bedeutende Rolle. Die tatsächliche Nachfrage nach deutschen Industriefacharbeitern blieb freilich hoch. Die Werke und Betriebe hatten die Möglichkeit, beim für sie zuständigen Ministerium deutsche Facharbeiter anzufordern, und sie machten auch intensiv von diesem Recht Gebrauch. Hierbei zeigte sich, dass Niederschlesien eine besondere Rolle spielte. Im Februar 1946 forderten die dem Industrieministerium untergeordneten Betriebe insgesamt 56.300 deutsche Facharbeiter an. Dabei wurden über 85 Prozent der Facharbeiter von niederschlesischen Betrieben beantragt.13 Betrachtet man sämtliche georderten deutschen Arbeitskräfte mit Berücksichtigung der Familienmitglieder, so wurden sogar 355.000 im Frühjahr 1946 angefordert. In dieser Zahl sind nicht nur die Industriefacharbeiter, sondern auch die in der kommunalen Versorgung (etwa 9.000) sowie die von der Landwirtschaft angeforderten Kräfte (etwa 52.000) enthalten.14 Quellen des Industrieministeriums belegen den Eindruck einer niederschlesischen Sonderrolle: Im Februar 1946 waren von 56.300 deutschen Arbeitern, die in Minc’ Ministerium unterstellten Betrieben beschäftigt waren, über 45.000 von ihnen in dieser Wojewodschaft tätig.15 Ausgehend von der Hypothese, dass die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Niederschlesien nicht nur einen Verlust der Arbeitskraft, sondern auch einen Verlust der an sie gebunden Wissensnetzwerke darstellte, stellt sich die Frage, wie sich der Wissensverlust auswirkte. Eine Folge wäre eine verringerte Leistungsfähigkeit der niederschlesischen Industrie. Das kann auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen angenommen werden. Mit diesem Argument allein lassen sich jedoch keine Rückschlüsse auf die Wissensnetzwerke ziehen, da sich Wachstumsprobleme auf vielfältige Weise – und nur selten monokausal – begründen lassen. 10 Hier muss jedoch davon ausgegangen werden, dass durch die zwangsweise Zuerkennung der polnischen Staatsbürgerschaft sowie der anzunehmenden Existenz einer signifikanten Dunkelziffer die Zahl von 50.000 nicht das ganze Bild widerspiegelt. Von den insgesamt 1,1 Millionen Verifizierten lebten jedoch 850.000 im Oppelner Schlesien. Jedoch strebte Anfang der 50er Jahre der Großteil im Rahmen der Familienzusammenführung in die beiden deutschen Staaten; Bernard Linek, Nationale Verifizierung, in: Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010, 465–468, hier S. 467. 11 Bernadetta Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa, Bd. 20), München 2003, S. 102. 12 Ebd. 13 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 185. 14 Vgl. Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 245. 15 Vgl. AAN MPiH/799, Bl. 1.
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V. . . . mit „neuen“ Beschäftigten
In diesem Kapitel werden mithin die Folgen des Wissensverlusts historisch untersucht. Hierfür werden zunächst die wirtschafts- und industriepolitischen Entscheidungsgrundlagen für Niederschlesien einer genaueren Betrachtung unterzogen. Zudem wird auf der Grundlage bestehender Forschung und sowie eigener ergänzender Untersuchungen die Rolle der deutschen Arbeitskräfte während der Vertreibung beleuchtet. Insbesondere wird die Frage verfolgt, ob sich das Fehlen der deutschen Beschäftigten dauerhaft auswirkte. 2. ENTSCHEIDUNGSGRUNDLAGEN ZUR WIRTSCHAFTSPOLITIK IN DEN NEUEN GEBIETEN Akzeptiert man, dass Wissen auch in Niederschlesien eine wichtige Ressource für die Produktion war, stellt sich die Frage, ob es Bemühungen gab, diese Ressource in den Wirtschaftsplanungen zwischen 1945 und 1956 zu aktivieren. Gab es Eingriffe zur Kompensation des Wissensverlustes oder zur Substitution des Wissens? 2.1. Welches Bild hatten die Verantwortlichen von den Neuen Gebieten? Vergleicht man die Neuen und die Alten polnischen Gebiete, wird deutlich, dass beide Gebiete eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Charakteristik besaßen. Während in den Neuen Gebieten die Landwirtschaft etwa ein Drittel der Gesamtproduktion ausmachte, waren es in den Alten Gebieten zwei Drittel.16 Wichtiger als die tatsächliche Wirtschaftsstruktur dieser Gebiete ist jedoch, wie die Neuen Gebiete durch die polnischen Wirtschaftsplaner wahrgenommen wurden. Hieran anschließend kann die Frage beantwortet werden, auf welcher Grundlage die wirtschaftspolitischen Entscheidungen gefällt wurden. Kociszewski zitiert an einer Stelle eine aus dem Jahr 1946 im MZO entstandene vergleichende Auflistung der Pro-Kopf-Produktion von 1936 im Deutschen Reich, in den einzelnen Regionen der Neuen Gebiete sowie in Polen.17 Sie gibt die Werte in Reichsmark an und legt die Preise von 1928 zugrunde. Sie kommt zu folgenden Ergebnissen:
16 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 23. Dieser Umstand ist auch der Grund, weshalb Tokarski die gesamten Neuen Gebiete gegenüber den Alten Gebieten als höher industrialisiert betrachtet; vgl. Tokarski, Wahl wirtschaftspolitischer Strategien (wie Anm. 38, S. 125), S. 74. 17 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 24.
2. Entscheidungsgrundlagen zur Wirtschaftspolitik in den Neuen Gebieten
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Tabelle V.1.: Pro-Kopf-Produktion 1936 im Deutschen Reich und in Polen (in RM) Deutsches Reich 963 Niederschlesien 728 ´ Oppelner Schlesien (Slask ˛ Opolski) 622 Grünberg 614 Pommern 794 Ostpreußen 697 Polen 329 Tabelle V.1 zeigt, dass die Pro-Kopf-Produktion in den ostdeutschen Gebieten insgesamt ebenso wie in Niederschlesien 1936 vom MZO als doppelt so hoch wie im damaligen Polen eingeschätzt wurde. Gomułka war bekannt, dass der Abstand im Produktionsniveau zwischen den Alten und den Neuen Gebieten bedeutend war. Aus der vereinzelt vertretenen Annahme, dass Niederschlesien im Deutschen Reich vernachlässigt worden sei18 , wurde mithin keine generelle Unterentwicklung Niederschlesiens abgeleitet. Im Gegenteil wurde das im Vergleich zu den Alten Gebieten Polens höhere Produktionspotenzial Niederschlesiens von Beginn an gesehen, auch wenn die Entwicklung der niederschlesischen Industrie bis Kriegsende hier nicht berücksichtigt wird. Ebenso zeigt die Tatsache, dass der Dreijahresplan auch darauf abzielte, das wirtschaftliche Potenzial der Neuen Gebiete gewinnbringend zu nutzen, dass das Industriepotenzial der Nord- und Westgebiete Polens erkannt wurde. Die Aussage des ZK-Mitglieds der PPR Edward Ochab auf einer Sitzung des Ministerrats am 26. Mai 1945 macht deutlich, dass sich diese Annahme nicht auf die Industrie beschränkte, sondern auch auf die Landwirtschaft erstreckte: „Die Frage der Beherrschung der Wiedergewonnenen Gebiete, von denen ein Teil hochindustrialisiert ist, ist eine Frage, die zweifelsohne über die Stärke und Zukunft unseres Staates und der Nation entscheiden wird. . . . Auch muss man auf die Tatsache sein Augenmerk richten, dass wir nicht das geeignete Material zur Beherrschung der Wiedergewonnenen Gebiete haben, vor allem nicht eine entsprechend qualifizierte Landbevölkerung, die in der Lage wäre, das Gebiet sofort zu bewirtschaften.“19
Schwieriger zu beantworten ist, ob hinter der Produktion die Bedeutung von Fachkräften und eingespielten Belegschaften vermutet wurde. Bei der Frage, welches Bild über die Facharbeiter und Beschäftigten auf polnischer Seite vorherrschte, werden zwei Probleme aufgeworfen. Zunächst muss die Frage gestellt werden, ob es ein Bewusstsein über die entsprechenden Wissensbestände und über den Wert 18 So etwa AAN MZO/1391, Bl. 13, Ausarbeitung von Józef Kokot und Herbert Werner zur Bewirtschaftung der Wiedergewonnenen Gebiete. 19 Protokoll Nr. 37 der Sitzung des Ministerrats, AAN URM 5/1097, Bl. 389-391, abgedruckt in: Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven Band 1. Zentrale Behörden, Wojewodschaft Allenstein 1945–1950 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2000, S. 153–155.
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der Facharbeiter und Angestellten gab. Ebenfalls ist offen, welches Bild von Wissen überhaupt vorherrschte. Stand das individuelle Ausbildungsniveau Einzelner im Vordergrund – wie es das oben genannte Zitat von Ochab vermuten lässt –, oder gab es ein Bewusstsein dafür, dass auch Wissensnetzwerke, die Bedeutung eingespielter Belegschaften, eine wichtige Rolle für die Funktionsfähigkeit von Verwaltung und Produktion spielen? Eine zunächst oberflächliche Beantwortung dieser Frage kann helfen, der Bedeutung von Wissen im Produktionsprozess auf die Spur zu kommen. Es ist auffällig, dass die sowjetische Verwaltung jedenfalls zahlreiche Bürgermeister in Niederschlesien – und sicherlich auch anderswo – zunächst in ihren Ämtern beließ, um so das Weiterfunktionieren der öffentlichen Verwaltung zu gewährleisten.20 In ähnlicher Weise stützte man sich auf Beamte und Facharbeiter. Chumi´nski verweist in diesem Zusammenhang auf das Dilemma von Polonisierung auf der einen Seite und erfolgreicher Inbetriebnahme der Wirtschaft auf der anderen Seite. So kam während einer Konferenz der Direktoren der niederschlesischen Industriebetriebe im September 1945 die rhetorische Frage auf: „Was ist euch in diesem Augenblick wichtiger, die Inbetriebnahme der Industrie, ohne Rücksicht darauf mit welchen Kräften, oder die Polonisierung dieser Gebiete?“21 Das Zitat unterstreicht, dass die Bedeutung von Fachkräften – also abstrakt formuliert von Wissen – erkannt wurde. Auf den ersten Blick deutet tatsächlich vieles darauf hin. Diejenigen Deutschen, die von der ersten Vertreibungswelle ausgenommen waren – und hier insbesondere die Facharbeiter –, sollten die polnischen Siedler einarbeiten. Probleme bei der Besetzung freier Stellen auf polnischer Seite gab es vor allem in der Textilindustrie und im Bergbau. Aus diesem Grund erarbeitete das Industrieministerium die Vorgabe, deutsche Fachkräfte zunächst von der Vertreibung auszunehmen und ihnen möglichst einen Polen zur Seite zu stellen. Erst wenn dieser umgeschult sei und den Deutschen ersetzen konnte, sollte seine Ausweisung erfolgen.22 Es ist leicht vorstellbar, dass diese aufgezwungene Kooperation zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern nicht immer frei von Konflikten war. Auf der anderen Seite konnten durch diese Zusammenarbeit bestehende Barrieren überwunden werden, die das Zusammenleben etwas einfacher gestalteten.23 Hieraus wird man jedoch schwerlich ein Bewusstsein für die Bedeutung von Wissensnetzwerken ableiten können. Im Gegenteil legen die ersten Maßnahmen nahe, dass Wissen von den Zentralbehörden als eine leicht ersetzbare Ressource betrachtet wurde. Gerade zu Beginn ´ aska 20 Elz˙ bieta Kaszuba, Dzieje Sl ˛ po 1945 roku [Die Ereignisse Schlesiens nach 1945], in: Marek ´ aska Czapli´nski (Hrsg.), Historia Sl ˛ [Geschichte Schlesiens] (Acta Universitatis Wratislaviensis, Bd. 3008), 2. überarb. Aufl., Breslau 2007, 467–601, hier S. 475. 21 „Co dla nas jest w obecnej chwili waz˙ niejsze, czy uruchomienie przemysłu, bez wzgl˛edu na to jakimi siłami czy spolszczenie tych terenów?“; AAN MPiH/4206, Tätigkeitsbericht des Sonderbeauftragten des Ministeriums für Industrie in Niederschlesien (3.-22. September 1945) S. 12, zit. in: Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 192. 22 Bernadetta Nitschke, Wysiedlenie Niemców z Ziemi Lubuskiej w latach 1945–1950 [Die Aussiedlung der Deutschen aus dem Land Lebus in den Jahren 1945–1950], in: Zeszyty Historyczne 104 (1993), S. 106. 23 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 183.
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dominierte die Vorstellung, für eine effiziente Übernahme und Fortsetzung der Produktion sei es hinreichend, wenn die deutschen Arbeitskräfte der Kategorie I, also Ingenieure, Techniker etc., so lange wie möglich im Land blieben. So wurden Anfang 1946 Arbeitsbedingungen geschaffen, die die Arbeiter der Kategorie II und III – gemäß der Terminologie also Facharbeiter sowie gering bis nicht Qualifizierte, die die Produktion unterstützen – dazu bewegen sollten, möglichst rasch Polen zu verlassen. Sie erhielten, verglichen mit ihren polnischen Kollegen, eine um ein Viertel verminderte Entlohnung, zahlten um die Hälfte höhere Krankenversicherungsbeiträge und erhielten im Fall unfallbedingter Erwerbsunfähigkeit eine um 25 Prozent verringerte Rente.24 Die Annahme, dass nur die Experten notwendig seien, um die Industrieproduktion Niederschlesiens wiederaufnehmen zu können, zeigt, dass man davon ausging, die übrigen qualifizierten Kräfte könnten leicht ersetzt werden. Von den Experten der Kategorie I wurde also erwartet, dass sie über dasselbe Wissen verfügten wie die Arbeiter der Kategorie II und III. Eine Schulung der polnischen Arbeitskräfte durch Deutsche wurde für realistisch gehalten.25 Dies bedeutet im zweiten Schritt, dass unterstellt wurde, die Ausbildung von polnischen und deutschen Arbeitskräften sei grundsätzlich kompatibel. Die Möglichkeit einer Einarbeitung wurde nicht weiter hinterfragt, und auch die Frage, ob sie möglicherweise scheitern könnte, wurde nicht thematisiert. Zusätzlich spiegelt sich hierin eine Sicht wider, die auf den jeweiligen Betrieb beschränkt war. Die Schwierigkeiten bei der Einarbeitung und Schulung polnischer Kräfte wurden – wenn überhaupt – nur in Bezug auf Fachkräfte gesehen. Ende August 1945 gab etwa der Starost26 des Kreises Groß Wartenberg an, es gebe noch etwa 7.000 Deutsche vor Ort. Von diesen sollten „800 als unersetzliche Spezialisten und Landarbeiter zunächst im Kreisgebiet bleiben“.27 Hieraus lässt sich ableiten, dass auch vor Ort mindestens in Einzelfällen davon ausgegangen wurde, dass sich das betrieblich entscheidende Wissen auf einige Spezialisten beschränke. 2.2. Die Rolle der Forschungsinstitute Eine interessante Episode bei der Nachkriegsgeschichte der Neuen Gebiete betrifft die wissenschaftlichen Institutionen. Mehrere Einrichtungen hatten dem äußeren Anschein nach die Aufgabe, Forschung über bestimmte Regionen zu betreiben. Es liegt daher der Verdacht nahe, die Forschungszentren sollten helfen, das Problem fehlender Informationen über die ehemaligen deutschen Ostprovinzen zu lösen. Falls dies stimmt, hätten sie den Umgang mit den Neuen Gebieten durchaus prägen können. Bei den wissenschaftlichen Institutionen handelt es sich um das Ostsee-Institut („Instytut Bałtycki“), das Masurische Institut („Instytut Mazurski“), ´ aski“) das Schlesische Institut („Instytut Sl ˛ und das West-Institut („Instytut Zachod24 25 26 27
Ebd., S. 185. Ebd. Der Starost entspricht dem deutschen Landrat. Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 383.
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ni“). Alle drei Institute bzw. die jeweiligen Vorgänger wurden, in der Zwischenkriegszeit gegründet, das Posener West-Institut entstand während des Krieges.28 Das Ostsee-Institut entstand 1925, das nach seinem Vorbild geschaffene Schlesische Institut acht Jahre später.29 Als sich während des Krieges abzeichnete, dass die deutschen Ostprovinzen unter polnische Verwaltung kommen würden, wurde die Schaffung eines Instituts in Betracht gezogen, das sich mit den zu diesem Zeitpunkt noch „postulierten“ Gebieten beschäftigt. Per Dekret des Ministerpräsidenten wurde das Posener West-Institut am 27. Februar 1945 ins Leben gerufen.30 Gegründet als Verein, besaß es eine Direktion, ein Kuratorium und eine Mitgliederversammlung.31 Der Staat war dem Institut gegenüber nicht weisungsbefugt. Die Universität Posen, an der das West-Institut seinen Sitz hatte, war seit ihrer Gründung 1919 Zentrum der Westforschung Polens. Das West-Institut entstand also nicht ex nihilo, sondern konnte auf ein bereits bestehendes Netzwerk aufbauen, das ihm nach 1945 institutionelle und auch personelle Kontinuität ermöglichte.32 Die polnische Westforschung blieb „bis 1939 (. . . ) den Vorstellungen wissenschaftlicher Öffentlichkeit verpflichtet“.33 Das Ostsee- und das Schlesische Institut wurden während des Krieges stark in Mitleidenschaft gezogen. Zwar wurden beide nach 1945 neu gegründet – das Ostsee-Institut in Bromberg und das Schlesische Institut in Kattowitz – jedoch währte ihre Tätigkeit nicht lange. Das Bromberger Institut wurde 1950 faktisch aufgelöst, das Institut in Kattowitz bereits 1948.34 Die zeitliche Nähe der Auflösung der Institute, des offiziellen Endes der Integration der Neuen Gebiete und der Auflösung des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete ist auffällig. Eine Ausnahme ist das Posener West-Institut. Es wurde zwar nicht geschlossen, jedoch wurden ihm die Mittel stark gekürzt.35 Ob die Erhaltung des Posener West-Instituts damit zusammenhängt, dass seine Aufgabe die „Verteidigung Polens historischer, wirtschaftlicher und geopolitischer Rechte“ war, kann hier nicht eindeutig geklärt werden.36 Fest steht, dass sich das West-Institut seit 1948, dem Jahr, in dem die Kommunisten die politische Vorherrschaft erlangten, politischer Angriffe erwehren musste.37 Der Konflikt zwischen dem West-Institut 28 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 52. 29 Jörg Hackmann, Strukturen und Institutionen der polnischen Westforschung (1918–1960), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50.2 (2001), 230–255, hier S. 235, 237 f. 30 Markus Krzoska, Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) als Historiker und Publizist (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 8), Osnabrück 2003, S. 334. 31 Hackmann, Strukturen und Institutionen (wie Anm. 29), S. 240 f., 246. 32 Rudolf Jaworski, Die polnische Westforschung zwischen Politik und Wissenschaft, in: Erwin Oberländer (Hrsg.), Polen nach dem Kommunismus, Stuttgart 1993, 94–104, hier S. 96. 33 Hackmann, Strukturen und Institutionen (wie Anm. 29), S. 237. 34 Ebd., S. 240. 35 Hieronim Szczegóła, Ziemie Zachodnie i Północne w polityce PZPR w latach 1949–1956 [Die Nord- und Westgebiete in der Politik der PZPR 1949–1956], in: Czesław Os˛ekowski (Hrsg.), Ziemie Zachodnie i Północne Polski w Okresie Stalinowskim [Die Nord- und Westgebiete während des Stalinismus], Grünberg 1999, 19–24, hier S. 21. 36 Vgl. Faraldo, Europe, nationalism and communism (wie Anm. 111, S. 136), S. 45 f. 37 Hackmann, Strukturen und Institutionen (wie Anm. 29), S. 248.
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und der politischen Führung, der auch ein Streit zwischen dem Institutsdirektor Zygmunt Wojciechowski und der Kommunistischen Partei war, war vielschichtig. Aufgabenschwerpunkt des Instituts war die Geographie, die Demographie und die Ethnographie – „jene Bereiche also, in denen konkreter politischer Handlungsbedarf in Bezug auf die neuen Westgebiete zweifellos bestand“.38 Wirtschaftliche Fragen standen dagegen zurück.39 Das West-Institut war mithin keine „Denkfabrik“, dessen Aufgabe die Versorgung der Wirtschaftsplanungsbehörden mit Informationen war. Die Rolle des West-Instituts war mithin ambivalent. Es leistete einerseits Grundlagenarbeit bei der Kartographie der Neuen Gebiete ebenso wie in anderen Bereichen. Zudem war es das Ziel Wojciechowskis, das Wissen der polnischen Bevölkerung über die Westgebiete zu erweitern, wobei er in den Publikationen – zu nennen ist hier in erster Linie die bis heute fortgesetzte Zeitschrift „Przeglad ˛ Zachodni“ (Westrundschau) – gezielt einseitig argumentierte. Damit nahm das Institut eine wichtige Rolle bei der Darstellung ein, die Gebiete seien „wiedergewonnen“. Andererseits hatte das Institut enge Kontakte mit dem Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete.40 Nach dessen Auflösung hatte es enge Kontakte zu den Nachfolgern des MZO, dem Ministerium für Öffentliche Verwaltung und ab August 1949 zum Gesellschaftlich-Politischen Büro beim Präsidium des Ministerrates.41 Direktor Wojciechowski war Mitglied der politischen Rechten, ließ sich aber dennoch im Februar 1945 auf das Amt des Institutsdirektors ein. Der Erhalt der Unabhängigkeit des Instituts war ihm ein wichtiges Anliegen, bei dem er trotz wachsenden Drucks erfolgreich war.42 Mehrere Anläufe und Versuche zur Schließung des West-Instituts – ein Versuch erfolgte 1950 durch eine empfindliche Beschneidung der Mittel, ein weiterer 1951 durch das ZK der PZPR, sowie ein weiterer 1955 – wurden abgewehrt.43 Dass das West-Institut diese Phase überstanden hat, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Schließung weit mehr als nur ein Planspiel war. Ziel war zwischenzeitlich die völlige Zerschlagung.44 Wojciechowski konnte diese Versuche schließlich bis zu seinem Tod 1955 abwehren. Das war in hohem Maße seinem wissenschaftlichen Einfluss, seiner starken Vernetzung sowie seiner Rolle in zahlreichen anderen wissenschaftlichen Institutionen zu verdanken. Welche Rolle hatte das West-Institut bei der Frage der „Wiedergewonnenen Gebiete“ inne? Seine Arbeit leistete zweifellos einen Beitrag zur Erforschung und Übernahme der Gebiete, ebenso seine Propaganda der Darstellung, es handele sich um alte polnische Gebiete. Rudolf Jaworski attestiert dem Institut sogar „staatserhaltenden Rang“.45 Andererseits darf seine Rolle nicht überschätzt werden. Die 38 39 40 41 42 43 44 45
Krzoska, Polen an Oder und Ostsee (wie Anm. 30), S. 333. Ebd. Ebd., S. 334. Hackmann, Strukturen und Institutionen (wie Anm. 29), S. 247. Ebd., S. 245; vgl. Krzoska, Polen an Oder und Ostsee (wie Anm. 30), S. 338 ff. Hackmann, Strukturen und Institutionen (wie Anm. 29), S. 252. Krzoska, Polen an Oder und Ostsee (wie Anm. 30), S. 371. Jaworski, Polnische Westforschung (wie Anm. 32), S. 96.
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Rezeption der Tätigkeit des West-Instituts war naturgemäß auf die Wissenschaft begrenzt. Die Publikationen beschränkten sich ab 1950 auf historische Themen. Zeithistorische Fragen spielten jedoch in der Forschung – wie überhaupt in der Historiographie dieser Zeit – weniger eine Rolle als Mediävistische und der alte deutsch-polnische Gegensatz.46 Seine rege wissenschaftliche Aktivität begann erst 1956.47 Mit Jaworski lässt sich zusammenfassen: Die wissenschaftlichen Institutionen – das Ostsee-Institut, das Masurische Institut in Allenstein, das Schlesische Institut in Kattowitz und insbesondere das Posener West-Institut – hatten den „staats- und nationalpolitische[n] Auftrag“, „die wiedererlangten ,Mutterländer‘ (. . . ) geistig für Polen zu erobern“.48 Die Forschungsinstitute hatten somit eine gesellschaftliche Aufgabe, vielleicht auch eine propagandistische. Für die Wirtschaftspolitik spielten sie keine Rolle. Eine wissenschaftlich fundierte Analyse der wirtschaftlichen Struktur der Neuen Gebiete wurde nicht unternommen. 3. VERTREIBUNG UND BESIEDLUNG IN DEN NEUEN GEBIETEN Die Zentralbehörden nahmen also die Relevanz des Produktionsmittels „Wissen“ für die Industrie der Neuen Gebiete zur Kenntnis, gingen jedoch offenbar davon aus, dass es unter beherrschbarem Aufwand ersetzbar sei. Eine Untersuchung des Themenkomplexes der „Vertreibung“ kann helfen, diese Frage weiter zu verfolgen. Oberflächlich ist dies in der bisherigen Historiographie regelmäßig geschehen. Die Bedeutung der Facharbeiter wird in der Forschung immer wieder erwähnt. Auch dass Facharbeiter gesucht wurden, lässt sich an zahlreichen Beispielen belegen. Die Regierungsbevollmächtigten für die Neuen Gebiete etwa haben von Beginn an angemahnt, dass ihnen Fachkräfte fehlen.49 Nur wenige Untersuchungen haben aber einen Zusammenhang zwischen der Vertreibung und den Problemen beim Wiederaufbau der Industrie in den Neuen Gebieten hergestellt. 3.1. Forschungsstand zur Vertreibung Zunächst wird ein kurzer Überblick über die wissenschaftliche Literatur zur Vertreibung gegeben. Zwar gibt es einen umfangreichen Literaturbestand zur Vertreibung, in zahlreichen Fällen handelt es sich jedoch weniger um wissenschaftliche Literatur als um populärwissenschaftliche Arbeiten.50 Es ist angesichts der Bedeutung dieses Themas für die Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarstaaten erstaunlich, dass es wenige fundierte und ausgewogene wissenschaftliche Beiträge gibt. 46 Vgl. Kowal, Bevölkerungstransfer und Systemwandel (wie Anm. 12, S. 121), S. 19; Krzoska, Polen an Oder und Ostsee (wie Anm. 30, S. 200), S. 337. 47 Vgl. Faraldo, Europe, nationalism and communism (wie Anm. 111, S. 136), S. 45 f. 48 Jaworski, Polnische Westforschung (wie Anm. 32, S. 200), S. 96. 49 Magierska, Ziemie (wie Anm. 33, S. 125), S. 97 f. 50 Vgl. etwa Stefan Aust/Rudolf Augstein, Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart 2 2002.
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Die erste Phase, während der wissenschaftliche Literatur zum Thema entstanden ist, begann in zeitlicher Nähe zum Ende der Vertreibung. Ein bis heute wichtiges Werk ist im Rahmen der sechsbändigen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ erschienen. Der erste Band trägt den Titel „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße“.51 Auch das von Reichling herausgegebene Werk „Die deutschen Vertriebenen in Zahlen“52 ist eine hilfreiche Basis für empirische Studien. Auf polnischer Seite handelt es sich in der überwiegenden Zahl der Fälle um Regionalstudien. Für Niederschlesien hat Bronisław Pasierb 1969 eine Arbeit verfasst53 , die bis heute ein Standardwerk darstellt. Die aus wissenschaftlicher Sicht wichtigsten Arbeiten sind nach 1998 entstanden. Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist die vierbändige Quellensammlung, die von Hans Lemberg und Włodzimierz Borodziej herausgegeben wurde.54 Die einzelnen Bände dieser Publikation beschäftigen sich mit den Regionen Zentralpolen, und den Wojewodschaften Schlesien, Allenstein, Posen, Stettin bzw. Hinterpommern, Pommerellen und Danzig sowie Niederschlesien. Der hohe Wert dieser Publikation ergibt sich daraus, dass diese jeweils in deutscher und polnischer Übersetzung vorliegen und jedem Band eine umfangreiche Einleitung beigefügt wurde, weshalb es sich hier um ein Standardwerk handelt. Dasselbe gilt für die Monographie von Bernadetta Nitschke, die auf deutsch und polnisch erschienen ist.55 Die 1998 publizierte Dissertation von Philipp Ther, die sich unter anderem mit der Vertreibungspolitik auf polnischer Seite beschäftigt, ist ebenfalls ein aufschlussreiches Werk.56 Zusätzlich sind Publikationen erschienen, die sich mit dem Themenkomplex der Vertreibungen beschäftigen und sich hierbei nicht nur auf Deutschland und Polen beschränken. Zu nennen ist hier zunächst die Monographie von Detlef Brandes, die den „Weg zur Vertreibung 1938–1945“ untersucht und die Tschechoslowakei mit in den Blick nimmt.57 Eine junge Publikation stellt das „Lexikon der Vertreibungen“ dar, die das Ziel verfolgt, Nachschlagewerk für sämtliche Vertreibungen zu sein.58 Weitere Werke sind in der Reihe „Frankfurter Studien zur Grenzregion“ 51 Vertreibung der deutschen Bevölkerung (wie Anm. 143, S. 142). 52 Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen (wie Anm. 105, S. 70). ´ aska 53 Bronisław Pasierb, Migracja Ludno´sci Niemieckiej z Dolnego Sl ˛ w Latach 1944–1947. ´ as[Die Migration der deutschen Bevölkerung aus Niederschlesien 1944–1947] (Monografie Sl ˛ kie Ossolineum, Bd. XVII), Breslau et al. 1969. 54 Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven Band 4. Wojewodschaften Pommerellen und Danzig (Westpreußen), Wojewodschaft Breslau (Niederschlesien) 1945–1950 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2004. 55 Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195). 56 Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 127), Göttingen 1998. 57 Brandes, Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 117, S. 137). 58 Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Depor-
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entstanden, in dessen Rahmen zwischen 1995 und 2001 sechs Bände sowie weitere Veröffentlichungen entstanden sind. Diese Arbeiten sind auch deswegen wichtig, weil hier sowohl polnische als auch deutsche Forscher zu Wort kommen. Die polnische Forschung konzentrierte sich in der weit überwiegenden Zahl der Fälle auf die Besiedlung der Neuen Gebiete.59 Hervorzuheben ist der Aufsatz von Beata Cholewa, die als eine der Wenigen einen direkten Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Bedeutung der deutschen Arbeitskräfte und der Vertreibungspolitik herzustellen versucht.60 3.2. Der Beginn der Vertreibung Da Übersichtswerke zur Vertreibung der Deutschen Bevölkerung in ausreichender Zahl existieren61 , wird sich die folgende Darstellung auf die Frage konzentrieren, wie mit den Arbeits- und Fachkräften verfahren wurde. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Niederschlesien geschah in mehreren Phasen, die sich teilweise überschnitten.62 Nach der „Flucht“ – der ersten Phase – wird die Zweite als „Wilde Vertreibung“ bezeichnet und erstreckte sich von Anfang 1945 bis Herbst 1945. Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung begann somit vor Ende des Krieges und auch deutlich vor der Konferenz von Potsdam Ende Juli 1945.63 Die Phase der „Wilden Vertreibung“ war jedoch in Niederschlesien weniger gravierend als etwa im grenzferneren Ostpreußen. Strategisches Kalkül stand hier im Vordergrund, insbesondere hinsichtlich der zukünftigen Grenze.64 Auf der Sitzung des Zentralkomitees der PPR am 21./22. Mai 1945 gab der Generalsekretär der Partei Gomułka die Losung aus: „An der Grenze ist ein Grenzschutz aufzustellen und die Deutschen sind hinauszuwerfen. Denen, die dort sind, sind solche Bedingungen zu schaffen, dass sie nicht dableiben wollen. . . Der Grundsatz, von dem wir uns leiten lassen wollen, ist die Säuberung des Terrains von den Deutschen, der Aufbau eines Nationalstaates.“65 Die ersten Vertreibungen und Zwangsaussiedlungen begannen unmittelbar nachdem die Front die Oder-Neiße-Grenze überschritt. Während dieser Phase wurden die Aussiedlungen vom Militär durchgeführt. Vor
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60 61 62 63 64 65
tation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010. Eine wichtige Ausnahme ist die Arbeit von Czesław Os˛ekowski, Społecze´nstwo Polski zachodniej i północnej w latach 1945–1956. Procesy integracji i dezintegracji [Die Gesellschaft Westund Nordpolens in den Jahren 1945–1956. Prozesse der Integration und Desintegration], Grünberg 1994. Cholewa, Migracja Niemców (wie Anm. 9, S. 194). Empfehlenswert ist der Aufsatz von Borodziej und Lemberg; Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140). Vgl. auch Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 52 ff. Laut Ther begann die sog. Wilde Vertreibung im Mai 1945; vgl. ebd., S. 42. Ebd., S. 55 f. „Nalez˙ y na granicy postawi´c straz˙ graniczna˛ i Niemców wyrzuca´c, a tym którzy sa,˛ da´c warunki takie, aby nie chcieli pozosta´c.“ Aleksander Kocha´nski (Hrsg.), Protokół obrad KC PPR w maju 1945 roku [Die Protokolle der Sitzungen der Zentralkomitees der PPR Mai 1945] (Dokumenty do Dziejów PRL, Bd. 1), Warschau 1992, S. 42.
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dem Hintergrund einer auf internationaler Ebene herrschenden Überzeugung der Notwendigkeit von Bevölkerungsverschiebungen66 hatte das Militär die Aufgabe, die Staatskonzeption der PPR zu realisieren. Sie sah die Schaffung eines national einheitlichen Polens vor, das nicht durch Ansprüche nationaler Minderheiten infrage gestellt werden sollte.67 Der Beschluss des ZK der PPR vom 26. Mai 1945 intendierte, im Laufe eines Jahres alle 3,5 Millionen Deutschen auszusiedeln und 2,5 Millionen Polen anzusiedeln.68 Das Militär wurde deswegen mit dieser Aufgabe betraut, weil nur ihm zugetraut wurde, diese Maßnahmen auch zu realisieren.69 Im Juni 1945 begann die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung durch die polnische Armee. Der Oberbefehlshaber der polnischen Armee leitete mit dem Befehl Nr. 0236 vom 10. Juni 1945 den Beginn der Vertreibungen ein.70 Wenig später – am 25. Juni 1945 – erließ Edward Ochab – weiterhin Generalbevollmächtigter für die Neuen Gebiete – ein Rundschreiben an die Regierungsbevollmächtigten der Wojewodschaften in den Neuen Gebieten mit dem Betreff „Verfahren bei Aussiedlung der Deutschen aus den Wiedergewonnenen Gebieten“. Darin wies er auf die Unzulässigkeit planloser und willkürlicher Aussiedlung hin und betonte, dass hierbei in den Städten diejenigen Deutschen ausgenommen seien, die „als Fachkräfte auf wichtigen Stellen in der Selbstverwaltung und in der Wirtschaft beschäftigt sind, und die gegenwärtig durch keine entsprechenden Fachmänner – Polen ersetzt werden können“.71 Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch bereits zahlreiche Deutsche nicht mehr in Niederschlesien. Es wird angenommen, dass von 4,7 Millionen Deutschen zu Kriegsende nur noch 1,5 Millionen in der Provinz lebten.72 Am 31. Juli übernahm die Administration des Regierungsbevollmächtigten Stanisław Piaskowski die Verwaltung der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung in Niederschlesien. Der Plan der PPR, der von Beginn an unrealistisch war und schließlich auch in der Form nicht umgesetzt wurde, wurde zudem von zurückkehrenden Deutschen konterkariert. Diese kamen nach Kriegsende, in den Monaten Mai und Juni, in großer Zahl zurück an ihren Wohnort in den deutschen Ostprovinzen. Auch in Niederschlesien stieg die Zahl der Deutschen in dieser Zeit stark an. Aus dem Süden 66 Hans Lemberg, „Ethnische Säuberung“: Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42.46 (1992), 27–38, hier S. 33. 67 Ciesielski, My´sl Zachodnia (wie Anm. 119, S. 138), S. 149 f. 68 Vgl. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 169. 69 Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 66. 70 Krzysztof Ruchniewicz, Wilde Vertreibung der Deutschen aus Polen, in: Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010, 725–728, hier S. 726. 71 Dokument „Der Generalbevollmächtigte der Republik Polen für die Wiedergewonnenen Gebiete an die Bezirksbevollmächtigten, 25.06.1945, Zum Verfahren bei Aussiedlung der Deutschen aus den Wiedergewonnenen Gebieten; abgedruckt in: Karol Jonca (Hrsg.), Wysiedlenia Niem´ ców i osadnictwo ludno´sci polskiej na obszarze Krzyz˙ owa-Swidnica (Kreisau-Schweidnitz) w latach 1945–1948. Wybór dokumentów [Die Aussiedlung der Deutschen und die Ansiedlung ´ der polnischen Bevölkerung im Raum Krzyz˙ owa-Swidnica (Kreisau-Schweidnitz) 1945–1948. Dokumentenauswahl], Breslau 1997, S. 96 f. 72 Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 362.
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kamen die Sudetendeutschen, die aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Zusätzlich kehrten aus dem Westen jene in ihre Heimat zurück, die nach Kriegsende davon ausgingen, eine Rückkehr bereite keinerlei Probleme.73 Nach Niederschlesien kehrten laut Pasierb zwischen 300.000 und 400.000 Deutsche zurück.74 Die genaue Zahl aller zurückgekehrten Deutschen ist unbekannt. Verschiedene Quellen gehen von bis zu 1,2 Millionen aus.75 Diesen Zustrom aufzuhalten war ebenfalls Aufgabe des Militärs. Ziel dieser Maßnahmen war es, vor einer Friedenskonferenz zu gewährleisten, dass diese Gebiete möglichst polonisiert, d. h. von vielen Polen und wenigen Deutschen bewohnt waren. Mit dieser „Schaffung vollendeter Tatsachen“ sollte die Übernahme der deutschen Ostprovinzen durch Polen und somit seine Westverschiebung unumkehrbar werden.76 Hinzu kam noch ein pragmatisches Argument: Die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung sollte noch vor der Ernte erfolgen.77 Eine frühe Maßnahme in den Neuen Gebieten war die Errichtung einer Verwaltung, mit deren Hilfe eine Verifizierung der dort ansässigen Bevölkerung durchgeführt werden sollte. Die Deutschen sollten in möglichst großer Zahl ausgewiesen werden. Zusätzlich war es Ziel, die deutschen Ortsnamen, Straßenbezeichnungen etc. durch polnische zu ersetzen. Eine solche Verwaltung wurde in Breslau und Oppeln, in Stettin (Pommern) und in den Masuren (Ostpreußen) installiert.78 Glaubt man dem Bericht Piaskowskis vom Mai 1945, so hatte Niederschlesien im April 1945 eine Bevölkerung von 400.000, von denen nur 20.000 Polen waren, der Rest bestand aus Deutschen. Im Juli standen 827.846 Deutschen 173.315 Polen gegenüber. Im September geben die Statistiken 1.111.705 Deutsche an, für November 1945 1.376.229.79 Das Jahr 1945 brachte somit grundsätzliche Änderungen im Verhältnis der Deutschen und Polen mit sich. Verschiedene Formen der Diskriminierung von Deutschen, so z. B. die im Vergleich zur polnischen Bevölkerung deutlich geringere Entlohnung, verschlechterte die Zukunftserwartungen der Deutschen. Dennoch war die Zahl der Ausreiseanträge gering: Laut Pasierb haben bis Ende 1945 65.883 Deutsche erfolgreich Ausreiseanträge gestellt80 , wobei von einer etwas höheren Zahl ausgegangen werden kann, da vermutlich nicht alle ihre Ausreise beantragten, sondern einfach die Grenze überquerten. Die Gründe dafür, weshalb die deutsche Bevölkerung so rasch ausgesiedelt wurde, sind nicht unumstritten. Folgt man Kraft, so wurde gerade in Niederschlesien die Anwesenheit der Deutschen als Omnipräsenz empfunden. Die polnischen Behörden wollten demnach diesen Zustand durch eine rasche Aussiedlung besei73 74 75 76
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Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 370 f. Pasierb, Migracja Ludno´sci Niemieckiej (wie Anm. 53, S. 203), S. 39. Vgl. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 170. Vgl. Thomas Urban, Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 480), Lizenzausgabe, Bonn 2005, S. 113. Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 64. Beauvois, La Pologne (wie Anm. 124, S. 138), S. 380. Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 375. Pasierb, Migracja Ludno´sci Niemieckiej (wie Anm. 53, S. 203), S. 103.
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tigen.81 Krzoska vertritt die Auffassung, die rasche Aussiedlung sei stark an die Person Gomułkas gebunden gewesen.82 Beiden Ansichten ist gemein, dass die Anwesenheit der Deutschen als Hindernis für eine Polonisierung der Gebiete betrachtet wurde. Betrachtet man die einzelnen Phasen der Vertreibung, so wird deutlich, dass während der jeweiligen Etappen verschiedene Zielsetzungen entscheidend waren. So diente die Vertreibung ab Mitte 1944 dazu, politische Fakten zu schaffen und die polnischen Gebietsgewinne im Westen faktisch vorweg zu nehmen. Dies erklärt, weshalb der polnische Ministerrat gleichzeitig beschloss, den polnischen Bevölkerungsanteil rasch zu erhöhen.83 Es sollten „ethnische Argumente“ beschafft werden. Es ist charakteristisch für den Ablauf der Polonisierung der Industrie in Polen, dass sie im produzierenden Gewerbe schneller voranschritt als in den öffentlichen Einrichtungen wie Kraftwerken.84 Die deutschen Arbeitskräfte wurden insbesondere herangezogen, um das öffentliche Leben aufrecht zu erhalten, wobei die Weisung vorsah, dass sie rasch ersetzt werden sollten. Ab Ende 1945 wurden Neueinstellungen Deutscher verboten.85 Die Direktoren wehrten sich und nahmen in Kauf, ehemalige Mitglieder der SA, der SS oder des SD – dem Sicherheitsdienst der SS – weiter zu beschäftigen. Der Direktor des städtischen Elektrizitätswerks in Breslau verteidigte die Deutschen sogar, indem er in einem Schreiben an den Stadtpräsidenten vom 20. August 1945 deutlich machte, dass in Deutschland der „arbeitende Mensch, und zumal in einer leitenden Position, der Partei angehören musste“. Zudem würde die Entfernung des deutschen Personals „große Schwierigkeiten beim Betrieb des Elektrizitätswerks und eventuell sogar die Betriebseinstellung nach sich ziehen“.86 Obwohl Quellen wie die eben zitierte es nahelegen, wurde die Frage der wirtschaftlichen Folgen der Vertreibung selten verfolgt, in den meisten Fällen sogar ausgeblendet.87 Bei der Frage der Bedeutung des Verlusts von Wissensträgern ist ein wichtiger Aspekt derjenige der Quantität. Tatsächlich war die Frage der reinen Anzahl der Facharbeiter für Niederschlesien sowie für die gesamten Neuen Gebiete nicht unerheblich. Es war ein Problem, Nachfolger für die deutschen Facharbeiter zu fin-
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Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 397. Krzoska, Gomułka und Deutschland (wie Anm. 15, S. 19), S. 175. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 42. Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 195. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 102 f.; Urban, Verlust (wie Anm. 76), S. 126. 86 AP Wr ZMWr/139, Bl. 104-104v, abgedruckt in: Borodziej/Lemberg (Hrsg.), Die Deutschen IV (wie Anm. 54, S. 203), S. 501. 87 Ein Beispiel ist Kazimierski, der bei seiner Bilanz zum wirtschaftlichen Potenzial Polens und der Neuen Gebiete das Problem der Facharbeiter nicht erwähnt; vgl. Kazimierski, Polski przemysł zbrojeniowy (wie Anm. 10, S. 17), S. 84 f. Auf der anderen Seite wurde jedoch die Bedeutung der Facharbeiter, welche im Rahmen der Vertreibung in die zukünftige Trizone kamen, mehrfach unterstrichen. Abelshauser hebt hervor, dass bis 1950 9,6 Millionen Vertriebenen in die BRD kamen, von denen über 80 Prozent zwischen 18 und 25 Jahre alt war und überwiegend eine abgeschlossene Ausbildung vorzuweisen hatten; Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 293 f. Hierauf wird später noch genauer eingegangen.
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den, die die hinterlassenen Lücken hätten schließen können.88 Chumi´nski prüft am Beispiel Breslaus aufwendig, welche Berufe die deutschen Facharbeiter in den dortigen Firmen hatten, um diese dann mit der Ausbildung der polnischen Nachfolger zu vergleichen.89 Doch selbst wenn dies möglich wäre, würde diese Untersuchung am Kern des Problems vorbeiführen. So suggeriert die systematische Gegenüberstellung zweier Facharbeiter, welche verschiedenen Ausbildungssystemen entstammen, dass ihre Wissensbestände in einem signifikantem Maße deckungsgleich seien – eine Annahme, die durchaus fragwürdig ist. Nach Potsdam änderte sich die Politik gegenüber der deutschen Bevölkerung. Hier beginnt die dritte Phase, die der „vertraglich festgelegten Vertreibung“. Artikel XIII des Potsdamer Protokolls sah eine Überführung der deutschen Bevölkerung in „humaner“ Weise vor.90 Mitte 1945 befand sich in Niederschlesien noch etwa die Hälfte aller im polnischen Machtbereich befindlichen Deutschen. Das änderte sich auch bis zur Volkszählung im Februar 1946 nicht, nach der von den 2,28 Millionen registrierten Deutschen 1,24 Millionen in Niederschlesien lebten, dazu 474.000 in der Wojewodschaft Stettin.91 Zwar wurde in Potsdam das ehemalige Ostdeutschland unter polnische Verwaltung gestellt, wodurch der hohe Zeitdruck, bis zu einer internationalen Konferenz „Fakten zu schaffen“, wegfiel. Dennoch sah sich die polnische Staatsmacht gezwungen, weiterhin Stärke zu demonstrieren, um von den Siedlern anerkannt zu werden.92 Die Frage der raschen Übernahme der deutschen Städte – und somit des Alltags – war für die Akzeptanz der polnischen „Regierung“ von hoher Bedeutung.93 Nach der Potsdamer Konferenz wurden sog. „freiwillige Aussiedlungen“ forciert. Dies bedeutete in der Praxis, dass bei formal korrekter Behandlung die Deutschen konsequent ausgesiedelt werden sollten. Hierbei konzentrierte man sich zunächst insbesondere auf Alte, Kranke und Kinder unter 16 Jahren, Frauen mit kleinen Kindern und Schwangere.94 In der zweiten Jahreshälfte 1945 wurden so etwa 500.000 Deutsche vertrieben: 300.000 durch die Armee, etwa 70.000 gingen freiwillig, und die übrigen wurden im Rahmen von „Potsdam“ abtransportiert.95 Die offizielle Aussiedlung begann im Februar 1946, zeitlich nach der Volkszählung, als etwa 1,2 Millionen Deutsche in Niederschlesien lebten. Im Rahmen der sog. „Organisation Swallow“, die von Februar 1946 bis Oktober 1947 andauerte, wurden diese beinahe vollständig ausgesiedelt.96 Nach der Planung des Alliierten Kontrollrats vom 20. November 1945 sollte die britische Besatzungszone 22,5 Prozent oder 1,5
88 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 179. 89 Ebd., S. 197. 90 Auszüge aus dem Kommuniqué über die Konferenz von Potsdam, 2. August 1945; abgedruckt in Jacobsen/Tomala (Hrsg.), Bonn – Warschau (wie Anm. 2, S. 16), S. 67. 91 Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 76 f. 92 Ebd., S. 77. 93 Musekamp, Zwischen Stettin und Szczecin (wie Anm. 17, S. 52), S. 44. 94 Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 188. 95 Cholewa, Migracja Niemców (wie Anm. 9, S. 194), S. 91. 96 Ebd., S. 92.
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Millionen der aus Polen Vertriebenen aufnehmen.97 Der 1. November 1947 sollte der letzte Ausreisetag der Deutschen sein.98 Die beinahe vollständige Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus Niederschlesien bis Ende 1947 in die britische Besatzungszone – 1948 waren schließlich nur noch etwas weniger als 60.000 Deutsche in Niederschlesien – verursachte zwischen beiden Staaten noch erhebliche Verstimmungen, die auch dadurch verstärkt wurden, dass Polen durch die Praxis der „erzwungenen freiwilligen Aussiedlungen“ schneller aussiedelte, als es die britische Besatzungszone verkraften konnte.99 Die Vertreibung war, gemessen an der Zahl der zu vertreibenden Deutschen, umfassend.100 Und das hohe Tempo bei der Vertreibung macht deutlich, dass sämtliche Pläne, im Interesse der Ingangsetzung der Wirtschaft Fachkräfte zurückzuhalten, in der Praxis der Vertreibung kaum eine Rolle spielten. 3.3. Die Besiedlung der Neuen Gebiete Die Besiedlung der Neuen Gebiete ist das „analytische Gegenstück“ zur Vertreibung. Das zeigt sich auch bei den Fragen: Ob und in welchem Umfang war das „Wissen“ oder die Ausbildung der Siedler ein relevantes Entscheidungskriterium im Rahmen der Bevölkerungspolitik? Gemäß der Zählung vom 3. Februar 1946 lebten in den Neuen Gebieten 2,6 Millionen Polen, von denen 1,1 Millionen bereits vor Kriegsende dort lebten und deren polnische Herkunft anerkannt wurde. Bis zum 6. Dezember 1950 stieg die Bevölkerung auf 5,6 Millionen an, 2,7 Millionen von ihnen waren zwischen 18 und 49 Jahre alt.101 Nicht nur bei der Vertreibung, auch bei der Besiedlung wurden große Menschenmassen verschoben. Gelang es hierbei der polnischen Zentralgewalt, steuernd einzugreifen? Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass die Bevölkerung des ehemaligen Ostpolen geschlossen in die Neuen Gebiete umgesiedelt wurde. Diese Annahme wurde bereits 1960 von der Soziologin Irena Turnau in das Reich der Legenden verwiesen.102 Thum unterstreicht, dass nur etwa zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung Breslaus aus Ostpolen stammten.103 Und Ther legt dar, dass in den Neuen Gebieten „nur“ 26,6 Prozent polnische Vertriebene aus dem ehemaligen Ostpolen oder Deportierte aus Sibirien und Zentralasien waren.104 Auch auf politischer Ebene wurde an keiner Stelle ernsthaft in Erwägung gezogen, die heimatlose 97 98 99 100
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Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 101. Cholewa, Migracja Niemców (wie Anm. 9, S. 194), S. 93. Vgl. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 59 f. Für diese Untersuchung unerheblich, aber trotzdem erwähnenswert, ist der Umstand, dass die Vertreibung unter den Deutschen zahlreiche Opfer hervorbrachte. Allein unter den aus den Ostgebieten Vertriebenen gab es über zwei Millionen Todesopfer; Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen (wie Anm. 105, S. 70), S. 36. ˙ Gruchman, Ziemie Zachodnie w Zyciu Gospodarczym (wie Anm. 36, S. 125), S. 15. Irena Turnau, Studia nad Struktura˛ Ludno´sciowa˛ Polskiego Wrocławia [Studien zur Bevölkerungsstruktur des polnischen Breslaus] (Ziemie zachodnie: Studia i Materiały, Bd. 2), Posen 1960. Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 16, S. 52), S. 157. Errechnet wurde diese Zahl anhand der Bevölkerungsstatistik vom 31.12.1948; vgl. Ther, Deut-
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polnische Ostbevölkerung geschlossen in die Neuen Gebiete zu überführen: „Neben Repatrianten aus dem Osten, die nur ausnahmsweise in den Wiedergewonnenen Gebieten angesiedelt werden sollten, da nach erlebten Demoralisierungen von ihnen kein rechter Pioniergeist zu erwarten sei, und Reemigranten aus dem Westen, die den Vorzug aufwiesen, durch die Zwangsarbeit im Reich an deutsche Wirtschaftsmethoden gewöhnt zu sein, sollten in allererster Linie Bevölkerungsüberschüsse aus den überbevölkerten südlichen Wojewodschaften das ,Menschenmaterial’ für die neuen Westgebiete stellen.“105 Die Angaben zur Abstammung der Bevölkerung in den Neuen Gebieten markieren das Ende eines Prozesses, der sich der politischen Steuerung insbesondere zu Beginn beinahe vollständig entzog. Die Forschung unterscheidet daher klar zwischen den Siedlungsplänen und der Praxis der Ansiedlung in den Neuen Gebieten.106 Die erste Phase der Siedlung bzw. Ansiedlung von Polen in den Neuen Gebieten verlief ebenso wie die erste Phase der Vertreibung, „,wild’, als spontane unorganisierte Aneignung“.107 Bereits kurz nach Ankunft und Einrichtung der Generalbevollmächtigten und ihrer Behörden in den Neuen Gebieten wurde um Siedler geworben. Bei Soldaten geschah dies im Rahmen der Operationsgruppen der Armee. Die Aufgabe der etwa 140 Gruppen war es, ab Juni 1945 die Regionen zu erfassen und für die Siedlung vorzubereiten. Zusätzlich wurde am 10. August 1945 vom KRN ein Dekret zur „Demobilisierung der Armee“ erlassen, dessen Artikel 12 Soldaten, die bereit waren, in die Neuen Gebiete zu siedeln, zehn Hektar landwirtschaftlich zu bestellende Fläche mittlerer Qualität oder eine andere Arbeitswerkstatt versprach.108 Das eben zitierte Dekret deutet darauf hin, dass in erster Linie Siedler gesucht wurden, die das landwirtschaftliche Potenzial nutzbar machen konnten. Tatsächlich fällt dies bei der Untersuchung der Besiedlungskonzepte auf: Die Frage der Qualifikationsstruktur spielte nur für die Landwirtschaft eine Rolle. Ein Zusammenhang zwischen der Ingangsetzung der Industrie und der Berufs- und Ausbildungsstruktur der Bevölkerung wurde in den auf zentraler Ebene entstandenen Plänen weder berücksichtigt noch hergestellt.109 Erklären lässt sich das teilweise durch die Ernährungssituation, die nach 1945 ein akutes Problem darstellte und eine rasche Besiedlung notwendig machte.110 Diese beiden Aspekte, der hohe Zeitdruck sowie die Notwendigkeit einer raschen landwirtschaftlichen Bewirtschaftung der Neuen Gebiete, spiegelte sich in den verschiedenen Konzepten wider. Auch wenn sie nur zu einem geringen Teil realisiert wurden, können sie Aufschluss darüber geben, welche Rolle die Neuen Ge-
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sche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 44 f.; Os˛ekowski, Społecze´nstwo Polski zachodniej (wie Anm. 59, S. 204), S. 53 f. Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 180 f. Ebd., S. 197; Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 93, 103. Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 198. Leopold Gluck, Od ziem postulowanych do Ziem odzyskanych [Von den postulierten Gebieten zu den wiedergewonnenen Gebieten], Warschau 1971, S. 93. Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 176–196. Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 64.
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biete wirtschaftlich spielen sollten. Mehrere Institutionen waren an der Erstellung von Siedlungsplänen beteiligt. Die ersten Pläne wurden vom „Büro für Siedlungsund Umsiedlungsstudien“ („Biuro Studiów Osadniczo-Przesiedle´nczych, BSOP“) und vom Wissenschaftlichen Rat erstellt.111 Rajmund Buławski, Mitglied des Wissenschaftlichen Rates, ging Ende Juli 1945 davon aus, dass die Neuen Gebiete insgesamt 8,75 Millionen Menschen aufnehmen könnten. Ausgehend davon, dass eine Millionen verifiziert und somit in den Gebieten bleiben würden112 , schätzte er, dass 7,75 Millionen Menschen in diese Region übersiedeln könnten.113 Ohne an dieser Stelle die Pläne für die Besiedlung zu rekapitulieren – sie erwiesen sich für die Besiedlungspraxis ohnehin als wenig ausschlaggebend –, war neben der Siedlung auch die Frage von Bedeutung, wie die Übernahme der landwirtschaftlichen Betriebe ablaufen sollte. Für die Besiedlung der Neuen Gebiete war seit Juni 1945 der „Generalkommissar für die Angelegenheiten der Siedlung und Umsiedlung“ („Komisarz Generalny ds. Przesiedle´nczo-Osadniczych“) Władysław Wolski – sein tatsächlicher Name lautete Antoni Piwowarczyk – verantwortlich, dem der im Juli 1945 gegründete Wissenschaftliche Rat für Fragen zu den Wiedergewonnenen Gebieten („Rada Naukowa dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych, RNdZZO“) beratend zur Seite stand.114 Der bis zum Frühjahr 1948 existierende Rat tagte insgesamt sechs mal. Er bestand aus zunächst 61, später 108 Personen. Ausgewählt wurden die Mitglieder durch Wolski, zugleich Vizeminister des MAP sowie – folgt man Hofmann – informeller „Migrationsminister“.115 Die Mitglieder waren überwiegend nichtkommunistische Linke, die auf diese Weise in die Planung integriert werden sollten, um ihren Charakter als „nationale Aufgabe“ hervorzuheben.116 Man kann an dieser Stelle vorwegnehmen, dass der RNdZZO in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle spielte. In diesem Rat begleiteten vielmehr Wissenschaftler die Siedlungstätigkeit, stellten somit mehr eine wissenschaftliche Einrichtung dar als eine Planungsbehörde.117 Der Schwerpunkt auf die Landwirtschaft sticht bei den verschiedenen Planungen ins Auge. Das Ministerium für Landwirtschaft und Agrarreform MRiRR (Ministerstwo Rolnictwa i Reform Rolnych), das Anfang 1945 die ersten Berechnun111 Zum Folgenden vgl. Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 180–196. 112 Es waren schließlich etwa 1,1 Millionen; siehe Linek, Verifizierung (wie Anm. 10, S. 195), S. 467. 113 Biuro Studiów Osadniczo-Przesiedle´nczych, I Sesja Rady Naukowej dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych 30 VII-1 VIII 1945 r. Zeszyt II., Rajmund Buławski: Problemy OsadniczoPrzesiedle´ncze Ziem Odzyskanych [Die 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Rates für die Wiedergewonnenen Gebiete, Heft 2, Rajmund Buławski: Be- und Umsiedlungsprobleme in den Wiedergewonnenen Gebieten], Krakau 1945, S. 1. 114 An diesem war der Direktor des Posener West-Instituts Zygmunt Wojciechowski beteiligt; Krzoska, Polen an Oder und Ostsee (wie Anm. 30, S. 200), S. 344. 115 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 91. 116 Vgl. Krzoska, Polen an Oder und Ostsee (wie Anm. 30, S. 200), S. 344 f.; Leopold Gluck, Rada Naukowa dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych (1945–1948) [Der Wissenschaftsrat für die Angelegenheiten der Wiedergewonnenen Gebiete], in: Kwartalnik Historyczny 86.3/4 (1979), 641–685, hier S. 648. 117 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 103.
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gen durchführte, wollte gezielt die Besiedlung der Neuen Gebiete mit einer Umgestaltung der Agrarstruktur der übrigen Wojewodschaften verbinden.118 In diesem Zusammenhang wird ein Problem erwähnt, dessen Lösung auch den anderen Besiedlungsplänen zugrunde lag: Die Frage des Abbaus der ländlichen Überbevölkerung in den Neuen Gebieten. Buławski etwa, Mitglied des BSOP, war überzeugt, dass das nichtlandwirtschaftliche Gewerbe diese Aufnahmefähigkeit nicht besitze.119 Zusätzlich war die Betriebsgrößenverteilung ein Problem, um das sich etwa im Wissenschaftlichen Rat zahlreiche Diskussionen drehten. Hier konkurrierten beispielsweise die Bauernpartei PSL und Buławski, da die Partei in der Person von Wincenty Sty´s eine intensive Umstrukturierung der Landwirtschaft auch in den Neuen Gebieten anstrebte. Damit sind die Protagonisten bei der Erstellung der Pläne für die Besiedlung – das BSOP, der RNdZZO und die Bauernpartei – genannt. Der Kern der Auseinandersetzung lag in der Funktionszuweisung für die Wiedergewonnenen Gebiete, die Dr. Paweł Rybicki während der zweiten Sitzung des RNdZZO folgendermaßen zusammenfasste: „In der Diskussion reiben sich zwei Konzeptionen, die weit über das Problem der Agrarstruktur selbst hinausgehen. Es geht darum, was die neuen Gebiete in unserem nationalen und staatlichen Organismus werden sollen. Die eine Konzeption sieht in den wiedergewonnenen Gebieten Möglichkeiten zur Realisierung einer neuen sozioökonomischen Struktur; sie sieht in ihnen ein Terrain, von dem belebende Einflüsse auf die alten Gebiete ausgehen sollten, um sie schrittweise umzugestalten und an den Westen anzunähern. Die zweite Konzeption will die Struktur der alten Länder mit gewissen Verbesserungen auf die neuen Länder übertragen – und die Fakten der jetzigen Art der Besiedlung entsprechen dieser zweiten Konzeption (soweit sich diese Prozesse überhaupt auf irgendeine bewusste Konzeption beziehen). Persönlich bin ich Befürworter der ersten Konzeption, und ich denke, dass wir aus dem großen historischen Wandel profitieren sollten, um durch die eigene Bewirtschaftung der westlichen Gebiete auf die Veränderungen unserer anachronistischen Wirtschafts- und Sozialstruktur zu wirken.“120
In der Diskussion spielte die Problematik der „Kompatibilität“ von Bevölkerung und vorhandener Industrie eine untergeordnete Rolle, obschon der Fachminister Minc die Industriepolitik, und hier insbesondere die Übernahme der Schwerindustrie, immer im Blick behielt.121 Die Praxis der Siedlungen hatte schließlich mit den Plänen wenig gemein. Es fehlte auch die Datengrundlage: „Das BZZ (Büro für die Westgebiete, Y. K.) verfügte im Mai 1945 über keinerlei empirisch erhärtete Istzahlen und stützte seine Konzeption deshalb ausschließlich auf von der Vorkriegsstatistik abgeleitete Schätzwerte.“122 Dieses Problem hat sicherlich auch während der folgenden Jahre bestanden. Eine polnische „Siedlungsbürokratie“ wurde bereits vor Kriegsende aufgebaut. Entscheidende Behörde war hierbei das Staatliche Repatriierungsamt (Pa´nstwowy 118 Przebudowa ustroju rolnego w Polsce [Umgestaltung der Agrarstruktur in Polen], AAN MRiRR/1714, Bl. 1–12, hier Bl. 1, zit. in: Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 177. 119 Ebd., S. 184. 120 Rybicki, Paweł, II Sesja, Heft 2, S. 58, zit. in: ebd., S. 195 f. 121 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 100. 122 Ebd.
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Urzad ˛ Repatriacji, PUR).123 Es wurde bereits im Oktober 1944 geschaffen und war zunächst dafür zuständig, unter Leitung des „Migrationsministers“ Wolski die Umsiedlung der polnischen und polnisch-jüdischen Bevölkerung aus den Ostgebieten in das Landesinnere zu organisieren.124 Am 7. Mai 1945 wurde sein Aufgabenbereich um „die Organisation der Rückkehr der von den deutschen Okkupanten Ausgesiedelten an die vorherigen Wohnorte sowie die Organisation der Umsiedlung in die Wiedergewonnenen Gebiete aus anderen Gebieten des polnischen Staats“ erweitert.125 Die ersten Siedler mussten jedoch nicht erst überredet werden, sondern kamen – ähnlich wie die Operationsgruppen – im Windschatten der Roten Armee in die Neuen Gebiete. Dieser Aufenthalt war jedoch häufig nicht von Dauer. Vielmehr hatte man damit zu kämpfen, dass die Siedler als „Glücksritter und Plünderer“126 auf schnellen Gewinn aus waren und konsequenterweise nicht planten, sich dort dauerhaft niederzulassen. Die 1945 herausgegebene Werbebroschüre „In den Westen!“ (Na Zachód!) förderte diese Haltung. So hieß es hier: „Geh dorthin! Ehe Du Dich umschaust/ biste besser und reich/ denn der Bauer im Westen/ ist dem Wojewoden gleich!“127 Es wurden daher verschiedene Gegenmaßnahmen ergriffen. Das MAP hatte bereits im Februar 1945 und somit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Eroberung der deutschen Ostprovinzen noch längst nicht abgeschlossen war, die Ausreise aus den Neuen Gebieten an Passierscheine gebunden. Zusätzlich sah der Generalbevollmächtigte Wolski die Einführung vorläufiger Personalausweise vor. Im Sommer 1945 wurde zudem ein Meldeverfahren eingeführt. Diese Maßnahmen brachten zunächst nur bescheidenen Erfolg. Weder gelang es, die Bevölkerung zu erfassen, noch fand eine Form von Selektion oder Siedlungssteuerung statt.128 Folgende Anekdote macht deutlich, dass sämtliche Steuerungsversuche ins Leere lie˙ fen. Die Erinnerungen des 1. Parteisekretärs der PPR in Breslau, Andrzej Zak, der ein kurzes Ereignis am Bahnhof Breslau-Brockau vom Sommer 1945 wiedergibt: „Im selben Monat suchte mich eine Delegation des PPR-Komitees von Brockau sowie vom PUR auf. – Kommen Sie zur Rettung, Genosse – sagten sie gleich zur Begrüßung. – Einige tausend Menschen hausen unter freiem Himmel zwischen den Bahngleisen. Kommen Sie mit uns, niemand interessiert sich sonst für sie. Abends war ich am Bahnhof in Brockau. Es war ausgerechnet ein düsterer Tag, Regen fiel. Ich ging auf den Güterbahnhof und . . . tatsächlich. Zwischen den Gleisen dehnte sich ein gewaltiges Lager aus, über welchem der Rauch Hunderter Feuerstellen aufstieg. 123 Standardwerk für die Tätigkeit des PUR ist weiterhin das Werk von Banasiak; Stefan Banasiak, Działalno´sc´ Osadnicza Pa´nstwowego Urz˛edu Repatriacyjnego na Ziemiach Odzyskanych w Latach 1945–1947 [Die Siedlungstätigkeit des Staatlichen Repatriierungsamtes in den Wiedergewonnenen Gebieten 1945–1947], Posen 1963. 124 DzURP 1944, Nr. 7, Pos. 32. 125 DzURP 1945, Nr. 18, Pos. 101 (Art. 1). 126 Urban, Verlust (wie Anm. 76, S. 206), S. 155. 127 Im Original: „Jedz˙ tam, Ani si˛e opatrzysz, Ju´ze´s lepszy i bogatszy, Bowiem rolnik na Zachodzie, B˛edzie równy wojewodzie!“, vgl. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 294. 128 Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 199.
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– Warum habt Ihr alle Repatrianten gerade hier abgeladen? – wandte ich mich an einen PURBeamten. – Ein Zug mit Repatrianten wurde, statt in Kattowitz entladen zu werden, nach Breslau geschickt, – erklärte der Beamte betreten. – Darüber hinaus sandte man uns zwei unangemeldete Repatriantentransporte. Der eine hätte nach Stettin gehen sollen, der andere nach Posen. Weil die Armee aber Waggons brauchte, wurden sie entladen, und jetzt haben wir den Schlamassel.“129
Es ist davon auszugehen, dass die Planungen, wo sie tatsächlich vorgesehen waren, sehr häufig an der Umsetzung scheiterten. Die diversen Beratungs- und Planungsgremien wie das Büro für die Westgebiete oder der RNdZZO waren durch die politische Vorgabe, den Bevölkerungsaustausch vor allem schnell über die Bühne zu bringen, weitgehend bedeutungslos geworden.130 In der zweiten Hälfte des Jahres 1945 gab es unterhalb der Ebene des PUR zusätzlich zahlreiche verschiedene staatliche Organe, die für die Besiedlung verantwortlich waren. Jedoch war keine Behörde mit deren Koordination betraut worden.131 Die latente Unterbesetzung der Dienststellen beim PUR machte die Arbeit nicht einfacher. Ein weiterer Faktor erschwerte die Siedlung zudem erheblich: „In Niederschlesien war man nur unzureichend über noch freie Siedlerstellen und die Aufnahmekapazität der Kreise orientiert.“132 Das Chaos regierte allgemein.133 Die Folge war, dass das PUR zwar die Siedler vor Ort brachte, anschließend jedoch das Interesse an ihnen verlor. Dadurch wurden die Siedler weder gezählt, noch wurden sie vor Ort registriert.134 1946 kam es zu leichten Änderungen. Während einer Rede Gomułkas am 4. Januar 1946 vor dem Landesnationalrat stellte er zusammen mit dem früheren Generalbevollmächtigten für die Wiedergewonnenen Gebiete Wolski, sein Programm vor. Der Minister der Neuen Gebiete ging von einer zeitnahen Inbetriebname der Industrie aus und sah einen engen Zusammenhang mit der Bevölkerungsfrage. Im März desselben Jahres beschlossen MZO und MAP die Schaffung von Siedlungsabteilungen und -referaten. Ihnen unterstand die Koordination und Verteilung der Ankömmlinge unter Berücksichtigung des jeweiligen Bedarfs und der Qualifikation der Siedler.135 Die Berücksichtigung des Fachkräftebedarfs der Industrie schaffte es jedoch nicht in die praktische Siedlungspolitik. Dieser Umstand wurde später kritisiert. Am 29. Juni 1947 beanstandete ein Referent – ein Herr Polibier – in seinem Vortrag in Breslau vor einer von verschiedenen Kammern ins Leben gerufenen Kommission zur Aktivierung der Wirtschaft in den Neuen Gebieten, dass bei der Planung der Beruf der Siedler keine Rolle gespielt habe. In seinen Augen habe das ˙ 129 Andrzej Zak, Pierwsze dni Partii [Die ersten Tage der Partei], in: Stefan Kuczy´nski (Hrsg.), Trudne dni I. Wrocław 1945 we wspomnieniach pionierów [Schwere Tage. Breslau 1945 in den Erinnerungen der Pioniere], Breslau 1960, 178–187, hier S. 182 f. 130 Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 16, S. 52), S. 131. 131 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 94. 132 Ebd., S. 95. 133 Henryk Toru´nczyk, Direktor des Inspektionsdepartments im MZO, an Vizeminister Józef Dubiel, 9. Dezember 1947, AAN MZO/1030, Bl. 107–115, zit. in: ebd., S. 96. 134 Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 200. 135 Ebd., S. 204 f.
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schwerwiegende Folgen für die Aktivierung der Wirtschaft gehabt.136 Die Siedlungen dauerten bis Ende der 40er Jahre an, wobei die Volkszählung vom 31. Dezember 1948 das erste Mal eine Datenbasis lieferte. Nach ihr waren zu diesem Zeitpunkt 1,9 Millionen Menschen in der Wojewodschaft Breslau ansässig, davon 1,84 Millionen Polen.137 Stellt man schließlich die Frage nach der Relevanz industrieller Ausbildung oder Handwerksausbildung bei der Siedlung, ist die Antwort zweigeteilt. In der Praxis ließ spätestens die Durchführung keine planmäßige Besiedlung zu. Bei der Theorie standen die Landwirtschaft, die Geschwindigkeit bei der Besiedlung sowie – damit eng verbunden – die Schaffung eines nationalen „Westwalls“ im Vordergrund. Spielte bei der Vertreibung die Bindung qualifizierter Kräfte zumindest in der Planung eine wichtige Rolle, musste sie bei der Siedlungsplanung – die mangelnde Datenbasis mag ein Grund hierfür gewesen sein – hinter den genannten Faktoren zurückstehen. 3.4. Wiederaufbau trotz gepackter Koffer – Waren die Neuen Gebiete ein Provisorium? Bei der Herausarbeitung der Voraussetzungen für die Wiederingangsetzung der Industrie in Niederschlesien – eine Notwendigkeit, wenn die Rolle des Produktionsfaktors Wissen in den Blick genommen werden soll – kann man die Ansicht vertreten, die polnischen Siedler seien in der Mehrzahl der Fälle nicht davon ausgegangen, dass sie für lange Zeit am neuen Wohnort bleiben würden. Diese Erwartung habe sich entsprechend auf die Arbeitsmotivation der Bevölkerung der Neuen Gebiete ausgewirkt. Auch wenn diese Meinung selten explizit vertreten wird, muss das Argument ernst genommen werden. Es ist ein Problem der Forschung, dass Untersuchungen, die Aufschluss über das Westbild der polnischen Siedler geben, sehr rar sind. Zwar erschien 2013 die Untersuchung von Beata Halicka138 , trotzdem klafft die Lücke weiterhin deutlich.139 Tatsächlich war die Administration des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete durchaus bemüht, den Siedlern mittels einer Kampagne ihre Zurückhaltung zu nehmen. Sie zielte insbesondere auf diejenigen Siedler, die selbst aus den ehemals ostpolnischen Gebieten vertrieben wurden.140 Mitte 1946 gab es etwa einen Volksentscheid zu drei Fragen, von denen eine die Zustimmung des Volkes zur Oder-Neiße-Grenze betraf. Hierbei stimmten 136 AAN MZO/1380a, Bl. 10. 137 Patrycy Dziurzy´nski, Spis ludno´sci na Ziemiach Odzyskanych z dnia 31 grudnia 1948 [Die Bevölkerungszählung in den Wiedergewonnenen Gebieten vom 31. Dezember 1948], in: Polska Ludowa: Materiały i Studia 6 (1967), 183–230, hier S. 193. 138 Beata Halicka, Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948, Paderborn 2013. 139 Vgl. etwa Helga Schultz’ aktueller Aufsatz, die diesen Themenkomplex nur oberflächlich behandeln kann; Helga Schultz, Geschichtsbilder in der deutsch-polnischen Grenzregion, in: Studia Historiae Oeconomicae 27 (2009), 319–326, hier S. 322 f. 140 Beauvois, La Pologne (wie Anm. 124, S. 138), S. 386.
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dem behördlichen Ergebnis zufolge 91 Prozent mit „Ja“.141 Dieses Resultat war auch – folgt man der Untersuchung von Radosław Domke – Ergebnis einer durchaus erfolgreichen staatlichen Propaganda, die in nicht zu unterschätzendem Maße zur raschen Besiedlung der Neuen Gebiete beitrug.142 Eine offene Frage bleibt, wie weit und wie lange die Unsicherheit über die Zukunft der Neuen Gebiete die Wirtschaftspolitik beeinflusst hat. Die fehlende völkerrechtliche Absicherung der neuen Westgrenze Polens vor der Potsdamer Konferenz erschwerte beispielsweise die Arbeit der Operationsgruppen.143 Sicherlich gab es auf polnischer Seite ausgeprägte Sorgen darüber, dass im Falle ihrer Rückgabe an Deutschland jegliches Bemühen vergeblich wäre. Auf der anderen Seite machten sie ein Drittel des neuen Staatsgebiets aus, und ein „Verzicht“ auf diese Regionen konnte realistischerweise keine Option sein. Trotz des Kommuniqués von Potsdam wurde immer wieder von verschiedenen politischen Akteuren nicht nur der vier Besatzungszonen der provisorische Charakter der Oder-Neiße-Grenze politisch genutzt.144 Von tschechoslowakischer Seite etwa gab es Mitte 1945 immer wiederkehrende Forderungen nach Eingliederung bestimmter niederschlesischer Gebiete.145 Selbst in der angrenzenden Sowjetischen Besatzungszone war die polnische Verwaltung der ehemaligen deutschen Ostprovinzen Thema. Die SED betrachtete die Oder-Neiße-Grenze zunächst als nicht endgültig.146 Dadurch hatte die Partei einen Anteil daran, dass die Oder-Neiße-Grenze auch in Westpolen teilweise als vorläufig empfunden wurde. Im Wahlkampf für die Gemeindevertretungen am 1., 8. und 15. September 1946 hatte sie ein „Bekenntnis zur Revision“ abgegeben. Die SED wurde hier insbesondere von wahltaktischen Interessen geleitet: So sollte die Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion unterstrichen werden. Zudem hatte die ostdeutsche CDU unter Jakob Kaiser diese Frage zum Wahlkampfthema gemacht. Andererseits musste die SED bei Übernahme der Haltung der Christdemokraten zur Frage der deutschen Ostgrenze mit Missbilligung seitens der Sowjetunion rechnen. Die Folge war eine Wahlpropaganda, die „Grenzkorrekturen im Osten durchaus für denkbar hielt“.147 Am 5. Mai 1946 sprach Wilhelm Pieck im deutschen Teil seiner geteilten Heimatstadt Guben: „Ich denke, wir werden in Jahresfrist auch dem von uns ersehnten Ziele näher sein, kein halbes, sondern ein ganzes Guben in der 141 Angaben zur Wahlbeteiligung konnten nicht gefunden werden; Beauvois, La Pologne (wie Anm. 124, S. 138), S. 389. 142 Radosław Domke, Ziemie Zachodnie i Północne Polski w propagandzie lat 1945–1948 [Die Nord- und Westgebiete Polens in der Propaganda 1945–1948], Grünberg 2010, S. 293. 143 Kinstler, Grupy Operacyjne (wie Anm. 29, S. 124), S. 114. 144 Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000 (Aufbau Taschenbücher, Bd. 8100), Berlin 2003, S. 141. 145 Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 372. 146 Andreas Malycha, „Wir haben erkannt, dass die Oder-Neiße-Grenze die Friedensgrenze ist.“ Die SED und die neue Ostgrenze 1945 bis 1951, in: Deutschland-Archiv 33.2 (2000), 193–207, hier S. 197. 147 Dies., Die SED und die Oder-Neiße-Grenze bis zum Görlitzer Vertrag 1950, in: Helga Schultz (Hrsg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 6), Berlin 2001, 81–111, hier S. 88.
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Gestaltung der demokratischen Selbstverwaltung zu haben.“148 Dass bis Juli 1949 knapp ein Viertel der Bevölkerung aus eingebürgerten Vertriebenen bestand, wird hier sicherlich als Katalysator gewirkt haben.149 Im Wahlkampf im September 1946 nahm so die SED Mecklenburg eindeutig Stellung: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ist für die Revision der deutschen Ostgrenzen.“150 Und auch der amerikanische Außenminister James F. Byrnes beschrieb in einem Interview vom 6. September 1946 die polnische Westgrenze als nicht endgültig.151 Nur dessen sowjetischer Amtskollege Molotow stellte in einem Interview vom 16. September 1946 die Oder-Neiße-Grenze als unveränderbares Faktum dar.152 Dieses Bekenntnis schaffte die Revisionswünsche jedoch nicht aus der Welt. Noch beim Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 forderten die Bauarbeiter von Stalinstadt, dem späteren Eisenhüttenstadt, die Aufhebung der Oder-Neiße-Grenze und skandierten: „Schmeißt die Pollacken aus Deutschland raus.“153 Die Problematik einer Revision der deutsch-polnischen Grenze hatte eine längere Tradition, die in erster Linie eine Folge der Teilungen Polens ist. Die Grenzkonflikte Polens und der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg führten auf polnischer wie auf deutscher Seite zu Verbitterung.154 „Deutschland erschienen die Gebietsabtretungen (nach 1918, Y. K.) im Osten auf Dauer nicht akzeptabel, wofür selbst die Westmächte Verständnis zeigten.“155 Diese Haltung war auf polnischer Seite bekannt. Das ist unter anderem der Grund dafür, dass Organisationen wie der 1921 gegründete polnische „Westverband“ („Zwiazek ˛ Obrony Kresów Zachodnich“) und wissenschaftliche Institutionen wie die 1919 gegründete Posener Universität „die Verteidigung der polnischen Westgebiete zu einem zentralen Anliegen der polnischen Politik und der polnischen Wissenschaft“ machten.156 In der historischen Rückschau scheinen die Sorgen zwar unbegründet, wurde doch auf internationaler Ebene eine Grenzrevision zu keinem Zeitpunkt erwogen. 148 Katarzyna Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995 (Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas, Bd. 9), Berlin 2003, S. 123. 149 Vgl. Malycha, Grenzen im Ostblock (wie Anm. 147), S. 92. 150 Mecklenburgisches Hauptstadtarchiv, SED-BPA Schwerin, IV/L/2/5/161, zit. in: ebd. 151 Freilich bezog sich Byrnes hierbei ausschließlich auf den völkerrechtlichen Charakter des Potsdamer Kommuniqués. Tatsächlich sprach er sich klar für eine dauerhafte Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze aus; John Gimbel, Byrnes’ Stuttgarter Rede und die amerikanische Nachkriegspolitik in Deutschland, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 20.1 (1972), 39–62, hier S. 53. 152 Malycha, Grenzen im Ostblock (wie Anm. 147), S. 93. 153 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 3 1999, S. 50. 154 Borodziej, Die Katastrophe. Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 2, S. 16), S. 85 f. 155 Fuchs, Katastrophe (wie Anm. 2, S. 49), S. 636. 156 Jaworski, Polnische Westforschung (wie Anm. 32, S. 200), S. 95; ebenfalls zu diesem Themenkomplex Jörg Hackmann, Deutschlands Osten – Polens Westen als Problem der Geschichtsschreibung, in: Matthias Weber (Hrsg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde (Mitteleuropa – Osteuropa, Bd. 2), Frankfurt am Main/New York 2001, 209–235, hier S. 220–229.
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Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Frage der polnischen Westgrenze auf nationaler wie auf internationaler Ebene gravierende Folgen hatte.157 Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland sich weigerte, die Oder-NeißeGrenze anzuerkennen, führte faktisch dazu, dass Polen in stärkerer Abhängigkeit zur UdSSR stand.158 Diese Problematik wirkte sich auch auf die Siedlungspolitik aus. Buławski betonte während der 1. Sitzung des RNdZZO, dass an der Westgrenze eine „lebendige Mauer des nationalen Elements“159 errichtet werden müsse. Das Jahr 1947 brachte einen leichten Wandel mit sich. So teilte Stalin einer SED-Delegation Anfang 1947 unzweideutig mit, dass eine Revision der polnischen Westgrenze nicht zur Debatte stünde.160 Wurde 1946 betont, dass die Grenzfrage noch offen sei, unterstrich Pieck während einer Sitzung des Berliner Landesvorstandes Anfang Juli 1947, dass bei einer An- und Aussiedlung vom Menschen in diesem Ausmaß nicht von einer vorläufigen Maßnahme ausgegangen werden könne und die Gefahr bestünde, dass eine Revision der Grenzfrage einen neuen Krieg auslösen könne.161 In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass eine Anerkennung der deutschen Ostgrenze auch Voraussetzung für eine Annäherung der DDR und der Volksrepublik Polen war.162 Die Frage blieb jedoch weiter virulent. Vor diesem Hintergrund stand für die polnische Regierung die Schaffung eines „Pioniermythos“ weit oben auf der politischen Agenda.163 Thum spricht von einer 157 Auffällig ist etwa, wie unrealistisch ein Übergang der Neuen Gebiete zu Deutschland zu jenem Zeitpunkt tatsächlich war. Wehler bringt diese auf den Punkt: „Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde nie, nicht einmal eine Stunde, im Ernst an die Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete gedacht.“, Benjamin Bidder, Merkel droht eisiger Empfang bei Vertriebenen, in: Spiegel-Online 17.02.2009, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,613645,00.html (besucht am 02. 12. 2010). 158 Adam Daniel Rotfeld, Germany-Poland-Russia. Some Thoughts about the Past, the Present, and the Future, in: Witold M. Góralski/Jean-Jacques Granas (Hrsg.), Poland-Germany 1945– 2007. From Confrontation to Cooperation and Partnership in Europe. Studies and Documents, Warschau 2007, 19–35, hier S. 22. Noch 1990 war Helmut Kohl gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze mittels eines internationalen Vertrages; ebd., S. 29. ˙ 159 Wörtlich: „Zywy mur elementu narodowego“; Biuro Studiów Osadniczo-Przesiedle´nczych, 1. Sitzung des RNdZZO (wie Anm. 113, S. 211), S. 3. 160 Malycha, Grenzen im Ostblock (wie Anm. 147, S. 216), S. 98. 161 Ebd., S. 100. Eine offene Frage muss in diesem Zusammenhang bleiben, wie sich die Tatsache auswirkte, dass die Linie der Parteiführung innerhalb der eigenen Mitgliedschaft zunächst nicht akzeptiert wurde und der Konflikt auch Anfang der 50er Jahre immer ausbrach; vgl. ebd., S. 104 f. 162 Beate Ihme-Tuchel, Sozialistische „Völkerfreundschaft“ in der Praxis. Konflikte und Gemeinsamkeiten in den Beziehungen der DDR zu Polen und der CSSR von 1949 bis 1963, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Politik und Ideologie als Instrument (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 86), Berlin 1999, 679–701, hier S. 685. 163 Schultz, Geschichtsbilder in der Grenzregion (wie Anm. 139, S. 215), S. 325. Freilich ließen nicht alle Maßnahmen den Willen erkennen, „loyale“ Siedler in die Neuen Gebiete zu transferieren: „Die Deportationen markieren insofern den Beginn der Vertreibung, als deportierte Polen und Juden 1945 nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren durften, sondern als Ansiedler in die ehemals deutschen Ostgebiete gebracht wurden.“ Forciert wurde dies durch die Androhung
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„Propaganda als Notwendigkeit“.164 Ein wichtiges Beispiel ist die sog. „Ausstellung zu den Wiedergewonnenen Gebiete“ (Wystawa Ziem Odzyskanych), die vom 22. Juli bis zum 31. Oktober 1948 in Breslau stattfand. Diese Ausstellung, die gemäß der ursprünglichen Planung 1947 in Posen stattfinden sollte, wurde von der Regierung organisiert. Hauptanliegen war, die Westverschiebung Polens als Strategie zur Befriedung dieses Teils Europas darzustellen. Dazu sollten die Ansprüche Polens auf diese Gebiete unterstrichen und als historisch legitimiert dargestellt werden.165 Ein weiteres Motiv, das schließlich ebenfalls der Legitimation diente, war eine „Bilanz von drei Jahren Arbeit in den Wiedergewonnenen Gebieten“.166 Dazu gab es die „Wiedergewonnene-Gebiete-Wochen“ (Tygodnie Ziem Odzyska´ aski nych), die „Schlesische Kulturwoche“ (Sl ˛ Tydzie´n Kultury) sowie zahlreiche meist schlesische Medien, die allesamt 1949/50 eingestellt wurden.167 Doch wurde es auf polnischer Seite tatsächlich als realistische Möglichkeit betrachtet, dass man die Souveränität in den Neuen Gebieten wieder verlieren könnte? Die Auseinandersetzungen mit dem potenziellen Verlust waren vielfältiger Art und nahmen diese Gefahr nicht immer explizit in eine politische Programmatik auf. Nicht jeder reagierte auf die gleiche Weise. Gomułka als zuständiger Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete reagierte, indem er von Beginn an eine rasche Polonisierung dieser Gebiete anstrebte, damit ein Verlust an Deutschland unmöglich wurde.168 Auf der anderen Seite kam es unmittelbar nach Kriegsende zu einem „allgemeinen Gefühl von Vorläufigkeit“ unter den polnischen Siedlern.169 Während also die „Psychose der Vorläufigkeit“ nicht von der Hand gewiesen werden kann, ist die Frage, wie sich diese Denkhaltung auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau auswirkte, weit schwerer zu beantworten. In den Westgebieten herrschte ein hoher Urbanisierungsgrad mit stellenweise hochindustrialisierten Gebieten, die Teil einer der am weitesten entwickelten europäischen Staaten waren. Die Siedler fanden eine an manchen Stellen fast unbewohnte Landschaft mit einer für sie vollkommen fremden Struktur vor.170 Es gibt Untersuchungen zu einzelnen Städten, die an dieser Stelle weiterhelfen können. Am Beispiel der geteilten Grenzstadt Guben lässt sich zum Beispiel zeigen, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf deutscher Seite vor allem Probleme wie Plünderungen und Diebstahl sowie das tägliche Überleben auf der Tagesordnung standen.171 Gemäß der Autorin dominierten in dieser „Wild-West-Atmosphäre“ kurzfristige Erwägungen: „Diese
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der Deportation nach Sibirien oder Zentralasien. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 72. Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 16, S. 52), S. 271. Skobelski, Ziemie Zachodnie 1950–1955 (wie Anm. 18, S. 122), S. 42. Wystawa Ziem Odzyskanych, Breslau 1948, S. 8. Vgl. Szczegóła, Ziemie Zachodnie w polityce PZPR (wie Anm. 35, S. 200), S. 21. Krzoska, Gomułka und Deutschland (wie Anm. 15, S. 19), S. 179. Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 373. Faraldo, Europe, nationalism and communism (wie Anm. 111, S. 136), S. 43. Katarzyna Stokłosa, Die Oder-Neiße-Grenze im Bewusstsein der Einwohner von Guben und Gubin (1945 und 1972), in: Helga Schultz (Hrsg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 6), Berlin 2001, 113–134, hier S. 117.
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Menschen (Die Plünderer, Y. K.) dachten nicht an die Zukunft oder wollten nicht daran denken.“172 Häufig war das Gefühl der Vorläufigkeit mit der Hoffnung verbunden, in seine ursprüngliche Heimat zurückkehren zu können, so wie bei dieser Frau aus Kossen im Ermland-Masuren: „Natürlich hatten wir die Hoffnung, dass es wieder nach Hause geht, nicht gleich, aber mit der Zeit. Diese Hoffnung wollten wir lange Zeit nicht aufgeben, weil wir einfach nichts hatten und weil es unheimlich schwer war, weiter zu leben.“173 Als die Gerüchteküche hochkochte, wurde am 25. April 1946 eine Kundgebung im Feldschlösschen Gubens organisiert. Dort versuchte der Referent – Herr Wilfrat – aus Cottbus die Einwohner zu beruhigen: „Es ist nun einmal eine feststehende Tatsache, dass die Grenzen festliegen. Daran ist nichts zu ändern.“174 Handelte es sich bei diesem Teil Gubens um den Teil, der sich in der DDR befand, so lässt sich dennoch hieraus ableiten, dass die unmittelbare Nachkriegszeit viel Unsicherheit mit sich brachte. Diese hielt auch an und stieg 1953 etwas an: „In der Orten an der Neiße machen sich in den letzten Tagen wiederum in verstärktem Maße Gerüchte des Inhalts bemerkbar, dass es nun doch in Kürze heimgehen wird.“175 Auf den ersten Blick vielleicht überraschend, war die Stimmungslage im östlichen und damit polnischen Teil Gubin weitaus positiver. Das lag unter anderem an der wirtschaftlich weit besseren Situation. Es stand mehr Wohnraum zur Verfügung, und die Versorgung mit Nahrungsmitteln war ausreichend, was unter anderem daran lag, dass 1949 erst 5.019 Menschen in Gubin wohnten, obwohl die Stadt 30.000 Einwohner hätte aufnehmen können.176 Es bleibt schließlich zu konstatieren, dass es auf beiden Seiten Unsicherheit gab. Gleichzeitig zeugen zahlreiche Berichte davon, dass sich die Bewohner mit der aktuellen Situation abfanden und beschlossen, eine Zukunft für sich aufzubauen. Auch der Vorschlag von 1947, eine Brücke zwischen Guben und Gubin über die Oder zu bauen, kann als Anzeichen dafür gewertet werden, dass die Sorge vor einer Re-Germanisierung der Gebiete zumindest nicht dazu führte, das öffentliche Leben lahmzulegen.177 Um das Jahr 1950 wurde in Polen ein Abfluss der Bevölkerung Richtung Osten und somit ein Rückgang der Bevölkerungszahlen in den Neuen Gebieten gemessen. Dieser ist jedoch nicht – oder nicht in erster Linie – darauf zurückzuführen, dass aus Angst erfolgreicher deutscher Revisionsansprüche die Gebiete bald wieder verlassen werden müssten. Vielmehr wurden die Steuern für die Bewohner der Neuen
172 Tagebuch von Józef Pacholak, West-Institut Posen, Tagebücher, Sign. P 172, zit. in: Stokłosa, Grenzen im Ostblock (wie Anm. 171, S. 219), S. 117. 173 Interview mit Gisela Mähring, Guben, 23. April 1999, zit. in: ebd., S. 121. 174 BLHA, Rep. 250, Landratsamt Guben/Frankfurt (Oder) 78: Bericht über die Großkundgebung: Geht es über die Neiße?, Guben, 25. April 1946, zit. in: ebd., S. 121 f. 175 BLHA, Rep. 801, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Cottbus 2106: Informations- und Stimmungsbericht, Guben, 8. Juli 1953, zit. in: ebd., S. 121. 176 Ebd., S. 127. 177 Zur Problematik der Grenzstädte siehe auch Dagmara Jaje´sniak-Quast/Katarzyna Stokłosa, Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder) – Słubice, Guben – Gubin und Görlitz – Zgorzelec 1945–1995 (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 5), Berlin 2000.
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Gebiete erhöht, wodurch die Privatwirtschaft stark „gegängelt“ wurde.178 Langfristig gab es einen konstanten Anstieg der Bevölkerungszahlen.179 Helga Schultz hebt schließlich hervor, es habe in den Neuen Gebieten einen wirkungsmächtigen „Pioniermythos“ gegeben, hinter dem auch das Tabu der Aussiedlung der Deutschen verschwunden sei.180 Die oben erwähnten Beobachtungen zum polnischen Gubin bestätigen diese These und weisen auf ein methodisches Problem hin. Die Akzeptanz der neuen Umgebung war eng mit dem wirtschaftlichen Erfolg beim Wiederaufbau verbunden.181 Damit droht ein Zirkelschluss: Bei erfolgreichem wirtschaftlichem Wiederaufbau akzeptieren die Anwohner die Fremde, die Fremdheit unterbindet jedoch die Motivation, die Wirtschaft wieder zu aktivieren. Nur spezifische Untersuchungen – beispielsweise eine Diskursanalyse – könnte dieses Forschungsproblem auflösen. Einen entsprechenden Versuch stellt die Arbeit von Halicka dar. Sie hat unter anderem die autobiographischen Texte der polnischen Siedler ausgewertet, die im Archiv des West-Instituts Posen lagern. Es gab während der Volksrepublik mehrere Wettbewerbe, bei denen Siedler zur literarischen Niederschrift ihrer Erfahrungen aufgefordert und ermutigt wurden. Auf dieser Grundlage kommt Halicka zum Ergebnis, die polnische Bevölkerung in den Neuen Gebieten habe eine „neue Gesellschaft“ gebildet, die zahlreiche Strategien entwickelt habe, den Raum auf neue Weise auszufüllen.182 Eine allgemeine Bereitschaft zur Rückkehr kann sie nicht erkennen. Tabelle V.2.: Anteil der Neuen Gebiete an der Bevölkerung und an der Fertilitätsrate Polens (in %)183 Neue Gebiete 1950 1960 1964 1965 Bevölkerungsanteil: 23,4 25,7 26,4 26,5 Anteil an den Lebendgeburten:
30,9
29,2
28,5
28,5
Anteil am Bevölkerungswachstum:
35,5
33,3
34,2
34,4
Die Frage des Motivationsproblems als Faktor wirtschaftlicher Probleme lässt sich mithin nicht abschließend beantworten. Mehrere Gründe sprechen jedoch dafür, dass seine Bedeutung nicht überschätzt werden darf. Erstens muss berücksichtigt werden, dass die Leiter der Abteilung für Verwaltung und Gesellschaft 1951/52 auf die Frage, weshalb sich zahlreiche Betriebe nicht in Gang setzen lassen, mangelnde 178 179 180 181 182 183
Szczegóła, Ziemie Zachodnie w polityce PZPR (wie Anm. 35, S. 200), S. 20. Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. II. Schultz, Geschichtsbilder in der Grenzregion (wie Anm. 139, S. 215), S. 325. Vgl. für Stettin Musekamp, Zwischen Stettin und Szczecin (wie Anm. 17, S. 52), S. 126. Halicka, Polens Wilder Westen (wie Anm. 43, S. 126), S. 186. Quelle: Ziemie Zachodnie i Północne w liczbach [Die West- und Nordgebiete in Zahlen] (GUS), Warschau 1966, S. 43, 49; eigene Berechnungen.
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Motivation der Mitarbeiter nirgends als Ursache benannt wurde. Diese Frage wird später noch genauer behandelt. Negative oder unsichere Zukunftserwartungen innerhalb der Bevölkerung hätten sich auch in einer geringeren Fertilitätsrate in diesen Gebieten niederschlagen müssen. Wie sich Tabelle V.2 entnehmen lässt, lag sie jedoch deutlich oberhalb des landesweiten Durchschnitts. Lebte seit 1950 etwa ein Viertel der polnischen Bevölkerung in den Neuen Gebieten, lag ihr Anteil an den Lebendgeburten im selben Zeitraum immer bei mindestens 28 Prozent, also deutlich höher. Betrachtet man das reine Bevölkerungswachstum, liegt der Anteil sogar bei über einem Drittel. Gleichzeitig entsprach die Altersstruktur in den Nord- und Westgebieten, das sei hier der Vollständigkeit halber noch erwähnt, dem landesweiten Durchschnitt: Waren in ganz Polen 1950 56 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 59 Jahre als, waren es in den Neuen Gebieten 56,7 Prozent.184 Die hohe Geburtenrate widerspricht deutlich der Annahme eines umfassenden Motivationsproblems. Wichtig ist auch ein weiteres Argument: Mangelndes Engagement könnte einen allgemeinen Produktionsrückgang erklären. Doch kam es auch zu spezifischen, deutlichen Verschiebungen bei der Industrieproduktion185 , die zudem der Wirtschafts- und Investitionspolitik diametral entgegenliefen. Ein genereller Unwille kann dieses Phänomen allein nicht erklären. 4. „DEM WISSEN AUF DER SPUR“ In den vorangegangen Kapiteln wurde die Entwicklung der Industrie Niederschlesiens nachvollzogen, um Brüche, Kontinuitäten und Erklärungslücken zu diagnostizieren. Durch diese Analysen wurden die Voraussetzungen geschaffen, die Folgen der Trennung von Beschäftigten und Anlagekapital in Niederschlesien herauszuarbeiten und sinnvoll einzuordnen. In welchem Maß hing die Produktivität der niederschlesischen Industrie von den „passenden“ Beschäftigten ab? Mit dieser Frage sind mehrere Problemkomplexe verbunden: Was geschah mit dem Ausbildungssystem Niederschlesiens nach Kriegsende? Wurden durch die Vertreibung „Lücken“ verursacht? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Produktionsrückgang und dem Austausch der arbeitenden Bevölkerung aufzeigen? Um diese Fragen zu beantworten werden auch die Vertriebenen in den Blick genommen und an Einzelbeispielen geprüft, welche Rolle sie auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt spielten. Die polnische Forschung hat sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt, wie sich die Westverschiebung Polens auf die Beschäftigtenstruktur auswirkte. Eine der aktuellsten Betrachtungen liefert Kociszewski, der anhand verschiedener Statistiken zu den Jahren 1931 und 1950 eine Schätzung vornimmt, wie viele Polen in welchen Wirtschaftsbereichen tätig waren.186 Er unterscheidet innerhalb und außerhalb der 184 Ziemie Zachodnie i Północne w liczbach [Die West- und Nordgebiete in Zahlen] (GUS), Warschau 1966, S. 45. 185 Vgl. Abb. IV.7 und Abb. IV.8, S. 184 f. 186 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 210.
4. „Dem Wissen auf der Spur“
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Landwirtschaft Beschäftigte: 1931 waren in Polen 60,6 Prozent wirtschaftlich von der Landwirtschaft abhängig, 39,4 Prozent bezogen ihren Lebensunterhalt außerhalb der Landwirtschaft. Gleichzeitig waren 47 Prozent der polnischen Bevölkerung beruflich aktiv, die übrigen 53 Prozent waren zu jung, in Rente, in Ausbildung oder gingen aus anderen Gründen keiner Beschäftigung nach. 1950 änderte sich das Zahlenverhältnis: 52,9 Prozent aller Polen hatten ihre wirtschaftliche Basis außerhalb der Landwirtschaft. Betrachtet man die Neuen Gebieten allein waren es 59,1 Prozent. Kociszewski leitet hieraus ab, dass die Neuen Gebiete auch für die Beschäftigtenstruktur positiv waren. Die Angaben darüber, in welchem Wirtschaftszweig die polnischen Beschäftigten tätig waren, lassen jedoch die Frage offen, ob, welche und was für eine Ausbildung sie durchlaufen haben. Statistische Angaben über das Qualifikationsniveau der Bevölkerung waren nur in sehr begrenztem Maße vorhanden.187 Sie beschäftigen sich in erster Linie mit der Frage, wie hoch der Alphabetisierungsgrad in der polnischen Bevölkerung war. Für das Jahr 1960 kommen sie auf eine Rate von 3,9 Prozent bzw. 664.000 Analphabeten, die sich bis 1970 auf 1,7 Prozent (415.000) verringerte.188 Darüber hinaus stehen quantitative Angaben zur Zahl der Studenten zur Verfügung, wobei sich hier vergleichbare Probleme stellen: Informationen darüber, welche Fachrichtungen von den Studierenden belegt wurden, stehen nicht zur Verfügung.189 4.1. „Tabula Rasa et Fabrica Vacua“ – das Ausbildungssystem in Niederschlesien nach 1945 Wenn die Vertreibung der deutschen Beschäftigten konsequent durchgeführt wurde und bei der Besiedlung das Kriterium der Ausbildung der Siedler praktisch keine Wirkung entfaltete, ist es konsequent zu prüfen, ob bzw. was für ein Ausbildungssystem geschaffen wurde, das hier zumindest potenziell kompensatorische Wirkung entfalten könnte. Es ist aufgrund der Sachlage nicht möglich, eine neoinstitutionalistische Untersuchung des Ausbildungssystems in Niederschlesien vorzunehmen. Bei Untersuchungen von Institutionen, also allgemein anerkannten, nicht zwingend kodifizierten Spielregeln und Handlungsweisen, werden üblicherweise Vorher-Nachher-Vergleiche innerhalb einer sich wandelnden Bevölkerung durchgeführt. Durch den Bevölkerungsaustausch, zu dem es im Rahmen der Vertreibung der Deutschen und der Neubesiedlung der Neuen Gebiete kam, ist dieser Weg für Nie187 Erst im Jahr 1960 erstellte das Allgemeine Statistikamt GUS eine Erhebung, jedoch deckt sie nur das allgemeine Qualifikationsniveau ab. Die Fachrichtung der Ausbildung wurde nicht konkretisiert; ebd., S. 204. 188 Ebd., S. 206. 189 Vgl. Krzysztof Popi´nski, Rola edukacji na poziomie wyz˙ szym w modernizacji społecznoekonomicznej Polski w latach 1945–1989 [Die Rolle der universitären Ausbildung in der ökonomisch-gesellschaftlichen Modernisierung Polens 1945–1989], in: J˛edrzej Chumi´nski (Hrsg.), Modernizacja czy pozorna modernizacja. Społeczno-ekonomiczny bilans PRL 1944– 1989 [Modernisierung oder scheinbare Modernisierung. Ökonomisch-gesellschaftliche Bilanz der Volksrepublik Polen 1944–1989], Breslau 2010, 232–294, hier S. 244 f.
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derschlesien versperrt. Die Bevölkerung ist Trägergruppe der formellen und informellen Institutionen gewesen, durch ihren Austausch wurden daher auch die Spielregeln „ausgetauscht“. Trotzdem sollte die Grundfrage nicht verworfen werden: Gab es im „polnischen“ Niederschlesien Ansätze zur Etablierung eines Ausbildungssystems, das sich am deutschen System orientierte? Oder spielten solche Überlegungen keine Rolle? Es wurde bereits gezeigt, dass Wissen für die Industrie Niederschlesiens eine wichtige Ressource darstellte, die sich auch im dortigen Ausbildungssystem verankert hatte. In Niederschlesien – wie im gesamten Deutschen Reich – war das Duale Ausbildungssystem dominierend, was sich insbesondere in der Zahl der Berufsschulen in Niederschlesien niederschlug. Während dort die theoretischen Inhalte gelehrt wurden, gewährleisteten die Handwerks- und Industriebetriebe die praktische Lehre. Diese Konstruktion gewährleistet bis heute, dass Fachkräfte noch während ihrer Schulung im Betrieb tätig sind und unmittelbar nach Ende der Ausbildung als vollwertige Arbeitskräfte tätig sein können. Hinter dem Dualen Ausbildungssystem steht jedoch auch eine bestimmte informelle Institution, eine bestimmte Denkweise. Sie beinhaltet unter anderem die Überzeugung, dass eine spezielle, fundierte Ausbildung nicht nur für akademisch ausgebildete Spitzenkräfte – Ingenieure, Naturwissenschaftler etc. – notwendig ist, sondern auch für Beschäftigte auf betrieblicher Ebene. Die Kopplung von Theorie und Praxis in einem speziellen Industriezweig gewährleistet einen festen Umfang an Fähigkeiten. Ein Bestand von universitär ausgebildeten Spitzenkräften allein reicht nicht aus. Wenn also nach der Kompatibilität von Arbeitskräften und Anlagekapital in Niederschlesien gefragt wird, stellt sich auch die Frage, wie auf polnischer Seite das Ausbildungssystem fortgesetzt wurde. Gab es Bestrebungen, ein Ausbildungssystem zu schaffen, das ein Reservoir von Fachkräften zur Verfügung stellt? Beim niederschlesischen Bildungssystem ist es berechtigt, von einer Stunde Null zu sprechen. Auf der personellen Ebene ist dieser Befund evident. Durch die Vertreibung der Deutschen standen sie auch nicht mehr als Lehrer in den Berufsschulen zur Verfügung. Der tiefe Bruch betraf jedoch nicht nur die personelle, sondern auch die organisatorische Ebene. Das Bildungssystem war in Polen zentral organisiert. Formale Aufsicht hatte das Zentralkomitee, das sie durch die „Abteilung für Wissenschaft und Bildung“ ausübte, eine Unterabteilung der „Kommission für Wissenschaft“. Entsprechende Instanzen gab es auch auf Ebene der Wojewodschaften.190 Diese war in den Neuen Gebieten dem Regierungsbevollmächtigten zugeordnet. Die entsprechende Kammer war ab Mai 1945 in Trebnitz, anschließend in Liegnitz angesiedelt.191 Das polnische Bildungssystem hatte nach Kriegsende zahlreiche Probleme zu bewältigen. Auf ein Problem wurde bereits hingewiesen: Bei der Besiedlung auch Niederschlesiens durch die angeworbenen Siedler war es nicht gelungen, sie so zu gestalten, dass die Nachfrage nach entsprechenden Fachkräften am jeweiligen Ort 190 Popi´nski, Rola edukacji (wie Anm. 189, S. 223), S. 2. ´ asku 191 Andrzej Włodarczyk, O´swiata na Dolnym Sl ˛ w latach 1945–1948 [Bildung in Niederschlesien 1945–1948], Warschau et al. 1989, S. 63.
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berücksichtigt werden konnte, unter anderem wegen fehlender Informationen über die Qualifikation der Siedler.192 Die Folge war, dass das Finden einer ausreichenden Zahl von qualifizierten Lehrern über sämtliche Schulformen hinweg ein latentes Problem blieb. Bei der Frage der Organisation des polnischen Ausbildungssystems sind die getroffenen Maßnahmen, ungeachtet ihrer Unwägbarkeiten, trotzdem aufschlussreich. Aus der Propaganda des „Arbeiter- und Bauernparadieses“193 darf nicht geschlossen werden, dass eine berufliche Ausbildung als eine für Arbeiter unnötige Ressource betrachtet wurde. Das Manifest des Lubliner Komitees vom 22. Juli 1944 sah bereits vor, ein Schul- und Ausbildungssystem neu zu errichten, um die während der deutschen Besetzung „dezimierte“ Intelligenz zu ersetzen.194 Bei einer Versammlung der Direktoren der Mittelschulen in Breslau 1945 wurde deutlich gemacht, dass der Berufsausbildung ein hoher Stellenwert eingeräumt werden sollte. Dort hieß es: „Nach diesem Krieg benötigt Polen eine hohe Zahl von Menschen, die für den Beruf vorbereitet sind, und das möglichst schnell. Die polnische Industrie, das Wirtschaftsleben – sie brauchen einen ,Generalstab’ – Ingenieure, aber auch eine geringe Zahl von ,Generälen’ des Wirtschaftslebens führen die Arbeit der Landesarmee nicht ohne eine große Zahl von ,Offizieren’ verschiedenen Grades und ,Unteroffizieren’ der Industrie, etwa Techniker, Meister, Handwerker. Die Angelegenheit der Berufsschulen in Polen entwickelt sich in Niederschlesien zu einer wichtigen Frage, möglicherweise der Wichtigsten nach der Grundschule.[. . . ] Es ist notwendig, rasch Arbeiterkader zu schulen, wie sie notwendig sind bei der so vielfältigen Industrie dieses Teils von Polen. Es ist wichtig, mit dem übertriebenen Vorurteil der Unterlegenheit der Berufsschule aufzuhören. Letztere versperrt den Begabten nicht den Weg zum Hochschulstudium. Vielmehr ist sie der allgemeinbildenden Schule überlegen, was für die Gesellschaft und dem Einzelnen einen Nutzen hat.“195 192 Diese Problematik wird in den späteren Kapiteln zur Vertreibung genauer besprochen. 193 Jürgen Heyde, Geschichte Polens (C. H. Beck Wissen), Sonderauflage, München 2006, S. 115. 194 „Eine der dringendsten Aufgaben des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung in den befreiten Gebieten wird der Wiederaufbau des Schulwesens und die Sicherung einer kostenlosen Ausbildung auf allen Ebenen sein. Der Zwang zu allgemeinem Unterricht wird streng befolgt. Die durch die Deutschen dezimierte polnische Intelligenz, und vor allem die Wissenschaftler und Künstler, werden mit besonderer Fürsorge umgeben. Der Wiederaufbau der Schulen wird sofort unternommen.“ Im Original: „Jednym z najpilniejszych zada´n Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego b˛edzie na terenach oswobodzonych odbudowa szkolnictwa i zapewnienie bezpłatnego nauczania na wszystkich szczeblach. Przymus powszechnego nauczania b˛edzie s´ci´sle przestrzegany. Polska inteligencja zdziesiatkowana ˛ przez Niemców, a zwłaszcza ludzie nauki i sztuki, zostana˛ otoczeni specjalna˛ opieka.˛ Odbudowa szkół zostanie natychmiast podj˛eta.“ – , AAN PKWN 233/12, veröffentlicht in Monika Szczygieł, Pół Wieku Dziejów Polski 1939–1989 [Ein halbes Jahrhundert Ereignisse in Polen 1939–1989], CD, Warschau 2005, 195 „Po tej wojnie potrzeba Polsce wielkiej ilo´sci ludzi przygotowanych do zawodu, przygotowanych moz˙ liwie pr˛edko. Przemysł polski, z˙ ycie gospodarcze – potrzebuja˛ ,generałów sztabców’ – inz˙ ynierów, ale niewielka liczba ’generałów’ z˙ ycia gospodarczego nie poprowadzi armii ludzi pracy bez wielkiej liczby ,oficerów’ roznych stopni i ’podoficerów’ przemysłu, jakimi sa˛ tech´ asku nicy, majstrowie, rzemie´slnicy. Sprawa szkół zawodowych w Polsce wyrasta na Dolnym Sl ˛
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Das Zitat zeigt, dass die Bedeutung von Fachkräften und somit einer berufsspezifischen Ausbildung erkannt wurde. Diese Anerkennung des hohen Potenzials, das mit einer breiten Bildung verbunden ist, umfasste verschiedene Aspekte. Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Betonung der Schulbildung für die Zukunft des Landes betraf die klare Zielsetzung, durch das Schulwesen das Nationalbewusstsein zu stärken.196 Die oben zitierte Parole des Lubliner Manifestes schloss ebenfalls die berufliche Ausbildung mit ein. Das wurde etwa auf der polnischen Bildungsversammlung in Lodsch („Łodzi Ogólnopolski Zjazd O´swiatowy“), die vom 18. bis zum 22. Juni 1945 stattfand, deutlich, wo explizit formuliert wurde, dass die Berufsschulen aller Ebenen die Jugend in theoretischer und praktischer Hinsicht zur Berufsausbildung befähigen müsse.197 Diese Beschlüsse wurden per Dekret des Präsidiums des KRN am 23. November 1945 in Gesetzesform gegossen. Mit der Konferenz von Lodsch kam somit ein Prozess zu einem vorläufigen Abschluss, der im Bildungsministerium seinen Anfang nahm. Neben der Befähigung zum Beruf war die Bekämpfung des Analphabetismus ein häufig formuliertes Ziel, ebenso wie eine konsequente Erhöhung der Schülerzahlen. Grundlage des Schulsystems, auf dem auch die Beschlüsse der Lodscher Konferenz basierten, war das Schulgesetz vom 11. März 1932.198 Bereits zum Schuljahr 1945/46 wurde wieder das aus der Zwischenkriegszeit bekannte dreistufige Schulsystem eingeführt. Die erste Schulform – die Grundschule („Szkoła Powszechna“ bzw. „Szkoła Podstawowa“) – umfasste acht Jahre. Diese sollte einheitlich, allgemeinbildend, allgemein und verpflichtend sein.199 Die nun folgenden Schulen hatten die Aufgabe, die Schüler auf Berufe vorzubereiten. Die höchste Ebene stellten die Hochschulen dar. Für diese Untersuchung ist die mittlere Ebene von besonderem Interesse, da in erster Linie hier die Berufsausbildung erfolgte. Die mittlere Schulstufe war in die Gymnasien, die Licea, die berufsvorbereitenden Schulen („Szkoły przysposobienia zawodowo“) sowie die beruflich weiterbildenden Schulen („Szkoły dokształcace ˛ zawodowo“) unterteilt.200 Gymnasium und Liceum wurden den allgemeinbildenden Schulen („Szkoły Ogólnokształcace“) ˛ zugeordnet. Auch sie stammten aus der Zwi-
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do zagadnienia bardzo waz˙ nego, moz˙ e najwaz˙ niejszego po szkole powszechnej. [...] Trzeba z po´spiechem szkoli´c kadry pracowników, potrzebnych tak bogatemu róz˙ norodnemu przemysłowi w tej cz˛es´ci Polski. Trzeba sko´nczy´c z przesadem ˛ niz˙ szo´sci szkoły zawodowej. Ta ostatnia nie zamyka zdolniejszym drogi do wyz˙ szych studiów. Natomiast ma t˛e przewag˛e nad szkoła˛ ogolnokstzałcaca, ˛ z˙ e społecze´nstwu i jednostce daje pr˛edzej korzy´sci.“; Przemówienie Kura´ tora OS na Zje´zdzie Dyrektorów Szkół Srednich [Ansprache des Leiters OS auf einem Treffen der Direktoren der Mittelschulen], Dz.Urz. KOSWr, 1945, Nr, 1, S. 37–38; zit. in: Włodarczyk, O´swiata (wie Anm. 191, S. 224), S. 85. Ebd., S. 23. Aus diesem Grunde kamen auch keine deutschen Berufsschullehrer infrage. Ebd., S. 26. DzU 1932, Nr. 38, Pos. 389. „Jednolita, ogólnokształcaca, ˛ powszechna, obowiazkowa“, ˛ vgl. Bolesław Potyrała/Władysław Szlufik (Hrsg.), Szkolnictwo Ogólnokształcace ˛ na Ziemiach Zachodnich i Północnych w Latach 1945–1970 [Das allgemeinbildende Schulwesen in den Nord- und Westgebieten 1945–1970], Breslau et al. 1972, S. 27. Włodarczyk, O´swiata (wie Anm. 191, S. 224), S. 87.
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schenkriegszeit und wurden nach Kriegsende in Niederschlesien eingeführt. Dasselbe gilt für die Berufsschulen („Szkoły Zawodowe“). Eine besondere Rolle spielten die sog. Industrieschulen („Szkoły Przemysłowe“ bzw. „Szkoły przysposobienia przemysłowego“), die ab dem Jahr 1946 geschaffen wurden. Dort wurden die Schüler jedoch nicht für einen Beruf ausgebildet, sondern angelernt. Die Ausbildung dauerte zwischen zwölf und 18 Monate und umfasste allgemeine, theoretische Wissenschaft sowie praktische Kurse in den Produktionsbetrieben201 Die zunächst geschaffenen 44 Schulen unterstanden dem Industrieministerium und bildeten 5.000 Kräfte aus.202 In den folgenden Jahren kamen noch weitere Schulen hinzu: 1948 unterstanden dem Ministerium für Industrie und Handel 81 Schulen, 29 davon auf Berufsschulebene, 52 zur Vermittlung industrieller Grundkenntnisse. Jankowski schätzt die Zahl der im zweiten Jahrfünft der 40er Jahre ausgebildeten Niederschlesier auf etwas über 10.000.203 Die dem Kuratorium des Schulbezirks Breslau zugeordneten Berufsschulen kamen auf 1.000 Schüler.204 Damit ist die Grundstruktur des polnischen Berufsausbildungssystems bereits erläutert. Es gab im Untersuchungszeitraum jedoch verschiedene Änderungen. Im Mai 1946 gab es in Niederschlesien acht Gymnasien, zwei Licea sowie drei Schulen, die einjährige Ausbildungskurse anboten. Das Bildungsministerium formulierte in seinem Rundschreiben Nr. 15 vom 19. Mai 1947 zum Schuljahr 1947/48 weitere Richtlinien zum Berufsschulwesen. In der Einleitung dieses Schreibens wurde unterstrichen, dass der Dreijahresplan nur erfolgreich sein könne, wenn das Berufsschulwesen und somit die Zahl der Berufsschüler erheblich wachsen würde. Das betraf in erster Linie die beruflich weiterbildenden Schulen, die einjährige Kurse anboten.205 Die Maßnahme spiegelt die Ansicht wider, dass ein einjähriger Kurs ausreichend ist, um einen Beruf zu erlernen. Diese Überzeugung zeigte sich auch an anderer Stelle. Bei der Vertreibung der deutschen Bevölkerung wurden die deutschen Facharbeiter teilweise zurückgehalten. Durch diese Maßnahme sollte Zeit gewonnen werden, polnische Beschäftigte durch die Deutschen anlernen zu lassen.206 Beide Fälle zeigen, dass offenbar davon ausgegangen wurde, dass eine Anlernphase von bis zu einem Jahr – im Falle des Einarbeitens der Polen durch die deutschen Beschäftigten war dieser Zeitraum auf wenige Monate begrenzt – ausreichend sei, um einen Beruf zu erlernen. Zumindest für die beruflich weiterbildenden Schulen lässt sich damit an dieser Stelle eine Abgrenzung zum Dualen Ausbildungssystem erkennen. Auf deutscher Seite betrug die Berufsausbildung in der Regel drei Jahre und war damit erheblich länger. Dass auch die Anlernphase durch die Deutschen auf einen so kurzen Zeitraum begrenzt war, kann als Beleg dafür gesehen werden, dass eine Berufsausbildung auf polnischer Seite als in kurzer Zeit 201 202 203 204 205 206
Ebd., S. 86. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 246. Ebd., S. 246 f. Ebd., S. 246. Włodarczyk, O´swiata (wie Anm. 191, S. 224), S. 85. Diese Problematik wird im späteren Teil dieser Arbeit noch genauer diskutiert; Nitschke, Wysiedlenie Niemców (wie Anm. 22, S. 198), S. 106.
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realisierbar angesehen wurde. Bei der Institution „Berufsausbildung“ deutet dieser Unterschied auf einen Bruch hin. Jedoch sollte an dieser Stelle nicht aus den Augen verloren werden, dass bei der Vertreibung primäres Ziel die rasche Aussiedlung der Deutschen war und möglicherweise weitere Interessen und Überzeugungen zwar vorhanden waren, aber zurückstehen mussten. Gymnasium und Liceum waren auch regelmäßig Objekt verschiedener Änderungsvorschläge. Zum Jahr 1947/48 empfahl das Bildungsministerium gemäß Rundschreiben Nr. 6 von 1948, neue dreijährige Berufs-Gymnasien zu schaffen und das bisher vierjährige Gymnasium in ein vierjähriges Liceum umzuwandeln.207 Bilanziert man den Stand der Berufsschulausbildung in Niederschlesien im Jahr 1947, gelangt man zu folgendem Ergebnis: 16 Gymnasien bildeten 2.260 Schüler aus, elf Licea 829 Schüler, sechs berufsvorbereitende 462 Schüler und neun weiterbildende Schulen 1.132 Schüler. Hinzu kommen die zuvor erwähnten Absolventen der Industrieschulen. Die Ausbildungen erfolgten in Berufen aus dem Bereich der – vermutlich landwirtschaftlichen – Genossenschaften, der Elektrik, der Mechanik, des Handels, der Verwaltung, des Verkehrs, des Baus, der Konstruktion von Messgeräten, der Schneiderei, der Hauswirtschaft, des Handels sowie der Bekleidungsindustrie.208 Das Rundschreiben Nr. 13 des Bildungsministeriums vom 5. Juni 1948 zur Berufsschulbildung verdeutlichte nochmal, dass Entwicklung und Qualifizierung der Berufsausbildung forciert werden sollten. Mitte 1948 kam es bei den Mittelschulen zu einer weiteren Änderung. Anlass war die Tatsache, dass die Zahl der ausgebildeten Fachkräfte mit der Nachfrage nicht Schritt halten konnte und Reformen eingeleitet wurden, um zu einer Steigerung zu gelangen. Diese sollte unter anderem durch eine Beschleunigung und Kürzung der schulischen Ausbildungsphase gelingen.209 Zum 4. Mai 1948 wurden daher verschiedene Regelungen in Kraft gesetzt, um Abhilfe zu schaffen. Durch Kopplung der siebenjährigen Grund- mit der allgemeinbildenden Mittelschule sollte eine einheitliche Schule geschaffen werden. Zusätzlich sollte die Zahl der Schulen erhöht sowie die Schulpflicht konsequenter durchgesetzt werden. Das Gymnasium wurde im Zuge dessen abgeschafft.210 Damit verbunden waren Änderungen beim Lehrstoff, weil sich das bisherige Programm – mehr mathematischnaturwissenschaftlicher Lehrstoff bei Beibehaltung humanistischer Inhalte – als zu ambitioniert herausgestellt hatte. Das Ziel des Ausbaus eines Berufsausbildungssystems blieb auch Ziel der PZPR, wie in einer Deklaration vom Dezember 1948 unterstrichen wurde211 : „Die Grundbedingungen zur Schaffung einer sozialistischen Kultur in Polen sind: eine 207 208 209 210 211
Włodarczyk, O´swiata (wie Anm. 191, S. 224), S. 86. Dieser Plan wurde jedoch nicht realisiert. Ebd., S. 87. Potyrała/Szlufik (Hrsg.), Szkolnictwo na Ziemiach Zachodnich (wie Anm. 199, S. 226), S. 31. Ebd., S. 32. Im Original: „Podstawowymi warunkami stworzenia kultury socjalistycznej w Polsce sa: ˛ całkowita likwidacja analfabetyzmu w kraju, dalsza rozbudowa szkolnictwa wszystkich szczebli, zwłaszcza szkolnictwa zawodowego, wychowanie kadr nauczycielskich, wydatna poprawa połoz˙ enia nauczycieli, podniesienie poziomu ideologicznego naszego szkolnictwa i przepojenie tego szkolnictwa ideami marksizmu-leninizmu, zwiazanie ˛ działaczy nauki i sztuki z masami
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vollständige Liquidation des Analphabetismus im Land, ein weiterer Ausbau des Schulwesens aller Ebenen sowie des Berufsschulwesens, die Ausbildung einer Lehrerschaft, eine erhebliche Verbesserung der Verteilung der Lehrer, eine Erhöhung des ideologischen Niveaus unseres Schulwesens und die Erfüllung dieses Schulwesens mit den Ideen des Marxismus-Leninismus’, die Verbindung der Tätigkeit der Wissenschaft und der Kunst mit der gesamten Bevölkerung und ihrem Kampf, ein breiter Um- und Ausbau der Kulturinstitutionen in der Stadt und auf dem Land, Zurverfügungstellung der vollständigen kulturellen Beute für die Bevölkerung und ein aktiver Anteil der Menschen beim Aufbau der neuen Kultur.“ Ein Jahr später ergriff das Bildungsministerium Maßnahmen, um die Zahl der Berufsschüler zu erhöhen. Gemäß seiner Richtlinie von 1950212 sollte in jeder Grundschule eine Gruppe geschaffen werden, deren Aufgabe es war, Schüler und Eltern über die Möglichkeiten der Berufsschulbildung zu informieren. Der forcierte Ausbau der Berufsschulen musste auf Kosten der allgemeinbildenden Licea gehen. Konsequenterweise wurde ein Jahr zuvor das Zentrale Amt für Berufsschulen („Centralny Urzad ˛ Szkolnictwa Zawodowego“) geschaffen, das ein am 23. Juni 1951 vom Ministerrat beschlossenes Konzept213 zur Neustrukturierung des Berufsschulwesens realisieren sollte. Ihm gemäß sollte es nur noch vier Arten von Berufsschulen geben: die Schulen zur Berufsvorbereitung („Szkoły Przysposobienia Zawodowego“), die allgemeinen Berufsschulen („Zasadnicze Szkoły Zawodowe“), die technischen Fachschulen („Technika Zawodowe“) sowie die Meisterschulen („Szkoły Majstrów“). Letztere spielten jedoch in der Praxis nur eine geringe Rolle. Sie standen ausgebildeten Industriebeschäftigten mit ausreichender Berufserfahrung offen und bildeten sie weiter zum Meister aus.214 Wichtiger waren die Schulen zur Berufsvorbereitung. Offen für Schüler ab 16 Jahren, sollten sie auf Tätigkeiten vorbereiten, die keinen langen Ausbildungszeitraum benötigen. Die Ausbildung in diesen Schulen dauerte ein Jahr. Aufwendiger war die Lehre in den allgemeinen Berufsschulen. Hier gab es erkennbare Ähnlichkeiten zum Dualen Ausbildungssystem. Sie sahen eine zwei- oder dreijährige Ausbildung vor. Zugangsvoraussetzung war der Abschluss der siebenjährigen Grundschule, damit die Berufsschüler in einem Industriezweig ausgebildet werden konnten. Der Unterricht sah allgemeinen und berufsspezifischen Unterricht auf der Theorieebene sowie praktische Einheiten in Industriebetrieben vor. Die Ausbildung endete mit einer Prüfung. Zwei zentrale Eigenschaften unterscheiden diese Ausbildung von der deutschen Dualen Berufsausbildung. Der praktische Teil der Ausbildung in den polnischen allgemeinen Berufsschulen war kleiner als bei seinem ludowymi i ich walka,˛ szeroka przebudowa i rozbudowa instytucji kulturalnych w mie´scie i na wsi, udost˛epnienie masom ludowym wszystkich zdobyczy kultury i aktywny udział mas ludowych w budowaniu nowej kultury“; Deklaracja ideowa PZPR [Deklaration zu den Ideen der PVAP], Warschau 1948, S. 21–27; zit. in ebd., S. 33 f. 212 DzU Min. O´swiaty [Gesetzesjournal des Bildungsministeriums] 1950, Nr. 6, Pos. 90; zit. in ebd., S. 34. 213 Monitor Polski, 1951, Nr. 59, Pos. 776. 214 Diese Meister hatten nicht die Bedeutung ihrer deutschen Pendants. Sie besaßen nicht das Ausbildungsrecht, auch war kein Recht zur Eröffnung eines selbständigen Gewerbes vorgesehen.
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deutschen Gegenüber. Zusätzlich war die Ausbildung fest an die Berufsschulen gebunden, während in Deutschland der Ausbildungsbetrieb im Zentrum stand. Ferner – und dieser Punkt ist wichtig – war in Polen das Handwerk nicht von dieser Form der Berufsausbildung erfasst. Lässt man die Universitäten außen vor, war die berufliche Qualifikation, die man an den Technika erwerben konnte, die Höchste. Hier wurden sog. Techniker, technische Aufsichtskräfte sowie Arbeitskräfte für die Industrieverwaltung ausgebildet. Diese Ausbildung konnte bis zu fünf Jahre umfassen. Zugang erhielt man häufig erst nach einem schriftlichen Bewerbungstest, dem sog. Konkurs.215 Wie ähnlich waren sich das polnische und das deutsche Berufsausbildungssystem? Eine der zentralen Eigenschaften des Dualen Ausbildungssystems ist der hohe Stellenwert der praktischen Ausbildung in einem bestimmten Industrie- oder Handwerksbetrieb.216 Inwieweit sah das polnische Ausbildungssystem solche Elemente vor? Bei den berufsvorbereitenden Schulen lässt sich die Frage leicht beantworten: Wegen der kurzen Ausbildungszeit sowie ihrer Zielsetzung, auf keine spezifische Tätigkeit vorzubereiten, wurde eine praktische Ausbildung nicht angestrebt. Anders verhält es sich bei den allgemeinen Berufsschulen sowie den Technika. Hier spielte die praktische Ausbildung eine wichtige Rolle.217 Sie wurde mithin durchaus angeboten. Wenige Jahre später befürchtete man sogar ein Ungleichgewicht: Per Anweisung ordnete das Bildungsministerium 1953 an, dass wiederum die allgemeinbildenden Schulen forciert werden müssten, damit man 1960 allen Absolventen der siebenjährigen Grundschule eine Ausbildung in den allgemein- oder berufsbildenden Schulen ermöglichen könne.218 Abschließend ist zu klären, wie hoch die Absolventenzahlen im Berufsausbildungssystem waren. 1950 lebten in Niederschlesien 1,7 Millionen Menschen, 1960 215 Władysław Ozga, Rozwój szkolnictwa podstawowego oraz s´redniego ogólnokształcacego ˛ i zawodowego [Entwicklung des Grundschulwesens und des mittleren allgemeinbildenden und Berufsschulwesens], in: Bogdan Suchodolski (Hrsg.), Osiagni˛ ˛ ecia i Problemy Rozwoju O´swiaty i Wychowania w XX-leciu Polski Ludowej [Leistungen und Probleme der Entwicklung des Bildungs- und Erziehungswesens in den 20 Jahren Volkspolens], Warschau 1966, 135–227, hier S. 152–155. 216 Auf den ersten Blick offen ist, ob – wie in Deutschland – die in den Berufsschulen vermittelten Inhalte in Absprache mit Gewerkschaften und Arbeitgebern regelmäßig erneuert wurden. Angesichts der Tatsache, dass es in Polen jedoch keine „unabhängigen“ Akteure mehr gab, erübrigt sich diese Frage. 217 Der Vollständigkeit wegen wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die allgemeinbildenden Schulen keine praktische Ausbildung vorsahen. In den Gymnasien wurde allgemeine Lehre betrieben, ohne dass eine Spezialisierung möglich war. Auf der Ebene der Licea änderte sich das zwar etwas. Drei verschiedene Arten von Liceum lehrten – wie während der Zwischenkriegszeit – entweder Mathematik-Physik, Geisteswissenschaften oder Naturwissenschaften, das „klassische“ Liceum der Zwischenkriegszeit wurde aufgelöst. Die Theorie blieb jedoch auch hier deutlich im Vordergrund; vgl. Bolesław Potyrała/Władysław Szlufik, Szkolnictwo ogólnokształcace ˛ w latach 1948–1961 [Die allgemeinbildenden Schulen 1948–1961], in: dies. (Hrsg.), Szkolnictwo Ogólnokształcace ˛ na Ziemiach Zachodnich i Północnych w Latach 1945– 1970 [Das allgemeinbildende Schulwesen in den Nord- und Westgebieten 1945–1970], Breslau et al. 1972, 31–42, hier S. 30. 218 Dies. (Hrsg.), Szkolnictwo na Ziemiach Zachodnich (wie Anm. 199, S. 226), S. 35 f.
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waren es 2,23 Millionen.219 Im Jahr 1949/50 schlossen in der Wojewodschaft Breslau 1.584 eine Berufsausbildung ab. Bis zum Jahrgang 1959/60 konnte diese Zahl auf 3.159 gesteigert werden.220 Angesichts der Größe der Bevölkerung wird verständlich, weshalb auf polnischer Seite regelmäßig Maßnahmen ergriffen wurden – die Eingriffe in das Berufsausbildungssystem setzten sich nach 1956 weiter fort –, um die Absolventenzahlen zu erhöhen. Die geringe Zahl an Fachkräften blieb ein latentes Problem. 4.2. Interessenasymmetrie zwischen Ministerien und Firmenchefs Die bisherigen Ausführungen zur Vertreibung belegen, dass die Frage der Qualifikation aus verschiedenen Gründen weder bei der Aussiedlung der Deutschen noch bei der Besiedlung durch die polnische Bevölkerung für die Entscheidungsfindung von hoher Relevanz war. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Problematik der Arbeitsund Fachkräfte bei der Wiederaufnahme der Industrieproduktion keine Rolle spielte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Frage der Praxis bei der Aussiedlung der Deutschen führte zu zahlreichen Konflikten. Diese können bei die Beantwortung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Frage helfen, in welchem Maße die Produktionsmittel ohne die deutschen Arbeitskräfte nutzbar waren. Zu Beginn dieses Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass gerade in Niederschlesien zahlreiche Industriebetriebe deutsche Facharbeiter anforderten. Damit bewahrheitet sich ex negativo die bereits angesprochene These, dass Wissen für die dortige Wirtschaft – und nicht nur in die Industrie – eine wichtige Rolle spielte. Der von dieser Nachfrage beeinflusste erkennbare Wandel der Vertreibungspolitik von 1944 bis 1950 ist somit sehr aufschlussreich. Seine Untersuchung kann helfen, die Bedeutung der deutschen Beschäftigten für die Industrie Niederschlesiens besser zu verstehen. Es zeigt sich jedoch an dieser Stelle auch, dass die makroökonomische Ebene klar von der betrieblichen unterschieden werden muss. Verschiedene Stellen hatten kein Interesse an der Vertreibung der deutschen Beschäftigten und versuchten häufig, sie zu verhindern. Die Gesamtproduktion jedoch haben die wenigen nach 1947 verbliebenen Deutschen nur noch marginal beeinflusst. Doch auch wenn diese Interventionen schließlich keine Auswirkung auf die Produktion hatten, können sie trotzdem verstehen helfen, welche Rolle die deutschen Beschäftigten nach 1950 auf betrieblicher Ebene spielten. Wie lässt sich erklären, dass sich ihre Zahl von 1947 bis 1955 nur noch geringfügig verkleinerte? Waren sie nur personae non gratae, die für eine Einarbeitung der polnischen Beschäftigten länger an den Betrieb gebunden werden sollten? In diesem Fall wäre der nur geringe Rückgang der Zahl der Deutschen nach 1947 eine Folge dessen, dass die Einarbeitung der Polen länger dauerte als erwartet. Oder scheiterte die Einarbeitung der polnischen Beschäftigten durch die Deutschen, und bemühte man sich daher darum, sie langfristig zu sistieren? Hat sich Polen durch die rasche Vertreibung der Deutschen um eine effektive Schulung 219 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. II. 220 Ziemie Zachodnie i Północne w liczbach [Die West- und Nordgebiete in Zahlen] (GUS), Warschau 1966, S. 102.
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der eigenen Beschäftigten gebracht, oder beruhte das Ziel eines „Wissenstransfers“ auf die neuen Beschäftigten a priori auf falschen Annahmen? Für die Frage des Abhängigkeitsverhältnisses von materiellem und immateriellem Kapital ist diese Frage ebenso entscheidend wie für die damit verbundene Problematik der Möglichkeit der Weitergabe von Wissen. Sollte sich Wissen „problemlos“ übertragen lassen, würde das auch bedeuten, dass die „Heilungsfähigkeit von Wissensnetzwerken“ – die „Rekonstruktion“ der von Komplementarität geprägten effektiv zusammenarbeitenden Belegschaften und der Wiederherstellung der Kooperationsbeziehungen zwischen den Betrieben – auch durch wenige Beschäftigte gewährleistet werden kann. Während der intensiven Vertreibung 1944/45 sollten die Gebiete rasch de-germanisiert werden.221 Noch vor Kriegsende bis Ende der 40er Jahre wurde die deutsche Bevölkerung überwiegend gegen ihren Willen vertrieben. Im Jahr 1950 lässt sich beobachten, dass die deutsche Bevölkerung zwar schließlich aussiedeln wollte, diese Bestrebungen jedoch gerade dann von den Behörden nicht mehr gestattet oder durch administrative Tricks – etwa der Anerkennung der Deutschen als Autochthone und somit als Polen – unterbunden wurden.222 Die Frage, wie es zu dieser „Zäsur im Jahre 1950“223 kam, ist von der Forschung bisher nicht plausibel beantwortet worden. Zwar wird dieser Politikwechsel immer wieder darauf zurückgeführt, dass die Regierungen der Republik Polen und der DDR ein Abkommen unterzeichneten.224 Auch die Operation Link und die Familienzusammenführung – beides Maßnahmen zur Rückführung der letzten verbliebenen Deutschen aus den Neuen Gebieten in die deutschen Staaten – werden hier angeführt.225 Doch kann ein völkerrechtliches Abkommen den Wandel befriedigend erklären? Der Umgang der polnischen Verwaltung mit der deutschen Bevölkerung lässt sich in mehrere Phasen unterteilen. Im Jahr 1945 stellte der Regierungsbevollmächtigte für Niederschlesien Piaskowski öffentlich klar, dass die Deutschen das Land verlassen müssten, vorher jedoch beim Wiederaufbau des zerstörten Landes sowie bei der bevorstehenden Ernte eingesetzt werden sollten.226 Fragen wie der Umgang mit den Fachwissensträgern spielten also noch keine Rolle. Dies ist für das gesamte Jahr 1945 zu konstatieren, wo akutere Probleme wie eben die Nahrungsproduktion im Vordergrund standen. Zudem wurden die Ausreisebestrebungen der deutschen Bevölkerung nach dem Potsdamer Kommuniqué von der polnischen Verwaltung wohlwollend betrachtet. Freilich galt schon damals: „Gleichzeitig war man sich auf polnischer Seite jedoch bewusst, dass gerade im stark industrialisierten Niederschlesien auch mittelfristig die Anwesenheit einer nicht unbedeutenden Zahl deutscher Arbeitskräfte unvermeidbar sein würde.“227 Hieraus erklärt sich auch der Ar221 222 223 224
Der in den polnischen Quellen verwandte Begriff lautet „odniemczy´c“. Cholewa, Migracja Niemców (wie Anm. 9, S. 194), S. 97, 99. Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 111. AAN PUR II/1450, Protokoll der im Januar 1950 stattgefundenen Gespräche, o. D., zit. in: ebd., S. 105 f. 225 Ebd., S. 111. 226 Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 376. 227 Ebd., S. 379 f.
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beitszwang für Deutsche, der für Oberschlesien im Februar 1945 erlassen wurde.228 Alle Männer deutscher Staatsangehörigkeit – egal ob deutscher oder polnischer Abstammung –, Volksdeutsche aus dem Generalgouvernement sowie Angehörige der Gruppen I und II der deutschen Volksliste im Alter von 16 bis 55 Jahren mussten sich beim Arbeitsamt melden.229 In Niederschlesien gab es die Pflicht nicht in dieser Form, jedoch verordnete Piaskowski im Juni 1945, dass sie den Landgütern zuzuweisen waren.230 All diese Maßnahmen sollten jedoch Übergangslösungen sein. Auf der Ebene der Zentralbehörden gab es von Anfang an das klar formulierte Ziel, die deutsche Bevölkerung rasch auszusiedeln. Das Zitat des Vizeministers für Öffentliche Verwaltung Władysław Wolski während der I. Sitzung des Wissenschaftlichen Rates, der vom 30. Juli bis zum 1. August 1945 tagte, lässt hieran keinen Zweifel231 : „Es wird bei uns keine ethnischen Minderheiten geben. Wir sind zur Konzeption eines Nationalstaates übergegangen, ausgehend von der Annahme, dass ethnische Minderheiten im Endeffekt nur eine fünfte Kolonne im Lande abgeben würden. Deshalb schaffen wir die Deutschen hinter unsere Grenzen. Wir haben in der letzten Zeit bereits etwa 1,5 Millionen Deutsche ausgesiedelt und siedeln weiter aus. Es stimmt, dass dies in einigen Fällen mit Verlusten für die nationale Ökonomie geschah. Aber wichtig ist, dass wir sie heute entfernen können, und niemand weiß, ob wir das morgen werden tun können.“
Diese Zielsetzung wurde jedoch in erster Linie von den Zentralbehörden verfolgt, auf regionaler und lokaler Ebene lagen die Prioritäten woanders. Es gab eine klar erkennbare Interessenasymmetrie zwischen den Befehlshabern vor Ort und den zentralen Ministerien. Fünf Jahre später löste sich dieser Widerspruch dahingehend auf, dass auf zentraler Ebene den Bedenken ein höherer Stellenwert eingeräumt und entsprechende Konsequenzen gezogen wurden. Jankowiak hebt hervor, dass „das Auseinanderklaffen zwischen den Interessen der Gebiets- und der Zentralverwaltung“ Teil der Aussiedlungsproblematik war.232 So haben die Starosten – die Landräte – 228 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 240. 229 Vgl. Zdzisław Łempi´nski, Przesiedlenie ludno´sci niemieckiej z województwa s´lasko˛ dabrowskiego ˛ w latach 1945–1950 [Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Wojewodschaft Schlesien in den Jahren 1945–1950], Kattowitz 1979, S. 77. 230 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 240 f. 231 Władysław Wolski, Przemówienie Administracji Publicznej Władysława Wolskiego [Ansprache Władysław Wolskis vor der Öffentlichen Verwaltung], in: Biuro Studiów OsadniczoPrzesiedle´nczych, I Sesja Rady Naukowej dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych [Büro für Siedlungs- und Umsiedlungstudien, 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Rates für die Wiedergewonnenen Gebiete] 30 VII-1 VII 1945 r., Zeszyt I, Sprawozdanie ogólne [Heft 1, Allgemeine Berichte], Krakau 1946, S. 40–48, hier S. 44. Im Original: „Nie b˛edzie u nas mniejszo´sci narodowej. Przeszli´smy do koncepcji pa´nstwa narodowego wychodzac ˛ z załoz˙ enia, z˙ e mniejszo´sci narodowe dałyby w rezultacie tylko piat ˛ a˛ kolumn˛e w kraju. Dlatego usuniemy Niemców poza nasze granice. W ostatnim czasie juz˙ wysiedli´smy około 1,5 miliona Niemców i wysiedlamy dalej. Prawda, z˙ e w pewnych wypadkach działo si˛e to ze stratami dla gospodarki narodowej. Ale waz˙ ne jest to, z˙ e dzi´s ich usuna´ ˛c moz˙ emy, ale niewiadomo, czy b˛edziemy mogli uczyni´c to jutro.“ Deutsche Übersetzung gemäß Esch, Gesunde Verhältnisse (wie Anm. 233, S. 156), S. 369. 232 Jankowiak, Die Deutschen IV (wie Anm. 3, S. 193), S. 409.
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immer wieder intensiv versucht, die Aussiedlung der Deutschen zu verzögern, um den Zugriff auf die wichtigen Arbeitskräfte zu erhalten. Diese Interessenasymmetrie wurde erst um 1950 durch den angesprochenen Politikwechsel entschärft. Die Quellen deuten daraufhin, dass er Folge eines „Lernprozesses“ der Zentralbehörden war. Aus noch zu zeigenden Gründen schätzten sie die Bedeutung der Facharbeiter zu diesem Zeitpunkt höher ein als zu Beginn der Aussiedlungen. Jedoch darf hieraus nicht geschlossen werden, dass 1945 das Problem des „Wissens“ der ansässigen Bevölkerung über die Neuen Gebiete nicht zur Kenntnis genommen wurde. Namentlich nicht bekannte Mitarbeiter des sog. Westbüros, dem Vorgänger des 1944 geschaffenen Büros für die Westgebiete, wiesen im Rahmen einer Studie bezüglich des Umgangs mit der deutschen Bevölkerung in den Neuen Gebieten darauf hin, dass für „Fachleute, die zur Inbetriebnahme der Wirtschaft unabdingbar waren“, Ausnahmen von der allgemeinen Ausweisungspolitik gelten müssten.233 Konsequenterweise wurden deutsche Facharbeiter auch von Beginn an dort von der Vertreibung ausgenommen, wo sie für unabdingbar gehalten wurden. Dies betraf jedoch nicht nur die Wirtschaft, sondern das öffentliche Leben ganz allgemein, wovon die Inbetriebnahme der Wirtschaft indirekt betroffen war. Zahlreiche arbeitsfähige Männer wurden vor allem in kommunalen Betrieben eingesetzt, so etwa in Wasser-, Gas- und Kraftwerken, in Straßenbahndepots, Krankenhäusern, verschiedenen Verwaltungsämtern und bei der Eisenbahn. Ähnliches galt für die Hafendirektionen in den Ostseestädten.234 Während der dritten Versammlung der dem Regierungsbevollmächtigten für Niederschlesien untergeordneten Kreisbevollmächtigten am 19. und 20. Januar 1945 in Liegnitz formulierte der Vertreter Piaskowskis, Vizewojewode Wengierów, die Strategie wie folgt: „Wir brauchen die Deutschen nicht. Für den Moment jedoch sind wir gezwungen, einen Teil der Deutschen zurückzuhalten, jedoch ausschließlich die Unabdingbaren – die Facharbeiter.“235 Die Notwendigkeit der Vermeidung der raschen Aussiedlung der „unabdingbaren“ Beschäftigten wurde auch vom Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete gesehen. Die Folge war die Verabschiedung der Direktive zur Einziehung von Facharbeitern vom Januar 1946. Auf dieser Grundlage verpflichtete das Ministerium für Industrie seine Außenstellen bis zum 31. Januar 1946 zur Auswahl derjenigen deutschen Facharbeiter, die für den Ablauf der Produktion unabdingbar waren.236 In dessen Folge wurde die Kategorisierung der Deutschen in drei Gruppen eingeführt. Kategorie I betraf diejenigen Facharbeiter und Ingenieure, die nicht durch polnische Kräfte ersetzt werden konnten. Zur Kategorie II zählten Facharbeiter, die für solange Zeit in Polen bleiben sollten, wie es dauerte, sie durch einen polnischen Arbeiter zu ersetzen. Ihre Reduzierung sollte mithin schrittweise erfolgen und von einem Nachrücken polnischer Arbeiter begleitet werden. Der Kategorie III gehörten schließlich jene deutschen Arbeiter an, die zwar ebenfalls für den Ablauf der Produktion notwendig, jedoch nicht immer qualifiziert waren. Mit dieser Kate233 234 235 236
Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 46. Urban, Verlust (wie Anm. 76, S. 206), S. 126. AAN MAP/2473, Bl. 24. Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 184.
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gorisierung war auch die Pflicht verbunden, rote (Kategorie I), blaue (II) oder weiße (III) Bänder zu tragen. Die Kontrollkommission, die das Industrieministerium im April 1946 einrichtete, erhielt zusätzliche Informationen hinsichtlich der formalen Kriterien, wie die Zuordnung zu den jeweiligen Kategorien zu erfolgen hatte.237 So war Spezialist und somit der Kategorie I zugeordnet, wer eine mindestens dreijährige Ausbildung absolviert hatte und gleichzeitig nicht von einer polnischen Kraft ersetzt werden konnte. Ihre Aussiedlung konnte auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Der Kategorie II sollte zugeordnet werden, wer Arbeiter in einem Wirtschaftszweig war, den es in Polen nicht gab. Hier sollte die Aussiedlung binnen sechs bis neun Monaten erfolgen. Im letzten Fall handelte es sich um ersetzbare Beschäftigte, deren Aussiedlung innerhalb von drei Monaten durchzuführen war. Die deutschen Arbeiter, das sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt, durften keine Führungspositionen inne haben, und ihnen wurde das aktive und passive Wahlrecht für den „Betriebsrat“ (Rada Zakładowa) entzogen. Auch die Arbeitszeit wurde in diesem Rahmen festgelegt. Sie betrug pro Woche 60 Stunden; 14 Stunden täglich in der Landwirtschaft, zwölf in der Industrie.238 Die Wirkung dieser auf zentraler Ebene erlassenen Bestimmungen auf die Wirtschaft vor Ort war insbesonders zu Beginn äußerst begrenzt. Zur Aufrechterhaltung der Kontinuität der Wirtschaftsführung in den Neuen Gebieten war der Einsatz der deutschen Fachkräfte alternativlos. Zwar entsprach es der mittelfristigen Strategie, deutsche Fachkräfte sukzessive durch polnische zu ersetzen, trotzdem blieben die deutschen Beschäftigten meist länger als zunächst vorgesehen. Das galt auch und insbesondere für die Industrie und den Bergbau. Zwar wurde zur Legitimation der Einsatz deutscher Arbeitskräfte als „Bestrafung“ dargestellt, das diente jedoch nur dem Kaschieren faktischer Notwendigkeiten.239 In diesem Zusammenhang wirft die Diagnose Hofmanns Fragen auf: „Gerade in Niederschlesien neigten Arbeitgeber notorisch dazu, entgegen diesen Bestimmungen eher Deutsche weiterzubeschäftigen als Polen einzustellen.“240 Während es in dieser Frage in der aktuellen Forschungsliteratur einen klaren Konsens gibt, unterscheiden sich die Begründungen deutlich. Hofmann schreibt, dass neben den offensichtlichen Vorteilen einer eingespielten Belegschaft und der Vermeidung zusätzlichen Verwaltungsaufwands „qualifizierte polnische Kräfte nicht in genügender Zahl zur Verfügung standen“.241 Nitschke setzt sich mit dieser Problematik nicht auseinander. Kraft weist – ohne einen Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Problemen in den Folgejahren herzustellen – darauf hin, wie energisch beispielsweise in manchen Betrieben die Vertreibung bekämpft wurde und führt das auf die „Bedeutung der deutschen Arbeitskräfte in Niederschlesien“ zurück.242 Jankowski betont, dass
237 238 239 240 241 242
Zur folgenden Erklärung bezüglich der Kategorien vgl. AAN MPiH/203, Bl. 2. Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 184. Vgl. Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 240. Ebd., S. 248. Ebd. Kraft, Die Deutschen IV (wie Anm. 47, S. 126), S. 396–398.
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die deutschen als günstige Arbeitskräfte besonders attraktiv gewesen seien.243 Das bestätigt Thum für Breslau und hebt hervor, dass es aus ökonomischer Sicht wenig Anreiz gab, die Deutschen durch teurere polnische Beschäftigte zu ersetzen.244 Dies galt jedoch nicht nur in Niederschlesien, sondern in den gesamten Neuen Gebieten. Die Rechtslage sah vor, dass es den Betrieben oblag, beim Industrieministerium oder beim Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete Befreiungen von der Ausweisung – sog. grüne Bescheinigungen – für einzelne Arbeiter zu beantragen. Welches der beiden Ministerien tatsächlich zuständig war, hing davon ab, ob der Betrieb oder die Institution dem Industrieministerium untergeordnet war oder nicht. War das der Fall, entschied der Vertreter des Industrieministeriums in der jeweiligen Wojewodschaft über die Anforderung, ansonsten das MZO.245 Voraussetzung war in jedem Fall, dass es sich um unabdingbare Spezialisten handelte, für die es keinen adäquaten Ersatz aus der polnischen Arbeiterschaft gab. Dies konnte durch das Arbeitsamt (Urzad ˛ Zatrudnienia), die Wirtschaftskammer, das Referat für Arbeitsvermittlung im PUR oder die zuständige Gewerkschaft bescheinigt werden.246 Die Frage jedoch, welcher Facharbeiter als unabdingbar zu betrachten war und welcher nicht, bereitete zahlreiche Probleme und verursachte Konflikte zwischen den Ministerien – hier insbesondere dem Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete – und den Betrieben und Institutionen sowie den Regionalbehörden vor Ort. Die Betriebe und noch mehr kommunale Stellen wie Krankenhäuser oder Gas- und Stromwerke machten intensiv von der Möglichkeit Gebrauch, die Aussiedlung „ihrer“ deutschen Facharbeiter und -angestellten zu unterbinden. Zumindest in Breslau stellten die deutschen Facharbeiter nur einen geringen Anteil der in der Industrie Beschäftigten. Vielmehr waren sie in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt.247 Diese Praxis führte zu Spannungen. Piaskowski rechtfertigte das Handeln der Betriebe und wies in einem Schreiben an das MZO in Warschau vom 30. November 1946 gesondert darauf hin, dass die Frage, wer Spezialist sei und wer nicht, häufig nur schwer zu beantworten sei.248 Es erwies sich aus Sicht des MZO dazu rasch als Problem, dass das Interesse vor Ort, die deutschen Fachkräfte zu halten, dazu führte, dass das Tempo bei der Vertreibung nicht hinreichend hoch war. Zwar wurde diese Problematik erst Ende 1946 zum interministeriellen Diskussionsthema. Am 3. April 1946 wurde jedoch schon im Industrieministerium die oben erwähnte Kontrollkommission geschaffen, deren Aufgabe es war, zu prüfen, ob die jeweiligen Ausnahmeanträge gerechtfertigt waren. Befand sich ein deutscher Facharbeiter ungerechtfertigterweise auf der Liste, sollte er rasch ausgesiedelt werden. Die Schaffung dieser Kommission förderte ein Problem zutage. Betrachtet man die Pläne des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete, zeigt sich, dass diese mit dem Bedarf der Betriebe nur schwer in Einklang zu bringen waren. Das 243 244 245 246 247 248
Jankowiak, Die Deutschen IV (wie Anm. 3, S. 193), S. 424. Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 16, S. 52), S. 146. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 209. Ebd. Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 181. AAN MZO/572, Bl. 59.
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Ministerium verfolgte den Plan, alle drei Monate 30.000 Deutsche Facharbeiter der Kategorie III auszusiedeln.249 Die Betriebe und Verantwortlichen vor Ort ließen jedoch nur wenig Willen erkennen, diesen Anordnungen Folge zu leisten. In den polnischen Akten finden sich – wie später noch gezeigt wird – zahlreiche Beschwerdebriefe großer Wirtschaftsverbände an die Regionalverwaltung. Ihnen allen ist gemein, dass sie sich darüber beschweren, dass die intensiv verfolgte Aussiedlung der deutschen Bevölkerung – und mit ihnen der deutschen Arbeitskräfte – beim Wiederaufbau hinderlich sei. Die forcierte Ausweisung der Deutschen gelang somit nicht in der geplanten Form, was eine Reihe neuer Anordnungen nach sich zog. Hier zeigt sich, dass Anfang 1946 das Erreichen der Vorgaben beim Aussiedeln der deutschen Bevölkerung auch nach Potsdam Priorität besaß. So wurden die Deutschen umfassend aus bestimmten Berufen herausgedrängt. Es fällt dabei auf, dass dies insbesondere zu Beginn vor allem Dienstleistungsberufe betraf, wo deutsche Kräfte leichter ersetzt werden konnten, so z. B. im Hotelgewerbe oder in Geschäften. Zusätzlich wurden die Hürden für das Einstellen Deutscher deutlich erhöht. So war vom Arbeitsamt eine Bestätigung nötig, dass sich ein geeigneter Pole für die zu besetzende Stelle nicht fand und der Deutsche tatsächlich die notwendige Qualifikation vorweisen konnte. Zusätzlich musste eine Bestätigung des PUR als Beleg dafür angefügt werden, dass der Deutsche sofort durch einen ähnlich qualifizierten polnischen Arbeiter ersetzt werde, sobald jemand erschien, der die notwendige Qualifikation besaß.250 Diese Praxis setzte sich im Laufe des Jahres 1946 fort. Während einer Besprechung am 7. Juni 1946 beschlossen die Direktoren der Vereinigten Industriebetriebe Niederschlesiens, weitere deutsche Facharbeiter aus den Betrieben zu drängen: im Juni 9.376 Deutsche, im Juli und August weitere 9.035.251 Die Maßnahmen des MZO zeigen, in welchem Zwiespalt sich das GomułkaMinisterium befand. Am 22. Juni 1946 erließ das Ministerium eine Verordnung, in der Industriebetriebe wie andere Institutionen angeordnet wurden, ihre deutschen Arbeitskräfte der Kategorie III freizusetzen. Hiervon ausgenommen waren nur die Bergleute, die in den Kohlegruben oder in den Arsen- und Kupferbergwerken arbeiteten. Tatsächlich wurden schon wenige Tage später die weißen Anforderungskarten eingezogen und vernichtet. Doch schon am 2. Juli 1946, zehn Tage nach Erlass der Verordnung, ordnete das MZO an, anstatt der weißen die blauen Anforderungskarten zu verwenden.252 Die Verordnung wurde somit zurückgenommen. Nitschke schreibt, man hätte allgemein befürchtet, dass die plötzliche Aussiedlung der Deutschen zu Produktionsausfällen führen könne.253 Es kann angenommen werden, dass dieses kurzfristige Umdenken auf Protest der betroffenen Betriebe und Institutionen zurückzuführen war. Diese Rücknahme kann nur gegen den klaren Willen Gomułkas erfolgt sein, der von Anfang an einer Zurückhaltung der deutschen Facharbeiter 249 250 251 252 253
Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 189. Ebd. Ebd. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 209. Ebd.
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und -angestellten im Rahmen der Vertreibung nicht zuzustimmen bereit war, da er der Verfolgung seiner geostrategischen Pläne für Polen Priorität einräumte.254 Die Betriebe und Institutionen setzten sich hiergegen zur Wehr. Während der Vertreibung in ganz Mittel- und Osteuropa zeigte sich ein interessantes Phänomen. Mitte 1946 kam es dazu, dass in den ehemaligen polnischen Ostgebieten insbesondere auf dem Land Polen nicht mehr zur Ausreise gedrängt, sondern zum Bleiben gezwungen wurden. Ähnliches manifestierte sich später in den Neuen Gebieten, jedoch mit einer zeitlichen Verzögerung, wie sich am Beispiel Niederschlesiens zeigen lässt. Häufig sollte gleichzeitig die nationale Identität der Deutschen beeinflusst werden. Die Motive waren vor allem wirtschaftlicher Natur. In unzureichender Zahl vorhandene Arbeits- und Fachkräfte sollten zum Bleiben überredet werden, damit die lokale Wirtschaft nicht litt.255 Ähnliches lässt sich im Sudetenland beobachten, wo Firmenleiter die Ausweisung Deutscher zu verhindern suchten. Grund war hier die Sorge, dass betroffene Betriebe ohne sie nicht effektiv betrieben werden können.256 Es kam somit zur überraschenden Situation, dass Deutsche in Richtung Westen auswandern und ihre Heimat verlassen wollten, dies aber von den lokalen Behörden unterbunden wurde.257 Tatsächlich blieb so eine „kompakte Gruppe von Facharbeitern“258 in Niederschlesien, unter anderem im Waldenburger Revier. Interessant ist, in welchen Industriezweigen wie viele Deutsche weiterhin beschäftigt waren. So waren im November 1946 von insgesamt 32.960 im Kohlebergbau Beschäftigten 14.053 bzw. 42,6 Prozent Deutsche.259 Nirgends sonst hatten die Deutschen einen so hohen Anteil.260 Anders sah es bei den Neuen Industrien aus: Bei der Elektrotechnik waren es sieben Prozent (130), in der Metallindustrie 9,8 Prozent (980) und in der Chemischen Industrie 17,6 Prozent (722).261 Diese Zahlen müssen jedoch als zumindest ungenau betrachtet werden, da mit leichten Abweichungen bei der Erstellung dieser Listen zu rechnen ist. Trotzdem ist auch aus dem vorhandenen Quellenmaterial ein deutlicher Rückgang der beschäftigten Deutschen zu erkennen. Waren im Januar 1946 noch über 32,1 Prozent (36.876) der Beschäftigten Deutsche, waren es im Oktober 20,9 Prozent (25.748).262 Selbst unter Berücksichtigung der nicht auszuschließenden Ungenauigkeit der Angaben ist erkennbar, dass der Kohlebergbau eine Sonderrolle einnahm. 254 Krzoska, Gomułka und Deutschland (wie Anm. 15, S. 19), S. 179. 255 Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 85 f. 256 Gerlach, For Nation and Gain (wie Anm. 86, S. 48), S. 193 f. Anfang 1947 machten die deutschen Beschäftigten mit etwa einem Viertel weiterhin einen bedeutenden Teil der Arbeitskräfte aus; ebd., S. 296. 257 Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 86; Cholewa, Migracja Niemców (wie Anm. 9, S. 194), S. 97 f. 258 Ther, Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 2, S. 15), S. 86. 259 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 190. 260 Nicht für jede Bergbautätigkeit war umfangreiches Fachwissen erforderlich. Ob die Deutschen jedoch vorwiegend als einfache Hauer oder für komplexere Tätigkeiten – beispielsweise im Maschinenhaus – eingesetzt wurden, lässt sich mit den vorliegenden Quellen nicht ermitteln. 261 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 190. 262 Ebd., S. 191.
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Am 31. August 1946 wurde das bis dato verwendete System der Aufteilung der deutschen Arbeitskräfte in drei Kategorien für ungültig erklärt und durch ein neues ersetzt. Von nun an gab es nur noch grüne Karten, die für herausragende Fachkräfte bestimmt waren. Es handelte sich hierbei tatsächlich um eine „Green Card“, Inhabern einer solchen grünen Anforderungskarte sollte später die Übernahme der polnischen Staatsbürgerschaft ermöglicht werden.263 Doch auch diese Anweisung erwies sich in der geplanten Form als nicht umsetzbar. Die blauen und roten Karten blieben bis zum 1. Mai 1947, also bis nach Abschluss des überwiegenden Teils der Aussiedlung, in Kraft. Daher sahen sich verschiedene Stellen in Polen unter Druck. Zahlreiche kommunale Versorgungsanstalten wandten sich schriftlich an das MZO und erklärten, dass deutsche Fachkräfte für die Aufrechterhaltung der Versorgung notwendig seien. Die Wasserwerke Breslaus wiesen im Brief vom 9. Dezember 1946 darauf hin, dass sie von den 1.800 Deutschen wenigstens 35 bräuchten.264 Die städtische Gasversorgung Breslaus hatte nur einen deutschen Fachmann, auf dessen Bleiben bestanden wurde.265 Im mit einer Jahresproduktion von 42.000 Kilowattstunden zweitgrößten Kraftwerk Breslaus waren laut Schreiben vom 4. November 1946 von den 1.450 Arbeitskräften 300 Deutsche. 100 von ihnen wurden als unverzichtbar betrachtet.266 Insbesondere das letzte Beispiel ist interessant, da sich die Stromwerke am 20. Januar 1947 wieder an das Gomułka-Ministerium wandten und darauf hinwiesen, dass es zu Ausfällen bei der Stromversorgung gekommen sei, die sie auf das Fehlen der deutschen Fachkräfte zurückführten.267 In den angesprochenen Schreiben ging es nicht immer um Industriebeschäftigte: Die evangelische Pfarrei Betezda wandte sich am 15. Februar 1947 an die allgemeine Verwaltung der Wojewodschaft Breslau (Urzad ˛ Województwa Wrocławskiego, UWW) mit dem Hinweis, dass man die deutschen medizinischen Fachkräfte nicht durch polnische ersetzen könne und deshalb weiterhin auf sie angewiesen sei.268 Diese Liste ließe sich weiter fortsetzen. Wenige Tage später, am 21. März 1947, kam es im Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete zu einer Konferenz mit Verantwortlichen des Industrieministeriums. Die beiden Minister Minc und Gomułka waren nicht anwesend, jedoch verschiedene „Spitzenbeamte“ wie etwa der Leiter der Abteilung für Beschäftigungspolitik des Industrieministeriums Tadeusz Gede sowie Leopold Gluck aus dem MZO.269 Die Tagesordnung sah drei Punkte vor: die Reduktion der grünen Anforderungsbescheinigungen, die in dem Industrieministerium270 unterstellten Betrieben für deutsche Fachkräfte ausgestellt wurden; die Rechte der von der sog. 263 264 265 266 267 268 269
Vgl. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 209. AAN MZO/575, Bl. 108. AAN MZO/575, Bl. 116. AAN MZO/575, Bl. 96. AAN MZO/575, Bl. 121. AP Wr, UWW VI/647, Bl. 78. AAN MZO/73, Bl. 115 f.; abgedruckt in Borodziej/Lemberg (Hrsg.), Die Deutschen I (wie Anm. 19, S. 197), S. 312–314. 270 In der Quellensammlung von Lemberg/Borodziej steht „Innenministerium“, es handelt sich jedoch um einen Übersetzungsfehler; vgl. ebd., S. 312; Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg
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„Repatriierung“ ausgenommenen Deutschen sowie die Rechte für Deutsche, die die polnische Staatsbürgerschaft annahmen. Das Industrieministerium – so die Einigung – sollte die Zahl von 22.416 ausgegebenen Bescheiden bis September 1947 auf 10.000 senken. Aus der zeitlichen Nähe von Schriftverkehr und Konferenz lässt sich ableiten, dass die Zahl der von der Aussiedlung ausgenommenen Deutschen als zu hoch angesehen wurde. Diese Annahme würde auch die Rechtfertigungsversuche der jeweiligen Betriebe und kommunalen Versorger plausibel erklären, die auf die deutschen Arbeitskräfte bestanden. Die Konferenz hatte daher das Ziel, Strategien für den Umgang mit den Interessen der Betriebe zu erarbeiten. Der Schriftverkehr macht deutlich, dass den Ministerien bekannt war, wie hoch die Bedeutung der Fachkräfte war. Selbst der Wojewode für Niederschlesien Piaskowski wandte sich am 30. November 1946 in einem Schreiben an das MZO. Er wies darauf hin, dass ein Abzug der deutschen Facharbeiter „katastrophale“ Folgen für die Wirtschaft hätte und schrieb, dass ohne sie die Ingangsetzung nicht möglich sei, da der Bedarf an Facharbeitern ohne die Deutschen nicht gedeckt werden könne. Er schloss den als geheim gekennzeichneten Brief mit der Bitte ab, sämtliche Anträge auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung genau zu prüfen.271 Eine der Folgen dieser Aussiedlungspolitik war ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Betrieben um die noch anwesenden deutschen Facharbeiter.272 Die Interessenasymmetrie wird in der Forschung überwiegend als Folge der verschiedenen Zielsetzungen interpretiert. Die Betriebe und Institutionen vor Ort sorgten sich um die Ingangsetzung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens, während die Ministerien die Polonisierung durch eine Entdeutschung der Neuen Gebiete unumkehrbar machen wollten. So korrekt diese Interpretation ist, es zeigt sich in den unterschiedlichen Interessen auch etwas anderes: eine deutlich verschiedene Beurteilung der Bedeutung des Wissens der deutschen Beschäftigten und – noch wichtiger – seiner Ersetzbarkeit. Gomułka und das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete verfolgten das Ziel, die deutschen Facharbeiter durch polnische zu ersetzen. Dahinter steckt implizit die Überzeugung, dass es hinreichend sei, mit entsprechendem Ausbildungswissen ausgestattete Facharbeiter auf die freigewordenen Stellen zu platzieren. Ausbildungswissen wurde mithin für eine entscheidende Größe für die Funktionsfähigkeit der niederschlesischen Wirtschaft – und hier auch der Industrie – gehalten. Neben der Einsetzung polnischer Facharbeiter wurde noch eine weitere Strategie verfolgt. Die deutschen Spezialisten sollten die polnischen Arbeiter einarbeiten und so ihre eigenen Nachfolger ausbilden.273 Die Strategie des MZO macht so(Hrsg.), „Nasza ojczyzna stała si˛e dla nas obcym pa´nstwem . . . “ Niemcy w Polsce 1945–1950. Wybór dokumentów. Władze i instytucje centralne, Tom I [„Die Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Deutsche in Polen 1945–1950. Dokumentensammlung. Zentrale Behörden, Bd. 1], Warschau 2000, S. 274. 271 AAN MZO/572, Bl. 59. 272 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 195. 273 Vgl. etwa Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung (wie Anm. 11, S. 195), S. 209.
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mit zwei Dinge deutlich. Zum einen wurden die deutschen Facharbeiter generell für ersetzbar gehalten. Zudem herrschte die Überzeugung, eine Übertragung des Wissens von einem Beschäftigten zum anderen ließe sich binnen Monaten bewerkstelligen. Der erkennbare Unwille der polnischen Betriebe und Institutionen, den Prozess einer konsequenten Aussiedlung der deutschen Bevölkerung umzusetzen, konnte in den Augen Gomułkas nur Folge eines „bequemen Pragmatismus’“ sein, obwohl er aus heutiger Sicht angesichts der latenten Deutschenfeindlichkeit auch überrascht.274 Nun ließe sich einwenden, dass die deutschen Arbeitskräfte auch quantitativ von großer Wichtigkeit waren. Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Jedoch muss bezweifelt werden, dass dieser Faktor entscheidend war. Es kam zwar durchaus vor, dass bestimmte Deutsche aus abgefertigen Transporten wieder herausgenommen wurden, obwohl formal alle Voraussetzungen für eine Aussiedlung vorlagen.275 Ein solch gezielter Zugriff spricht jedoch gegen die Annahme, die reine mechanische Arbeitskraft sei entscheidend für das Zurückhalten der deutschen Facharbeiter gewesen. Nichtsdestoweniger musste das Verhalten der Betriebe und Institutionen von Gomułka als Verweigerungshaltung wahrgenommen werden, die es zum Wohle Polens zu überwinden galt. Vor dem Hintergrund des eingangs vorgestellten Wissensmodells stellt sich die Aufgabe einer sinnvollen Interpretation der Erfahrungen mit den deutschen Arbeitern, die die polnischen Zentral- und Regionalbehörden gemacht haben. Die Zentralbehörden und hier in erster Linie das MZO verfolgten eine klare Aussiedlungsund Besiedlungsstrategie unter der impliziten Annahme, die Ersetzung der deutschen Arbeiterschaft – und somit ihres Ausbildungs- und Erfahrungswissens – sei innerhalb eines absehbaren Zeitraums realisierbar. Die Annahme, Wissensnetzwerke hätte in den damaligen Überlegungen eine Rolle gespielt, wäre anachronistisch, da sich solche Überlegungen für den untersuchten Zeitraum in keinem dem Autor bekannten Land Europas nachweisen lassen.276 Aus Sicht der Betriebe wird ebenfalls sowohl das Ausbildungswissen wie auch die „tacit knowledge“ der deutschen Arbeiter geschätzt worden sein. Selbiges wird für die Tatsache gegolten haben, dass eingespielte Arbeiter um ihre eigene Position und Aufgabe im Produktionsprozess gewusst haben werden und auf diese Weise in der Lage gewesen sein werden, die 274 Vgl. Anna Wolff-Pow˛eska, Die doppelte Identität in den West- und Nordgebieten Polens, in: Matthias Weber (Hrsg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde (Mitteleuropa – Osteuropa, Bd. 2), Frankfurt am Main/New York 2001, 17–29, hier S. 25. 275 Jankowiak, Die Deutschen IV (wie Anm. 3, S. 193), S. 409. 276 Werner Abelshauser weist in einem Interview etwa darauf hin, dass sich die BASF – einem traditionsreichen und erfolgreichen Unternehmen der wissensbasierten Chemischen Industrie – 1951 zum ersten Mal überhaupt mit der Relevanz funktionsfähiger Netzwerke auseinandergesetzt hat. Und selbst hier spielten „Wissens“-Netzwerke noch keine Rolle; vgl. Interview mit Werner Abelshauser, Jens Bergmann, Den blinden Fleck polieren. In schwierigen Zeiten lohnt ein Blick in die eigene Geschichte, so die Empfehlung des Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser. Ein Gespräch über unternehmerische Lehren aus der Vergangenheit, in: brand eins 12.6 (01.06.2010), 74–76, hier S. 75.
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Vernetzung zwischen den Betrieben zu erleichtern. Insbesondere während der Zeit unmittelbar nach Kriegsende, als die Einrichtung der Zentralverwaltungswirtschaft noch nicht erfolgt war, werden Wissensnetzwerke von hohem Wert gewesen sein. Durch eine Analyse der Folgejahre lässt sich zeigen, wie realistisch die Annahme des MZO war, das Wissen der deutschen Beschäftigten ließe sich leicht ersetzen. Es zeigte sich, dass die Hoffnung, es sei möglich, deutsche Arbeiter im vorgesehenen Zeitraum durch eingearbeitete oder an anderer Stelle ausgebildete polnische Arbeiter auszutauschen, nicht zutraf: „Anfang 1948 musste das MZO einräumen, dass die Schulung polnischer Fachkräfte schleppend verlief.“277 Vor Ort geschah sogar das Gegenteil. 1946 und 1947 setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich Arbeiter, die am Anfang noch als unwichtig und leichter ersetzbar betrachtet wurden, später doch als bedeutend für den Produktionsablauf herausstellten. Es kam dazu, dass deutsche Beschäftigte hochgestuft wurden, um auf diese Weise ihre Aussiedlung zu verhindern.278 Das zeigt, dass die Schulung gleichwertiger polnischer Fachkräfte nicht bloß schleppend verlief: Sie scheiterte. 4.3. Folgen des Mangels an „komplementärem“ Wissen Welche langfristigen Folgen hatte nun die Vertreibung der deutschen Bevölkerung? Im vorangegangenen Kapitel wurde betont, dass das Fach- und Erfahrungswissen der deutschen Arbeiter in Niederschlesien zwar nicht von Beginn an, aber nach wenigen Jahren als sehr wichtig angesehen wurde, was – wenn auch nur in sehr bescheidenem Maße – sichtbaren Einfluss auf die Aussiedlungspolitik hatte. Zuvor wurde bereits ebenfalls hervorgehoben, dass die niederschlesische Industrie von gut ausgebildeten Fachkräften abhängig war. Die von Chumi´nski gestellte Frage drängt sich daher auf: „Ob, und falls ja, in welchem Maße, verursachte die Hinausdrängung der deutschen Arbeiter einen Rückgang oder eventuell die Turbulenzen in der Industrieproduktion?“279 Die weit überwiegende Zahl der nach 1947 in Niederschlesien beschäftigten Deutschen war in der Industrie tätig. In Niederschlesien zeigte sich – mit Ausnahme des Bezirks Waldenburg280 – zusätzlich, dass innerhalb der Industrie das Übergewicht auf der Leichtindustrie lag. Dies lässt sich beispielsweise für Lauban bestätigen. Von 901 dort lebenden Deutschen waren 244 in der Industrie beschäftigt, 160 in der Leichtindustrie und 84 in der Schwerindustrie.281 In Schweidnitz waren in der Schwerindustrie 45 und in der Leichtindustrie 100 Deutsche eingestellt. Zudem 277 Hofmann, Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 48, S. 127), S. 252. 278 Ebd., S. 252 f. 279 „Czy w ogóle, i jez˙ eli tak, to w jakiej mierze usuni˛ecie niemieckich pracowników wpłyn˛eło na regres, ewentualnie perturbacje w produkcji przemysłowej?“; Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 192. 280 Waldenburg war in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme. In der Stadt Waldenburg lag der Anteil der Deutschen in einzelnen Gemeinden, wie z. B. in Gottesberg und in Fellhammer, bei einem Drittel, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 42. 281 AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 26.
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waren 629 in den Staatlichen Landwirtschaftsbetrieben (Pa´nstwowe Gospodarstwo Rolne, PGR) tätig.282 In der Praxis zeigte sich bereits sehr früh, dass die polnischen Arbeiter die Deutschen nicht gleichwertig ersetzen konnten. Chumi´nski verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die polnischen Facharbeiter im Vergleich zu ihren deutschen Vorgängern in der Bekleidungsindustrie zwei bis dreimal solange für dieselbe Arbeit benötigten.283 Er unterstreicht auch, dass die rasche Aussiedlung der deutschen Facharbeiter und – was nicht unwichtig ist – das noch früher erfolgte Herausdrängen aus bestimmten Berufen negative Folgen für die niederschlesische Industrie hatte. Er ist der Überzeugung, dass die fehlende Motivation der polnischen Facharbeiter infolge der Kriegswirren ebenfalls einen großen Einfluss gehabt habe.284 Dies mag für die erste Zeit nach Kriegsende stimmen, wo es in ganz Europa bis 1947 kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gab, wenn auch häufig aus anderen Gründen. Unklar ist, ob sich so auch die langfristigen Verwerfungen in der niederschlesischen Industrie erklären lassen. Auch Jankowski weist auf dieses Problem hin wenn er schreibt, dass der „Mangel an Qualifikation“ zu Verzögerungen beim Wiederaufbau geführt habe.285 Diese Hinweise allein sind jedoch nicht hinreichend aussagekräftig. Der Verlust von Wissensträgern machte sich auch auf mikroökonomischer Ebene bemerkbar, und zwar in den verschiedensten Bereichen. Wie der Generalbevollmächtigte der zentralen Kohleindustriebehörde in einem Schreiben am 6. Juli 1945 an den Industrieminister Minc schrieb, erlebte ein Bergwerk im oberschlesischen Neurode nach der Vertreibung der Deutschen einen Rückgang der Produktion um 600 Tonnen täglich.286 Die genannten Probleme könnten jedoch auch als vorläufige Probleme im Rahmen einer Rekonstruktionsphase betrachtet werden, die sich im Laufe der Zeit beheben lassen. Liegen also die kurzfristigen Folgen für die Betriebe auf der Hand, stellt sich weiterhin die Frage, was auf lange Sicht die Folgen der Vertreibung für die Industrie waren. Der Rückgang bei der Industrieproduktion legt nahe, dass die Folgen auch langfristiger Natur waren. Produktionsrückgang und Vertreibung in einen direkten Zusammenhang zu bringen, birgt jedoch methodische Probleme. Nicht immer lassen sich die Folgen des mit der Vertreibung der Arbeitskräfte verbundenen Wissensverlusts so unkompliziert herausarbeiten wie in einem Fall in Waldenburg. Die Verwaltung der Vereinigung der Fabriken für Bergbaumaschinen wies in einem Schreiben an das MZO vom 25. März 1946 auf ein Problem hin. So äußerte der Autor des Briefes die Ansicht, die drohende Vertreibung der letzten deutschen Fachkräfte – im konkreten Fall Ingenieure – bei der Hütte Karol in Waldenburg würde zur Folge haben, dass die lokale Kohleindustrie nicht mehr mit Ausrüstung und Gerät versorgt werden könne. Zwar seien die Beschäftigten als unentbehrlich 282 283 284 285 286
AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 39. Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 195. Ebd., S. 196. Jankowski, Przejmowanie (wie Anm. 27, S. 54), S. 52. Ebd., S. 64 f.
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eingestuft worden, doch seien sie trotzdem nicht hinreichend vor Straftaten und Plünderungen ihrer Wohnungen geschützt. Sollte es zu einer Aussiedlung der Fachkräfte kommen, würde dies die Produktivität der abhängigen Kohleindustrie, die auf diese Waren angewiesen war, hart treffen.287 Es ist leicht vorstellbar und anzunehmen, dass es sehr häufig dazu kam, dass Produktionseinbrüche in den Zulieferbetrieben in den anzuliefernden Betrieben zu Einbußen führten. Diese wie andere makroökonomische Folgen der Vertreibung lassen sich jedoch nicht etwa messen. Dasselbe Problem stellt sich auf entgegengesetzter Seite. Zwar ist es in der wirtschaftshistorischen Forschung Konsens, dass die Vertriebenen und Flüchtlinge in der BRD einen wichtigen Anteil am Wirtschaftswachstum hatten. Er lässt sich jedoch auf makroökonomischer Ebene nicht zuverlässig ermitteln.288 Ziel dieser Arbeit kann es daher nicht sein, mit einem kontrafaktischen Vergleich die „verpassten“ Wachstumsraten verschiedener Industriezweige zu rekonstruieren. Eine genauere Betrachtung der Politik gegenüber den im Jahr 1950 etwa 50.000289 verbliebenen Deutschen in Niederschlesien hilft an dieser Stelle dennoch. Insbesondere kann man auf diesem Weg prüfen, ob sich die Hypothese des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete, die Deutschen seien ersetzbar, auf längere Sicht als korrekt erwiesen hat oder nicht. Eine Beantwortung dieser Frage birgt auf beiden Ebenen Erkenntnispotenzial: Neben dem bereits erwähnten Aspekt der Frage, wie eng Wissen an den jeweiligen Wissensträger gebunden ist, lässt sich so auch überzeugend ein direkter Zusammenhang zwischen Vertreibung und Produktionsrückgang nachweisen. Jedenfalls kam es nach 1947 zu einer deutlich erkennbaren Verlangsamung der Aussiedlung von Deutschen aus Niederschlesien. Lebten 1947 – darauf wurde bereits hingewiesen – 59.000 Deutsche in Niederschlesien290 , waren es 1953 immerhin noch 40.000.291 Diese Zahl steht im Widerspruch dazu, dass 1945 das Zusammenleben mit einer deutschen Minderheit „nach den Erfahrungen der Besatzungszeit schlicht außerhalb jeder Vorstellung“ lag.292 Die Hintergründe dieser beachtlichen Entwicklung sind wie erwähnt von der Forschung nicht beantwortet worden. Selbst die Autoren Borodziej und Lemberg verweisen nur darauf, dass die PZPR die bis 1950 umgesetzte Politik kritisch beurteilte, weshalb es in jenem Jahr zu einer Zäsur kam.293 Jankowiak, der im selben Quellenband die Entwicklung in Niederschlesien 1946 bis 1950 bearbeitet294 , setzt sich mit dieser Frage nicht auseinander. Bernhard Grund hat im Rahmen einer Veröffentlichung, die vom Ministerium für 287 AAN MZO/616, Bl. 1., abgedruckt in: Borodziej/Lemberg (Hrsg.), Die Deutschen IV (wie Anm. 54, S. 203), S. 557 f. 288 Vgl. Stefan Grüner, Geplantes „Wirtschaftswunder“? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 58), München 2009, S. 137. 289 AP Wr PUR/837, Bl. 29. 290 Pasierb, Migracja Ludno´sci Niemieckiej (wie Anm. 53, S. 203), S. 123. 291 AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 4. 292 Borodziej, Die Katastrophe. Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 2, S. 16), S. 89. 293 Borodziej/Lemberg, Die Deutschen I (wie Anm. 132, S. 140), S. 111 f. 294 Stanisław Jankowiak, Die Jahre 1946–1950, in: Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hrsg.),
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gesamtdeutsche Fragen herausgegeben wurde, zwar ebenfalls festgestellt, dass auf polnischer Seite von zentraler Stelle die Ausreise der Deutschen aus Niederschlesien nach 1950 unterbunden werden sollte. Er führt dies jedoch auf die schlechte Lage der deutschen Bevölkerung zurück und weicht somit der Frage aus, aus welchem Grund das Interesse an der deutschen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt im genannten Umfang anstieg.295 Bevor der Versuch einer Beantwortung dieser Frage unternommen wird, wird zunächst das Ausmaß dieses Politikwandels beschrieben. Wie gezeigt, wurde die Politik der Ausweisung von Deutschen insbesondere von den Zentralbehörden verfolgt, während die Regionalbehörden sowie die betroffenen Betriebe und Institutionen bestrebt waren, die Maßnahmen des MZO zu unterminieren. Dokumente der Abteilung für Gesellschaft und Verwaltung des Nationalrates Niederschlesiens296 zeigen, wie weit dieser Wandel ging. Während einer Sitzung des Nationalrats Niederschlesiens am 12. Februar 1953 wurde die Politik gegenüber Minderheiten – erwähnt wurden die Deutschen sowie Zigeuner297 – intensiv diskutiert. Hierbei wurde der Abfluss der Deutschen als Problem gesehen. Zusätzlich wurde festgestellt, dass aus der Gemeinde Glatz, wo 5.000 Deutsche lebten, 350 Familien aussiedeln wollten, während aus Waldenburg „nur“ 170 Familien von mehr als 10.000 Deutschen aussiedeln wollten. Hieraus wurde abgeleitet, dass es durchaus Möglichkeiten gebe, die Deutschen trotz ihres Ausreisewillens an Polen zu binden.298 Es gab mithin den klar erkennbaren politischen Willen, die Aussiedlung der Deutschen zu verhindern. Diese Entwicklung ist, auch wenn die Forschung sie seit Längerem herausgearbeitet hat, überraschend. Wer im Jahr 1953 50 Jahre alt war, hatte zwei Weltkriege und die schwierigen deutsch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit sowie eine menschenverachtende deutsche Besetzung weiter Teile Polens miterlebt. Zusätzlich betont die Literatur, dass die Vorstellung eines ethnisch homogenen Staates als conditio sine qua non eines stabilen Nationalstaates betrachtet wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaunlich, in welchem Umfang die Ausreise der Deutschen als Problem betrachtet wurde. Zudem ist es nicht plausibel, dass ein Abkommen zwischen den Regierungen der DDR und Volkspolens diese Wirkung entfaltet haben könnte. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man berücksichtigt, dass diese Deutschen nur sehr wenig in die polnische Gesellschaft integriert waren, sich also nicht
295
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„Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden. . . “ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven Band 4. Wojewodschaften Pommerellen und Danzig (Westpreußen), Wojewodschaft Breslau (Niederschlesien) 1945–1950 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 4), Marburg 2004, 401–432. Vgl. Bernhard Grund, Das kulturelle Leben der Deutschen in Niederschlesien unter polnischer Verwaltung 1947–1958 (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn/Berlin 1967, S. 20 ff., 35. Polnisch: PWRN, Wydział Społeczno-Administracyjny. Der umstrittene Begriff „Zigeuner“ wird an dieser Stelle genutzt, da er in den Quellen verwandt wird. Ob die Annahme einer diskriminierenden Bedeutung dieser Bezeichnung gerechtfertigt ist, kann hier nicht diskutiert werden; vgl. hierzu Eberhard Jäckel, Denkmal-Streit: Sinti, Roma oder Zigeuner?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.02.2005, S. 31. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 1.
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etwa als Polen fühlten. So war die Sprachbarriere auch Anfang der 50er Jahre hoch. Daher wurden Polnischkurse angeboten, um ihre Integration zu fördern. Die Sprachkurse wurden jedoch außerhalb von Waldenburg und Glatz nur schlecht besucht, sie fanden praktisch nur noch in Landeshut in Schlesien sowie in Hirschberg statt.299 Zusätzlich fanden in den Betrieben Informationsveranstaltungen statt, wo die deutschen Arbeiter „über laufende Ereignisse im In- und Ausland während spezieller Versammlungen“ informiert wurden. Diese erfolgten in deutscher Sprache.300 Flankiert wurden diese Versammlungen durch monatlich stattfindende Veranstaltungen im „Internationalen Presseklub“ („Mi˛edzynarodowa Kluba Prasy“), die sich mit politischen Ereignissen beschäftigten.301 Auch bei der Partizipation seitens der deutschen Arbeiter an den Betriebsräten, denen sie zunächst überhaupt nicht angehören durften, wurde das schwach ausgeprägte Engagement der Deutschen als Problem gesehen.302 Bei der Integration der Jugend in das gesellschaftlichpolitische Leben zeigten sich Schwierigkeiten, weshalb Anstrengungen beim Ausbau des Schulwesens empfohlen wurden.303 Der Arbeitsplan des Wojewodschaftskomitees – dem formalen Pendant des Zentralkomitees auf Wojewodschaftsebene – Niederschlesiens, der sich mit der Frage des Umgangs mit der deutschen Bevölkerung beschäftigte, macht deutlich, dass auch 1953 die Deutschen nur schwer zu integrieren waren. Neben der Frage der aus Sicht des Wojewodschaftskomitees unzureichenden Zahl von Parteimitgliedern unter den Deutschen wurde die Integration der Jugendlichen als schwach diagnostiziert. Ebenfalls wurde auf die Probleme bei der Zeitung „Arbeiterstimme“, der unzureichenden Produktion deutscher Belletristik sowie allgemein bei der Ausstattung von Bibliotheken mit deutschen Publikationen hingewiesen. Das Ergebnis dieser Besprechung war ein umfangreicher Arbeitsplan, mit dem die Probleme angegangen werden sollten.304 Aus den Quellen geht ebenfalls hervor, dass sich die Verantwortlichen, beispielsweise der Nationalrat Niederschlesiens, um die Stimmung unter den deutschen Arbeitern sorgten.305 Als weiteres Element der „Stimmungspolitik“ zur Bindung der Deutschen an Polen wurde die gleiche Bezahlung Deutscher und Polen empfohlen sowie die Verbesserung ihrer Wohnsituation. Vergleichbares wurde bei der Integration der deutschen Jugendlichen angeraten, wo ebenfalls eine bessere Bindung an die Jugendorganisation ZMP („Verband der polnischen Jugend“/„Zwiazek ˛ Młodziez˙ y Polskiej“) angestrebt wurde. Dazu gab es 52 Schulen, in denen in deutscher Sprache gelehrt wurde.306 In einem Bericht, der – wie der Wortlaut vermuten lässt – für den Nationalrat in Warschau verfasst wurde, empfehlen die Autoren die Kooperation zwischen den Behörden des Präsidiums des 299 300 301 302 303 304 305 306
AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 1, 7. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 1. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 6. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 2. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 2. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 13. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 5. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 8.
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Nationalrats und der gesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, die „Obhut“ über die Deutschen auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kulturell-weltlicher Ebene zu verbessern.307 Ebenso wichtig wie die Frage, wie weit diese Feststellungen seitens des PWRN in Breslau zutreffend waren ist die Tatsache, dass überhaupt ein solch hohes Interesse bestand. Wie kam es 1951 zu den Anweisungen des ZK, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Deutschen zu verbessern, das deutsche Schulwesen auszubauen und auf Deutsche zugeschnittene Veranstaltungen in entsprechender Sprache anzubieten?308 Beata Cholewa hat den Verdacht deutlich artikuliert, dass es die wirtschaftlichen Interessen der Betriebe waren, die zur Folge hatten, dass die Ausweisung der Deutschen auf lokaler Ebene unterbunden werden sollte und diese Argumentation später auch von den Zentralbehörden übernommen wurde. Die Entwicklung der niederschlesischen Industrie von 1936 bis 1956 und die hierbei herausgearbeiteten Diskrepanzen legen nahe, dass sich die wirtschaftlichen Folgen der Vertreibung deutscher Beschäftigter nicht allein auf die betriebliche Ebene beschränkten. Auch die beachtlichen Probleme beim Wiederaufbau der Betriebe, der dann auch in zahlreichen Fällen scheiterte, lassen darauf schließen, dass sich die Folgen des Wissensverlusts sowie des Verlust der Wissensnetzwerke nicht nur auf mikroökonomischer, sondern auch auf makroökonomischer Ebene dramatisch auswirkten. Die Arbeitspläne des niederschlesischen Nationalrates PWRN machen deutlich, dass ein Zusammenhang zwischen makroökonomischer Leistungsfähigkeit und den deutschen Beschäftigten erkannt wurde. So heißt es im Arbeitsplan des Wojewodschaftskomitees bezüglich der deutschen Bevölkerung: „Die Parteiorganisationen, die mit den deutschen Arbeitern in den Arbeitsstätten in Kontakt stehen, erkennen nicht umfassend die Pflicht zur Arbeit mit ihnen an, sie sind sich nicht bewusst, dass sie in vielen Fällen über die Ausführung des Planes (gemeint sind die Wirtschaftspläne, Y. K.) entscheiden.“309 Auch in einem anderen Zusammenhang wurde die Bedeutung der deutschen Arbeiter hoch eingeschätzt. In einer Aufstellung der Entscheidungen hinsichtlich der „Entfaltung der Beschlüsse des Zentralkomitees der PZPR über die einheimischen und die nationalen Gruppen“, die vermutlich aus dem Jahr 1953 stammt, wird gleich zu Beginn erwähnt, dass in Waldenburg 10.000 Deutsche lebten, von denen 6.000 in der staatlichen Industrie arbeiteten: 500 waren in der Leichtindustrie beschäftigt, 3.000 in der Kohleindustrie und 2.500 in der übrigen Schwerindustrie.310 In diesem Zusammenhang wird auch die bedeutende Rolle der deutschen Beschäftigten in der Industrie unterstrichen. Wörtlich heißt es, dass die deutschen Beschäf307 AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 10. Freilich war das nicht immer der Fall. In Wohlau beispielsweise wurde ein Herr Maschuc, dem zunächst die Ausreise bewilligt wurde, auf Intervention der Abteilung für Gesellschaft und Administration wieder gezwungen, in Niederschlesien zu bleiben, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 58. 308 Vgl. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 13. 309 AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 13. 310 AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 49.
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tigten „in hohem Maße zur Erfüllung der Produktionspläne beitragen würden“.311 Da es sich bei dem erwähnten Schriftstück um ein internes Dokument handelt, das nicht publiziert wurde und bei dem somit auf die Außenwirkung keine Rücksicht genommen werden musste, kann davon ausgegangen werden, dass die Schilderung dem tatsächlichen Eindruck der Beteiligten entsprach. Es wurde bereits angesprochen, dass die Beantwortung der Frage, ob es gelang, die deutschen Fachkräfte durch polnische zu ersetzen, einigen Erkenntniswert über das Verhältnis von Arbeitskräften und Produktionsmitteln besitzt. Das MZO in der Person Gomułkas ging hiervon implizit aus und sah in der forcierten Aussiedlung der deutschen Bevölkerung höchstens die Gefahr von Verzögerungseffekten. Die Verschiebungen in der niederschlesischen Industrieproduktion sowie die Probleme bei der Ingangsetzung zahlreicher Betriebe deutet darauf hin, dass dieser Plan misslang. Ein anderer Quellenkomplex kann diese Argumentation stützen. Der Beschluss Nr. 276 des PWRN in Breslau vom 31. Juli 1951 – DzUWRN 1951, Nr. 15, Pos. 62 – verpflichtete die Abteilungen für den Bereich „Gesellschaft und Verwaltung“ der Kreise dazu, Berichte anzufertigen, die über das Zusammenleben der Deutschen und Polen, ihre gesellschaftliche Integration sowie ihrer Bedeutung für die lokale Wirtschaft Auskunft geben. Mitte 1951 lebten in Niederschlesien noch etwa 40.000 Deutsche. Berichte, die über deren Status und Rolle Auskunft geben, sind daher äußerst selektiv, da sie eine große Zahl der Facharbeiter ausblenden. Ihre Auswertung kann daher nur mit aller Vorsicht erfolgen. Ihre Stärke liegt jedoch darin, dass die Berichte für 19 der zu diesem Zeitpunkt insgesamt 27 niederschlesischen Kreise zur Verfügung stehen.312 Die Reaktionen auf die Erkundigung des niederschlesischen PWRN beantworten implizit die Frage, ob die Weiterbeschäftigung und -bindung der deutschen Bevölkerung in den jeweiligen Kreisen als notwendig erachtet wurde. Auf diesem Weg ließe sich die Frage beantworten, ob sich an dem Bedarf an deutschen Arbeitskräften – die weiterhin mit dem für die Produktion notwendigen Wissen ausgestattet waren – etwas geändert hat. Angesichts des Feindbilds des Deutschen, das in Polen weiterhin latent vorhanden war313 sowie des Legimationsdrucks, dem sich die PZPR ausgesetzt sah, bargen unpopuläre Maßnahmen immer auch ein Risiko. Daher wäre eine weitere Sistierung der deutschen Bevölkerung nur dann geschehen, wenn sie als dringend notwendig erachtet worden wäre. Dieses Problem wurde noch durch die teilweise schlechte Integration der deutschen Bevölkerung verstärkt, die auch in den Berichten der städtischen Nationalräte (Miejska Rada Narodowa, MRN) an verschiedenen Stellen sichtbar wurde. Auffällig ist, dass zahlreiche Berichte betonen, die deutschen Arbeiter würden genauso behandelt werden wie die polnischen.314 Diese Hinweise gehen auf die 311 AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 49. 312 Freilich darf nicht vergessen werden, dass in mehreren Kreisen nur sehr wenige Deutsche lebten und beschäftigt waren, etwa in Lübin und in Oels; vgl. AP Wr PWRN XVIII/278, Bl. 29, 31. 313 Vgl. Wolff-Pow˛eska, Die doppelte Identität (wie Anm. 274, S. 241), S. 25. 314 So etwa der Bericht vom Präsidium des MRN vom 5. Januar 1952, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 7.
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Anordnung zurück, Deutsche und Polen gleichzubehandeln und so die Diskriminierung der deutschen Arbeiter zu unterbinden. Sie hatte mehrere Ausformungen. Häufig wurden deutsche Arbeiter schlechter als polnische bezahlt, etwa indem ihnen eine schlechtere Arbeit zugewiesen wurde oder ihre Arbeit schlechter eingestuft wurde.315 Hinzu kamen verschiedene Formen der „Gängelung“ durch die Direktoren der Betriebe. So wurden etwa in Waldenburg die Direktoren der Fabriken und Bergwerke aufgefordert, diese Praxis zu beenden.316 Der Bericht zu Reichenbach schreibt explizit, dass in den Betrieben „widersprüchliche Auffassungen zur politischen Linie von Partei (gemeint ist die PZPR, Y. K.) und Regierung“ herrschen würden. Zusätzlich heißt es: „Sie beschäftigen deutsche Arbeiter zu (tariflich, Y. K.) niedrigeren Bedingungen, trotz der Tatsache, dass sie meistens die Aufgaben qualifizierter Arbeiter übernahmen.“ Exemplarisch wird hier ein Herr Bartel genannt, der in der DZPB, einer Baumwollfabrik, trotz seiner Ausbildung als Meister der Weberei und einer im Vergleich zu anderen Beschäftigten hohen Produktivität als Praktikant eingestuft und entsprechend gering entlohnt wurde.317 Im Bericht zu Schweidnitz wird ausdrücklich vorgeschlagen, die Diskriminierung der Deutschen – die in zahlreichen Betrieben zweifellos gängige Praxis gewesen sein wird – auf allen Ebenen zu bekämpfen.318 Auf der anderen Seite wurde – nur so lässt sich die Anweisung zur konsequenten Gleichbehandlung der deutschen und polnischen Arbeiter interpretieren – diese Benachteiligung als einer der Gründe betrachtet, weshalb die deutsche Bevölkerung an ihrem Auswanderungswillen festhielt. Eine weitere Zielsetzung, die aus den Berichten hervorgeht, ist die bessere Nutzung der Qualifikationen dieser Beschäftigten.319 Im Bericht aus Lauban vom 28. September 1951 heißt es etwa: „Aus den Angaben zur deutschen Bevölkerung ergibt sich, dass sich nicht alle, die begabt und fähig zur Arbeit sind, in die Produktion einbringen und diese Angelegenheit durch das Präsidium des lokalen Nationalrates (Gromadzka Rada Narodowa, Y. K.) nach der Zusammenstellung aller Informationen angegangen müsse, damit sich wieder möglichst viele Deutsche in die Produktion einbringen.“
Hierbei handelte es sich sicherlich teilweise um eine Abkehr der bisher an verschiedenen Stellen praktizierten Diskriminierung. Zusätzlich zeigt diese Maßnahme ebenfalls, dass die „effizientere Nutzung der vorhandenen Wissensbestände“ zu einer Steigerung der Produktivität führen sollte. In Breslau wurden hierfür 64 Deutsche aus der Privatwirtschaft abgezogen.320 Tatsächlich drehte sich die Situation häufig sogar um. Während der PWRN – sicherlich mit Unterstützung der „Regierung“ – Anweisungen gab, die Diskriminierung zu beenden und die deutschen Arbeitskräfte entsprechend ihrer Qualifikation einzusetzen, zeigte sich, dass sich die Umsetzung dieses Befehls nicht ohne Weiteres verordnen ließ. Schlechterbehand315 316 317 318 319 320
Vgl. Grund, Das kulturelle Leben (wie Anm. 295, S. 245), S. 20. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 8. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 14. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 39. Etwa in Waldenburg; AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 9; in Lauban, Bl. 26. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 67.
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lungen blieben mancherorts weiter bestehen.321 Der Tätigkeitsbericht von 1951 der Abteilung Gesellschaft und Administration des PWRN in Niederschlesien macht deutlich, dass „jegliche falsche Ansichten“ sowie „unkorrektes Verhalten gegenüber den deutschen Arbeitern“ beseitigt werden sollten.322 Diese „Schlechterbehandlungen“ im Rahmen der Vertreibung wurden häufig wegen ihrer Konsequenzen als Fehler betrachtet: „Die Ursache des Ausreisewillens der angesprochenen Bürger ist zweifellos die Tatsache begangener Fehler gegenüber diesen Bürgern im Zeitraum der vergangenen Jahre. In Folge dessen bemüht sich diese Bevölkerungsgruppe, ihre nationale Eigenart zu erhalten und sucht nicht nach einem Weg, auf die polnische Bevölkerung zuzugehen.“323 Im Bericht zu Neumarkt heißt es, dass die Ausweisung der Deutschen mit „weißem Band“, also der formal Unqualifizierten, ein „großer Fehler“ sowie eine „Blamage“ der polnischen Regierung gewesen sei.324 Ein ebenfalls häufig auftretendes Problem war die Sprachbarriere. An verschiedenen Stellen, so etwa der Bericht zu Reichenbach, habe sie dazu geführt, dass die formal qualifizierten deutschen Arbeitskräfte ihre Tätigkeit nicht ausüben konnten, weil sie schlichtweg kein polnisch sprachen.325 Das Ziel, die Deutschen und Polen gleichzustellen, war nicht nur auf die Betriebe beschränkt. Gleichermaßen sollte das Zusammenleben im Alltag verbessert werden, um die Integration der deutschen Arbeiter zu forcieren.326 Auch taucht immer wieder das Ziel auf, die Zahl der deutschen Kinder in den Schulen zu erhöhen, wie in Reichenbach, wo zum Berichtszeitpunkt Oktober 1951 nur zwei deutsche Schüler die Grundschule (Szkoła Podstawowa Ogólnokształcaca) ˛ besuchten, obwohl über 70 im entsprechenden Alter waren.327 Jugendliche, die alt genug waren, eine Berufsausbildung zu beginnen, sahen hiervon ab, was laut Reichenbach-Bericht auch auf die fehlende Initiative der Betriebsleiter zurückzuführen war.328 Unabhängig von dieser Wertung der Situation wurde in der Mehrzahl der Berichte geprüft, wie viele deutsche Kinder die Schulen besuchten.329 Die Ermöglichung religiöser Praktiken wird ebenfalls angesprochen.330 Dies deckt sich mit dem Ziel, dem latenten Ausreisewillen der Deutschen entgegenzuwirken.331 Hierfür spricht, dass beinahe alle Berichte darauf hinwiesen, dass die Wohnsituation der Deutschen gut gewesen sei. Häufig unterstrichen die Autoren der Berichte, dass die deutschen Arbeitskräfte von hoher Bedeutung waren. Im Bericht zu Hirschberg, wo 311 deutsche Familien bzw. 734 Deutsche lebten, heißt es abschließend: „Die Machthaber unseres Staates 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331
So etwa in Waldenburg, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 9. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 61. Bericht zu Landeshut, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 18. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 35. So etwa in Reichenbach, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 14; implizit in Landeshut, Bl. 17. So etwa AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 12. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 14. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 14. So beispielsweise in Hirschberg, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 15. Etwa in Landeshut, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 17. Vgl. etwa dem entsprechenden Aufruf im Bericht zu Schweidnitz, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 38.
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sollten die deutsche Bevölkerung mit besonderer Obhut binden sowie sie intensiv in die Realisierung des Sechsjahresplans sowie den Aufbau des Landes einbeziehen.“332 Ähnlich äußert sich der Abschlussbericht zu Breslau.333 Die Auswertung dieser Quellen zeigt, dass sich die Entwicklung des Bildes deutscher Arbeitskräfte nicht auf den Konflikt von Regionalbehörden und Betrieben gegenüber der Zentralbehörde reduzieren lässt, der sich dadurch aufgelöst habe, dass die Zentralbehörden nach 1947 die Bedeutung der deutschen Beschäftigten – also der „Wissensträger“ – erkannt hätten. Auf lokaler Ebene wurden die deutschen Facharbeiter zwar ebenfalls von Beginn an als wichtig betrachtet. Jedoch machen die Berichte deutlich, dass auch in den Augen der lokalen Verantwortlichen – die Direktoren ebenso wie die Verwaltung – die Bedeutung der Facharbeiter höher war als zunächst angenommen. Tatsächlich drehten sich Anfang der 50er Jahre teilweise die Verhältnisse um, und die Betriebsleiter selbst schienen häufig widerwillig, die Deutschen konsequenter im Rahmen ihrer Fähigkeiten einzusetzen. Die in den Berichten genannten Gründe für die höhere Produktivität der deutschen Beschäftigten zeigen, dass nicht in jedem Fall „Wissen“ für die entscheidende Komponente gehalten wurden. Der Bericht zum Kreis Neumarkt führt beispielsweise an, dass die Deutschen ihre Disziplin „erst im preußischen, und anschließend in Hitlerdeutschland“ gestärkt hätten und sich deshalb so „hervorragend“ verhalten würden.334 Der Reichenbach-Bericht schließt mit der – so der Wortlaut – „selbstkritischen“ Feststellung, dass Betriebsleiter und lokale Verantwortliche unzureichende Anstrengungen unternommen hätten, auf die deutsche Bevölkerung zuzugehen.335 Dieser Aussage liegt, wie die bisherigen Darstellungen deutlich machten, auch ein ökonomisches Interesse zugrunde. Und selbst in den Berichten, die sich nicht direkt zur Bedeutung der deutschen Beschäftigten äußern, lässt sich nirgends nachweisen, dass die Vertreibung der verbliebenen Deutschen befürwortet wird.336 Freilich lässt sich nicht in jedem Fall die Nachfrage nach deutschen Arbeitskräften durch ihre Ausbildung erklären. In Liegnitz, wo 1951 laut Bericht 1.568 Deutsche lebten337 , entstammten diese teilweise aus dem weiter östlich gelegenen Ermland und den Masuren, weshalb der Bericht vermutlich zum Ergebnis kommt, es handle sich hier meist um Bauern. Trotzdem werden sie als wertvolle Arbeiter betrachtet.338 In diesem Fall lässt sich der Wunsch der Bindung Deutscher nicht allein darauf zurückführen, dass es sich um unverzichtbare Spezialisten handelte. Dasselbe gilt für die Anforderung einzelner Deutscher ins Landesinnere, was in verschiedenen Einzelfällen geschah.339 Auch wurden – gegen den Willen Piaskow332 333 334 335 336 337 338 339
AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 15 f. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 67. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 34. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 15. So etwa in Glatz, AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 18. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 24. AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 21. AP Wr UWW VI/266, Bl. 13., abgedruckt in: Borodziej/Lemberg (Hrsg.), Die Deutschen IV
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skis – gezielt günstige deutsche Arbeitskräfte eingesetzt, wie aus einem Schreiben Piaskowskis an das Wojewodschaftsamt in Posen hervorgeht.340 Die Beobachtungen von Poralla, der sich mit der Entwicklung der Chemischen Industrie in den ehemaligen deutschen Ostgebieten beschäftigte, bestätigen die Schwierigkeiten bei der Produktion. So sei die Zahl und Qualifikation der Fachkräfte der Chemischen Industrie in den Neuen Gebieten ein latentes Problem. Zwar würden zahlreiche Kräfte an Fach- und Hochschulen ausgebildet, deren Ausbildung erweise sich jedoch häufig als unzureichend, weshalb viele an sowjetischen Fachschulen weitergebildet werden würden.341 Der Tätigkeitsbericht zum Jahr 1951 der Abteilung für Gesellschaft und Verwaltung des PWRN in Niederschlesien kam bei der Auswertung aller in den Kreisen erstellten Berichte zum Ergebnis, dass es entscheidend sei, die Lebensbedingungen und das Kultur- und Wohnungsangebot für die Deutschen weiter zu verbessern.342 Die „Turbulenzen in der Industrieproduktion“ sollten so eingedämmt werden, denn die deutschen Arbeitskräften waren nicht ersetzbar.343 Besonders deutlich formuliert dies der bereits erwähnte Bericht aus Neumarkt: „Nach Beginn der planmäßigen Repatriierung der Deutschen aus dem Kreis beging man wieder einen großen Fehler im Verhältnis zur deutschen Bevölkerung (. . . ), als man die Deutschen, die weiße Bänder trugen, auswies. (. . . ) Erst heute sieht man, was das für ein Fehler gewesen ist.“344
Was war also das Ziel der Bindung der Deutschen? In zahlreichen Kreisen gab es Produktionsprobleme. Ging es um eine Verlängerung ihres Aufenthaltes in Polen oder um eine feste Bindung? Die getroffenen Maßnahmen lassen nur einen Schluss zu: Angestrebt wurde eine langfristige Bindung der Deutschen. Daraus lässt sich schließen, dass eine Einarbeitung der polnischen Beschäftigten, zu der sich die Berichte kaum äußern, fehlschlug. Das Abhängigkeitsverhältnis von komplementären Beschäftigten und Produktionsmitteln war hoch, und eine Übertragung des zur erfolgreichen Bewirtschaftung notwendigen Wissens auf die polnischen Arbeiter war nicht möglich. Damit lässt sich auch die These nicht halten, bei einer langsameren Vertreibung wäre eine Einarbeitung der Polen eher möglich gewesen. 4.4. Die Vertriebenen in der Bundesrepublik Für die Analyse der Wissensnetzwerke wurde in der bisherigen Untersuchung geprüft, wie sich der Verlust von Wissensträgern und Wissensnetzwerken auf industrielle Produktion auswirkt. Im Falle der deutschen Vertriebenen bietet es sich zusätz(wie Anm. 54, S. 203), S. 544. 340 AP Wr PUR/65, Bl. 11, abgedruckt in: Borodziej/Lemberg (Hrsg.), Die Deutschen IV (wie Anm. 54, S. 203), S. 552. 341 Poralla, Chemiewirtschaft (wie Anm. 136, S. 79), S. 44 f. Poralla belegt diese Behauptungen jedoch nicht. 342 AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 61 f., 68. 343 Chumi´nski, Polonizacja (wie Anm. 123, S. 138), S. 211. 344 AP Wr PWRN XVIII/274, Bl. 35.
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lich an zu prüfen, wie sich die ehemaligen Bewohner der deutschen Ostprovinzen in die bundesdeutsche Wirtschaft integrieren ließen. Vordergründig war ihre Situation vergleichbar mit derjenigen der Siedler der ehemaligen polnischen Ostgebiete, die ins Landesinnere und teilweise auch in die Neuen Gebiete zogen. In beiden Fällen musste sich eine große Zahl von Menschen, die ihre Heimat verlassen hat und einer anders strukturierten Region entstammte, neu einfinden. Das zu Beginn dieser Untersuchung angebotene Wissensmodell könnte den Eindruck erwecken, Netzwerke müssten möglichst statisch und frei von störenden Einflüssen sein, um ihre Funktion ausüben zu können. Die Wissensarbeiter, die in einem Komplementärverhältnis stehen, sind Teil eines gewachsenen Netzwerks, dessen Neustrukturierung seine Funktionsfähigkeit bedeutend einschränken würde. Zur Lösung dieses Problems wurde das Modell der „spezifischen Netzwerkfähigkeit“ angeboten. Hierbei wurde das Netzwerkwissen jedes Einzelnen wiederum in Ausbildungswissen sowie in tacit knowledge unterteilt. Damit sind insbesondere während der Ausbildung vermittelte berufsübergreifende Standards gemeint, die als notwendige Bedingung für gemeinsames Arbeiten gelten können. Die tacit knowledge wiederum ermöglicht es dem Einzelnen, sich in einem individuellen Netzwerk einzufinden, seine Rolle zu erkennen und diese auszufüllen. Durch Prüfung der Frage, wie sich die Vertriebenen und Flüchtlinge in die bundesdeutsche Wirtschaft einfanden, ist es möglich, sich einer Antwort auf die Frage anzunähern, unter welchen Bedingungen Wissensarbeiter sich in einen neuen Verbund einfinden können. Bis 1950 kamen 9,6 Millionen Vertriebene nach Deutschland.345 1960 machten die Vertriebenen zusammen mit den Flüchtlingen aus der DDR 22 Prozent aller Erwerbspersonen aus.346 Eine Analyse ausschließlich derjenigen Vertriebenen, die aus Niederschlesien kamen, lässt sich methodisch leider nicht realisieren. Die Statistiken erfassen zwar auch in absoluten Zahlen die Vertriebenen aus den verschiedenen Ostprovinzen. Jedoch lässt sich nicht nachvollziehen, wo diese in der BRD tätig waren. Zusätzlich ist davon auszugehen, dass sie spätestens nach der Bevölkerungsumverteilung nach 1950 nicht mehr im selben Umfang auf einzelne Regionen konzentriert waren. Während der ersten Nachkriegsjahre wurden die Vertriebenen und Flüchtlinge als große Belastung empfunden. „Diese Jahre standen unter dem Eindruck von Not und Elend, von versteckter und offener Arbeitslosigkeit und düsteren Zukunfts-
345 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 293. In dieser Frage kursieren jedoch verschiedene Zahlen; Bauer und Zimmermann schreiben von zwölf Millionen; Thomas Bauer/Klaus F. Zimmermann, Gastarbeiter und Wirtschaftsentwicklung im Nachkriegsdeutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1996), 73–108, hier S. 74; Oberpenning geht von 8,1 Millionen aus, Hannelore Oberpenning, Espelkamp: Von der sozialen Stadtgründung zum Industriestandort, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die etwas andere Industrialisierung. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des Minden-Lübbecker Landes im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 1999, 247–268, hier S. 248. 346 Gerold Ambrosius, Der Beitrag der Vertriebenen und Flüchtlinge zum Wachstum der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1996), 39–71, hier S. 48.
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perspektiven.“347 Unbestritten hatte der massive Bevölkerungszustrom kurzfristig teils dramatische Folgen wie etwa einen massiven Mangel an Wohnraum und die aufwendige, erst Mitte der 50er Jahre abgeschlossene Umverteilung der Vertriebenen auf dem Bundesgebiet. Auch die Nahrungsmittelknappheit Ende der 40er Jahre stellte die Beteiligten vor zahlreiche Probleme. Der massive Rückgang der Arbeitslosigkeit von deutlich über zehn Prozent 1950 auf ein Niveau im Jahr 1958, das praktisch Vollbeschäftigung entsprach348 , widerlegte jedoch die schlechten Zukunftsprognosen. Vielmehr kann umgekehrt als belegte These gelten, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen einen großen Anteil am sog. „Wirtschaftswunder“ der BRD hatten. Wie haben sich die Vertriebenen und Flüchtlinge auf den bundesdeutschen Produktionsfaktor Arbeit ausgewirkt? Es ist bekannt, dass es in den 50er und 60er Jahren eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften gab. Der Arbeitskräftemangel machte sich bereits 1955 bemerkbar.349 Er lässt sich nur in geringem Maße dadurch erklären, dass die Entstehung der Bundeswehr sowie die Verlängerung der Ausbildungszeiten350 zu einem Rückgang der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte führte. Trotz der massiven Zuwanderung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der DDR kam es zwischen 1955 und 1968 zu zwischenstaatlichen Vereinbarungen über die Anwerbung von Arbeitskräften mit Italien (1955), mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), mit Marokko (1963), mit Portugal (1964), mit Tunesien (1965) sowie mit Jugoslawien (1968).351 Diese Zuwanderung sprach jedoch gezielt unqualifizierte Arbeitskräfte an.352 Dass die Vertriebenen und Flüchtlinge also rasch vom Arbeitsmarkt „aufgesaugt“ wurden, gibt noch keine Auskunft darüber, welche Rolle sie genau spielten. War es ihre reine „manuelle“ Arbeitskraft, die gebraucht wurde? Oder konnten sie auf der Grundlage ihrer Ausbildung als qualifizierte Arbeitskräfte Fuß fassen? Tatsächlich ist diese Frage in der Forschung umstritten. Paul Lüttinger spricht von einem „Mythos der schnellen Integration“.353 Er gesteht zwar ein, dass die Vertriebenen wegen der hohen Nachfrage nach Arbeitskräften rasch Beschäftigung fanden. Er diagnostiziert jedoch auch eine Benachteiligung insbesondere der Vertriebenen im Bildungssystem.354 Abelshauser vertritt die These, dass es weniger die reine manuelle Arbeitskraft gewesen sei als das hohe Ausbildungsniveau, von dem die BRD profitierte. Zum Nachweis hat er den 9,6 Millionen Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland sowie den DDR-Flüchtlingen, die zwischen 1950 und 1962 in die BRD kamen, einen Wert zugeordnet. 347 348 349 350 351 352 353
Ambrosius, Der Beitrag der Vertriebenen (wie Anm. 346, S. 253), S. 46. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 308. Bauer/Zimmermann, Gastarbeiter und Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 345, S. 253), S. 76. Ebd., S. 79. Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 84. Paul Lüttinger, Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971, in: Zeitschrift für Soziologie 15.1 (1986), 20–36, hier S. 20. 354 Ebd., S. 29.
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Er schätzte die Kosten einer Ausbildung auf etwa 15.000 DM. Dadurch, dass eine Ausbildung der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht mehr notwendig war, wurde pro Facharbeiter ebenjener Betrag eingespart.355 Die Berechnung des Wertes der Facharbeiter, wie sie Abelshauser vornimmt, setzt jedoch implizit voraus, dass die entsprechenden Fachkräfte sofort eingestellt werden konnten. Auf der einen Seite wird also die hohe Zahl qualifizierter Kräfte, über die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte, unterstrichen.356 Der Annahme, die Ausbildung sei ein Vorteil für die Vertriebenen und Flüchtlinge gewesen, wird jedoch auch widersprochen. Gerold Ambrosius unterstreicht, dass ein Drittel der Vertriebenen seine berufliche Stellung wechseln musste.357 Dieses abweichende Urteil ergibt sich auch daraus, dass Ambrosius die Vertriebenen teilweise unabhängig von den Flüchtlingen betrachtete und die Flüchtlinge generell besser ausgebildet waren. Letzteres war dadurch bedingt, dass die DDR sehr intensiv neue Fachkräfte ausbildete und auch die Zahl der Abschlüsse hoch war.358 Welche Rolle spielte die Ausbildung der Vertriebenen für die Industrie der Bundesrepublik? Die Zuwanderung spiegelt sich in den Leistungsgruppen wider. Ausgehend von der Einteilung in Facharbeiter (Leistungsgruppe I), angelernte Arbeiter (II) und Hilfsarbeiter (III) stieg der jeweilige Anteil an der Gesamtarbeiterschaft in der Leistungsgruppe II zwischen 1951 und 1962 von 25 auf 32 Prozent, während er in der Leistungsgruppe III von 17 auf zwölf Prozent zurückging. Bei der Leistungsgruppe I gab es kaum Veränderungen.359 Damit zeigt sich, dass es zwar zu Verschiebungen kam, diese jedoch nicht sehr umfangreich waren. Der Eindruck ändert sich zwar geringfügig, wenn man einzelne Branchen überprüft.360 Generell aber gilt: „Diese Ergebnisse hinsichtlich der Qualifikationsstruktur sollten nicht überbewertet werden, da Leistungsgruppen die Anforderungen eines Arbeitsplatzes und die Fähigkeiten von Arbeitern nur bedingt erfassen.“361 Es lässt sich somit zeigen, dass die Ausbildung der Vertriebenen jedenfalls nicht zu einem generellen Absinken des Qualifikationsniveaus der deutschen Ar355 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 294 f. 356 Christoph Buchheim, Introduction: German Industry in the Nazi Period, in: ders. (Hrsg.), German industry in the Nazi period (Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 174, 3), Stuttgart 2008, 11–26, hier S. 11; Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 293 f. 357 Ambrosius, Der Beitrag der Vertriebenen (wie Anm. 346, S. 253), S. 52. 358 Die Politik fehlinterpretierte jedoch den an sich wünschenswerten Zustand eines hohen Facharbeiterreservoirs und versäumte es zunächst, in das Bildungs- und Ausbildungssystem zu investieren. Die Vertreibung hatte also auch diesseits der Oder-Neiße-Grenze Konsequenzen, die zu folgenreichen Fehlinterpretationen führten; vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7, S. 17), S. 287. 359 Hellmut Körner, Der Zustrom von Arbeitskräften in die Bundesrepublik Deutschland 1950– 1972. Auswirkungen auf die Funktionsweise des Arbeitsmarktes (Schriftenreihe des Sozialökonomischen Seminars der Universität Hamburg, Bd. 3), Bern 1976, S. 251, 273. 360 Ambrosius, Der Beitrag der Vertriebenen (wie Anm. 346, S. 253), S. 53. 361 Ebd., S. 54. Dies widerspricht der Ansicht Lüttingers, der betont, dass 1971 45,5 Prozent der Vertriebenen als unqualifizierte Arbeiter tätig waren, jedoch 37,3 Prozent der Einheimischen; Lüttinger, Mythos der schnellen Integration (wie Anm. 353), S. 24.
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beiterschaft führte. Damit ist belegt, dass die Vertriebenen und noch deutlicher die Flüchtlinge nicht nur als manuelle Arbeiter, sondern in erster Linie als Wissensarbeiter beschäftigt wurden. Ambrosius: „Den wirtschaftshistorischen Hintergrund bildete ein Produktionsregime, das die Bedeutung von Arbeit im Wachstumsprozess begünstigte, in dem sich relativ viel Arbeit und relativ wenig Kapital hervorragend ergänzten. Der Produktionsfaktor Arbeit ging mit praktisch allen anderen wachstumsrelevanten Faktoren eine ideale Verbindung ein.“362 Dies war bei den Vertriebenen der Fall. Sie entstammten demselben Ausbildungssystem wie die „einheimischen“ Beschäftigten. Sie konnten mithin in das bestehende Wissensnetz eingebettet werden.363 Damit ist jedoch eine wichtige Frage noch offen geblieben. In dieser Arbeit wurde argumentiert, dass in Wissensnetzwerken das Netzwerkwissen eines Einzelnen das Element ist, dass es ihm erlaubt, effektiv mit anderen zu interagieren. Da es sich bei diesem Netzwerkwissen nicht nur um standardisiertes Ausbildungswissen, sondern auch um Erfahrungswissen handelt, ist die Beantwortung der Frage aufschlussreich, ob sie in bereits funktionierende Netzwerke integriert werden müssen und auf herkömmlichen Wege eingearbeitet werden, oder ob es möglich war, Produktionszusammenhänge zu schaffen, die überwiegend auf den Vertriebenen – und ihrem Wissen – basierten. Ein interessantes Beispiel für die Frage, welche Rolle die Vertriebenen beim Wiederaufbau spielten, ist Bayern. Auch in dieses Land, das den größten Teil der amerikanischen Besatzungszone ausmachte, strömten zahlreiche Vertriebene und Flüchtlinge. Bis 1947 waren bereits 1,8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in Bayern eingetroffen, ihre Zahl stieg bis 1950 nur noch unwesentlich auf 1,9 Millionen.364 Insgesamt wuchs die Bevölkerung Bayerns von 6,9 Millionen 1939 auf 9,1 Millionen 1950.365 Damit stand die süddeutsche Region vor demselben Problem, das sich angesichts der Bevölkerungsströme für das gesamte Gebiet der späteren BRD stellte. Materielle Bedürfnisse wie Nahrung und Wohnraum mussten unter den schwierigen Nachkriegsbedingungen für eine deutlich größere Bevölkerung bereitgestellt werden. Zudem besaß die Frage der Zukunft der Vertriebenen und Flüchtlinge soziale Sprengkraft, insbesondere innerhalb der Landwirtschaft.366 Die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit von 10,9 Prozent im Herbst 1950 – der Bundeswert lag bei 8,2 Prozent – war ebenfalls auf die hohe Zahl von Vertriebenen zurückzuführen.367 „Chronologisch und sachlich betrachtet, stellte sich in Bayern das Flüchtlingsproblem den Verantwortlichen im staatlichen und vorstaatlichen Raum zunächst als Frage der physischen Daseinssicherung und verstaatlichen Aufnahmekapazitäten.“ Bis Mitte der 50er Jahre entwickelten sich so in Bayern über 500 neue „Siedlungskörper“. Diese entstanden als Pendlersiedlungen in der Nähe größerer Städte, als 362 363 364 365 366 367
Ambrosius, Der Beitrag der Vertriebenen (wie Anm. 346, S. 253), S. 71. Vgl. Kouli, Grenzen des Archivs (wie Anm. 44, S. 36), S. 26. Grüner, Geplantes „Wirtschaftswunder“ (wie Anm. 288, S. 244), S. 122, 137. Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 134. Ebd., S. 138.
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Handwerkergemeinden oder auch durch die Niederlassung von Flüchtlingsindustrien.368 Die Strategie sah vor, dass die Vertriebenen in „Flüchtlingsbetrieben“, also in Betrieben, in denen ausschließlich Vertriebene und Flüchtlinge beschäftigt werden sollten, unterkommen.369 Dieser Bevölkerungszuwachs wurde durchaus als Chance begriffen. Ziel war es, die Entwicklung Bayerns hin zu einem Industrieland zu forcieren. Hanns Seidel, bayrischer Wirtschaftsminister, formulierte 1947, dass neben dem „Flüchtlingsausgleich“ die „Chance einer entsprechenden bevorzugenden Entwicklung von neuen Industriekapazitäten“ gekommen sei.370 Der Umgang mit den Ostdeutschen beinhaltete also „eine genuin ökonomische Motivation“.371 Beinahe Dreiviertel der Zugezogenen lebten im Oktober 1946 in Ortschaften mit weniger als 5.000 Einwohnern, in denen es zu Engpässen bei der Versorgung mit Nahrung und Wohnraum kam. Das bayrische Wirtschaftsministerium hielt trotzdem an der Strategie fest, durch Vertriebenenansiedlung Industrieansiedlung zu betreiben – in erster Linie mangels Alternativen.372 Die fast zwei Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge stellten zwar den Löwenanteil der hinzugekommenen Bevölkerung dar. Doch während die Bevölkerung um 32,2 Prozent wuchs, stieg die Zahl der Erwerbspersonen nur um 793.000 bzw. 21,2 Prozent.373 Der Rückgang der Erwerbsquote hatte teilweise statistische Gründe – auf dem Landwirtschaftsbetrieb arbeitende Familienangehörige wurden nun „beschäftigungslos“ –, war jedoch auch durch die agrarische Prägung der Ostregionen verursacht. Die Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen sank im Laufe der 50er Jahre mit dem steigenden Arbeitskräftebedarf. Dieser Befund war jedoch vor dem Hintergrund des zuvor erläuterten bundesweiten Trends zu erwarten. Bayern war freilich nach 1945 noch stark agrarisch geprägt. Daher ist die Frage interessant, ob von der Anwesenheit einer „Reservearmee“, die für die Industrie gut ausgebildet war, ein Impuls hin zu einer stärkeren Industrialisierung Bayerns ausging, ob sich also die Hoffnung Hanns Seidels bewahrheitet hat. In Bayern zeigte sich unter den Vertriebenen eine beachtliche berufliche Mobilität, die den sektoralen Strukturwandel erheblich beschleunigte. Während unter den Vertriebenen der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten bei beinahe 25 Prozent lag, waren 1950 in Bayern nur zwölf Prozent der Vertriebenen in der Landwirtschaft tätig. Die Zahl sank im folgenden Jahrfünft weiter auf acht Prozent. Im industriellen Sektor stieg der Anteil der Beschäftigten im selben Zeitraum von etwa 33 Prozent 1945 auf beinahe 50 Prozent. Es kam mithin auch in Bayern durch die Vertriebenen zu einer Stärkung des industriellen Sektors. Hinzu kam ein „indirekter“ Effekt: Die Vertriebenen füllten in der Industrie Arbeitsplätze aus 368 Ebd., S. 107 f. 369 Ebd., S. 122. 370 Stenographischer Bericht über die 37. Sitzung des Bayerischen Landtags am 28.11.1947, S. 262, zit. in: ebd., S. 120. 371 Ebd., S. 121. 372 Ebd., S. 123. 373 Ebd., S. 137.
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und ermöglichten so den einheimischen Beschäftigten eine Tätigkeit im tertiären Sektor.374 Zusätzlich kam es zu eigenen Betriebsgründungen seitens der Neubürger, auch wenn ihre Rolle gemessen an Beschäftigtenzahl und Umsatz mit fünf bis sechs Prozent marginal war.375 Rein agrarische Gründungen blieben hierbei – obwohl sie zunächst antizipiert wurden – Einzelfälle.376 In Bayern war die Wirkung der Vertriebenen und Flüchtlinge so groß, dass Grüner in seiner Darstellung darauf achten muss, ihre Wirkung nicht überzubewerten. Die „Prägewirkung der aufnehmenden Strukturen“ dürfe keineswegs unterschätzt werden.377 Dennoch ist Bayern ein schlagendes Beispiel dafür, dass eine große Zahl von Vertriebenen langfristig kein Wachstumshindernis darstellte, sondern vielmehr ein ökonomischer Glücksfall war. Die Tatsache, dass sie einem anderen Produktionszusammenhang bzw. anderen Netzwerken entstammten, stellte kein Hindernis dar. Im nächsten Beispiel wird dies noch deutlicher. Ein gleichermaßen aufschlussreiches Beispiel für die Rolle der Vertriebenen für die Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik ist das sog. „Modell Espelkamp“. Dass Mitte der 50er Jahre die Nachfrage nach Arbeitskräften hoch war und der Bevölkerungszustrom aus dem Osten diese Nachfrage befriedigen konnte, wurde bereits gezeigt. Bei der nordrhein-westfälischen Stadt Espelkamp handelt es sich um eine Industriestadt, die zwar nicht „auf der grünen Wiese“ entstand. Die dortige Wirtschaftsstruktur war jedoch „vorwiegend durch kleine und kleinste landwirtschaftliche Betriebe geprägt (. . . ) [und bot] den Zugewanderten nur wenig Arbeitsplätze“.378 „Baulicher Nukleus“ der ersten Industrieansiedlungen war eine Munitionsanstalt der Wehrmacht. Diese wurde gezielt an abgelegenen Orten errichtet, auch wenn die Verkehrsanbindung – Nähe zum Mittellandkanal, zu den Bahnstrecken Köln-Minden sowie nach Bremen und zur Autobahn Ruhrgebiet-Berlin – gut war.379 Die infrastrukturellen Voraussetzungen für einen industriellen Neuanfang waren daher zumindest nicht schlecht. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nordrhein-Westfalen insbesondere die alte Schwerindustrie beherbergte. Zusätzlich zogen es selbst schwer getroffene Unternehmen wie Thyssen oder Krupp vor, ihre alten Betriebe wieder aufzubauen anstatt an anderen Orten neue „Filialen“ aufzubauen.380 Unter diesen Umständen schien die Vorstellung, man könnte für die hohe Zahl der Vertriebe374 375 376 377 378
Grüner, Geplantes „Wirtschaftswunder“ (wie Anm. 288, S. 244), S. 140–142. Ebd., S. 143, 145. Ebd., S. 108. Ebd., S. 154. Hannelore Oberpenning, Das ,Modell Espelkamp’. Zur Geschichte der sozialen und kulturellen Eingliederung von Flüchtlingen, Vertriebenen und Aussiedlern, in: Jan Motte/Rainer Ohlinger/ Anne von Oswald (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main 1999, 31–55, hier S. 37. 379 Petra-Monika Jander, Wohlstand aus dem Nichts: Vom Flüchtlingslager zum High-TechStandort, in: Espelkamp. Gemeinsam auf neuen Wegen. Einblicke in fünf Jahrzehnte, Espelkamp 1998, 56–65, hier S. 56. 380 Ebd., S. 57.
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nen ausreichend Arbeitsplätze bereitstellen, mindestens äußerst optimistisch. Das führte auch zu Spannungen. Im Gemeindegebiet Espelkamp lebten Ende 1949 nur 2.400 Menschen, für die 500 Arbeitsplätze zur Verfügung standen. Es überrascht daher nicht, dass sich die Ablehnung gegenüber den Vertriebenen durch die einheimische Bevölkerung in Schimpfworten wie „Flüchtlingsschweine“, „Pollacken“, „Rucksackdeutsche“ oder „40-kg-Zigeuner“ entlud.381 Noch im Jahr 1962 kam es in Espelkamp zu einem Volksentscheid über die Frage, ob das Gemeinweisen in eine „Altgemeinde“ und eine „Vertriebenenstadt“ gespalten werden sollte. Allerdings sprachen sich bei einer Wahlbeteiligung von 54 Prozent mit 3890 gültigen Stimmen nur 234 für eine Trennung aus.382 In Nordrhein-Westfalen konzentrierte sich die Ost-Zuwanderung auf Ostwestfalen, wo die Dichte der Vertriebenen besonders hoch war.383 Dies geschah jedoch erst ab 1947, vorher war die Ansiedlung auf Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern beschränkt. Erst ab 1947 wurde in der am 1. Januar 1947 geschaffenen britisch-amerikanischen Bizone versucht, eine gleichmäßigere Verteilung der Vertriebenen und Flüchtlinge zu gewährleisten.384 Im Jahr 1950 lebten im Regierungsbezirk Detmold 290.000 Personen, sie hatten somit einen Bevölkerungsanteil von 19,4 Prozent, was deutlich oberhalb des landesweiten Durchschnitts von 12,1 Prozent lag. Im alten Kreis Lübbecke, dem Espelkamp angehörte, lag der Anteil der 13.000 Zugewanderten bei 16 Prozent.385 Ein möglichst rascher Erfolg bei der wirtschaftlichen Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen war also auch von gesellschaftspolitischer und sozialer Bedeutung. Der Versuch, große Unternehmen zur Errichtung von Zweigstellen zu bewegen, erwies sich jedoch als aussichtslos. Das Gelände der ehemaligen Munitionsanstalt der Wehrmacht, das 1938 im südlichen Teil der Altgemeinde Espelkamp in der Ortschaft Mittwald geschaffen wurde, konnte trotz 60 ha bebauter Fläche und 133 festen Gebäuden, unter denen sich Hallen von bis zu 3.000 Quadratmeter Grundfläche befanden, keine Großunternehmen locken. Daher blieb den Planern nur die Möglichkeit, kleine und mittlere Betriebe anzusiedeln. Der Planungsstab wurde 1949 vom Land sowie der Evangelischen Kirche beauftragt und suchte nach einer neuen Strategie, mit den kommenden Herausforderungen fertig zu werden, nachdem die erste nun gescheitert war. Hierbei setzte sich schließlich die Strategie der Schaf381 Björn Zech, Ankunft. Ablehnung und Hilfsbereitschaft, in: Dagmar Kift (Hrsg.), Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder; Ausstellungskatalog, Westfälisches Industriemuseum, Zeche Zollern II/IV in Dortmund, 18.9.2005–26.3.2006, Essen 2005, 44–83, hier S. 45. 382 Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 712), Lizenzausgabe, Bonn 2008, S. 116 f. 383 Oberpenning, Das ,Modell Espelkamp’ (wie Anm. 378), S. 37. 384 Dagmar Kift, Aufbau West in Nordrhein-Westfalen. Eine Industriegeschichte mit Flüchtlingen und Vertriebenen, in: dies. (Hrsg.), Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder; Ausstellungskatalog, Westfälisches Industriemuseum, Zeche Zollern II/IV in Dortmund, 18.9.2005–26.3.2006, Essen 2005, 12–21, hier S. 12. 385 Oberpenning, Von der Stadtgründung zum Industriestandort (wie Anm. 345, S. 253), S. 248.
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fung einer „Vertriebenensiedlung“ durch.386 Ein Mitglied des Planungsstabes war Max Ilgner. Das ehemalige Vorstandsmitglied der IG-Farben wurde 1948 durch das zweite internationale Militärtribunal von Nürnberg zu drei Jahren Haft verurteilt. Nachdem er vorzeitig noch im selben Jahr aus der Haft entlassen wurde, beauftragte ihn die Evangelische Kirche Deutschland mit dem Bau bzw. Ausbau Espelkamps zur Flüchtlingsstadt.387 Er sah hierin auch die Möglichkeit einer „moralischen Wiedergutmachung“. Schließlich musste er jedoch auf seine Mitwirkung verzichten, um die Unterstützung aus dem Marshall-Plan, die im Juni 1950 zugesagt wurde, nicht zu gefährden.388 Im Oktober 1949 beschlossen das Land NRW sowie das Evangelische Hilfswerk vertraglich die Gründung der Vertriebenensiedlung. Am 4. Oktober 1949 gründeten das Zentralbüro des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen in Deutschland, das Evangelische Hilfswerk Westfalen und das Land Nordrhein-Westfalen die „Aufbaugemeinschaft Espelkamp GmbH“ als Gesamtaufbauträger der geplanten Flüchtlings- und Vertriebenensiedlung.389 Innerhalb des folgenden Jahrzehnts lebten hier über 10.000 Menschen, von denen mehr als zwei Drittel Flüchtlinge oder Vertriebene waren, die überwiegend aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen stammten.390 Ohne hier die vollständige wirtschaftliche Entwicklung Espelkamps seit Kriegsende wiederzugeben – dies ist in den Aufsätzen von Oberpenning391 und Jander392 bereits erfolgreich unternommen worden – soll überprüft werden, inwieweit das Wissen der Vertriebenen für die Entwicklung Espelkamps von Bedeutung war. Moderne wissensbasierte Industrien wie die metallverarbeitende oder die Chemische Industrie anzusiedeln entsprach von vornherein der Strategie der Planer, wobei sie davon ausgingen, dass die Stadt etwa 5.000 Einwohner haben werde. Jedoch waren dies genau jene Branchen, die vor Ort nicht vorhanden waren.393 Der Erfolg war daher nicht garantiert, auch wenn die finanzielle Unterstützung auf allen Ebenen intensiv war. Der Erbbauzins für Industrie und Gewerbe betrug zwischen vier und fünf Pfennig pro Quadratmeter, was zehn Prozent des Marktzinses entsprach. Das Land NRW und die Aufbaugemeinschaft stellten Fördermittel bereit, Letztere zudem kostengünstig Räume und Grundstücke. Darüber hinaus gab es potenziell auch ein Bündel weiterer Kredite: die ERP- bzw. Marshall-Plan-Kredite, die 386 Zum Strategiestreit genauer vgl. Oberpenning, Von der Stadtgründung zum Industriestandort (wie Anm. 345, S. 253), S. 251. 387 Vgl. Max Ilgner (1899–1966), Wollheim Memorial, http://www.wollheim- memorial.de/de/ max_ilgner_18991966 (besucht am 25. 09. 2010). 388 Oberpenning, Von der Stadtgründung zum Industriestandort (wie Anm. 345, S. 253), S. 251; Jander, Wohlstand aus dem Nichts (wie Anm. 379, S. 258), S. 57. 389 Hannelore Oberpenning, Die Aufbaugemeinschaft Espelkamp: zur Geschichte einer besonderen Kooperation zwischen Staat und Kirche in Nordrhein-Westfalen, in: Espelkamp. Gemeinsam auf neuen Wegen. Einblicke in fünf Jahrzehnte, Espelkamp 1998, 30–40, hier S. 34. 390 Dies., Von der Stadtgründung zum Industriestandort (wie Anm. 345, S. 253), S. 255. 391 Ebd., S. 248–265. 392 Jander, Wohlstand aus dem Nichts (wie Anm. 379, S. 258), S. 56–65. 393 Ebd., S. 58.
4. „Dem Wissen auf der Spur“
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Grenzland-, Arbeitsplatz-, Flüchtlings- und Vertriebenenkredite.394 Auch wenn eine ausreichende Ausstattung mit Finanzmitteln immer nur als notwendige und nicht schon als hinreichende Bedingung für den Ausbau der Industrie betrachtet werden kann, stellten die Finanzen zumindest kein Hemmnis dar. Welche Industriezweige entstanden schließlich in Espelkamp? Eines der ersten Betriebe nahm im März 1950 mit 30 Mitarbeitern seine Tätigkeit auf. Es handelt sich hierbei um die EAH Naue KG. Erich Naue war promovierter Patentanwalt und gründete eine Rosshaarspinnerei, die Teile für die Autoindustrie – in erster Linie Latex-Formschaum und sog. Gummihaar – fertigte. Bis 1967 stieg die Zahl der Mitarbeiter auf 1100.395 Der Erfolg und der rasante Aufstieg dieses Unternehmens basierten zu einem großen Teil auf der Arbeit der Vertriebenen und Flüchtlinge. Sicherlich hatte Naue mit seiner unternehmerischen Idee der Neugründung einer Rosshaarspinnerei eine Marktlücke entdeckt. Es war jedoch möglich, diese Unternehmung unter „Nutzung“ der Vertriebenen und Flüchtlinge zu realisieren. Dies geschah in einem Industriezweig – der Textilindustrie – der in den deutschen Ostprovinzen einen hohen Anteil an der Industrieproduktion hatte. Es war den Vertriebenen also möglich, in einem Industriezweig, den man konnte bzw. in dem man die entsprechenden Fähigkeiten besaß, unter Bereitstellung der entsprechenden materiellen Ressourcen einen Entwicklungspfad wieder aufzunehmen. Ein anderes Beispiel ist die Firma Aumann. In diesem Fall wurde tatsächlich teilweise das Grundstück der ehemaligen Munitionsanstalt der Wehrmacht genutzt. Peter Aumann, dessen Vater die Firma bereits 1936 in Berlin gründete, kehrte nach seiner Kriegsgefangenschaft in das Zweigwerk in Löhne zurück. Die Stammwerke in Ostberlin und Oranienbaum waren praktisch verloren, und das Werk in Löhne zumindest vom Krieg stark getroffen. Aumann entschied sich daher dafür, die Firma, die Spezialmaschinen für Wickeltechnik produzierte, in das nahelegene Espelkamp zu verlagern. Hierfür erhielt er finanzielle Unterstützung – eine Landesbürgschaft von 200.000 DM sowie das Erbbaurecht über das Firmengelände für 0,05 DM je Quadratmeter. Die Firma hatte zu Beginn 100 Mitarbeiter und wurde weltweit auf dem Gebiet der Wickeltechnik erfolgreich.396 Jander geht davon aus, dass es sich bei beiden bisher genannten Beispielen um durch Flucht verlorene Produktionsstätten handelte, die von Unternehmern wieder aufgebaut wurden.397 Stimmt ihre These, was an dieser Stelle nur axiomatisch gesetzt werden kann, war es Unternehmern möglich, auf der Grundlage ihrer Erfahrung und unter Heranziehung des zu 70 Prozent aus Vertriebenen und Flüchtlingen bestehenden Arbeitskräftepotenzials ein Werk wieder aufzubauen, ohne dass es etwa im Vorhinein „abgebaut“ wurde. Der Wiederaufbau gelang allein auf der Grundlage des Wissens über diesen Betrieb. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass das Ausbildungsniveau der Vertriebenen und Flüchtlinge – Facharbeiter, Hilfsarbeiter, Ungelernte – zwar allein nicht ausreichend war. Dass das lokale Arbeitskräftepotenzial aber zu mehr als zwei Dritteln 394 395 396 397
Ebd. Ebd., S. 58 f. Ebd., S. 59. Ebd., S. 61.
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V. . . . mit „neuen“ Beschäftigten
aus Vertriebenen und Flüchtlingen bestand und dass sich diese nicht als eine Bürde, sondern als ein wichtiges wirtschaftliches Reservoir erwiesen, entspricht den Erwartungen, die sich aus den das Wirtschaftswachstum stützenden Effekten ergeben.398 Die Entwicklung lässt sich jedoch nicht allein dadurch erklären, dass der „Arbeitsmarkt (. . . ) willige und billige Arbeitskräfte in scheinbar unbegrenzter Zahl“ bot399 , sondern dadurch, dass in hoher Zahl Fachkräfte zur Verfügung standen. Am 1. September 1950 siedelte Wilhelm Harting mit seinem Werk für Elektrotechnik und Mechanik vom ostwestfälischen Minden nach Espelkamp. In dem Werk, das nach 1954 auch Musikboxen und ab 1959 elektrische Zigarettenautomaten herstellte, arbeiteten 1959 820 Mitarbeiter. Weitere Firmen waren die Robert Krause GmbH & Co. KG, die sich auf Ringbuchmechaniken spezialisierte, sowie die Firma Planmöbel Eggersmann GmbH & Co. KG. Im ersten Fall handelte es sich um die Schaffung einer Zweigstelle in Espelkamp, im letzteren um eine Verlagerung aus dem nahegelegenen Bünde.400 Espelkamp konnte mithin in verschiedenen Branchen Fuß fassen. Die Branchengliederung von Espelkamp-Mittwald von 1958 bestätigt diesen Eindruck.401 Der größte Teil der Betriebe gehörte zur Branche der mechanischen und eisenverarbeitenden Industrie, gefolgt von der Chemischen und Kunststoffindustrie sowie der Holz- und Papierindustrie.402 Berücksichtigt man den langfristigen Erfolg der Espelkamper Industrien, erscheint die Darstellung, Espelkamp habe sich vom „Flüchtlingslager zum High-Tech-Standort“ entwickelt, nicht überzogen.403 Mindestens in Espelkamp ist mithin zu beobachten, dass ein Arbeitskräftepotenzial, das weit überwiegend aus Vertriebenen und Flüchtlingen bestand – und nicht „nur“ zu etwa einem Viertel, wie es 1960 dem bundesweiten Durchschnitt entsprach404 –, in wissensbasierten Industrien erfolgreich war. Nicht ein vorhandener Produktionszusammenhang schuf die Nachfrage nach Arbeitskräften, sondern ein vorhandenes spezifisches Arbeitskräfteangebot schuf die Nachfrage nach materiellem Kapital, und es kam zur Schaffung entsprechender Betriebe. Die Befunde dieses Kapitels beziehen sich nicht ausschließlich auf die ehemals in Niederschlesien Beschäftigten, sondern betreffen den Gesamtkomplex der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die spätere BRD. Das mindert jedoch nicht ihre Aussagekraft. Aus demselben Ausbildungssystem stammend, fiel es diesen Migranten verhältnismäßig leicht, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Der „Wissensverlust“ in den ehemaligen deutschen Ostprovinzen erwies sich aus ökonomischer Sicht als „Wissensgewinn“ für Westdeutschland. Es handelt sich um zwei Seiten derselben Medaille. 398 399 400 401
Wehler, Bundesrepublik und DDR (wie Anm. 62, S. 41), S. 36. Jander, Wohlstand aus dem Nichts (wie Anm. 379, S. 258), S. 61. Ebd., S. 60. Vgl. Oberpenning, Von der Stadtgründung zum Industriestandort (wie Anm. 345, S. 253), S. 263. 402 Ebd., S. 262. 403 Jander, Wohlstand aus dem Nichts (wie Anm. 379, S. 258), S. 56. 404 Wehler, Bundesrepublik und DDR (wie Anm. 62, S. 41), S. 35.
VI. „WISSEN UND NACH-INDUSTRIELLE PRODUKTION“: ERGEBNISSE DIESER UNTERSUCHUNG 1. NEUINTERPRETATION DER INDUSTRIELLEN NACHKRIEGSENTWICKLUNG NIEDERSCHLESIENS In der geschichtswissenschaftlichen Forschung kommt es häufig vor, dass scheinbar gelöste oder in diesem Umfang bisher nicht wahrgenommene Probleme durch neue Herangehensweisen in einem anderen Licht erschienen. Die wirtschaftliche Nachkriegsentwicklung Niederschlesiens sowohl vor als auch nach 1945 könnte ein Beispiel dafür sein. Tatsächlich existieren in diesem Fall in der deutschen und polnischen wirtschaftshistorischen Forschung bezüglich der Ausgangsbedingungen Niederschlesiens zwei Annahmen nebeneinander, die sich zwar nicht widersprechen, gleichwohl aber das industrielle Potenzial der Ostprovinz sehr verschieden beurteilen. Die vorliegende Untersuchung konnte hier in einigen Bereichen mehr Klarheit schaffen und zeigen, dass das Produktionspotenzial Niederschlesiens in der Tendenz eher unterschätzt worden ist. Zwischen 1936 und Kriegsende wuchs das Produktionspotenzial um rund 50 Prozent, die Kriegszerstörungen waren gering. Einzig die Demontagen können als bedeutsam eingestuft werden, wobei berücksichtigt werden muss, dass sie im Herbst 1945 ihren Höhepunkt bereits überschritten hatten. Auch die vereinzelt anzutreffende Darstellung, Niederschlesien sei eine „verlängerte Werkbank“ sowie agrarisches Hinterland des Deutschen Reiches gewesen, konnte widerlegt werden. In Ermangelung quantitativer Untersuchungen ließ sich die Historiographie stark von subjektiven Berichten beeinflussen – ein Phänomen, das keineswegs auf Polen begrenzt war. Arbeiten, die das Produktionspotenzial der übrigen ehemaligen deutschen Ostprovinzen genauer untersuchen, sind wünschenswert, denn es spricht Einiges dafür, dass die Neuen Gebiete ein höheres Produktionspotenzial hatten als die Alten. Die Tatsache, dass 1938 die Stromproduktion der Neuen Gebiete höher war als die der Alten Gebiete Polens, deutet sehr stark in diese Richtung. Kann nun im Falle Niederschlesiens von einer gescheiterten Rekonstruktion gesprochen werden? Die materiellen Rahmenbedingungen waren in Niederschlesien erheblich besser, als die Rekonstruktionsthese es verlangt. Doch betrachtet man die Nachkriegsentwicklung der niederschlesischen Industrie, zeigt sich, dass diese Region von den europäischen „Wirtschaftswundern“ nahezu vollständig abgekoppelt war. Dass die dortige Industrieproduktion nach mehr als zehn Jahren nach Kriegsende teilweise noch gegenüber dem Niveau von 1936 zurückstand, macht dies mehr als deutlich. Und auch die hohe Zahl nicht laufender Industriebetriebe spricht für sich. Unabhängig von der Frage nach der Bedeutung des fehlenden Wissens in diesem Prozess kann somit am Scheitern der Rekonstruktion kaum ein Zweifel bestehen. Dieser Effekt wurde bisher nicht in dieser Form diagnostiziert.
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VI. „Wissen und nach-industrielle Produktion“: Ergebnisse dieser Untersuchung
In Niederschlesien blieb der Rekonstruktionseffekt somit überwiegend aus. Ein Vergleich mit anderen kommunistischen Staaten zeigt, dass es damit eine Ausnahme bildet. Die UdSSR wurde nach Kriegsende bis in die 60er Jahre hinein von einem starken Rekonstruktionseffekt „getragen“.1 Auf die DDR, der es zumindest gelang, die vorhandenen Produktionsreserven wieder zu reaktivieren, wurde bereits verwiesen. In einem 2010 erschienen Aufsatz zeigt Tamás Vonyó, dass es auch in Ungarn zu einem Rekonstruktionseffekt kam. Dieser habe zu hohen Wachstumsraten geführt, bis 1967 die Rückkehr zum langfristigen Wachstumspfad vollzogen worden sei.2 Die Fehlinterpretation der hohen Wachstumsraten in den 50er und 60er Jahren führte für die Folgezeit zu überhöhten Erwartungen. Zusätzlich konstatiert Vonyó einen Rückgang bei der Investition in das Humankapital, d. h. die Ausbildung der Bevölkerung, was das Wachstum in den 70er und 80er Jahren ebenfalls gebremst hätte. Das kommunistische Wirtschaftssystem spielt bei ihm – und an dieser Stelle geht Vonyó möglicherweise zu weit – keine Rolle. Umgekehrt zeigten sich im Fall des Sudetenlandes beachtliche Parallelen zu Niederschlesien. Die Ausgangslage ist zunächst vergleichbar. Ähnlich wie in den polnischen Nord- und Westgebieten wurde nach Kriegsende eine ethnische Säuberung durchgeführt, die dazu führte, dass freigewordene Stellen wieder neu besetzt werden mussten, und hier wie dort waren die Kriegszerstörungen gering. Der grundlegende Unterschied ist zwar, dass das Sudetenland, sieht man von dem Zeitraum vom Münchner Abkommen bis Kriegsende ab, schon in der Zwischenkriegszeit Bestandteil der Tschechoslowakei war. Unabhängig davon lebten in diesem Gebiet etwa 2,4 Millionen Deutsche.3 Der Autor stellt auch hier fest, dass die Produktion in dieser Region zwischen 1945 und 1948 deutlich unterhalb des Standes von 1937 verblieb. Ohne empirisch bestimmen zu können, wie dieser Faktor zu bemessen ist, kommt er jedoch zum klaren Ergebnis, dass der Verlust der erfahrenen Arbeiterschaft hier eine große Rolle spielte. „That these exports (gemeint sind die Exportprodukte der Zwischenkriegszeit, Y. K.) survived at all was thanks in large part to the Sudeten Germans who remained behind and to those Czechs in the borderlands who supported them.“4 Die genannten Beispiele zeigen, dass die Einordnung der Nachkriegsentwicklung der zentral- und osteuropäischen Volkswirtschaften in den „Wirtschaftswunderkontext“ trotz der Tatsache, dass es sich meist um Zentralverwaltungswirtschaften handelte, Erkenntnispotenzial besitzt. Sie können helfen, die These von Horwich zu testen, die sehr stark an Hippokrates von Kos’ vix medicatrix naturae erinnert: „Destroy any amount of physical capital, but leave behind a critical number of knowledgeable human beings whose brains still house the culture and techno1 Mark Harrison, The Soviet Union after 1945: Economic Recovery and Political Repression, in: Mark Mazower/Jessica Reinisch/David Feldman (Hrsg.), Post-war reconstruction in Europe. International perspectives, 1945–1949 (Supplement), Oxford und New York 2011, 103–120, hier S. 103 ff. 2 Vonyó, Hungarian Economic Growth (wie Anm. 86, S. 48), S. 284, 295. 3 Gerlach, For Nation and Gain (wie Anm. 86, S. 48), S. 59. 4 Ebd., S. 294–300.
1. Neuinterpretation der industriellen Nachkriegsentwicklung Niederschlesiens
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logy of a dynamic economy, and the physical capital will tend to reemerge almost spontaneously.“5 Ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchung betrifft zwar ebenfalls die Wirtschaft Niederschlesiens, hat jedoch das Potenzial, ein ganz Polen betreffendes Phänomen besser zu verstehen. Es umfasst die Folgen des Sechsjahresplans. Er steht unter anderem in dem Ruf, durch eine einseitige Allokation der Ressourcen zu leeren Regalen geführt zu haben. Die These der einseitigen Unterstützung der Schwerindustrie, welche die Herstellung von Konsumgütern benachteiligt haben soll, wurde zumindest für Niederschlesien bereits relativiert. Und die Verteilung der Beschäftigten in Niederschlesien auf die verschiedenen Industriezweige lässt ebenfalls keine Konzentration auf die Rüstungsindustrie erkennen. Vielmehr wuchsen – gemessen am Anteil der industriellen Gesamtproduktion – dort mit der Lebensmittel- sowie den Textil- und Bekleidungsindustrien genau die Zweige, die laut Wirtschaftsplan zunächst bescheidener wachsen sollten. Auch die Behauptung, es habe eine einseitige vorsätzliche Benachteiligung der kleinen und mittleren Betriebe gegeben, lässt sich nicht belegen. Die Annahme, die Waffenproduktion habe in hohem Maße Ressourcen gebunden, birgt ebenfalls Widersprüche. Tatsächlich gab es nach 1953 einen spürbaren Rückgang bei der Waffenproduktion. Und schließlich zeigen die Quellen, dass das Problem der Ingangsetzung der polnischen kleinen und mittleren Betriebe von den Wirtschaftsplanungsbehörden erkannt und – wenn auch schließlich erfolglos – bekämpft werden sollte. Damit sind die meisten mit dem Sechsjahresplan verbundenen Stereotypen wenn nicht widerlegt, so doch infrage gestellt. Chumi´nski hebt dazu hervor, dass die Regale nicht leer waren, sondern es durchaus ein Angebot verschiedener Produkte gegeben habe. Diese seien jedoch von sehr schlechter Qualität gewesen: „In den Geschäften standen Hunderttausende von Kleidungsstücken und Konsumartikeln, die trotz gigantischen Mangels auf dem Markt wegen der fatalen Ausführung bei der Produktion niemand kaufen wollte.“6 Sollten die Produktionsprobleme in der niederschlesischen Industrie in den übrigen Neuen Gebieten und in der Landwirtschaft ähnlich gelagert sein, würde sich eine andere Interpretation aufdrängen: Der Sechsjahresplan scheiterte nicht nur an Ressourcen oder an falschen Prioritäten, sondern auch an der unzureichenden Nutzung vorhandenen Produktionspotenzials. Ob sich die Argumentationstriade „Einfluss der UdSSR – Kommunismus und Fehlallokation – Kriegszerstörungen“ wissenschaftlich noch lange halten lässt, bleibt somit abzuwarten. Es spricht wenig dafür.
5 George Horwich, Economic Lessons of the Kobe Earthquake, in: Economic Development and Cultural Change 48.3 (2000), 521–542, hier S. 522 f. 6 „W magazynach zalegały setki tysi˛ecy sztuk odziez˙ y i artykułów uz˙ ytkownych, których nikt, mimo gigantycznych braków na rynku, ze wzgl˛edu na fatalne wykonanie nie chciał kupi´c“; Chumi´nski, Niewykorzystana Szansa (wie Anm. 62, S. 128), S. 326.
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VI. „Wissen und nach-industrielle Produktion“: Ergebnisse dieser Untersuchung
2. MOTIVE UND FOLGEN DER VERTREIBUNG Im Rahmen dieser Untersuchung konnten auch offene Fragen zur Vertreibungspolitik gegenüber der deutschen Bevölkerung geklärt werden. Obwohl das Verhältnis zwischen der deutschen und der polnischen Bevölkerung unmittelbar nach Kriegsende schlecht war, betrieben viele Firmen einen bemerkenswerten Aufwand, um ihre Aussiedlung zu verhindern. Zwar spielte nicht immer deren Wissen eine prominente Rolle. Vielmehr waren die deutschen Beschäftigten aus Sicht der Warschauer Behörden zunächst in erster Linie ein notwendiges Übel, um die Zeit bis zur Ankunft der polnischen Siedler zu überbrücken. Sie wurden vor Ort in sämtlichen Bereichen eingesetzt, häufig zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur – Wasserwerke, Nahverkehr – sowie als Erntehelfer. Arbeitskräfteknappheit war zu Beginn ein wichtiges Motiv der Zentralbehörden, wenn die Ausweisung verzögert wurde. Darüber hinaus spielten sicherlich die verschiedensten Argumente – etwa die im Vergleich zu polnischen Beschäftigten geringere Entlohnung – eine Rolle. Der früh erkennbare Fokus auf die Industriearbeiter jedoch, der sich immer stärker herauskristallisierte, belegt, wie tief die Löcher waren, die der Verlust der deutschen Industriebeschäftigten riss. Dieser Lernprozess hatte Rückwirkungen auf die Vertreibungspolitik. Dieser Befund ist nicht allein auf Niederschlesien beschränkt. Er lässt sich gleichermaßen für die ehemaligen ostpolnischen Gebiete belegen, wo bereits Mitte 1946 die Polen – trotz einer europaweiten Tendenz zu ethnisch homogenen Staaten – zum Bleiben gezwungen wurden. Und auch im Sudetenland konnte diese Beobachtung gemacht werden, wobei hervorgehoben werden muss, dass in der Tschechoslowakei die Zentralbehörden dem Gedanken einer längerfristigen Bindung der Deutschen weit offener gegenüberstanden. Betrachteten die polnischen Zentralbehörden die deutschen Arbeitskräfte anfangs als ersetzbar, wurde spätestens Anfang der 50er Jahre klar, dass die polnische Verwaltung auf allen Ebenen diese Illusion nicht mehr aufrechterhalten konnte. Dieser Wandel beim Umgang mit den Deutschen, die faktisch eine beträchtliche Verstärkung der Bemühungen um sie bedeutete, erklärt sich allein hieraus: Die deutschen Arbeitskräfte ließen sich nicht gleichwertig substituieren, weil die Hoffnung der erfolgreichen Einarbeitung polnischer Beschäftigter auf falschen Annahmen beruhte, und diese Erkenntnis wirkte sich entscheidend auf die Minderheitenpolitik Polens aus. Die Übertragung des Wissens von deutschen Beschäftigten auf polnische Arbeiter scheiterte. Somit wurde die Bindung der Deutschen für eine weitere Fortsetzung der Betriebe als notwendig betrachtet. Erschwerend kam hinzu, dass die Ausbildung neuer qualifizierter Arbeitskräfte ebenfalls nicht die erwünschten Resultate brachte. Damit war die Tatsache verbunden, dass auch das universitäre Ausbildungssystem erst neu entwickelt werden musste und die Nachfrage nach Fachkräften nicht decken konnte.7 Ein mit dem deutschen Dualen Ausbildungssystem vergleichbare Struktur von betrieblicher Ausbildung und praktischer Lehre exis7 Vgl. Popi´nski, Rola edukacji (wie Anm. 189, S. 223), S. 235 ff.
2. Motive und Folgen der Vertreibung
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tierte in Polen nur in bescheidenen Ansätzen, und es wurden zu wenig Fachkräfte ausgebildet. Die Untersuchung der Vertreibung in den Neuen Gebieten Polens aus wirtschaftshistorischer Perspektive hat damit einen Widerspruch in der Forschung auflösen können. Die sog. „Zäsur des Jahres 1950“, bisher meist allgemein durch völkerrechtliche Verträge begründet, hatte vielmehr ökonomische Gründe. Sie resultierten daraus, dass das Anlernen neuer Fachkräfte in den Neuen Gebieten nicht gelang und somit Methoden entwickelt wurden, die noch verfügbaren Wissensträger so effektiv wie möglich zu binden. Dass wirtschaftliche Gründe mithin gesellschaftspolitische „überwanden“, ist bereits an sich bemerkenswert. Der überraschende Meinungsumschwung bei der Frage der Vertreibung der Deutschen lässt darauf schließen, dass das Ersetzen von Arbeitskräften an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die nicht nur ökonomischer Natur sind. Inwieweit hierbei die schwer belasteten Beziehungen zwischen Deutschen und Polen diesen Prozess verhinderten, ist offen. Trotzdem zeigt sich an dieser Stelle, dass die latente Deutschenfeindlichkeit auf lokaler Ebene verschiedene Facetten hatte und sich hieraus nicht ohne Weiteres ableiten lässt, dass ein Zusammenleben immer unmöglich war. Hieraus sollte jedoch nicht das Gegenteil abgeleitet werden. Ob sich durch Verzicht auf die Vertreibung der deutschen Bevölkerung die wirtschaftlichen Probleme in Niederschlesien hätten verhindern lassen, muss offen bleiben. Dass produktionsrelevantes Wissen im Zentrum dieser Untersuchung stand, bedeutet nicht, dass das Zerbrechen von Handelsnetzen oder eine problematische Allokation von Ressourcen nicht ebenfalls fatale Auswirkungen hätte haben können. Ein Blick auf die DDR, die mit enormen Demontagen und ähnlich wie Niederschlesien mit einem Verlust zahlreicher Handelskontakte kämpfen musste, wirft jedoch die Frage auf, wie stark sich diese Faktoren bei einer Kontinuität der Belegschaften tatsächlich ausgewirkt hätte. Das Ziel der Arbeit beschränkt sich darauf, einen Zusammenhang zwischen dem Scheitern der Rekonstruktion in Niederschlesien sowie dem Verlust der Wissensträger zu belegen. Diesen Faktor zu quantifizieren konnte in diesem Zusammenhang nicht gelingen und wurde auch nicht angestrebt. Für Niederschlesien jedenfalls gilt: Die „Substitution des Wissens“ scheiterte, ebenso die Neuschaffung von in einem Komplementärverhältnis stehenden Belegschaften, die die vorhandenen Produktionsmittel nutzen konnten. Auf der anderen Seite spielten die Vertriebenen eine wichtige Rolle für das wirtschaftliche Wachstum der Bundesrepublik. Obwohl 1960 beinahe ein Viertel aller in Westdeutschland lebenden Deutschen Vertriebene oder Flüchtlinge waren, stellten sie keinen „Hemmschuh“, sondern vielmehr einen Katalysator für das wirtschaftliche Wachstum dar. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung. Während in Niederschlesien das Wachstum durch das Fehlen der komplementären Arbeitskräfte unterbunden wurde, obwohl Produktionsmittel vorhanden waren, passierte im ostwestfälischen Espelkamp das genaue Gegenteil: Bei einem hohen Angebot von ausgebildeten Arbeitskräften kam es trotz zunächst fehlender Produktionsmittel zu einem beträchtlichen Wirtschaftswachstum. Der Wachstumsimpuls ging nicht von
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VI. „Wissen und nach-industrielle Produktion“: Ergebnisse dieser Untersuchung
einem hohen Angebot an – materiellen – Produktionsmitteln aus, sondern von einem hohen Angebot an ausgebildeten Arbeitskräften. Vergleichbares gilt für Bayern, wobei dort sicherlich stärker als in Espelkamp die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung gegeben waren. Diese Erkenntnisse bedeuten in ihrer Konsequenz eine deutliche Aufwertung der Bedeutung der Träger von produktionsrelevantem Wissen im Untersuchungszeitraum. Die Arbeitskräfte, die hierüber verfügten, waren nicht nur wichtig zur erfolgreichen Implementierung von Innovationen. Selbst die Aufrechterhaltung bzw. Wiederaufnahme von industrieller Produktion kann in hohem Maße von über das entsprechende Wissen verfügenden Arbeitskräften abhängen. Wenn von ihnen in der BRD zusätzlich ein Wachstumsimpuls ausging, deutet dies sehr klar darauf hin, dass sie die „unersetzbare Ressource nach-industrieller Produktion“ sind. Dies galt bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts. 3. WISSEN, WISSENSARBEIT UND NACH-INDUSTRIELLE PRODUKTION Zu Beginn dieser Arbeit wurde produktionsrelevantes Wissen in die Kategorien „Ausbildungswissen“, „tacit knowledge“ sowie „Wissensnetzwerke“ aufgeschlüsselt mit dem Ziel, die theoretische Frage der materiellen Speicherbarkeit von Wissen beantworten zu können. Darüber hinaus hat sich diese Differenzierung nur als bedingt hilfreich für die Untersuchung der Frage der Bedeutung produktionsrelevanten Wissens erwiesen. Welche dieser Wissenskategorien die entscheidende war, die Niederschlesien „fehlte“, lässt sich nicht beantworten. Das Scheitern der Wiederaufnahme bestimmter Produktionslinien oder das Phänomen, dass die sinnvolle Nutzung von Betrieben am einfachsten Wissen über sie scheiterte, kann zwar auf das Fehlen des komplementären, produktionsrelevanten Wissens zurückgeführt werden. Jedoch kann nicht herausgefiltert werden, ob nun Ausbildungs-, Erfahrungs- oder Netzwerkwissen das entscheidende Element war. Angesichts der Tatsache, dass häufig die vollständige Belegschaft ausgetauscht wurde, muss allerdings offenbleiben, ob das überhaupt möglich ist. Darüber hinaus betrifft dies einen Fragekomplex, der die Forschung bis heute beschäftigt. Die These der „Ehe“ von Wissenschaft und Wirtschaft stellt schriftlich niedergelegtes „Ausbildungswissen“ ins Zentrum. Und über die Bedeutung eingespielter Belegschaften, die zusammen ein Wissensnetzwerk darstellen, wurde ebenfalls häufig geschrieben. Im einzelnen Fall jedoch zu ermitteln, welche Art des Wissens fehlte, greift möglicherweise zu kurz, weil diese Frage die Annahme voraussetzt, diese Identifikation der jeweils fehlenden Wissensart sei im Bereich des Möglichen. Tatsächlich lassen sich bei Niederschlesien für alle drei Fälle Argumente finden. Dass im polnischen Niederschlesien ausgebildete Fachkräfte fehlten – unter anderem wegen der geringen Zahl neu ausgebildeter Fachkräfte –, konnte gezeigt werden. Auch daher scheint evident, dass der Grund für das Zurückhalten der deutschen Beschäftigten die Fachausbildung war. Spätestens 1948 gerieten von den verbliebenen Deutschen diejenigen in den Fokus der Zentralbehörden, die in der Industrie tätig waren – genau dort, wo Nieder-
3. Wissen, Wissensarbeit und nach-industrielle Produktion
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schlesien als Land auf dem Sprung in die nach-industrielle, stärker wissensbasierte Industrieproduktion war. Polen konnten die freigewordenen Plätze häufig nicht gleichwertig ausfüllen, sie waren schon zu stark wissensbasiert. Die Tatsache, dass sich dies für Niederschlesien belegen lässt, widerspricht der Annahme, Wissensarbeiter müssen mindestens Meister, wenn nicht sogar Akademiker sein. Auf Grundlage dieser Arbeit – weitere Studien müssten das noch untersuchen – ist es daher berechtigt, schon bei Angelernten von Wissensarbeitern zu sprechen. Jedenfalls war Wissensarbeit nicht auf die Spitzenkräfte begrenzt, sondern umfasste größere Teile der Belegschaft. Die Folgen für die Industrieproduktion Niederschlesiens waren hierbei mehr als augenfällig. Diese Erkenntnis könnte – Gewissheit ist an dieser Stelle nicht möglich – darauf hindeuten, dass Erfahrungswissen die entscheidende Komponente für Wissensarbeit ist. Komplexer zu beantworten ist, welche Bedeutung die „tacit knowledge“ hatte. Hier sind die Ergebnisse widersprüchlich. Wenn auf polnischer Seite bereut wurde, die Deutschen ausgesiedelt zu haben, die zur Kategorie III – Un- oder Angelernte – gehörten, spricht das dafür, dass diese Arbeiter allein aufgrund ihrer Erfahrung, und obwohl sie keine Ausbildung durchlaufen haben, geschätzt waren. Dass diese nach Flucht und Vertreibung in die BRD beruflich rasch integriert wurden, obwohl ihre Erfahrung im neuen Betriebszusammenhang zunächst entwertet wurde, relativiert die Bedeutung von Erfahrungswissen. Die Untersuchung liefert mithin Argumente sowohl für als auch gegen die Aufwertung von Erfahrungswissen. Der Technikhistoriker Joachim Radkau betont hingegen die Bedeutung von Erfahrungswissen und argumentiert, dass die wissenschaftliche Theorie im 20. Jahrhundert häufig überschätzt worden sei. Erfahrungswissen habe sich in der Technikgeschichte als die weit einflussreichere Basis erwiesen. Auf dieser Grundlage seien verschiedene Erfindungen sukzessive überarbeitet und verbessert worden.8 Analog verhält es sich mit den Wissensnetzwerken. Der Nutzen eingespielter Belegschaften ist bekannt. Doch auch hier hatte die Auflösung der Wissensnetzwerke in Niederschlesien für die einzelnen Beschäftigten nicht die Konsequenz, dass sie sich in Westdeutschland nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder in einem neuen Produktionszusammenhang einfinden konnten. Die „spezifische Netzwerkfähigkeit“, d. h. die Fähigkeit, in einem Produktionszusammenhang zu agieren, der sich zu den eigenen Fähigkeiten komplementär verhält und dessen anerkannte, allgemeingültige Standards den eigenen entsprechen, hat also nicht zur Folge, dass die Beschäftigten an einen Produktionszusammenhang gebunden sind. Innerhalb desselben Produktionsregimes besteht somit auch aus ökonomischer Sicht „Freizügigkeit“. Die Netzwerkfähigkeit unterband jedoch gleichzeitig eine erfolgreiche Zusammenarbeit deutscher und polnischer Beschäftigter. Die Einarbeitung der polnischen Beschäftigten durch die Deutschen gelang nicht, und die betrieblichen Wissensnetzwerke, die eine Produktion gewährleisten, entstanden auch mehrere Jahre nach Kriegsende nicht. Es muss noch untersucht werden, wie genau die Nachkriegsentwicklung einzelner Betriebe aussah. 8 Vgl. Radkau, Technik (wie Anm. 110, S. 72), S. 57–61.
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VI. „Wissen und nach-industrielle Produktion“: Ergebnisse dieser Untersuchung
Somit sind in diesem Zusammenhang noch einige Fragen offen. Eine Mikrostudie, die sich auf auf betrieblicher Ebene mit einem niederschlesischen Betrieb beschäftigt, wird sicherlich hilfreich sein, wenn weiter die Frage verfolgt werden soll, welche Art von Wissen tatsächlich die entscheidende fehlende Komponente war, die schließlich die Produktionsprobleme verursachte. Zweifellos hätte diese Arbeit davon profitiert, wenn durch einen „Blick in den Betrieb“ die Probleme bei der Einarbeitung der Polen durch die deutschen Beschäftigten hätten herausgearbeitet werden können. Angesichts der Quellensituation wäre dies jedoch mit einem so erheblichen Aufwand verbunden gewesen, dass er im Rahmen dieser Studie nicht bewältigt werden konnte. Mit dieser Untersuchung wurde jedoch das Fundament für weiterführende Analysen gelegt, und sie ermöglicht, entsprechende – möglicherweise unternehmenshistorische – Arbeiten in einen entsprechenden Kontext einzubetten. Eine solche Arbeit könnte konsequenter verschiedene Wissenskategorien – Deutsche als einfache Arbeitskräfte, als Facharbeiter und als Spezialisten – differenzieren und an einem Einzelbeispiel Schattierungen bei der Frage der jeweiligen Ersetzbarkeit herausarbeiten.9 Jedenfalls zeigen die Quellen des PUR von Anfang der 1950er Jahre, dass das Wissen von Beschäftigten selbst dann, wenn es sich „nur“ um Angelernte handelt, entscheidende Grundlage für die Aufrechterhaltung der industriellen Produktion ist. Hierbei wurde deutlich, dass den Betriebsbelegschaften in Niederschlesien schon Mitte des 20. Jahrhunderts eine sehr hohe Bedeutung zukam. Sie betrieben Wissensarbeit, und als solche waren sie eine unersetzbare Ressource nach-industrieller Produktion. 4. DIE SPÄTFOLGEN DER VERTREIBUNG Anhand der Entwicklung der Industrie Niederschlesiens nach 1945 konnte gezeigt werden, wie stark schon Mitte des 19. Jahrhunderts die Abhängigkeit von Wissen war, wenn die Industrieproduktion aufrecht erhalten werden sollte. Es gelang dort nicht, die in hohem Maß vorhandenen Produktionsmittel zu nutzen. Während es in der BRD ein starkes Wachstum und eine Rückkehr zum langfristigen Wachstumspfad gab und es in der DDR zumindest gelang, „die nach dem Krieg zunächst brachliegenden extensiven Wachstumsquellen zu erschließen“10 , kann hiervon in Niederschlesien keine Rede sein. Das war die „Erblast“ der Vertreibung. Damit werden gleichzeitig die Grenzen dieser Arbeit deutlich. Zwar war es auf makroökonomischer Ebene möglich, den Zusammenhang nachzuweisen. Die Frage jedoch, wie viel Wirtschaftswachstum durch die Vertreibung ausblieb, lässt sich nicht beantworten. Die vorliegende Untersuchung verweist zugleich darauf, dass die Bedeutung von wissenschaftlich produziertem Wissen für die industrielle Produktion noch genauer untersucht werden muss. Eine Frage etwa ist, wie viele 9 Ich danke Mareike Menne an dieser Stelle ausdrücklich für den Hinweis. 10 André Steiner, Der Weg der DDR in den Untergang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.09.2010, S. 14.
4. Die Spätfolgen der Vertreibung
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Beschäftigte ersetzbar gewesen wären. Die Vertreibung war umfassend, ebenso wie die Trennung der Arbeitskräfte von den Produktionsmitteln. Damit bleibt die Frage offen, wann die „kritische Masse“ überschritten wurde. Hätte – um willkürlich eine Zahl zu nennen – der Verlust von 20 Prozent der Beschäftigten kompensiert werden können? Die Beantwortung dieser Frage könnte helfen, mehr über die Funktionsweise und die Widerstandsfähigkeit von Ausbildungssystemen zu erfahren. Die Arbeit kann ebenfalls helfen zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen die wirtschaftliche Übernahme neuer Gebiete durch einen Staat möglich ist. Das nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandene Polen konnte, wie Nikolaus Wolf und Carsten Trenkler zeigten, rasch wieder das alte Produktionsniveau aufnehmen und fortsetzen, obwohl es auch hier zu weitreichenden Grenzverschiebungen kam. Schon Mitte des Jahres 1920 konnte die polnische Wirtschaft als integriert gelten.11 Wirkte sich hier aus, dass nach dem Ersten Weltkrieg nur die Grenzen neu gezogen wurden, die Bevölkerung jedoch unbehelligt blieb? Vor dem Hintergrund dieser Arbeit erscheint diese Annahme zumindest plausibel. Chumi´nski vertritt die These, das Nachkriegspolen habe nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Chance zur Modernisierung gehabt, diese jedoch nicht genutzt.12 Die Formulierung spiegelt die Überzeugung des Autors wider, es hätte eine Chance gegeben, das industrielle Produktionspotenzial in Niederschlesien zu nutzen. Unabhängig von der Frage, ob dies zutrifft, ist diese Annahme, wie in dieser Arbeit gezeigt werden konnte, zumindest äußerst voraussetzungsreich. Es muss offen bleiben, ob es diese Chance tatsächlich gab. Auch die Schaffung von Institutionen im zweiten Jahrfünft der 50er Jahre, deren Aufgabe es war, sich wieder ausschließlich den Neuen Gebieten zu widmen, erscheint in einem neuen Licht. Gleichzeitig kam es im Oktober 1956 zu einem Wandel in der Wirtschaftspolitik, was bisher als Folge des „Krisenjahrs 1956“ interpretiert wurde.13 Die genannten Befunde legen jedoch nahe, dass die neuen Machthaber, und hier in erster Linie der wieder neu eingesetzte Generalsekretär Władysław Gomułka, die Probleme bei der Nutzung des Potenzials selbst erkannten und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Jedenfalls wurden zahlreiche Institutionen, die sich mit den Neuen Gebieten beschäftigen sollten, ins Leben gerufen. Zu nennen sind hier die „Gesellschaft für die Entwicklung der Westgebiete“ („Towarzystwo Rozwoju Ziem Zachodnich, TRZZ“) und die Regierungskommission für die West- und Nordgebiete („Rzadowa ˛ Komisja ds. Ziem Zachodnich i Północnych“).14 Ebenfalls setzte die Regierung im Dezember 1956 eine „Kommission für die Entwicklung der Westgebiete“ („Komisja Rozwoju Ziem Zachodnich, KRZZ“) ein.15 Diese Gründungen können als Beleg dafür angesehen werden, dass auch auf Re11 Vgl. Carsten Trenkler/Nikolaus Wolf, Economic integration across borders: The Polish interwar economy 1921–1937, in: European Review of Economic History 9.1 (2005), 199–231, hier S. 199. 12 Chumi´nski, Niewykorzystana Szansa (wie Anm. 62, S. 128), S. 316. 13 Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 70. 14 Kociszewski, Proces integracji gospodarczej (wie Anm. 8, S. 17), S. 52. 15 Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 16, S. 52), S. 209.
272
VI. „Wissen und nach-industrielle Produktion“: Ergebnisse dieser Untersuchung
gierungsebene zur Kenntnis genommen wurde, dass die Integration der Neuen Gebiete keineswegs abgeschlossen war. Freilich blieb die Wirkung aus. Der folgende Fünfjahresplan (1956–1960) sah ebenfalls weiter eine Präferenz Nieder- und Westoberschlesiens vor, aber er vernachlässigte die Neuen Gebiete als Ganzes. Für den Fünfjahresplan sollten nur 13,7 Prozent der Mittel in diese Gebiete fließen, davon 60 Prozent nach Ober- und Niederschlesien.16 Halicka diagnostiziert ebenfalls eine „Umorientierung in der Behandlung der neu angeschlossenen Gebiete“.17 Ihre Schilderungen lassen jedoch darauf schließen, dass die neu zu forcierenden Integrationsprozesse stärker auf die Gesellschaft als auf die Wirtschaft abzielten: „Als Hauptziele wurden also die Verbreitung des Wissens über die Region sowie die Förderung der kulturellen und sozialen Arbeit in diesem Bereich definiert.“18 Die Folgen erreichten daher die Wirtschaftspolitik kaum. Vielmehr brachte jenes Jahr auf polnischer Seite für den Umgang mit den Neuen Gebieten einen wissenschaftlichen Wandel mit sich. Es wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, die auf eine Rückbesinnung auf die Spezifika der Neuen Gebiete schließen lassen. So wurde das Ostsee-Institut 1958 in Danzig wieder gegründet, das Schlesische Institut erhielt 1957 sogar zwei Nachfolger: das Schlesische Institut im oberschlesischen Oppeln sowie das Schlesische Wissenschaftliche Institut (Slaski ˛ Instytut Naukowy) in Kattowitz, dazu das Zentrum für wissenschaftliche Studien (O´srodek Bada´n Naukowych im. W. K˛etrzy´nskiego) in Allenstein.19 Die Forschung wurde wieder aufgenommen. Ein Themenkomplex, der in dieser Arbeit nicht explizit angesprochen wurde, ist derjenige des Dienstleistungssektors. Die 2013 erschienene Monographie von Piotr Sroka über den Tourismus in den polnischen Sudeten 1945–1956 ist eine der wenigen Arbeiten, die sich mit dem sog. tertiären Wirtschaftssektor beschäftigen und auch den Versuch unternehmen, die Zeit vor 1945 miteinzubeziehen.20 Weitere Arbeiten dieser Art würden die wirtschaftshistorische Forschung um einen bedeutenden Aspekt ergänzen. Bleibt eine letzte Frage: Was bedeuten die Ergebnisse dieser Arbeit für das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen? Der beste Weg, Schwierigkeiten zwischen Nationen zu lösen, ist einander zu verstehen und voneinander zu lernen. Ein klarer Blick auf die gemeinsame Geschichte gehört dazu. Die ehemaligen deutschen Ostgebiete waren kein „Geschenk“, welches Polen nicht zu nutzen im Stande war. Diese Haltung scheint häufig durch die Publikationen der 50er Jahre durch. Eine erfolgreiche Übernahme war unter den historischen Bedingungen nicht möglich. Und so schlägt die soziale Katastrophe voll auf die wirtschaftliche Ebene durch. Die Bemühungen in der Bundesrepublik Deutschland wie in der Volksrepublik Polen, den „Wert“ der Neuen Gebiete auf Heller und Pfennig zu berechnen, liefen ins Leere. 16 17 18 19 20
Makowski, Ziemie Zachodnie (wie Anm. 12, S. 121), S. 69. Halicka, Polens Wilder Westen (wie Anm. 43, S. 126), S. 296. Ebd. Hackmann, Strukturen und Institutionen (wie Anm. 29, S. 200), S. 240 f. Piotr Sroka, Turystyka w polskich Sudetach w latach 1945–1956 [Der Tourismus in den polnischen Sudeten 1945–1956], Breslau 2013.
VII. ANHANG 1. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS BSOP DzURP DzUWRN GKdsUP GOKO GUPP GUS GUTZP KERM KRN KW MAP MP MRN MZO PGR PKPG PKWN PPR PPS PSL
Biuro Studiów Osadniczo-Przesiedle´nczych [Büro für Siedlungs- und Umsiedlungsstudien] Dziennik Ustaw Rzeczpospolitej Polski [Gesetzesblatt der Volksrepublik Polen] Dziennik Urz˛edowy Wojewódzkiej Rady Narodowej [Behördliche Mitteilungen des Nationalrates der Wojewodschaft] Główna Komisja do spraw Upa´nstwowienia Przedsi˛ebiorstw [Allgemeine Kommission zur Verstaatlichung der Betriebe] Pa´nstwowy Komitet Obrony [Staatliches Verteidigungskomitee (der UdSSR)] Główny Urzad ˛ Planowania Przestrzennego [Allgemeines Amt für innere Planung] Główny Urzad ˛ Statystyczny [Allgemeines Statistikamt] Główny Urzad ˛ Tymczasowy Zarzadu ˛ Pa´nstwowego [Allgemeines Vorläufiges Amt für Staatliche Verwaltung] Komitet Ekonomiczny Rady Ministrów [Wirtschaftskomitee des Ministerrates] Krajowa Rada Narodowa [Landesnationalrat] Komitet Wojewódzki [Wojewodschafts-Komitee] Ministerstwo Administracji Publicznej [Ministerium für Öffentliche Verwaltung] Ministerstwo Przemysłu [Ministerium für Industrie] Miejska Rada Narodowa [Städtischer Nationalrat] Ministerstwo Ziem Odzyskanych [Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete] Pa´nstwowe Gospodarstwo Rolne [Staatlicher Landwirtschaftsbetrieb] Pa´nstwowa Komisja Planowania Gospodarczego [Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung] Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego [Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung] Polska Partia Robotnicza [Polnische Arbeiterpartei] Polska Partia Socjalistyczna [Polnische Sozialistische Partei] Polskie Stronnictwo Ludowe [Polnische Bauernpartei]
274 PUR PWRN PZPR RNdZZO
SD SL SN SP TRJN UWW WKPG ZO ZPP
VII. Anhang
Pa´nstwowy Urzad ˛ Repatrjacyjny [Staatliches Amt für Repatriierung] Prezydium Wojewódzkie Rady Narodowej [Wojewodschaftspräsidium des Nationalrates] Polska Zjednoczona Partia Robotnicza [Polnische Vereinigte Arbeiterpartei] Rada Naukowa dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych [Wissenschaftlicher Rat für die Angelegenheiten der Wiedergewonnenen Gebiete] Stronnictwo Demokratyczne [Demokratische Partei] Stronnictwo Ludowe [Bauernpartei] Stronnictwo Narodowe [Nationalpartei] Stronnictwo Pracy [Partei der Arbeit] Tymczasowy Rzad ˛ Jedno´sci Narodowej [Provisorische Regierung der Nationalen Einheit] Urzad ˛ Województwa Wrocławskiego [Verwaltung der Wojewodschaft Breslau] Wojewódzka Komisja Planowanie Gospodarczego [Wojewodschafts-Kommission für Wirtschaftsplanung] Ziemie Odzyskane [Wiedergewonnene Gebiete] Zwiazek ˛ Polskich Patriotów [Verband der Polnischen Patrioten]
2. Ortsnamen-Konkordanz der schlesischen Städte
275
2. ORTSNAMEN-KONKORDANZ DER SCHLESISCHEN STÄDTE Alt Schönau Bad Warmbrunn Blachstädt Blechhammer (1936–1945) Bolkenhain Bremberg Breslau Brieg Brockau Bunzlau Danzig Dyhernfurth Fellhammer Freystadt in Schlesien Gdingen Giersdorf Glasegrund Glatz Glogau Goldberg in Schlesien Görlitz Gottesberg Gräflich Röhrsdorf Groß Wartenberg Grünberg Grüssau Guben Guhrau Habelschwerdt (Groß) Hartmannsdorf Hermsdorf Hirschberg Hundsfeld Jannowitz Jeltsch-Laskowitz
Stara Kra´snica ´ askie-Zdrój Cieplice Sl ˛ Blachownia ´ aska Blachownia Sl ˛ Bolków ˙ Zarek Wrocław Brzeg Brochów ´ aski Bolesławiec Sl ˛ Gda´nsk Brzeg Dolny ´ Ku´znice-Swidnickie Koz˙ uchów Gdynia Podgórzyn Szklary Kłodzko Głogów Złoteryja Zgorzelec1 Boguszów Skarbków (1961 in die Stadt Friedeberg am Queis/Mirsk eingemeindet) Syców Zielona Góra Krzeszów Gubin Góra Bystrzyca Kłodzka Miłoszów Sobi˛ecin Jelenia Góra Psie Pole Janowice Wielkie Jelcz-Laskowice
1 Görlitz ist zwar die deutsche Entsprechung des polnischen Zgorzelec, sie darf jedoch nicht mit der deutschen Grenzstadt Görlitz in der damaligen DDR verwechselt werden.
276
VII. Anhang
Kandrzin (1934–1945: Heydebreck) Kattowitz Landeshut Landsberg an der Warthe Langenbielau Lauban Liebau in Schlesien Liegnitz Löwenberg Lübin Ludwigsdorf ˙ Luthrötha (Kreis Sagan/Zaga´ n) Meleschwitz/Fünfteichen (ab 26.01.1937) Militsch Mittelsteine Namslau Neumarkt in Schlesien Neurode Neusalz an der Oder Oberleschen Oels Oppeln Ostrowo Ottmuth (= Krappitz) Parchwitz Penzig Petersdorf (Kreis Hirschberg) Priebus Przywor (1936/37: Odertal) Reichenbach im Eulengebirge Sagan Schosdorf Schweidnitz Seitendorf Silberberg Sorau Sprottau Stettin Stolp Strehlen
K˛edzierzyn Katowice Kamienna Góra Gorzów Wielkopolski Bielawa Luba´n Lubawka Legnica ´ aski Lwówek Sl ˛ Lubin Ludwikowice Kłodzkie ˙ Zagania Miłoszyce Milicz ´ ´ Scinawka Srednia Namysłów ´ ´ aska Sroda Sl ˛ Nowa Ruda Nowa Sól Leszno Górne Ole´snica Opole Ostrów Wielkopolski Krapkowice Prochowice Pie´nsk Piechowice Przewóz Przywory Dzierz˙ oniów ˙ Zaga´ n Ubocze Szwidnica Poniatów Srebrna Góra ˙ Zary Szprotawa Szczecin Słupsk Strzelin
2. Ortsnamen-Konkordanz der schlesischen Städte
Steinau an der Oder Trebnitz Ullersdorf Wansen (Schweidnitzer) Weistritz Wohlau Wüstegiersdorf Zoppot
´ Scinawa Trzebnica Ołdrzychowice Kłodzkie Wiazów ˛ Bystrzyca Wołów Głuszyca Sopot
277
VII. Anhang
278
3. LISTE DER BEKANNTEN NACH NIEDERSCHLESIEN VERLAGERTEN BETRIEBE2 3.1. Nach Niederschlesien verlagerte Betriebe, die eine Fertigung noch nicht aufgenommen haben (Stand 1.10.1943) Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb)
Rüstungskommando Breslau 1
AEG, Berlin-Treptow Kleinsttransformatoren A4, Funkmeß
Breslau A. G. für Webwaren und Bekleidung
2
AEG, Berlin Röhrenfabrik Oberspree, Funkmeß
Freiburg Teichgrüber
3
Atlaswerke Bremen Schallmeßgerät
Gnadenfrei Zimmermann
4
dto.
Gnadenfrei, Maidenschule
5
Auergesellschaft, Berlin Meßgerätebau
Breslau Technische Universität
6
Bismarckwerke Radeformwald Zünderfertigung
Hdr. Salzbrunn Ohne
7
Bosch, Stuttgart Feinmechanische Fertigung
Langenbielau Dierig
8
dto.
Langenbielau, Suckert
9
dto.
Langenbielau, Rosernberger & Huesker
10
dto.
Langenbielau, Hain
2 Beide Listen wurden entnommen aus BA Ost-Dok. 10/682, Bl. 119–129.
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung 11 dto.
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Reichenbach, Jordan
12
dto.
Wüstewaltersdorf Websky, Hartmann & Wiesen
13
Breststeillager (?)
Briegischdorf bei Brieg
14
Deutsche Edelstahlwerke Hannover, Kurbelwellen
Breslau-Stabelwitz Schoeller
15
Dowidat, Remscheid Spez. Werkzeuge
Königszelt Porzellan-Fabrik
16
Eilers, Bielefeld Bordbuch
Brieg Briag
17
Elektroacustik, Kiel Ortungsgerät
Namslau Brauerei
18
dto.
Namslau
19
Elin-Schorchwerke Rheydt, Elektrodenfertigung
Saarau Silesiawerke
20
dto. Funkmeß
Saarau, Mühlenwerke
21
dto. Funkmeß
Freiburg/Ostland
22
dto. Transformatoren
Striegau, Neubau eines Werkes
23
Fischer, Berlin Funkmeß
Schweidnitz Scholz
24
Flettner, Berlin-Johannesthal Hubschrauber
Schweidnitz Fliegerhorst
25
Goldschmidt, Essen Tegoleimfilm
Reichenbach Barackenbau
279
VII. Anhang
280
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung 26 Gühring, Ebingen Spiralbohrer 27 Hintze, Berlin
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Waldenburg Berufsschule Wüstewaltersdorf Websky, Hartmann & Wiesen
28
Huber & Co., Hamburg-Lockstedt Nahrungsmittel
Saarau Kul itz (sic) GmbH
29
dto.
Saarau, Turnhalle
30
dto.
Puschkau Flachsrösterei
31
Kalinka, Berlin
Schönbrunn Kreis Schweidnitz Hebel & Söhne
32
Krupp A. G. Essen Stahlhelmgurt
Wüstegiersdorf Meyer-Kauffmann Werk I
33
dto. Zahnräder, Getriebe Schneidräder
Neurode Textil A. G.
34
dto. Flugzeugpanzerung
Dietzdorf Zellmehlfabrik (?)
35
Kuhlmann, W.-Haven Meßgeräte
Wölfelsdorf Schlesische Möbelfabrik
36
Lorenz, Berlin Funkmeß
Rengersdorf Meyer-Kauffmann
37
Chlor, Remscheid Zementzüge
Waldenburg ehem. Karlshütte
38
Ceram, Berlin Röhrenfertigung
Brieg Schokoladenfabrik Hofmann
39
Patin, Berlin Kompaß und Steuerungsteile
Mittelsteine Gohiminsky
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb)
40 41
dto. dto.
Wünschelburg, Funke Wünschelburg, Klemm
42
Preschona, Berlin Triebwerkzubehör, Feuerlöschanlagen
Peterswaldau Baumwollspinnerei
43
dto.
Peterswaldau, Ertel
44
dto.
Peterswaldau, Schöning
45
Padenz, Wuppertal-Barmen Sicherungen
Strohlen Doherbol (?)
46
Reichspostzentral-Amt Berlin-Tempelhof
Seitenberg, Kreis Glatz 3 Gasthaussäle
47
dto.
Seitenberg, Kreis Glatz Oranienhütte
48
Reichspostzentral-Amt Berlin-Tempelhof
Seitenberg, Kreis Glatz Kavalierhaus
49
dto.
Altheidebad, Wittwer
50
Ribau, Berlin Apparatebau
Freiburg Franke
51
Roeder, Berlin SW Funkmeß
Ullersdorf Flachsrösterei
52
Roeder, Berlin SO Funkmeß
Schweidnitz Scholz
53
Scharf, Berlin Funkmeß
Reinerz Conradi & Rost
54
Siemens & Halske, Berlin
Wohlau
281
VII. Anhang
282
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung Zentrale Entwicklung
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Erziehungsanstalt
55
Stocke, Wuppertal
Frankenstein, Haro
56
dto. WG-Gurte-Zünderstellmaschinen
Frankenstein, Steller & Sohn
57
dto.
Frankenstein, Bruck & Kassel
58
dto.
Frankenstein, Wagner
59
dto.
Frankenstein, Restaurant Frankenstein
60
Telefunken, Berlin Funkmeß
Reichenbach Rosenberger & Ruesker
61
dto.
Wansen, Wintergarten
62
dto., Labor für Nordpol
Wansen, Deutsches Haus
63
dto.
Wansen, Autowerkstatt
64
dto.
Strohlen, Ertel
65
dto., Funkmeß
Leubus, Kloster
66
VIE Frankfurt am Main Luftschrauben Automatik
Breslau Hanfwerke
67
VIE-Frankfurt am Main
Gellenau, Dierig
68
dto.
Friedland, Hoffmann
69
dto.
Friedland, Wache & Heinrich
70
dto.
Friedland, Held
71
dto.
Friedland, Lademann
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb)
72 73
dto. Vesta, Berlin Funkmeß
Friedland, Pabel & Söhne Cronseck, bei Kudowa Stanke
74
Vorrichtungs- und Gerätebau, Berlin Sehschlitzprismen
Brieg
75
Zeiss-Ikon, Berlin Zielfernrohr
Steingrund Tschirner & Sohn
76
Ziehl-Abegg, Berlin Störrahmen
Waldenburg Wunderlich & Co.
77
Zwanzig GmbH, Berlin Funkmeß
Schweidnitz Scholz
78
Luranil-Werk IG Farbenindustrie, Chemie
Dyhernfurt Krs. Wohlau (N)
79
Neue Kühler- und Flugzeugteilefabrik Kurt Hodermann, Berlin Wasser-Treibstoff-Ölbehälter für Flugzeugteile, Steuerteile usw.
Werk Polsnitz Krs. Waldenburg
80
Vereinigte Berliner Metallmöbel fabriken A. G. Weigelsdorf, Metall u. Holzmöbel
Weigelsdorf Krs. Reichenbach
81
Henkel & Cie., Düsseldorf Klebstoff
Ohlau
82
Siemens-Reiniger Erlangen, Bordfunkgerät
Friedland
83
Patin GmbH, Berlin
Breslau
Kartonnagenfabrik
283
VII. Anhang
284
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung Geräte für Fernsteuerungstechnik
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb)
Rüstungskommando Breslau 84
Adistor, Berlin Funkmeß, A 4
Janer
85
Adnoswerk, Berlin Motorenlagerteile
Bunzlau Amalienhütte
86
AEG-Berlin-Reinickendorf Forschungsinstitut, Entwicklung
Weißwasser Hafenstube der Vereinigte Lausitzer Glaswerke AG
87
dto.
Klitten, Schloß Jahmen
88
dto.
Schloß Reichwalde Kr. Rothenburg
89
AEG, Elektrochemie Berlin
Oberzieder, Kreis Landshut Lorenz
90
Amnoneit (?), Berlin-Pankow
Beuthen/Oder, Fürstliche Kammer, Carolath
91
Anorg.-chem. Institut Th. Berlin, Entwicklung
Parchwitz, Schloss
92
Arbeiliger, Düsseldorf Holzbearbeitung
Glogau Möbelfabrik Hirschberg
93
Barmag, Remscheid-Lennep Öldruckpumpen
Liebau Weberei Wihard
94
Bornemann & Kuhlmann Schwelm, Metallschilder
Bad Warmbrunn Langenscheidt
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
285
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung 95 Busch-Jaeger, Lüdenscheid Flugzeugbordmaterial
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Erdmannsdorf Leinen A. G.
96
Deutsche Edelstahlwerke Berlin
Penzig/O. L. Adlerhütten
97
Deutsche Kap-Asbestwerke Hamburg-Bergedorf, Asbest, Glasgespinst
Greiffenberg Bleich- und Apparaturanstalt
98
Deutsche Kap-Asbestwerke Hamburg, Bergedorf Abest, Glasgespinst
Greiffenberg, Raschke
99
Deutsche Telefonwerke, Berlin Entwicklung, Koppelgerät Funkmeß
Sagan Lienig
100
Eickhoff, Wuppertal Zünderfertigung
Rothenburg/Oder Wollwäscherei
101
Flume, Berlin
Trockenau bei Neusalz, Tivoli
102
Focke-Wulf, Bremen Holz- und Metalllager
Bunzlau, Glashütte Karlswerk
103
Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost Berlin-Tempelhof, Entwicklung
Hirschberg niederschlesische Weberei
104
Genschow, Berlin, Waffenbau
Grünberg, Gesellschaft für Verwertung chemischer Erzeugnisse
105
Gesellschaft für Luftfahrtbedarf, Berlin
Schloss Hohlstein bei Löwenberg
106
Großsteinbeck, Velbert/Rheinland Schnellverschlüsse für Flugzeuge
Liebau Schubert
VII. Anhang
286 Lfd. Nr. 107 108
Name und Herkunftsort des Betriebes, Art der Fertigung Hannemann, Düren Heine, Berlin Propellerbahn
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Weißwasser, Glashütte Germania Rauscha, Lehmann
109
Hanning, Berlin Diagraphik
Penzig O. L., Glashütte Meißner
110
dto.
Penzig O. L., Kahl
111
Hoffmann, Berlin-Neukölln
Kromwonau (?)/Regierungsbezirk Seibt
112
Kleinmann, Berlin-Lichtenberg Elektr. Geräte
Greiffenberg Lachmann
113
Köhler & Bevenkaap, Wuppertal Barmen Transportvorrichtungen
Landeshut Sohnbart
114
Kripke, Dt. Speyer & Co., Berlin
Haynau, Willinger
115
Krupp A. G., Essen Radoatswerkstatt (?)
Hoyerswerda Reichsbahnausbesserungswerk
116
Kugelfischer, Schweinfurt Walzlager
Landeshut niederschlesische Weberei
117
dto.
Landeshut; Kramsta, Methner & Frahne
118
Labopherma, BerlinCharlottenburg chemische Fabrikation
Petersdorf/Riesengebirge Kartonnagenfabrik
119
Lukas, Berlin
Hansdorf bei Sorau, Leithoff
120
Maximall-Apparate, Berlin Bordgerät
Sagan Gorbor & Sohn
121
Mengeringhausen
Lorensdorf, Kreis Bunzlau
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung Berlin-Neukölln, Meßgeräte 122 Neuhans, Wuppertal-Elberfeld
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Lorensdorf, Blechwerk Bad Schwarzbach/Isergebirge, Pohl
123
Nordland, Berlin, Schneeketten
Liban, Laske
124
Nordland, Berlin, Klarsichtscheiben
Berthelsdorf, Kreis Landeshut, Stabel
125
Opta-Radio, Berlin-Steglitz
Grünberg, Textilfabrik, Gruschwitz
126
dto.
Grünberg, Fritze
127
Philipp-Valve Werk Aachen, Funkmeß
Weißwasser, Bärenhütte
128
Physikalisch-technische Reichsanstalt Berlin, Abteilung Akustik
Bad Warmbrunn Schloss Schaffgotsch
129
Pollo s (sic), Berlin-Grunewald
Wiesau, Wiesauer Farbwerke
130
Schmidding, Bodenbach B-Entwicklung
Buschvorwerk Peschen
131
Schmidtchen & Co., Berlin, Hydraulikpumpen
Berthelsdorf Papierfabrik
132
Siemens & Halske, Berlin Relais für Torpedo A 4
Schoßdorf, Kreis Löwenberg
133
dto. Luftfahrtgerätewerk Entwicklung
Görlitz Geisler
134
dto.
Görlitz, SA-Heim
135
dto.
Görlitz, Ingenieurs-Schule
287
VII. Anhang
288
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung 136 dto. Zentral-Labor
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Sagan, Hoffmann
137
Siemens-Schueckert-Berlin Stromrichterwerk, Funkmeß A 4
Görlitz Schwetnach
138
Stefa, Berlin, Deutsche Werkstoffe
Freystadt, Schröter
139
Telefunken, Berlin Funkmeß
Liegnitz, Lorens & Rieck
140
dto.
Weber, Janke & Co.
141
Weber, Berlin-Tempelhof Werkzeuge
Glogau Lerchenbergkaserne
142
Vlogt & Haffner, Berlin Explosionsgeschützleuchten
Grünberg Leonhardt
143
Weser-Flug, Bremen, Zellenbau
Bunzlau, Concordia-Spinnerei
144
Hermann & Schellenberg Herstellung von Drahtseilen
Boxberg, Kreis Rothenburg (H)
145
Deutsche Hiloswerke (Hileswerke ?)
Grünberg
146
Koks (Foks ?)-Gummi GmbH
Reisky
147
Pflüger & Söhne, Trubenhausen bei Kassel Herstellung von Metallgegenständen für Wehrmacht
Lieban
148
Beuroyer (?), Nürnberg, Artilleriehülsen
Kötzenau
149
Askania Werk, Berlin
Hirschberg
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
Lfd. Nr. 150 151
Name und Herkunftsort des Betriebes, Art der Fertigung Martin, Berlin, Forschungsinstitut I. G. Farbenindustrie, Chemie
Verlagert nach: (Ort bzw. Betrieb) Zedlitz, Kreis Lüben Werk Parschwitz
3.2. Rüstungsbetriebe, die wegen Verlagerung nach Niederschlesien in Unterhandlung standen (Stand 1.10.1943) Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung 1 Akra-Regler A. G. Berlin-Schöneberg A 4-Fertigung
Zu verlagern nach: (Ort bzw. Betrieb) Steinau Barthel
2
Aluminium-Gießerei Nürnberg
Wiegandsthal Schiller
3
Arado Berlin-Brandenburg Flugzeuge
Landeshut Leinag
4
dto.
Landeshut Kühl
5
Borowski, Kohlberg Vorrichtungen für Munition
Glogischdorf Sägewerk
6
Deutsche Telefonwerke Berlin Botanlagen, Funkmess
Sagan Vereinigte Märkische Tuchfabriken
7
Dominicus & Co. Remscheid-Vieeringhausen Holzstiele und Griffe
Seidenberg Schlegel
8
Gema, Berlin Funkmess
Lauban Lasemann Werk X
9
Heinen & Co., Wuppertal Luftförderer
Brieg, Bezirk Breslau Fiege
289
VII. Anhang
290
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung
Zu verlagern nach: (Ort bzw. Betrieb)
10
Höhmer (?), Berlin Elektrische Maschinen
Hirschberg Kristallglaswerk
11
Kleinmann Berlin-Lichtenberg Elektrische Geräte
Grünberg Grünberger Tuchmachergewerk
12
Krupp A. G., Essen
Langenbielau Dierig, Lagerschuppen
13
Lange, Berlin
Schweidnitz Goldmann
14
Luftfahrtgerätewerk Beriln-Hakenfelde Jägerprogramm
Brieg, Bezirk Breslau Heinse
15
Lurgie-Thermie, Horrem Signalbetrieb
Saarau Alte Schmiede
16
Medicihaus A. G. Berlin Medikamente
Löwenberg Hotel du Roy
17
Osram, Berlin
Hirschberg Kristallglaswerk
18
O. L. Schmidt Berlin-Hohenschönhausen Munition
Vogelgesang bei Ninotuch (?) Barackenneubau
19
Schwarzkopf, Berlin Sanitätsmaterial
Naumburg ehem. Glasmalerei
20
Seidenberg, Berlin Funkmess
Schweidnitz Goldmann
21
Telefunken, Berlin
Aslau
3. Liste der bekannten nach Niederschlesien verlagerten Betriebe
Lfd. Name und Herkunftsort des Nr. Betriebes, Art der Fertigung
Zu verlagern nach: (Ort bzw. Betrieb)
22
dto.
Nassadel, Kreis Namslau Lufthauptnuna (?)
23
Trinks & Cie. Berlin Zünderfertigung
Rauscha, Kreis Görlitz Gebrüder Butz
24
Warnecke & Böhm Berlin-Weissensee Lacke und Farben
Niesky O/L Lackfabrik Silesia
291
292
VII. Anhang
4. QUELLEN 4.1. Veröffentlichte Quellen – Biuro Studiów Osadniczo-Przesiedle´nczych, I Sesja Rady Naukowej Dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych [Büro für Siedlungs- und Umsiedlungstudien, 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Rates für die Wiedergewonnenen Gebiete] 30 VII-1 VII 1945 r., Zeszyt I, Sprawozdanie ogólne [Heft 1, Allgemeine Berichte], Krakau 1946. – Das Schlesienbuch 1942. Handbuch für die Provinzen Niederschlesien u. Oberschlesien, Breslau 1942. – Denkschrift zur Bewertung der Vermögensobjekte der öffentlichen Hand und sonstiger juristischer Personen in den deutschen Ostprovinzen auf Grund von Quellenmaterial. Bewertungsmöglichkeiten und Ergebnisse, Koblenz 1967. – Die Deutsche Industrie. Gesamtergebnisse der amtlichen Produktionsstatistik (Schriftenreihe des Reichsamts für Wehrwirtschaftliche Planung Heft 1), Berlin 1939. – Dziennik Ustaw Rzeczpospolitej Polski [Gesetzesjournal der Volksrepublik Polen], dziennik-ustaw.pl. – Handbuch der Schulen im Gau Schlesien, Band 1, Regierungsbezirk Breslau, Breslau 1939. – Handbuch der Schulen im Gau Schlesien, Band 2, Regierungsbezirk Liegnitz, Breslau 1937. – I Sesja Rady Naukowej dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych 30 VII-1 VIII 1945 r., Zeszyt II, Rajmund Buławski: Problemy Osadniczo-Przesiedle´ncze Ziem Odzyskanych, Krakau 1945. – Monitor Polski – Archiwum aktów prawnych [Monitor Polens – Archiv der Rechtsakte], msp.money.pl/akty_prawne/monitor_polski/. – Nichtlandwirtschaftliche Arbeitsstättenzählung. Die nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten in den Reichsteilen und Verwaltungebezirken (Volks-, Berufsund Betriebszählung vom 17. Mai 1939), in: Statistik 568.4 (1942). – Rocznik Statystyczny 1947 [Statistisches Jahrbuch 1947] (Główny Urzad ˛ Statystyczny), Warschau 1947. – Rocznik Statystyczny Przemysłu 1945–1965 [Statistisches Jahrbuch der In˙ dustrie 1945–1965] (GUS) (Seria „ROCZNIKI BRANZOWE“ Nr 4), Warschau 1967.
4. Quellen
293
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VII. Anhang
294
4.2. Unveröffentlichte Quellen Quellen des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde BA R 3 BA R 11 BA R 3101
Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion Reichswirtschaftskammer Reichswirtschaftsministerium
Quellen des Bundesarchivs Koblenz B 102 B 103 B 137
Ministerium für Wirtschaft (BMWi) Bundesamt für Wirtschaft und Handel Ministerium für die innerdeutschen Beziehungen
Quellen des Lastenausgleichsarchivs (Ostdokumentation) LAA in Bayreuth Ost-Dok. 8
Ost-Dok. 10
Berichte von Angehörigen der politischen Führungsschicht aus den ostdeutschen Vertreibungsgebieten zum Zeitgeschehen von 1939–1945 Berichte über Verwaltung und Wirtschaft in den reichsdeutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße
Quellen des Bundesarchivs-Militärarchivs Freiburg (BA MA) RL 2-IV RW 20-8
Kriegswissenschaftliche Abteilung des Generalstabs der Luftwaffe Rüstungsinspektion VIII (Breslau/Kattowitz)
Quellen des Archiwum Akt Nowych (AAN) CUP GUPP MAP MPiH MZO PKPG
Centralny Urzad ˛ Planowania Główny Urzad ˛ Planowania Przestrzennego Ministerstwo Administracji Publicznej Ministerstwo Przemysłu i Handlu Ministerstwo Ziem Odzyskanych Pa´nstwowa Komisja Planowania Gospodarczego
Quellen des Staatlichen Archivs Breslau (AP Wr) PWRN
Prezydium Wojewódzkiej Rady Narodowej [Präsidium des Nationalrats der Wojewodschaft]
4. Quellen
PUR UWW
295
Pa´nstwowy Urzad ˛ Repatrjacyjny [Staatliches Amt für Repatriierung] Urzad ˛ Województwa Wrocławskiego [Verwaltung der Wojewodschaft Breslau]
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IX. REGISTER Akcja Specjalna Gospodarki Maszynami i Urzadzeniami ˛ Technicznymi, siehe Spezialkampagne des Wirtschaftsbüros der Maschinen und technischen Einrichtungen Allenstein, 202; Wojewodschaft, 167, 203 Allgemeine Kommission zur Verstaatlichung der Betriebe, siehe GKdsUP Allgemeines Liquidationsamt, siehe GUL Allgemeines Provisorisches Amt für Staatliche Verwaltung, siehe GUTZP Alt Schönau, 171 Anwerbeabkommen, 254 Arbeitsamt (Polen), siehe Urzad ˛ Zatrudnienia Außenministerium (Polen), 143 Aufbaugemeinschaft Espelkamp GmbH, 260 Aufholhypothese, siehe Catch-up-Hypothese Aumann, Peter, 261 Ausbildungssystem, 22, 35, 66, 68, 70, 72 f., 208, 222–225, 227 f., 230 f., 255 f., 262, 266, 271; Duales, 68–70, 224, 227, 229 f., 266 Ausstellung zu den Wiedergewonnenen Gebieten, 219 Bad Warmbrunn, 120, 155, 284, 287 Berlin, 15, 41, 51, 53, 71, 84 f., 95, 103, 106 f., 175, 218, 258, 261, 278–291; Rüstungsinspektion, 102 f. Berlin (Rüstungsinspektion), 101 Berman, Jakub, 143 f. Berthawerke, 47, 91, 114, 116 Bierut, Bolesław, 136 f., 144, 158 Bildungsministerium, 226–230 Bitwa o handel, siehe Schlacht um den Handel Biuro Gospodarki Maszynami i Urzadzeniami ˛ Technicznymi, siehe GMUT Biuro Rejestracji Przemysłu, siehe Büro zur Registrierung der Industrie Biuro Studiów Osadniczo-Przesiedle´nczych, siehe BSOP
Biuro Ziem Zachodnich, siehe BZZ Blachstädt, 116 Blechhammer, 104, 127 Bohlen und Halbach, Alfried von, 114 Bolkenhain, 59 Bremberg, 61 Bremen, 258 Breslau, 47, 49, 51 f., 56, 59–61, 81, 85, 91 f., 99, 105 f., 114–116, 120, 125–128, 141 f., 147, 150–152, 155 f., 167, 169 f., 206–209, 213 f., 219, 225, 227, 236, 239, 247–249, 251, 278 f., 282 f.; Rüstungsinspektion, 101 f.; Regierungsbezirk, 72, 103, 284, 289 f.; Wojewodschaft, 60, 152, 161, 167 f., 215, 231, 239 Brieg, 56, 60, 85, 125, 173, 279 f., 283, 289 f. Brockau, 213 Bromberg, 200 BSOP, 211 f., 233 Buławski, Rajmund, 211 f., 218 Bundesfinanzministerium, 120 f. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 120, 245 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, siehe Ministerium für gesamtdeutsche Fragen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 142, 203 Bundeswirtschaftsministerium, 120 Bunzlau, 56, 60, 85, 125, 167, 171 f., 284–286, 288 Büro für die Westgebiete, siehe BZZ Büro für Siedlungs- und Umsiedlungsstudien, siehe BSOP Büro zur Registrierung der Industrie, 158 Byrnes, James F., 217 BZZ, 142, 147, 212, 234 Catch-up-Hypothese, 40 f., 44–46 Centralny Urzad ˛ Szkolnictwa Zawodowego, 229 Centralny Urzad ˛ Planowania, siehe CUP Centralny Urzad ˛ Szkolnictwa Zawodowego, siehe Zentrales Amt für Berufsschulen
314
IX. Register
Churchill, Winston, 137 Cluster, 28, 32 f., 69, 106 f. Cosel, 127 CUP, 152, 155, 157 f., 163 f., 166 Czajkowski, Władysław, 160 DAF, 53, 70 Danzig, 51, 151, 161, 203, 272; Wojewodschaft, 141 Demontagen, 17 f., 44, 54, 115 f., 123–125, 128–136, 160, 171, 263, 267 Deutsche Arbeitsfront, siehe DAF Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung, siehe DINTA Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, siehe DIW D˛ebica, 130 DINTA, 70 diversifizierte Qualitätsproduktion, 47 DIW, 53, 84; Breslau, 52, 62, 74, 79, 84, 100 Dreijahresplan, 128, 153–156, 158, 165, 197, 227 Dresden, 147; Rüstungsinspektion, 101–103 Dyhernfurth, 91, 155, 283 EAH Naue KG, 261 Ehe von Wissenschaft und Wirtschaft, siehe zweite wirtschaftliche Revolution Eisenhüttenstadt, 217 Erfahrungswissen, siehe tacit knowledge Ermland-Masuren, 140, 147, 220, 251; Wojewodschaft, 141, 167 Espelkamp, 258–262, 267 f. Essen, 113 f., 279 f., 286, 290 European Recovery Program, 18 f., 260 Evangelisches Hilfswerk Westfalen, 260 Fellhammer, 242 Fiedler, Franciszek, 144 Finanzministerium, 148 Frank, Hans, 130 Freiburg, 278 f., 281 Freystadt, 60, 173, 288 Fünfteichen, 91 Funk, Walther, 99 Gauwirtschaftskammer Niederschlesien, 52, 55, 74, 76, 78, 111, 170 Gdingen, 161 Gede, Tadeusz, 150, 239 Gesellschaft für die Entwicklung der Westgebiete, siehe TRZZ Giersdorf, 61
GKdsUP, 152 f. Glasegrund, 155 Glatz, 59 f., 128, 245 f., 251, 281 Glogau, 60, 125, 147, 173, 284, 288 Gluck, Leopold, 239 Główna Komisja do spraw Upa´nstwowienia Przedsi˛ebiorstw, siehe GKdsUP Główny Urzad ˛ Likwidacyjny, siehe GUL Główny Urzad ˛ Statystyczny, siehe GUS Główny Urzad ˛ Tymczasowy Zarzadu ˛ Pa´nstwowego, siehe GUTZP GMUT, 150 f., 160 Goebbels, Joseph, 50 Goldberg, 59, 156, 171 Gomułka, Władysław, 132, 138, 142–144, 152, 158, 160 f., 163, 197, 204, 207, 214, 219, 237, 239–241, 248, 271 Görlitz, 50, 56, 59, 61, 105, 173, 275, 287 f., 291 Gottesberg, 242 Gremsdorf-Greulich, 120 Groß Hartmannsdorf, 85 Groß Rosen, 97 Groß Wartenberg, 61 Grünberg, 56, 59 f., 85 f., 197, 285, 287 f., 290; Wojewodschaft, 141, 169, 173 Grüssau-Gertelsdorf, 120 Guben, 59, 61, 216, 219 f. Gubin, 59, 220 f. Guhrau, 60 f. GUL, 149 GUS, 39, 112, 117, 128, 172 f., 175, 179–181, 185 f., 189, 221–223, 231 GUTZP, 148 Habelschwerdt, 60, 128 Hagenuk, 97 Hamburg (Rüstungsinspektion), 101 f. Handwerksgesetz, 69 Handwerkskammer (Deutschland), 69 Handwerkskammer (Polen), 157 Hanke, Karl, 50, 97 Hannover, 279 Hannover (Rüstungsinspektion), 101 f. Harting, Wilhelm, 262 Henning, Klaus, 103 Hermsdorf, 120 Hirschberg, 56, 59 f., 120, 128, 167, 246, 250, 276, 284 f., 288, 290 Hitler, Adolf, 50, 93, 95, 98, 114 Hoyerswerda, 50, 56, 115, 286 Humankapital, 20, 27 f., 30, 32, 34 f., 43, 264
IX. Register
Hundsfeld, 91, 151, 155 I. G. Farbenindustrie AG, 91, 260 Ilgner, Max, 260 immaterielles Kapital, 15, 21, 29, 35 f., 38 f., 62, 109, 115 f., 119, 232 Index (Fluss), 137 Industrie- und Handelskammer; Deutschland, 69; Polen, 153, 157 Industriedistrikt, siehe Cluster Innovationskulturen, 28 Institut für Konjunkturforschung, siehe DIW Instytut Bałtycki, siehe Ostsee-Institut Instytut Mazurski, siehe Masurisches Institut ´ aski, Instytut Sl ˛ siehe Schlesisches Institut Instytut Zachodni, siehe West-Institut Interministerielle Kommission für die Ingangsetzung der Industrie in den Wiedergewonnenen Gebieten, 160 Iwa´nski, Jan, 147 Izba Przemysłowo-Handlowa, siehe Industrie- und Handelskammer (Polen) Izba Rzemie´slicza, siehe Handwerkskammer (Polen) Janicki, Stefan, 150 f. Jannowitz, 60 Jánossy, Ferenc (Franz), 15, 41–43 Jeltsch-Laskowitz, 114 J˛edrychowski, Stefan, 144, 157 Józef, Dubiel, 214 Jó´zwiak, Franziszek, 144 Kaiser, Jakob, 216 Kandrzin, 104, 116, 127 Kassel (Rüstungsinspektion), 101 f. Kattowitz, 56, 103, 130, 200, 202, 214, 272; Rüstungsinspektion, 101 f.; Wojewodschaft, 167 Kehrl, Hans, 99 KERM, 140, 145, 147 f., 150, 152 Kokot, Józef, 197 Komisja Rozwoju Ziem Zachodnich, siehe KRZZ Komitet Ekonomiczny Rady Ministrów, siehe KERM Kommission für die Entwicklung der Westgebiete, siehe KRZZ Kondratieff-Welle, siehe Lange-Wellen-Hypothese Konferenz von Jalta, 16, 131, 137 Konferenz von Potsdam, 16, 137
315
Königsberg, 103; Rüstungsinspektion, 101 f. Korczyc, Władysław, 147 Kormanowa, Janna, 157 Koszalin; Wojewodschaft, 141, 167 Krajowa Rada Narodowa, siehe KRN Kreis-Kommission für Wirtschaftsplanung, siehe Powjatowa Komisja Planowania Gospodarczego KRN, 136, 139–141, 144, 148, 154, 157, 195, 210, 214, 226 Krupp, 47, 66, 73, 103, 113 f., 116, 258, 280, 286, 290 KRZZ, 271 Kugelfischer, 97, 286 Kurowski, Leon, 152 Landeshut, 56, 59 f., 86, 97, 246, 250, 286 f., 289 Landesnationalrat, siehe KRN Landsberg an der Warthe, 60 Lange-Wellen-Hypothese, 40 f. Langenbielau, 103, 278, 290 Lauban, 59 f., 242, 249, 289 Leiße, Wilhelm, 54 Ley, Robert, 53 Liebau, 284 f. Liegnitz, 56, 59, 61, 72, 86, 120, 125, 130, 141, 147, 224, 234, 251, 288 Linke-Hofmann-Werke, siehe Pafawag Löhne, 261 Löwenberg, 59, 285, 287, 290 Lübin, 248 Lubliner Komitee, siehe PKWN Ludwigsdorf, 91 Łagunow, Fieofan, 133 Magdeburg (Rüstungsinspektion), 101 f. MAP, siehe Ministerium für Öffentliche Verwaltung Marał, Zdzisław, 169 Markstädt, siehe Jeltsch-Laskowitz Marshallplan, siehe European Recovery Program Masuren, 140, 206 Masurisches Institut, 199, 202 Mielec, 130 Mi˛edzyministerialna Komisja do spraw Uruchomienia Przemysłu na Ziemiach Odzyskanych, siehe Interministeriellen Kommission für die Ingangsetzung der Industrie in den Wiedergewonnenen Gebieten
316
IX. Register
Mikołajczyk, Stanisław, 133, 137, 140 Militsch, 60 f. Mill, John Stuart, 42, 116 Minc, Hilary, 137, 143 f., 147, 149, 157–161, 164, 166, 195, 212, 239, 243 Minden, 258, 262 Ministerium für Industrie, siehe Ministerium für Industrie und Handel Ministerium für Öffentliche Verwaltung, 141–143, 146 f., 201, 211, 213 f., 234 Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete, 18, 121, 127, 132, 141–144, 153, 159–161, 163, 166, 196 f., 200 f., 214 f., 234, 236 f., 239–245, 248 Ministerium für Industrie und Handel, 140, 145, 147–150, 152, 155, 157, 160 f., 187, 195, 198, 227, 234–236, 239 f. Ministerium für Landwirtschaft und Agrarreformen, 211 Ministerium für Schifffahrt und Außenhandel, 143 Ministerium für Verkehr, 148 Ministerstwo Administracji Publicznej, siehe Ministerium für Öffentliche Verwaltung Ministerstwo Rolnictwa i Reform Rolnych, siehe Ministerium für Landwirtschaft und Agrarreformen Ministerstwo Ziem Odyzskanych, siehe Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete Mittelsteine, 107 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch, 217 Moskau, 41, 93, 137, 165 Moskauer Vertrag, 122 Mo´scicki, Ignacy, 139 MRiRR, siehe Ministerium für Landwirtschaft und Agrarreformen München (Rüstungsinspektion), 101 f. Münchner Abkommen, 264 Münster (Rüstungsinspektion), 101 f. Muskau, 56 MZO, siehe Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete Namslau, 61, 173, 279, 291 Narodowy Bank Polski, siehe NBP NBP, 159 Neiße (Fluss), 50, 53, 59, 62, 72, 84, 87, 135, 173, 203, 220 Neiße (Stadt), 56
Neue Institutionenökonomik, 31, 34, 67 f., 223 f. Neumarkt, 250–252 Neurode, 243 Neusalz, 61, 150 f., 285 Nowa Huta, 162 NSDAP, 53, 95 Nürnberg, 260, 288 f.; Rüstungsinspektion, 101 f. Oberleschen, 60 Oberrhein (Rüstungsinspektion), 101 f. Ochab, Edward, 143 f., 147, 197 f., 205 Oder, 53, 62, 72, 84, 87, 131, 135, 137, 203, 220 Oder-Neiße-Grenze, 19, 86, 105, 119, 122, 138, 204, 215–218, 255 Oels, 125, 248 Olbromski, Antoni, 152 Operation Link, 232 Operationsgruppen, 125, 138, 141, 145–148, 150, 157, 160, 193, 210, 213, 216 Oppeln, 56, 206; Wojewodschaft, 141, 167 Oranienbaum, 261 Organisation Swallow, 208 Osóbka-Morawski, Edward, 140 Ostpreußen, 49, 71, 93, 135, 140, 166, 197, 204, 206 Ostrowo, 120 Ostsee-Institut, 199 f., 202, 272 O´srodek Bada´n Naukowych im. W. K˛etrzy´nskiego, 272 Ottmuth, 85 Pafawag, 56, 81, 155 Pa´nstwowa Komisja Planowania Gospodarczego, siehe PKPG Pa´nstwowe Gospodarstwo Rolne, siehe PGR Pa´nstwowy Urzad ˛ Repatriacji, siehe PUR Parchwitz, 99 f., 284 Penzig, 155, 285 f. Petersdorf, 156, 286 PGR, 243 Piaskowski, Stanisław, 141 f., 146 f., 194, 205 f., 232–234, 236, 240, 251 f. Pieck, Wilhelm, 216, 218 PKPG, 19, 121, 144, 159, 164, 166, 169–172, 174, 187, 192 PKWN, 121, 131, 137–140, 148, 151, 225 Polnische Nationalbank, siehe NBP Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung, siehe PKWN Pommerellen (Wojewodschaft), 203
IX. Register
Pommern, 49, 71, 93, 107, 133, 135, 140, 147, 166 f., 173, 197, 203; Wojewodschaft, 141, 167 Posen, 103, 202; Wojewodschaft, 203; Rüstungsinspektion, 101 f. Potsdamer Kommuniqué, 15, 208, 217, 232 Potsdamer Konferenz, 16 f., 49, 103, 119, 132, 137 f., 149, 208, 216 Potsdamer Protokoll, siehe Potsdamer Kommuniqué Powjatowa Komisja Planowania Gospodarczego, 170 PPR, 139 f., 143 f., 146 f., 152, 155, 157 f., 163 f., 197, 204 f., 213 PPS, 139 f., 146, 155, 157 f., 163 f. Prag (Rüstungsinspektion), 101–103 Prezydium Wojewódzkie Rady Narodowej, siehe PWRN Priebus, 60 f. Prinkenau, 86 Produktionsregime, 67 f., 72, 113, 256, 269 Provisorische Regierung, 17 f., 131 f., 139 f., 142 f., 146 f. Provisorische Regierung der Nationalen Einheit, 132, 140 Provisorische Staatliche Verwaltung, 146 Przeglad ˛ Zachodni, 201 Przywor, 104 PSL, 140, 143, 212 PUR, 121, 213 f., 232, 236 f., 244, 252, 270 PWRN, 152, 188, 242–252 PZPR, 140, 144, 158 f., 163 f., 166, 201, 228 f., 244, 247–249 Rada Naukowa dla Zagadnie´n Ziem Odzyskanych, siehe RNdZZO Rada Zakładowa, 235 Radebeul, 147 Ratibor, 56 Referat Upa´nstowienia Przedsi˛ebiorstw, siehe Referat zur Verstaatlichung der Unternehmen Referat zur Verstaatlichung der Unternehmen, 153 Regierungskommission für die West- und Nordgebiete, 271 Regionaldirektion für innere Planung, 161 Regionalna Dyrekcja Planowania Przestrzennego, siehe Regionaldirektion für innere Planung Reichenbach im Eulengebirge, 59 f., 86, 97, 128, 130, 156, 249–251, 279, 282 f. Reichenberg (Rüstungsinspektion), 101–103
317
Reichsministerium für Rüstung und Munition, siehe Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, 52, 98 f., 106 f. Reichsschulgesetz, 70 Reichswirtschaftsministerium, 75 Rekonstruktionsthese, 19, 40 f., 43–45, 48, 117, 123 f., 263 ´ Resort Gospodarki Narodowej i Finansw Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego, siehe Ressort für nationale Wirtschaft und Finanzen des polnischen Komitees für nationale Befreiung Ressort für nationale Wirtschaft und Finanzen des polnischen Komitees für nationale Befreiung, 140 RNdZZO, 211 f., 214, 218, 233 Rokossowski, Konstanty, 133, 165 f. Roosevelt, Theodore, 137 Rothenburg, 50, 61, 285, 288 RPPS, 140 Rudolph, Hans, 103 Ruhland, 115, 127 Rybicki, Paweł, 212 ´ Rydz-Smigły, Edward, 139 Rzad ˛ Tymczasowy, siehe Provisorische Regierung Rzadowa ˛ Komisja ds. Ziem Zachodnich i Północnych, siehe Regierungskommission für die West- und Nordgebiete SA, 207 Sagan, 59 f., 173, 285 f., 288 f. Salzburg (Rüstungsinspektion), 101–103 Schaff, Adam, 144 Schlacht um den Handel, 156, 158 Schlesische Kulturwoche, siehe Slaski ˛ Tydzie´n Kultury Schlesisches Institut, 199, 202, 272 Schlesisches Institut für Wirtschafts- und Konjunkturforschung, siehe DIW Breslau Schlesisches Wissenschaftliches Institut, 272 Schosdorf, 171 Schweidnitz, 56, 59 f., 85 f., 128, 151, 242, 249 f., 279–281, 283, 290 Schweinfurt, 286 SD, 139 f. SD (Sicherheitsdienst der SS), 207 Sechsjahresplan, 122, 162 f., 166
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IX. Register
Secomski, Kazimierz, 170 SED, 216–218 Seidel, Hanns, 257 Seitendorf, 120 Sejm, 144, 166 Silberberg, 161 SL, 139 f., 146; Exil, 140 Sorau, 60 f., 173, 286 Sowjetische Besatzungszone (SBZ), 53, 56, 132, 134, 182, 216 soziale Marktwirtschaft, 40 soziales System der Produktion, siehe Produktionsregime SP, 139 Speer, Albert, 52, 93, 95, 97–100, 105–107, 110, 114, 130 Spezialkampagne des Wirtschaftsbüros der Maschinen und technischen Einrichtungen, 150 Spezialkampagne des Wirtschaftsbüros der Maschinen und technischen Einrichtungen, 151 spezifische Netzwerkfähigkeit, 34 f., 269 Sprottau, 59 f., 173 SS, 97, 207 Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung, siehe PKPG Staatliche Landwirtschaftsbetriebe, siehe PGR Staatliches Repatriierungsamt, siehe PUR, 121 Stalin, Jossif Wissarionowitsch, 131, 137 Stalinstadt, siehe Eisenhüttenstadt Steinau an der Oder, 125, 289 Stettin, 51 f., 103, 161, 203, 206, 214, 221; Rüstungsinspektion, 101 f.; Wojewodschaft, 208 Strehlen, 60, 125 Strukturbruchhypothese, 40 Stuttgart (Rüstungsinspektion), 101 f. Sty´s, Wincenty, 212 Sudeten, 39, 56, 59, 128, 238, 254, 264, 266, 272 Sudetendeutsche, 206 systemische Wettbewerbsfähigkeit, 43 Szymanski, Józef, 150 Szyr, Eugeniusz, 146, 149, 160 ´ aski Sl ˛ Instytut Naukowy, siehe Schlesisches Wissenschaftliches Institut ´ aski Sl ˛ Tydzie´n Kultury, 219
tacit knowledge, 29 f., 33 f., 36 f., 241 f., 253, 256, 268 f. Tafet, Aleksander, 151 Taylor, Frederick Winslow, 46 Taylorismus, 46 f. Telefunken, 130, 282, 288, 290 Thyssen, 258 Tkaczow, Stanisław, 133 Todt, Fritz, 93, 95, 114 Topi´nski, Jan, 152 Toru´nczyk, Henryk, 214 Towarzystwo Rozwoju Ziem Zachodnich, siehe TRZZ Trebnitz, 61, 224 TRJN, siehe Provisorische Regierung der Nationalen Einheit TRZZ, 271 Tygodnie Ziem Odzyskanych, 219 Tymczasowy Rzad ˛ Jedno´sci Narodowej, siehe Provisorische Regierung der Nationalen Einheit Tymczasowy Zarzad ˛ Pa´nstwowy, siehe Provisorische Staatliche Verwaltung TZP, siehe Provisorische Staatliche Verwaltung Ullersdorf, 281 Urzad ˛ Województwa Wrocławskiego, siehe UWW Urzad ˛ Zatrudnienia, 233, 236 f. UWW, 239 Verband der Polnischen Jugend, siehe ZMP Verband der Polnischen Patrioten, siehe ZPP Vereinigung der Genossenschaften für Lebensmittel Społem, 159 Verwaltung der Wojewodschaft Breslau, siehe UWW Volkswagen, 47 Wabag, 99 Waldenburg, 49, 56, 59–61, 85, 120, 128, 150, 238, 242 f., 245–247, 249 f., 280, 283 Waldenburgische Bergbau AG, siehe Wabag Wansen, 155, 282 Warschau, 23, 119, 130, 139, 157, 170, 174, 236, 246, 266 Warschauer Grenzvertrag, 137 Warschauer Vertrag, 122 Weimarer Republik, 217 Weistritz, 150 Werner, Herbert, 197
IX. Register
West-Institut, 125, 199–202, 211, 220 f. Westverband, 217 Wiedergewonnene-Gebiete-Wochen, siehe Tygodnie Ziem Odzyskanych Wien, 41; Rüstungsinspektion, 101–103 Wiesbaden (Rüstungsinspektion), 101 f. Wirtschaftskomitee des Ministerrates, siehe KERM Wissensarbeiter, 28 f., 32–37, 39, 43, 253, 256, 268–270 Wissenschaftlicher Rat für Fragen zu den Wiedergewonnenen Gebieten, siehe RNdZZO Wi´slicki, Alfred, 148 WKdsUP, 152 f. WKPG, 169 f. Wohlau, 171, 247, 281, 283 Wojciechowski, Zygmunt, 201, 211 Wojewódzka Komisja do spraw Upa´nstwowienia Przedsi˛ebiorstw, siehe WKdsUP Wojewódzka Komisja Planowania Gospodarczego, siehe WKPG Wojewodschafts-Kommission für Wirtschaftsplanung, siehe WKPG Wojewodschafts-Kommission zur Verstaatlichung der Betriebe, siehe WKdsUP Wojewodschafts-Präsidium des
319
Nationalrates, siehe PWRN Wolski, Władysław, 211, 213 f., 233 Wrzosek, Antoni, 56, 161 Wüstegiersdorf, 280 Wystawa Ziem Odzyskanych, siehe Ausstellung zu den Wiedergewonnenen Gebieten Zambrowski, Roman, 143 Zawadzki, Aleksander, 143 Zentrales Amt für Berufsschulen, 229 Zentrales Planungsamt, siehe CUP Zentralkomitee der PPR/PZPR, 143 f., 152, 159, 166, 197, 201, 204 f., 224, 246 f. Zgorzelec, 56, 150, 171 ZMP, 246 Zoppot, 103; Rüstungsinspektion, 101 f. ZPP, 139 Zwangsarbeiter, 79, 89, 91, 94, 111, 114 zweite wirtschaftliche Revolution, 25 f., 65, 268 Zwiazek ˛ Młodziez˙ y Polskiej, siehe ZMP Zwiazek ˛ Obrony Kresów Zachodnich, siehe Westverband Zwiazek ˛ Spółdzielni Spoz˙ ywców Społem, siehe Vereinigung der Genossenschaften für Lebensmittel Społem ˙ Zaganie, 107 ˙ Zak, Andrzej, 213
v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e
Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0846
212. Volker Ebert Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972) 2010. 452 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09692-8 213. Markus A. Denzel / Jan de Vries / Philipp Robinson Rössner (Hg.) Small is Beautiful? Interlopers and Smaller Trading Nations in the Pre-industrial Period Proceedings of the XVth World Economic History Congress in Utrecht (Netherlands) 2009 2011. 278 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09839-7 214. Rolf Walter (Hg.) Globalisierung in der Geschichte Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel 2011. 273 S. mit 29 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09851-9 215. Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548 2011. 526 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09899-1 216. Frank Steinbeck Das Motorrad Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft 2011. 346 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10074-8 217. Markus A. Denzel Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungs verkehr (1621–1827) 2012. 341 S. mit 24 Abb. und 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10135-6 218. Bastian Walter
219.
220.
221.
222.
223.
224.
Informationen, Wissen und Macht Akteure und Techniken städtischer Außenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) 2012. 352 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10132-5 Philipp Robinson Rössner Deflation – Devaluation – Rebellion Geld im Zeitalter der Reformation 2012. XXXIII, 751 S. mit 39 Abb. und 22 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10197-4 Michaela Schmölz-Häberlein Kleinstadtgesellschaft(en) Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts 2012. 405 S. mit 2 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10239-1 Veronika Hyden-Hanscho Reisende, Migranten, Kulturmanager Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730 2013. 410 S. mit 20 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10367-1 Volker Stamm Grundbesitz in einer spätmittel alterlichen Marktgemeinde Land und Leute in Gries bei Bozen 2013. 135 S. mit 5 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10374-9 Hartmut Schleiff / Peter Konecny (Hg.) Staat, Bergbau und Bergakademie Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert 2013. 382 S. mit 13 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10364-0 Sebastian Freudenberg Trado atque dono Die frühmittelalterliche private Grund herrschaft in Ostfranken im Spiegel der Traditionsurkunden der Klöster Lorsch und Fulda (750 bis 900) 2013. 456 S. mit 101 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10471-5
Nach der Westverschiebung Polens 1945 stand die Volksrepublik vor der gewaltigen Aufgabe, eine fremde Industrieregion, deren Bevölkerung bis 1947 nahezu vollständig vertrieben wurde und die ein Drittel des Staatsgebiets bildete, zu inkorporieren und wirtschaftlich zu nutzen. Yaman Kouli untersucht am Beispiel des Gebiets Niederschlesien, wie effektiv das gelang. Die materiellen Voraussetzungen für den Wiederaufbau waren überraschend gut. Das Produktionspotenzial der früheren Ostprovinz war zu Kriegsende 50 Prozent höher als 1936, und die Kriegszerstörungen waren überschaubar. Einzig die De-
montagen hatten einen nennenswerten Umfang, endeten jedoch weit überwiegend noch im Jahr 1945. Deutlich schlechter war es um die „immateriellen“ Voraussetzungen bestellt. Die Quellen belegen, dass die Folgen des Verlusts der Beschäftigten spätestens nach 1950 erheblich gravierender waren, als die polnischen Ministerien zunächst annahmen. Die Wissensinfrastruktur der Region war zerschlagen und das Wissen der ehemaligen Arbeitskräfte stand für die Rekonstruktion der wissensbasierten, nach-industriellen Wirtschaft nicht mehr zur Verfügung. Hieran vor allem scheiterte die Rekonstruktion.
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ISBN 978-3-515-10655-9