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German Pages 428 Year 2008
Anselm Winfried Müller Produktion oder Praxis?
Anselm Winfried Müller
Produktion oder Praxis? Philosophie des Handelns am Beispiel der Erziehung
ontos verlag Frankfurt I Paris I Ebikon I Lancaster I New Brunswick
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¤2008 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-938793-85-5 2008 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by buch bücher dd ag
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I – Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie . . . . . . . . . . . 1 2 3 4 5
Anliegen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was Erziehung impliziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbehalte und Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komponenten der Erziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweierlei Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 9 11 25 44 76 96
Teil II – Praxis als Sinn von Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6 7 8 9
Gut handeln und gut leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Funktionen von Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehen – wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehen – für wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124 164 177 197
Teil III – Produktive Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 10 11 12 13 14
Grenzen des technischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kind als Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakterbildung durch Handeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Qualität und kommunikative Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216 236 265 292 314
Teil IV – Varianten ethischer Einwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 15 16 17 18
Ethische Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadien der Reifung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbständig handeln: Von der Erziehung zur Selbsterziehung . . . . . . Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332 343 377 392
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Analytisches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Vorwort
In den Augen prominenter zeitgenössischer Erziehungswissenschaftler ist Kindererziehung in der Familie bestenfalls eine urtümliche und überholte Form, Heranwachsende ins Erwachsenenleben hinein zu begleiten. Heute, so hört man, droht sie sogar zum Störfaktor zu werden, mit dessen Einfluß der professionelle Erzieher in seinem Umgang mit Kindern zu kämpfen hat. – Diese Auffassung beruht auf einem Mißverständnis des Erziehungsbegriffs. Ihr gilt es um der Kinder und der Zukunft unserer Gesellschaft willen entgegenzutreten. Und dazu soll in diesem Buch die Philosophie einen Beitrag leisten. Das ist aber nur eine Seite der Überlegungen, die ich hier vortrage. Die andere entspricht einem theoretischen Interesse und läßt sich durch folgende These kennzeichnen: Um den hauptsächlichen Gegenstand der Handlungsphilosophie – was Menschen tun – adäquat zu verstehen, muß man seine komplexe Teleologie analysieren, die sich vorwiegend in den Kategorien von Produktion und Praxis niederschlägt – wobei insbesondere die teleologische Analyse des Handelns unvermeidlich Dimensionen ethischer Bewertung ins Spiel bringt, die der heute gängigen Handlungstheorie fernliegen. Die beiden Perspektiven treffen zusammen in der handlungsphilosophischen Analyse der Erziehung und des ihr eigenen Beitrags zur charakterlichen Selbständigkeit des Menschen. Kaum ein Begriff ist wohl besser geeignet als der Erziehungsbegriff, die Strukturen deutlich zu machen, in denen funktionale und intentionale Zweck-Bezüge ineinandergreifen, um spezifisch menschliches Tun und Lassen zu konstituieren. Wenn es gegenwärtig in der Allgemeinen Pädagogik an gründlichen handlungsphilosophischen Analysen und daher auch an einem brauchbaren Ideal pädagogischen Handelns fehlt, so ist daran die akademische Philosophie nicht ganz unschuldig. Philosophen schenken nämlich heute dem Bereich der Erziehung und der Bildung kaum Beachtung – in deutlichem Unterschied zu früheren Epochen der Philosophiegeschichte: man denke nur an die sokratische Untersuchung der Frage, ob Tugend lehrbar sei. Die Vernachlässigung der Erziehungsphilosophie ist gewiß zum Teil eine Kehrseite modischer Vorlieben. Doch geht man wohl auch, gerade in Kreisen der Analytischen Philosophie, davon aus, daß pädagogische Themen keine grundsätzlichen philosophischen Fragen aufwerfen und daß sie eher Stoff für gescheite Aphorismen als für anspruchsvolle Analysen bieten. Die Erörterungen dieses Buches sollten – ob man ihnen nun zustimmt oder nicht – mit diesem Vorurteil aufräumen. Tatsächlich ist Erziehungsphilosophie ein faszinierendes Gebiet mit Verbindungen zu allen möglichen anderen philosophischen Disziplinen und Themen.
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Vorwort
Man muß nur die richtigen Fragen stellen, und sofort gibt der Erziehungsbegriff den Blick in seine Tiefendimensionen frei. Auch müssen die Antworten keineswegs beim Selbstverständlichen stehenbleiben. Jedenfalls wird mancher vielleicht zunächst den Kopf schütteln, wenn dieses Buch zu dem Ergebnis kommt, daß man erst einmal klären muß, was gute Erziehung ist, um zu sehen, was Erziehung ist – nicht umgekehrt; oder daß erzieherisches Handeln nicht in erzieherischen Handlungen besteht; daß man zwar Erziehung als Produktion, aber nicht das Kleinkind als ihr Material auffassen kann; daß jemand beim Erziehen nicht gestört werden kann, weil er beim Leben nicht gestört werden kann; daß sich Erziehung nicht als stellvertretende Vorwegnahme der Selbstbestimmung des Erzogenen legitimieren läßt; daß nicht der Erzieher, sondern der Erziehungstheoretiker eine Vorstellung vom Erziehungsziel benötigt; daß man für gute Erziehung verantwortlich sein kann, ohne für ein gutes Erziehungsergebnis verantwortlich zu sein; oder daß zum Erziehen Charakter, nicht Kompetenz qualifiziert. Übrigens erhält auch Sokrates eine Antwort auf seine Frage. Tugend, so meine These, kann der Erzieher zwar das Kind nicht lehren; doch kann das Kind sie vom Erzieher lernen. Wie das oft so geht, verdankt auch dieses Buch sein Zustandekommen einem äußeren Anlaß. Ich begann vor einiger Zeit, meine früheren Arbeiten zu erziehungsphilosophischen Themen zu sichten, um sie womöglich in den Zusammenhang der zugrunde liegenden anthropologischen Konzeption zu stellen und unter dieser Perspektive neu herauszugeben. Dabei wurde mir bewußt, daß ich die Frage, was Erziehung sei, nie explizit behandelt hatte. Aus dem Bemühen, das Versäumte nachzuholen, entstand dann kein einführender Aufsatz, sondern eine ausgiebigere handlungsphilosophische Untersuchung, deren Ergebnisse ich in diesem Buch zur Diskussion stelle. Einem Überblick über die wichtigsten Themen und über den Aufbau des Ganzen bietet das erste Kapitel. Er wird durch das ausführliche Analytische Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches ergänzt, das an die Stelle eines Sachregisters tritt. Wenn es ans Danken geht, habe ich vor allem Elizabeth Anscombe, meine inzwischen verstorbene Lehrerin, und Philippa Foot zu nennen. Sie waren zwar an der Entstehung dieses Buches nicht unmittelbar beteiligt, haben aber mein Nachdenken über seine Themen stärker beeinflußt als irgend jemand sonst. Die kritische Durchsicht einer ursprünglichen Fassung sowie entsprechende Korrekturvorschläge verdanke ich Timo Ertz, Markus Kohl, Svenja Schattka und Amos Schmidt. Philippe Gonon hat das Manuskript gelesen, hilfreich mit mir diskutiert und sich, ebenso wie Norbert Hinske, für die Veröffentlichung engagiert. Heinrich P. Delfosse hat es unter Mitwirkung von Paul Weber fachmännisch für die Drucklegung vorbereitet. Februar 2007
Anselm Winfried Müller
TEIL I Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie Was Menschen tun und lassen, läßt sich, je nach Blickwinkel, unterschiedlich kategorisieren und beurteilen. Es ist in vielen Fällen Bewegung im Raum, hat eine physiologische Basis, geschieht mit Absicht oder nicht, weist Ursachen auf und Wirkungen, bringt Kosten und Nutzen mit sich, gilt als normales oder als abweichendes Verhalten, hat soziale Funktionen und anderes mehr. Zwei eminent bedeutsame Kategorien zur Beschreibung menschlichen Tuns, Produktion und Praxis, führt dieses Buch im Titel. Sie werden erstmals von Aristoteles unter den Bezeichnungen poiesis und praxis ausdrücklich unterschieden und analytisch eingesetzt. Insoweit mein Tun einem isolierbaren Zweck dient, ist es poiesis. Unter dem Blickwinkel inhärenter Sinnhaftigkeit hingegen ist es praxis. Freiwilliges Verhalten ist in typischen Fällen ein Mittel, um etwas anderes hervorzubringen oder herbeizuführen: es weist die Finalität einer poiesis auf. Was durch diese zustandekommt, wird dann häufig in einer weiteren poiesis als Material oder Werkzeug verwendet. Doch letzten Endes stehen die Ergebnisse der poiesis im Dienst des Lebens. Das Leben eines Menschen aber trägt, als praxis, seinen Sinn in sich selbst. Nicht auf dem Weg einer Zielsetzung – als lebte man in der Absicht, zu leben. Doch gibt es offenbar auch im Leben selbst etwas ›zu erreichen‹ – oder zu verpassen; etwas, das nicht jenseits des Lebens liegt, sondern dessen Qualität ausmacht. Darauf deuten Ausdrücke wie ›gutes Leben‹ hin. Auf das gute Leben bezogen, ist letztendlich alles Tun und Lassen in einem engeren Sinne ›praktisch‹ finalisiert. Das teleologische Kategorienpaar poiesis / praxis spielt also implizit im alltäglichen Verständnis unseres Verhaltens eine herausragende Rolle. Nicht minder bedeutsam ist es aber als explizites Instrument sozialwissenschaftlicher und handlungsphilosophischer Analyse. Was es hier leistet, wird deutlich, wenn man es zur Untersuchung von Handlungszusammenhängen einsetzt, in denen poietische und praktische Finalitäten auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Die Analyse der Erziehung zeigt, wie fruchtbar diese Perspektive sein kann. Erziehung ist zunächst einmal eine Form von Lebenshilfe unter anderen. Um ein guter ›Lebenshelfer‹ zu sein, benötigt man nicht nur – wie bei rein technischen Zwecken – die Kompetenz relevanter poiesis. Denn alle Lebenshilfe steht unter dem doppelten Anspruch poietischer und praktischer Finalität. So soll z. B. Sozialarbeit, zum Teil nach quasi-technischen Regeln, gewisse Zwecke erreichen; insofern ist sie poiesis. Zugleich aber steht sie – immer noch als Sozialarbeit! – unter dem ethischen Anspruch guten Handelns, vor allem hinsichtlich der Qualität der eingesetzten Zwecke und Mittel; und insofern ist sie praxis.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Auf diesem Hintergrund zeichnet sich nun Erziehung – und zwar Erziehung im engeren Sinne, nämlich Hilfe zur Charakterbildung – dadurch aus, daß hier das ›Mittel‹, das den poietischen Zweck ›produzieren‹ soll, selbst in einer praxis besteht. Erziehungsphilosophisch gesehen, ist das die zentrale These des Buches. Sie widerspricht der unter Erziehungswissenschaftlern verbreiteten und zunächst plausiblen Annahme, Erziehung bestehe wesentlich in Handlungen – in Maßnahmen, die in erzieherischer Absicht ergriffen werden. Diese Annahme rückt Erziehung in die Nähe technischer Vollzüge. Was man jedoch tatsächlich im allgemeinen unter ›Erziehen‹ versteht, unterscheidet sich schon hinsichtlich seiner Zeitstruktur von Handlungen und Tätigkeiten; sodann wird die Qualität der Erziehung vom nicht-intendierten Erzieher-Verhalten mitbestimmt; und ob im konkreten Fall ein Mensch von einem anderen erzogen wird, entscheidet sich nicht an dessen Zielen. In diesen alltäglichen Erziehungsbegriff gehen bemerkenswert viele Komponenten ein: Vorstellungen von kommunikativer Präsenz und zu verantwortender Einwirkung, die Voraussetzung bestimmter Bedürfnisse und Bedingungen, die Zuweisung asymmetrisch verteilter Rechte und Pflichten, etc. Auch setzt er durchaus voraus, daß es so etwas wie ein Erziehungsziel gibt – aber nicht im Sinne eines vom Erzieher konzipierten und intendierten Zieles. Eher geht es da um eine Funktion der Erziehung. Die allerdings impliziert einen objektiven Maßstab, an dem sich konkrete Erziehung und ihre Bewertung zu orientieren haben. Die zuvor erwähnte quasi technologische Konzeption entfernt sich nicht nur von diesem Begriff, sondern auch von der Wirklichkeit der Erziehung. Ihre Wurzeln und ihre Tragweite werden in einem weiteren ideengeschichtlichen Zusammenhang erkennbar. Sie repräsentiert nämlich einen charakteristischen Zug modernen Denkens: die zunehmende Tendenz, in allem, was Menschen tun und lassen, und schließlich im menschlichen Leben selbst ausschließlich Strukturen der Produktion zu erkennen oder anzuerkennen. Wie im Bereich der Erziehung, so gewöhnen wir uns auch sonst daran, die Wirklichkeit unseres Handelns mit Kategorien des Hervorbringens zu überziehen und auch da noch Produkte zu suchen, wo es in Wirklichkeit um die Qualität des Lebens geht. Angesichts solcher Verirrung fundamentale Strukturen und Ansprüche praktischer Vernunft erneut zu bedenken, ist heute vielleicht die vornehmste Aufgabe der Handlungsphilosophie.
1 Anliegen und Aufgaben
1
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Anliegen und Aufgaben La civilta` della tecnica non si limita piu` a produrre beni di consumo e strumenti di lavoro, ma si e` gia` incamminata verso la produzione dell’uomo, della sua vita, corpo. sentimenti, rappresentazioni, ambiente, e della sua felicita` ultima. Emanuele Severino, Te´chne
Dieses erste Kapitel des Buches will dem Leser von verschiedenen Seiten her die Aufgabe nahebringen, die ich mir gestellt habe, nämlich: am Beispiel Erziehung die Teleologie jener allgemeinsten Begriffe darzustellen, in denen wir die Strukturen unseres vernunftbestimmten Verhaltens erfassen. Hinter dieser Aufgabe steht ein zweifaches Anliegen. Auf der einen Seite geht es um einen Beitrag zur Analyse grundlegender Begriffe der Daseinsgestaltung; insbesondere um die Untersuchung produkt-bezogener und nicht-produkt-bezogener Sinnhaftigkeit menschlichen Tuns und Lassens, um ein möglichst präzises Verständnis der Unterschiede und der Zusammenhänge zwischen diesen beiden Formen von Verhaltensfinalität.1 Aus dieser handlungsphilosophischen Perspektive liefert der Kontext Erziehung lediglich ›Anschauungsmaterial‹ – allerdings in mehrfacher Hinsicht paradigmatisches Anschauungsmaterial. Denn hier treffen die unterschiedlichsten Aspekte zusammen, die für das Verständnis menschlichen Verhaltens von Bedeutung sind: Rationales und prä-rationales Verhalten, Freiheit und Fremdbestimmung, Verantwortung und Determiniertheit, Eingriff und Unterlassung, Orientierung an Gründen und Spontaneität, reflektierte Zweckverfolgung und Absichtslosigkeit, quasi-technische und ethische Bewertbarkeit, rollenbedingte Ziel-Vorgabe und individuelle Initiative, institutionell bestimmte Zuständigkeit und persönliche Beziehung, Asymmetrie und Gleichberechtigung der Beteiligten und vieles mehr. In dieser Ergiebigkeit des Erziehungsbegriffs also liegt das Interesse der Handlungsphilosophie an pädagogischen Zusammenhängen. Auf der anderen Seite jedoch muß die Theorie der Erziehung ein Interesse daran haben, ihren zentralen Begriff einer handlungsphilosophischen Analyse zu unterziehen. Dementsprechend besteht ein zweites Anliegen des Buches darin, die Analyse von Finalitätsstrukturen des Handelns fruchtbar zu machen für die Philosophie der Erziehung. Im übrigen dürften die hier angestellten Überlegungen von Bedeutung sein für Fragen unseres Selbstverständnisses als Vernunftwesen. Denn die teleologische Analyse offenbart eine Spannung zwischen zwei Weisen, menschliches Verhalten zu betrachten und zu bewerten: der Gesichtspunkt der Produktion und der
1 Finalität schreibe ich zweckbezogenen Dingen – einschließlich Verhaltensformen sowie konkretem Tun und Lassen – zu, während ich von der Teleologie entsprechender Begriffe spreche. Die Idee eines absichtsunabhängigen Zwecks, oder telos, erläutere ich in 5.3.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Kompetenz, zu produzieren, konkurriert mit einem Blickwinkel, aus dem der Wert des Tuns und Lassens eines Menschen auf anderen Qualitäten beruht, die – im weitesten Sinne des Wortes – ethischer Natur sind. Und der Bereich der Erziehung scheint ein Beispiel dafür zu liefern, daß moderne Gesellschaften auf dem Weg sind, die zweite Betrachtungs- und Bewertungsweise zugunsten der ersten zu vernachlässigen und damit Verwerfungen auf dem Gebiet der Rationalität zu riskieren. Den hier skizzierten Anliegen entsprechen Aufgaben, die ich den vier Teilen des Buches zuordne (Abschnitt 1.5). Vorab jedoch gilt es, die übergeordnete Aufgabe einer handlungsphilosophischen Analyse der Erziehung in den Blick zu nehmen. Um die detaillierten Analysen der späteren Kapitel vorzubereiten, will ich daher einige Begriffe, die im Zentrum dieser Analysen stehen werden, einführen und in weitere Zusammenhänge stellen: insbesondere die Begriffe poiesis, praxis, Erziehung und Lebenshilfe sowie die mit ihnen verbundenen Ideen der Finalität und der Bewertbarkeit. Zunächst einmal sollen dem Leser die handlungsphilosophischen Kategorien vorgestellt werden, die meine Untersuchung leiten (1.1). Als zentrale Problematik des Erziehungsbegriffs stellt sich vor diesem Hintergrund heraus, was ich als Dualität der Erziehung bzw. ihres Begriffs bezeichnen werde. Erziehung teilt diese Dualität in gewisser Weise mit anderen Formen der Lebenshilfe: sie ist nach Art einer poiesis (Produktion) auf ein Ergebnis ausgerichtet, steht aber zugleich, als praxis, unter dem Anspruch charakterlich guten Handelns (1.2). Darüber hinaus jedoch zeichnet sich Erziehung anderen Formen der Lebenshilfe gegenüber dadurch aus, daß ihr Medium – der Weg, auf dem das Ziel der Erziehung erreicht werden soll – selber praxis ist (1.3). Dieser Umstand begrenzt die Möglichkeit, im Zuge moderner Technisierung des Lebens die Erziehungsaufgabe zu professionalisieren (1.4).
1.1
Für die Analyse der Erziehung eignet sich eine Handlungsphilosophie, die sich an den Kategorien poiesis und praxis orientiert
Obwohl das Handeln des Menschen seit jeher Thema der Philosophie ist, scheint es eine philosophische Handlungstheorie erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu geben. Man kann sie mit G. Elizabeth Anscombes Intention 2 beginnen lassen. Eine wichtige Weichenstellung erfuhr sie dadurch, daß Donald Davidson sie aufgriff und die Absicht, in der eine Handlung erfolgt, mit ihrer Ursache identifizierte (vgl. Davidson 1980). Diese besteht nach ihm aus zwei 2 Anscombe 1963. Das Buch erschien in erster Auflage 1957, in deutscher Übersetzung erst, nachdem Davidsons Arbeiten zum Thema längst bekannt waren (Absicht, München: Alber 1986).
1 Anliegen und Aufgaben
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Komponenten: dem Verlangen nach einem Zweck und der Auffassung, dieser Zweck sei (am besten) durch die fragliche Handlung zu erreichen. Seither bilden Modifizierung und Diskussion der These, Absichten bzw. Handlungsgründe seien Ursachen, das Zentrum der philosophischen Handlungstheorie. Unterdessen findet die Frage, was Handeln eigentlich heiße, wenig Aufmerksamkeit. Man scheint zudem von zwei impliziten Annahmen auszugehen, die sich etwa so explizieren lassen: a) Was Handeln heißt, untersucht man durch Analyse des Handlungsbegriffs.3 b) Da der Begriff des Handelns kein normativer Begriff ist, läßt sich die Handlungstheorie scharf von der Moralphilosophie trennen, die sich mit der Normierung von Handlungen befaßt. Verzichtet man auf diese Voraussetzungen und insbesondere auf die zweite, so wird klar, daß Philosophen seit der Antike der Sache nach Handlungstheorie betrieben haben: als Teil der Ethik. Insbesondere Aristoteles glaubt, die Frage nach der Struktur des Handelns nicht von der Frage trennen zu können, worin gutes Handeln bestehe. In seinen Ethiken steht ›praxis‹, grob gesprochen, für menschliches Tun, insofern es die charakterliche Qualität des Handelnden manifestiert. Und in diesem Sinne werde ich den Ausdruck vorläufig verwenden.4 Im allgemeinen wird das Altgriechische ›praxis‹ mit ›Handlung‹ übersetzt. Aber diese Übersetzung ist gerade für unsere Zwecke ungeeignet und eher irreführend. Denn typische Handlungen weisen gerade keine praktische, sondern eine poietische, d. h. produkt-bezogene Struktur auf. Jedenfalls verweisen Handlungsbezeichnungen wie ›ein Buch ins Regal stellen‹ oder ›den Freund zum Bahnhof bringen‹ auf etwas, das erreicht wird oder werden soll. Das Handeln dagegen mag zwar ebenfalls Konsequenzen haben. Es mag durch seine Wirkung auf andere etwas erreichen. Und genau darin liegt, wie sich zeigen wird, die entscheidende Wirkungsweise des Erziehens. Doch als Handeln soll das Handeln nichts erreichen. Sein telos besteht in nichts anderem als im guten Handeln und dessen spezifischer Wert in seiner ethischen Qualität (5.1 und 6.1). Ethische Qualität verdankt das Handeln nicht seinen Wirkungen. Sie ist vielmehr, soweit vorhanden, ›immanent‹. Diese vorläufige Klärung dessen, was ›Handeln‹ meint, nehme ich hier schon vor, um den Leser auf die etwas ungewohnte Begrifflichkeit einzustimmen. Von dieser Begrifflichkeit behaupte ich nämlich einerseits, sie sei für ein angemessenes Verständnis von Erziehung unentbehrlich. Andererseits darf ich nicht damit rechnen, daß sie dem Leser aus der philosophischen Handlungstheorie 3 Ein gutes Beispiel liefert Bennett (1995). Sein Hauptinteresse gilt der Unterscheidung zwischen Handlung und Unterlassung. Der Begriff des Handelns, den ich als teleologischen Begriff erweisen werde, umfaßt beides. 4 In 6.1 wird sich zeigen, daß Handeln nur ein praxis-Begriff unter anderen (wie etwa auch Benehmen) ist. – Ich darf nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß unser Fremdwort ›Praxis‹, wie es in umgangssprachlichen oder sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen (und auch in diesem Buch) verwendet wird, in der Regel nicht die Bedeutung hat, die Aristoteles mit dem Ausdruck ›praxis‹ verbindet. (Das Auftreten von ›Praxis‹ im Titel dieses Buches gehört zu den Ausnahmen von dieser Regel!)
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
oder gar aus der Erziehungswissenschaft vertraut ist. Ich muß ihm also zumuten, sich auf einen dem Zweck der Untersuchung angepaßten Wortgebrauch einzustellen. Insbesondere werde ich auch das Wort ›praktisch‹ nicht in seiner sehr weiten umgangssprachlichen Bedeutung verwenden (die gerade das Poietische in den Blick bringt!); als praktisch bezeichne ich vielmehr, was mit praxis bzw. Handeln (im erläuterten Sinne) zu tun hat. Wenn ich Erziehung als exemplarisches Thema der Handlungsphilosophie zur Sprache bringe, so knüpfe ich also an die hier angesprochene aristotelische Begrifflichkeit mit ihrer Abgrenzung von praxis gegen poiesis an, nicht an die jüngere von Davidson inspirierte Tradition, die die Frage nach Ursachen in den Mittelpunkt handlungstheoretischer Erörterungen rückt. Aus einer Anlehnung an diese jüngere Tradition würde die Untersuchung des Erziehungsbegriffs kaum viel Gewinn ziehen. Unter der Beleuchtung durch die teleologischen Kategorien poiesis und praxis hingegen wird dieser Begriff ein unerwartetes Profil darbieten.5 Sobald ich nämlich diese beiden Kategorien in Kapitel 5 genauer erläutert habe, möchte ich zeigen, daß und inwiefern Erziehung den Charakter einer poiesis mit dem einer praxis verbindet. Umgekehrt hoffe ich auch, durch teleologische Analyse eines komplexen Begriffs wie Erziehung deutlich zu machen, daß das Studium von poiesis und praxis einen zentralen Platz in der Handlungsphilosophie verdient.
5 In erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen ist mir eine Erinnerung an die teleologischen Kategorien der aristotelischen Handlungsphilosophie eher selten begegnet. Alfred Langewand (1992) spricht von der »Normativität des Handelns«. Allerdings sieht er diese Normativität nicht im alltäglichen Begriff des Handelns, sondern in theoretischen Handlungsbegriffen impliziert (S. 428). Eine Unterscheidung zwischen Handlung und Handeln kennt er nicht. Die Begrifflichkeit von poiesis und praxis (S. 428, 430) findet zwar Erwähnung, aber keine erziehungstheoretische Verwertung. Näher an meinem Thema liegen Überlegungen von Micha Brumlik (1992), der die Kategorien von poiesis und praxis ausdrücklich auf Erziehung bezieht. Allerdings deutet er ›praxis‹ im Sinne »intersubjektiv vernünftigen« oder »kommunikativen Handelns«, so daß seine Frage lautet, »ob die erzieherische Beeinflussung von Edukanden nach dem Bild der Herstellung eines Gegenstandes oder des Miteinanders von Verständigung gedeutet wird« (S. 407). Daher kann praxis als solche für ihn durch Erziehungsziele finalisiert sein, während die Finalität der aristotelisch verstandenen praxis, die auch mein Thema sein wird, eine Art Selbstzwecklichkeit bedeutet. An Brumliks Unterscheidung erinnert auch eine Bemerkung von Oelkers (2001, S. 264 f.): »Die Sprache des Herstellens oder der Produktion suggeriert eine Technizität, die nicht vorhanden ist und auch nicht entwickelt werden kann, wenn Erziehung weiterhin als Humanum, als Austausch zwischen Personen verstanden werden soll. Der Prozess muss daher grundsätzlich als Interaktion verstanden werden [...]«. Im Hintergrund steht in beiden Fällen eine von Jürgen Habermas (zuletzt 2001, S. 80 f.) vertretene AristotelesDeutung. Vgl. ferner Buck (1981, S. 166): »Erziehung ist nicht primär spezialisierte Techne, kein von einschlägigem Fachwissen geleitetes Produzieren von Verhaltensweisen in oder an einem vorgegebenen Material [...]. Sie ist Praxis, intersubjektives Handeln, das seinen Sinn nicht erst von einem Produkt jenseits der Tätigkeiten her bezieht.«
1 Anliegen und Aufgaben
1.2
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Lebenshilfe ist als poiesis eine Sache der Kompetenz, als praxis eine Sache des Charakters
Das Wort ›Erzieher‹ gehört zu einer Gruppe von Rollen- und Berufsbezeichnungen, mit denen wir Personen als Lebenshelfer charakterisieren6. Einen Lebenshelfer kennzeichnet die Tatsache, daß er als solcher unter zwei Ansprüchen steht, die das, was er tut, zum einen als poiesis und zum anderen als praxis erscheinen lassen. Auf der einen Seite nämlich ist sein Tun – wie alles, was sich zur Berufstätigkeit machen läßt – darauf ausgerichtet, etwas mehr oder weniger Bestimmtes zu erreichen, typischerweise durch Einsatz einer charakteristischen Fähigkeit oder Kompetenz. Auf der anderen Seite aber scheint es der Lebenshilfe eigentümlich zu sein, daß sie darüber hinaus auch Ansprüche an den Charakter des Lebenshelfers stellt, also ethische Ansprüche. Diese Ansprüche resultieren daraus, daß Lebenshilfe Einwirkung auf Menschen bedeutet. Damit dem anderen tatsächlich geholfen ist, müssen a) Ziel und b) Weg der Einwirkung ethischen Maßstäben gerecht werden. a) Was erreicht werden soll, muß diesen Maßstäben genügen, insofern es einen Beitrag zum Wohl des Betroffenen leisten muß. Schon deshalb muß die Einstellung des Helfenden zum Betroffenen ethisch qualifiziert sein – durch Ausrichtung auf dessen Wohl, durch das Motiv, ihm auf dem Weg über den Erfolg der poiesis zu helfen. b) Auch das Wie des Vorgehens muß von einer ethisch qualifizierten Einstellung geprägt sein. Der Umgang mit dem Betroffenen, die Weise, wie das Ziel erreicht werden soll, bedarf nicht nur quasi-technischer, sondern auch ethischer Qualifikation. Zu den Lebenshelfern rechne ich z. B. Rechtsanwälte und Richter, Sozialarbeiter, Lebensberater und Mediatoren, Seelsorger und Therapeuten, Politiker, Publizisten und (bitte nicht erschrecken!) Werbefachleute, Ausbilder, Lehrer und eben auch Erzieher. Jede Art von Lebenshilfe weist neben ihrer poietischen Qualität eine praktische Seite (im engeren, praxis-bezogenen Sinne) auf. Diese Seite ist nicht in allen Fällen mit gleicher Deutlichkeit auszumachen, und es geht mir nicht darum, zwischen Lebenshelfer- und anderen Rollen eine scharfe Grenze zu ziehen. Wie aber läßt sich überhaupt ausmachen, ob ein Begriff die behauptete Dualität aufweist? – Es gibt einen Test: Um Lebenshelfer-Bezeichnung zu sein, muß
6 Zum Begriff der Hilfe im Kontext der Pädagogik vgl. Gängler 1999 und 2004. In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik faßt man Erziehung ausdrücklich als Hilfe auf. Unter Brezinkas Büchern findet sich der Titel Erziehung als Lebenshilfe (1957). »Diese enge Verbindung von Hilfemotiv und Erziehungsbegriff« hat aber »im Laufe der Ausdifferenzierung einer Allgemeinen Pädagogik nicht Bestand. [...] Das Hilfemotiv wanderte in die sich seit den 60er Jahren zunehmend wissenschaftlich etablierende Sozialpädagogik ab« (Gängler 1999, S. 778). Im übrigen tun sich »die Wissenschaften [...] mit Phänomen und Begriff [der Hilfe] vergleichsweise schwer; bislang ist eine allgemeine Theorie des Helfens nicht in Sicht« (Gängler 2004, S. 144).
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
ein Ausdruck zunächst einmal, wie andere Rollen- und Funktionsbezeichnungen auch, in den sprachlichen Konstruktionen ›guter X‹ und ›schlechter X‹ sinnvoll einsetzbar sein. Sodann muß eine weitere Bedingung erfüllt sein: Die in diesen Konstruktionen ausgedrückte Bewertung einer Person als X – und das ist das Spezifische von Lebenshilfe-Begriffen – orientiert sich nach den Regeln des Sprachgebrauchs nicht ausschließlich an der professionellen Kompetenz der Person, etwas zu erreichen; vielmehr berücksichtigt sie auch die ethische Qualität ihrer Absicht und der Art und Weise, wie sie die Kompetenz ausübt. Nach diesem Test ist beispielsweise nicht der Programmierer, wohl aber der Lehrer ein Lebenshelfer. In anderen Fällen verlangt der Test mehr Nachdenken. Eine erhellende Passage habe ich bei Willard v. O. Quine (1987, S. 183) gefunden: »Happily there are lawyers who will take on only such cases as they deem to be just, and politicians who will espouse only a cause that is righteous; but these scruples are not adjuncts of the rhetorical pole, nor are they keys to success in the legal or political profession«. Die Rhetorik ordnet der Autor hier, wie Platon und Aristoteles vor ihm7, als bloße Technik, nicht als Lebenshilfe ein. Dagegen wecken zwei Berufe, die sich ihrer bedienen, der des Advokaten und der des Politikers, ihrem Begriff nach die Erwartung, daß die jeweilige Kompetenz aus guten Motiven und insbesondere zu guten Zwecken mobilisiert wird. Sie sind somit Lebenshelfer-Berufe. Freilich verbürgt die ethische Qualifizierung ihrer Ausübung und ihrer Ziele, wie Quine hinzufügt, durchaus nicht das Erreichen dieser Ziele (oder gar sonstiger Ziele, derentwegen man solche Berufe nicht selten ausübt). Gelegentlich fördert der Test eine Unbestimmtheit des Begriffs zutage, die uns beunruhigen sollte. Ob z.B. die Bezeichnung ›Arzt‹ einen Lebenshelfer bezeichnet oder nicht, das macht der Test davon abhängig, ob jemand, um ein guter Arzt zu sein, über sein medizinisches Können hinaus auch eine Haltung, insbesondere die Bereitschaft mitbringen muß, sich auf ethisch erlaubten Wegen für das wirkliche Wohl der Patienten einzusetzen; davon also, ob seine Qualität als Arzt auch an der Qualität seines Charakters hängt (vgl. von Staden 1997). Verneint man dies – erwartet man also vom Arzt als solchem keine andere Qualifikation als fachliche Kompetenz, wie immer es um Zweck und Menschlichkeit ihres Einsatzes bestellt sein mag – , so betrachtet man ihn nicht als Lebenshelfer im hier erläuterten Sinn. Für den Fall des Erziehers8 läßt sich Entsprechendes gar nicht denken. Daß er, auch im Sinne meines Tests, als Lebenshelfer zu gelten hat, dürfte kaum strittig
7 Aristoteles unterscheidet im übrigen ausdrücklich zwei Bedeutungen von ›Rhetor‹ – je nach dem, ob über die technische Qualifikation hinaus ethisch fragwürdige Ziele impliziert sind oder nicht: Rhetorik I 1, 1355b18–20. 8 Wenn ich in meinen Erörterungen schematisierend von ›dem Erzieher‹ spreche, will ich damit weder die Erzieherin für weniger paradigmatisch erklären noch ausschließen, daß sich die Eltern eines Kindes oder auch andere Personen die Aufgabe, es zu erziehen, teilen.
1 Anliegen und Aufgaben
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sein. Nur Theorien der Erziehung sind gelegentlich so formuliert, als wäre das, was den guten Erzieher ausmacht, bloße Kompetenz. Demgegenüber werde ich zeigen, daß es eher diese Seite der Lebenshilfe ist, die der Erziehung abgeht. Daß der gute Erzieher charakterliche Qualitäten aufweisen muß, ist viel weniger zweifelhaft, als daß ihn eine spezifische Kompetenz auszeichnet. Aber wie dem auch sei, auf jeden Fall unterscheidet er sich von anderen Lebenshelfern in einem zentralen Punkt, auf den ich hier schon aufmerksam machen will.
1.3
Das Medium der Erziehung ist praxis
Die beschriebene Dualität ist ein grundlegendes und repräsentatives Kennzeichen jeder Lebenshilfe. Zugleich jedoch kennzeichnet sie die Erziehung in ganz besonderer Weise. Wie wir nämlich sehen werden, ist hier die praktische Komponente selbst das entscheidende Mittel – oder besser: Medium – der ›Produktivität‹. (›Mittel‹ suggeriert eine bewußte Zweckrationalität, die der Ausdruck ›Medium‹ nicht impliziert und die, wie ich zeigen werde, auch nicht zur Struktur der Erziehung gehört.) Vom Erzieher könnte man sagen: Um als guter Erzieher zu gelten, muß er nicht eine erziehungsspezifische Kompetenz auf ethisch qualifizierte Weise und zu ethisch qualifizierten Zwecken einsetzen, sondern dem Zweck der Erziehung durch ethisch qualifizierte praxis – statt durch kompetente poiesis – dienen. Ein Anliegen meiner Untersuchung besteht darin, dieses Strukturmoment der Erziehung durch handlungsphilosophische Analyse ihres Begriffs zu eruieren und näher zu charakterisieren 9; ein weiteres im Nachweis, daß es zentral ist: daß ein angemessenes Verständnis der Erziehung und vieler ihrer Aspekte davon abhängt, daß man Natur und Bedeutung ihrer praktischen Komponente von vornherein zur Kenntnis nimmt. Den poietischen Charakter der Erziehung muß man nicht leugnen. Sie kann insofern als poiesis gelten, als sie ihrem Begriff nach, unabhängig von der Intention des Erziehers, auf eine Art ›Produkt‹ ausgerichtet ist: auf das Erzogen-Sein von Kindern. Das gilt auch von der Charaktererziehung – der Erziehung im engeren Sinne10, der meine Analyse gilt. Ihre Leistung besteht darin, etwas zu 9 Brumlik (1992, S. 406 f.) bringt zwar das Thema Erziehung mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen praxis und poiesis in Verbindung. Doch sieht er in diesem Begriffspaar nur die Basis für zwei konkurrierende Konzeptionen von Erziehung. (S. 407: »Es ist ein entscheidender Unterschied, ob die erzieherische Beeinflussung von Edukanden nach dem Bild der Herstellung eines Gegenstandes oder des Miteinanders von Verständigung gedeutet wird.«) Er versäumt es, zunächst einmal die inhärente Finalität des Handelns so zu bestimmen, daß deutlich werden könnte, wie Erziehung gerade auf der Grundlage dieser Finalität zugleich als poiesis gelten kann. 10 In meinem Wortgebrauch schließe ich mich hier Groothoff (1972, S. 734) an, der unter Berufung auf Kant und Schleiermacher (vgl. 1968, S. 380) »zwischen Erziehung im weiteren und im engeren Sinne« unterscheidet. Der letzteren ist es um »Moralisierung« oder
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
erreichen – die Verfassung zu modifizieren, in der sie die Kinder vorfindet. Solches Modifizieren ist zwar kein Herstellen, aber doch eine Art Hervorbringen und in diesem weiten Sinne poiesis. Was ich zu zeigen hoffe, ist lediglich das Ungenügen dieser Sicht. Erziehung ist auch praxis und gerade durch ihre praktischen Qualitäten poietisch, nämlich erzieherisch, wirksam. Als praxis ist sie nicht ergebnis-orientiert, sondern einzig durch die Güte des Handelns finalisiert, in dem sie besteht. In einer paradoxen Formulierung könnte man sagen: Der Erzieher qualifiziert sein Gegenüber dadurch, daß er sich selbst qualifiziert.11 Dabei wirkt das Handeln des Erziehers auf mehr als eine Weise erzieherisch, ohne auf erzieherische Absichten angewiesen zu sein. Und zwar charakteristischerweise auf zwei Wegen: einmal dadurch, daß verbales und vor allem nonverbales Verhalten des Erziehers dem Heranwachsenden Strukturen des Handelns präsentiert und vermittelt (13.2–3); sodann aber auch dadurch, daß ebendieses Verhalten Umgang mit dem Heranwachsenden bedeutet (13.4–6). Daß es auch ›Erziehungsmaßnahmen‹ gibt, insbesondere also Handlungen, mit denen der Erzieher ein erzieherisches Ergebnis intendiert, bestreite ich nicht. Doch ist ihre Qualität eine Frage der praktischen Vernunft: eine Frage jener ethisch qualifizierten Vernünftigkeit, die das Handeln des Erziehers überhaupt bestimmen sollte. Wenn das Besondere der Erziehung im Vergleich zu anderen Formen der Lebenshilfe darin liegt, daß hier das Handeln, also praxis, selbst das Medium der poiesis ist, dann ist sie entweder auf besondere Kompetenz nicht angewiesen; oder die Kompetenz, geeignete Erziehungsmaßnahmen zu ergreifen, trägt nur als Komponente ethisch qualifizierter Vernünftigkeit zur Qualität der Erziehung bei (14.3–4). Keinesfalls gibt es eine erzieherische Kompetenz, die sich – wie die (quasi technische) Kompetenz eines Arztes oder Ausbilders – unabhängig von der ethischen, also charakterlichen, Eignung zum Lebenshelfer bestimmen ließe. Was ich in diesem Abschnitt behaupte, hat einstweilen den Charakter vorläufiger Andeutung. Und es wirft tausend Fragen auf: Was ist denn das hier beschworene ›Handeln‹, wenn es nicht aus Handlungen besteht? Wie kann Erziehung – oder irgend etwas anderes – poiesis und praxis zugleich sein? In welchem Verhältnis stehen die beiden Kategorien zueinander? Welche Bedeutung hat letzten Endes die Klärung solcher Fragen für das Verständnis von Erziehung? Und so weiter. Alle diese Fragen werde ich in den folgenden Kapiteln erörtern und nach Kräften beantworten. »(gute) Gesinnung« zu tun. Mit ›Erziehung‹ in einem weiteren Sinne verbinden sich mehr oder weniger unterschiedliche und teils vage Vorstellungen der Förderung von Kindern und Jugendlichen. Meine handlungsphilosophischen Erörterungen gehen davon aus, daß tatsächlich ethische Erziehung den Kern eines jeden Tuns bildet, das man überhaupt als ›Erziehung‹ bezeichnen kann. Vgl. Kapitel 6–8. 11 Vgl. dazu 15.1. In einem anderen Sinne läßt sich auch behaupten, der Erzieher qualifiziere sich selbst, indem er sein Gegenüber qualifiziere. Er tut dies, insofern er die ErzieherTugenden praktiziert (13.4–5).
1 Anliegen und Aufgaben
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So manchem Leser wird weder ein poietisches noch ein praktisches Verständnis der Erziehung auf Anhieb plausibel erscheinen. Das poietische Verständnis scheint zu implizieren, daß der Erzieher aus seinem Gegenüber ›etwas macht‹ und damit dessen Anspruch auf ein menschliches Eigenleben ignoriert. Auf der anderen Seite ist schwer zu sehen, wie denn bloßes ›Handeln‹, ohne auf ein Erziehungsergebnis ausgerichtet zu sein, als Erziehung soll gelten können. Auch diese Schwierigkeiten werde ich selbstverständlich aufgreifen und, wie ich hoffe, ausräumen.
1.4
In neueren Erziehungskonzeptionen spiegelt sich poietisches Denken als Grundzug der Moderne
Gewöhnlich werden, wie gesagt, Erzieher – ich denke insbesondere an Eltern – in dem, was sie tun, weder poiesis noch praxis sehen, sondern ohne jede Theorie ihrer Aufgabe nachgehen. Anders steht es um die Erziehungswissenschaft. Auch sie bedient sich kaum dieser beiden Kategorien, um zu sagen, was Erziehung sei. Doch neigen ihre heutigen Vertreter in der Regel einem zumindest implizit poietischen Verständnis zu (vgl. Kapitel 18). Dies mag in manchen Fällen als Reaktion auf reformpädagogische Konzeptionen zu deuten sein, die den Impuls des Kindes zum ausschlaggebenden Faktor des Erziehungsgeschehens erklären (vgl. Kapitel 11) und der Absicht des Erziehers, dies oder jenes zu erreichen, eine Absage erteilen. Ihnen gegenüber soll dann die absichtsvolle Einwirkung des Erziehers, auch und gerade in ihrer vielleicht problematischen Bedeutung, herausgestellt werden. Doch dürften einseitig poietische Vorstellungen von Erziehung tiefere Wurzeln haben – Wurzeln in einer sehr grundlegenden Tendenz der Moderne. Was den Kern der Moderne ausmacht, muß hier nicht diskutiert werden. Aber zweifellos ist sie durch eine Karriere der poiesis, genauer: der poietischen Betrachtungsweise, gekennzeichnet. Das Bewußtsein des modernen Menschen, der Natur als mehr oder weniger unabhängiges Subjekt gegenüberzustehen, manifestiert sich in verschiedenen Varianten. Und so steht insbesondere neben dem Anspruch des modernen Menschen, sich selbst mit eigenen Kräften und nach Maßgabe eigener Kategorien über die Wirklichkeit aufzuklären, das Bewußtsein, aufgrund der erworbenen Kenntnis der Natur nach eigenen Zielvorstellungen darüber befinden zu können und zu sollen, was aus den Vorgaben dieser Natur durch eigenes Wirken hervorgeht. Auf mehr oder weniger verhaltene Weise klingt der poietische Unterton auch in modernen Theorien der theoretischen und der praktischen Vernunft mit. Seit Immanuel Kant ist er nicht zu überhören: Im Zuge der Erkenntnis erfahrbarer Gegenstände besorgt das Subjekt, zumindest partiell, auch deren Konstitution; und Moralität ist praktische Anerkennung selbst-gegebener Gesetze aus Ach-
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
tung vor dieser Gesetzgebung und insofern autonom. Idealistische Philosophien führen dieses Denken weiter. Auf der anderen Seite tritt die poietische Einstellung natürlich primär und unmittelbarer in den Bereichen von Technik und Kunst zutage. Gewiß gibt es poiesis immer und überall, wo Menschen mittels Technik und Wirtschaft für ihr Dasein sorgen und künstlerisch sich selbst zum Ausdruck bringen. Auf diesem anthropologischen Hintergrund zeichnet sich die Moderne zweifellos dadurch aus, daß sie mit einem enorm beschleunigten Zuwachs an Techniken und Produkten einhergeht, so daß wir in einer Welt von Artefakten zu leben scheinen. Doch ist das eigentlich Moderne an der Moderne nicht die technische Zivilisation als solche, sondern der erweiterte und weiter zunehmende Anspruch der poietischen Einstellung. Dieser Anspruch artikuliert sich in einem gesteigerten Bewußtsein, die Natur in Dienst nehmen zu können; in der Ausrichtung auf immer neue ProduktKonzeptionen; in der Idee, auf diesem Weg unbegrenzt fortschreiten und menschlichen Fortschritt sichern zu können; in der Emanzipation des Produktionsbedarfs von wirklich zu deckenden Bedürfnissen; in der Erwartung, durch Arbeit verwirkliche sich der Mensch12; im Selbstbewußtsein des Künstlers, Nieda-Gewesenes zu schaffen; in der Ausdehnung der poietischen Betrachtungsweise auf neue Bereiche. Bemerkenswert ist vor allem dieser letzte Punkt. Gewiß, so etwas wie ›Poietisierung‹ von Lebensbereichen hat es immer gegeben. Man denke etwa an die Prostitution. Neu ist jedoch, daß man die poietische Struktur als Modell betrachtet oder wenigstens behandelt, an dem sich menschliches Tun und Lassen überhaupt zu orientieren hat und messen lassen muß; und daß man dementsprechend die Ausdehnung der poietischen Betrachtungsweise auf beliebige Lebensbereiche faktisch bejaht.13
12 Der Gedanke findet sich bekanntlich bei Hegel und, in gebrochener Fassung, bei Marx und den Marxisten. Er wird aber auch von Autoren aufgegriffen, bei denen man ihn weniger leicht vermutet. Man vergleiche etwa die Enzyklika Laborem exercens von Papst Johannes Paul II (siehe Woitila) (1981). Sie stellt der antiken Verachtung der Arbeit eine Wertschätzung entgegen, die darin zu gründen scheint, daß der Autor im Hinblick auf menschliche Selbstverwirklichung dem Produzieren eine Rolle zuweist, die eher dem Handeln zukommt (vgl. 15.1). 13 Vgl. hierzu Litt 1965, S. 56 f.: »Da die Entwicklung des neuzeitlichen Geistes dem menschlichen Handeln überall da seine sichtbarsten Erfolge beschert hat, wo es gelang, auf einen in völliger Klarheit erfaßten und umgrenzten ›Zweck‹ die Reihe der seiner Verwirklichung dienenden ›Mittel‹ hinzuordnen, so war es nicht mehr als selbstverständlich, daß weithin die Meinung sich durchsetzte, alles menschliche Tun müsse, um des gewünschten Erfolges ganz sicher sein zu können, der gleichen Schematik angepaßt, d. h. auf einen ›Zweck‹ hin ausgerichtet werden, nach dessen Maßgabe die Auswahl der ›Mittel‹ erfolgte. [...] Aber diese technizistische Denkart, die der abendländischen Zivilisation in Fleisch und Blut übergangen ist, vergißt, daß jenes Schema zwar derjenigen Form und Richtung des menschlichen Handelns angemessen ist, an der es sich herausgeklärt hat: der mit den Stoffen und Kräften der ›Natur‹ operierenden – daß es hingegen das auf die
1 Anliegen und Aufgaben
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Dieses Neue zeigt sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Im Fortschrittsglauben: die bessere Lebensqualität läßt sich herstellen; in der utilitaristischen Moral-Konzeption: die Qualität des Handelns ist eine Sache seiner Wert-Produktivität 14; im Existentialismus: nachdem der göttliche Schöpfer ›tot ist‹, bin ich einzig das, wozu ich mich mache, und das Dasein einer Welt, die ich nicht gemacht habe, ist eine Zumutung; in der Fortpflanzungs›medizin‹: unsere Nachkommen sollen dem Design entsprechen, das wir entwerfen (Müller 2002 a); im Wissenschafts‹betrieb‹: der Wissenschaftler bringt Produkte auf den Markt15, und seine Qualität wird nach Quantität und Originalität des veröffentlichten out-put beurteilt; in der Transformation von Dienstleistung und Kommunikation in Service- und Info-Produkte; in der Verlegung von Lebenssinn in Besitz, Prestige, Erfolg. Sogar in der Struktur der Wirtschaft selbst, in der ja die poiesis ohnehin Hausrecht hat: neben das eigentliche, zum Gebrauch bzw. Verbrauch erzeugte und dann auch zum (geld-vermittelten) Tausch auf den Markt gebrachte Produkt tritt, gewissermaßen als zusätzliches Produkt, der Gewinn. Nicht selten verrät die Sprache die veränderte Einstellung; so z. B. in der Rede vom ›Humankapital‹. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Nicht in allen derartigen Fällen usurpiert die poiesis selbst einen neuen Lebensbereich. Dienstleistungen der Eisenbahn z. B. waren schon immer poietischer Natur – auch bevor sie ›Produkte‹ hießen.16 Der Wandel betrifft vor allem und zunächst Betrachtungsweise und Einstellung – die ›Moderne im Kopf‹. Freilich sorgt diese Betrachtungsweise dann auch für einen Wandel in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens: Man schenkt der poietischen Qualität des Tuns mehr Aufmerksamkeit als der praktischen. Wirklichkeit des Geistes, d. h. auf die mehr als ›natürliche‹ Existenz von Menschen und Menschengemeinschaften bezogene Handeln allenfalls in untergeordneten, mechanisierten Funktionen, aber ganz und gar nicht in seinen zentralen Leistungen zu erfassen vermag.« Ähnlich Kaulbach 1982. Guardini 1981, S. 70, datiert den entscheidenden Poietisierungsschub für Europa in die Zeit um 1830 bis 1870. 14 Vgl. auch 6.4 (a). Für Redner (2004, S. 120 f.) ist Utilitarismus in einem weiteren Sinne nicht nur Erscheinungsweise, sondern ausschlaggebender Motor einer fortschreitenden Poietisierung der Kultur und der zwischenmenschlichen Beziehungen: »All the traditional cultures treated utility as a lesser consideration not on a par with the primary ones of goodness or beauty. [...] Incipiently implied in the new natural philosophy of Francis Bacon [...], utility was gradually developed into the major category governing the new ethos of modernity. That which is useful is good because it is conducive to the happiness of society [...]. The utilitarian attitude has been extended to embrace almost everything. Values have given way to utilities almost in every sphere of cultural life.« 15 Stefan Winter (2002, S. 639) formuliert: »Der Produktionsprozeß, an dem Professoren teilnehmen, besteht im Wesentlichen in der Produktion von Forschungsergebnissen, in der Produktion von Ausbildung und in der Produktion von Verwaltungsdienstleistungen«. Und Anne Satir (2003, S. 22) erklärt es für unumgänglich, daß der Forscher »sich und sein Produkt wie ein Unternehmer und nicht wie ein Wissenschaftler präsentiert«. 16 Was durch Transport ›hervorgebracht‹ wird, ist übrigens, streng genommen, die resultierende örtliche Situation des Fahrgasts bzw. des Frachtguts!
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Und was bisher als Vorgabe galt, wird zur Aufgabe – zum Gegenstand des Gestaltens oder des Hervorbringens. Aus der Tierhaltung etwa wird die Tierproduktion. Wenn wir so die Reichweite des Poietischen ausdehnen, bedeutet dies noch keineswegs, daß wir den Anspruch des Praktischen verdrängen oder mißachten. In vielen Bereichen läuft es vielmehr auf eine Verbesserung von Lebensqualität hinaus. So etwa, wenn Umweltbedingungen nicht mehr so behandelt werden, als wären sie reine Vorgabe, sondern auf der Basis des Bewußtseins, daß wir selbst sie teilweise herstellen und daher in der Lage sind, sie zum Gegenstand gezielter Gestaltung zu machen. Poietisiert wird das Leben erst da, wo praktische Strukturen von poietischen verdrängt werden. Zu einer Gefährdung menschlichen Lebens wird dieser Vorgang, insofern er stillschweigend sinnvolle Mittel an die Stelle sinngebender Zwecke setzt, so daß man, ohne es recht zu merken, über dem Wert des Nützlichen und Vorläufigen vergißt, die Qualität des Lebens selbst zu pflegen. Ein Beispiel dafür liefert die Selbstverständlichkeit, mit der man, privat und öffentlich, Geld für die poietische Qualifikation der nachwachsenden Generation, aber nicht für eine als Selbstzweck verstandene Bildung ausgibt (Müller 2002b). Zu den ›neuen Bereichen‹, auf die sich die poietische Betrachtungsweise ausdehnt, gehört insbesondere auch der Bereich der Lebenshilfe. Ein Symptom dafür ist etwa der Umgang der Gesellschaft mit der oben gestellten Frage nach dem Arztberuf. Unsere implizite Antwort zeigt sich in der zunehmenden Tendenz, im Arzt so etwas wie einen Bio-Ingenieur zu sehen, dessen Qualität ausschließlich eine Frage des zweck-neutralen Könnens ist: Ob er dieses Können dazu einsetzt, der Beeinträchtigung durch Krankheit entgegenzuwirken, oder aber in den Dienst umstrittener Zwecke wie Abtreibung, Euthanasie, ›verbrauchender‹ Embryonen-Forschung, Klonierung stellt, wird zur Frage seiner privaten Moral – für seine Qualität als Arzt scheint es keine Bedeutung zu haben (vgl. Müller 2002 a). – Läßt sich eine analoge Poietisierung auch bei der Erziehung feststellen? Der beschriebenen Poietisierungstendenz gegenüber dürften die meisten Menschen eine ambivalente Haltung einnehmen. Auch im zwiespältigen Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur poiesis zeigt sich diese Ambivalenz. Auf der einen Seite verhält sich die Pädagogik, gerade im 20. Jahrhundert, gegenüber einer Poietisierung des menschlichen Lebens kritisch. Das gilt vor allem für ihre Stellungnahme zur Verselbständigung technischer und wirtschaftlicher Ziele, Abläufe und Zukunftsperspektiven. Auf der anderen Seite öffnet sie sich der modernen Wertschätzung von poiesis im Verständnis der Erziehung selbst, und zwar auf zwei Gebieten. Erstens sieht sie im Menschen das ›autopoietische‹ Wesen, das für die eigene Gestalt selbst verantwortlich ist. Das ist natürlich keine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts und schon gar nicht der Luhmannschen Systemtheorie abgeschaut. Eher bleibt die Erziehungswissenschaft dem zentralen Impuls der Aufklärung treu, wenn sie Traditionen, Autoritäten und Außensteuerungen – auch erziehe-
1 Anliegen und Aufgaben
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rischen – im Namen der Mündigkeit kritisch gegenübersteht und dem einzelnen zumutet, sein Denken, Tun und Lassen ›selbst in die Hand zu nehmen‹ und nach eigenen Vorstellungen etwas ›aus sich zu machen‹. In den Zusammenhang dieser Tradition(!) gehören auch Skepsis gegenüber der ›Affirmation‹ oder Übernahme von Vorgaben sowie Ideale der Autonomie, der individuellen oder gemeinschaftlichen, spontanen oder diskursiven Selbstbestimmung, der Emanzipation, der antiautoritären Erziehung und schließlich der Antipädagogik. Und nun zu einem zweiten Gebiet, auf dem sich Pädagogen – eher faktisch als bewußt – für eine typisch moderne, poietisch orientierte Sicht des menschlichen Lebens öffnen. Ich meine das Verständnis der Erziehung selbst. Unter dem Etikett der Professionalität etabliert sich in den letzten Jahrzehnten explizit eine Konzeption der Aufgabe des Erziehers, die ihn, wie ich zeigen werde, implizit zum ›Produzenten‹ macht (Kapitel 18). Der professionelle Erzieher ist ›pädagogischer Experte‹, der auf der Grundlage quasi-technischer Kompetenz ›spezielle Dienstleistungen‹ erbringt, die sich an ›sachgerechten Zielen‹ orientieren.17 Ein poietisches Verständnis der Erziehung ist nicht völlig inkorrekt. Auch trifft man es nicht nur bei einer Erziehungswissenschaft an, die sich für pädagogische Professionalität ausspricht. Eher fördert Professionalisierung eine Tendenz, den praktischen Charakter der Erziehung aus dem Blick zu verlieren oder zu leugnen. Die einseitige Betonung pädagogischer poiesis ist im allgemeinen nicht Grund, sondern Folge des Verlangens nach pädagogischer Professionalität. Professionalisierungstendenzen in der Pädagogik haben unterschiedliche Motive. Eines von ihnen könnte man so formulieren: Nicht nur der Heranwachsende soll sich selbst bestimmen dürfen – auch der Erzieher hat darauf einen Anspruch. Diesem Anspruch scheint jede Konzeption der erzieherischen Aufgabe im Weg zu stehen, die vom Erzieher etwas anderes verlangt als eine abgrenzbare Leistung, wie sie auch in anderen Berufen verlangt werden darf. Die Aufgabe des professionellen Erziehers soll also darauf festlegt und beschränkt sein, gegen Bezahlung wohl-definierte Ziele unter zeitlich begrenztem Einsatz geeigneter Mittel zu verfolgen, und zwar auf der Basis einer lehr- und prüfbaren Kompetenz. Wie das letzte Kapitel deutlich machen wird, ist solche Professionalisierung unweigerlich mit der schon angedeuteten Akzentverschiebung verbunden. Sie stellt den Versuch dar, die pädagogische poiesis vom restlichen Leben des Erziehers abzulösen und die Qualität der Erziehung von der Qualität seines Handelns und somit von seinem Charakter weitgehend unabhängig zu machen. Zu zeigen,
17 Titze 1992 b, S. 511 f.; zu den Themen Professionalität und Professionalisierung vgl. außerdem Giesecke 1999 und die von den beiden Autoren angegebene Literatur. – 1927 schreibt T. Litt (1965, S. 80 f.): »Die ›Technik der Gesellschaft‹, dieses Prunkstück positivistischer Geschichtsauffassung, feiert im Gewande einer Pädagogik, die den Menschen, das Leben, die Zukunft ›machen‹ will, ihre Auferstehung.« – Wie sich eine sozusagen heteropoietische Konzeption der Erziehung mit der oben erwähnten autopoietischen Anthropologie verträgt, kann einstweilen offen bleiben. Vgl. Kapitel 11.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
daß dieser Versuch allenfalls dann gelingen kann, wenn man die pädagogische Aufgabe zu Lasten der Erziehung im engeren Sinne auf Unterrichtung beschränkt, ist vielleicht die zentrale praktisch-kritische Pointe, auf die meine ansonsten theoretischen Erörterungen hinauslaufen.
1.5
Diese Studie widmet sich (I) dem Zusammenhang von Handlungs- und Erziehungsphilosophie, (II) der Finalisierung von poiesis durch praxis, (III) dem umgekehrten Verhältnis und (IV) Varianten erzieherischer Einwirkung
Der Stoff einer grundlegenden handlungsphilosophischen Untersuchung läßt sich nicht leicht organisieren. Denn die Finalitätsstrukturen menschlichen Tuns und Lassens sind bei näherem Hinsehen komplexer, als die bisherige Charakterisierung von poiesis und praxis vermuten läßt. Nicht nur kann man poiesisund praxis-Begriffe auf ein und dasselbe Tun anwenden. Poietische und praktische Finalisierungen sind darüber hinaus auf unterschiedliche Weisen miteinander verschränkt. Dazu kommt dann die Aufgabe, am Beispiel Erziehung die Relevanz der handlungsphilosophischen Analysen zu konkretisieren. Ich versuche, den hier angedeuteten inhaltlichen Zusammenhängen dadurch gerecht zu werden, daß ich die erforderlichen Erörterungen vier Teilen des Buches zuweise. Teil I – Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie: Im folgenden Kapitel stelle ich erst einmal den alltäglichen Erziehungsbegriff und die Abgrenzungen vor, die er markiert. In Kapitel 3 folgt eine Auseinandersetzung mit skeptischen Vorbehalten, die sich gegen diesen Begriff, gegen die Erziehung selbst, gegen das Paradigma der familialen Erziehung und gegen die Möglichkeit richten, objektiv zu bestimmen, was sie eigentlich soll. Kapitel 4 weist nach, daß man nicht klären kann, was Erziehung sei, indem man sozusagen nach dem Stoff fragt, aus dem sie besteht – nach spezifischen ›Elementen oder Eigenschaften erzieherischen Handelns‹. Erziehung läßt sich insbesondere nicht als eine Art von Tätigkeit verstehen. Es zeigt sich, daß man ihrem ›Was?‹ nur beikommt, indem man ihr ›Wozu?‹ bestimmt. Daher unternimmt das letzte Kapitel von Teil I eine nähere Bestimmung der Kategorien poiesis und praxis, um grundlegende Finalitätsstrukturen menschlichen Tuns in den Blick zu bringen und die zweifache Teleologie des Erziehungsbegriffs zu kennzeichnen. Teil II – Praxis als Sinn von Produktion: Die weitere Klärung des Verhältnisses zwischen poietischer und praktischer Finalität beginnt mit einer Analyse der letzteren anhand der Begriffe des guten Handelns und des guten Lebens. Kapitel 7 differenziert sodann zwischen unterschiedlichen Funktionen, in denen poiesis dem Zustandekommen guter praxis dient. Und die folgenden Kapitel beziehen die Ergebnisse der vorangehenden auf die Finalität der Erziehung: Was
2 Was Erziehung impliziert
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soll diese erreichen, und wem kommt ihr ›Produkt‹ zugute? Hier wird also unter neuen, handlungsphilosophischen Vorzeichen das klassische Thema ›Erziehungsziel‹ behandelt. Teil III – Produktive Praxis: Den Schwerpunkt der ganzen Untersuchung bildet der Nachweis, daß ein poietisches Verständnis von Erziehung auf Grenzen stößt und daß im Handeln des Erziehers das eigentliche Medium der Erziehung liegt. Zunächst stellt Kapitel 10 eine Reihe von Gründen zusammen, die es unmöglich machen, Erziehung nach dem Modell einer Technik zu konzipieren. Zählt zu diesen Gründen nicht auch die Forderung, der Erzieher solle sein Gegenüber als Subjekt und daher nicht als Objekt seiner Einwirkung behandeln? Dieser Frage widmet sich das elfte Kapitel, das in diesem Kontext Themen wie Selbsttätigkeit und Freiheit des Kindes sowie das ›Paradox der Erziehung‹ (Bestimmung zur Selbstbestimmung) behandelt. Kapitel 12 zeigt, daß man Erziehung nicht schon deshalb als praxis betrachten kann, weil es ihr an typisch poietischen Bewandtnisstrukturen fehlt, sondern erst im Blick auf die tatsächliche erzieherische Relevanz des Erzieher-Handelns. Dessen Qualität ist eine Frage des Charakters (Kapitel 13) und der praktischen Vernunft (Kapitel 14). Diese handlungsphilosophisch und ethisch zentralen Themen bringen die Arbeit zugleich zum Kern ihrer Antwort auf die Frage ›Was heißt Erziehen?‹ Teil IV – Varianten ethischer Einwirkung: Die in den Teilen I bis III erarbeiteten Resultate bewähren sich, indem sie zu einem besseren Verständnis prominenter Aspekte des Erziehungsgeschehens beitragen. So reflektiert Kapitel 15 die Finalität des Erziehens und des Handelns überhaupt unter dem Gesichtspunkt, daß hier ethische Motivationsstrukturen ›reproduziert‹ werden. Kapitel 16 und 17 greifen auf vorangehende Analysen zurück, um Stadien der Erziehung zu kennzeichnen und Erziehung gegen Selbsterziehung abzugrenzen. Im Schlußkapitel kehre ich zu den Stichworten Poietisierung des Lebens und Professionalisierung der Lebenshilfe aus Abschnitt 1.4 zurück, um zu zeigen, welche Konsequenzen die hier bezogene handlungsphilosophische Position für Begriff und Begründbarkeit pädagogischer Professionalität hat.
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Was Erziehung impliziert Der Meister sprach: Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht. Kungfutse, Gespräche
Um den Begriff einer beliebigen Sache philosophisch zum Klingen zu bringen, muß man ihn zunächst da aufsuchen, wo er sich vorphilosophisch zu Wort meldet: in der Sprache, in der er zu Hause ist, und in allem, was bereits mit dem Wortgebrauch gegeben ist, der den Begriff mehr oder weniger scharf konturiert.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Von einem solchermaßen durch Wortgebrauch konturierten Begriff muß auch jede Analyse der Erziehung ihren Ausgang nehmen. Später werde ich diese Maxime in einer methodologischen Reflexion (3.1) verteidigen. Das gegenwärtige Kapitel soll uns erst einmal an das Verständnis von Erziehung erinnern, das mit dem alltäglichen Sprachgebrauch tatsächlich vorgegeben ist. Es soll den Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich die Erörterungen dieses Buches bewegen werden. Dabei werde ich einen weiteren von einem engeren Erziehungsbegriff unterscheiden (vgl. 2.5 (b)); und ich weise den Leser schon jetzt darauf hin, daß ich das Verhältnis zwischen poiesis und praxis am Beispiel des engeren Erziehungsbegriffs zu erörtern gedenke. An der Weise, wie wir von ›Erziehung‹ reden, läßt sich eine erstaunliche Vielzahl unterscheidbarer Aspekte und Implikationen dieses Begriffs ablesen. Dessen wichtigste Merkmale werde ich in den Abschnitten 2.1–4 in Erinnerung rufen. Sie signalisieren Bedingungen, die eine jede philosophische oder erziehungswissenschaftliche Erörterung respektieren oder wenigstens zur Kenntnis nehmen muß, will sie nicht Gefahr laufen, ihre eigene Konstruktion für den vorgefundenen Gegenstand auszugeben. Und auch wenn die mit dem Erziehungsbegriff gezogenen Grenzen keine wahrnehmbare Aufteilung der Wirklichkeit signalisieren (2.6), müssen sie die theoretische Beschäftigung mit dem Thema leiten (2.5).
2.1
Erziehung impliziert nicht nur kausale, sondern auch finale Strukturen sowie entsprechende Bewertbarkeit
a) Einwirkung: Von Erziehung werden wir nicht sprechen, wo X nicht den geringsten Einfluß auf Y ausübt. Gewiß, ein sicheres Urteil darüber, ob ausgerechnet dieses Verhalten von X jenes Verhalten von Y verursacht hat, ist uns im allgemeinen nicht möglich. Dazu scheint es uns sowohl an handfesten Kriterien als auch an brauchbaren Verallgemeinerungen zu fehlen. (Ist es die Unübersehbarkeit relevanter Faktoren, die verläßlichen Erhebungen im Weg steht?) Dennoch sind wir zu Recht, auch ohne kausale Gesetze zitieren zu können, in solchen Fragen gelegentlich völlig sicher. Im Fall der Erziehung geht es allerdings um mittel- und langfristige Folgen. Hier lassen sich Wirkungszusammenhänge im allgemeinen nicht so sicher behaupten. Trotzdem können wir nicht sagen, B habe A erzogen, ohne Einwirkung anzunehmen. Und niemand käme auf den Gedanken, sich um die Erziehung eines Kindes zu bemühen, wenn er damit nicht die Absicht verbände, dieses Kind zu beeinflussen. Erziehung ist insoweit ein kausaler Begriff. b) Kommunikative Präsenz und Anleitung zum Lernen: Erzieherische Einwirkung setzt voraus, daß B A erlebt und einigermaßen kennt. Vor allem aber: wie immer das Medium der Einwirkung zu bestimmen sein wird, es impliziert umge-
2 Was Erziehung impliziert
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kehrt B’s Präsenz in A’s Erleben. Da die kausale Relevanz der gegenseitigen Präsenz nicht auf physischen Abläufen, sondern auf Mitteilung, Interaktion und wechselseitigem Erleben beruht, spreche ich hier von kommunikativer Präsenz. Tritt an die Stelle dieser Präsenz eine Kausalität beliebigen Manipulierens und Bewirkens, kann nicht mehr von Erziehung die Rede sein. Ihre Kausalität ist die des Anleitens zum Lernen. Was immer dies näherhin heißt: Erziehung ist ihrem Begriff nach etwas anderes als medikamentöse oder chirurgische Einwirkung, Dressur, Hypnose oder dergleichen (vgl. 12.3). Was sie erreichen soll, wird nur erreicht, insoweit es zugleich durch das Lernen erreicht wird, das die erzieherische Anleitung veranlaßt. c) Zweck und Mittel: Erziehung ist aber auch ein teleologischer Begriff18. Wo erzogen wird, nehmen wir nicht nur Einwirkung an: wir haben auch eine Vorstellung davon, was sie soll. Und auf die Frage, was Erziehung sei, antworten wir, indem wir sagen, wozu sie da ist und wodurch sie ihrem Zweck entspricht. Erziehung ist offenbar nicht Selbstzweck. Sie findet ihren Zweck im ErzogenSein von Heranwachsenden, worin auch immer dies bestehen mag. Und der Zweck, das ›Erziehungsziel‹, läßt sich auf bestimmten Wegen erreichen und auf anderen nicht. Also muß es wohl so etwas wie geeignete Erziehungsmittel geben. Über sie besagt der umgangssprachliche Erziehungsbegriff auf den ersten Blick so gut wie nichts. Zur Zielfrage gibt er immerhin so viel her: Erziehung soll Heranwachsende fördern und, näherhin, dazu anleiten oder dabei unterstützen, zusehends selbständig zu leben, und zwar gut zu leben. Allerdings wird sich in meinen handlungsphilosophischen Erörterungen zeigen, daß sich die Ausdrücke ›Mittel‹ und ›Zweck‹ bzw. ›Ziel‹ nicht problemlos auf Erziehung beziehen lassen, da sie an ›erzieherische Absichten‹ denken lassen, die für Erziehung möglicherweise gar nicht konstitutiv sind. Immerhin läßt sich sagen, daß Erziehung auf ein Ergebnis ausgerichtet ist. Und wenn wir uns darauf besinnen, wofür wir Erzieher als solche loben oder tadeln und was wir von einem gut erzogenen Menschen erwarten, so können wir auch genauer sagen, zu welcher Qualität selbständigen Lebens Erziehung hinführen soll: Sie soll dem Kind helfen, ein guter Mensch zu werden. Erziehung (im engeren Sinne) ist also entweder als ganze oder doch in ihrem Kern moralische oder, genauer, ethische Erziehung.19 18 Zur Erinnerung (vgl. Fn. 1): Als teleologisch bezeichne ich begriffliche Strukturen, die der gemeinten Sache Finalität zuschreiben. 19 Vgl. Fn. 10 und Kapitel 6–8. Die Festlegung des Erziehungsziels auf den guten Charakter geht, wie sich zeigen wird, streng genommen, über die bloße Analyse des Erziehungsbegriffs hinaus. Andererseits stellt sie natürlich keine revolutionäre These dar. So sieht sich etwa Natorp in einer pädagogischen Tradition, die »eine letzte Überordnung des sittlichen Zwecks [...] behauptet« (1985, S. 161). Bei Dietrich Benner und Helmut Peukert (1992, S. 389 f.) liest man: »Die universelle Aufgabe der Erziehung als moralischer Erziehung bringt Herbart zum Ausdruck, wenn er fordert, Moralität nicht lediglich ›als
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
d) Bewertbarkeit: Wo immer etwas, X, seiner Natur nach um eines bestimmten Ergebnisses willen existiert, da ist eine konkrete Realisierung von X in dem Maße gut oder schlecht, in dem das Ergebnis erreicht wird. Ist also Erziehung ihrer Natur nach dazu da, Kinder zum ethisch qualifizierten Leben zu disponieren, so ist Erziehung im Einzelfall in dem Maß gut oder schlecht, wie sie beim Gegenüber zu dieser Disposition führt. Der Maßstab ihrer Bewertung muß sich also seinerseits an einem Begriff des ethisch qualifizierten Lebens orientieren. Daß grundsätzlich eine objektive Bewertung der Erziehung unter diesen Gesichtspunkten möglich ist, setzen wir voraus, indem wir mit Ausdrücken wie ›schlecht erzogen‹, ›gute Erziehung‹ usw. kommunizieren. Darin liegt ein Aspekt des Erziehungsbegriffs, den man (wegen seiner Selbstverständlichkeit) vergessen kann und den Erziehungswissenschaftler (trotz dieser Selbstverständlichkeit) nicht selten unterschlagen (vgl. 3.4). Werturteile über einen konkreten Fall von Erziehung sind nicht etwa den ›Kriterien‹ dieses oder jenes zufälligen Interesses oder Geschmacks anheimgestellt. Für das Urteil, A habe eine gute bzw. schlechte Erziehung erhalten, kann man nur Gründe einer bestimmten Art anführen. Es wird sich herausstellen, daß diese Beurteilungskriterien für den Begriff der Erziehung konstitutiv und daher für seine handlungsphilosophische Analyse von größter Bedeutung sind.
2.2
Erziehung antwortet auf begrenzende Bedürfnisse und Bedingungen
a) Grundsätzlicher Bedarf. Enthält der alltägliche Erziehungsbegriff die Annahme, ein Kind (oder vielleicht die Gesellschaft?) bedürfe der Erziehung? Das würde zweierlei bedeuten: 1) Das Ziel, das man durch Erziehung verfolgt, läßt sich nicht ohne Erziehung erreichen. 2) Das Kind hat es in einem einstweilen nicht näher geklärten Sinne nötig, dieses Ziel zu erreichen. Zweifellos behandelt familiale und gesellschaftliche Praxis diese Annahmen, deren Beweisbarkeit hier offen bleiben kann (vgl. 1.3), als eine fraglose Selbstverständlichkeit. Vielleicht aber ist mittelbar auch im Begriff der Erziehung der Gedanke ihrer Notwendigkeit enthalten. Denn zum Erziehungsbegriff gehört die Vorstellung einer erzieherischen Aufgabe; die aber scheint eine Autorität zu erfordern, die ihrerseits nur durch Erziehungsbedarf aufseiten des Kindes zu legitimieren ist (vgl. unten 2.4 (a) und (e)). b) Begrenzung auf aktuellen Bedarf. Neben dem soeben erörterten grundsätzlichen Aspekt hat das Thema ›Erziehungsbedarf‹ auch eine praktisch bedeutsahöchsten‹, sondern als ›ganzen Zweck des Menschen und folglich der Erziehung‹ zu fassen«. Und mit den Formeln »Erziehung ist Formung zur Tugend« und »Kinder ›erziehen‹ heißt, ihnen Moral zu vermitteln« kennzeichnet Oelkers (2001, S. 31 und 189) die Bedeutung, die dem Wort ›Erziehung‹ seit der Reformationszeit eignet.
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me Seite: Es gehört zum Begriff der Erziehung, daß sie sich selber überflüssig macht und daher irgendwann aufhört. Die uns vertraute Institution der elterlichen oder vormundschaftlichen Erziehung läßt (aus vernünftigen Gründen) die erzieherische Autorität dann enden, wenn der Heranwachsende ein bestimmtes Alter erreicht hat. Der tiefere Grund für diese Begrenzung liegt, wie jeder weiß, darin, daß Heranwachsende in einem bestimmten Alter normalerweise allmählich aufhören, der Erziehung zu bedürfen. Sie sind dann in der Lage, selbständig so zu leben, wie sie durch Erziehung leben lernen sollten (vgl. (a)). Was sich anschließt, kann Bildung, Selbsterziehung, Ausbildung, Sozialisierung heißen, aber nicht Erziehung. ›Aktueller Bedarf‹ bedeutet natürlich nicht, das Kind bedürfe heute der Erziehung, um morgen den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Vielmehr impliziert der Begriff der Erziehung, daß der Fünfjährige ›aktuell‹ der Erziehung bedarf, weil er mit dem künftigen Erwachsenen identisch ist, der mit Hilfe der zwischenzeitlichen Erziehung Selbständigkeit erlangt haben soll. c) Anspruch. Aus dem grundsätzlichen bzw. aktuellen Bedarf an Erziehung ergibt sich so etwas wie ein Anspruch des Kindes darauf, erzogen zu werden. Die Frage, ob hier von einem moralischen Recht die Rede sein sollte, mag offen bleiben. Unsere Zeit ist großzügig im Formulieren und Austeilen von Menschenrechten, die als ›subjektive Rechte‹ im Sinne der Rechtsdogmatik oder als analoge individuelle Ansprüche zu verstehen sind. Auf diese Weise will man – verständlicherweise – das Gewicht der moralischen Konsequenzen aus fundamentalen Bedürfnissen wie Ernährung oder eben auch Erziehung durch Worte markieren, die sozusagen keinen Widerspruch dulden. Das könnte jedoch ein Fehler sein. Denn hier werden Rechte zugesprochen, ohne daß in jedem Fall klar wäre, wer sie aktiv zu respektieren hat. Subjektive Rechte aber richten sich immer ›gegen‹ bestimmte Personen, häufig durchaus gegen alle. Das jedoch läßt sich z. B. vom Anspruch auf hinlängliche Ernährung nicht sagen. Wie steht es in dieser Hinsicht um die Erziehung? Gegen wen hätte das Kind ein Recht auf sie? – Aus dem Erziehungsbedarf, so scheint es, resultiert ein ›ungerichteter‹ Anspruch. Aus diesem Anspruch aber läßt sich wohl erst mit Blick auf spezifische soziale Strukturen ein Recht des Kindes gegen bestimmte Personen herleiten, die durch diese Strukturen sozusagen zu Erziehern prädestiniert werden. Im allgemeinen werden das die Eltern sein (vgl. 2.4 (c)). d) Anlage. Um erziehbar – also nicht nur konditionierbar und dressierbar – zu sein, muß das Kind ein gewisses Maß an geistiger Gesundheit und Entwicklungsfähigkeit mitbringen. Diese Feststellung entspringt natürlich nicht der Erfahrung – sie ist begrifflicher Art. Denn – vereinfacht gesagt – nur ein Lernen, das wir (wenigstens in seinen späteren Phasen) als Manifestation einer geistigen Anlage einordnen, rechtfertigt auch die Rede von Erziehung im Unterschied zu Konditionierung und Dressur.
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e) Vernunft-Erwerb und ›Selbsttätigkeit‹. Die Disposition des Kindes, von der soeben die Rede war, der Kern seiner ›Erziehbarkeit‹, manifestiert sich insbesondere darin: Unter der Einwirkung der Erziehung findet es allmählich zu einem Verhalten, das man als die paradoxe Pointe der Erziehung bezeichnen könnte. ›Paradox‹, weil Erziehung auf Verhaltensweisen ausgerichtet ist, in denen zwei Faktoren konkurrieren. Einerseits nämlich spiegelt das Verhalten des Kindes, als Lern-Ergebnis, unweigerlich den Einfluß der Erziehung (und zwar einer bestimmten Erziehung) wider. Andererseits jedoch ›greift‹ Erziehung nur in dem Maß, in dem zusehends Gründe und Motive des Kindes selbst – und das heißt: Vernunft – sein Verhalten bestimmen. Bereits im alltäglichen Verständnis impliziert Erziehung auf der Seite des Kindes nicht nur Erzogen-Werden, sondern auch Sich-erziehen-Lassen im Sinne aktiver Beteiligung: Je weiter sie fortschreitet, desto mehr ist sie darauf angewiesen, daß der Heranwachsende ›selbsttätig‹ mitwirkt, indem er bereits erworbene Motivationsstrukturen einsetzt, um weiter zu lernen. f) Stadien des Fortschritts. Der Übergang zwischen ›unerzogen‹ und ›erzogen‹ vollzieht sich allmählich, nicht als Sprung. Das ist so selbstverständlich, daß es auch unseren Begriff der Erziehung mitbestimmt. Jedenfalls gehört zu diesem Begriff die Erwartung von Fortschritt. Und damit unumgänglich auch ein Maßstab des Fortschritts. Dieser Maßstab betrifft zwei einander voraussetzende Dimensionen des Fortschritts. Zum einen betrifft er die Selbständigkeit einer vernunftbestimmten, ethisch qualifizierten Lebensweise, zum anderen die ethische 20 Qualität dessen, was der Heranwachsende zunehmend selbständig tut. Der Fortschritt kommt in Phasen: auch wenn er kontinuierlich verläuft, unterscheiden sich aufeinander folgende Etappen der Erziehung qualitativ voneinander. Denn zu Beginn kann der Erzieher offensichtlich an keinerlei Verstehen appellieren. An ein gutes Ende dagegen kommt Erziehung im Idealfall dann, wenn der Heranwachsende, der auf den Erzieher hört, nicht mehr vom mündigen Erwachsenen zu unterscheiden ist, der wie jeder andere auf kluge Ratgeber hört. g) Kulturelle Bedingungen. Abgesehen von der geistigen Anlage und Entwicklungsfähigkeit, die ein Kind erziehbar machen (vgl. (e)), gehört selbstverständlich ein Minimum an äußeren Voraussetzungen zur Erziehung. Angewiesenheit auf Bedingungen physischer und insbesondere technisch-zivilisatorischer, ökonomischer und rechtlicher Art ist allerdings ein durchgängiges Merkmal fast aller Handlungszusammenhänge. Auch ist sie (eben deshalb) im Erziehungsbegriff kaum greifbar. Ein wenig anders steht es in dieser Hinsicht um kulturelle 20 Hier und an vielen anderen Stellen dieser Arbeit überlasse ich es dem Zusammenhang, dem Terminus ›ethisch‹ einen weiten Sinn zu sichern, der die rationale Qualität guten Handelns einschließt.
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Bedingungen im engeren Sinne wie etwa Sprache, Umgangsformen oder musikalische Traditionen. Kulturelle Vorgaben prägen als solche sowohl das Verhalten des Erziehers als auch das Umfeld der Erziehung. Sie spielen schon dadurch – ob erwünscht oder unerwünscht – eine entscheidende sozialisatorische Rolle. Darüber hinaus aber sind sie für Erziehung konstitutiv. Denn Bestände des kulturellen Kontexts, in dem Erziehung stattfindet, stellen zugleich einen Teil der Inhalte, die diese Erziehung vermitteln soll. Das ist unvermeidlich, weil Erziehungsziele – und sogar die originellsten erzieherischen Absichten – aus den kulturellen Beständen einer Tradition schöpfen.
2.3
Das Erziehungsverhältnis ist wesentlich asymmetrisch
a) Erzieher. Mit dem Hinweis auf kulturelle Bedingungen der Erziehung ist auch über die Rolle des Erziehers bzw. der Erzieher bereits Entscheidendes gesagt. Der Erzieher repräsentiert und suggeriert dem Heranwachsenden gegenüber eine Variante der sozialen und kulturellen Traditionen und Institutionen, die unweigerlich in sein Leben eingegangen sind. Auch wenn diese Aneignung aktiv, mit kritischer Distanzierung und nur partiell erfolgt ist, so artikuliert der Erzieher doch auch das Eigene in der ›Sprache‹ dieser Traditionen und Institutionen, die er also immer mit-repräsentiert und -suggeriert. Wodurch aber ist er Erzieher? Es geht mir hier nicht um die Frage, durch welche Ausbildung oder Auszeichnung man sich zum professionellen Erzieher qualifiziert. Auch nicht darum, ob in einer bestimmten Gesellschaft die Eltern eines Kindes oder aber andere Verwandte oder Vormünder seine Erziehung übernehmen; und unter welchen Bedingungen Institutionen wie Staat und Schule als Erzieher auftreten. Alle empirischen Fragen der genannten Art setzen bereits die Antwort auf eine andere, begriffliche Frage voraus, nämlich: Woran erkennt man überhaupt, daß eine Person eine andere erzieht? Welche Kriterien muß B erfüllen, damit wir sagen würden, A (der im Sinne von 2.2 (b) erziehungsbedürftig ist) werde von B erzogen? So verstanden, ist die Frage, wodurch einer Erzieher sei, mit der Frage identisch, an welchen Merkmalen man ein Erziehungsverhältnis erkennt. b) Erziehungsverhältnis. Die Kriterien dafür, daß A von B erzogen wird, sind von zweierlei Art. Die einen liegen in nicht-rechtlichen Tatsachen. Zu ihnen gehört sowohl B’s ›Vorsprung‹ vor A in einem Sinne, der unter (e) erläutert werden soll, als auch ein Miteinander von A und B, das ein Minimum an faktischer charakterbezogener Einflußnahme auf A aufweist (vgl. 2.1 (a-c)). Diesen nicht-rechtlichen Kriterien stehen andere gegenüber, die das Erziehungsverhältnis durch ein System relevanter Ansprüche, Berechtigungen und Verpflichtungen bestimmen (vgl. 2.4).
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Es ist abzusehen, daß diese beiden Arten von Kriterien in Spannung zueinander geraten können und daß insbesondere die nicht-rechtlichen Komponenten eines Erziehungsverhältnisses fehlen mögen, wo relevante Ansprüche usw. vorliegen. Diese Spannung spricht nicht gegen meine Analyse. Vielmehr erlaubt uns die Unterscheidung von zweierlei Kriterien, die Schwierigkeiten zu durchschauen, die unklare bzw. Grenzfälle mit sich bringen (vgl. 2.6 (a)). Wichtiger für den Erziehungsbegriff ist, daß beide Kriterien die Rolle des Erziehers an eine grundlegende Asymmetrie im Erziehungsverhältnis binden. c) Asymmetrie. Es wurde schon angedeutet (1.3), daß der Terminus ›Erziehung‹ sich in wörtlicher Bedeutung nur dann auf das Verhältnis von X zu Y anwenden läßt, wenn er nicht auf das Verhältnis von Y zu X zutrifft; und daß es zwar ideologische und sentimentale Motive, aber keine ernstzunehmenden Gründe gibt, die Praxis der Erziehung wegen dieses ›Mangels an Gleichberechtigung‹ zu verwerfen. Tatsächlich gehört Asymmetrie zu den grundlegenden Implikationen des umgangssprachlichen Erziehungsbegriffs. Sie manifestiert sich zwar in Differenzen der Einstellung und der Kompetenz sowie in Asymmetrien der Interaktion und der rechtlichen Situation. Doch wurzelt die Asymmetrie des Erziehungsverhältnisses letztlich darin, daß es – antipädagogischen Vermutungen (vgl. etwa Miller 1983, S. 119) zum Trotz – der Heranwachsende und nicht sein Erzieher ist, der Erziehung braucht: d) Interessenlage. Erziehung als solche gibt es nicht um des Erziehers, sondern um des Kindes willen (vgl. 2.2 (a-c)). e) Gefälle. Um als A’s Erzieher gelten zu können, muß B, wie schon gesagt, vor A einen Vorsprung in dem Bereich haben, auf den es in der Erziehung ankommt. Diese Bedingung scheint drei Komponenten aufzuweisen: 1) B weist selbst diejenigen Qualitäten auf, die er bei A erziehend fördern soll (vgl. 13.2–3). 2) Darüber hinaus ist B in der Lage, Verantwortung für eine andere Person zu übernehmen (vgl. 13.4–5). 3) In beiden Hinsichten besteht zudem ein Gefälle zwischen B und A. Ob B darüber hinaus Kompetenzen (im Sinne von Fertigkeiten) besitzen muß, die sich bei A nicht im selben Maß finden, mag einstweilen offen bleiben (vgl. 14.3). Indem ich sage, daß die Komponenten (1–3) B’s Vorsprung zu charakterisieren ›scheinen‹, signalisiere ich einen Vorbehalt. Schließlich gibt es auch schlechte Erzieher; und mancher von ihnen ist deswegen schlecht, weil es ihm an guten Charaktereigenschaften fehlt. Insofern ist vor allem (1) revisionsbedürftig. Immerhin aber kann B tatsächlich nur dann als A’s Erzieher gelten, wenn er seiner psychischen Reife nach einen guten Charakter haben könnte, so daß wir ihn unter die Forderung eines entsprechenden Vorsprungs vor B stellen.
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2.4
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Zur Asymmetrie des Erziehungsverhältnisses gehören Rechte und Pflichten
a) Aufgabe. Ein asymmetrisches Verhältnis bringt Erziehung auch insofern mit sich, als sie eine Aufgabe darstellt, die B an A, nicht aber A an B zu erfüllen hat. Im allgemeinen ergibt sich diese Aufgabe als Pflicht (vgl. (b3)). Sie kann jedoch unter besonderen Umständen auch frei gewählt sein – wodurch sie dann zur Pflicht wird. Die Erziehungsaufgabe ist mit (moralischen) Rechten verknüpft, und zwar nach zwei Seiten hin. Da gibt es einmal berechtigende Bedingungen (vgl. 2.4 (b)), unter denen allein die Aufgabe überhaupt zustande kommen kann. Doch gibt es auch Rechte, die umgekehrt erst durch die Erziehungsaufgabe zustande kommen. Denn wer eine Aufgabe hat, darf, grob gesprochen, tun und beanspruchen, was zu tun und zu beanspruchen notwendig ist, um die Aufgabe zu erfüllen. (Wie könnte andernfalls die Aufgabe Pflicht und er für ihre Erfüllung verantwortlich sein?) Zu den erforderlichen Rechten dürfte im Fall der Erziehung beispielsweise B’s Befugnis gehören, Kontakte anderer mit A zu beschränken; vor allem aber das Recht auf A’s Gehorsam (vgl. (e)). b) Berechtigung. An der ›Erziehungsberechtigung‹ im weitesten Sinne ist dreierlei zu unterscheiden. 1) Nach einer Rechtfertigung jedweder Erziehung kann gefragt werden, insofern diese in die Freiheit des Heranwachsenden eingreift. Der Eingriff ist so gravierend, daß ihn nur die unter 2.2 (a-b) eingeführte Notwendigkeit der Erziehung rechtfertigt.21 Dieser Rekurs auf Erziehungsbedarf nennt zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für B’s Recht, A zu erziehen. Die in A’s Verfassung gründende Bedingung muß durch zwei weitere ergänzt werden, die B betreffen. 2) Um – im moralischen, nicht im juridischen Sinne! – erziehungsberechtigt zu sein, benötigt B den unter 2.3 (e) spezifizierten erziehungsrelevanten Vorsprung vor A. Denn gegebener Bedarf (bei A) kann den Eingriff, der Abhilfe schaffen soll, selbstverständlich nur für einen anderen (B) rechtfertigen, der auch in der Lage ist, Abhilfe zu schaffen. 3) Aber diese Forderung genügt natürlich nicht. Nicht jede Person mit erziehungsrelevantem Vorsprung vor A ist berechtigt und hat die Aufgabe, A zu erziehen! Eine dritte Bedingung muß erfüllt sein: Erziehungsberechtigung im üblichen Sinne. Durch sie ist B, im Unterschied zu anderen Personen, für A’s Erziehung auch zuständig. Erziehungsberechtigung bedeutet ein Ausschlußrecht gegen Dritte. Sie wird nach konventionellen Kriterien zugeschrieben, die durch Rechtssystem, Institu21 Zur Rechtfertigung einer Institution durch praktische Notwendigkeit vgl. Anscombe 1981 c, S. 144–151.
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tion, Tradition o.ä. fixiert sind. Diese regeln, wer wen erziehen darf (und wer nicht), aber auch, wer wen zu erziehen verpflichtet ist, was diese Rechte und Pflichten außer Kraft setzt, wie weit sie delegierbar sind etc. c) Basis der Zuständigkeit. Aufgrund der in 2.4 (a) und (b) genannten Rechte und Pflichten ist B für A’s Erziehung zuständig. Der konventionelle Charakter von Kriterien der Zuständigkeit schließt selbstverständlich nicht aus, daß sie mehr oder weniger zwingend mittels vor-konventioneller Zusammenhänge legitimierbar sind. Man denke etwa daran, daß im allgemeinen die Eltern eines Kindes nicht nur dessen Existenz veranlaßt haben: sie werden unter häufig gegebenen Umständen auch eher in der Lage sein und stärker als andere dazu neigen, es zu fördern usw. Solche Zusammenhänge geben der konventionell bestimmten Erziehungsberechtigung zusätzliches moralisches Gewicht. Fragen nach der Legitimation von Zuständigkeitskriterien sind angesiedelt an der Grenze zwischen Erziehungs- und Rechtsphilosophie. Ihre Beantwortung hat in allgemeiner Form auf die Rolle des kulturellen Kontexts und anderer Umstände Bezug zu nehmen. Diese Fragen müssen uns im folgenden nicht weiter beschäftigen. Ich werde einfach von einer Situation ausgehen, in der ein Heranwachsender A einem Erzieher B ›anvertraut‹ ist. d) Reichweite der Zuständigkeit. Das Ziel der Erziehung verleiht dem Erzieher eine in gewissem Sinne uneingeschränkte Zuständigkeit. Denn er hat die Aufgabe, den Heranwachsenden im Rahmen des Möglichen und des Erlaubten zu einer bestimmten Lebensqualität zu disponieren (vgl. (a)). Wie immer diese Qualität zu bestimmen sein mag: sie betrifft die Gesamtgestalt des Lebens; und daher definiert sie ein Kriterium, nach dem alles bewertbar ist, was an Einwirkung oder Nicht-Einwirkung für die Entwicklung des Kindes direkt oder indirekt bedeutsam sein kann und menschlicher Kontrolle unterliegt. Insofern ist praktisch nichts, was das Kind betrifft, aus dem Bereich der erzieherischen Verantwortung ausgeschlossen. Ein Indiz für diesen umfassenden Charakter der Erziehung liegt in folgendem Kontrast: Zwar ist das Beibringen von Kenntnissen oder Fertigkeiten, nicht anders als das Erziehen, ein asymmetrisches Verhältnis. Doch ist es zweifellos möglich, daß X z. B. Französisch-Kenntnisse an Y weitergibt, während umgekehrt Y seinerseits X PC-Kompetenzen vermittelt. X und Y können also durch zwei bzw. beliebig viele Lehr-Lern-Verhältnisse miteinander verbunden sein; und daher läßt das Beibringen, trotz der Asymmetrie des Verhältnisses, durchaus Gegenseitigkeit zu – solange das, was X von Y lernt, etwas anderes ist als das, was X Y lehrt. Anders steht es in dieser Hinsicht um das Erziehungsverhältnis. Jedenfalls scheint Erziehung keinen Bereich zu betreffen, der in abgrenzbare Gebiete zerfiele, so daß in einer Hinsicht X der Erzieher von Y sein könnte, während in einer anderen Hinsicht Y X erzöge. Aus ebendiesem Grund ist auch eine Aufteilung des ›Erziehungsgeschäftes‹ nicht möglich. Eltern teilen sich zwar im allgemeinen die Aufgabe untereinan-
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der, und erzieherische Verantwortung läßt sich delegieren. Doch kann nicht einer diesen und ein anderer jenen ›Lebensbereich‹ des Kindes ›übernehmen‹. Vielmehr steht für jeden Erzieher grundsätzlich in jeder Situation das Ganze der werdenden Lebensgestalt auf dem Spiel (vgl. 18.2 (b)). e) Autorität. Zum alltäglichen Erziehungsbegriff – und zu seinen bei Theoretikern unbeliebten Elementen – gehört B’s Recht auf A’s Gehorsam. Autorität ist der Aspekt des Erziehungsverhältnisses, der seine Asymmetrie am deutlichsten markiert. Sie ist von der Erziehungsaufgabe nicht zu trennen.22 Erzieherische Autorität ist allerdings beschränkt – insofern nämlich B von A nur den Gehorsam verlangen darf, ohne den er seine Aufgabe nicht erfüllen kann (vgl. 2.4 (a)). In einem anderen Sinn jedoch ist sie umfassend. Da sie nämlich einer im Sinne von (d) umfassenden Aufgabe entspringt, erstreckt sie sich – im Unterschied etwa zur partiellen, bereichsspezifischen Autorität eines Vorgesetzten oder Ausbilders – grundsätzlich auf alle Belange und Verhaltensweisen des Heranwachsenden, die dessen Entwicklung tangieren können. Und von welchen Belangen oder Verhaltensweisen würde das nicht gelten? Diese nüchterne Beobachtung ist – schon wegen der im vorletzten Absatz artikulierten Autoritätsbeschränkung – kein Plädoyer für elterliche (oder sonstige) Willkür. Und sie schließt nicht aus, daß beispielsweise staatliche Instanzen oder aufmerksame Nachbarn oder auch der Heranwachsende selbst der Ausübung elterlicher Autorität in den Weg treten dürfen und sollten, wo sie mißbraucht wird. Keine menschliche Autorität ist sakrosankt.
2.5
Erziehung unterscheidet sich von anderen Formen der Lebenshilfe, der Einwirkung des Erziehers und der Sozialisation
Wie jeder andere Begriff zieht der Begriff der Erziehung Grenzen – Grenzen zu allem, was ›außerhalb‹ der Erziehung liegt. Auf drei derartige Grenzen möchte ich hier die Aufmerksamkeit lenken. Die erste der zu erörternden Grenzen trennt Erziehung von anderen Formen der Lebenshilfe. Die zweite hebt sie von sonstigen Weisen der Einwirkung ab, die typischerweise gerade auch vom Erzieher selbst ausgehen. Schließlich treten drittens neben dessen Handeln andere sozialisierende Einflüsse. 22 ›Autorität‹ heißt in anderen Zusammenhängen auch so viel wie anerkannte Kompetenz, wobei Kompetenz als Wissen und Können verstanden wird. Dieser Begriff ist hier nicht gemeint. Ebenso wenig ist faktische Anerkennung irgendwelcher Art gemeint – wie in der Ausdrucksweise ›genießt bei X (keine) Autorität‹. – In meinen Überlegungen wird erzieherische Autorität keine große Rolle spielen. Man vergleiche zu diesem Thema Anscombe 1981 b, S. 43–50.
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a) Was grenzt Erziehung gegen andere Arten der Lebenshilfe ab? Wir haben gesehen: Der Erzieher und nur der Erzieher hat als solcher die Aufgabe, NichtErwachsene dazu anzuleiten, selbständig gut zu leben (2.1 (c)). Dieser Bestimmung möchte ich nun einige vergleichende Perspektiven entnehmen, unter denen das Profil der Erziehung besonders deutlich hervortritt. 1) Da sind einmal die definierenden Ziele. Ärzten und Therapeuten geht es darum, Krankheiten des Patienten und ihre Folgen einzudämmen, Lehrern und Ausbildern um die Vermittlung von Wissen und Können. Ebenso zielen die Aufgaben des Sozialarbeiters, Rechtsanwalts, Politikers, Publizisten auf die Bedienung partieller Erfordernisse und die Sicherung bestimmter Bedingungen des Lebens ihrer Klienten bzw. Adressaten. Demgegenüber scheint Erziehung sozusagen das Innerste des Daseins zu betreffen, insofern sie es auf Lebensorientierung und Charakterbildung abgesehen hat. Allerdings wäre hier genauer zu klären, ob bzw. inwiefern die Aufgaben des Lebensberaters oder des Seelsorgers oder auch die des Politikers weniger fundamental sind als die des Erziehers. 2) Der Besonderheit des Erziehungsziels scheint die des Mittels zu entsprechen – sofern es zutrifft, daß Erziehung als einzige Form von Lebenshilfe durch die Qualität des Handelns allein geleistet wird. Der Arzt bedarf medizinischer Kenntnisse und Fähigkeiten; der Sozialarbeiter muß psychologisch geschult und mit Behörden vertraut sein; selbst der Missionar benötigt die Kompetenz, über den Inhalt seiner Botschaft zu sprechen. Was hingegen der Erzieher als solcher wissen und können muß, ist im Normalfall – grob gesprochen – nicht mehr, als Vernunft und guter Charakter ohnehin von jedem Erwachsenen verlangen. Und wo ein Erzieher besonderer pädagogischer Kompetenz bedarf, läßt deren Inhalt sich nicht ethisch neutral bestimmen. Insofern sorgen praktische Vernunft und guter Charakter allein für die Qualität der Erziehung. Denn sie qualifizieren das Handeln des Erziehers. Und das gute Handeln ist im Fall der Erziehung selbst das alleinige ›Medium‹ der Hilfe – während es bei anderen Formen der Lebenshilfe, so scheint es, lediglich die Bedingung dafür abgibt, daß wirklich von Hilfe die Rede sein kann (1.2). Wo es nicht um Erziehung geht, liegt der Kern dieser Hilfe in einer poiesis – in der Betätigung einer spezifischen Kompetenz. (Allenfalls mag es besondere Hinsichten oder Situationen geben, in denen der Helfer – z. B. ein Psychotherapeut – de facto durch gutes Handeln das erreicht, wodurch seine charakteristische poiesis finalisiert ist.) 3) Eine weitere differenzierende Perspektive eröffnet die Frage nach den zeitlichen Dimensionen der jeweiligen Lebenshilfe. Zeitpunkt und Dauer der Erziehung richten sich nicht nach dem Auftreten und der Eigenart einer variablen äußeren oder inneren Situation des Gegenübers; sie sind vielmehr durch die Unausweichlichkeit und die charakteristische Dynamik eines Lebensabschnitts vorgegeben. Im Unterschied zur Erziehung sind viele andere Formen der Lebenshilfe nicht darauf angelegt, sich selber überflüssig zu machen. Freilich sollten auch Sozialarbeiter und Lehrer bezüglich ihres Aufgabenbereichs im Maß des Möglichen so
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helfen, daß sie dem Gegenüber zugleich die Kompetenz vermitteln, in diesem Bereich sich selbst zu helfen und sich selbst zu vervollkommnen. Doch ist der helfende Einsatz von Sozialarbeit oder Unterricht niemals auf eine Weise erfolgreich abgeschlossen, daß derjenige, dem geholfen wurde, nicht wiederum Sozialarbeit bzw. Unterricht benötigen könnte. Dagegen läßt der Abschluß der Erziehung von A – vielleicht von sehr besonderen Umständen abgesehen – keinen Platz für erneute erzieherische Bemühung um A. Im übrigen zeichnet sich Erziehung, wie schon angedeutet, gegenüber Sozialarbeit und Unterricht dadurch aus, daß sie sich nicht an Erwachsene richtet. Ihre Unausweichlichkeit zeigt sich eben darin, daß das Erwachsensein per definitionem ein Stadium des Lebens darstellt, in dem die Erziehung, for good or evil, das ihre bereits getan hat. Ein Mensch ist insoweit charakterlich erwachsen, als er für die Qualität seines Handelns und für seine weitere charakterliche Entwicklung selbst verantwortlich ist; er ist also erwachsen, wenn der Einfluß anderer auf einen in diesem Sinne ›fertigen‹ Charakter trifft und schon deshalb nicht mehr Erziehung heißen kann. 4) Nun zu einer letzten Perspektive, unter der sich Erziehung von anderen Formen der Lebenshilfe abhebt. Hilfe wird gemeinhin dem zuteil, der sie erbittet oder dessen Einverständnis wenigstens vorausgesetzt werden kann. Das scheint auch von fast allen Formen der Lebenshilfe zu gelten. Erziehung bildet hier eine Ausnahme. Dem würde Micha Brumlik widersprechen: »Im vormundschaftlichen, advokatorischen Handeln handeln wir, die wir Personen sind, anstelle anderer Menschen, die den Zustand, eine Person zu sein, d. h. sich selbstbewußt und verantwortlich verhalten zu können, noch nicht oder nicht mehr besitzen. Pädagogisch ist solch advokatorisches Handeln dann, wenn es um die Herstellung von Personalität bzw. Mündigkeit geht« (1992 b, S. 164 f.). Konsequenterweise fordert der Autor, »daß eine advokatorisch legitimierte Maßnahme – wenn möglich – später durch den advokatorisch Vertretenen soll legitimiert werden können; mit anderen Worten: Die entsprechende Maßnahme soll nur dann als ethisch ausgewiesen gelten, wenn ihr auch seitens des Betroffenen hätte zugestimmt werden können« (S. 118 f.). Ich ignoriere die inzwischen populäre Auffassung, der Unmündige sei keine Person (vgl. hierzu Müller 1997, S. 163–188). Im gegenwärtigen Zusammenhang relevant – und problematisch – ist die advokatorische Deutung der Erziehungsaufgabe: der Gedanke, der Erzieher handle als solcher ›anstelle‹ oder auch ›im Namen‹ des zu Erziehenden (siehe Brumlik 1992 b, S. 82). Der entscheidende Fehler dieses Gedankens liegt in einer Verkennung der Bedingungsverhältnisse. Brumlik unterschlägt die Tatsache, daß A’s Einverständnis zur Erziehung durch B (oder auch ihre nachträgliche Verurteilung!) praktische Rationalität voraussetzt, die in A erst durch Erziehung ausgebildet worden ist. Ohne Erziehung wäre A kein zustimmungs- oder ablehnungsfähiges Subjekt. Die Bedeutungslosigkeit seiner nachträglichen Stellungnahme geht schon daraus hervor, daß ja der Inhalt dieser Stellungnahme gar nicht davon
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unabhängig ist, wie A von B erzogen wurde! Die Notwendigkeit, erzogen zu werden, geht somit der Fähigkeit (oder gar Autorität) des Erzogenen, Erziehung zu erbitten und zu bewerten, nicht nur zeitlich, sondern auch logisch voraus. Advokatorisch kann ich für einen anderen nicht das leisten, womit er mich einzig unter der Voraussetzung und auf der Basis dieser Leistung überhaupt beauftragen könnte (vgl. Müller 1994 b, S. 222 f.). b) Nachdem ich die Erziehung in einigen wichtigen Punkten von anderen Arten der Lebenshilfe abgegrenzt habe, wende ich mich nun den ›sonstigen Weisen der Einwirkung‹ zu, die vom Erzieher ausgehen mögen, ohne selbst Erziehung zu sein. Solche Einwirkung interessiert hier, sofern sie sich verschiedenen Rollen verdankt, die der Erzieher ›nebenher‹ ebenfalls ausübt (und die zum Teil andere Formen von Lebenshilfe repräsentieren). Ich denke z. B. an die Erfüllung der Aufsichtspflicht; an Maßnahmen der Haushalts- bzw. Schulordnung; und nicht zuletzt an Fürsorge und Betreuung, die das Kind im Hinblick auf Ernährung, Hygiene, Kleidung, Behausung, Abwendung von Gefahr und Krankheit etc. erfährt. Erst recht sind natürlich medizinische und sonstige therapeutische Maßnahmen, die ja in der Regel nicht Sache der Eltern sind, von Erziehung zu unterscheiden. Besonders wichtig ist es, von der Erziehung im engeren Sinne die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten zu unterscheiden, wie etwa die Schule sie zu betreiben hat. Solche Vermittlung kann sowohl den Charakter der Bildung als auch den der Ausbildung haben. Mit Bildung meine ich, in Anlehnung sowohl an die neuhumanistische Tradition als auch an den heutigen Sprachgebrauch, die Aneignung von Kenntnissen, die es mir erlauben, mein Leben als Mensch in allen seinen Zusammenhängen besser zu verstehen.23 Zur Ausbildung im weitesten Sinne gehört jedwede Hinführung zu einer Kompetenz – also auch zum poietisch finalisierten Wissen. Sie umfaßt nicht nur die Berufsausbildung, sondern auch den bereits erwähnten schulischen Unterricht und die meist von den Eltern geleistete Vermittlung elementaren Wissens und grundlegender Kompetenzen wie Beherrschung von Grob- und Feinmotorik, Sprachfertigkeit usw. (Natürlich übernehmen Instanzen der Ausbildung weithin, gewissermaßen ›in Personalunion‹, zugleich eine bildende Funktion.) Viele der Funktionen von Familie und Schule, die in den beiden vorangehenden Absätzen anklingen, mag man zur Erziehung im weiteren Sinne rechnen. Wie weit dieser weite Sinn verstanden werden soll, ist für meine Untersuchung gleichgültig. Und die Tatsache, daß sich kein Kriterium nahelegt, nach dem er
23 Zur Erläuterung dieses Bildungsbegriffs vgl. Müller 2000 a und 2002 b. Erziehungswissenschaftler nehmen meist andere Differenzierungen vor. So z. B. Benner 1991, S. 122 f.: »Von der Fragestellung der Theorie der Erziehung unterscheidet sich diejenige der Theorie der Bildung dadurch, daß in ihr nicht die richtige Art und Weise pädagogischen Wirkens, sondern die Aufgaben und die Zweckbestimmung der pädagogischen Praxis zur Diskussion stehen.«
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sich präzisieren ließe, bestärkt mich in der Absicht, an der engeren Bedeutung von ›Erziehung‹ festzuhalten, die ich in 2.1–4 expliziert habe. Es wird aber hilfreich sein zu sehen, wie – und wie leicht – man den Schritt von dieser engeren zu einer weiteren Bedeutung tut. Kinder werden von Eltern und Lehrern dazu angeleitet, wie sie mit Vertrauten und Fremden, mit Tieren und Pflanzen, mit Nahrungsmitteln und anderen Konsumgütern, mit Umwelt und Abfall, mit den Erfordernissen der Gesundheit usw. umzugehen haben. Solche Anleitung enthält zwei Komponenten: qua Ausbildung vermittelt sie Wissen und Können, qua Erziehung Motivationsstrukturen. Beides ist jedoch in einen einzigen Kommunikationszusammenhang eingebettet und wird vom Heranwachsenden in einem Erleben aufgenommen. So liegt es nahe, z. B. von ›Gesundheitserziehung‹ zu sprechen. Diese bildet einen Bereich der Erziehung im weiteren Sinne: das Kind wird nicht nur dazu angeleitet, auf seine Gesundheit zu achten (das gehört, wie wir sehen werden, durchaus zur Charakterbildung und somit zur Erziehung im engeren Sinne); es lernt ›im selben Atemzug‹ auch, wie man die Zähne putzt, welche Ernährungsweise gesund ist, welche Gymnastik gut tut usw. (und das ist ›Ausbildung‹ zur per se poietisch finalisierten Kompetenz). Ganz ähnlich steht es um andere ›Bereichs-‹ oder ›Bindestrich-Erziehungen‹. So spricht man etwa von ästhetischer, religiöser, Sexual- und Umwelt-Erziehung. Auch hier ist Charakterbildung nur eine Seite des Gemeinten: Weckung und Festigung der Bereitschaft, einschlägigen Gesichtspunkten Einlaß in die Motivation des Verhaltens zu gewähren. Auf der anderen Seite steht diesmal die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die man benötigt, um Schönheit zu genießen und sich elegant zu kleiden, Gott zu suchen, sein Sexualleben menschlich zu gestalten, die Umwelt sinnvoll zu schonen. Im übrigen bietet die Schule im Kontext fast aller Fächer dem Lehrer Gelegenheit, Information durch den Hinweis auf ihre ethische Relevanz zu ergänzen. Solche Verknüpfung ist legitim und liegt um so näher, als erstens Information letztendlich dem guten Leben dienen soll und zweitens die Motivation des Schülers, zu lernen, von der Relevanz des Gelernten profitieren kann. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die pädagogische Theorie auch hier zwischen dem Faktor der Ausbildung bzw. Bildung und dem Faktor der Erziehung (im engeren Sinne) zu unterscheiden hat (18.1). c) Wenn ich zwischen erzieherischen und sonstigen sozialisatorischen Einflüssen unterscheide, behandle ich, wie andere Autoren auch, Erziehung als einen besonderen sozialisierenden Faktor, der also nicht gegen ›Sozialisation‹, sondern gegen ›bloße Sozialisation‹ abzugrenzen ist. (Freilich kann diese Abgrenzung, je nach Variante des zugrunde gelegten Erziehungsbegriffs, unterschiedlich ausfallen. Vgl. Schwenk 1992, S. 392f.) Dem Wirken des Erziehers als solchen stehen also prägende Einflüsse gegenüber, die von anderen Personen (z. B. von der peer group) sowie von den Medien und sonstigen Faktoren des sozialen und kulturellen Lebens wie Wirtschaft, Kunst, Tourismus usw. ausgehen. (Auch
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innerhalb dieser quasi-institutionellen Faktoren oder ›Niederschläge objektiven Geistes‹ können natürlich einzelne Personen wie etwa Fernseh-Moderatoren eine unterscheidbare Rolle spielen.) Häufig bindet man die Grenzziehung zwischen Erziehung und sonstiger Sozialisation an die Frage der Intentionalität. So sieht etwa Giesecke (1999, S. 16) Erziehung nur gegeben, wo »Menschen unmittelbar auf andere Menschen einwirken, um zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben«. Die Kultusministerkonferenz (Terhart 2000, S. 50) schreibt der Schule eine doppelte Aufgabe zu, die sie folgendermaßen spezifiziert: »Von Erziehung als bewusst und absichtsvoll erfolgender Einflußnahme zu unterscheiden ist [bloße] Sozialisation als nicht-intentional ausgelöste Wirkung des Handelns von Lehrkräften.« Und nach Brezinka (1976, S. 129) sind unter Erziehung »Handlungen zu verstehen, die in der Absicht erfolgen [...], in anderen Menschen gemäß für sie gesetzten Normen (Sollensforderungen, Idealen, Zielen) psychische Dispositionen hervorzubringen, zu fördern, zu ändern, abzubauen oder zu erhalten«. Das in diesen Formulierungen bemühte Kriterium beruht auf zwei Irrtümern. Erstens nämlich ist Absicht alles andere als eine notwendige Bedingung erzieherischer Einflußnahme (4.4–7; vgl. 1.3 und 3.3). Zweitens ist sie selbstverständlich auch keine hinreichende Bedingung: die Einflußnahme eines Verführers erfolgt gewiß ›absichtsvoll‹, aber dadurch wird er vermutlich noch nicht zum Erzieher. Richtig ist selbstverständlich, daß sozialwissenschaftliche Konzeptionen von Sozialisation die Intentionalität der Einwirkung nicht implizieren und daß hinter sehr vielen sozialisatorischen Einflüssen auch tatsächlich keine Absicht steckt: alles Mögliche, von den trivialsten Elementen der Zivilisation bis zu den erhabensten Zeugnissen der Kultur, wirkt durch bloßes Begegnen auf Heranwachsende (wie auf alle anderen) ein. Auch beliebige Personen wirken häufig so. Sie wirken aber auch in ihrem absichtsvollen Verhalten. Und manchmal ist dieses Verhalten zudem von der Absicht geleitet, ein Kind zu beeinflussen. Wird es etwa dadurch allein bereits zur Erziehung? Wann ist der Einfluß einer Person als bloß sozialisierend, wann als erzieherisch zu betrachten? Die Antwort muß zwei Gesichtspunkte berücksichtigen. Erstens bezieht sich Sozialisation auf einen sehr weit gespannten Bereich. Dieser umfaßt den Bereich, um den es in der Erziehung geht (vor allem also die Charakterbildung), aber vieles andere außerdem. So ist insbesondere auch der Schulunterricht als solcher nicht Erziehung. Sexualkundeunterricht ist etwas anderes als Sexualerziehung; und ebenso ist Ethikunterricht bekanntlich etwas anderes als (ethische) Erziehung. Erst recht wirken andere Fächer durch Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten sozialisierend, ohne auf diesem Weg zur Erziehung beizutragen. Das Handeln des Musiklehrers sozialisiert – und zwar wenigstens ebenso sehr durch intendierte wie durch ›nicht-intentional ausgelöste‹ Wirkungen. Es sozialisiert insbesondere durch Information, Gehörbildung, Einübung des Singens nach Noten usw. Doch ist diese Komponente des sozialisierenden Einflusses des Musiklehrers – die Unterweisung – nicht Erziehung.
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Wie aber steht es um die eventuell charakterbildende Wirkung dieses Handelns? Sie gehört zweifellos zu dem Bereich, ›auf den es in der Erziehung ankommt‹. Allerdings kommt nun ein zweiter Gesichtspunkt ins Spiel, unter dem sich Erziehung von anderen sozialisierenden Faktoren unterscheidet: der Gesichtspunkt der Zuständigkeit des Handelnden. Wir müssen also fragen: Nimmt der Musiklehrer, neben seiner Zuständigkeit für den Musikunterricht, auch an der Aufgabe teil, zur Charakterbildung des Heranwachsenden beizutragen? Eine negative Antwort ist denkbar. Wir werden jedoch vermutlich die Frage eher bejahen – während wir das Handeln nicht nur des Verführers, sondern auch des bewunderten Klassenprimus nicht als Erziehung bezeichnen, sondern lediglich als (sozialisierenden) Einfluß. Ihre Intention kann daran nichts ändern, was immer sie intendieren mögen. Ihre Einwirkung heißt nicht erzieherisch, weil sie an der Erziehungsaufgabe nicht beteiligt sind. Erziehung unterscheidet sich also von bloßer Sozialisation nicht durch Intentionalität – auch nicht durch intendierte Ziele. Vielmehr bezieht sie sich zum einen auf einen engeren Bereich im Leben des Heranwachsenden als sonstige Sozialisation das tut. Zum anderen setzt sie eine besondere Zuständigkeit des Subjekts voraus – eine Verantwortung für den betroffenen Heranwachsenden, die wir im Normalfall primär seinen Eltern und mit Einschränkung seinem Lehrer, seinem Pfarrer, seinem Jugendleiter zuschreiben. d) Die hier vorgenommenen Grenzziehungen nehme ich zum Anlaß, meine Verwendung des Ausdrucks ›Erzieher-Verhalten‹ zu erläutern. Er meint in diesem Buch nichts anderes als das Verhalten des Erziehers, sein Tun und Lassen insgesamt; also nicht so etwas wie erzieherisches Wirken, Erziehungsmaßnahmen oder dergleichen. Das Erzieher-Verhalten mag natürlich solche Maßnahmen umfassen. Aber auch alles andere, was er mit oder ohne Bedeutung für den Heranwachsenden, mit oder ohne Absicht tut, zählt dazu. Auf der anderen Seite werde ich die These vertreten, daß das Erzieher-Verhalten (in diesem weiten Sinne), insofern es sich ethisch bewerten läßt, Erziehung konstituiert. Ich werde also insbesondere einer Auffassung widersprechen, die das Erzieher-Verhalten als bloß sozialisierend einordnet, wo es nicht in erzieherischer Absicht geschieht (3.3).
2.6
Die vorgenommenen Unterscheidungen sind analytisch zu verstehen
Ich will dieses Kapitel mit einigen methodologischen Beobachtungen abschließen. Sie betreffen die Frage nach Geltung und Angemessenheit ›analytischer‹ Differenzierungen: Spiegeln begrifflich gezogene Grenzen wirkliche Unterschiede wider? Ich kann dieser Frage hier nicht auf den Grund gehen. Im Hinblick auf das skizzierte Verständnis von Erziehung möchte ich aber zweierlei deutlich
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machen: Begriffliche Grenzziehungen schließen Grenzfälle nicht aus. Und sie werden nicht dadurch widerlegt, daß in der Wirklichkeit miteinander verflochten auftritt, was die analytische Differenzierung ›auseinandergenommen‹ hat. a) Nicht immer zieht ein Begriff so scharfe Grenzen, wie es Wissenschaftlern und Philosophen lieb wäre. Das liegt im Fall des Erziehungsbegriffs unter anderem daran, daß sich die Kriterien dafür, ob ein Erziehungsverhältnis vorliegt, in ihrer Anwendung gelegentlich überschneiden. Es gibt also ›Grenzfälle‹. Die umgangssprachliche Begrifflichkeit macht das Bestehen eines Erziehungsverhältnisses zum einen von natürlichen Tatsachen wie erziehungsrelevantem Gefälle und effektiver Einflußnahme, zum anderen von Berechtigungen und Verpflichtungen abhängig (2.3 (b)). Zudem konkurrieren bei der Bestimmung dieser Berechtigungen und Verpflichtungen nochmals ethische mit rein konventionellen Kriterien. Es liegt daher auf der Hand, daß die Frage, ob A von B erzogen wird, nicht immer eindeutig zu beantworten ist. Die Funktion des Erziehungsbegriffs erfordert die Kombination von Kriterien, die im Ausnahmefall kollidieren. So kann es vorkommen, daß wir B als A’s Erzieher bezeichnen, weil B, obwohl nicht reifer als A, ihm gegenüber erziehungsberechtigt ist. In einem anderen Fall mag B formal erziehungsberechtigt sein, während faktisch C seit langem tut, was der Aufgabe eines Erziehers entspricht, und einzig dadurch auch, moralisch gesehen, für A zuständig und verantwortlich geworden ist; hier werden wir C als den wirklichen Erzieher von A betrachten. Noch weiter entfernen wir uns vom typischen, begrifflich zentralen Fall, wenn wir den Ausdruck ›Erziehung‹ auf Verhältnisse anwenden, in denen man weder Eltern noch anderen einzelnen Personen erzieherische Verantwortung zuschreiben kann; oder in denen gar – wie im Fall der Ik, des »Volks ohne Liebe« (Turnbull 1973) – Kinder vom dritten Lebensjahr an in Banden Gleichaltriger aufwachsen. Hier z. B. hätte die Bemerkung, diese Kinder müßten sich gegenseitig ›erziehen‹, eine Pointe; wörtlich verstanden, wäre sie gleichwohl inkorrekt. In einer anderen Richtung liegt die Abweichung vom typischen Fall, wo zwischen A und B zwar das System von Berechtigungen und Verpflichtungen besteht, das ein Erziehungsverhältnis kennzeichnet, wo A sich aber faktisch in seinem Verhalten so wenig von B bestimmen läßt, daß von einer Ausübung erzieherischer Autorität nicht die Rede sein kann. Ist B hier noch Erzieher von A? Wird A von B erzogen? b) Jetzt ein paar methodologische Bemerkungen zu Berechtigung und Relevanz der in 2.5 vorgenommenen Abgrenzungen. Sie sollen dem Einwand begegnen, die Wirklichkeit des Lebens werde sich wohl kaum an die philosophisch gezogenen Grenzen halten. In der Tat ist, was in diesem Kapitel und insbesondere unter 2.5 begrifflich fein säuberlich voneinander geschieden wird, in der wahrgenommenen und erlebten Realität unlöslich miteinander verflochten.
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So sind z. B. weder Fürsorge noch Unterricht Erziehung. Dennoch kann X ›in Personalunion‹ Erzieher von Y und, sagen wir, Lehrer von Y sein. Und nicht nur das. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß dieselben Komponenten in X’s Verhalten, die ein Stück Unterricht darstellen, zugleich in die Erziehung von Y eingehen. (Das erzieherische Wirken des Musiklehrers ist nicht auf die Unterrichtspause beschränkt.) Und das Kleinkind wird durch die Art und Weise, wie es gefüttert wird, zugleich erzogen. Erziehung ist in alle möglichen Vollzüge eingebettet. Nicht nur können Erziehung und das, was gegen sie abzugrenzen ist, in einer und derselben Wirklichkeit realisiert sein. Die unterscheidbaren Aspekte dieser Wirklichkeit treten auch im Erleben in der Regel nicht auseinander. Über eine lange Zeit hin werden sie sicher auch in der Auffassung des Heranwachsenden nicht voneinander geschieden – und oft genug noch nicht einmal im Bewußtsein seines erwachsenen Gegenübers. c) Für Differenzierungen, die wir sozusagen ›im Inneren‹ der Erziehung vornehmen, gilt übrigens Ähnliches wie für Abgrenzungen ›nach außen‹. Begrifflich unterscheidbare Stadien der Erziehung gehen in deren Verlauf ineinander über; Verhaltensmotive des Erziehers sind unentwirrbar miteinander verwoben; den unterscheidbaren Kanälen erzieherischen Einflusses lassen sich im allgemeinen weder in der Wahrnehmung des Kindes noch in der Wirklichkeit des Erziehungsergebnisses unterscheidbare Elemente zuordnen; und die begriffliche Differenzierung zwischen praktischer und poietischer Bewandtnis der Erziehung drängt sich erst auf, wenn man deren Bewertbarkeit ins Spiel bringt. d) Da die Unterscheidungen, die ich abgrenzend und differenzierend treffe, analytisch zu verstehen sind, werden sie durch das faktische Miteinander und Ineinander der unterschiedenen Realitäten und durch die Ganzheitlichkeit ihrer Wahrnehmung keineswegs widerlegt. Das heißt aber nicht, das jeweils Unterschiedene stehe als bloßes ›Konstrukt‹ der Sache selbst gegenüber. Eine Sache identifizieren, heißt immer: bestimmte Aspekte der Wirklichkeit unter Ausschluß aller anderen artikulieren. Bereits mit dem (alltäglichen) Begriff der Erziehung hat unsere Sprache aus dem Ganzen unserer Lebenswirklichkeit einen Komplex von Aspekten isoliert. Im selben Sinn isolierend geht auch die begriffliche Analyse vor, wenn sie sich ebendieser Sprache bedient, um unter jenen Aspekten einzelne zu identifizieren, mit deren Hilfe man Erziehung entweder von anderem abgrenzen oder nach Realisierungsweisen differenzierend betrachten kann.
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3
Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Vorbehalte und Vorurteile Die Prätensionen sind eine Hypothek, die die Denkkraft des Philosophen belastet. Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit
Dem Plan, auf der Basis des in Kapitel 2 skizzierten Verständnisses von Erziehung eine handlungsphilosophische Analyse ihres Begriffs zu unternehmen, steht eine Reihe von Hürden im Weg. Einige von ihnen will ich hier, im Vorfeld der eigentlichen Untersuchung, benennen und, soweit möglich, aus dem Weg räumen. Der erste Abschnitt knüpft an die methodologische Besinnung 2.6 an, um auf Bedenken gegen die Bedeutsamkeit des alltäglichen Erziehungsbegriffs einzugehen: Wozu auf den common sense rekurrieren, wenn wir doch die Wissenschaft haben? Welche Autorität darf man ausgerechnet den Kontingenzen der Umgangssprache zugestehen? Und besteht nicht die Gefahr, daß man in andere Kulturen und Epochen ein Erziehungsverhältnis projiziert, dessen heimischen Kontext der Erziehungsbegriff der eigenen Sprache voraussetzt, aber nicht zum Bewußtsein bringt? Die beiden nächsten Abschnitte greifen Vorurteile an, die den Sinn der geplanten Untersuchung in Frage stellen. Zu diesen gehört vor allem die Auffassung, Erziehung – und insbesondere Familienerziehung – habe im Leben unserer Gesellschaft keinen Platz mehr (3.2). Als Vorurteil betrachte ich sodann auch eine Auffassung, die sich ausgesprochen oder unausgesprochen bei fast allen Erziehungswissenschaftlern findet: Erziehung bestehe in der Umsetzung erzieherischer Intentionen (3.3). Es ist mir besonders wichtig, diese Auffassung, die mich auch in späteren Kapiteln noch beschäftigen wird, zu identifizieren und in Frage zu stellen. Denn wer das tief wurzelnde intentionalistische Vorurteil stillschweigend teilt, wird das in diesem Buch vertretene handlungsphilosophische Verständnis von Erziehung fast zwangsläufig mißverstehen oder für abwegig halten. Der vierte und letzte Abschnitt geht auf Vorbehalte und Vorurteile ein, die das Recht eines Menschen, irgendeinem anderen Menschen Maßstäbe des Verhaltens autoritativ zu vermitteln, prinzipiell in Frage stellen. Als Wurzeln dieser Vorbehalte und Vorurteile werden insbesondere Subjektivismus, Bedenken gegen Indoktrination und Paternalismus sowie moralischer Agnostizismus identifiziert und diskutiert. Die objektivistisch-kognitivistische Auffassung, ethische Überzeugungen seien wahrheits- und unwahrheitsfähig und man könne um ihren Wahrheitswert wissen, erweist sich als pädagogisch bedeutsam. Trifft sie nicht zu, so verliert auch der Streit über Erziehungsziele seine Basis, der Erziehungsbegriff seinen Inhalt und die Erziehung selbst ihre Berechtigung.
3 Vorbehalte und Vorurteile
3.1
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Definition und Diskussion der Erziehung müssen vom alltäglichen Erziehungsbegriff ausgehen
Die im vorangehenden Kapitel aufgelisteten Merkmale des Erziehungsbegriffs reflektieren die Art und Weise, wie die Umgangssprache mit dem Ausdruck ›Erziehung‹ umgeht. Wie maßgeblich sind sie für eine theoretische Beschäftigung mit Erziehung? Warum sollten vorwissenschaftliche Wortverwendungen eine normative Autorität genießen? Um solchen Fragen zu begegnen, werde ich a) etwas über die philosophische Bedeutung von Begriffen sagen, die im Sprachgebrauch gewachsen sind, b) auf die Identifizierbarkeit von Erziehung in Kulturen hinweisen, die einen Erziehungsbegriff nicht kennen, c) den Erziehungsbegriff von Auffassungen der Erziehung unterscheiden, d) seine Beziehung zu menschlichen Interessen hervorheben und e) zur Vorsicht im Umgang mit selbstgemachten Varianten des Erziehungsbegriffs raten. a) Bedeutung des Sprachgebrauchs. Die Besinnung auf das, was wir vor aller weiteren Untersuchung über Erziehung sagen und nicht sagen, ist ein Weg, uns des Erziehungsbegriffs zu vergewissern, den jeder unartikuliert besitzt und verwendet. Ich behaupte nicht, es gebe keine Variationen in der Verwendungsweise des Wortes ›Erziehung‹; aber die gibt es bei jedem Wort. Auch behaupte ich nicht, der umgangssprachliche Begriff sei von keiner Theorie geprägt. Aber die Prägung ist nicht so erheblich, daß sie uns, wie Oelkers (2001, S. 10) meint, veranlassen sollte, »das Sprachspiel ›Erziehung‹ als Theorie, genauer: als Festlegung durch Theorie, zu verstehen«. Um seriös zu reden, muß eine Theorie den Ausdruck ›Erziehung‹ entweder so verwenden, wie sie ihn im alltäglichen Sprachgebrauch vorfindet, oder aber definieren. Im ersten Fall greift sie auf eine Wortbedeutung zurück, die offensichtlich nicht auf dem Weg über eine Definition in unser Denken und Reden eingeführt wurde. Mit Blick auf diese Bedeutung ist Besinnung auf den gemeinsamen Sprachgebrauch der einzige Weg zu einem Verständnis von ›Erziehung‹, das Anspruch auf Objektivität erheben kann. Die Möglichkeit, den Erziehungsbegriff zu definieren, ist damit nicht ausgeschlossen. Doch sollte eine Definition der Klärung folgen, nicht vorausgehen oder als Ersatz dienen. Jede Definition, die nicht auf den Ergebnissen einer Besinnung basierte, wie etwa das zweite Kapitel sie artikuliert, wäre willkürlich. Und daher muß sich jede weitere philosophische Analyse oder Argumentation, die als Erörterung von Erziehung auftritt, an einer solchen begrifflichen Besinnung orientieren. Freilich kann auch eine willkürliche Definition – solange sie mit Elementen arbeitet, deren Sinn bereits feststeht – für bestimmte theoretische Zwecke hilfreich sein. Indessen lautet die in diesem Buch anstehende Frage: ›Was heißt Erziehen?‹ Man darf sie daher nicht ohne weiteres durch die Frage ersetzen:
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›Was will ich unter ›Erziehung‹ verstehen?‹ Aber auch nicht durch die Frage: ›Was verstehen Erziehungswissenschaftler darunter?‹ (eine zweifellos interessante und überraschungsträchtige Frage der vergleichenden ›Wissenssoziologie‹). Und ebenso wenig durch die Frage: ›Was verstehen Philosophen darunter?‹ (eine eher uninteressante Frage, da es sich für heutige Philosophen nicht schickt, am Thema Erziehung Gefallen zu finden). Solange wir bei der Frage bleiben, was Erziehung sei, solange wir uns nicht statt dessen für eine bloß verwandte Angelegenheit interessieren: so lange fragen wir nach Elementen, Strukturen und Bezügen unseres Begriffs von Erziehung – wo immer die Grenzen dieses ›wir‹ genau verlaufen mögen. Daher führt kein Weg zur Antwort an einer Besinnung auf den korrekten Umgang mit den einschlägigen Ausdrücken der Sprache vorbei, die wir tatsächlich sprechen. Nur indem wir uns bewußt machen, unter welchen Umständen und zu welchen Zwecken diese Ausdrücke Verwendung finden, erkennen wir, was genau Erziehung ihrem Begriff nach ist – was sich unabhängig von empirischen Entdekkungen und Erhebungen über sie sagen läßt. b) Erziehung ohne Erziehungsbegriff. Ausdrücke, in denen sich über Erziehung reden läßt, benötigt eine Sprachgemeinschaft nur, um einen Begriff von Erziehung, nicht um Erziehung zu haben. Wir können Erziehung auch bei Völkern und in Epochen identifizieren, die ein Äquivalent zum Wort ›Erziehung‹ und den entsprechenden Begriff nicht kennen. Es mag durchaus sein, daß sich manche andere Institution legitimerweise nur einer Kultur zuschreiben läßt, die selbst auch den Begriff dieser Institution besitzt (die Versicherungspolice wäre wohl ein Beispiel); oder aber nur einer solchen Kultur, auf deren historisch-konkrete Gestalt der Begriff Bezug nimmt (Minnesang könnte als Beispiel einer derartigen Institution herhalten). Von der Erziehung hingegen gilt all dies nicht. In ihren Begriff geht keine derartige historische Bindung ein. Nehmen wir einmal an, es gebe Kulturen (oder Epochen), deren Umgang mit Kindern den Verdacht weckt, sie kämen ohne Erziehung aus. Um diesen Verdacht zu erhärten, müßten wir verdächtige Gesellschaften nicht darauf hin untersuchen, ob sie den Begriff der Erziehung kennen, sondern darauf hin, ob sich in ihrem Leben jenes komplexe Muster von Komponenten findet, das ich unter 2.1–4 skizziert habe. Die Merkmale unseres Begriffs der Erziehung liefern die Kriterien, an denen sich entscheidet, ob es in dieser Kultur oder in jener Epoche Erziehung gab oder nicht.24
24 Ähnlich Brezinka (1976, S. 129): Man benötigt einen »allgemeinsten Begriff der Erziehung«, um »für jede Zeit und jeden Ort feststellen zu können, ob Erziehung als ein abgrenzbares Phänomen vorliegt«. Typisch für die entgegengesetzte Auffassung, die ich hier kritisiere, ist der Eintrag ›Erziehung‹ im Handbuch und Lexikon der Erziehung (Schwenk 1992). Um diese Auffassung durch ein Beispiel zu untermauern, bezieht sich der Autor auf die »strenge Trennung von Subjekt und Objekt der Erziehung« in Brezinkas Definition: diese »schließt alle jene Fälle aus, in denen Erwachsene und Heranwachsende
3 Vorbehalte und Vorurteile
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Daher kann uns die in erziehungswissenschaftlichen Untersuchungen stark ausgeprägte historische Komponente zwar – abgesehen vom empirischen Interesse – für begriffliche Fragen sensibilisieren, ansonsten aber nicht darüber belehren, was ›Erziehung‹ heißt; und somit auch nicht darüber, was Erziehung ist. Wir müssen, umgekehrt, einen ziemlich klaren Begriff von Erziehung bereits besitzen, um von einer vergangenen Epoche sagen zu können, Erziehung habe damals unter den und den soziokulturellen oder politischen Bedingungen, in diesen und jenen Formen, Strukturen und Institutionen etc. stattgefunden; oder auch, man habe damals über Erziehung dies oder jenes gedacht (vgl. (c)), man habe den Begriff der Erziehung nicht gehabt oder ebenfalls gehabt oder statt seiner die und die Begriffsvariante oder auch eine alternative Einrichtung mit ähnlicher Funktion gekannt. Kein Zweifel: Kinder wachsen hier so und dort anders auf; man ging im 16. Jahrhundert anders mit ihnen um als heute; usw. Aber warum sollte der Begriff der Erziehung nicht den Tatsachen diesen Spielraum lassen? Etwas anderes sind (bzw. wären) radikale Unterschiede oder Veränderungen, die uns zu dem Urteil führen (würden), von Erziehung könne im einen Fall die Rede sein, im anderen nicht. Es ist beruhigend zu sehen, daß es auch Erziehungswissenschaftler gibt, die solchen Beobachtungen zustimmen dürften. So sagt z. B. Giesecke (1999, S. 17) von der »pädagogischen Beziehung«, sie sei »eine überall in der Gesellschaft vorfindbare Realität, die gleichsam naturwüchsig dadurch gegeben ist, daß Kinder geboren werden und privat wie öffentlich unter der Fürsorge und Leitung von Erwachsenen aufwachsen müssen.« c) Begriff und Auffassung. Zwar protestiere ich dagegen, den Begriff der Erziehung – auch den engeren Erziehungsbegriff, den der Charaktererziehung, der hier interessiert (vgl. 1.3) – an die historische Realisierung von Erziehung unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen oder an das pädagogische Denken sich in gemeinsamer Anstrengung um Normenerfüllung mühen müssen – der christlichen Gebote etwa« (S. 387). Die Antwort könnte lauten: a) Die Notwendigkeit gemeinsamer Anstrengung wird durch die von Schwenk monierte Asymmetrie überhaupt nicht ausgeschlossen. b) Wäre dies (per impossibile) doch der Fall, so wäre eben zu prüfen, ob unsere Verwendung des Ausdrucks ›Erziehung‹ tatsächlich auch für symmetrische Verhältnisse Platz läßt. (Und jeder Laie kennt das Ergebnis dieser Prüfung! Der Autor sollte also das symmetrische Beziehungsmodell, das ihm vorschwebt, als Ergänzung oder als Alternative zur Erziehung behandeln, nicht als Form von Erziehung.) c) Auch Schwenk muß sich eines allgemeinen Begriffs bedienen, der seine Auswahl der einzelnen Konzeptionen und historischen Verhältnisse leitet, die unter dem Stichwort ›Erziehung‹ aufgeführt werden sollen. (»Vielleicht aber«, könnte man fragen, »sind diese Konzeptionen bzw. Verhältnisse durch nichts Gemeinsames, sondern ausschließlich durch Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins miteinander verbunden?« Indessen sollte man diese Möglichkeit nur in Betracht ziehen, nachdem eine Prüfung eindeutig korrekter Verwendungen des Ausdrucks ›Erziehung‹ jede Hoffnung zerstört hätte, eine durchgängige Gemeinsamkeit artikulieren zu können.)
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
einer bestimmten Epoche zu binden. Damit leugne ich aber natürlich nicht, daß es unterschiedliche Auffassungen von Erziehung gibt. Eine solche Auffassung mag z. B. die religiöse, politische oder ideologische Einordnung der Erziehung betreffen; sie mag sich auf die Frage nach günstigen Bedingungen, geeignetem Erzieher-Verhalten, Bedingungen und Chancen des Gelingens beziehen; sie mag in einer erziehungswissenschaftlichen Theorie oder in einer philosophischen These über das Wesen der Erziehung bestehen25. In diesem Sinne unterscheidet z. B. Giesecke zu recht den vor-theoretischen Begriff der pädagogischen Beziehung von Nohls Begriff des ›pädagogischen Bezugs‹, in dem sich eine bestimmte Auffassung der pädagogischen Beziehung niederschlägt (1999, S. 231): »Nohl hat also der ›pädagogischen Beziehung‹ eine ganz bestimmte Deutung im Sinne seiner Theorie gegeben [...]. Unser Thema ist jedoch umfangreicher, es versteht die ›pädagogische Beziehung‹ als einen Grundtatbestand des gesellschaftlichen Lebens, den es zu allen Zeiten gegeben hat und der durch die Notwendigkeit bestimmt ist, daß Erwachsene in irgendeiner Weise mit Kindern umgehen müssen, bis diese selbst die Rollen und Aufgaben der Erwachsenen übernehmen können.« d) Gewachsener Begriff und Interesse. Ich bezweifle nicht, daß eine Definition der Erziehung, die sich nicht in der hier postulierten Weise am alltäglichen Erziehungsbegriff orientiert, etwas in vieler Hinsicht Ähnliches wie Erziehung identifizieren mag; und daß man das so Definierte begrifflich und empirisch untersuchen kann. Es fragt sich dann aber, welches Interesse wir an diesem Thema haben. Relativ leicht ist die Frage nach unserem Interesse an einem Thema zu beantworten, wo uns ein zentraler umgangssprachlicher, sozusagen gewachsener Begriff den Gegenstand der Untersuchung liefert. Denn die Existenz eines solchen Begriffes spiegelt selbst bereits ein spezifisches, für das menschliche Leben charakteristisches, vielleicht vitales Interesse wider. Von einem solchen Interesse gelenkt, gewinnen wir nämlich – sehr vereinfachend und vorläufig gesagt – dem Strom und der Masse des Erlebens wiederkehrende Züge ab. Und was wir so zunächst als Gegenstand eines ursprünglichen Interesses isoliert haben, zieht dann auch ein zusätzliches Interesse auf sich: als Gegenstand der Reflexion. Was ich hier ursprüngliches Interesse nenne, entspringt den Bedürfnissen des Lebens. Gewachsene Begriffe, die solche Interessen spiegeln, lenken dann ihrerseits ›zusätzliche‹ Interessen des Wahrnehmens und Erkennens, des Wollens und Handelns, des Denkens und Redens. Freilich ist beim Menschen nicht jedes ursprüngliche Interesse ein vitales – ein Überlebensinteresse. Auch kann auch das Interesse an Erkenntnis selbst ein ursprüngliches, sogar ein vitales sein. Jedenfalls aber setzt Erkenntnis letztlich Begriffe voraus, die nicht durch andere 25 In diesem letzten Fall artikuliert die fragliche Auffassung, sofern sie nicht die korrekte Verwendung des Wortes ›Erziehung‹ widerspiegelt, mit oder ohne Absicht eine Variante des Erziehungsbegriffs.
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Begriffe definiert, sondern im Leben gewachsen sind: Begriffe also, die nicht dem Interesse an Reflexion, sondern vor-theoretischen Interessen entsprungen sind. Zu diesen muß wohl auch der gewachsene Begriff der Erziehung gehören. Man darf also davon ausgehen, daß er, mit seinen charakteristischen Merkmalen, ein Lebensinteresse spiegelt und einen naturwüchsigen Zweck erfüllt. Näherhin ist anzunehmen, daß der Erziehungsbegriff in unserem (vorwissenschaftlichen) Denken deshalb eine wichtige Rolle spielt, weil die Erziehung selbst eine zentrale Rolle in unserem Leben spielt. Von einer selbstgemachten Variante dieses Begriffs ist eine gleichartige Verwurzelung in unseren Interessen nicht von vornherein zu erwarten. Das philosophische Interesse am umgangssprachlichen Erziehungsbegriff wird also durch ein Interesse am Verständnis unserer eigenen Natur belebt: durch ein quasi anthropologisches Erkenntnis-Interesse. Und dieses wiederum richtet sich auf Erziehung als Gegenstand eines noch fundamentaleren, ursprünglichen, sogar vitalen menschlichen Interesses: des Interesses an Erziehung als Lebenshilfe für die nachwachsende Generation, als Beitrag zum Frieden in der Gemeinschaft usw. Dagegen könnte eine herbei-definierte Variante des Erziehungsbegriffs zwar immer Material für begriffsanalytische Fingerübungen abgeben. Daß ihre philosophische Bearbeitung aber einem tiefer liegenden Erkenntnisinteresse entgegenkommt, ist eher unwahrscheinlich. Es gibt also gute Gründe, dem umgangssprachlichen Begriff der Erziehung vorrangige Aufmerksamkeit zu widmen, auch wenn er sich vielleicht einer erhellenden Definition entzieht und, wie sich herausstellen wird, ziemlich unordentliche Strukturen aufweist. Gewiß, wird man mir entgegnen, eine tiefere Verwurzelung von Alternativen zum Erziehungsbegriff in unseren Interessen wird man kaum erwarten. Aber was nicht zu erwarten ist, ist deshalb noch lange nicht ausgeschlossen. Es ist also beispielsweise denkbar, daß der von Brezinka definierte Begriff (vgl. 2.5 (c), 3.3) interessant und nützlich ist, sofern diese Definition im menschlichen Leben ein Muster nachzeichnet, das wir, von einem wichtigen Interesse (oder von wichtigen Interessen) geleitet, als Einheit erleben könnten oder wenigstens behandeln sollten. Das ist zuzugeben. Nur ist jede derartige Begriffskonstruktion daraufhin zu prüfen, welches Interesse sie beanspruchen darf – und in welchem Verhältnis sie zu dem gewachsenen Begriff steht, den wir mit dem neu belegten Terminus zuvor bereits verbinden. Im übrigen sollte für Begriffserklärungen, die unseren Erziehungsbegriff variieren, in der pädagogischen Theorie durchaus Platz sein. Nicht in alle Sprachen läßt sich das deutsche Wort ›Erziehung‹ ohne weiteres übersetzen. Manche dieser Sprachen enthalten also offenbar Ausdrücke mit einem ähnlichen Sinn, der ebenfalls als ›naturwüchsig‹ gelten kann, auch wenn er nicht genau dieselbe Interessenkonstellation reflektiert wie der Erziehungsbegriff. Aber diese Aus-
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drücke bedeuten dann eben nicht genau dasselbe wie ›Erziehung‹ – nicht das, was hier handlungsphilosophisch untersucht werden soll. e) Wert und Unwert selbstgemachter Begriffsvarianten. Für manche Zwecke könnte es sich empfehlen, mit einem Begriff zu arbeiten, der gewisse Unebenheiten des gewachsenen Erziehungsbegriffs beseitigt. Allerdings sollte, wer sich auf eine selbstgemachte Variante des Erziehungsbegriffs verläßt, die Voraussetzungen und Folgen eines solchen Vorgehens im Blick behalten, von denen hier einige genannt seien. 1) Um den relativen Wert der eingeführten Begriffsvariante überhaupt beurteilen zu können, muß man selbstverständlich deren Implikationen erkunden. Man muß aber ebenfalls den gewachsenen Erziehungsbegriff analysiert und seine Tugenden und eventuellen Mängel identifiziert haben. Nur wer das tatsächlich wenigstens ansatzweise unternommen hat, kann gegebenenfalls gute Gründe haben, mit einer Alternative zu operieren. Eine grundlegende Untersuchung im Bereich des Themas Erziehung muß also auf jeden Fall den vorgefundenen Begriff ein Stück weit klären. (Und daran scheint es mir in den Erziehungswissenschaften zu fehlen.) 2) Je weiter sich die Variante vom gewachsenen Erziehungsbegriff entfernt, desto weniger stimmen auch die jeweils gemeinten Sachen selbst miteinander überein. Das ergibt sich daraus, daß – grob gesprochen – Modifizierung eines Begriffs Modifizierung der Kriterien seines Zutreffens bedeutet, so daß auch mit einer Verschiebung seiner Extension zu rechnen ist. Um es in einem Wort zu sagen: eine Variante des Erziehungsbegriffs trifft auf eine Variante von Erziehung zu, nicht auf Erziehung. Bei erklärter oder eklatanter Abweichung vom vertrauten Begriff wie im Falle Ernst Kriecks, der faktisch Sozialisierung als Erziehung bezeichnet26, ist dies nur besonders deutlich. Es gilt für jede Festlegung eines Begriffs, die – gewollt oder ungewollt – Vorgaben der etablierten Wortverwendung übergeht. 3) Es nützt nichts, ›Erziehung‹ zu definieren, wenn man nicht darauf achtet, die ausersehene Definition auch tatsächlich dem Verständnis der anschließend gemachten Aussagen zugrunde zu legen – und für deren Deutung nicht unversehens den umgangssprachlichen Erziehungsbegriff in Anspruch zu nehmen. (Nicht selten werden die Aussagen freilich dadurch an Plausibilität gewinnen, daß sie nicht im Sinne der ausdrücklichen Definition verstanden werden!) Die Versuchung zu der hier drohenden Inkonsistenz ist groß. Denn selbstverständlich tendiert auch der Erziehungswissenschaftler dazu, sich im tatsächlichen Gebrauch der Ausdrücke ›Erziehung‹, ›erziehen‹ usw. von seiner unausdrücklichen Sprachkompetenz leiten zu lassen – während er seine Definition vielleicht nur vorangestellt hat (oder wahrscheinlicher: nachschiebt), um einer 26 Als »funktionales Erziehungsgeschehen« bezeichnet Krieck (1922, S. 47) »die formende Wechselwirkung von Mensch zu Mensch, jede Art geistiger Wirkung, welche Werden, Gestaltung und Formung hervorruft oder beeinflußt, wo immer sie herstamme«.
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lex artis zu genügen. Wie dem auch sei, nicht immer wird im Fließtext von dem gesprochen, was die zuvor gegebene Definition angeblich zum Thema macht.27 4) Auf der anderen Seite besteht auch folgende Gefahr: Man führt ein bestimmtes Wortverständnis ein, an dem man aus bestimmten Gründen seine Untersuchung orientieren will und tatsächlich orientiert, wobei man jedoch der Divergenz vom üblichen Wortverständnis keine weitere Aufmerksamkeit schenkt. Man wird dann leicht die Ergebnisse der Untersuchung so präsentieren, daß der Adressat (und wahrscheinlich auch man selbst), das übliche Wortverständnis aktivierend, diesen Ergebnissen einen anderen, meist aufregenderen Sinn beilegt, als das ursprünglich eingeführte Wortverständnis zuläßt und verlangt. Um ein etwas grobkörniges, leider nicht besonders originelles Beispiel zu geben: Wer sich in seinem Verständnis moralischer Erziehung von Lawrence Kohlbergs Entwicklungspsychologie inspirieren läßt (vgl. 16.2 (a)), wird Erziehungserfolge danach beurteilen müssen, auf welcher Stufe des Reziprozitätsdenkens ein Heranwachsender seine Verhaltensregeln und sein Verhalten begründet. Dann ist es denkbar, daß ein Jugendlicher, der sich an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt, als erstaunlich gut erzogen (und sogar frühreif) gelten muß – falls er nämlich zur Begründung seines Verhaltens eine Maxime anführt, deren Verallgemeinerung er problemlos wollen kann: die Maxime, ›dafür zu sorgen, daß sich im (jeweils) eigenen Land keine Ausländer breitmachen‹ oder: ›sich dem Rang der (jeweils) eigenen Rasse entsprechend zu benehmen‹. Im Vergleich zu diesem Jugendlichen wäre einer, der meint, man solle gerade mit Fremden besonders freundlich umgehen, und der dies auch praktiziert, zurückgeblieben, wenn er als Grund für seine Verhaltensweise nur anzugeben wüßte, er habe es so gelernt und Fremde seien doch auf Entgegenkommen und Aufmerksamkeit noch mehr als andere angewiesen. Eine relative Wertung von Erziehungsergebnissen nach diesem Muster könnte als überraschender Befund, als spektakuläre Entdeckung der ›wahren Verhältnisse‹ oder auch als unverständliche, weltfremde Theorie erscheinen – solange man sich nicht bewußt macht, nach welchen Kriterien hier von ›Entwicklung‹ und ›Stufe‹ die Rede ist und welchen neuen Sinn in der Folge Ausdrücke wie ›moralischer Fortschritt‹, ›charakterliche Reife‹ und ›Erziehung‹ von vornherein erhalten haben. Ist einem dies bewußt, so erwartet man selbstverständlich nicht, daß jene Wertung sich auf Fortschritt, Reife und Erzogenheit im vertrauten Verständnis dieser Wörter bezieht.
27 Der geneigte Leser wird diese Inkonsistenz in der Regel mit dem Mantel der Liebe zudecken – dadurch nämlich, daß er sie im Einvernehmen mit dem Autor übersieht.
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3.2
Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
›Zeitgemäße‹ Erziehungsvorstellungen beruhen häufig auf einer inadäquaten Bewertung von Autorität
So viel dürfte auch für die Freunde der Erziehung feststehen: Erziehung hat heute in unserem Kulturkreis ihre Selbstverständlichkeit verloren. Erzieher, insbesondere Eltern und Lehrer, fühlen sich häufig in ihrer Aufgabe überfordert. Sie hatten gelernt zu fragen: Woher nehmen wir überhaupt das Recht, Heranwachsende nach unseren Vorstellungen zu beeinflussen? Inzwischen sieht die Verunsicherung etwas anders aus: Wie können wir Einfluß nehmen, und wozu sollen wir sie erziehen? Darüber hinaus jedoch stellt die Erziehungswissenschaft selbst das ›Konzept der Erziehung‹ in verschiedener Hinsicht in Frage. Schwenk (1992, S. 392) spricht von einer »Auflösung« des Erziehungsbegriffs, die mit Kriecks Idee der »funktionalen Erziehung« begonnen habe, und von der »Modifikation des Erziehungsbegriffs in Richtung auf eine unter der Voraussetzung prinzipieller Gleichberechtigung der Generationen zu führenden Auseinandersetzung«. Er selbst behauptet, »Allmachtsphantasien« würden »im Erziehungsbegriff kaum bemerkt bis auf den heutigen Tag mitgeschleppt« (Schwenk 1992, S. 392). Liegt aber nicht bereits in der Idee der Erziehung eine bedenkliche Anmaßung? Suggeriert sie nicht die illusorische Vorstellung, ein Heranwachsender sei nach Abschluß der pädagogischen Behandlung, der man ihn achtzehn Jahre lang unterzogen hat, nunmehr ›erzogen‹ und ein ›fertiger‹ Mensch – während sich doch niemand einbilden darf, je ausgelernt zu haben? Nun, kaum einer wird leugnen, daß jeder ›lebenslang lernen‹ muß und daß Erziehungsbedarf nicht von einem auf den anderen Tag endet. Aber auch im Anspruch, den die Idee der Erziehung mit sich führt, ist dies nicht geleugnet. Nur setzt das Erziehungsverhältnis zweierlei voraus: ein Gefälle zwischen B und A in einer entscheidenden Dimension der Qualifizierung zum menschlichen Leben (2.3 (e)); und B’s Berechtigung, im Hinblick auf diese Dimension einen bestimmenden Einfluß auf A auszuüben (2.4 (b)). Muß man aber diese Voraussetzungen nicht hinterfragen? Vielleicht ist der Anspruch auf Vorsprung, den der Erzieher als solcher unweigerlich erhebt und aus dem er dann auch noch eine rechtliche Ungleichstellung ableitet, gar nicht gut begründet? Ist der Erzieher denn ein besserer Mensch als das Kind, daß er glaubt, es anleiten zu sollen? Sind nicht beide gleichberechtigt? Woher dann die Berechtigung, einem anderen die eigenen Vorstellungen aufzuzwingen und Anweisungen zu geben? Zweifellos haben Kinder dieselben Menschenrechte wie Erwachsene, und zweifellos schulden Eltern und sonstige Erzieher ihren Kindern dieselbe Gerechtigkeit, Ehrfurcht und Menschlichkeit wie beliebigen anderen Personen auch – und außerdem vieles sonst, das sie anderen nicht schulden. Solche elementare rechtliche Gleichheit schließt aber relative rechtliche Ungleichstellung in dieser oder jener Hinsicht keineswegs aus – im Erziehungsverhältnis ebenso wenig wie in Eigentumsansprüchen, Vertragsverhältnissen u.a. m.
3 Vorbehalte und Vorurteile
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Allerdings ist auch relative rechtliche Ungleichstellung im allgemeinen nur auf der Basis relevanter Unterschiede begründbar. Liegt etwa ein solcher Unterschied, nämlich relevantes Gefälle, im Erziehungsverhältnis gar nicht vor? Selbstverständlich können Erzieher im Kontext der Erziehung und – warum nicht? – auch vom Heranwachsenden eine Menge lernen. Aber was? Wenn sie wirklich all das zu lernen haben, was Erziehung zu ethischer Selbständigkeit vermitteln soll, taugen sie eben nicht als Erzieher. Andernfalls aber haben sie in der Tat einen relevanten Vorsprung. Damit Erziehungsverhältnisse möglich und berechtigt sind, muß im Hinblick auf das, was Erziehung vermitteln soll, zwischen Erwachsenen und Kindern ein Gefälle bestehen. In dieser Hinsicht symmetrische Partnerschaft und Gleichberechtigung zu fordern28, ist barer Unsinn. Nicht zufällig ist der Ausdruck ›Zögling‹ aus der Erziehungswissenschaft fast ganz verschwunden. Nicht etwa, weil fast alle ihre Vertreter die konstitutive Bedeutung jenes Gefälles wirklich leugneten. Doch erweckt speziell der Ausdruck ›Zögling‹ den Eindruck, im Erziehungsverhältnis stehe eine aktive Seite einer passiven gegenüber. Nun verlangt zwar Erziehung durchaus den aktiven Beitrag des Kindes. Gleichwohl liefert die Verfassung dieses Kindes dem Erzieher Anlaß und Berechtigung zu einer Art der Einwirkung, die einseitig verläuft, nicht gegenseitig. Beim Gedanken an solche Einseitigkeit und das vorausgesetzte Gefälle fühlt man sich offenbar nicht wohl. Annahmen von Asymmetrie, Überlegenheit, Vorsprung, Autorität usw. scheinen Assoziationen mit sich zu führen, die ein schlechtes Gewissen verursachen. Diesem ist allem Vermuten nach der ›Zögling‹ zum Opfer gefallen. Vielleicht müssen wir übrigens im traurigen Schicksal dieses Terminus auch ein Beispiel für den Schaden erkennen, den die Vermischung von Begriff und Theorie im heute gängigen Gebrauch des Ausdrucks ›Konzept‹ anrichtet. Wer ›ein Konzept ablehnt‹, entzieht sich der redlichen Entscheidung, ob er einen (mehr oder weniger) bestimmten Begriff verwirft oder aber eine These bzw. Theorie für falsch hält, in der dieser Begriff eine Schlüsselrolle spielt.29 Diesen kapitalen Methodenfehler riskiert auch die Rede vom ›Konzept der Erziehung‹. Wer das mit der Erziehung gegebene Autoritätsverhältnis für unerlaubt hält, sollte das sagen und daraus die Konsequenz ziehen, daß es Zöglinge
28 Vgl. etwa Schäfer / Schaller 1973. Gegenwärtig hört man Ähnliches von Jürgen Oelkers (2002, Abschnitt 3): »Der ›pädagogische Bezug‹ [...] wäre in eine komplexere Wechselseitigkeit zu verwandeln, die pauschale Zuschreibungen vermeidet, also nicht einfach von den Erwachsenen erwartet, dass sie die Kinder erziehen, wenn das Umgekehrte nicht nur auch gilt, sondern mindestens ebenso wirksam ist.« Etwas differenzierter heißt es später: »Erziehung erlaubt nur an bestimmten Stellen Asymmetrie, dort nämlich, wo Kinder von sich aus nicht weiterkommen oder wo sie keine Fragen haben, sich aber sehr wohl Fragen stellen.« 29 Im übrigen kann man natürlich auch einen Begriff aus unterschiedlichen Gründen verwerfen: weil man seine wertende Konnotation scheut; weil er inkonsistent ist; weil er keine klaren Kriterien mit sich führt; weil er auf nichts zutrifft; weil man ihn für unfruchtbar hält, etc.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
(und Erzieher) nicht geben sollte. Das ist eine klare (wenn auch vielleicht verrückte) These. Diese These hat aber mit dem Begriff des Zöglings kein Problem. Im Gegenteil: Indem sie erklärt, man dürfe Kinder nicht als Zöglinge behandeln, gibt sie dem Terminus dieselbe Funktion wie die entgegengesetzte These. Statt dessen hat man sich tendenziell des Terminus stillschweigend entledigt und läßt bequemerweise die Frage offen, ob das die Unerlaubtheit des erzieherischen Verhältnisses oder aber einen Defekt im Begriff des Zöglings signalisieren soll. Wollte man heutzutage den Terminus ›Zögling‹ ohne Distanzierung, Ironisierung oder ›wissenschaftliche‹ Stilisierung verwenden (›Educandus‹ ist erlaubt!), so gäbe man sich als pädagogischen Dinosaurier zu erkennen. Dabei ist der Verlust erheblich. Denn Zögling ist als Verhältnis- oder Beziehungsbegriff im Deutschen nicht zu ersetzen. Man kann vom Kind, vom Heranwachsenden und von seinem Erzieher sprechen; nicht aber umgekehrt (im intendierten Sinne) vom Erzieher und seinen Kindern oder gar seinen Heranwachsenden, sondern nur von seinen Zöglingen. – Rettungsversuche dürften aber kaum aussichtsreich sein. Kehren wir nach diesem etwas mißgelaunten Exkurs über das ›Konzept‹ des Zöglings zum eigentlichen Thema dieses Abschnitts zurück. Letztlich signalisieren Tendenzen, aus der Erziehung ein Verhältnis mehr oder weniger symmetrischer Partnerschaft zu machen, die Frage, ob überhaupt (im etablierten Sinne des Wortes) erzogen werden darf und soll. Es gibt gute Gründe, diese Frage, die eher ideologischen als praxisbezogenen oder fundierten moralphilosophischen Bedenken zu entspringen scheint, nicht übermäßig ernstzunehmen. Ich möchte ihr aber wenigstens die folgenden Überlegungen widmen. Die grundsätzliche Leugnung von Erziehungsbedarf und -aufgabe durch die Antipädagogik hat in der Erziehungswissenschaft deutliche Spuren hinterlassen. Zu ihnen gehört ein skeptisches Verhältnis zur Familienerziehung oder zur Erziehung überhaupt. Und eben auch ein Interesse an der Frage: Haben Kinder überhaupt Erziehung nötig? Doch ist keineswegs klar, wie eine Antwort auf diese Frage stichhaltig zu begründen wäre. Läßt sich die Notwendigkeit von Erziehung irgendwie überprüfen? Die Frage ›Brauchen Kinder Erziehung?‹ ähnelt der Frage ›Brauchen Menschen, die in großer Zahl und in relativ enger Nachbarschaft zusammen wohnen, den Staat?‹. Wie diese Frage, so ist auch jene weder durch bloße Begriffsanalyse entscheidbar noch einer strengen und zugleich praktikablen empirischen Untersuchung zugänglich. Wer davon überzeugt ist, daß Menschen staatliche Autorität bzw. Erziehung nötig haben, kann sich zwar auf täglich erfahrene Anhaltspunkte berufen, von denen her er sozusagen extrapoliert. Auch sind diese Anhaltspunkte durchaus wichtig: als kaum oder gar nicht bewußte Stützen unserer Alltagsüberzeugung vom Bedarf an Staat bzw. Erziehung; als Themen der Politikbzw. Erziehungswissenschaft; und schließlich auch als Argumente gegen Anarchisten bzw. Antipädagogen (vgl. Oelkers / Lehmann 1990, insbes. S. 158–162). Sie sind jedoch schwerlich geeignet, die Leugner zwingend zu widerlegen oder
3 Vorbehalte und Vorurteile
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die Notwendigkeitsthese zu beweisen. Antipädagogen ist genauso wenig zu helfen wie Anarchisten, am wenigsten vielleicht durch ›Beweise‹.30 Erziehungswissenschaftler, die Erziehung für ein bedenkliches Unternehmen halten, stützen sich aber auch kaum auf solide Gründe für die Annahme, Kinder bedürften keiner Erziehung und vor allem keiner erzieherischen Autorität. Eher gewinnt man den Eindruck, daß sie den Mißbrauch erzieherischer Autorität und Einwirkung dem erzieherischen Anspruch selbst zur Last legen31; daß sie umgekehrt vertretbare Erziehungspraxis als autoritätsfreie Kommunikation einordnen bzw. vereinnahmen; daß sie Situationen, die Asymmetrie- und Autoritätsbedarf manifestieren, übersehen oder nicht wahrhaben wollen; oder daß sie in der Theorie desavouieren, was als Erfordernis der Praxis kaum zu leugnen ist. Dahinter meint man nicht selten das bereits erwähnte schlechte Gewissen schlagen zu hören, das keine legitimen Asymmetrien gelten läßt. Über die teilweise respektablen Wurzeln dieses schlechten Gewissens wäre viel zu sagen – wofür hier nicht der Ort ist. Insbesondere läßt sich nicht leugnen, daß das Bewußtsein von Vorsprung und Überlegenheit durchaus der Achtung vor dem Gegenüber im Wege stehen kann und daß Gehorsams- bzw. Autoritätsverhältnisse zum Mißbrauch einladen. Doch sollte die Antwort auf solche inhärenten Gefährdungen des Erziehungsverhältnisses nicht darin bestehen, das Verhältnis selbst als unzulässig zu verwerfen (und zugleich das Unvermeidliche unter einem anderen Etikett zu akzeptieren). Angebrachter wäre das Bemühen, Voraussetzungen und Einstellungen zu erforschen und zu fördern, mit denen jenen Gefährdungen zu begegnen wäre. Ideologisch motivierte Ablehnung der Erziehung leistet einer bestimmten Art von Unaufrichtigkeit Vorschub – und vielleicht sogar dem Mißbrauch, dem die Ablehnung eigentlich gelten sollte. Wer insbesondere die Ausübung von Autorität für unnötig oder unerlaubt erklärt, wird nämlich entweder leugnen, was kaum zu leugnen ist, nämlich die Tatsache kindlicher Unfertigkeit und sonstiger Aspekte menschlichen Lebens, die Autoritätsverhältnisse veranlassen. Oder er wird solche Tatsachen anerkennen, aber nicht zugeben, daß sich aus ihnen Erfordernisse ergeben, zu denen die Ausübung von Autorität gehört.32 Im zweiten Falle läuft er Gefahr, alternative Erfordernisse zu postulieren, die aber faktisch das Autoritätsverhältnis unter einem neuen Namen33 verstecken. Autoritätsaus30 Es ist, so zeigt sich bei näherem Hinsehen, eher umgekehrt: Die Notwendigkeit steht für den Überzeugten fest; und dies macht ihn auch gewiß, daß sie sich durch eine Menge von Anhaltspunkten stützen läßt – noch bevor er sich auch nur einen von diesen vergegenwärtigt hat. Das Thema wird von Anscombe 1981 c, S. 135–137 im Hinblick auf den Staat, von Müller 1994 b im Hinblick auf die Erziehung behandelt. Zur Frage nach dem Erkenntnis-Charakter grundlegender empirischer Sätze vgl. Wittgenstein ÜG. 31 Bei Reichwein (1992, S. 326f.) findet man sogar eine ausdrückliche Zurückweisung der Unterscheidung zwischen Autoritätsverhältnis und autoritärer Praxis. 32 Zur Gründung pädagogischer Autorität auf Erziehungsbedarf vgl. Müller 1994 b, S. 204 f. 33 »Indem sich aber Autorität [...] zunehmend auflöst und verflüchtigt, könnte es ihrem Begriff ebenso ergehen [...]. An seiner Stelle sollte die erziehungswissenschaftliche For-
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
übung jedoch, die nicht beim Namen genannt wird, läßt sich auch nicht als solche kennzeichnen und kontrollieren, bewerten und korrigieren.
3.3
Erziehungswissenschaftlicher Intentionalismus mißversteht den Unterschied zwischen Erziehung und Sozialisation
In der Erziehungswissenschaft ist die Tendenz verbreitet, Erziehung von anderen Formen der Sozialisation durch das Moment der Intentionalität, des Absichtlichen, zu unterscheiden. Auf dem Hintergrund dieser Sicht, die ich als Intentionalismus bezeichne, wird auch die Idee des Professionalismus plausibel: die Vorstellung, erst als professionelle Tätigkeit komme Erziehung zu sich selbst, Familienerziehung sei im Vergleich zu ihr überholt oder doch etwas Vorläufiges. »Durch die Verselbständigung der Erziehung als Beruf gelangte die Erziehung zu Selbstbewußtsein und entwickelte sich zu einer lernbaren praktischen Kunst, Kompetenzen zu vermitteln. Andererseits ist sie bis heute immer auch eine allgemeine Funktion geblieben, die von ›Laien‹ in naiver Dauererfüllung[!] betrieben wird« (Titze 1992, S. 511). Vermutlich verdankt sich die hier dokumentierte Tendenz auch sozialen und institutionellen Strukturen. Intentionalismus und Professionalismus werden gleichermaßen dadurch begünstigt, daß sich Theorie und Politik ziemlich einseitig auf den öffentlichen Bereich der Pädagogik konzentrieren. Offenbar interessieren sich Theoretiker wie Politiker (aus unterschiedlichen Gründen?) eher für die Jugend als für das Kleinkind, eher für Schule und Sozialarbeit als für die Familie34, eher für den Unterricht als für die moralische Erziehung. Der Intentionalismus kann sich, ohne explizit vertreten zu werden oder Teil einer interventionistischen Erziehungstheorie zu sein, über die Begriffe der Erziehungsmaßnahme oder auch nur der Handlung in die Definition und die Reflexion von Erziehung einschleichen. Ein deutliches Beispiel liefert Wolfgang Brezinka (1978, S. 45): »Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten.« An anderer Stelle (Brezinka 1976, S. 129) sind – noch deutlicher intentionalistisch – unter Erziehung »Handlungen zu verstehen, die in der Absicht erfolgen (oder: die den Zweck
schung ein differenzierteres Konzept von pädagogischer Kompetenz entwickeln, das zeitgemäßer, verständlicher und auch in pädagogische Ausbildung und Praxis umsetzbar wäre« (Reichwein 1992, S. 328). 34 Angeblich, so jedenfalls die mündliche Mitteilung eines Professors der Erziehungswissenschaft, haben die Vertreter seines Faches das Thema Erziehung in der Familie schon seit einiger Zeit den Psychologen überlassen.
3 Vorbehalte und Vorurteile
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haben), in anderen Menschen gemäß für sie gesetzten Normen (Sollensforderungen, Idealen, Zielen) psychische Dispositionen hervorzubringen, zu fördern, zu ändern, abzubauen oder zu erhalten«.35 Gewiß wird mancher Erziehungswissenschaftler diesen Definitionen widersprechen. Er wird dann aber vielleicht an ›psychischen Dispositionen‹ oder an der implizierten Asymmetrie des definierten Verhältnisses Anstoß nehmen, kaum am Rekurs auf Handlung und Absicht. Daß Erziehung in Handlungen besteht, wird unreflektiert vorausgesetzt. ›Worin denn sonst?‹, wird man fragen. Der Ausdruck ›Handlung‹ scheint ja wirklich das allerunschuldigste Element einer solchen Definition zu sein. Ernst wird es doch erst, wenn es um die unterscheidenden Merkmale erzieherischer Handlungen geht! Einstweilen will ich dieser Frage – der in gewisser Weise das ganze Buch gewidmet ist – nur mit einem Zweifel begegnen: Läßt sich denn Erziehung wirklich als eine (intermittierende!) Abfolge von Erziehungsmaßnahmen verstehen, von Handlungen also (und Unterlassungen?), deren jede der Erzieher um einer charakteristischen Wirkung willen intendiert, die er wiederum im Blick auf ein von ihm konzipiertes Erziehungsziel bezweckt? Entspricht diese Vorstellung tatsächlich dem, woran man denkt, wenn man sich beispielsweise fragt, ob dieser oder jener Charakterzug von X auf die Erziehung zurückzuführen sei, die X genossen hat? – Ich hoffe zu zeigen, daß die intentionalistische Auffassung Erziehung gründlich mißversteht. In Wirklichkeit ist vieles im konkreten Fall für die Erziehung eines Kindes konstitutiv, ohne in erzieherischer Absicht oder überhaupt absichtlich zu geschehen. Vielleicht trug unausdrückliche Anerkennung dieser Tatsache dazu bei, daß man häufig anstelle des definitionskonformen Ausdrucks ›Erziehungshandlung‹ unverbindlichere Ausdrücke wie ›Erziehungsgeschehen‹, ›-prozeß‹, ›erzieherisches Handeln‹, und dergleichen verwendete. Andererseits hatte man Kriecks ›funktionale Erziehung‹ als bloßen sozialisatorischen Einfluß enttarnt. Aus dieser Perspektive lag es nahe, das Eigentümliche der Erziehung in Mittel-ZweckIntention und Handlung zu lokalisieren. Tatsächlich geht der Rekurs auf Geschehen und Prozeß der Frage nach den Komponenten des ›Geschehens‹ und insbesondere nach den Subjekten des ›procedere‹ auf wenig befriedigende Weise aus dem Weg. Und was ›erzieherisches Handeln‹ etwa meinen kann, wenn es nicht das Ausführen geeigneter Handlungen meint, muß einstweilen als fraglich erscheinen. Brezinkas Auffassung, Erziehung bestehe in Handlungen, die in der Absicht erfolgen, in einem anderen Menschen bestimmte mentale Wirkungen hervor35 Brezinka ist übrigens nicht der Meinung, seine wissenschaftsorientierten Definitionen entfernten sich weit vom umgangssprachlichen Verständnis der Erziehung. »Die ursprüngliche und in der Umgangssprache nach wie vor häufigste Bedeutung des Wortes ›Erziehung‹ ist zweifellos diejenige, mit ihm Handlungen zu meinen, die den Zweck haben, den Adressaten in irgendeiner Hinsicht besser, tüchtiger oder vollkommener zu machen« (1975, S. 64). Wie wir sehen werden, zeigt der Sprachgebrauch etwas ganz anderes.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
zurufen, ist durchaus repräsentativ. Varianten dieser Auffassung finden sich bei fast allen erziehungswissenschaftlichen Autoren, die überhaupt einen klaren Begriff von Erziehung artikulieren.36 Ich halte sie auch keineswegs für völlig verfehlt. Insbesondere leugne ich natürlich nicht, daß es Erziehungsmaßnahmen gibt! Ich halte aber das, was der Intentionalismus nicht zur Kenntnis nimmt, für wichtig – für so wichtig, daß man es unbedingt eruieren und benennen muß, um zu verstehen und zu artikulieren, was Erziehung tatsächlich ist. Dieser Aufgabe widmet sich die handlungsphilosophische Analyse der Erziehung.
3.4
Erziehung ist nur legitim, wenn objektive ethische Maßstäbe existieren und gelehrt werden dürfen
Ich komme zu einer Gruppe von Vorbehalten und Vorurteilen, die sich auf das Nachdenken über Erziehung lähmend auswirken und sich vermutlich auch auf Erziehung schon lähmend ausgewirkt haben. Dabei geht es um die Frage, ob der 36 So schreibt z.B. Oelkers (2001, S. 10): »Unter ›Erziehung‹ kann allgemein die moralische Kommunikation zwischen Personen und Institutionen sowie mit und über Medien verstanden werden, soweit sie auf dauerhafte Einwirkungen abzielt und ein Gefälle voraussetzt.« Schröder (1992, S. 83 f.) stellt u.a. folgende Definitionen vor: »Ganz allgemein wird man als Erziehung jene Maßnahmen und Prozesse bezeichnen können, die den Menschen zur Mündigkeit hinleiten [...]« (= Böhm 1982, S. 157 f.). »Wir gebrauchen das Wort ›Erziehung‹ im umfassendsten Sinn als Begriff für alle bewußten Einwirkungen von Menschen, die auf die Entwicklung und die Veränderung des Wissens und Könnens, dauerhafte Haltungen und Verhaltensformen anderer, insbesonderer junger Menschen, gerichtet sind« (= Klafki 1976, S. 17). Schröder fährt fort: »Den aufgezeigten wie auch den meisten anderen Definitionen liegt das Bemühen zugrunde, Erziehung [...] als Maßnahme des äußeren Einwirkens auf die Entwicklung von Einstellungen und Haltungen aufzuzeigen [...]« (S. 84). »Die intentionale Erziehung ist ein Erziehungsprozeß, der mit bestimmten Absichten und Zielsetzungen verbunden ist, unabhängig davon, welche einzelnen Ziele gesetzt werden [...]« (S. 85). – Auch unter Soziologen ist ein intentionalistischer Begriff von Erziehung selbstverständlich: »Erziehung als Unterbegriff von S[ozialisation] bezeichnet alle Vorgänge, bei denen bewusst ein Handeln mit dem Ziel in Gang gesetzt wird, die Persönlichkeitsentwicklung zu beeinflussen, d.h. bestimmte Verhaltensdispositionen zu entwickeln oder vorhandene zu verändern« (Peuckert / Scherr 2003, S. 320). Und das Soziologie-Lexikon definiert Erziehung als »planmäßige Formung von Kindern und Jugendlichen zu verantwortungsbewußten und mündigen Persönlichkeiten unter Berücksichtigung und Einbeziehung ihrer Anlagen und Stärken« (Reinhold 1997, S. 152). Weitere einschlägige Zitate in Abschnitt 2.5 (c). – Wo Erziehung nichtintentionalistisch verstanden wird, geht dies typischerweise auf Kosten einer positivien Kennzeichnung, die sie abgrenzen würde gegen sonstige Formen von Sozialisation und Kommunikation: »Das Wort ›Erziehung‹ läßt an bewußtes, geplantes pädagogisches Verhalten und an einseitige Aktion in Richtung auf das Kind denken. Hier jedoch soll der Begriff in einem veränderten und erweiterten Sinn verstanden werden, so daß er darüber hinaus auch das ungeplante, spontane, averbale, im Unbewußten bleibende Verhalten der Eltern abdeckt. [...] Weiter meint der hier verwendete Erziehungsbegriff [...] eine Wechselbeziehung, die auch Prozesse und Veränderungen beim Erwachsenen hervorruft« (Bloth 1981, S. 218).
3 Vorbehalte und Vorurteile
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Erzieher ethische Normen als allgemein verbindlich behandeln und dem Heranwachsenden autoritativ vermitteln darf. Zentrales Thema dieses Abschnitts ist daher die pädagogische Relevanz des ethischen Objektivismus. Kann man menschliches Handeln nicht in wahren (oder falschen) Urteilen bewerten, dann auch nicht den Charakter, dem es entspringt, nicht das Erziehungsziel, das ein charakterliches Ideal repräsentiert, und auch nicht die Erziehung, die so oder so auf die charakterliche Entwicklung eines Heranwachsenden einwirkt. Neben relativistischen und subjektivistischen Vorbehalten werde ich zwei weitere Vorbehalte gegen Erziehung erörtern. Der eine nimmt Anstoß daran, daß der Erzieher unumgänglich seine persönlichen Maßstäbe vermittle; der andere besteht auf Wissen, wo der Erzieher lediglich fehlbare Überzeugung anzubieten hat. Vorbehalte gegen die Berechtigung erzieherischer, also autoritativer ethischer Anleitung haben historische, politische und psychologische Hintergründe, denen ich hier nicht nachgehen will. Da ihre Motive meist eher auf solche Hintergründe als auf theoretische Befunde zurückgehen, äußern sich diese Vorbehalte oft nicht in deutlich artikulierten oder gar gut begründeten Thesen.37 Da sie aber – vielleicht gerade deshalb – auch theoretisch wirksam sind, will ich sie hier erörtern. Und zwar werde ich an einige mehr oder weniger repräsentative Formulierungen Kurt Beutlers anknüpfen, um eine Reihe von Thesen zum Thema aufzustellen und, soweit hier möglich, zu begründen. »Was es einzusehen gilt«, ist nach Beutler (1996, S. 272) folgendes: »Die Vermutung einer Allgemeingültigkeit oder auch nur die Annahme einer allgemeinen Verbindlichkeit pädagogischer Zielsetzungen läßt sich als Regelfall nicht durch Tatsachen erhärten. Daß die Vorstellungen über Erziehungsziele nicht übereinstimmen, ist der Normalfall. Gemeinsame verbindliche Erziehungsnormen sind demgegenüber der Ausnahmefall spezieller kultureller Gegebenheiten.« Wollte ein Erziehungstheoretiker »mit wissenschaftlichen Gründen angeben, was sein soll und was nicht«, so würde er »entsprechend seiner subjektiven Vorentscheidung verfahren[,] und mit Objektivität hätte eine solche Dezision nichts zu tun. Daher ist es auch gänzlich inadäquat, einen Erziehungswissenschaftler zu fragen, welches Erziehungsziel ›richtig‹ und welches ›falsch‹ sei« (S. 274). Die Fragen, zu denen mich dieser Text veranlaßt, und die Thesen, mit denen ich auf sie antworte, gehen von einer Voraussetzung aus, die ich dem alltäglichen Erziehungsbegriff entnehme (2.1 (c)) und die ich in Kapitel 6 erläutern werde: daß nämlich Erziehung im wesentlichen Charakterbildung im weitesten Sinne dieses Wortes ist. Die Frage nach der Objektivität von Erziehungszielen
37 Nicht selten darf ein Schlagwort oder ein Wink die genaue Identifizierung der abgelehnten Position ersetzen und andeuten, daß sich Gegenargumente erübrigen. Eine ›affirmative‹ Position ist eo ipso eine inakzeptable Position; das Programm-Wort ›Mut zur Erziehung‹ signalisiert intellektuelle Verderbnis; und der aufgeklärte Autor darf doch wohl voraussetzen, daß auch die aufgeklärte Kollegin den ›naturalistischen Fehlschluß‹ verabscheut – dessen prinzipiellen formalen Fehler freilich bis heute niemand identifizieren konnte!
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
läßt sich auf diese Weise weitgehend auf die Frage nach der Objektivität ethischer Normen und Urteile reduzieren. a) Welche Relevanz hat die Feststellung von Konsens und Dissens für den Status ethischer Urteile? 1) Dissens kann die Frage nach der Objektivität von Normen auslösen, aber nicht beantworten.38 Der von Beutler behauptete »Normalfall« – daß nämlich »die Vorstellungen über Erziehungsziele nicht übereinstimmen« – mag zwar Anlaß zur Frage geben, ob (bzw. wie) denn über objektiv gültige Normen so viel Uneinigkeit bestehen könne. Es sollte aber klar sein, daß diese Frage kein Ersatz für Argumente ist, die eine relativistische oder subjektivistische Position begründen könnten. ›Allgemeingültigkeit‹ läßt sich durch die von ihm bemühten ›Tatsachen‹ weder erhärten noch widerlegen – ebenso wenig, wie der Umstand, daß in einer bestimmten Kultur die Verbindlichkeit dieser oder jener Erziehungsnormen anerkannt wird, beweist, daß die Normen ›für diese Kultur verbindlich‹ sind. Ob es sich um ein moralisches oder um irgendein anderes Urteil handelt: seine objektive Wahrheit oder Falschheit würde keinen Konsens der Bejahung oder der Verneinung garantieren; daher kann auch Dissens den Anspruch der Objektivität nicht widerlegen. 2) Unterschiedliche Gruppen bzw. Personen divergieren in ihren ethischen Zielvorstellungen nur partiell und weniger radikal, als Relativisten und Subjektivisten gemeinhin behaupten. Diese nicht besonders aufregende These formuliere ich, um der Präsumtion entgegenzutreten, das Ausmaß von Dissens im Bereich der Ethik müsse wohl darauf beruhen, daß ethische Urteile nicht wahrheitsfähig seien. In Wirklichkeit gibt es viele Bereiche – man denke etwa an wirtschaftliche Prognosen –, die nicht weniger Dissens aufweisen. Und sehr häufig ist es solcher Dissens in der Beantwortung nicht-ethischer Fragen, der dem ethischen Dissens zugrunde liegt. Der Eindruck gewaltiger Divergenzen im ethischen Urteil hat unterschiedliche Gründe. Zwei seien hier genannt. Als erster der ›Eisberg-Effekt‹: Zuerst fallen diejenigen ethischen Belange in den Blick, in denen keine Einigkeit herrscht – eben weil Dissens besteht und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Alle anderen Belange bleiben weitgehend unauffällig, weil die Existenz und die Wirksamkeit von Normen, die man mit den anderen teilt, ›nicht an die Oberfläche des Bewußtseins treten‹. Dabei deutet die Unauffälligkeit auf das größere Gewicht gerade dieser Normen hin: weil sie für das Leben kaum entbehrlich sind, kommt Dissens fast nicht in Frage. Insgesamt sind unsere moralischen Vorstellungen und dementsprechend auch unsere Erwartungen an Erziehung eher von Konvergenz und Konsens als von Divergenz 38 Es geht hier um die moralphilosophische, also theoretische Bedeutung von Dissens. Auf dessen praktische Bedeutung für Fragen der Erziehung komme ich später (insbesondere in 16.7 und 18.2 (e)) unter dem Stichwort ›Pluralismus‹ zu sprechen.
3 Vorbehalte und Vorurteile
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und Dissens geprägt. Nicht ein objektivistisches, sondern ein subjektivistisches Verständnis der Moral hat daher die Beweislast zu tragen. Neben dem Eisberg-Effekt ist vor allem die Ratlosigkeit zu nennen. Wir sind zwar in der Lage, für oder gegen Präimplantationsdiagnostik, für oder gegen Ausnahmen vom Verbot der Lüge Argumente ins Feld zu führen. Wir scheinen aber keine Antwort auf die Frage zu haben, woran sich diese Argumente prinzipiell und letzten Endes orientieren und orientieren sollen. 3) Dissens in ethischen Urteilen unterstellt Objektivität. Was Relativisten und Subjektivisten häufig übersehen, ist eine scheinbar paradoxe Implikation moralischer Meinungsverschiedenheiten: eine übereinstimmende Tendenz zum Objektivismus. Die Kontrahenten behandeln nämlich ihren Dissens nicht als Folge ›subjektiver Vorentscheidungen‹ oder als eine Art geschmacklicher Divergenz – was Ausdrücke wie ›Dezision‹, ›Option‹, ›Präferenz‹ usw. suggerieren. Der Ernst, der jeden moralischen Dissens auszeichnet, resultiert zum Teil aus der Annahme, es müsse eine objektiv richtige Antwort auf die strittige Frage geben. (Die Frage lautet ja nicht etwa: ›Könnte ich . . .‹, sondern: ›Soll man so handeln oder nicht, soll man Kinder hierzu oder dazu erziehen . . .?‹) Charakteristisch ist denn auch der Versuch, das eigene ethische Urteil oder die eigene pädagogische Ziel-Konzeption als richtig zu erweisen. b) Inwieweit hängt die Möglichkeit der Erziehung von der Objektivität ethischer Urteile ab? 1) Gibt es keine ethische Wahrheit, so gibt es weder eine wahre Antwort noch falsche Antworten auf die Frage, wozu erzogen werden soll. Das ist trivial. Es ergibt sich unmittelbar aus der Voraussetzung, daß Erziehung im wesentlichen Charakterbildung ist. Läßt sich deren Ziel nicht objektiv bestimmen, weil keine charakterliche Verfassung objektiv gut oder schlecht ist, dann ist auch jeder Streit, der sich nicht lediglich auf die Implikationen von Erziehungszielen, sondern auf diese selbst bezieht, letzten Endes nichts anderes als Konkurrenz von Traditionen oder Optionen. Kann man aber nicht unter subjektivistischen Voraussetzungen dem Objektivisten vorwerfen, mit dem Anspruch, moralisch zu erziehen, maße er sich ein Wissen um Gut und Schlecht an, das es gar nicht geben kann? – Gewiß, nach subjektivistischer Auffassung irrt der Erzieher, wenn er den Sinn seiner Aufgabe und den Status seiner Maßstäbe objektivistisch versteht. Doch wenn es ethische Wahrheit gibt, ist damit zu rechnen, daß es auch ethisches Wissen gibt. Im übrigen muß der Erzieher ein Wissen um Gut und Schlecht nur unter dem Vorbehalt partieller Fehlbarkeit beanspruchen, unter dem man auch sonst im Leben Wissen beansprucht. Gegen die Maßstäbe selbst, die jemand an das eigene Verhalten – und so auch an seine Einflußnahme auf Kinder – anlegt, kann gerade der Subjektivist theoretisch begründeten Einspruch nicht erheben. Und sogar die Anmaßung von Wissen könnte den ›optionalen Maßstäben‹ des Erziehers entsprechen!
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2) Gibt es keine ethische Wahrheit, so gibt es auch keine Erziehung. Dies folgt aus der vorangehenden These. Denn Erziehung soll ihrem Begriff nach in einer bestimmten Weise fördern.39 Diese Aussage setzt die grundsätzliche Möglichkeit voraus, Ziel und Maßstab der gemeinten Förderung (und damit auch deren Qualität) zu bestimmen. Im Fall der Erziehung besteht diese Möglichkeit nur dann, wenn es Gut und Schlecht gibt. Andernfalls kann vom Ziel erzieherischer Förderung und daher von Erziehung nicht die Rede sein. Gewiß, auch ohne adäquate Vorstellung davon, was Erziehung soll, kann man ihren Begriff besitzen. ›Erziehung, das ist mir klar, soll zu einem guten Leben qualifizieren. Aber wie? Erziehe ich dieses Kind durch Anleitung zur Tugend oder eher durch Ausbildung zum Lebenskünstler?‹ Wer so fragt, weiß nicht, was zum guten Leben gehört und in welcher Richtung deshalb das Kind gefördert werden soll. Oder wenigstens gibt er vor, dies nicht zu wissen. Er setzt jedoch voraus, daß seine Fragen eine Antwort zulassen. Solche Fragen ergeben keinen Sinn, wenn es so etwas wie richtige oder falsche Bestimmung des Erziehungsziels und – daran zu messen – gute und schlechte Erziehung gar nicht gibt. Man kann also die Wahrheitsfähigkeit ethischer Urteile nicht leugnen, ohne implizit die Möglichkeit von Erziehung zu leugnen. X kann Y nicht fördern, wenn es nichts gibt, wodurch Y’s Verfassung oder Situation tatsächlich besser würde. 3) Die Zielvorstellung des Erziehers liefert nicht den Maßstab für die Qualität der Erziehung. Wäre es nicht sinnvoll, den Erziehungsbegriff samt dem der pädagogischen Förderung auf die Zielvorstellung des Erziehers zu relativieren? Denn, so scheint es, B erzieht A, insofern er ihm zu vermitteln sucht, was ihm selber, B, als Erziehungsziel vorschwebt. Wenn also ein beliebiger Dritter erklären und bewerten soll, was ein beliebiger Erzieher tut, sollte das ungefähr so aussehen: ›Erziehung verfolgt die unterschiedlichsten Ziele – je nach dem, welche Vorstellung sich der Erzieher von einem guten Charakter macht. Ob ein Kind durch seine Erziehung gefördert wird, ob diese Erziehung also gut oder schlecht ist, hängt demzufolge davon ab, ob sie dem dient, was der Erzieher zu erreichen sucht.‹ Wie der letzte Satz beweist, macht die vorgeschlagene Relativierung aus dem Erziehen ein interessantes Analogon zum Zielschießen, das aber mit unserem Erziehungsbegriff nicht mehr viel zu tun hat. Ob jemand gut schießt, hängt in der Tat davon ab, ob er im konkreten Fall auf das zielt und deshalb das trifft, was er zu seiner Zielscheibe gemacht hat. Die Qualität der Erziehung eines Kindes
39 Und zwar soll Erziehung fördern in einem Sinne, der impliziert, daß sie fördern kann. Wenn ich vom Zauberer auf dem Jahrmarkt sage, sein Zauberspruch oder die Bewegung seines Zauberstabes ›solle‹ aus dem leeren Hut ein Kaninchen hervorzaubern, so impliziert dieses ›sollen‹ kein ›können‹. In diesem Sinne ›gibt es‹ keine Zauberei, während es Erziehung gibt. (Ob dies der verzweifelte Erzieher leugnet, wenn er meint, Erziehung sei Zauberei, wage ich nicht zu entscheiden.)
3 Vorbehalte und Vorurteile
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aber messen wir nicht in analoger Weise an Zielvorstellungen des Erziehers 40, sondern an Maßstäben, die wir – etwas vereinfacht gesagt – an alle Erziehungsverhältnisse gleichermaßen anlegen. In diesem Sinne ist des Erziehers Ziel-Konzeption, sofern er überhaupt eine hat, nicht Maßstab, sondern selbst Gemessenes. These (b3) tritt einer Relativierung des Begriffs pädagogischer Förderung auf die Zielvorstellung des jeweiligen Erziehers entgegen – einer Relativierung, die nicht unbedingt Relativismus oder Subjektivismus voraussetzt. In der folgenden These geht es wieder um Subjektivismus. Sie antwortet auf die Frage, ob sich nicht die Idee der pädagogischen Förderung, die Vorstellung von Erziehungszielen und die entsprechende Bewertung konkreter Erziehung ebenso subjektivistisch verstehen lassen wie ethische Normen. Um meine verneinende Antwort zu begründen, werde ich vor allem der Frage nachgehen, ob der Erzieher selbst seine Aufgabe mit einem subjektivistischen Verständnis moralischer Normen vereinbaren kann. 4) Der Anspruch der Erziehung schließt eine subjektivistische Auffassung ihrer Ziele aus. Man könnte der objektivistischen These (b2) die Meinung entgegenhalten, eine subjektivistische Auffassung des Erziehungsziels müsse doch immerhin möglich sein; sie müsse ebenso gut wie eine subjektivistische Auffassung der Bewertung des Handelns und des Charakters möglich sein. – Um zu zeigen, daß dies nicht zutrifft, möchte ich den Blick auf einen Kontext lenken, in dem B die Absicht hat, A auf ein Ziel Z hin zu erziehen, das in einer bestimmten charakterlichen Verfassung besteht. Diese Absicht, A zu erziehen, also zu fördern, schließt die Überzeugung ein, Z sei gut für A. Vertritt B nun selbst die subjektivistische Auffassung, die es hier zu prüfen gilt, so betrachtet er diese Überzeugung, seine eigene Bewertung von Z, nicht als wahrheitsfähig. Wie aber erklärt er dann – sich selbst oder anderen – Sinn und Anspruch und Berechtigung der Worte, in denen er entsprechende ethische Maßstäbe vermittelt? Wie will und kann B mit seinen Stellungnahmen – ›gut gemacht!‹, ›das darf man nicht tun‹ usw. – verstanden werden, sobald A in seiner Entwicklung das Stadium bloßer Orientierung an B’s Wünschen verlassen hat? Wie immer B’s Subjektivismus im einzelnen aussehen mag: solange seine Stellungnahmen Ausdruck der eigenen Präferenz, Option, Dezision oder Präskription sind, ist nicht einzusehen, wie diese Stellungnahmen mit irgendeinem Anspruch von Verbindlichkeit für A auftreten können. Man mag hierauf erwidern: ›Es ist unvermeidlich, daß B’s Stellungnahmen den Eindruck erwecken, Objektivität und Verbindlichkeit zu beanspruchen. Schließlich kann er sich als Erzieher doch nicht darauf beschränken, einem Kind zu erklären, es könne (oder solle?) sich zu einem System selbst-gesetzter Normen für die Gestaltung des eigenen Lebens entschließen! Er muß notgedrungen
40 Dies zeigt, daß der Erzieher kein Seelen-Ingenieur ist. Vgl. Kapitel 10 und 18.
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einstweilen bestimmte Normen als verbindlich hinstellen.‹ So schreibt z. B. Hare (1972, S. 60): »Doubtless it is not possible in practice to pass on the mere form of morality without embodying it in some content; we cannot teach children the abstract idea of a moral principle as such without teaching them some concrete moral principles«. Allerdings würde Hare vermutlich leugnen, daß erzieherische, nicht-indoktrinierende Vermittlung von Normen bei Kindern notwendig den Eindruck erzeugt, die Stellungnahme des Erziehers trete mit dem Anspruch auf Wahrheit und intersubjektive Verbindlichkeit auf. Hare redet lediglich, etwas vorsichtig und vage, von der Notwendigkeit, »non-rational methods of persuasion« anzuwenden (1972, S. 54). – Was aber meint er dann mit »teaching«? Nehmen wir an, dem Kind werde vom Erzieher beigebracht: Man darf nicht lügen. Zehn Jahre später erfährt es vom selben Erzieher: Von Wahrheit kann bei diesem Satz keine Rede sein, sondern »a moral opinion is rational if it is [...] freely accepted as a prescription for living, and if it is recognised as holding good irrespective of whether it is I that am the subject of it or someone else« (S. 58). Und das »wrong« des Verbotenen wird jetzt so gedeutet: »the schoolmaster might forbid it, and the child might still think it right, and the child might have a right to its opinion« (S. 61). Wird nicht das inzwischen fast erwachsene Kind, wenn es ein gutes Gedächtnis hat und einigermaßen helle ist, mit Recht erklären, entweder unterrichte man es jetzt nicht richtig oder es sei eine Lüge gewesen, die Lüge zu verurteilen (und nicht nur zu untersagen)?41 Freilich kann sich die pädagogische Lüge auf so beredte und prominente Verteidiger wie Platon berufen. Ist es vielleicht tatsächlich ›praktisch notwendig‹, daß B’s Stellungnahmen bei A ›einstweilen‹ den Eindruck objektiver Verbindlichkeit erwecken, damit sich dieser überhaupt an so etwas wie Moral gewöhnt – bis dann zu gegebener Zeit die übernommenen Normen, die ›Inhalte‹, als B’s Optionen oder Präskriptionen enttarnt werden? Die Maxime bedingter pädagogischer Unwahrhaftigkeit könnte selbst eine von diesen Optionen oder Präskriptionen in B’s Moralsystem sein (wenn auch eine von denen, die er einstweilen besser für sich behält!). 41 Das Verbot der Lüge ist Hare‘s Beispiel (1972, S. 52). – Er selber legt sich auf die Vorstellung fest, der Erzieher könne ohne Unwahrhaftigkeit das Kind moralische Normen lehren und sie später dem Heranwachsenden präskriptivistisch erklären. Denn er hält Wahrhaftigkeit für notwendig: »in our dealings with the young, nothing short of absolute integrity will do« (S. 53). – Man könnte (mit Hare selbst) bestreiten, daß Präskriptivismus Subjektivismus ist. Tatsächlich aber beschränkt der Präskriptivist die Objektivität des moralischen Urteils auf dessen Allgemeingültigkeitsanspruch, das Erfordernis der Konsistenz zwischen Urteil und Handeln des Subjekts und die Aussicht darauf, daß die meisten Menschen in ihren Präferenzen übereinstimmen und so durch Verallgemeinerung zu übereinstimmenden Präskriptionen kämen. Moralischer Dissens zwischen X und Y ist jedoch durch solche ›Objektivität‹ nicht ausgeschlossen, und er bedeutet tatsächlich für den Präskriptivisten Hare genauso wenig wie z. B. für einen Emotivisten, daß entweder X oder Y oder beide im Unrecht sind. Für den Objektivisten dagegen bedeutet Dissens zumindest in zentralen moralischen Fragen genau das.
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Dieses Verständnis erzieherischen Handelns und eine entsprechende subjektivistische Theorie der Erziehung mögen konsistent sein. Allerdings kenne ich weder Erzieher noch Theoretiker, die sich zu einer solchen Sicht bekennen würden. Will B im Verständnis seiner normativen Stellungnahmen A gegenüber ehrlich sein, so ist das unter drei alternativen Bedingungen möglich: Entweder ist er Objektivist und ›nach bestem Wissen und Gewissen‹ davon überzeugt, daß seine ethischen Stellungnahmen der Wahrheit entsprechen oder doch nahekommen. Mit einer solchen Überzeugung darf B den Verbindlichkeitsanspruch dieser Stellungnahmen legitimiert sehen. Oder er versteht seine Stellungnahmen als Ausdruck eigener Optionen oder verallgemeinerungsorientierter Präskriptionen. Dann erhebt er zwar keinen unehrlichen Anspruch; dafür aber darf er mit diesen Stellungnahmen erst beginnen, wenn A deren semantischen Charakter – ihre Wahrheitsunfähigkeit – zu würdigen vermag. Will B so lange nicht warten, bleibt ihm eine dritte Alternative: Er kann sich auf Anordnungen und Erlaubnisse beschränken, auf Willensäußerungen, die weder den Anspruch auf Wahrheit erheben noch den Eindruck einer objektiven Basis erwecken. »Teaching« aber, Vermittlung von Moral, findet dann, wie Hare selbst (1972, S. 61) betont, nicht statt. Der Präskriptivismus unterscheidet sich von anderen Formen des Subjektivismus dadurch, daß er auf der praktischen ›Rationalität‹ des moralischen Urteils besteht: das Subjekt muß bereit sein, die zugrunde liegende selbst-gewählte Lebensnorm zu verallgemeinern. Dieser Begriff von Rationalität erlaubt aber nicht die Feststellung, einem Menschen, der keinerlei moralische Einstellung entwickelt habe, fehle es an praktischer Vernunft.42 Wie kann B dann seinen erzieherischen Einsatz für A rechtfertigen? Dieser Einsatz mag zwar im System von B’s moralischen Normen seinen Platz haben: ›Unter den gegebenen Umständen sollte ich A dazu bringen, moralisch zu denken‹. Einen objektiven Standpunkt aber, von dem aus man sagen könnte, ohne (moralische) Erziehung gehe A etwas ab, kennt der Präskriptivist genauso wenig wie jeder andere Subjektivist. Im übrigen ist jede subjektivistische Theorie der erzieherischen Vermittlung von Moral einem ernsten Einwand ausgesetzt, den ich bisher noch nicht artikuliert habe. Eine solche Theorie versteht die Aneignung moralischer Maßstäbe 42 Hare (1972, S. 59) scheint dies wahrzunehmen, ohne darin ein Problem für seinen Rationalitätsbegriff zu sehen: »What we have to teach people, if we are educating them morally, is to ask themselves the question, ›What kind of behaviour am I ready to prescribe for myself, given that in prescribing it for myself, I am prescribing it also for anybody in a like situation?‹ I could, but I will not, go on to show how this question, if we can get people to ask it, circumscribes their moral choices in a rational way [...]. I said, ›If we can get people to ask it‹. But one of the most important things for educators to remember is that morality, as governed by this question, is a very difficult thing to accept. [...] morality is something that has to be handed down; if it were not – if the process were interrupted – our children really would grow up as barbarians.« – Eine objektivistische Sicht der Angewiesenheit des Menschen auf Moral skizziere ich in 6.3 (c-d).
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durch Erziehung unweigerlich als vorläufig und vorbereitend. Denn ihr zufolge sind praktische Überzeugungen nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern aufgrund der Art ihrer Verankerung im Subjekt moralische Überzeugungen. Wenn also die in der Erziehung intendierte Ziel-Verfassung in Moralität besteht, so ist das, was A von B lernt, allenfalls deren einstweilige Konkretisierung. Hinter diesem ›einstweilig‹ aber verbirgt sich ein Problem. Es ist nämlich eine Illusion zu glauben, grundlegende ethische Überzeugungen und Einstellungen (ob nun als Optionen oder als Präskriptionen oder sonstwie gedeutet) entstünden unabhängig von charakterlicher Disponierung. Und je zuverlässiger die anerzogene Charakterfestigkeit, desto tiefer werden die Überzeugungen wurzeln. Die einmal etablierte Prägung des Charakters läßt also faktisch nur wenig Spielraum für moralische ›Dezision‹.43 Das Eingeständnis unumgänglicher Einwirkung – »we cannot help influencing our children«, »it is not possible in practice to pass on the mere form of morality without embodying it in some content« (Hare 1972, S. 52 und 60) – dieses Eingeständnis verharmlost die potentielle Tragweite des erzieherischen Einflusses. »Perhaps in the end they will decide that the best way to live is quite different from what I’m teaching them; and they will have a perfect right to decide that« (S. 52). Quite different? Jede gute Erziehung bereitet zwar auch auf die Überprüfung der eigenen ethischen Maßstäbe vor (16.6). Entschließt sich jedoch der mündig Gewordene, den Kern des Gelernten zugunsten einer ›ganz anderen‹ Orientierung über Bord zu werfen, und handelt er tatsächlich dementsprechend: so beweist dies nicht, wie ehrfurchtsvoll der Erzieher auf Indoktrination verzichtet hat, sondern, wie wenig seine Bemühungen gefruchtet haben (zum Nachteil oder zum Vorteil des so Erzogenen!). Bejaht man Erziehung, so bejaht man unweigerlich tiefgreifende, wenn auch nicht ganz und gar irreversible Prägung der moralischen Einstellung. Wer für seinen Umgang mit Kindern den Begriff der Erziehung in Anspruch nimmt – das ist das Fazit dieser Überlegungen – muß konsequenterweise davon ausgehen, daß sich die moralischen Maßstäbe, die er vermittelt, an einem objektiven Standard messen lassen. Wenn A’s Moral das ist, was A für richtig hält, und B’s Moral das, was B für richtig hält, dann kann es Erziehung als Vermittlung moralischer Normen nicht geben.44 Allenfalls gäbe es Erziehung als ›Vor43 Diesen Einwand scheint mir auch Hare nicht entkräften zu können, wenn er schreibt (1972, S. 52): »If you are wanting your child in the end to become an adult and think for himself about moral questions, you will try, all the time that you are influencing him by non-rational methods (as you have to), to interest him in rational thinking about morality«. – Übrigens sorgt die Formulierung »think for himself about moral questions« für ein zahnloses und verharmlosendes understatement der präskriptivistischen Position. Schließlich kann und soll auch der deskriptivistisch gesonnene Erzieher wollen, daß das Kind erwachsen wird und über moralische Fragen – wie auch über andere objektiv entscheidbare Fragen – eigenständig nachdenkt! Vgl. 16.6. 44 Im übrigen scheint der Subjektivismus dem Erzieher inkonsistentes Wollen zuzumuten: A’s mündige Moral ist das eigentlich zu verfolgende Erziehungsziel. Muß aber B die
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bereitung‹ von A’s mündiger Moral. Doch diese Vorstellung ist, wie der vorangehende Absatz zeigt, nicht realistisch. All das heißt natürlich nicht, der Subjektivist könne kein Erzieher sein. Ob nämlich der ›Tatbestand‹ des Erziehens erfüllt und ob gegebenenfalls die Erziehung gut oder schlecht ist: darüber entscheiden nicht Vorstellungen und Ziele des Erziehers, sondern sein Handeln und andere Umstände, von denen in diesem Buch noch zu handeln sein wird. c) Darf der Erzieher die eigenen ethischen Maßstäbe für den Heranwachsenden verbindlich machen? 1) Der Einfluß des Erziehers auf die Gesinnung des Heranwachsenden ist weder illegitim noch entbehrlich noch vermeidbar. Diese These wendet sich gegen eine etwas verschwommene, aber verbreitete Vorstellung, die man so formulieren könnte: Ethische Urteile und Einstellungen sind eine Sache individueller Entscheidung und Verantwortung. Man muß sie als Formen zutiefst persönlicher Überzeugung respektieren. Kein Mensch darf daher die eigenen Maßstäbe einem anderen oktroyieren – auch nicht im Kontext der Erziehung. – Diese Vorstellung ist vage und interpretationsbedürftig und daher nicht mit einer einzigen Antwort zu widerlegen. ›Jeder muß für sich selbst entscheiden, wie er lebt‹, heißt es oft. Aber was ist gemeint? Wie Anscombe (1981 b, S. 48) sagt, »there is indeed a sense in which only the individual can make his own decisions as to what to do, even if his decision is to abide by someone else’s orders or advice. For it is he who acts and therefore makes the final application of whatever is said to him«. Und auch das ist wahr: daß man nicht gut handelt, wenn man gegen das eigene Gewissen handelt.45 Schließlich gehört zum guten Handeln, daß man sich den Maßstab zu eigen gemacht hat, dem dieses Handeln folgt. Was aber heißt das? Es heißt: Mein Tun und Lassen kann – wie untadelig auch die Vollzüge sein mögen – nur dann gutes Handeln ausmachen, wenn meine Beweggründe gut sind. Moralische Maßstäbe handeln nämlich davon, was man aus welchen Gründen tun bzw. nicht tun soll oder darf.46 Daß ich mir solche Maßstäbe zu eigen mache, bedeutet, daß ich mein Leben von den entsprechenden Motivationsstrukturen bestimmen lasse (vgl. Kapitel 16). Es impliziert hingegen nicht, daß die Maßstäbe mir nicht beigebracht wurden; und erst recht nicht, daß ich sie ›frei gewählt‹ hätte.
Realisierung dieses Ziels nicht – nach seinen eigenen moralischen Maßstäben – schlecht finden, falls sich der mündige A zu ›ganz anderen‹ Maßstäben ›entschließt‹? 45 Allerdings garantiert Übereinstimmung mit dem Gewissen keineswegs, daß man gut handelt. Vgl. Anscombe 1982 b, S. 46f.; Foot 2001, S. 73 f. 46 Vgl. Kapitel 6. – Wann hat sich jemand ein moralisches Urteil zu eigen gemacht? »I call it a judgement that he makes for himself when he judges on a ground that he can see for himself; he does not merely judge ›that is wrong‹, he judges ›that is wrong because ...‹« (Anscombe 1982b, S. 46).
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Was wäre eigentlich so gut an dieser Wahl? Nehmen wir an, ich wählte eine Herren-Moral, wie Count Fosco in Wilkie Colins’ Woman in White sie praktiziert. Wäre dann, angesichts meines verdorbenen Charakters, doch immerhin die ›Autonomie‹ meiner moralischen Orientierung ein Lichtblick? Im Gegenteil. Ich würde weniger Abscheu verdienen, wenn dieser Charakter das ›heteronome‹ Resultat von Erziehung oder gar Indoktrinierung wäre. Der Maßstab muß also wenigstens ein guter oder richtiger sein, wenn meine ›freie Entscheidung für ihn‹ einen Wert darstellen soll. Und worin soll dieser Wert liegen? Etwa darin, daß die Wahl nicht vorhersehbar ist? Wohl kaum. Eher in dem, was sie offenbart. Das aber scheint nichts anderes zu sein als eine Komponente meines Charakters! Und dessen Wert kann, wenn wir einen regressus in infinitum vermeiden wollen, nicht wiederum davon abhängen, daß ich meine Maßstäbe frei gewählt hätte. Dem Problem der Anleitung zur Selbständigkeit, das sich hier tatsächlich stellt, will ich später nachgehen (11.5). Einstweilen merke ich nur an, daß schon die Idee einer ›Wahl moralischer Normen‹ fragwürdig ist. Denn erstens kollidiert die Verbindlichkeit solcher Normen mit der Vorstellung, es stehe einem frei, sie zu wählen, sich also für oder gegen ihre Anerkennung zu entscheiden. Und zweitens stützt sich eine vernünftige, nicht willkürliche Wahl auf Entscheidungskriterien; und es ist fraglich, ob nicht diese Kriterien im Fall der ›Entscheidung für moralische Normen‹ bereits eine moralische Orientierung des Subjekts reflektieren müßten. Die Rede von der individuellen Verantwortung für die eigene ethische Einstellung könnte auch meinen, der Erzieher dürfe vom Heranwachsenden allenfalls Verhaltensweisen einfordern, nicht aber diese oder jene Gesinnung. Dann lautet meine Erwiderung: Hier wird vorausgesetzt, es sei möglich, einen anderen durch Erziehung zum guten Leben zu qualifizieren, ohne auf seine Gesinnung Einfluß zu nehmen; und nur so viel sei auch legitim. Beides ist ein Irrtum. Denn Gesinnung ist notwendiger Bestandteil der ethischen Qualität eines Menschen; ohne ethische Qualifizierung jedoch keine Qualifizierung zum guten Leben; und was auf diese Weise praktisch notwendig ist, ist auch legitim. Selbst, wenn Einflußnahme auf die Gesinnung nicht das Herzstück der Erziehung wäre: zumindest in den ersten Jahren des Kindes ließe sie sich gar nicht verhindern. Der Einfluß erfolgt ja nicht ausschließlich durch das Wort, sondern durch das gesamte Verhalten des Erziehers (Teil III). Daher sind es unweigerlich dessen Maßstäbe, die in der Erziehung vermittelt werden, und sie prägen die Gesinnung des Kindes. Und welche Maßstäbe sollte der Erzieher vermitteln, wenn nicht die eigenen? ›Die richtigen, bitte!‹ Gewiß. Doch wenn er sich an diese Empfehlung hält, wird er eben die Maßstäbe vermitteln, deren er sich so gewiß wie möglich ist – wodurch sie seine ›eigenen‹ sind. Denn wir reden hier natürlich nicht von ethischen Vorstellungen, die man für wahr hält, ohne ernsthaft daran zu denken, das eigene Handeln an ihnen zu orientieren. So etwas ist freilich möglich; zum Beispiel, wenn man Zyniker ist.
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In der Erziehung aber geht es um die Vermittlung praktischer Orientierung47 − wenn auch, wie ich behaupte, einer Orientierung, die sich ihrerseits an Wahrheit orientiert. 2) Vermittlung ethischer Maßstäbe muß nicht Indoktrination bedeuten (vgl. Müller 1994b, S. 122 f.). Nicht jede Belehrung ist Indoktrination. Was macht sie dazu? Diese Frage wird von denen, die das verbindliche Vermitteln moralischer Normen in der Erziehung für Indoktrination halten, selten beantwortet. Sicher ist die Vermittlung einer Auffassung nicht schon dadurch Indoktrination, daß sie sich auf das Verhalten auswirken soll und auswirkt. Sonst wäre auch ästhetische und sogar technische Anleitung unweigerlich Indoktrination. Auch der Wahrheitswert der vermittelten Auffassung entscheidet offenbar nicht darüber, ob der Vermittelnde indoktriniert oder nicht. Liegt der Schlüssel zur Antwort vielleicht im Anspruch des Erziehers, Richtiges und Wahres zu vermitteln? – Dann wäre jede Belehrung und jede Ausbildung Indoktrination. Schließlich haben auch Autorität des Erziehers und Indoktrination nicht viel miteinander zu tun. Zum einen ist Indoktrination auf Autorität nicht angewiesen. Zum anderen scheint der Begriff der Autorität sogar eine kritische Bewertung von Indoktrination mit sich zu führen. Denn erzieherische Autorität ist das Recht, dem Heranwachsenden die Annahme von Urteilen oder Anweisungen abzuverlangen. Wer nun dem Erzieher überhaupt – oder einer bestimmten Person – dieses Recht abspricht, könnte das mit dem Hinweis zu begründen versuchen, Erziehung überhaupt – oder die Einflußnahme durch diese Person – indoktriniere. Mit diesem Hinweis impliziert er, daß Autorität in der Erziehung allenfalls dann akzeptabel ist, wenn sie nicht indoktrinierend vorgeht. Diese Bedingung aufzustellen, wäre jedoch absurd, wenn mit Autorität eo ipso Indoktrination gegeben wäre. Tatsächlich liegt Indoktrination vor, wo einer den anderen so anleitet, daß er diesem mehr oder weniger effektiv die Möglichkeit verstellt, die vermittelte Überzeugung zu revidieren.48 Indoktrinierend ist demnach die erzieherische Vermittlung ethischer Überzeugungen dann, wenn der Erzieher dafür verantwortlich ist, daß dem schließlich Erzogenen die Fähigkeit oder die Bereitschaft abgeht, erworbene Überzeugungen als fehlbar zu erkennen, der Kritik auszusetzen, zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. 47 Wie Anscombe (1981 b, S. 47) sagt, bedeutet »teaching morals [...] not getting the pupil to think something, not giving him a statement to believe, but getting him to act; [...] one does not learn morality by learning that certain propositions – ethical ones – are true, but by learning what to do or abstain from in particular situations and getting by practice to do certain things, and abstain from others«. 48 In diesem Verständnis von Indoktrination unterscheide ich mich von R. M. Hare (1972). Er macht Indoktrination an der Absicht fest, den Heranwachsenden auf die Inhalte festzulegen, die des Erziehers eigene Moral ausmachen. Dazu sei, unabhängig von der in 3.4 (b4) artikulierten Kritik, bemerkt, daß die Weise der Vermittlung auch ohne derartige Absichten indoktrinierend wirken kann.
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Zweifellos mag der Erzieher in der Gefahr sein, absichtlich oder unabsichtlich, durch Tun oder Lassen in diesem Sinne moralisch zu indoktrinieren. Darin liegt aber nur ein Grund, den hohen Anspruch und die Gefährdung seiner Aufgabe herauszustellen, nicht, die Erfüllung der Aufgabe für unstatthaft zu erklären. 3) Erziehung zur Mündigkeit schließt die Vermittlung ethischer Maßstäbe nicht aus, sondern ein. Diese These wendet sich gegen den Vorwurf, die autoritative Vermittlung moralischer Normen schließe Paternalismus ein. Selbst der Objektivist könnte gegen solche Vermittlung Bedenken tragen, scheint sie doch gerade in dem Maß, in dem sie gelingt, der Selbständigkeit im Weg zu stehen, auf die Erziehung ausgerichtet ist. Eine ethische Überzeugung mag noch so wahr sein, könnte er sagen: solange sie bloß übernommen ist, trägt sie zum Wert des Charakters nichts bei. Dem hier artikulierten Problem sind die Abschnitte 11.5 und 17.1 gewidmet. Einstweilen genügen folgende Hinweise. Erstens ist jede noch so eigenständige Urteilsbildung darauf angewiesen, von bereits gebildeten und so letzten Endes von übernommenen Urteilen auszugehen. Zweitens kann Charakterbildung nicht auf selbständige ethische Urteilsbildung warten (vgl. (b4) und (c1)). Drittens schließt die unter (c1) reklamierte ›individuelle Verantwortung‹ eines Erwachsenen für seine ethischen Maßstäbe keineswegs aus, daß er sie im Verlauf seiner Erziehung übernommen hat. d) Ist Pädagogik auf begründetes ethisches Wissen angewiesen? 1) Die Revidierbarkeit ethischer Überzeugungen ist kein Grund, auf Erziehung zu verzichten. Wie auch in anderen Bereichen, müssen wir im Bereich der Moral so manche Überzeugung – wenn auch vielleicht nicht jede beliebige und erst recht nicht das ganze System – als ›grundsätzlich revidierbar‹ ansehen. Daraus folgt aber keineswegs, moralische (oder sonstige) Überzeugungen dürfe man anderen nicht vermitteln. Wie alles Leben von Erwachsenen vollzieht sich das Erziehen auf der Basis teils revidierbarer Überzeugungen. Das Erziehen aber kann man ebenso wenig wie das Leben selbst so lange aufschieben, bis Revisionsbedürftiges revidiert ist. Und schon gar nicht, bis es nichts mehr zu revidieren geben kann. Denn eine solche Situation ist ›utopisch‹: es gibt keinen ›Standpunkt‹, von dem aus einer für seine Überzeugungen zu recht das Ende aller Revidierbarkeit behaupten könnte. Allerdings benötigen wir einen solchen Standpunkt auch nicht. ›Grundsätzlich revidierbar‹ heißt nur: ›Ich kenne keinen Beweis dafür, daß mir die Vernunft nie gebieten oder erlauben wird, diese Überzeugung aufzugeben‹.49 Es heißt also 49 Kann es einen Beweis dieser Art für irgendeine Überzeugung geben? Das ist nicht ausgeschlossen. Denn es mag Überzeugungen geben, die für unsere Kriterien der Vernünftigkeit selbst konstitutiv sind; die wir also nicht aufgeben können, ohne zugleich die Idee vernünftiger Revision zu unterminieren.
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nicht: ›Ich habe Grund, an dieser Überzeugung zu zweifeln‹. Daher heißt es auch nicht: ›Ich habe Grund, mein Tun und Lassen nicht an ihr zu orientieren‹. Und erst recht bedeutet die Revidierbarkeit einer Überzeugung nicht, ich sei in der Lage, sie tatsächlich in Zweifel zu ziehen. Kaum ein Theoretiker, der allgemeine Skepsis gegenüber der Verbindlichkeit von ethischen Maßstäben und Erziehungszielen vertreten zu müssen glaubt, wird als Erzieher die geringsten Skrupel haben, Ehrlichkeit, Toleranz gegenüber Minderheiten, Zivilcourage und anderes mehr als unzweifelhafte Werte zu vertreten. – ›Die Theorie legt eben strengere Maßstäbe an als das praktische Denken!‹ – Wer so redet, unterschlägt die Tatsache, daß Rationalitätskriterien einschließlich des Gebots der intellektuellen Vorsicht ihren Ernst dem Kontext des menschlichen Lebens verdanken und sich daher zunächst einmal im ›praktischen Denken‹ bewähren müssen. Mit anderen Worten: Nur innerhalb eines angemessenen anthropologischen Rahmens lassen sich die Erfordernisse menschlicher Vernünftigkeit korrekt bestimmen. Die anthropologische Betrachtung zeigt, daß ein beliebiger Gesichtspunkt nur dann ein Grund ist, an einer gegebenen Auffassung zu zweifeln, wenn ihm ein Minimum an Gewicht zukommt. Und wie immer dieses Gewicht zu bestimmen ist: auf jeden Fall sorgt die Notwendigkeit zu handeln dafür, daß es eine gewisse Schwelle überschreiten muß, um für einen Zweifelsgrund zu genügen. Im übrigen kann es sogar, wenn man wirklich Grund hat, an einer Auffassung zu zweifeln, vernünftig sein, einstweilen auf der Basis dieser Auffassung zu handeln. Das schließt nicht aus, daß zum guten Charakter das Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit gehört und die Bereitschaft, eigene Überzeugungen vernünftiger Prüfung und Korrektur zu unterziehen; und daß die Verantwortung, die jeder Erwachsene für die Qualität seiner ethischen Maßstäbe trägt, im Fall der Erziehers durch erzieherische Verantwortung gesteigert wird.50 Das Risiko, als Erzieher falsche Maßstäbe zu vermitteln, ist Teil des unvermeidlichen Risikos, sein Leben an falschen Maßstäben zu orientieren. Und ebenso wenig wie vom Leben, dispensiert das Risiko vom Erziehen. Wer hier Skrupel hat, möge sich mit folgendem Gedanken trösten: Auch wenn wir damit rechnen müssen, Maßstäbe zu vermitteln, die nicht in allem richtig 50 Das heißt nicht, jeder Mangel an ethischem oder praktischem Wissen (6.5 (b)) sei vorwerfbar. Andererseits scheint mir z. B. Friedrich Schleiermacher (1968, S. 27) die diesbezügliche Verantwortung (speziell des Erziehers) zu gering zu veranschlagen: »Wenn in einem gesellschaftlichen Ganzen manches für gut gehalten wird, was in einem anderen nicht dafür gilt, so können wir, wenn das jüngere Geschlecht nach dieser Einsicht erzogen wird und diese Einsicht auf diese Weise sich in der Masse fortbildet, dies nicht für einen Fehler der Erziehung halten, und derselben keinen Vorwurf machen, wenn sie dabei beharrt; sondern es ist ein Fehler der sittlichen Einsicht. Die Erziehung ist gut und sittlich, wenn sie dem sittlichen Standpunkt der Gesellschaft entspricht.« Zu Recht aber fährt er fort (S. 27f.): »je vollkommener die sittliche Einsicht wird, je mehr der Idee des Guten entsprechend, desto vollkommener wird auch die Theorie der Erziehung.«
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sind, tun wir gut daran, unsere Kinder – deren Charakter sich ohnehin irgendwie entwickeln wird – nach diesen Maßstäben und zu diesen Maßstäben zu erziehen. Denn auf jeden Fall wird eine Menge Richtiges und Gutes dabei sein; und hoffentlich so viel, daß die Kinder, mündig geworden, auf dieser Basis das Übrige kritisieren können.51 Dieser Gedanke ist nicht nur tröstlich, sondern auch plausibel. Denn die Vorstellung, das, was wir – im Bereich der Moral oder sonstwo – für richtig halten, sei in Wirklichkeit im großen und ganzen falsch, dürfte schlechterdings absurd sein. 2) Ethisches Wissen und verantwortungsbewußte Erziehung sind nicht auf ein umfassendes Verfahren der Vergewisserung angewiesen. Es mag ja richtig sein, mag mancher denken, daß ethische Überzeugungen wahrheitsfähig sind und daher prinzipiell auch in der Erziehung weitergegeben werden dürfen. Allein, was hilft das, wenn es kein Verfahren gibt, sich der Wahrheit bestimmter Überzeugungen zu vergewissern? Diese Frage signalisiert ein notorisches Problem der praktischen Philosophie, auf das ich hier nur andeutungsweise eingehen kann. Vor allem gilt es hier zu sehen, daß die Frage selbst eine unzulässige Voraussetzung einschleust, die uns von vornherein den Weg zu einer vernünftigen Lösung des Problems verlegt. Ich meine die Voraussetzung, man könne den Anspruch, etwas zu wissen, nur im Hinblick auf Inhalte erheben, deren man sich durch ein konkludentes Verfahren vergewissern kann. Dieser Voraussetzung möchte ich folgende Beobachtungen entgegenhalten. Zunächst: Erziehung ist nicht nur Weitergabe ethischer Überzeugungen; für den Erzogenen ist sie deren Quelle. Natürlich nicht in dem Sinn, daß er seinen ethischen Standpunkt damit begründen könnte, daß er ihm von den Eltern oder von anderen Erziehern beigebracht wurde! Eher in einem kausalen Sinn. Wenn jemand anfängt, über ethische Auffassungen und deren Vernünftigkeit nachzudenken, findet er sich bereits sozialisiert und also mit einem System von Normen vor, das insbesondere auf seine Erziehung zurückgeht. Insoweit ist die Frage ›Wie soll ich handeln, wie soll ich leben?‹ – ganz anders als die Frage ›Wie soll ich meinen Urlaub gestalten?‹ oder ›Wie soll ich Geld verdienen?‹ – schon beantwortet, bevor er sie stellt. 51 Eine hervorragende und tiefe Behandlung des Problems der fehlbaren Autorität bietet Anscombe 1982 b. Das Kind, schreibt sie, »needs to be liable to believe his teacher. If he is, he will learn at any rate some truth; by its aid he will eventually be able to reject what he is taught that is false so far as it is important that he should: or so it is to be hoped. [...] The great assumption lying behind this is that no one who is taught at all can fail to be taught a great deal that is true and that to a great extent verum index sui et falsi.« Und weiter: »We sometimes imagine someone with a terribly bad upbringing, who is taught all sorts of misbehaviour as right, and taught to despise much that is good, and we think: what about such a person? But people of the most horrible principles know quite well how to cry out against injustice and lying and treachery, say, when their enemies are guilty of them. So they in fact know quite a lot« (S. 45).
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Freilich will er wissen, ob die vorgefundene Antwort auch stimmt. Und jetzt zeigt sich, daß diese Antwort nicht einfach die irrationale Vorläuferin einer erst noch zu ermittelnden rationalen Antwort sein kann. Sie ist vielmehr unumgänglicher Ausgangspunkt solcher Ermittlung – nicht nur im Sinne der Veranlassung, sondern auch im Sinne der Rechtfertigung. Denn eine außer-ethische oder gar voraussetzungslose Begründung ethischer Urteile gibt es nicht.52 Übernommene, nicht begründete ethische Überzeugungen und Argumentationsformen gehen unweigerlich in die Prämissen und Folgerungsmuster ein, auf denen die Begründung begründeter ethischer Urteile und auch die begründete Modifizierung des bisherigen Systems beruht. Wenn es also (im Bereich der Moral oder sonstwo) Wissen auf der Basis von Gründen gibt, so muß es zuvor schon Wahres und Richtiges geben, das die Begründung möglich macht, ohne selbst begründet zu werden. Man kann hier von unbegründetem Wissen sprechen. Und tatsächlich haben wir keine Schwierigkeiten, von einem Kind zu sagen, es wisse schon, daß man Tiere nicht quälen darf und daß man für Geschenke danken soll. Diese Wahrheiten hat es gelernt, nicht ermittelt und nicht aus Gründen deduziert. Damit es vernünftig sein kann, Übernommenes in Frage zu stellen und zu reformieren, muß es demnach vernünftig sein, zunächst einmal daran festzuhalten. Ich muß mich auf Teile des Systems verlassen, um andere Teile zu prüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Zur Prüfung gibt es die unterschiedlichsten Anlässe: erlebte oder erkannte (oder vermeinte) ethische Konflikte, Konfrontation mit alternativen Überzeugungen, Kritik durch andere, ein unbehagliches Gefühl, die Stimme des Gewissens, etc. Doch gibt es auch die unterschiedlichsten Wege, durch Prüfung eigener wie fremder Überzeugungen zu Ergebnissen zu gelangen. Das hat, speziell im Blick auf interkulturelle Diskrepanzen und Konflikte, besonders eindringlich Charles Taylor (1995) gezeigt. Voraussetzung für die argumentative Beantwortung kontroverser ethischer Fragen ist freilich, wie Taylor sagt, der Verzicht auf den willkürlichen und unnötigen Anspruch, ›apodiktisch‹ – ohne Rekurs auf übereinstimmende ethische Überzeugungen – zu begründen und zu beweisen; und, allgemeiner, der Verzicht darauf, alles zugleich in Frage zu stellen, dazu noch unabhängig von Zweifelsgründen und ohne ernsthaft (in irgendwelchen Lebensäußerungen) zu zweifeln. In Anlehnung an Ludwig Wittgenstein könnte man auch formulieren: Was zu bezweifeln ich keinen Anlaß habe, und erst recht, was ich nicht bezweifeln kann, das darf und muß ich wenigstens einstweilen als Wissen behandeln, um anderes prüfen zu können.53 52 Vgl. zur Frage nach moral-internen und -externen Möglichkeiten der Normenbegründung Müller 1998, S. 183–187. 53 Vgl. Wittgenstein ÜG, § 163: »Ja, wenn wir überhaupt prüfen, setzen wir damit schon etwas voraus, was nicht geprüft wird.« Allerdings scheint Wittgenstein selbst das so Vorausgesetzte nicht als gewußt bezeichnen zu wollen: »›Ich weiß ...‹ sagt man, wenn man bereit ist, zwingende Gründe zu geben. ›Ich weiß‹ bezieht sich auf eine Möglichkeit des Dartuns der Wahrheit« (§ 243). Andererseits kennt er durchaus auch eine Verwendung
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Dabei muß das ›Einstweilen‹ nicht etwa in meine Vorstellung eingehen. Es ist zwar z. B. logisch und vermutlich auch psychologisch möglich, daß ich meine sichere Überzeugung, daß Dankbarkeit und Rücksichtsnahme Tugenden sind, eines Tages aufgebe. Das ist aber kein Grund, sich zu sagen: ›Möglicherweise werde ich diese Überzeugung eines Tages aufgeben‹. Denn dieser Satz wäre, ernst gemeint, ein Ausdruck von Unsicherheit. In manchen meiner Überzeugungen bin ich freilich unsicher; wollte ich das jedoch im Hinblick auf sie alle behaupten, so wären das leere Worte, die von meinem Verhalten Lügen gestraft werden. Wohl aber dürfte jeder gebildete Mensch, vor allem angesichts überholter ›Selbstverständlichkeiten‹ und alternativer Überzeugungssysteme, in dem Bewußtsein leben, daß das System seiner grundlegenden Überzeugungen als Ganzes von Irrtum affiziert sein kann – an Stellen, die ihm freilich unbekannt und daher weder benennbar noch beunruhigend sind. Zu diesem Bewußtsein wird auch der Gedanke beitragen, daß er seine grundlegenden Überzeugungen, auch die ethischen, weitgehend übernommen hat – von den Menschen, unter denen er zufällig aufgewachsen ist. Er wird also davon ausgehen, daß sich seine Vorstellung vom guten Leben und speziell seine ethischen Maßstäbe, auch wenn er sie kritisch reflektiert hat, der Wahrheit nähern, ohne sie zu erreichen. Das aber muß ihn keiner einzelnen Überzeugung gegenüber skeptisch machen – und kann es auch gar nicht; denn es liegt ja nicht in seiner Hand, sich einer Sache unsicher zu sein, die zu bezweifeln er keinen Anlaß sieht und die er unweigerlich in seinem selbstverständlichen Denken und Handeln implizit bejaht54. Was von allen grundlegenden Überzeugungen gilt, gilt auch im Bereich der Ethik: Es ist unsinnig, das Zutreffen der Begriffe Gewißheit einerseits und Wissen andererseits an Voraussetzungen zu binden, die gar nicht erfüllt sein können. 3) Nicht der Erzieher, wohl aber der Erziehungswissenschaftler muß die Frage beantworten können, wozu erzogen werden soll. Aus den Thesen zur Frage (b) geht hervor, daß die Auskunft eines Erziehungstheoretikers über Erziehungsziele nicht, wie Beutler meint, ›seiner subjekdes ›ich weiß‹ im Sinne von ›ich habe gelernt‹ (§ 176; vgl. 272 und 288). Ich habe in einer Reihe von Veröffentlichungen versucht, Überlegungen aus Wittgensteins Über Gewißheit auf das Thema ›ethisches Wissen‹ anzuwenden. Vgl. insbesondere Müller 1994 b. 54 Vgl. zu diesem Thema Wittgenstein ÜG, insbes. die folgenden Stellen: »Und wenn ich nun sage ›Es ist meine unerschütterliche Überzeugung, daß etc.‹, so heißt das in unserm Fall auch, daß ich nicht bewußt durch bestimmte Gedankengänge zu der Überzeugung gelangt bin, sondern, daß sie solchermaßen in allen meinen Fragen und Antworten verankert ist, daß ich nicht an sie rühren kann« (§ 103). »Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente« (§ 105). »Wenn wir überhaupt auf den Glauben hin mit Sicherheit handeln, sollen wir uns dann wundern, daß wir an vielem nicht zweifeln können?« (§ 331).
3 Vorbehalte und Vorurteile
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tiven Vorentscheidung‹ entspringen muß. Damit ist aber noch nicht geklärt, ob es Sache der Pädagogik ist, eine solche Auskunft überhaupt zu erteilen. Diese Frage betrifft zum einen den Erzieher, zum anderen den Erziehungswissenschaftler. Man kann Erzieher, unter Umständen sogar ein guter Erzieher sein, ohne ein Erziehungsziel im Sinne einer Ziel-Konzeption zu verfolgen (vgl. 4.6). Allenfalls könnte es sein, daß man eine implizit objektivistische Vorstellung von ethischen Maßstäben und die Fähigkeit, sie zu artikulieren, benötigt, um gut zu erziehen. Nur in diesem Sinne hätte dann der gute Erzieher auch eine (wenigstens implizite) Antwort auf die Frage, wozu erzogen werden soll. Wie steht es in dieser Hinsicht um den Erziehungswissenschaftler? Wenn Beutler meint, dieser könne nicht »mit wissenschaftlichen Gründen angeben, was sein soll und was nicht«, so ist ihm darin Recht zu geben. Es ist zwar nicht so klar, was »wissenschaftliche Gründe« sind. Indessen hat sich unter (2) gezeigt, daß Menschen nicht für alles, was sie wissen, Gründe angeben können und daß dies auch für das System der ethischen Normen gilt, die sie sich zu eigen machten und somit auch für die Überzeugungen, deren erzieherische Vermittlung sie gutheißen. Als Vertreter der Spezies Mensch kommen auch Wissenschaftler mit ihren Begründungen ethischer Zielvorstellungen da an ein Ende, wo sie auf nicht begründetes ethisches Wissen zurückgreifen. Daraus folgt aber weder die Subjektivität ihrer Zielvorstellungen (vgl. oben (a) und (c)) noch deren Irrelevanz für ihre erziehungswissenschaftliche Aufgabe. Es ist daher nicht, wie Beutler meint, »gänzlich inadäquat, einen Erziehungswissenschaftler zu fragen, welches Erziehungsziel ›richtig‹ und welches ›falsch‹ sei« (S. 274). Zwar ist es nicht Sache seiner Wissenschaft, eine angemessene Antwort zu ermitteln, also etwa eine bestimmte Auffassung davon zu begründen, wie man leben und wozu man daher erzogen werden soll. Doch darf man von ihm erwarten, daß er eine mehr oder weniger angemessene Auffassung dieser Art artikulieren kann. Freilich genügt für die Zwecke beschreibender Erziehungswissenschaft eine sehr allgemeine Auffassung davon, was Erziehung soll. Die historische und sonstige empirische Forschung benötigt diese Auffassung lediglich, um begründen zu können, warum sie aus dem Dickicht menschlicher Interaktion nicht dies, wohl aber jenes herausgreift und als Erscheinungsform von Erziehung behandelt. Soweit jedoch die Erziehungswissenschaft über systematisierte Beschreibung der Erziehungswirklichkeit (und über wissenschaftstheoretische Reflexion des eigenen Status) hinausgehen und den Erzieher in seiner Aufgabe unterstützen will, muß sie fast unweigerlich mit realistischen Ziel-Konzeptionen operieren; und stillschweigend tut sie das auch. Denn die intendierte Praxis-Relevanz setzt ein hohes Maß an Einigkeit zwischen Wissenschaftler und Praktiker darüber voraus, was Erziehung soll. (Auch hier wird allerdings eher die Spitze des normativen Eisbergs, nämlich Divergenz, thematisiert als der Bestand an Konvergenz, der unter der Oberfläche liegt und kaum in Erscheinung tritt.) Erst auf dem Hintergrund der vorausgesetzten Einigkeit läßt sich die praxisbezogene Frage
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
stellen und beantworten, wie das, was Erziehung soll, erreichbar ist. Jedenfalls ist die Vorstellung einer Erziehungswissenschaft, die, gänzlich formal und ›wertfrei‹, kein abgrenzbares Erziehungsziel voraussetzend, zugleich aber handlungsleitend, die Realisierungsmöglichkeiten beliebiger Ziele der Einflußnahme erörtern soll, nicht sehr plausibel.
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Komponenten der Erziehung? Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen
Der Leser ahnt bereits, daß ich das Wesen der Erziehung in eigentümlichen poietisch-praktischen Finalitätsstrukturen dessen erblicke, was eine Person mit besonderer Zuständigkeit tut. Um ihn leichter für diese Sicht zu gewinnen, werde ich in diesem Kapitel zeigen, daß naheliegende, teils etablierte alternative Bestimmungen der Erziehung dem in Kapitel 2 eruierten Begriff nicht gerecht werden. Ich werde also erst einmal davon sprechen, was Erziehung nicht ist. Unter dem Stichwort ›Zweck und Mittel‹ habe ich in 2.1 (c) eher notdürftig eine Verlegenheit versteckt. An dieser Stelle war nämlich der Kern des umgangssprachlichen Erziehungsbegriffs zu nennen und damit eine Antwort zu geben auf die Frage: Was macht Erziehung aus? Es blieb jedoch einstweilen bei einer recht vagen Zielbestimmung: Der Erziehung geht es um Anleitung zu einem selbständigen guten Leben. Auf bestimmte Mittel und Wege scheint das Erziehen durch seinen Begriff überhaupt nicht festgelegt zu sein. – Offenbar ist es leichter, diesem Begriff eine stattliche Anzahl von Implikationen zu entlocken (wie dies in Kapitel 2 geschieht), als die Sache selbst durch so etwas wie eine Definition zu charakterisieren. Um Versuche, die Sache selbst zu charakterisieren, soll es nun gehen: Worin besteht das Erziehen? Welche definierenden Komponenten sind für Erziehung konstitutiv? Was muß im Sinne hinreichender und notwendiger Bedingungen der Fall sein, damit man zu Recht behaupten kann, B erziehe A? Bei der Prüfung naheliegender Antworten auf diese Fragen werde ich mich vor allem an drei Aspekten des Erziehungsbegriffs orientieren: an der ZeitStruktur von Erziehung, an deren Verhältnis zur Intention des Erziehers und an der Möglichkeit, Erziehung zu bewerten. Das Ergebnis der Prüfung muß zunächst enttäuschen: Erziehung kann nicht als eine Art von Tätigkeit gelten, die etwa in einem Kontinuum von ›Erziehungshandlungen‹ (und vielleicht Unterlassungen) bestünde (4.1–2). Sie läßt sich auch nicht durch die Bereitschaft zu solchen Handlungen kennzeichnen
4 Komponenten der Erziehung?
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(4.3). Noch nicht einmal erzieherische oder sonstige Intentionen sind für die Erziehung wesentlich (4.4–7). Anders die Zuständigkeit des Erziehers (4.8). Natürlich läßt sich von ihr her nicht das Wesen der Erziehung bestimmen. Sie führt uns aber immerhin vor die Frage, ob sich Erziehung überhaupt durch Angabe konstitutiver Komponenten kennzeichnen läßt, und liefert uns zugleich einen richtungweisenden Anhaltspunkt für die weitere Analyse.
4.1
Erziehung hat nicht die Zeit-Struktur von Handlung oder Tätigkeit
Fast wie selbstverständlich geht das Nachdenken über Erziehung davon aus, daß diese eine bestimmte Art von Tätigkeit darstellt, die in Erziehungsmaßnahmen oder jedenfalls in irgendwie konstitutiven Handlungen besteht. Ich erlaube mir, zur Bezeichnung dieser Annahme den (leider schon anderweitig belegten) Ausdruck ›Aktionismus‹ auszuleihen. In der theoretischen Reflexion von Erziehung ist eine unausdrückliche, nicht hinterfragte aktionistische Annahme fast durchgängig anzutreffen.55 Allerdings kamen in 1.3 bereits Zweifel an deren Wahrheit auf. Zu klären ist also, ob dieser Anfangsverdacht sich bei näherem Hinsehen ausräumen läßt oder ob er sich eher verdichtet. Der Verdacht erhält Nahrung durch die Vermutung einer grammatischen Illusion: ›Erziehen‹ ist nun einmal ein Tätigkeitswort; und dieser Tatbestand verleitet dazu, das Erziehen dementsprechend für eine Tätigkeit zu halten. Freilich wird kaum jemand ausdrücklich und im Ernst dermaßen vordergründig folgern. Sobald er dies täte, würden ihm vermutlich alsbald Tätigkeitswörter wie ›vergessen‹ oder ›sparen‹ einfallen, die allzu offenkundig keine Tätigkeiten bezeichnen. Aber Illusionen haben es eben so an sich, daß sie in der Regel aus unbemerkten Assoziationen resultieren. Und das Bewußt-Werden solcher Assoziationen kann einem dabei helfen, sich von den Illusionen zu verabschieden. Freilich ist es im Bereich problematischer Auffassungen mit der Entdeckung mutmaßlicher Erreger nicht getan. Die Diagnose ›falsch‹ läßt sich erst stellen, wenn man in der Gestalt von Gegengründen auch die Therapie schon anbieten kann. Im übrigen hat der Aktionismus seinerseits immerhin zwei Argumente auf seiner Seite. Das eine besteht im Hinweis darauf, daß sich B, um A zu erziehen, mit ihm beschäftigen muß. Solche Beschäftigung dürfte doch wohl in Handlungen oder Tätigkeiten bestehen (die man sämtlich als Erziehungsmaßnahmen bezeichnen 55 Daß Erziehung in Handlungen bestehe, wird im allgemeinen so selbstverständlich angenommen, daß es kaum ausdrücklich behauptet oder gar als These diskutiert wird. Allerdings sind wir schon Brezinkas Definition begegnet, nach der unter Erziehung »Handlungen zu verstehen« sind, die in einer bestimmten »Absicht erfolgen« (1976, S. 129). Vgl. auch Oelkers 2001, S. 16 und den vom selben Autor diskutierten Vorschlag, Anleitung als strukturierte »Handlungsserie« zu verstehen (Oelkers 1985, S. 189 f.).
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
könnte, wenn dieser Ausdruck die gemeinte Sache nicht allzu sehr aufblähte). Diese erzieherischen Handlungen und Tätigkeiten dürften dann die Tätigkeit des Erziehens konstituieren. Übrigens wird die hier vorausgesetzte Unterscheidung zwischen Handlung und Tätigkeit in den folgenden Erörterungen nur eine geringe Rolle spielen.56 Da sie jedoch von allgemeinerem handlungsphilosophischem Interesse ist, sei sie hier kurz erläutert: Hat eine Handlung stattgefunden, so ist nicht nur ein sie definierendes Ergebnis erreicht; vielmehr ist die Handlung auch abgeschlossen. Hat hingegen eine Tätigkeit stattgefunden, so mögen zwar Ergebnisse der sie definierenden Art erreicht sein; doch muß die Tätigkeit damit nicht abgeschlossen sein. So bezeichnet etwa ›eine Birne pflücken‹ eine Handlung, ›Birnen pflücken‹ dagegen eine Tätigkeit. Habe ich eine Birne gepflückt, so ist damit das Pflücken der Birne abgeschlossen; habe ich dagegen Birnen gepflückt, ist nicht ausgeschlossen, daß ich auch jetzt noch damit beschäftigt bin. Mit dieser Kennzeichnung des Unterschieds zwischen Handlung und Tätigkeit stimmt unser Sprachgebrauch überein, wenn wir z. B. die erzieherische Zurechtweisung als Handlung bezeichnen, die Suche nach altersgemäßer Lektüre aber als Tätigkeit. In seinem ersten Argument geht der Aktionist also davon aus, daß sich der Erzieher mit seinem Gegenüber beschäftigt. Er stellt fest, daß solche Beschäftigung in nichts anderem bestehen kann als in Handlungen und Tätigkeiten. Und er folgert, daß Erziehung der Inbegriff erzieherischer Handlungen und Tätigkeiten und somit selbst eine Tätigkeit sein muß. Das zweite Argument zugunsten des Aktionismus ist noch einfacher: Wenn Erziehung keine Tätigkeit ist, was ist sie dann? Wenn das Erziehen nicht in Handlungen besteht, worin besteht es dann? Auf diese Fragen scheint es keine plausiblen Antworten zu geben. Andererseits sprechen gegen den Aktionismus gewichtige Gründe, die uns im Verlauf des Kapitel noch beschäftigen werden. Vor allem ist diese Auffassung mit der Zeit-Struktur von Erziehung nicht vereinbar. Erziehung weist nicht die Art von störungsanfälliger Kontinuität auf, die eine Tätigkeit kennzeichnet.57 Wer beispielsweise unterrichtet oder Erbsen zählt, kann in dieser Tätigkeit unterbrochen werden. Aber ›im Erziehen unter56 Es handelt sich hier nicht um die bekannte Unterscheidung des Aristoteles zwischen kinesis bzw. poiesis und energeia bzw. praxis, an die ich in Kapitel 5 anknüpfen werde, um Erziehung als Handeln zu kennzeichnen. 57 Freilich gebrauchen wir den Ausdruck ›Tätigkeit‹ ganz legitim für einen pädagogischen Beruf wie den des Kindergärtners (vgl. Kapitel 18). Aber hier verweist dieser Ausdruck nicht auf Betätigung und Handlung. Erstens nämlich führt offenbar Tätigkeit im Sinne von ›Berufstätigkeit‹ und ›Beschäftigungsverhältnis‹ nicht unbedingt viel Betätigung, Beschäftigt-Sein, Handlung mit sich. (Man denke an die Tätigkeit als Nachtportier einer kleinstädtischen Polizeistation.) Zweitens handelt es sich im Fall des pädagogischen Berufs zwar bisweilen tatsächlich um ein Beschäftigt-Sein im Sinne einer (mehr oder weniger ununterbrochenen) Folge von Handlungen. Aber nicht alle diese Handlungen werden pädagogisch inspiriert sein; und umgekehrt schlägt sich das Pädagogische der Berufsausübung, wie ich in diesem Kapitel zeige, auch nicht ausschließlich in Handlungen nieder.
4 Komponenten der Erziehung?
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brochen werden‹? (›Du siehst doch, daß ich gerade damit beschäftigt bin, A zu erziehen!‹) Was könnte das heißen? Auch kann man wohl von jemandem sagen, daß er pausenlos Erbsen zählt (oder unterrichtet). Aber ›pausenlos erziehen‹? Nicht, als wollte ich dem Erziehen die Kontinuität absprechen. Aber diese Kontinuität besteht eben nicht darin, daß Handlungen, die sich irgendwie auf A’s Entwicklung beziehen, mehr oder weniger nahtlos aneinander anschließen. Man kann sinnvoll sagen: ›B übernimmt A’s Erziehung für die Dauer von neun Jahren‹, aber nicht: ›für die Dauer von zwei Stunden‹. Was da für die Dauer von neun Jahren geschieht, weist demnach nicht die Kontinuität einer Tätigkeit auf, die ja in jedem Zeitabschnitt ihrer Dauer ausgeübt würde. Nur wenn Erziehung in diesem Sinne Tätigkeit wäre, hätte der Ausdruck ›im Erziehen unterbrochen werden‹ einen Sinn. Um schlafen gehen zu können, muß man erst einmal aufhören zu unterrichten oder Erbsen zu zählen oder ... Aber nicht: aufhören zu erziehen. Heißt das etwa, daß ein Erzieher die erstaunliche Leistung fertigbringt, sogar noch im Schlaf die ihm Anvertrauten zu erziehen? (Etwa wie Menschen, die tage- und nächtelang auf der Flucht sind und von denen man hört, sie könnten, rechts und links gestützt, auch im Schlaf noch gehen.) Aber ebenso wenig, wie man für ein paar Stunden mit dem Erziehen aufhört, macht man (schlafend oder wachend) mit dem Erziehen für ein paar Stunden weiter. Nur wer bereits voraussetzt, daß Erziehung die Zeit-Struktur einer aus Handlungen zusammengesetzten Tätigkeit aufweist, wird darauf bestehen, daß das Prädikat ›erzieht, während er schläft‹ überhaupt einen Sinn ergibt und daher einem Erzieher entweder zu- oder abzusprechen ist. (In Wirklichkeit ist der Ausdruck nicht weniger sinnlos als das Prädikat ›steht dem Aufsichtsrat vor, während er schläft‹. Nur sind wir – aus welchen Gründen auch immer! – weniger versucht, eine Tätigkeit darin zu erblicken, daß einer dem Aufsichtsrat vorsteht.) Ist es aber nicht möglich, daß B um seiner erzieherischen Aufgabe willen die Nachtruhe aufschiebt? Freilich ist das möglich. (Und nur allzu oft nötig, höre ich Eltern hinzufügen.) Aber das heißt nicht, in einem solchen Fall könne B nicht schlafen gehen, da er noch mit Erziehung beschäftigt sei. Was aber heißt es dann? Zu dieser Frage möchte ich dreierlei sagen. Erstens kann selbstverständlich eine bestimmte Tätigkeit oder Handlung aus einem bestimmten Anlaß erzieherisch notwendig oder wünschenswert sein. Vielleicht spricht B also irgendwann zu später Stunde mit A über dessen Kontakt zu einer Jugendsekte. Man mag dies eine erzieherische Tätigkeit oder Beschäftigung nennen. Und wenn er ihm abschließend den Erlebnisbericht eines ehemaligen Sektenmitglieds vorliest, so mag dies Erziehungsmaßnahme oder erzieherische Handlung heißen. Es ist dann diese Tätigkeit bzw. Handlung, die ausschließt, daß B zur selben Zeit schläft oder sonst etwas unternimmt. Und nicht das Erziehen, sondern die erzieherisch motivierte Tätigkeit bzw. Handlung nimmt eine bestimmte Zeitspanne in Anspruch und könnte unterbrochen werden. Zweitens jedoch muß nichts derartiges stattfinden, wenn B ›um seiner erzieherischen Aufgabe willen‹ die Nachtruhe um zwei Stunden aufschiebt. Viel-
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leicht sortiert er in dieser Zeit Briefmarken. Das Erzieherische an seinem Verhalten mag einzig darin bestehen, daß er für A, der in einer Krise steckt, am Abend so lange ansprechbar sein will, wie A selbst noch nicht zu Bett gegangen ist. Man mag dieses Verhalten erzieherisches Verhalten oder auch Handeln nennen (vor allem natürlich, wenn A auch weiß, daß B dann noch wach ist). Aber das ›Handeln‹ besteht hier gewiß nicht im Sortieren von Briefmarken und auch nicht in irgendwelchen anderen Handlungen oder Tätigkeiten, die nach 22 Uhr oder irgendwann sonst stattfinden! Wie weit eine Klassifizierung der Erziehung als Tätigkeit an ihrer wirklichen Zeit-Struktur vorbeigeht, wird – drittens – besonders deutlich, wenn wir B aus pädagogischen Gründen schlafen lassen. Vielleicht geht es ihm darum, daß A sich daran gewöhnt, von sich aus aufzustehen, die Schultasche zu packen etc. In welcher Handlung oder Tätigkeit vollzieht sich hier Erziehung? B stellt am Vorabend den Wecker nicht auf 6.30, sondern auf 7.30 Uhr; er dreht sich um 6.30 Uhr auf die andere Seite statt aufzustehen; er schläft eine weitere Stunde; schließlich steht er um 7.30 Uhr auf und vergewissert sich, daß A samt Schultasche die Wohnung verlassen hat. Das ist alles. Manches davon verdient die Bezeichnung ›Handlung‹, anderes nicht (nicht z. B. der zusätzliche Schlaf, auf den es doch ankommt). Wer aber wollte irgend etwas davon Erziehungsmaßnahme oder erzieherische Handlung nennen? Und doch: von Erziehung kann hier durchaus die Rede sein. Ich denke, die angestellten Überlegungen genügen, um zu zeigen, daß der Aktionismus falsch ist. Erziehen ist weder eine bestimmte Art von Tätigkeit, noch besteht Erziehung generell in Erziehungsmaßnahmen oder auch sonstigen Handlungen.
4.2
Erziehung ist kein Kontinuum von Handlungen und Unterlassungen
Vielleicht wäre dem Aktionisten damit geholfen, daß er neben erzieherischen Handlungen erzieherische Unterlassungen zuläßt? Im zuletzt angeführten Beispiel etwa wirkt B’s Verhalten dadurch erzieherisch, daß er es unterläßt, aufzustehen, A zu wecken, sein Frühstück zu richten usw. In einem anderen Zusammenhang könnte das Erzieherische darin bestehen, A nicht aufzufordern, sein Zimmer aufzuräumen. Und Rousseau verzichtet darauf, die von E´mile zerstörte Fensterscheibe ersetzen zu lassen. Erziehung würde sich dann als eine Kette von Gliedern darstellen, von denen die einen in erzieherisch relevanten Handlungen und die anderen in ebensolchen Unterlassungen bestünden. Die der Erziehung eigene Kontinuität – im Erziehen wird man nicht wie im Unterrichten oder im Erbsen-Zählen ›unterbrochen‹ – würde darauf beruhen, daß es in einer solchen Kette keine Unterbrechungen geben müßte. Dabei hinge die Konstellation der Elemente davon ab, was der Erzieher nach Maßgabe des Erziehungsziels und der Umstände für nötig und möglich hält.
4 Komponenten der Erziehung?
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Indessen wird auch ein solches Modell dem, was wir Erziehung nennen, nicht gerecht. Die Einsicht, daß es erzieherisch relevante Unterlassungen gibt, ist zwar ein wichtiger Fortschritt gegenüber Brezinkas Definitionen (3.3) bzw. der stillschweigenden aktionistischen Implikation, Erziehung vollziehe sich ausschließlich in Handlungen. Doch ist der modifizierte Aktionismus immer noch fatalen Einwänden ausgesetzt. Erstens nehmen Unterlassungen keine Zeit in Anspruch. Die Vorstellung, B verbringe die Stunden zwischen erzieherischen Handlungen mit pädagogisch relevanten Unterlassungen, muß man nur artikulieren, um sie als baren Unsinn zu erkennen. Zweitens verbringt im allgemeinen (vor allem im Kontext der Familienerziehung) B den größten Teil seiner Zeit mit Dingen, in denen sich die Tatsache, daß er A erzieht, überhaupt nicht niederschlägt – noch nicht einmal darin, daß diese Dinge pädagogisch relevante Unterlassungen implizieren würden. Vielleicht wird der Aktionist seine Position nun nochmals modifizieren, etwa in diesem Sinne: Erziehung ist keine ununterbrochene Kette aus erzieherisch relevanten Handlungen und Unterlassungen. Vielmehr besteht sie darin, daß der Erzieher seiner Aufgabe nach Bedarf in erzieherisch relevanten Handlungen und Unterlassungen nachkommt (wobei er außerdem Schädliches zu vermeiden sucht). Doch bleibt die so modifizierte Position einem dritten Einwand immer noch ausgesetzt. Man kann nämlich an den bisherigen Beispielen schon ablesen, daß Erziehung nicht einzig in Handlungen und Unterlassungen besteht. Noch am späten Abend für Sohn oder Tochter ansprechbar zu sein, ist vielleicht ›erzieherisches Handeln‹, es ist aber weder Handlung noch Unterlassung. Im übrigen vermittelt auch die jetzt erwogene Modifizierung des Aktionismus ein falsches Bild von der zeitlichen Struktur der Erziehung. Sie läßt ja den Erzieher zwischen den bedarfsbedingten Erziehungshandlungen sozusagen pausieren. Er würde demnach zeitweise erziehen, wie ein Lehrer zeitweise unterrichtet. Wir haben aber gesehen, daß Erziehung, obschon sie einerseits nicht die Kontinuität einer ununterbrochenen Tätigkeit aufweist, doch andererseits auch keine Sache des zeitweiligen Einsatzes ist, der sich mit anderen Betätigungen abwechselt. Was sich hier abzeichnet, ist dies: Die aktionistische Idee, Erziehung bestehe darin, daß B sich durch eine Folge charakteristisch erzieherischer Handlungen auf A beziehe, ist nicht einfach ungenau oder – weil sie z. B. Unterlassungen oder Einsatzpausen ignoriert – ergänzungsbedürftig. Vielmehr verfolgt der Aktionismus eine vollständig falsche Fährte.
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4.3
Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Die Kontinuität der Erziehung ist nicht die Kontinuität spezifischer Aufmerksamkeit oder Einsatzbereitschaft
Ein ›Schritt in die richtige Richtung‹ scheint nun darin zu bestehen, den Erziehungsbegriff mit einer charakteristischen Disposition in Verbindung zu bringen, die den Erzieher auf die Belange des Heranwachsenden ausrichtet. Etwa so: Erziehung setzt sich nicht einfach aus einschlägigen Handlungen und Unterlassungen zusammen. Konstitutiv ist vielmehr darüber hinaus die fortwährende Aufmerksamkeit des Erziehers auf die pädagogischen Erfordernisse der jeweiligen Situation und seine Bereitschaft, bei Bedarf mit erzieherisch angemessenen Handlungen oder Unterlassungen zu reagieren. Dieses dispositionale Element der Erziehung bestimmt, so scheint es, auch die Art ihrer Kontinuität: Aufmerksamkeit und Bereitschaft können ›ununterbrochen‹ bestehen, ohne doch ununterbrochen zu charakteristischen Handlungen oder Unterlassungen zu führen. Ihrer Zeit-Struktur nach kontinuierlich wäre Erziehung nicht als ununterbrochene erzieherische Betätigung, sondern als andauernde spezifische Aufmerksamkeit und Bereitschaft. Zweifellos trifft die Vorstellung einer solchen Disposition den guten Erzieher und die Kontinuität des Erziehens eher als das Bild eines pausenlosen – oder auch intermittierenden – Hin und Her zwischen erzieherischen Handlungen und Unterlassungen. Dennoch bedarf die skizzierte Konzeption der Korrektur. Um mit dem zuletzt formulierten Punkt zu beginnen: Es ist zwar wahr, daß Aufmerksamkeit und Bereitschaft ununterbrochen bestehen können. Doch kann B’s Aufmerksamkeit auch durch eigene Nöte absorbiert werden; seine Bereitschaft, A zuliebe hier zu intervenieren und sich dort zurückzuhalten, kann erlahmen oder aussetzen. A’s Erziehung hört damit nicht auf, sondern leidet darunter! Es kann also während der Dauer dieser Erziehung Zeiten geben, in denen die angeblich konstitutive Aufmerksamkeit oder Bereitschaft nicht besteht. Freilich ist es richtig – und für den Erziehungsbegriff auch wichtig – daß Erziehung ununterbrochene Aufmerksamkeit und Bereitschaft der gemeinten Art verlangt und daß der gute Erzieher – wenn ihn nicht Umstände hindern – die Situation des Heranwachsenden kontinuierlich im Blick hat und jederzeit zur angemessenen Reaktion bereit ist. Aber es gibt eben auch schlechte Erziehung. Zwar muß sich die Erklärung des Erziehungsbegriffs seiner teleologischen Struktur wegen primär am Fall der guten Erziehung orientieren (vgl. 3.4 (f)). Doch muß sie natürlich auch auf schlechte Erziehung anwendbar sein. Leider kann man nicht per Worterklärung ausschließen, daß Erzieher ihre Aufgabe gelegentlich schlecht erfüllen. Und daß B den A schlecht erzieht, kann gerade darin bestehen, daß es ihm an der einschlägigen Aufmerksamkeit und Bereitschaft fehlt.
4 Komponenten der Erziehung?
4.4
83
Läßt sich Erziehung durch die erzieherische Absicht kennzeichnen?
Wie unter 2.5 (c) und 3.3 bereits vermerkt, tendieren Erziehungswissenschaftler dazu, in der Handlungsabsicht den entscheidenden Faktor zu sehen, der erzieherische von anderen sozialisatorischen Einflüssen unterscheidet. Dieser Intentionalismus ist u.a. insofern plausibel, als er die besondere Art von Kontinuität zu erklären scheint, die das Erziehen kennzeichnet. Auch die Absicht nämlich scheint den Charakter einer kontinuitätsbildenden Disposition zu haben. (Um etwas zu beabsichtigen, muß man nicht aktuell daran denken oder etwas dafür tun.) Die auf Erziehung gerichtete Absicht ist außerdem eine erfreulich langlebige Disposition. B wird häufig auch zu Zeiten, da er es an der nötigen Aufmerksamkeit und Bereitschaft fehlen läßt, weiterhin die Absicht haben, A zu erziehen oder ihn jedenfalls auf eine Weise zu fördern, die auf Erziehung hinausläuft. Ferner kann eine Erklärung des Erziehungsbegriffs, die auf die Intention des Erziehers Bezug nimmt, auch Elemente seines Verhaltens berücksichtigen, die sich in den Kategorien von Tätigkeit, Handlung und Unterlassung nicht unterbringen lassen – wie etwa B’s nächtliche Erreichbarkeit. Einer solchen Erklärung zufolge könnte an B’s Verhalten alles das Erziehung heißen, was unter einer bestimmten Absicht intendiert ist. Wie aber ist die ›bestimmte‹ Absicht zu bestimmen? Muß es sich nicht um B’s Absicht handeln, A zu erziehen? Dann aber, so scheint es, wäre eine Erklärung von ›Erziehung‹ unter Bezug auf diese Absicht zirkulär. Indessen kann der Intentionalist diesen Zirkel vielleicht vermeiden, indem er die pädagogische Absicht durch Spezifizierung eines Erziehungsziels Z bestimmt. Dann wäre Erziehung das, was unter der Absicht intendiert ist, Z zu erreichen. Und es gibt keinen Grund zu befürchten, daß Z nun seinerseits nur unter Rekurs auf die erzieherische Absicht artikuliert werden könnte. Die intentionalistische Erklärung des Erziehungsbegriffs muß also nicht zirkulär sein.58 Indessen ist sie einer Reihe anderer Einwände ausgesetzt. Ihnen sind die nächsten Abschnitte (4.5–7) gewidmet.
4.5
Erzieherische Bedeutsamkeit ist von erzieherischer Absicht unabhängig
Die intentionalistische Erklärung rechnet der Erziehung nicht alles zu, was ein Erzieher absichtlich tut. Auch nicht alles, was er in einer beliebigen ferneren Absicht tut. Sondern ausschließlich das, was er in erzieherischer Absicht (und daher natürlich eo ipso auch absichtlich) tut. 58 In Anscombes On Promising and its Justice (1981, S. 10–21) wird ein ähnliches Zirkularitätsproblem auf ähnliche Weise gelöst. Ich diskutiere die hier akzeptierte Problemlösung nicht weiter, weil eine intentionalistische Erklärung des Erziehungsbegriffs an anderen Schwierigkeiten ohnehin scheitert.
84
Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Die erzieherische Absicht muß nicht unbedingt Erziehungsabsicht – Absicht, zu erziehen – sein. Brezinka z. B. spricht, wie wir gesehen haben, lediglich von der Absicht, »das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten« (1978, S. 45). Als Erziehungsabsicht bezeichne ich eine solche Absicht, wo sie sich an einer mehr oder weniger klaren Ziel-Konzeption, an einem Erziehungsziel orientiert. Jedenfalls findet Erziehung nach intentionalistischer Auffassung beispielsweise statt, wenn B dem A bestimmte Fernsehsendungen verbietet, um dadurch B’s charakterliche Entwicklung in dieser oder jener Hinsicht zu fördern oder zu schützen. Betrachten wir nun jedoch den Fall, daß B durch ein solches Verbot von seinen eigenen erzieherischen Absichten abweicht. (B hat, sagen wir, eigentlich die Absicht, A möglichst früh mit allen Facetten visueller und virtueller Wirklichkeit vertraut zu machen.) Vielleicht gibt B nur einem Onkel nach, der ihn dazu drängt, A vor jenen Sendungen zu ›schützen‹. Oder B befürchtet lediglich, ohrenbetäubender Techno zu später Stunde könnte die Nachbarn stören. Unter intentionalistischen Voraussetzungen ist dann das Fernsehverbot, da von B nicht in erzieherischer Absicht ausgesprochen und nicht als ›Erziehungsmittel‹ beabsichtigt, kein Element von A’s Erziehung59. Diese Konsequenz widerstreitet aber zweifellos unserem gewöhnlichen Verständnis und jeder brauchbaren Konzeption von Erziehung. Das zielwidrige Fernsehverbot steht nicht einfach ›neben‹ B’s erzieherischen Absichten und ihrer Ausführung – als erziehungsneutrales Verhalten, wie etwa (im Normalfall) das Sortieren von Briefmarken. Es liefert vielmehr das Beispiel einer absichtlichen Handlung, die nicht in erzieherischer Absicht erfolgt, die aber dennoch als (vielleicht wenig glücklicher) Bestandteil von A’s Erziehung gelten muß. Wie könnte der Intentionalist mit dieser Tatsache umgehen? Sollte er vielleicht zur Erziehung alles erzieherisch relevante Handeln zählen, nämlich jedes beabsichtigte Verhalten des Erziehers, das sich positiv oder negativ auf dessen erzieherische Absichten bezieht? Zur Erziehung würden dann nicht nur Handlungen und Unterlassungen gehören, mit denen B das, was er als Erzieher intendiert, tatsächlich zu befördern sucht, sondern auch solche, durch die er es zu befördern versäumt oder gar torpediert.60 59 Vgl. Geißler 1982, S. 22: »Unter Erziehungsmitteln verstehen wir Maßnahmen und Situationen, mit deren Hilfe Erziehende auf Heranwachsende einwirken, in der Absicht, deren Verhalten, Einstellungen oder Motive zu bilden, zu festigen oder zu verändern.« Da für Geißler alle Erziehung mit Erziehungsmitteln arbeitet (1982, S. 38 f.), erweist das Zitat ihn als Intentionalisten. 60 Konsequenterweise müßte allerdings diese modifizierte Version des Intentionalismus intendiertes Erzieher-Verhalten auch dann zur Erziehung rechnen, wenn es zwar nicht um erzieherischer Ziele willen geschieht, diese Ziele jedoch faktisch zu befördern angetan ist. Denn relevant ist das Erzieher-Verhalten offenbar unabhängig davon, ob es sich nun
4 Komponenten der Erziehung?
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Indessen läßt sich wohl auch die durch Relevanz-Betrachtungen verbesserte (oder verwässerte) Version des Intentionalismus nicht verteidigen. Denn gegen sie spricht zum einen, daß erzieherische Absichten und a fortiori ausdrückliche Erziehungsziele für die Konstitution von Erziehung weitgehend bedeutungslos sind (4.6), und zum anderen, daß nicht nur intendierte Verhaltenskomponenten zur Erziehung gehören (4.7). Freilich scheint Relevanz in der Tat eine notwendige Bedingung dafür zu sein, daß etwas als Komponente der Erziehung anzusehen ist. Nur ist diese Beobachtung einigermaßen trivial. Vor allem läßt sie eine Reihe entscheidender Fragen unentschieden, die uns im weiteren Verlauf der Untersuchung beschäftigen müssen: Im Hinblick auf welches Ziel, in bezug auf welche Ergebnis-Dimension müssen Komponenten der Erziehung relevant sein? Wird erzieherische Relevanz überhaupt an Ergebnis-Intentionen gemessen und nicht vielleicht an einem sonstwie vorgegebenen Maßstab? Und schließlich: Was ist es, das – aufgrund seiner wie auch immer bestimmten Relevanz – als Komponente der Erziehung gelten soll? Näherhin: Welche Elemente und Aspekte des Erzieher-Lebens sind es, denen erzieherische Bedeutung zukommt? Manche – wie die körperliche Gestalt und das angeborene Temperament des Erziehers – werden wir wohl kaum in Betracht ziehen (obwohl sie sozialisierend wirken mögen). Daß aber auf der anderen Seite Erziehung nicht einzig in Handlung und Unterlassung besteht, ist auch schon klar geworden.
4.6
Erzieherische Intention ist für Erziehung nicht konstitutiv
Die unter 4.5 diskutierte Version des Intentionalismus erkennt nur beabsichtigtes Verhalten als Erziehung an; und auch dies nur, wenn das Verhalten eine von zwei Bedingungen erfüllt: es muß entweder in der Absicht geschehen, ein (ebenfalls beabsichtigtes) erzieherisches Ziel zu befördern; oder es muß der Erreichung eines solchen Ziels (de facto oder nach Meinung des Erziehers selbst) widerstreiten. Diese Auffassung setzt voraus, daß einzig des Erziehers erzieherische Absicht darüber entscheidet, welche Aspekte oder Elemente seines Verhaltens Erziehung ausmachen. Es fragt sich jedoch, warum gerade im Fall der Erziehung der Ziel-Intention des Subjekts eine solche Bedeutung zukommen sollte. Niemand käme beispielsweise auf den Gedanken, zur Politik eines Ministerpräsidenten einzig das zu zählen, was sich an seinen politischen Zielen messen läßt, nicht aber seine Vernachlässigung des öffentlichen Gesundheitswesens – das er zufällig, als unverbesserlicher Sozial-Darwinist, für eine Verirrung hält und das deshalb in seinen Absichten keinen Platz hat. positiv oder negativ auf das Erreichen der Ziele auswirkt. Diesen Gesichtspunkt werde ich aber nicht weiter verfolgen.
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Stellen wir uns einen Erzieher B vor, der mit A nichts anderes im Sinn hat, als einen perfekt angepaßten, glänzenden Gesellschafter aus ihm zu machen. In dieser Absicht bringt er ihm sämtliche Regeln der Etikette und die Feinheiten ›guten‹ Benehmens bei, sicheres, galantes Auftreten und dazu die Kunst, bei Bedarf zu lügen, ohne Reue oder Rache fürchten zu müssen. Zweifellos liegt dann hierin A’s Erziehung – aber nicht hierin allein. Denn vieles an B’s Verhalten, was zu seinen Zielen keine (positive oder negative) Beziehung hat, wird dennoch in einer korrekten Charakterisierung von A’s Erziehung ebenfalls zu nennen sein. Dazu könnte etwa gehören, daß B es versäumt, bei A Dispositionen wie Tapferkeit, Ehrlichkeit oder tieferen Kunstsinn zu fördern. Das aber heißt: Der Anspruch, unter den B’s private erzieherische Absichten sein eigenes Verhalten stellen, entscheidet nicht – oder jedenfalls nicht allein – darüber, was an diesem Verhalten tatsächlich Erziehung ist. In diesem Ergebnis sehe ich einen tödlichen Einwand gegen einen Intentionalismus, dem zufolge erzieherische Absichten auf die beschriebene Weise für Erziehung konstitutiv sind. Versteht oder definiert der Intentionalist darüber hinaus Erziehung als Umsetzung einer Erziehungsabsicht, als das Verfolgen eines (intendierten) Erziehungsziels, so kommt der folgende Einwand hinzu. Nur wenige Eltern werden, nach ihrem Erziehungsziel gefragt, eine Auskunft geben können, von der wir sagen würden, sie drücke angemessen aus, worauf das Bemühen dieser Eltern um ihre Kinder tatsächlich ausgerichtet ist. Viele werden recht vage Vorstellungen äußern oder gar nichts zu sagen haben. Daraus würde man aber kaum folgern, daß diese Eltern ihre Kinder nicht (gut oder schlecht) erziehen. Vielleicht gehört zum Erziehen noch nicht einmal unbedingt das Bewußtsein zu erziehen. Denken wir an eine Gesellschaft, in der die Eltern ihre Kinder aufziehen und auch für deren Untaten und Disziplinlosigkeiten zur Rechenschaft gezogen werden; der jedoch der Begriff der Verantwortung für das innere Gedeihen und Erwachsen-Werden von Kindern fehlt. In dieser Gesellschaft würde auch die Vorstellung fehlen, jemand habe einer bestimmten Person gegenüber die Aufgabe, sie beim Erwachsen-Werden anzuleiten und zu unterstützen, sie zu erziehen. Es wäre aber voreilig – oder arrogant – daraus zu folgern, diese Leute erzögen ihre Kinder nicht. Freilich, der Begriff der Erziehung und insbesondere einer Ziel-Verfassung der ›Erzogenheit‹ oder des Erzogen-Seins ginge ihnen ab. ›Erziehen‹ scheint jedoch nicht (wie etwa ›jemand aus der U-Haft entlassen‹) zu den Prädikaten zu gehören, die man nur Subjekten beilegen kann, die auch selbst mit dem prädizierten Begriff umgehen können (vgl. 3.1 (b)). Es mag sein, daß man in der Regel eine Aufgabe und ihre Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung nur dem zuschreiben kann, der sich der Verantwortung dafür bewußt ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder doch zu erstreben. Ausnahmen scheint es aber zu geben. Vor allem da, wo die Aufgabe sozusagen automatisch dadurch erfüllt wird, daß natürliche Tendenzen oder unreflektiert übernommene Verhaltensmuster betätigt werden. Dies kann man sich für den Fall der Erzie-
4 Komponenten der Erziehung?
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hungsaufgabe bei Gesellschaften ohne Erziehungsbegriff unschwer vorstellen. Und zwar um so leichter, als das Erziehen ohnehin – auch in unserer Gesellschaft – dem Leben des Erziehers gewissermaßen nicht sehr viel ›hinzufügt‹ (vgl. Kapitel 12–14). Von einer Aufgabe kann auch im Fall der ›unbewußten‹ Erziehung deshalb die Rede sein, weil das Erziehen von Kindern eine Funktion erfüllt. Die nämlich läßt sich unabhängig davon identifizieren, ob die Erzieher von ihrer Aufgabe ein Bewußtsein haben. (Man bedenke, daß wir auch Tieren, z. B. den ›Soldaten‹ eines Ameisenbaus, bestimmte ›Aufgaben‹ im Kontext ihres sozialen Lebens zuschreiben. Das ist vielleicht eine übertragene Verwendung des Ausdrucks. Aber eine solche Übertragung ist eben nur deshalb möglich, weil die Zuschreibung einer Aufgabe im wörtlichen Sinn nicht in jedem Fall Kriterien verlangt, die ein Bewußtsein von Aufgabe und Verantwortlichkeit implizieren.) Demnach scheint es, daß erstens zum Erziehen die Vorstellung eines bestimmten Erziehungsziels nicht erforderlich ist; daß zweitens noch nicht einmal die allgemeinere Zielvorstellung des ›erzogenen‹ Erwachsenen den Erzieher notwendig leiten muß; und schließlich, daß dieser sich vielleicht gar nicht bewußt sein muß, einen anderen zu erziehen bzw. diese Aufgabe zu haben.61 Treffen die Überlegungen dieses Abschnitts zu, so erübrigt sich die Frage: ›Wie verhält sich das Kriterium der Relevanz zum Kriterium der erzieherischen Absicht bzw. der Erziehungsabsicht?‹ Wenn nämlich keine derartige Absicht darüber entscheidet, was im konkreten Fall zur Erziehung gehört, dann läßt sich Erziehung nicht als ein Verhalten definieren, mit dem der Erzieher entweder eine erzieherische bzw. Erziehungsabsicht befördert oder aber von dieser Absicht abweicht. Auch der modifizierte Intentionalismus ist nicht zu halten.
4.7
Auch unbeabsichtigte charakterbedingte Verhaltensaspekte sind erziehungskonstitutiv
Man könnte nun immer noch an einer reduzierten Form von Intentionalismus festhalten wollen, die sich etwa so artikulieren könnte: Zwar mögen pädagogische Ziel-Intentionen keine Kriterien dafür liefern, wo wir es mit Erziehung zu tun haben und wo nicht; doch ist zum Erziehen jedenfalls ausschließlich intendiertes Verhalten zu rechnen. – Die Auseinandersetzung mit dieser Variante des Intentionalismus wird für den Fortgang der Untersuchung von einiger Bedeutung sein, insofern sie die Frage betrifft, inwieweit das Handeln überhaupt eine Angelegenheit der Absicht ist. Das Muster meiner bisherigen Sondierungen des Erziehungsbegriffs könnte man ganz plausibel auf gewisse andere Begriffe übertragen, z. B. auf den des 61 Vgl. hierzu eine Äußerung von Litt (1965, S. 57): »Dem Gedanken des Bildungsideals entsagen, heißt also nicht die Erziehung der Ratlosigkeit ausliefern, sondern ihren Lebensund Wirkungsbedingungen die gebotene Achtung erweisen.«
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Steuerns: Daß jemand ein Schiff steuere, sagen wir nicht nur, solange er bestimmte Handlungen ausführt (und andere unterläßt, die man unter anderen Umständen erwarten könnte). Trinkt er auf der Kommandobrücke seinen Kaffee, so hört er deshalb nicht auf zu steuern. Die Kontinuität des Steuerns ist also nicht die einer ununterbrochenen Beschäftigung. Auch Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft, wiewohl Erfordernisse guten Steuerns, scheinen keine notwendigen Bedingungen jener Kontinuität zu sein. Denn wenn etwas schief geht, heißt es: ›Du hast gesteuert – du durftest nicht unaufmerksam sein!‹ (Wir haben es hier mit einem sozusagen ›ethischen‹ Begriff des Steuerns zu tun. Vgl. unten 4.8.) Schließlich sind auch für die Frage, wie das Schiff gesteuert wurde, nicht nur Handlungen von Bedeutung, die in der Absicht geschahen, es auf Kurs zu halten, sondern alle, die für den Kurs relevant waren. So weit also reicht das gemeinsame Muster der beiden Begriffsstrukturen. Die folgenden Erörterungen sollen nun eine Besonderheit des Erziehungsbegriffs ins Licht rücken, die ihn – wie auch andere Begriffe einer Lebenshilfe – von ansonsten strukturell vergleichbaren Begriffen wie dem des Steuerns abhebt. Und zwar geht es darum, daß beim Erziehen unbeabsichtigte Verhaltenselemente und -aspekte einer bestimmten Art eine Rolle spielen, die bei Techniken wie dem Steuern eines Schiffes keine Parallele findet. Zwar mögen in beiden Fällen unbeabsichtigte Verhaltenselemente relevant und konstitutiv sein. Bei der Erziehung aber, wie auch bei anderen Formen der Lebenshilfe, gehören zu diesen Elementen insbesondere solche, die in einer Einstellung zu den unmittelbar betroffenen Personen wurzeln. Um ein Beispiel vorwegzunehmen: B’s spontane Äußerung von Gefühlen A gegenüber kann für die Qualität der Erziehung konstitutiv sein. Vergleichbare nicht-intendierte Komponenten lassen sich am Steuern eines Schiffes nicht entdecken. Weder in der Philosophie noch in der Erziehungswissenschaft ist es üblich, die Frage, ob beabsichtigtes Verhalten allein Erziehung ausmacht, überhaupt zu stellen. Vielleicht betrachtet man sie als erledigt, seitdem man ›nicht-intentional‹ mit ›funktional‹ und ›funktional‹ mit ›bloß sozialisatorisch‹ identifiziert hat (3.3). Eine bejahende Antwort scheint dann selbstverständlich. Und wenn Erziehungswissenschaftler eine Definition wie die von Brezinka (3.3) angreifen, so nicht etwa deshalb, weil nach dieser Definition Erziehung durch Handlungen, also durch intendiertes Verhalten konstituiert wird. Woran denke ich, wenn ich den scheinbar selbstverständlichen ›reduzierten Intentionalismus‹ in Frage stelle? Welche nicht-intentionalen Aspekte und Elemente des Erzieher-Verhaltens sind es, die ein intentionalistisches Verständnis von Erziehung zu Unrecht ignoriert und die auch im ›ethischen Begriff‹ des Steuerns (und vergleichbarer Techniken) keine Parallele finden? Es handelt sich um Verhaltenskomponenten, die letztlich B’s Charaktereigenschaften (samt seinen Gewohnheiten praktischen Denkens bzw. Nicht-Denkens) entspringen, und zwar insbesondere solchen Eigenschaften, die seine Einstellungen und Empfindungen A gegenüber affizieren (vgl. Kapitel 13). Diese Komponenten von B’s Verhalten lassen sich recht unterschiedlichen Kategorien
4 Komponenten der Erziehung?
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zuordnen, von denen einige besonders hervorgehoben und anhand von Beispielen erläutert seien. a) Unbeabsichtigte Unterlassungen: B zeigt nicht, was er empfindet; B fragt nicht nach A’s Schulzeugnis. – Selbstverständlich können Unterlassungen dieser Art beabsichtigt sein. Aber sie gehen eben auch dann in A’s Erziehung ein, wenn sie es nicht sind. Und zwar natürlich unabhängig davon, ob sie förderlich oder abträglich wirken. Die Unabsichtlichkeit einer Komponente in B’s Verhalten sagt über deren Wert für A’s Gedeihen nichts aus. b) Spontane Stimmungs- oder Gefühlsäußerungen und Reaktionen: B’s Ausstrahlung ist optimistisch (oder pessimistisch); er umarmt (oder schlägt) A aus einem plötzlichen Impuls heraus; er blickt ermunternd (oder skeptisch); er reagiert in A’s Anwesenheit auf eine Nachricht freudig, mitfühlend, traurig, überrascht, empört usw. – Absicht kann hier noch nicht einmal eine Rolle spielen. Denn die Echtheit solchen Verhaltens schließt Vorsatz aus. (Gelegentlich hat B eine Verhaltenskomponente der hier dokumentierten Art – z. B. ›Ausstrahlung‹ – noch nicht einmal zu verantworten. Derartige Fälle sind hier natürlich nicht gemeint.) c) Diverse Verhaltensqualitäten: B geht entschlossen (oder unentschlossen) vor; er hört A aufmerksam (oder unaufmerksam) zu; er achtet (nicht) darauf, A in Gegenwart seiner Freunde nicht zu rügen; er reagiert auf A’s Situation gleichgültig (oder engagiert); er ist für A’s Anliegen zugänglich (oder unzugänglich). – Auch diese Qualitäten unterliegen häufig nicht der Intention des Handelnden, wohl aber – anders als z. B. schwache Nerven – seiner Verantwortlichkeit. Übrigens wären hier auch gewisse primär physische Verhaltensqualitäten als Beispiele anzuführen: Lautstärke der kritischen Äußerung, körperlicher Abstand u.a.m. d) Zeitliche und quantitative Dimension: B interveniert gerade jetzt (und damit rechtzeitig, zu spät, zu früh); er hört kurz (oder lange) zu; seine Präsenz in A’s Leben (13.7–8) ist (nicht) sehr ausgeprägt; er unterläßt es durchgängig, A sound-so zu behandeln; er tadelt, lobt, verbietet sehr häufig (oder nicht sehr häufig). – Die Beispiele sollen hier für ein Tun und Lassen stehen, das zwar absichtlich, vielleicht sogar in pädagogischer Absicht geschehen mag, dessen durchaus erziehungsrelevante zeitliche Position bzw. quantitative Ausprägung jedoch nicht intendiert ist. e) Unbeabsichtigte Auswirkung: B beleidigt in A’s Gegenwart den Ehepartner. – Auch unter erzieherischem Aspekt ist es zwar nicht gleichgültig, ob die Beleidigung beabsichtigt ist oder nicht. Worauf es aber im gegenwärtigen Kontext ankommt, ist dies: Auch die absichtliche Beleidigung betrifft ihrer Absicht nach nicht A (sondern einen anderen); unter dem Aspekt ihres potentiellen Einflusses auf A ist sie also (normalerweise) nicht beabsichtigt. Insofern gehört – wie auch
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anhand der Beispiele von (d) gezeigt – eine Menge intendierten Handelns zu den ›nicht-intentionalen Aspekten und Elementen des Erzieher-Verhaltens, die ein intentionalistisches Verständnis von Erziehung zu Unrecht ignoriert‹. f) Lebensweise und Lebensstil: B lebt in Luxus (oder asketisch); in B’s Haus sind Besucher jederzeit willkommen (oder höchst selten). – Hier geht es um Elemente und Aspekte der Lebensgestaltung des Erziehers, die sich (ähnlich wie im Beispiel von (e)) überhaupt nicht auf den Heranwachsenden beziehen, keiner erzieherischen Absicht entspringen und dennoch erzieherisch relevant sind. (Freilich kommen als nicht-intentionale Komponenten der Erziehung – im Unterschied zu bloßer Sozialisation – nur solche Faktoren von B’s Lebensweise und Lebensstil in Betracht, die ihm nicht unabänderlich vorgegeben sind.) g) Epistemische Hintergründe des Verhaltens: B vergißt (oder denkt an) A’s Geburtstag; er kann sich an A’s lobenswerte Bemühung (oder an A’s Mißverhalten) nicht erinnern; er nimmt Spuren des Kummers in A’s Gesicht (nicht) wahr. – Erinnerung, Vergessen, Wahrnehmung usw. werden zwar nicht selbst ›Verhalten‹ genannt. Sie sind jedoch für unbeabsichtigte Aspekte des Verhaltens verantwortlich, das sie bedingen. Vor allem aber manifestieren sie teilweise den Charakter des Subjekts und sind insoweit zwar unbeabsichtigt, aber freiwillig. Andererseits sind sie vielleicht, gerade weil sie erzieherisch bedeutsame Aspekte des Erzieher-Verhaltens bedingen, nicht selbst als erziehungskonstitutiv zu betrachten. Ich führe diese ›epistemischen Hintergründe‹ deshalb nur unter Vorbehalt als Argumente gegen das intentionalistische Erziehungsverständnis an. Vermutlich bestreitet niemand, daß die unter (a-f) beschriebenen Aspekte des Erzieher-Verhaltens existieren und den Charakter des Heranwachsenden günstig oder ungünstig beeinflussen können. Man könnte allenfalls darüber streiten, ob Gewicht und Ausmaß dieses Einflusses gemeinhin realistisch eingeschätzt und hinreichend berücksichtigt werden. Jedenfalls müssen gerade unbeabsichtigte, aber wirksame charakteristische Komponenten von B’s Verhalten als ausschlaggebende Faktoren für A’s Charakterbildung gelten. Allerdings geht meine Behauptung über diese Feststellung hinaus. Meiner These zufolge ist Erzieher-Verhalten der hier charakterisierten Art, wiewohl nicht beabsichtigt (oder nicht unter relevanten Aspekten beabsichtigt), doch Bestandteil von Erziehung; und die Qualität dieses Verhaltens ist konstitutiv für die Qualität der Erziehung. – Zur Verteidigung dieser Behauptung möchte ich folgendes zu bedenken geben. 1) Für die gegenteilige, intentionalistische Auffassung scheint es keine guten Gründe zu geben. Ein naheliegender, aber schlechter Grund wäre die Einordnung der Erziehung als Tätigkeit, die ich bereits kritisiert habe (4.1). Ein anderer liegt sicher in dem Gedanken: Ausschließlich für sein absichtliches Verhalten kann ein Mensch verantwortlich sein – und auch der Erzieher ist nur ein Mensch. Dieser Gedanke (genauer: seine erste Hälfte!) ist jedoch ein gedanken-
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loses Vorurteil. Verantwortung setzt Freiwilligkeit voraus, nicht Absicht – ich werde dies unter (3) noch etwas weiter ausführen. Im übrigen sind mir keine ernstzunehmenden Gründe bekannt, warum unbeabsichtigtes Erzieher-Verhalten von der unter (a-f) angeführten Art nicht mit demselben Recht wie beabsichtigtes Verhalten als Bestandteil der Erziehung gelten sollte. 2) In unserem vor-philosophischen und vor-erziehungswissenschaftlichen Verständnis von Erziehung haben unbeabsichtigte Aspekte und Elemente des Erzieher-Verhaltens zweifellos einen deutlichen Platz. B erzieht A nicht gut, wenn er beispielsweise auf dessen Freud und Leid nicht in der Regel mit unmittelbarer Anteilnahme reagiert; und erst recht, wenn er A mit seinem spontanen Verhalten andere Botschaften vermittelt als mit seinen überlegten Äußerungen. Die Beteuerung, seine Teilnahmslosigkeit bzw. das spontane Verhalten seien nicht beabsichtigt, ist für diese Beurteilung irrelevant. B mag sich in seinen erzieherisch gemeinten, ja, in allen seinen intendierten Worten, Handlungen und Unterlassungen noch so ausnahmslos vom Gedanken an das wahre Wohl von A leiten lassen: wirkt sich das Selbstverständliche, Unbedachte, Spontane und Ungeplante, das an seiner Lebensweise und seinem Verhalten aus ethischer Perspektive zu kritisieren ist, ungünstig auf A’s Charakter aus, so ist dies Selbstverständliche, Unbedachte usw. fraglos für die Erziehung und ihre Qualität (mit)bestimmend, und zwar offenkundig nicht etwa indirekt, sondern konstitutiv. Wäre dem nicht so – dürften wir also mit Brezinka und anderen Intentionalisten nur das zur Erziehung rechnen, was B mit Absicht (und gar noch in erzieherischer Absicht) tut – dann sollte im angenommenen Fall die Erziehung als gut oder jedenfalls nicht als schlecht gelten! Das widerspricht jedoch eindeutig dem tatsächlichen Gebrauch des Wortes ›Erziehung‹. (In der Wirklichkeit wird übrigens die angenommene extreme Diskrepanz zwischen Unbeabsichtigtem und Beabsichtigtem kaum vorkommen, da auf Dauer beides die gemeinsame Wurzel – den Charakter – verrät.) Angesichts dieses Befundes verbietet es sich für eine theoretische Reflexion des gewachsenen Erziehungsbegriffs, die unabsichtliche Einwirkung des Erziehers auf den Heranwachsenden durch unbeabsichtigtes Verhalten als erzieherisch irrelevant zu ignorieren und lediglich den sozialisierenden Faktoren zuzuordnen. Freilich weist B’s Verhalten in einem ganz trivialen Sinne auch unbeabsichtigte Komponenten auf, deren eventuelle Einwirkung auf A’s Charakter allenfalls als sozialisatorisch einzuordnen wäre (B lispelt, hinkt, ist taub oder kann bestimmte Speisen nicht essen). Auch Erfordernisse der Situation wären hier zu nennen (B muß extrem sparsam leben). Ähnliches gilt vielleicht, wenn auch wohl nur eingeschränkt, für Verhaltensaspekte, die unterbewußt gesteuert sind. Im übrigen aber ist eine intentionalistische Auffassung, die den Erziehungscharakter unbeabsichtigten Verhaltens leugnet, in der Sache willkürlich und nur als Anhänglichkeit an eine inzwischen alte, aber dadurch noch nicht ehrwürdige Theorie-Tradition zu werten, der zufolge Erziehung aus Erziehungsmaßnahmen o.ä. bestehen muß.
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3) Als Rettungsanker bietet sich dieser Tradition die These an, allein für sein absichtliches Verhalten könne der Erzieher verantwortlich sein. Nun ist es zwar richtig, daß ein Mensch spontane Reaktionen und sonstige unbeabsichtigte Komponenten seines Verhaltens nicht in der Weise unter Kontrolle hat, daß er in jedem Augenblick frei wäre, sie einzusetzen oder zu unterbinden. Daraus folgt jedoch keineswegs ihre Unfreiwilligkeit oder Unzurechenbarkeit. Das Unbeabsichtigte ist der Kontrolle des Subjekts und damit seiner Verantwortung keineswegs schlechthin entzogen. Solange wir einen Menschen überhaupt für sein Handeln verantwortlich machen, machen wir ihn eo ipso auch für die Formung seines Charakters wenigstens teilweise verantwortlich. Und mittelbar ist er damit auch für nicht beabsichtigte Verhaltenskomponenten verantwortlich, die seinen Charakter manifestieren – auch wenn sie zur Zeit ihres Auftretens seiner Kontrolle (weitgehend) entzogen sind. (Dieses Thema wird uns bei der Erörterung der ›erzieherischen Liebe‹ unter 13.5 (b) wieder begegnen.)
4.8
Erzieherische Zuständigkeit konstituiert die Kontinuität der Erziehung
Die Abschnitte 4.4–7 führen zu folgendem Ergebnis: Um zu entscheiden, ob A von B erzogen wird und worin dies gegebenenfalls besteht, darf man nicht ausschließlich das in den Blick nehmen, was B absichtlich tut; schon gar nicht ausschließlich das, was er in erzieherischer Absicht tut. Und wenn er sich von solchen Absichten, vielleicht sogar von einem Erziehungsziel leiten läßt, so beurteilen wir doch erzieherische Relevanz und erzieherische Qualität seines Tuns und Lassens, seines absichtlichen und seines bloß freiwilligen Verhaltens nicht nach Maßgabe jener Absichten, sondern danach, welcher Einfluß auf A’s inneres Heranwachsen und auf A’s Charakter von B’s Verhalten zu erwarten ist. Die Frage ›Was heißt Erziehen?‹ ist damit noch nicht beantwortet. Im Gegenteil, wir scheinen in eine Sackgasse geraten zu sein. Es lag vielleicht nahe, die Antwort in der Angabe von Zwecken und Mitteln zu suchen. Aber an welche Mittel soll man denken, wenn naheliegende Kategorien wie Tätigkeit, Handlung und Unterlassung zur Kennzeichnung der Erziehung nicht geeignet sind, weil sie deren Zeit-Struktur nicht gerecht werden? Wo sind die Zwecke zu suchen, nachdem sich herausgestellt hat, daß Erziehungsabsicht für die Erziehung gar nicht konstitutiv ist und daß über die Frage, was für sie konstitutiv ist, die erzieherische Absicht nicht entscheidet? Und wenn schließlich auch unabsichtliches Erzieher-Verhalten der Erziehung zuzurechnen ist, wie soll man dann überhaupt noch von Mitteln zu erzieherischen Zwecken sprechen: müssen Mittel und Wege nicht als solche – um nämlich im Dienst von Zwecken zu stehen – beabsichtigt sein? In dieser Sackgasse der Untersuchung ist es hilfreich, sich an einen unscheinbaren Aspekt des Themas zu erinnern: an B’s Zuständigkeit für A bzw. für A’s
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Erziehung (2.4). Die Erwartung, der Begriff der Zuständigkeit könne hier weiterhelfen, mag überraschen. Und selbstverständlich hält man mit ihm nicht etwa den Schlüssel zur Definition der Erziehung in der Hand. B’s Zuständigkeit ist ja ihrerseits durch das bestimmt, wofür er zuständig ist, nämlich: A zu erziehen. Also müssen wir bereits wissen, was Erziehung ist, um uns eine Vorstellung von erzieherischer Zuständigkeit zu bilden. Dennoch kann der Begriff der Zuständigkeit den weiteren Bemühungen um eine Klärung des Erziehungsbegriffs in mehr als einer Hinsicht die Richtung weisen. a) Dies gilt zunächst für die Frage nach der Kontinuität der Erziehung. Wenn Erziehungsabsicht für das Erziehen nicht konstitutiv ist, können wir in ihr auch nicht die Disposition erblicken, die für die Kontinuität der Erziehung sorgt. Sonstige erzieherische Absichten treten intermittierend (und im Plural) auf, sind also ebenfalls nicht kontinuitätsbildend. Auch andere Dispositionen wie Aufmerksamkeit und Bereitschaft können diese Rolle offenbar nicht spielen (4.3). Dagegen scheint Zuständigkeit genau die Art von Kontinuität zu bieten, die das Erziehen kennzeichnet. Ein bereits herangezogener Vergleich kann das klarmachen. Wir haben gesehen: Wer ein Schiff steuert, muß währenddessen nicht ständig mit ›Steuerungshandlungen‹ beschäftigt sein, und das Kaffeetrinken muß keine Unterbrechung des Steuerns bedeuten. Auch hier kann man fragen: Worin aber liegt dann die Kontinuität? Um diese Frage korrekt zu beantworten, tut man gut daran, zwei begriffliche Varianten des ›Steuerns‹ zu unterscheiden, die ich ›technisch-psychologisch‹ und ›ethisch‹ nennen will. Der technisch-psychologische Begriff des Steuerns bezieht sich ausschließlich auf Tun und Lassen nach den Regeln der (Steuermanns-)Kunst. Zum Steuern in diesem Sinne gehören auch relevante Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft, nicht aber Rechts- und Pflichtverhältnisse. Daß das Wort ›steuern‹ tatsächlich in diesem technisch-psychologischen Sinn Verwendung findet, ist offenkundig: X, dem eine Havarie zur Last gelegt wird, könnte zugeben, daß er zum kritischen Zeitpunkt, statt zu steuern, den Maschinisten besucht hat. Die Frage ›Wer hat zum kritischen Zeitpunkt gesteuert?‹ lautet dann: ›Niemand‹. Freilich werden wir diese Frage normalerweise anders verstehen. Wir werden nämlich im Kontext, den sie voraussetzt, den Begriff des Steuerns nicht in seiner technisch-psychologischen, sondern in seiner ethischen Variante erwarten. In dieser Variante bedeutet ›steuern‹ so viel wie: zuständig sein fürs Steuern im Sinne der anderen, technisch-psychologischen Begriffsvariante. Dieser ethische Begriff des Steuerns, den ich auch in 4.7 vorausgesetzt habe, ist beispielsweise da zu Hause, wo ermittelt werden soll, wer für einen Unfall verantwortlich war. In diesem Kontext kann X die Behauptung ›Du hast gesteuert‹ nicht dadurch entkräften, daß er erwidert: ›Stimmt nicht; ich habe nicht gesteuert, sondern statt dessen den Maschinisten besucht, so daß ich weder
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aufmerksam noch handlungsbereit sein konnte!‹ Diese Erwiderung ist deshalb unangebracht, weil der im Vorwurf intendierte ethische Begriff des Steuerns Aufmerksamkeit und Bereitschaft gerade nicht als faktisch gegeben, sondern (wenn überhaupt) als Erfordernisse, als Verpflichtungen impliziert. Die Kontinuität des Steuerns im technisch-psychologischen Sinne liegt tatsächlich in Aufmerksamkeit und Bereitschaft. So bedeutet deren Unterbrechung auch eine Unterbrechung des Steuerns. Hingegen gilt für die ethische Variante von ›steuern‹, grob gesprochen, daß X ein Schiff so lange steuert, wie er für dessen Kurs verantwortlich oder zuständig und daher (von legitimen Vertretungen, Ohnmachten, Piratenüberfällen usw. abgesehen) zum Steuern im technischpsychologischen Sinn – einschließlich Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft – verpflichtet ist. Der zuständige Kapitän kann gewissermaßen gar nicht umhin, (im ethischen Sinne) zu steuern. Ich behaupte nun, daß eine technisch-psychologische Variante des Erziehungsbegriffs in unserem Denken und Sprechen gar keinen Platz hat. Erziehung gibt es nur im Sinne eines ›ethischen Begriffs‹. Und deshalb sind Aufmerksamkeit und Bereitschaft für die Kontinuität des Erziehens nicht konstitutiv. Wenn B es an der erforderlichen Aufmerksamkeit auf A oder an der Bereitschaft fehlen läßt, angemessen auf A’s Situation zu reagieren, so hört B damit in keinem Sinne auf, A zu erziehen. Vom schlechten Erzieher sagen wir vielleicht, er sei gestern ins Spiel-Casino gegangen, statt sich seinen Kindern zu widmen, aber nicht: statt sie zu erziehen. (Dagegen: ›Der Steuermann hat den Maschinisten besucht, statt – im technischpsychologischen Sinn – zu steuern.‹) Werden wir aber vom schlechten Erzieher etwa sagen, er habe seine Kinder während des Casino-Besuches weiter-erzogen? – Keineswegs. Das liegt jedoch nicht daran, daß er eben doch für diese Zeit mit dem Erziehen aufgehört hätte. Vielmehr sind beide Wortverbindungen – ›die Erziehung fortsetzen‹ ebenso wie ›mit dem Erziehen aufhören‹ – im vorliegenden Zusammenhang Unsinn. Und dies liegt genau daran, daß, um mit Wittgenstein zu sprechen, die Grammatik der Erziehung nicht die Grammatik einer Tätigkeit ist. Diese Grammatik betrifft insbesondere auch die Verbindung einschlägiger Verbalkonstruktionen mit Zeit-Angaben. Im Fall von ›Erziehung‹ können solche Angaben Etappen des Lebens, nicht aber Veränderungen von Tag zu Tag betreffen. (Vgl. 4.1: ›B übernimmt A’s Erziehung für die Dauer von neun Jahren‹, aber nicht: ›für die Dauer von zwei Stunden‹.) Und daraus ergibt sich: Wenn wir fragen, worin Erziehung bestehe, kann das nicht die Frage sein, welche Art von Geschehen wohl den kontinuierlichen Zeitraum fülle, über den hinweg jemand erzogen wird. Die Kontinuität von A’s Erziehung durch B ist die Kontinuität von B’s erzieherischer Zuständigkeit für A. Und diese Zuständigkeit kann deshalb keine Angelegenheit von Stunden oder Tagen sein, weil die erzieherisch relevante Wirksamkeit des Erzieher-Verhaltens keine Angelegenheit von Stunden oder Tagen ist. (Man denke nur an die zeitlichen Dimensionen, in denen von Wie-
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derholung, Gewöhnung, Lernen, Ausnahme, Entwicklung, Rückfall usw. im Kontext der Erziehung sinnvoll die Rede sein kann.) Nicht physische oder psychische Gegebenheiten entscheiden darüber, ob B A erzieht. ›B erzieht A‹ beschreibt keine Tätigkeit. Wo der Satz überhaupt etwas bedeutet, besagt er so viel wie ›B ist A’s Erzieher‹. B erzieht also A für die Dauer, für die er für A’s Erziehung zuständig ist.62 Diese Zuständigkeit ist eine Frage von (moralischen) Rechten und Pflichten. Und deshalb – nicht, weil es um Charakterbildung geht – bezeichne ich Erziehung als ethischen Begriff. So viel zur Erklärung der zeitlichen Struktur von Erziehung durch Rekurs auf den Begriff der Zuständigkeit. Diese Erklärung legt den tieferen Grund dafür frei, daß sich Erziehung in den Kategorien von Tätigkeit, Handlung, Unterlassung, Bereitschaft und Absicht nicht angemessen deuten oder gar definieren läßt. Darüber hinaus jedoch gibt uns die Orientierung an der erzieherischen Zuständigkeit noch zwei weitere wichtige Hinweise. b) Zum einen ist die Idee der Zuständigkeit nicht von der Idee der Aufgabe zu trennen. Wer dafür zuständig ist, etwas Bestimmtes zu ›tun‹63, hat durch dieses Tun eine Aufgabe zu erfüllen, die das Tun finalisiert. Er kann daran gemessen werden, ob bzw. inwieweit sein Verhalten jenes Tun verwirklicht, ob bzw. inwieweit das Tun der aufgegebenen Finalität gerecht wird, und somit daran, wie gut er seine Aufgabe erfüllt. Im Falle der Erziehung hat das aufgegebene Tun dafür zu sorgen, daß aus einem Kind charakterlich ein Erwachsener wird. Der Begriff der Zuständigkeit erinnert uns also daran, daß Erziehung als solche, ihrem Begriff nach, finalisiert ist – nicht durch ein Ziel, das der Erzieher konzipiert hat und nun zu erreichen versucht, sondern durch eine Bestimmung, die von den Konzeptionen und Intentionen des Erziehers unabhängig ist; finalisiert nicht durch das, was der Erzieher will, sondern durch das, was Erziehung soll. Darin liegt der Grund dafür, daß das Verhalten des Erziehers, qua Erziehung, nicht daran gemessen wird, wie effektiv es erreicht, was er sich vorgenommen hat; sondern daran, wie geeignet es ist oder wie gut es ihm effektiv gelingt64, die Funktion zu erfüllen, die in die Definition der Erziehungsaufgabe eingeht. c) Nun ein letzter Hinweis, den der Blick auf die erzieherische Zuständigkeit suggeriert. Er betrifft die Frage, ob wir überhaupt nach Komponenten der Erzie62 Diese Aussagen bedürfen einer Einschränkung: B kann, obwohl zuständig, A so weitgehend oder so lange vernachlässigen, daß wir gar nicht von Erziehung, noch nicht einmal von schlechter Erziehung sprechen wollen. Allerdings ist moralische Verantwortlichkeit von tatsächlicher Wahrnehmung der Verantwortung wohl nicht völlig unabhängig (vgl. 2.3 (b) und 2.6 (a)). 63 ›Tun‹ steht hier für die Kategorie alles dessen, was – wie ›B erziehen‹ – eine Aufgabe bezeichnen kann. Der Ausdruck ist damit eine Art Variable für zahllose Tätigkeitswörter, die sich auf menschliche Subjekte beziehen lassen, ohne ihnen eine Tätigkeit zuzuschreiben (vgl. 4.1). 64 Inwiefern und warum wir Erzieher-Verhalten nach Gesichtspunkten der Eignung oder der Effektivität bewerten, wird sich noch (5.6–7) zeigen.
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hung fragen sollten – nach Elementen und Aspekten des Erzieher-Verhaltens, die Erziehung konstituieren. Wenn nämlich Erziehung ein ethischer Begriff ist und wenn ein Erziehungsverhältnis da besteht, wo einer dafür zuständig ist, einen anderen zu erziehen, dann meint ›B erzieht A‹ kaum etwas anderes als ›B ist für A’s Erziehung zuständig‹. Folglich bedeutet die Frage ›Worin besteht Erziehung?‹ ungefähr so viel wie: ›Was tut einer, der für die Erziehung eines anderen zuständig ist?‹. Und diese Frage provoziert die Reaktion: ›Das kommt sehr darauf an, ob er sich seiner Zuständigkeit entsprechend verhält!‹ Die Frage ›Was heißt Erziehen?‹ kann also womöglich gar nicht den Sinn einer Frage nach Komponenten der Erziehung haben. Was aber könnte ›Erziehen‹ heißen, wenn es nicht ein Tun bedeutet, das sozusagen den ›Tatbestand‹ der Erziehung erfüllt?
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Zweierlei Finalität Er wird gewahr, daß in diesen Handlungen selbst, wodurch der Mensch sich Nahrung und Bequemlichkeit verschafft hat, insofern sie aus gewissen Kräften eines Geistes entstehen, insofern sie diese Kräfte üben, ein höheres Gut liege als in den äußern Endzwecken selbst, die durch sie erreicht werden. Friedrich Schiller, Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen
Kapitel 4 hat Versuche vorgestellt und geprüft, Komponenten der Erziehung zu identifizieren. Diese Versuche konnten weder hinreichende noch (erwähnenswerte) notwendige Bedingungen des Erzieherischen dingfest machen. Erziehung läßt sich noch nicht einmal ihrem ›genus‹ nach als Tätigkeit bestimmen. Sie besteht nicht in Handlungen und Unterlassungen einer bestimmten Art. Auch durch eine spezifische Bereitschaft oder Aufmerksamkeit zeichnet sie sich nicht aus. Weder ein charakteristisches Ziel noch Mittel und Wege, es zu erreichen, muß jemand intendieren, um Erzieher zu sein. Allerdings haben diese Erörterungen zugleich ein paar Zusammenhänge bewußt gemacht, die für die weitere Untersuchung bedeutsam sind: a) Um zur Erziehung zu gehören, müssen Aspekte und Elemente des Erzieher-Verhaltens nicht intendiert, wohl aber freiwillig sein. b) Weder erzieherische Absicht noch irgendeine sonstige ›mentale Disposition‹, sondern Zuständigkeit bestimmt die Zeit-Struktur der Erziehung. c) Die Ergebnis-Dimension, die über erzieherische Relevanz entscheidet, und damit auch der Maßstab, nach dem die Qualität von A’s Erziehung durch B zu beurteilen ist, werden nicht durch Konzeptionen und Intentionen des Erziehers vorgegeben, sondern durch eine die Erziehung als solche finalisierende Funktion.
5 Zweierlei Finalität
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Diese Finalisierung ist das Thema des gegenwärtigen Kapitels. In 5.1 erläutere ich die für alles Weitere grundlegende Unterscheidung zwischen poiesis und praxis, um dann in 5.2 zu zeigen, daß Erziehung die bereits in 1.2–3 erwähnte Dualität aufweist: Erziehung ist einerseits – als poiesis – auf ein Erziehungsergebnis ausgerichtet; andererseits zeigt sie Züge einer praxis, insofern man ihre Qualität ergebnisneutral als Qualität des Erzieher-Handelns bestimmen kann. Was gemeinhin Erziehungsziel genannt wird, ist das poietische telos der Erziehung, das sich formal durch die Begriffe der Selbständigkeit und des guten Lebens bestimmen läßt (5.3). Allgemeine Beobachtungen zur Struktur teleologisch-normativer Begriffe (5.4) helfen die teleologische Analyse des Erziehungsbegriffs vertiefen (5.5). Es zeigt sich, daß die poietische Betrachtungsweise eine primäre, die praktische eine sekundäre Bewertung von Erziehung erlaubt (5.6). Als wichtige Voraussetzung dieser Analysen erweist sich die Tatsache, daß sich ein und dasselbe Tun grundsätzlich in beliebig vielen Hinsichten bewerten und deshalb in ebenso viele Kategorien einordnen läßt (5.7).
5.1
Teleologische Begriffe menschlichen Tuns fallen unter die Kategorien von poiesis oder praxis – je nach Art der konstitutiven Finalität des Tuns
Kapitel 4 hat, insbesondere unter 4.7 (a-g), gezeigt, daß zur Erziehung eine Reihe von Dingen gehören, die man nicht als erzieherische Maßnahmen bezeichnen kann, die in vielen Fällen A nur indirekt betreffen oder keinem bestimmten Zeitpunkt oder -abschnitt zuzuordnen sind und die ich als unbeabsichtigte aber charakterbedingte Aspekte des Erzieher-Verhaltens identifiziert habe. Erziehung läßt sich somit nicht auf einen durch erzieherische Absicht charakterisierten Sektor des Erzieher-Verhaltens ›eingrenzen‹. Sollen wir daraus etwa den Schluß ziehen, unter dem Aspekt der Zuständigkeit für A sei B’s ganzes Leben – wenigstens über eine lange Zeit hinweg – als Erziehung zu betrachten? Dieser Schluß wäre von der Wahrheit gar nicht weit entfernt. Denn bis zu A’s Mündigkeit geht nicht nur B’s ganzes Leben, insoweit er es zu verantworten hat, potentiell zugleich in A’s Erziehung ein. Darüber hinaus wird sich zeigen, daß Erziehung Züge selbstzwecklichen Tuns aufweist. Denn das eigentliche ›Mittel‹, das Medium der Erziehung ist das Handeln des Erziehers, d. h. sein Leben, insofern es unter ethischen Maßstäben steht und nicht durch ›von außen kommende‹ Zwecke finalisiert ist. Um die hier behaupteten Zusammenhänge aufweisen zu können, greife ich auf eine handlungsphilosophisch äußerst fruchtbare Unterscheidung zurück, die Aristoteles in Buch VI der Nikomachischen Ethik trifft. Diese Unterscheidung
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habe ich in Abschnitt 1.1 provisorisch erläutert. Eine ausführlichere Erklärung soll nun folgen.65 a) Unter die Bezeichnung ›poiesis‹ (wörtlich: ›Machung‹) fällt jede Art von zweckgerichteter Hervorbringung oder Bearbeitung, Produktion oder Modifikation. ›Praxis‹ bedeutet im Altgriechischen normalerweise so viel wie Handlung. Aristoteles gibt dem Wort jedoch ausdrücklich eine engere Bedeutung, die sich nicht leicht durch eine suggestive deutsche Übersetzung kennzeichnen läßt. Wie bereits in 1.1 erläutert, werde ich praxis in dieser Bedeutung vorläufig mit Handeln identifizieren. Entscheidend ist für die ›aristotelische‹ praxis, daß sie ihren Sinn und Zweck nicht in einer über sie hinausgehenden Leistung, sondern gewissermaßen ›in sich selbst‹ findet. Was das allerdings heißt, muß noch geklärt werden.66 Praxis und poiesis sind teleologische Begriffe. Genauer gesagt: Fast alle Begriffe menschlichen Tuns sind, ihrer teleologischen Struktur entsprechend, in die Kategorie der praxis oder in die der poiesis einzuordnen. Der fundamentale Unterschied zwischen einer poiesis und einer praxis liegt in ihrem Verhältnis zum jeweiligen inhärenten, d.h. konstitutiven telos. Dieses telos ist für Aristoteles in beiden Fällen ein ergon: etwas, das man als Subjekt dieser poiesis bzw. dieser praxis typischerweise ›leistet‹.67 Doch unterscheiden sich die jeweiligen Leistungen grundlegend voneinander. Im Falle jeglicher poiesis (einer jeden poiesis-Form) ist das ergon ein für diese poiesis charakteristisches Produkt, genauer: das von der Herstellung selbst klar unterscheidbare Bestehen einer Sache oder einer Situation. (Die Arbeit des Schneiders resultiert charakteristischerweise darin, daß ein neues Kleid vorhanden oder 65 Dabei geht es mir nicht um Einzelheiten einer genauen Exegese der einschlägigen Texte, insbes. EN VI 4, 1140a1 – 5, 1140b30. (Vgl. hierzu Metaphysik Theta 6 sowie relevante Kommentare: Ackrill 1965; Charles 1986; Kenny 1963, Kapitel 8; Müller 1982, S. 176– 230; Penner 1970.) Meine Absicht ist vielmehr, eine hilfreiche handlungstheoretische Begrifflichkeit vorzustellen und weiter zu entwickeln, mit der sich Themen der praktischen Philosophie wie ›Erziehung‹ fruchtbar bearbeiten lassen. Dabei interessieren mich auch Implikationen der Begriffe praxis und poiesis, die Aristoteles allenfalls andeutet, und Modifizierungen des Anwendungsbereichs, den er selber vorzusehen scheint. Ich lasse mich vor allem von zwei Stellen anregen: EN VI 2, 1139a35–b4 und 5, 1140b6f. Beide kennzeichnen die Finalität der praxis dadurch, daß ihr telos nichts anderes ist als eupraxia, gute praxis. Diesen Aspekt vernachlässigt übrigens David Charles (1986, S. 135– 139), so daß er das Resultat einer praxis in ihr Vollzogenwerden oder -sein verlegt – eine geniale, aber anfechtbare Lösung der Probleme des Verhältnisses zwischen poiesis und praxis. 66 Häufig wird der aristotelische Begriff der praxis mißverstanden. Man wird seiner eigentümlichen teleologischen Struktur u. a. deshalb nicht gerecht, weil man sich an unpassenden Beispielen wie Spaziergang oder Musizieren orientiert. Vgl. Müller 1982, S. 218–221. 67 Hier ist natürlich nur von menschlicher poiesis und praxis die Rede. (Aristoteles wendet diese Kategorien in einem weiteren Sinn auch auf nicht-menschliche Subjekte an.) Ob alles charakteristisch menschliche Tun unter wenigstens eine dieser Kategorien gebracht werden kann, ist fraglich und soll an dieser Stelle offen bleiben.
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ein altes verändert ist; darin liegt das ergon eines Schneiders.) Hingegen ist eine praxis (der Vollzug einer praxis-Form) in gewissem Sinne Selbstzweck: ihr telos ist ›eupraxia‹ – das Gelingen ebendieser praxis. (Was ein Mensch durch Handeln ›leistet‹, wäre demnach nichts anderes als gutes, richtiges Handeln, also vielleicht eine ethisch qualifizierte Lebensweise; sie ist nach Aristoteles jedenfalls eine Form der charakteristischen ›Leistung des Menschen‹: EN I 7, 1097b24f. und 1098a3–18.) Von einer abgeschlossenen poiesis kann man sagen, ob sie gelungen ist oder nicht. Zu diesem Zweck muß man das Kriterium ihres Gelingens kennen, und dazu wiederum muß man wissen, worin ihr telos besteht. Dieses Wissen tritt jedoch zur Kenntnis des poiesis-Begriffs nicht etwa hinzu. Vielmehr weiß ich, was man durch eine gegebene poiesis leisten soll, sobald ich weiß, mit welcher Art von poiesis ich es zu tun habe. (Was Schneidern ist, weiß ich nur, wenn ich weiß, daß diese poiesis Kleider hervorbringt oder ändert.) Eben aufgrund der Tatsache, daß ein poiesis-Begriff den Begriff des jeweiligen telos bzw. ergon einschließt, ist er ein teleologischer Begriff. Analoges gilt von einer praxis und ihrer Finalität. Auch ihr Begriff ist durch ihre Ausrichtung auf ein spezifisches telos bzw. ergon, die eupraxia, mitbestimmt. Hier jedoch beginnen auch die Unterschiede zwischen den Strukturen poietischer und praktischer Begriffe. Mit einer praxis-Form steht nicht nur das zugehörige telos fest: sie ist auch ihrerseits durch ein telos eindeutig bestimmt. Das ist bei der poiesis anders. Aristoteles äußert sich hierzu nicht. Es ist aber klar, daß z. B. ein Kleid, das von Hand geschneidert wurde, statt dessen durch Bedienung einer Maschine zustande kommen könnte, während gutes Handeln durch nichts anderes als Handeln möglich ist. Der tiefere Unterschied liegt allerdings darin, daß ein poietisches ergon ›etwas anderes‹ als die poiesis selber, d. h. begrifflich von ihr und sogar von jeglichem Zustandekommen ablösbar, isolierbar ist, während Entsprechendes vom praktischen ergon nicht gilt. (Vgl. EN II 4, 1105a26–b2 und VI 5, 1140b6f. sowie die Punkte (1–3) unter (b) und (c) weiter unten.) Die Isolierbarkeit des poietischen ergon hat im übrigen zur Folge, daß man den Zweck einer poiesis erreichen kann, indem man die poiesis selbst einem anderen überläßt. Dagegen kann man gutes Handeln, das telos des Handelns, nicht ›in Auftrag geben‹. (Vgl. (5–6) unter (b) und (c).) Da jede poiesis auf ein Produkt ausgerichtet ist, das (sofern es zustande kommt) erst von einem bestimmten Zeitpunkt an komplett existiert, ist sie dann und erst dann abgeschlossen, wenn das ergon zu sein beginnt. Wer dagegen z. B. gut handelt, tut dies eben dann, wenn er handelt. (Daher (b4) und (c4); vgl. EN X 4, 1174a14–23 und Ackrill 1965.) Im übrigen ist alles menschliche Tun und Lassen letzten Endes auf eupraxia ausgerichtet, die ihrerseits keiner weiteren Finalität unterliegt. Das telos einer poiesis kann also grundsätzlich nur ein relatives und vorläufiges sein und wird vernünftigerweise nur als solches geschätzt. (Daher (b7–8) und (c7–8); vgl. EN VI 2, 1139b1–4.)
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Schließlich hängt das Zustandekommen einer poiesis, wenigstens im allgemeinen, davon ab, daß ihr Subjekt ihr telos intendiert: kein Schneidern ohne die Absicht, dadurch ein Kleidungsstück zu verändern oder entstehen zu lassen (vgl. (c9)). Ob man dagegen handelt, hängt nicht davon ab, ob man gut handeln will (vgl. (b9)). Um die hier unterschiedenen Aspekte von praxis und poiesis überschaubar zu machen und in späteren Erörterungen bequem auf sie Bezug nehmen zu können, will ich sie zum Abschluß dieses Abschnittes noch einmal auflisten. Sinn und Relevanz der einzelnen Kennzeichnungen werden im Verlauf der Untersuchung noch deutlicher werden. Einstweilen müssen speziell die Formulierungen der Punkte 5 und 7–9 als provisorisch gelten. Erstens deshalb, weil ich praxis nur vorläufig mit Handeln identifiziere. Zweitens werde ich die Geltung bestimmter Bedingungen später einschränken, um die Kategorien poiesis und praxis für die geplanten handlungsphilosophischen Analysen einsetzen zu können. b) Das telos einer praxis ist 1) seinem Begriff nach nur durch diese praxis, ineins mit ihr, zu verwirklichen (nur handelnd kann ich gut handeln); 2) daher zu deren begrifflicher Kennzeichnung hinreichend (was Handeln ist, weiß ich, wenn ich das ergon des Menschen kenne); 3) aus demselben Grund nur als telos dieser praxis identifizierbar, bewertbar und überhaupt denkbar; 4) mit der praxis zeitgleich realisierbar; 5) qua gelungene praxis auch selber praxis; 6) mit ›Übertragung‹ des ergon unvereinbar (was ich durch praxis, sofern sie gelingt, für mich ›leiste‹ – gutes Handeln – das kann ich für keine andere Person leisten); 7) (im Fall des Handelns) um seiner selbst willen geschätzt; 8) (im Fall des Handelns) weiterer, insbesondere poietischer Finalisierung nicht zugänglich (von gutem Handeln kann keine Rede sein, wenn ich ›gut handle‹, um dadurch irgend etwas anderes zu erreichen); 9) auch ohne intendiert zu sein, für konkrete praxis konstitutiv (auch wenn ich nicht gut handeln will, handle ich). c) Hingegen ist das telos einer poiesis 1) als unabhängig von dieser poiesis verwirklicht denkbar (›begrifflich isolierbar‹) und daher im Prinzip auch durch alternative poiesis erreichbar oder gar als Naturprodukt möglich (das Bestehen eines Kleides ist nicht seinem Begriff nach darauf angewiesen, daß dieses Kleid geschneidert worden ist); 2) daher zur begrifflichen Kennzeichnung der poiesis nicht hinreichend (was Schneidern ist, weiß ich noch nicht, wenn ich das ergon des Schneiders kenne);
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3) aus demselben Grund nicht nur als telos dieser poiesis (oder irgendeiner anderen poiesis) identifizierbar, bewertbar und denkbar; 4) erst nach Abschluß der poiesis (wenn überhaupt) realisiert; 5) nicht mit der gelungenen poiesis identisch und seiner Kategorie nach grundsätzlich weder poiesis noch praxis; 6) mit ›Übertragung‹ des ergon vereinbar (was ich durch poiesis, sofern sie gelingt, für mich ›leiste‹ – die Verfügbarkeit eines neuen Kleides z. B. – das kann ich ebenso für eine andere Person leisten; 7) vernünftigerweise nicht um seiner selbst willen geschätzt; 8) seinerseits poietisch oder praktisch finalisiert (ich schneide Stoff zurecht, um daraus ein Kleid zu schneidern, ich schneidere ein Kleid, damit es getragen wird); 9) nur, wo als telos intendiert, für eine konkrete poiesis konstitutiv (nur wo ich etwas zu schneidern beabsichtige, schneidere ich).
5.2
Erziehung läßt sich weder allein als praxis noch allein als poiesis verstehen
Was heißt es nun, Erziehung einerseits als praxis, andererseits als poiesis einzuordnen? Die Einordnung in die Kategorie der praxis läuft etwa auf folgende Erklärung hinaus: B erzieht A, insofern sein Tun zwei Bedingungen genügt. 1) Es ist, als praxis, durch ein entsprechend praktisches, also ›selbstzweckliches‹ telos finalisiert. 2) Durch Realisierung bzw. Nicht-Realisierung dieses telos wirkt B’s Tun auf A’s Entwicklung ein. Solange man die fragliche praxis als Handeln identifiziert, bedeutet (1): Erzieherische eupraxia (das praktische ergon des Erziehers und telos des Erziehens) ist nichts anderes als gutes Handeln, eine ethisch qualifizierte Lebensweise, in der Situation und Rolle des Erziehers (also ergon des Menschen und telos des Handelns für einen Erzieher). Damit ist in aristotelischer Terminologie eine Variante des in 5.1 erwogenen Gedankens formuliert, vielleicht sei B’s ganzes Leben als Erziehung zu betrachten. Wie plausibel ist diese Einordnung des Erziehens als praxis? Auf jeden Fall ist sie einem naheliegenden und fundamentalen Einwand ausgesetzt, der da lautet: Das, worauf es in der Erziehung vor allem ankommt, nämlich A’s Erzogen-Sein, kommt hier überhaupt nicht als ergon des Erziehers vor. Es tritt allenfalls als Nebenwirkung, nicht aber als das telos auf, das Erziehung finalisiert – als das, was ein Erzieher als solcher zu leisten hat. Es mag ja zutreffen, daß ein guter Erzieher einer ist, der gut handelt; so daß gutes Erziehen, als gutes Handeln betrachtet, sein praktisches ergon ist und die in 5.1 (b) artikulierten Bedingungen eines praktischen telos erfüllt. Aber damit – so der Einwand – sind doch das telos erzieherischen Handelns und die Teleologie des Erziehungsbegriffs noch nicht beschrieben!
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Muß Erziehung also nicht doch als poiesis verstanden werden? Schließlich ist sie ihrem Begriff nach darauf ausgerichtet, aus dem Kind einen gut erzogenen Menschen zu machen, also auf so etwas wie ein Produkt! Eine poietische Erklärung des Erziehungsbegriffs liefe etwa auf folgendes hinaus: B erzieht A, indem er etwas tut, das seiner Natur nach auf ein poietisches telos ausgerichtet ist, das er erreichen will, nämlich auf A’s Gut-erzogenSein – worin auch immer diese Verfassung näherhin bestehen mag. Das solchermaßen ganz formal identifizierte Erziehungsziel werde ich auch als ZielVerfassung des Heranwachsenden oder einfach als dessen Erzogen-Sein oder Erzogenheit bezeichnen. Es stellt, sofern Erziehung eine poiesis ist, das ergon des Erziehers dar. Die unter 5.1 (c) artikulierten teleologischen Merkmale einer poiesis scheinen hier vorzuliegen: Der Ausdruck ›Erzogen-Sein‹ nimmt zwar seinem Sinn nach auf die Erziehung Bezug, durch die das gemeinte ergon erreicht werden soll; doch läßt sich die Genese der gemeinten Verfassung auch anders denken (Merkmale 1 und 2). Daher können wir das Erzogen-Sein durchaus mit Hilfe von Begriffen wie Erwachsensein, Selbständigkeit, Ziel-Verfassung charakterisieren, die keinerlei Bezug darauf nehmen, wie es zustande kommt (Punkt 3). A’s Ziel-Verfassung wird (wenn überhaupt) erst mit Abschluß der Erziehung erreicht; sie besteht nicht (wie sein Erzogen-Werden) zeitgleich mit dem Erziehen (Punkt 4). Das Bestehen dieser Ziel-Verfassung stellt ein telos dar, das sich von der gelungenen Erziehung selbst unterscheiden läßt (Punkt 5). Sofern der Erzieher durch ein gutes Erziehungsergebnis überhaupt etwas ›leistet‹, tut er dies ›für andere‹ nicht weniger als ›für sich selbst‹; in diesem Sinne ist sein ergon ›übertragbar‹ (Punkt 6 – vgl. 9.1). Auch lassen sich Argumente für die Auffassung vorbringen, daß A’s Ziel-Verfassung nicht um ihrer selbst willen erstrebt wird, sondern durch ihre Funktion im Leben des Erzogenen und seiner Mitmenschen finalisiert ist (7–8).68 Indessen kann auch ein rein poietisches Verständnis der Erziehung nicht überzeugen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die ich in den Kapiteln 10 und 11 ausführlicher diskutieren, hier aber wenigstens benennen will. Erstens hat Kapitel 4 gezeigt, daß sich das Erziehen nicht wie etwa Schneidern, Kochen oder Scherenschleifen auf intendierte Handlungen reduzieren läßt, die geeignet wären, das charakteristische Produkt hervorzubringen. Maßnahmen machen allenfalls einen Teil der Erziehung aus. Der Erzieher bedient sich keines ›Herstellungsverfahrens‹, um die ›Erziehungsleistung‹ zu erbringen. Damit hängt eine zweite Schwierigkeit zusammen: Wir wissen nichts von Maßnahmen oder sonstigen ›Erziehungsmitteln‹, die mit der Zuverlässigkeit zum Ziel führen, mit der die korrekte Anwendung poietischer Verfahren typischerweise das entsprechende Ergebnis herbeiführt. Drittens verlangt eine poiesis vom Subjekt die Intention und daher die Konzeption seines ergon (5.1 (c9)). Erziehung hingegen ist auf Konzeption und 68 Diese Auffassung wird in 9.1 expliziert und gestützt, in 9.2 jedoch relativiert.
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Intention eines Erziehungsziels nicht angewiesen; sie besteht nicht – oder wenigstens nicht notwendig – darin, daß B eine solche Konzeption in A zu realisieren versucht. Auch erzieht B nicht nur, wo er zu erziehen beabsichtigt. Mit einem Wort: Merkmal 9 eines poietischen telos trifft auf das Erziehungsziel nicht zu. Schließlich ist uns, viertens, nicht wohl dabei, die Sprache der Produktion auf Erziehung anzuwenden. Dieses Unbehagen könnte man freilich als analytisch irrelevante Sentimentalität abtun. Im gegenwärtigen Fall jedoch läßt es Gründe gegen das poietische Modell vermuten: Gründe, die damit zu tun haben, daß der Erzieher kein beliebiges Material bearbeitet, sondern auf Menschen einwirkt. Alle vier Gesichtspunkte deuten darauf hin, daß Erziehung ›zu wenig Technik‹ ist, um als eindeutiger Fall von poiesis zu gelten. Zu einer Technik scheinen nämlich gerade Faktoren wie diese zu gehören: klare Produkt-Konzeption und entsprechende Intention des Produzenten; Materialien, die nicht als Handlungssubjekte begegnen, sondern nach Naturgesetzen auf Einwirkung reagieren; ein mehr oder weniger unfehlbares Verfahren auf der Grundlage von Kenntnissen ursächlicher Zusammenhänge; verfahrensgerechte Schritte, Handgriffe, Maßnahmen, deren Ausführung intendiert ist. Um die Distanz der Erziehung zu typisch poietischem Tun zu bezeichnen, werde ich deshalb sagen, sie sei keine technische poiesis. Das Ergebnis dieses Abschnitts: Erziehung widersetzt sich einem rein poietischen ebenso wie einem rein praktischen Verständnis. Dies könnte freilich bedeuten, daß die Kategorien von poiesis und praxis gleichermaßen ungeeignet sind, die Phänomene der Erziehung ›auf den Begriff zu bringen‹. Andererseits wendet uns das Erziehen tatsächlich, je nach Perspektive, zwei Gesichter zu: ein poietisches, wenn wir auf seine Funktion blicken, und ein praktisches, wenn wir bei der Suche nach konstitutiven Vollzügen auf nichts Spezifischeres stoßen als – grob gesprochen – das Handeln des Erziehers. Ich werde daher die Frage, wie sich in der Erziehung poietische und praktische Aspekte zueinander verhalten, weiterhin als Leitfaden der Untersuchung benützen.
5.3
Zum Begriff der Erziehung gehört die Vorstellung eines von Absichten unabhängigen formalen Erziehungsziels
Poiesis und praxis unterscheiden sich durch ihren Bezug auf das jeweilige telos. Wenn irgend etwas als Erziehungsziel bezeichnet werden kann, so ist das ergon des Erziehers sicher poietischer, nicht praktischer Natur. Offenbar geht es der Erziehung um ein Ergebnis, das nicht im guten Erziehen selbst – und letztlich auch nicht im Gut-erzogen-Werden des Heranwachsenden – besteht, sondern in dessen Erzogen-Sein. Wenn ich sage, hierum gehe es ›der Erziehung‹, so ist diese Ausdrucksweise erläuterungsbedürftig. Sie soll nicht die Absicht des Erziehers kennzeichnen.
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Denn erstens habe ich in Abschnitt 4.6 darauf hingewiesen, daß die Absicht, eine pädagogische Ziel-Konzeption zu realisieren, für Erziehung nicht konstitutiv ist. Zweitens aber – und das ist noch wichtiger – wäre das vom Erzieher intendierte Ziel auch gar nicht unbedingt deckungsgleich mit seinem ergon. Dieses ergon, das poietische telos der Erziehung, ist vielmehr ›Ziel‹ in einem Sinne, der die Absicht des Erziehers weder ein- noch ausschließt. Als Erziehungsziel ist es sozusagen Ziel der Erziehung, nicht des Erziehers. Und zwar nicht nur im Kontext einer allgemeinen Kennzeichnung von Erziehung, sondern auch – das wird noch zu belegen sein – wo ein konkreter Fall von Erziehung zur Debatte steht. Am besten kennzeichnet man daher das ›Erziehungsziel‹ als telos, nicht als Ziel. In der klassischen griechischen Philosophie impliziert der Ausdruck ›telos‹ nämlich nicht unbedingt Intention (vgl. 5.4 (d)). Auch bei Aristoteles ist das telos einer poiesis oder einer praxis, auch im konkreten Fall, zunächst einmal mit der Funktion gegeben, durch welche sich diese Art von poiesis bzw. praxis auszeichnet, nicht mit der Intention des Subjekts. Sofern es nun ein poietisches ›Erziehungsziel‹ gibt, ist es ein telos primär im Sinne von Funktion der Erziehung, nicht von Intention des Erziehers (vgl. 4.6 und 4.8 (b)). Doch sollte diese Beobachtung nicht darüber hinwegtäuschen, daß es keineswegs selbstverständlich ist, Erziehung überhaupt als poiesis einzuordnen. Im paradigmatischen Fall nämlich stimmen Funktion des Produzierens und Absicht des Produzenten überein. Die Leistung, die einer poiesis als deren telos inhärent ist, wird in der Betätigung dieser poiesis zugleich intendiert. Das Kleidungsstück ist nicht nur charakteristisches ergon des Schneiderhandwerks und des Schneiders; vielmehr geht es notwendig auch in dessen Absicht ein. Wer die Existenz des fertigen Kleidungsstücks nicht als Ziel intendiert, von dem kann man nicht sagen, er sei am Schneidern – auch wenn er gerade wie ein Schneider mit Stoff und Schere hantiert. Analoges läßt sich, wie wir gesehen haben, im Fall der Erziehung gerade nicht behaupten. Darin deutet sich bereits eine weitere Besonderheit der Erziehung an. Die Intention eines Zieles manifestiert sich nämlich in seiner Verfolgung; und das heißt: im Einsatz der Kompetenz, eine zielführende poiesis auszuüben. Ist nun das Erziehungsziel eine Angelegenheit der Funktion und nicht der Intention, so scheint auch die Notwendigkeit zu entfallen, dieses Ziel durch Betätigen einer Kompetenz zu verfolgen (vgl. 10.1–2). Wenn wir also Erziehung als poiesis gelten lassen, so liegt darin der Entschluß, die durch 5.1 (c9) charakterisierte Bedeutung dieser Kategorie zu erweitern. Dieser Erweiterung muß dann eine weite Verwendung des Wortes ›Ziel‹ entgegenkommen. Denn wenn ›Erziehungsziel‹ eine brauchbare Bedeutung haben soll, muß man dieses Wort von der Assoziation erzieherischer Intention befreien. Das Erziehungsziel – das telos, um das es ›der Erziehung‹ geht – ist ein (poietisches) telos, durch das Erziehung ihrem Begriff nach, unabhängig von Erziehungsabsichten, finalisiert ist; das also, was Erziehung erreichen muß, um gute Erziehung zu sein.
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Eine gewisse Vorstellung vom Erziehungsziel muß man demnach zwar nicht haben, um jemand zu erziehen, wohl aber, um kompetent über Erziehung reden zu können. – Mancher Leser mag diese Formulierung entweder für ein Versehen oder für eine Provokation halten: Ist nicht umgekehrt eine Zielvorstellung vonnöten, wenn man erzieht, nicht aber, wenn man über Erziehung bloß reden will? Dazu folgendes. a) Den ersten Teil der Behauptung – die Entbehrlichkeit der Erziehungsabsicht – habe ich schon verteidigt (4.6). Allerdings habe ich inzwischen auch darauf hingewiesen, daß sich daraus ein Problem für die Einordnung der Erziehung als poiesis ergibt: für die konkrete Verwirklichung einer typischen poiesis ist die auf deren telos gerichtete Absicht des Subjekts konstitutiv. Eine Variante dieses Problems kann man so formulieren: Worin erweist sich die poietische Finalität konkreter Erziehung, wenn nicht in einem Verhalten des Erziehers, das seine Erziehungsabsicht manifestiert? Zur Erläuterung der Schwierigkeit möge man einen Vergleich erlauben. Um herauszufinden, ob jemand damit beschäftigt ist, einen Weberknoten zu schlingen, muß ich herausfinden, ›was er sich dabei denkt‹. Zu diesem Zweck kann ich seine Handgriffe beobachten, die wahrnehmbaren Umstände des Geschehens berücksichtigen, abwarten, was dabei herauskommt, oder / und ihn – last not least – nach seiner Absicht fragen. Hingegen erhalte ich kaum durch vergleichbares Vorgehen Aufschluß darüber, ob das, was B tut, als Erziehung einzuordnen ist. Insbesondere reicht auch seine wahrheitsgemäße Auskunft über die eigenen Absichten nicht aus.69 Denn erstens vermag diese Auskunft vielleicht gar keine Erziehungsabsicht zu spezifizieren, weil der Gefragte, obwohl tatsächlich Erzieher, keine artikulierbare Vorstellung davon hat, was aus seinem jugendlichen Gegenüber werden soll, oder weil er, als ›unbewußter Erzieher‹ (4.6), noch nicht einmal den Begriff der Erziehung hat. Zweitens könnte die Auskunft eines Erziehers ein Ziel nennen, das zwar tatsächlich seine Absicht, aber keineswegs das ist, was seinen Umgang mit diesem oder jenem Kind zur Erziehung macht. (Zum Beispiel ist Heathcliffs Umgang mit seinem eigenen Sohn in Emily Bronte¨s Wuthering Heights erklärtermaßen von der Absicht bestimmt, ihn als Instrument der Rache einzusetzen.) Und drittens könnte jemand wahrheitsgemäß die Absicht bekunden, einem bestimmten Kind zu charakterlicher Selbständigkeit zu verhelfen, ohne daß diese Absicht das, was er tut, zur Erziehung machen würde: vielleicht ist er noch nicht einmal der Erzieher dieses Kindes! Worin also erweist sich im konkreten Fall, daß die poietische Finalität des Erziehens vorliegt? Diese Frage ist nur eine Variante der Frage: Woran erkennt 69 Ich übergehe hier eine Schwierigkeit, die ich in Kapitel 4 aufgewiesen habe: Auf welche Komponenten seines Verhaltens soll ich mich eigentlich beziehen und auf welche nicht, wenn ich ihn frage: »Welche Absicht verfolgst du damit?«
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man Erziehung? Und die Antwort darauf lautet: Y’s mehr oder weniger kontinuierlicher faktischer Umgang mit X im Kontext erzieherischer Zuständigkeit ist notwendige und hinreichende Bedingung dafür, daß X von Y erzogen wird. Die Teleologie des Erziehungsbegriffs ist hier in den Begriff der Zuständigkeit verpackt. Denn B’s Zuständigkeit für A spezifiziert man, indem man angibt, was bei A erreicht werden soll und was B unter dieser Rücksicht zu tun und zu lassen hat. Ob also Y’s Umgang mit X von erzieherischer Finalität bestimmt ist, entscheidet sich nicht an seinen Absichten, nicht daran, was er will; sondern daran, ob er das-und-das auf die-und-die Weise bei X erreichen soll. ›Das-und-das‹ steht hier für die Angabe eines Erziehungsziels – aber nicht für die Angabe einer Erziehungsabsicht. B’s Absicht entscheidet also nicht über die poietische Finalität, die sein Tun zum Erziehen macht. Und daher besteht auch kein Grund zu meinen, um A zu erziehen, benötige B die Vorstellung von einer Ziel-Verfassung, an der sich Erziehung zu orientieren habe. b) Nun zu meiner Behauptung, eine solche Vorstellung benötige man hingegen, um zu erfassen, was Erziehung ist. Sie dürfte auf folgendes Bedenken stoßen: Weder Erzieher noch Erziehungswissenschaftler sind sich über das Ziel von Erziehung einig. Aus dieser Uneinigkeit kann man aber nicht schließen, sie hätten unterschiedliche Begriffe von Erziehung: in der Frage, was Erziehung sei, können sie sich durchaus einig sein, auch wenn sie darüber streiten, wozu sie da sei. Also ist es nicht wahr, daß man eine Vorstellung vom Erziehungsziel haben muß, ›um zu erfassen, was Erziehung ist‹. Diesem Argument kann man durchaus zustimmen. Nur folgt nicht, daß der Begriff der Erziehung in keinem Sinne ein telos impliziert, um das man wissen muß, um zu erfassen, was Erziehung ist. Denn der Ausdruck ›eine Vorstellung vom Erziehungsziel haben‹ ist zweideutig. Dieses Ziel kann man nämlich entweder formal oder material, d. h. inhaltlich, bestimmen. Was diese Unterscheidung hier bedeutet, mag ein Vergleich zeigen: Wir verstehen nicht, was Flucht ist, ohne um ihr telos zu wissen. Das heißt aber selbstverständlich nicht, wir müßten z. B. wissen, an welchen Ort Hyänen fliehen (oder gar: wohin sie unter gegebenen Umständen fliehen), um den Ausdruck ›Flucht einer Hyäne‹ zu verstehen. Ihr ›materiales Fluchtziel‹ müssen wir dazu nicht kennen. Wohl aber benötigen wir das formale Verständnis von ›Fluchtziel‹ als: Situation relativer Sicherheit vor Verfolgung. Dieses Verständnis impliziert der Begriff der Flucht. Ebenso benötigen wir, um zu verstehen, was Erziehung ist, keine materiale, wohl aber eine formale Vorstellung ihres Zieles. Wir müssen nicht wissen, ob sie (in einem gegebenen Kontext) den perfekten gentleman, den einsatzbereiten Klassenkämpfer, den angepaßten Bürger oder was auch immer hervorbringen soll, sondern nur – ja, was müssen wir eigentlich wissen? Offenbar macht es uns die Erziehung nicht ganz so leicht wie die Flucht, ihr formales Ziel anzugeben. Aber in Umrissen wissen wir ganz gut, worin Erzo-
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genheit besteht: in einer späteren Verfassung des jetzt zu Erziehenden, die ihn als Erwachsenen70 dazu disponieren wird, selbständig gut zu leben. Reflexion bestätigt diese Vorstellung. Denn zweifellos ist Erziehung ihrem telos nach Verbesserung. Oder vielleicht, genauer: Qualitätssicherung. Nehmen wir nämlich – etwas optimistisch – an, die vom 9–jährigen A soeben erreichte Verfassung bedürfe keiner korrigierenden Einflußnahme. Dann wäre weitere Erziehung dennoch nicht überflüssig. Denn sogar von einer völlig zufriedenstellenden Situation aus sind nicht nur gute, sondern auch schlechte Entwicklungsrichtungen möglich (und die Aufgabe, diese zweite Möglichkeit zu verhindern, ist nicht Sache des Kindes allein). Erziehung wäre demnach in diesem theoretisch denkbaren Grenzfall, wenn auch nicht als ›Verbesserung‹, so doch als ›Qualitätssicherung‹ gefragt. Aber wie dem auch sei: um welche Qualität ist es der Erziehung zu tun? Was als Antwort auf diese Frage akzeptabel ist, kann uns nur die Reflexion auf den gewachsenen Erziehungsbegriff zeigen. Akzeptabel ist z. B. die Antwort: ›Es geht um diejenige Qualität, auf die es im Leben des Kindes und für das Kind am meisten ankommt bzw. ankommen wird‹. Oder: ›Es geht um die Verfassung des Kindes, die es eines Tages so leben läßt, wie es sich für einen erwachsenen Menschen gehört‹. Diese Formulierungen variieren nur die oben gegebene Auskunft, Erzogenheit bestehe in einer Disposition zum selbständigen guten Leben. Dabei ist ›selbständig‹ in einem relativen Sinn zu verstehen. Jedes Leben in Gesellschaft bringt Abhängigkeiten mit sich; und Orientierung an der Tradition, ein mehr oder weniger verbreitetes Persönlichkeitsideal, ist mit ›Selbständigkeit‹ nicht ausgeschlossen. Gemeint ist hier jene Selbständigkeit der Lebensführung, die in einer gegebenen Gesellschaft vom Erwachsenen erwartet wird. Wie steht es um das Gute des ›guten Lebens‹? Ich habe es bereits im Sinne des ethisch Guten verstanden. In Übereinstimmung mit gängigen Vorstellungen habe ich angenommen, daß das Erziehungsziel im guten Charakter des Erzogenen besteht (vgl. 2.1 (c)). Doch ist die ethische Kennzeichnung des Erziehungsziels vielleicht schon nicht mehr rein formal. Und ich werde diese Spezifizierung der Idee des guten Lebens in Kapitel 8 noch eigens diskutieren. Unabhängig davon, wo genau die Grenze zwischen formaler und materialer Bestimmung des Erziehungsziels verläuft71, ist klar: Um das Was der Erziehung zu erfassen, müssen wir uns ihres Wozu im Sinne eines formalen telos vergewissern; die Kennzeichnung des Ziels der Erziehung geht insoweit in die Kennzeichnung ihres Begriffes ein. 70 Auch als Kind kann ein Mensch besser oder schlechter leben. Vgl. hierzu 8.5. 71 Für die Unsicherheit der Grenzziehung gibt es Gründe. Generell ist bei allgemein akzeptierten Aussagen nicht immer entscheidbar, ob die Übereinstimmung gemeinsame Sprachregeln (z. B. Definitionen) oder aber (darüber hinaus) weithin geteilte Überzeugungen signalisiert. In manchen Bereichen unseres Denkens lassen sich zudem diese Überzeugungen selbst, zumindest weitgehend, durch Rekurs auf Sprachregeln begründen. Das dürfte auch für Überzeugungen von der Angemessenheit eines Erziehungsziels gelten.
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Sobald wir von materialen Erziehungszielen sprechen, gilt das nicht. Zwar benötigen wir eine genauere, nämlich materiale Vorstellung davon, worin gutes Leben besteht, um ein Erziehungsergebnis angemessen bewerten und mit Gründen sagen zu können, A’s Erziehung sei gelungen oder nicht gelungen. Auch müssen selbstverständlich Ethik und Philosophie der Erziehung u. a. davon handeln, unter welchen Bedingungen ein praktiziertes oder suggeriertes materiales Erziehungsziel vertretbar ist. Doch bilden Zweifel und Meinungsverschiedenheiten, die diese Bedingungen betreffen, kein Hindernis für ein übereinstimmendes Verständnis des formalen Erziehungsziels und für den hierauf angewiesenen gemeinsamen Erziehungsbegriff. Ein besonders deutliches Beispiel: X hält Patriotismus für eine gute Charaktereigenschaft, Y dagegen für eine Verirrung. Insoweit werden sie unterschiedliche Erziehungsziele vertreten. Sie werden aber vermutlich darin übereinstimmen, daß gute Erziehung einen guten Charakter fördern soll. Und wenn nicht darin, so doch auf jeden Fall darin, daß sie die Disposition zu einem selbständigen guten Leben fördern soll. Denn spätestens mit diesem Ausdruck ist das formale Erziehungsziel und somit die Teleologie des Erziehungsbegriffs artikuliert. Sind sich X und Y über diese Teleologie nicht einig, so reden sie nicht beide von Erziehung. Nicht ein faktisch angenommenes, materiales Erziehungsziel bestimmt also den Erziehungsbegriff, sondern das, worin denkbare Erziehungsziele miteinander übereinkommen – das formale Erziehungsziel. Die Vorstellung, daß Erziehung zum selbständigen guten Leben qualifiziert, ist das, was man benötigt, um zu wissen, was Erziehung ist, nicht aber, um Erzieher zu sein. In den nun folgenden Abschnitten dieses Kapitels möchte ich die in 5.2–3 vorgelegte teleologische Analyse des Erziehungsbegriffs vertiefen. Ich beginne damit, daß ich die eigentümliche Struktur dieses Begriffs in den weiteren Kontext teleologisch-normativer Begriffsstrukturen stelle.
5.4
Ein teleologischer Begriff bestimmt die Natur der Sache mittels ihrer inhärenten Finalität
a) Die Suche nach charakteristischen Komponenten ›erzieherischen Handelns‹ in Kapitel 4 hat zur Klärung des Erziehungsbegriffs eher negativ und indirekt beigetragen. Mehr verspricht die Erörterung der Frage nach der Funktion der Erziehung: Was soll sie ausrichten? Auf welches telos ist Erziehung als solche ausgerichtet – unabhängig von allen individuellen und zufälligen Interessen, Absichten oder Instrumentalisierungen? Nur wer weiß, was Erziehung in diesem Sinne soll, kann wissen, was sie ist. Mit der Kenntnis ihres telos besitzt man auch Maßstäbe, um sie im Einzelfall bewerten zu können. Und wenn es so etwas wie Komponenten guter und schlechter Erziehung gibt, dann müssen sie diejenigen Aspekte und Elemente
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des Erzieher-Verhaltens sein, die unter den jeweiligen Umständen dem telos der Erziehung förderlich bzw. abträglich zu sein tendieren (5.5). Diese Bedeutung der Finalität für die Bewertung läßt erwarten, daß auch umgekehrt Bewertungen von Erziehung und ihre Maßstäbe Rückschlüsse auf das telos zulassen, dem Erziehung gewidmet ist. (Wer etwa nicht wüßte, was ›Erziehung‹ heißt, und nun hörte, zur guten Erziehung gehöre es, dem Kind das Lügen, nicht aber z. B., das Fragen abzugewöhnen, der dürfte vermuten, daß Erziehung u. a. Wahrhaftigkeit fördern, nicht aber den Wissensdurst bekämpfen soll.) Indirekt kann somit die Weise, wie das Verhalten eines Erziehers als Erziehen bewertet wird, auch darüber Aufschluß geben, was Erziehung ist.72 b) Mit diesen Strukturen steht der Erziehungsbegriff natürlich nicht allein. Es gibt endlos viele Begriffe – ich will sie normativ nennen –, die implizit einen Maßstab oder Standard mit sich führen, an dem die Qualität der Sache zu messen ist, auf die der jeweilige Begriff sich anwenden läßt. Dazu gehören Begriffe für Werkzeuge und andere Artefakte, Begriffe für Berufe, für die Organe von Lebewesen und für vieles andere. Betrachten wir als Beispiel den Begriff einer poiesis: den Begriff des Imitierens oder Nachahmens. Die Imitation einer Vorlage ist als solche durch ein (poietisches) telos finalisiert. Imitiere ich die Handschrift eines Kollegen, so setze ich das Ergebnis und damit auch mein imitatorisches Tun eo ipso gewissen Maßstäben der Bewertung aus. Dieses Tun ist zwar ohne meine Absicht, zu imitieren, keine Imitation; aber keine weiteren Intentionen und Aspirationen sind erforderlich, damit es als Imitieren bewertbar ist. Je ähnlicher das Imitat dem Imitandum, desto besser die Imitation; je geringer die Ähnlichkeit, desto schlechter. Dies liegt daran, daß Ähnlichkeit des Ergebnisses mit einer Vorlage die Nachahmung als solche finalisiert. In dieser Rolle liefert die Dimension der Ähnlichkeit nicht nur den Maßstab der Bewertung des Imitats und damit des Imitierens. Ihre maßstäbliche Funktion läßt auch einen Rückschluß auf die Art meines Tuns zu, und zwar in zweifachem Sinne: 1) Weiß man, daß die Qualität dieses Tuns danach bewertet wird, wie ähnlich sein Ergebnis der Kollegenhandschrift ist, so kann man folgern, daß mein Tun als Imitieren beurteilbar ist – daß ich also nachahme. 2) Um zu erklären, was Nachahmen ist, könnte man sagen: Ob ein Tun als Nachahmen gilt, 72 Nehmen wir nämlich an, ein X sei, qua X, auf Y (und auf kein anderes telos) ausgerichtet. Warum benötigt so ein X, um ein gutes X zu sein, bestimmte Beschaffenheiten – sagen wir: A, B, C? Der Grund muß darin liegen, daß die Realisierung von Y insofern (kausal oder sonstwie) durch ein X gefördert oder garantiert wird, als dieses X durch A, B, C qualifiziert ist. – Freilich ist es denkbar, daß die Ausstattung des X mit genau diesen Beschaffenheiten A, B, C regelmäßig auch dies oder jenes außer Y sicherstellt. In diesem Fall (in dem etwas anderes als Y das telos von X abgeben könnte) müßten wir in der Tat mehr über die Art des Interesses wissen, das an einem X mit den Eigenschaften A, B, C besteht, um aus dem Bewertungsmaßstab (›ein X ist in dem Maß gut, wie es A, B, C aufweist‹) das telos folgern zu können (›ein X ist als solches durch Y finalisiert‹).
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erkennt man daran, daß es danach als gut oder schlecht bewertet wird, inwieweit sein Ergebnis einem Gegenstand gleicht, den das Subjekt wahrnimmt oder sonstwie kennt. Diese ›Schlußregeln‹ bedürfen der Modifizierung. Denn nach 5.1 (c1–2) verweist der Begriff eines poietischen telos nicht auf den Begriff der von diesem telos finalisierten poiesis. Die Natur einer poiesis ist daher nicht einzig durch ihr telos (durch das, was sie zustande bringt) bestimmt; auch das Medium, das Vorgehen (die Weise, wie sie es zustande bringt), geht in ihren Begriff ein. – Allgemeiner gesagt: Das begrifflich inhärente telos einer Sache entscheidet in der Regel nicht allein über deren Natur. Es kennzeichnet die Kategorie der praxis, daß hier die ›Sache‹ ihrer Natur nach nichts ist außer ihrer Finalität. Anders im Fall einer poiesis. Vom telos des Imitierens z. B. könnte man behaupten, es stimme mit dem telos maschinellen Kopierens überein. Häufig läßt sich aber, wenigstens im jeweiligen Kontext, zu einem gegebenen ergon faktisch, also aus empirischen Gründen, nur eine einzige Vorgehensweise benennen, deren telos in diesem ergon besteht. Das gilt auch für das poietische ergon des Erziehers. Erziehung ist insofern der Weg, kindliche Charakterbildung zu fördern (vgl. 9.3). Unter der soeben getroffenen Einschränkung könnte man den für normative Begriffe charakteristischen Zusammenhang zwischen ›Was?‹, ›Wozu?‹ und ›Wie gut?‹ in den Slogan fassen: ›Sag mir, an welchem Maßstab du die Qualität der Sache mißt, und ich sage dir, was sie ist‹.73 c) Offenbar führen die Begriffe, von denen hier die Rede ist, einen Maßstab der Beurteilung mit sich, weil sie das Gemeinte anhand seiner inhärenten Finalität identifizieren. Sie sind normativ, weil sie teleologisch sind. Denn wenn wir wissen (und nur wenn wir wissen), was eine Sache ihrem Begriff nach soll – wenn wir ihr konstitutives telos kennen –, besitzen wir einen objektiven, nichtwillkürlichen Maßstab ihrer Bewertung: die Sache ist, grob gesprochen74, in dem Maß ein gutes oder schlechtes Exemplar ihrer Art, wie sie das telos realisiert oder nicht realisiert, das der Begriff dieser Art vorsieht. d) Um den gemeinten Zusammenhang adäquat zu erfassen, darf man die Teleologie der einschlägigen Begriffe nicht mißverstehen. Inhärente Finalität setzt weder göttliche Vorsehung noch menschliche Absicht voraus, und ebenso wenig 73 Freilich widerstreitet die Annahme, einem Begriff könne überhaupt so etwas wie das Wesen oder die Natur einer Sache entsprechen, einer verbreiteten intellektuellen Mode. Doch läßt sich im Unterschied zu dieser Mode jene Annahme ganz gut begründen. Vgl. Müller 1991. 74 Nur ›grob gesprochen‹. Denn erstens mögen zusätzliche Erfordernisse über die Qualität entscheiden. (Ein guter Rasenmäher schneidet nicht nur effizient das Gras; er ist auch relativ leicht, nicht allzu laut usw.) Zweitens können Umstände, die nicht die Qualität der Sache beeinträchtigen, die Verwirklichung des telos vereiteln. (Ein schlecht funktionierender Rasenmäher kann selber gut sein, wenn es die mindere Qualität des Treibstoffs ist, die seine Funktion beeinträchtigt.)
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eine Weltseele oder eine Natur, die Zwecke intendiert. Vielmehr gehört zur Weise, wie Menschen ihre Erfahrung organisieren (vgl. 3.1), überall und grundlegend das begriffliche Isolieren und Artikulieren von Phänomenen des Lebens (und nicht nur des menschlichen Lebens). Was da nun isoliert wird, hängt von den isolierenden Begriffen ab, deren wir uns bedienen. Die aber können nicht anders als teleologisch strukturiert sein, wenn sie Begriffe von Lebewesen, von ihren Organen (im Unterschied zu Teilen), von Lebensvollzügen (im Unterschied zu Abläufen) oder auch von Werkzeugen, Berufen, Einrichtungen und sonstigen Dingen sein sollen, die eine Rolle im menschlichen Leben spielen.75 Man weiß nicht wirklich, was eine Säge, eine Sekretärin, ein Auge ist, wenn man nicht weiß, was eine Säge, eine Sekretärin, ein Auge soll. – Hat diese neu entdeckte Spezies von Tiefseefischen ein Auge? Für die Antwort liefern ontound phylogenetische, morphologische und sogar physiologische Beobachtungen lediglich Anhaltspunkte. Das Kriterium indessen liegt in der Frage, ob diese Spezies sieht – ob sie ein Organ aufweist, das die Funktion hat, Bewegungen und sonstiges Verhalten der Tiere in bestimmter – und zwar lebensdienlicher – Weise an der Einwirkung des Lichts und seiner Reflexion durch die Umgebung zu orientieren etc. (Und der Begriff der Funktion läßt sich nicht durch Rekurs auf Verursachung, Häufigkeiten und dergleichen definieren.) Daß also Begriffe einer bestimmten Art das Sein ihrer Sache über deren SeinSollen bestimmen: diese Feststellung ist nicht das Ergebnis anthropomorpher Projektion. Sie ist – es sei noch einmal gesagt – auf Natur-Mystik oder Schöpfungstheologie genauso wenig angewiesen wie auf die Annahme, alle wirkliche Finalität sei auf individuelle menschliche Absicht zurückzuführen. e) Teleologische Begriffsstrukturen sorgen für eine Asymmetrie zwischen Gut und Schlecht. Denn im allgemeinen muß eine Sache, um dem telos zu genügen, auf das der Maßstab ihrer Bewertung hinweist, eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllen. Nur was sie alle erfüllt, ist ein gutes Exemplar. Andererseits bedeutet dieselbe Vielzahl der Bedingungen eine Vielzahl von Möglichkeiten, dem Standard nicht zu genügen. Um schlecht zu sein, muß daher ein Exemplar – streng genommen – nur in einer dieser Bedingungen hinter dem Standard zurückbleiben. Unsere Sprachpraxis folgt zwar der prinzipiellen Dichotomie von Gut und Schlecht aus einsichtigen Gründen nur widerwillig und mit Einschränkung. Wir bewerten Dinge als mehr oder weniger gut bzw. schlecht. Bevor wir etwas schlecht tout court nennen, muß es oft in einer besonders wichtigen Hinsicht oder in mehreren Hinsichten den Standard verfehlen. Und wenn etwas seinem telos nicht in allem, aber doch ›im großen und ganzen‹ gerecht wird, so ›lassen wir es damit gut sein‹, jedenfalls in vielen Fällen. 75 Zur Unmöglichkeit, das Leben und seine Gestalten und Äußerungen in ausschließlich nicht-teleologischen Begriffen zu beschreiben, vgl. die hervorragende Arbeit von Thompson (1995) sowie die Kapitel 2–5 in Foot (2001).
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Das ändert aber nichts an der verbleibenden Asymmetrie. Sie zeigt sich in folgendem Unterschied: Wo ein X – man mag wieder an Säge, Sekretärin oder Auge denken – überhaupt gut oder schlecht sein kann, fragt die Frage, was zu einem guten X gehöre, nach einem Inbegriff von qualifizierenden Eigenschaften (bonum ex integra causa, formulierten die Scholastiker), während die Frage, was zu einem schlechten X gehöre, entweder keinen klaren Sinn hat oder aber nach einer unbestimmten Menge möglicher Mängel fragt, deren jeder für sich (als Fehlen einer bestimmten qualifizierenden Eigenschaft) in der Lage ist, für das Schlecht-Sein von X zu sorgen. Freilich kann die schlechte Qualität einer Sache auch mehreren Defekten zugleich entspringen; aber schon einer ist einer zu viel. Im übrigen besteht natürlich jeder der disqualifizierenden Defekte eines X in nichts anderem als der Abwesenheit oder Einschränkung einer jener qualifizierenden Eigenschaften, deren Inbegriff das X zu einem guten X machen würde. Die beschriebene Asymmetrie manifestiert sich auch so: Wo die Frage, was X ist, die Frage einschließt, was X soll, da greifen wir auf ein gutes X zurück, nicht auf ein schlechtes, um den Begriff eines X zu illustrieren. Denn nur das gute Exemplar führt uns die Eigenschaften vor Augen, durch deren Besitz ein beliebiges X seinem konstitutiven telos gerecht wird bzw. würde; die Eigenschaften also, von denen wir eine Vorstellung haben müssen, um zu wissen, was ein – gutes oder schlechtes – X überhaupt ist.76
5.5
Die Idee einer Komponente der Erziehung verweist auf deren inhaltlich bestimmbares telos
Was ergibt sich aus den hier angestellten allgemeinen Beobachtungen zur Struktur teleologischer Begriffe für die weitere Analyse des Erziehungsbegriffs? Viele teleologische Begriffe werden von Verben und Verbalkonstruktionen repräsentiert, die wir von menschlichen Subjekten prädizieren. Auf der Teleologie dieser Begriffe beruht die aristotelische Idee des ergon, das eine poiesis oder eine praxis als deren inhärentes telos finalisiert und dadurch mitbestimmt bzw. bestimmt, was sie ist. Dieses ergon korreliert mit den Maßstäben, nach denen wir konkrete Fälle der jeweiligen poiesis bzw. praxis beurteilen (5.4 (a-c)) – mit den Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit sie als gut zu bezeichnen ist (5.4 (e)).
76 Man beachte eine Zweideutigkeit in der Rede vom begrifflich inhärenten oder konstitutiven telos. Die Funktion einer Sekretärin z. B. ist konstitutiv für ihr Sekretärin-Sein – nicht für die Sekretärin selbst (denn auch das Sekretärin-Sein ist nicht, wie das Menschsein, konstitutiv für sie). Dagegen ist die Funktion einer Säge für diese selbst konstitutiv. (Denn während die Sekretärin sein kann, ohne Sekretärin zu sein, kann die Säge nicht sein, ohne Säge zu sein.) Die ›Ontologie‹, die dieser Unterscheidung zugrunde liegt (Müller 1991), läßt sich auf die Bereiche von poiesis und praxis nicht so leicht übertragen. Hat sich die teleologische Analyse hier am ersten oder eher am zweiten Modell zu orientieren – oder an keinem von beiden? Ich lasse diese Frage unbeantwortet. Vgl. auch 5.7.
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Daraus ergibt sich: Um zu klären, worin Erziehung besteht, hat man sich an der Kennzeichnung guter Erziehung zu orientieren. Das heißt natürlich nicht, man dürfe Erziehung mit guter oder gelungener Erziehung identifizieren – ein Fehler, der leicht unterläuft und irrige Analysen veranlassen kann77. Vielmehr ist – so das Ergebnis der bisherigen Überlegungen – ›A erziehen‹ als teleologische Verbalkonstruktion zu betrachten, die auf ein objektives telos von Erziehung verweist. Allerdings will dieses Ergebnis nicht viel heißen, solange die Idee der guten Erziehung formal bleiben muß – solange sie sich nämlich allein an der formalen Bestimmung des Erziehungsziels (5.3) orientiert. Nun deutet aber alles darauf hin, daß sich das Ziel der Erziehung (im engeren Sinne) als Charakterbildung kennzeichnen läßt; und das folgende Kapitel soll das untermauern. Wenn man eine dementsprechende materiale Bestimmung des Erziehungsziels liefert (oder gar darüber hinaus auch noch präzisiert, was zu einem guten Charakter gehört), so werden die Konsequenzen deutlich, die sich aus der teleologischen Natur des Erziehungsbegriffs ergeben. Insbesondere zeigt sich, daß man von Komponenten der Erziehung nicht unabhängig davon reden kann, welches materiale telos man dieser zuschreibt. Will man nämlich überhaupt an der Idee der Erziehungskomponente festhalten, dann kann man nicht jeden Aspekt und jedes Element des Erzieher-Verhaltens als Komponente der Erziehung einordnen, sondern nur ›Relevantes‹ – also das, was der Erreichung des Erziehungsziels entweder förderlich oder abträglich ist. Was jedoch in diesem Sinne relevant ist, hängt offenkundig vom materialen Erziehungsziel ab. Nun haben wir aber gesehen, daß sich ein solches Ziel auf der Grundlage des Erziehungsbegriffs allein nicht bestimmen läßt.78 Daher gilt: Gesprächspartner, die sich darüber einig sind, was Erziehung ist, nicht jedoch darüber, was sie materialiter erreichen soll, sind nicht ohne weiteres in der Lage, sich über Erziehungskomponenten zu verständigen – weder allgemein noch im Blick auf einen konkreten Fall. Mithin hat die Idee einer Komponente der Erziehung erst unter dem Vorzeichen gegebener oder antizipierter Einigkeit über das materiale Erziehungsziel eine kommunikative Funktion. Die Aufhellung dieses Zusammenhangs ergänzt ein Ergebnis, zu dem das vorangehende Kapitel gekommen ist. Dort hat sich gezeigt: Erziehung ist kein 77 Insbesondere liegt das intentionalistische Erziehungs(miß)verständnis nahe, sobald man die Fälle schlechter Erziehung vergißt, in denen die Verantwortlichen eben nicht »versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern [...] oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten« (Brezinka 1978, S. 45). 78 Vgl. 5.3. – Diese Aussage bedeutet weder, Erziehungsziele seien ›Setzungen‹, noch gar, sie müßten irgendwie empirisch ermittelt werden. Ebenso wenig heißt es, man könne ein angenommenes Erziehungsziel nicht philosophisch prüfen. Wohl aber muß die Analyse so etwas wie die Idee des guten Lebens einbeziehen, um über die formale Bestimmung des Erziehungsziels hinauszugelangen. Vgl. 4.3–8.
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Begriff, den man durch die Art der Komponenten charakterisieren könnte, die Erziehung ausmachen. Jetzt zeigt sich: Die Idee der erziehungskonstitutiven Komponente setzt ihrerseits bereits die Vorstellung eines mehr oder weniger bestimmten Erziehungsziels voraus. Und weiter: Die Basis, auf der man überhaupt von Komponenten der Erziehung sprechen kann – die Anerkennung eines materialen Erziehungsziels – ist zugleich der Standpunkt, von dem aus man diese Komponenten auch zu beurteilen hat. Dieses Ergebnis widerstreitet der gängigen Vorstellung, man könne in einem gegebenen Erziehungsverhältnis zunächst einmal ›wertneutral‹ erzieherisches Handeln identifizieren, ohne bereits entschieden zu haben, ob – oder gar: nach welchen Kriterien – dieses Handeln objektiv bewertbar sei. Ein Beispiel: B unterstützt A’s Tendenz, sich an kitschigen Melodien, Bildern, Filmen zu erfreuen. Haben wir es hier mit einem Stück Erziehung zu tun? – Prüfen wir drei Antworten! Sie beruhen auf drei verschiedenen Ziel-Konzeptionen: X ist der Auffassung, zur guten Erziehung gehöre auch die Hinführung zu gutem Geschmack. Y hingegen befürwortet alles, was friedfertige Gefühle fördert. Z schließlich ist der Meinung, ästhetische Einstellungen seien keine Sache des Charakters und daher kein Gegenstand der Erziehung. Und nun zu den Antworten: Aus Z’s Perspektive ist das beschriebene Erzieher-Verhalten keine Komponente von A’s Erziehung. X und Y sehen das anders – aber aus gegensätzlichen Gründen! Da guter Geschmack nach X einen Bestandteil des richtigen Erziehungsziels bildet, ist in seinen Augen B’s Unterstützung von A’s Tendenz zum Kitsch-Konsum für das Erreichen des Zieles ›negativ relevant‹ und daher ein Beitrag zu A’s Erziehung. Y hingegen vertritt ein Erziehungsziel, das er durch B’s Verhalten gefördert sieht; das ist sein Grund, dieses Verhalten als Erziehungskomponente einzuordnen.79 Wer also meint, man könne dem Begriff der Erziehung beikommen, indem man sich über Elemente und Aspekte der Erziehung klar wird, zäumt das Pferd
79 Und B’s Perspektive? Falls er sich überhaupt eine Vorstellung davon bildet, wozu er A anleiten soll, wird er die Frage, ob seine Unterstützung von A’s Kitsch-Konsum einen Beitrag zu dessen Erziehung darstellt, nach demselben Muster beantworten wie X oder Y oder Z. Eine neue Frage wirft diese Antwort erst insofern auf, als auch B’s eigene ZielKonzeption für das, was er tut, konstitutiv zu sein scheint. Nehmen wir nämlich beispielshalber an, B teile die Meinung von Y. Dann hält er sein eigenes Verhalten für einen positiven Beitrag zu A’s Erziehung; und vielleicht unterstützt er A’s Kitsch-Konsum in der Absicht, dem vermeinten Erziehungsziel näherzukommen. Wie trägt eine korrekte Kennzeichnung von B’s Tun dieser Absicht Rechnung? Und sollte etwa jeder – auch Z, der dieses Tun für erzieherisch irrelevant erklärt – all das, was in erzieherischer Absicht geschieht, als Erziehung bezeichnen? oder als vermeintliche Erziehung? (Ein Vergleich: Der Arzt nimmt in sein Behandlungsprogramm für einen moribunden Patienten Transfusionen auf, die dessen Leben zwar um ein paar Tage verlängern mögen, die aber nach Ansicht der Kollegen keinen medizinischen Sinn haben. Wie sollten diese das Tun des Arztes angemessen kennzeichnen? Sollten sie all das, was einer in der Absicht tut, zu behandeln, als Behandlung bezeichnen? oder als vermeintliche Behandlung? Sind die Transfusionen Bestandteil eines Behandlungsprogramms, nicht aber einer Behandlung?)
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von hinten auf. Vielmehr geht zum einen die Klärung des formalen Erziehungsziels in eine Formulierung des Erziehungsbegriffes ein. Zum anderen bedarf es zur Identifizierung von Erziehungskomponenten darüber hinaus einer materialen Ziel-Konzeption. Denn eine Komponente der Erziehung ist nichts anderes als eine Komponente des Erzieher-Verhaltens, die der Erreichung des Erziehungsziels zu- oder abträglich ist. Und über ›zu- oder abträglich oder irrelevant‹ entscheidet eben die Art dieses Ziels. Eine Konzeption des Erziehungsziels – typischerweise etwa: ›selbständiger guter Charakter‹ – hat oder bildet der Erziehungswissenschaftler ebenso wie der ›ziel-bewußte‹ Erzieher im allgemeinen aufgrund einer Vorstellung vom guten Leben, die er zunächst einmal als unausgesprochenes Fundament seines Denkens und Handelns vorfindet. Hat er Anlaß, diese Vorstellung in Frage zu stellen, wird er versuchen müssen, sich durch anthropologische, handlungs- und moralphilosophische Überlegungen wie die des nächsten Kapitels einer angemessenen Konzeption zu vergewissern.
5.6
Erziehung läßt sich primär mit Blick auf ihr poietisches Ziel und sekundär durch Bewertung des Erzieher-Handelns bewerten
Die beiden vorangehenden Abschnitte zeigen, daß das telos einer poiesis oder einer praxis mit den Kriterien korreliert, die erfüllt sein müssen, damit diese poiesis bzw. praxis als gut zu bezeichnen ist (5.4 (e)). Wo sind diese Kriterien zu lokalisieren? – Das nächste Kapitel soll zeigen, wie diese Frage für den Fall einer praxis zu beantworten ist. Für den Fall einer poiesis bieten sich zwei Möglichkeiten an. Einerseits läßt sich ihre Qualität an der Qualität des tatsächlichen Ergebnisses ablesen und nach ihr bestimmen. Die Kriterien dafür, ob man es mit einer guten Realisierung jener poiesis zu tun hat, sind dann in der Beschaffenheit des Ergebnisses zu suchen. Ob der Kfz-Mechaniker den Wagen gut oder schlecht repariert hat, hängt davon ab, ob dieser Wagen anschließend fahrtüchtig und verkehrssicher ist. Ob der Pianist gut spielt, zeigt sich am Klang, den er hören läßt. Andererseits haben wir aber gelegentlich Anlaß, die Bewertung einer poiesis an Kriterien zu orientieren, die nicht auf die Beschaffenheit des Ergebnisses Bezug nehmen. Typisch dafür sind erstens Fälle, in denen wir mit der Bewertung nicht warten können oder wollen, bis das Ergebnis zustande gekommen ist und Aufschluß gibt; und zweitens Ausnahmesituationen, in denen das Ergebnis keinen Aufschluß gibt, weil das Standard-Muster des kausalen oder sonstigen Zusammenhangs zwischen Produktionsweise und Produkt gestört ist. Ein Beispiel für Fälle der ersten Art: Wenn der Kfz-Mechaniker die Schrauben nicht fest anzieht oder die Anschlüsse des rechten und des linken Blinkers
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miteinander verwechselt, weiß man, daß er schlecht repariert. Dabei stützt man sich auf Kriterien der Bewertung, die auf Aspekte seines Vorgehens selbst Bezug nehmen, nicht auf Beschaffenheiten des Ergebnisses (das man lieber nicht abwartet). Ein Beispiel für Fälle der zweiten Art liefert der Pianist, der unter dem Zwang der Umstände auf einem verstimmten oder ramponierten Instrument spielt. Hier gibt die Qualität des Ergebnisses keinen Aufschluß über die Qualität der poiesis. Denn der kausale Zusammenhang zwischen der Bewegung seiner Finger und dem klanglichen Ergebnis folgt nicht dem Muster, das wir voraussetzen, wenn wir die Qualität des Spiels nach Kriterien beurteilen, die sich auf Beschaffenheiten des hörbaren Resultats beziehen (vgl. 10.3–5). Die Bewertung einer poiesis anhand der Beschaffenheiten des Ergebnisses ist in einem offenkundigen Sinne primär, die Bewertung anhand der Vorgehensweise sekundär. Woher nämlich wissen wir, daß bestimmte Komponenten des Vorgehens selbst darauf hindeuten, daß eine konkrete poiesis gut oder nicht gut ausgeführt ist? Wir wissen es deshalb, weil diese Komponenten im Regelfall (wenn nämlich das Standard-Muster realisiert ist) dafür sorgen, daß das Ergebnis bestimmte Beschaffenheiten aufweist, die dessen Qualität bestimmen. Und unser Interesse an Qualität und Wert des Ergebnisses ist das, was uns überhaupt von einer Qualität der poiesis sprechen läßt und die Kriterien ihrer Bewertung festlegt. Selbstverständlich können primäre und sekundäre Weisen der Bewertung zu divergenten Urteilen führen.80 Und das kann dazu führen, daß wir beispielsweise zweifeln, ob wir von dem Klavierstück, das ein kompetenter Pianist auf einem defekten Flügel vorträgt, sagen sollen, es sei gut gespielt. Auf die Sache selbst jedoch bezieht sich dieser Zweifel nicht. Fragen wir nun nach den Qualitätsmaßstäben, die wir an Erziehung anlegen. (Es geht weiterhin um Erziehung im engeren Sinne. Und ich setze voraus, daß ihr Medium das Handeln des Erziehers und daß ihr poietisches telos der gute Charakter des Erzogenen ist.) Nicht nur finden wir hier die soeben angestellten Beobachtungen bestätigt. Die Frage nach der guten Erziehung führt uns auch zur Unterscheidung zwischen deren poietischer und praktischer Finalität zurück. 80 Die Divergenz ist lediglich verbal. Um ihr zu entgehen, könnte man die sekundäre Bewertung einer poiesis als Bewertung einer praxis auffassen. Zum Beispiel so: Bewertung einer Kfz-Reparatur anhand von Merkmalen des Ergebnisses betrifft die poiesis, Bewertung anhand von Merkmalen der Vorgehensweise betrifft eine praxis. Das ist insofern legitim, als die sekundäre Bewertung der Reparatur einen Maßstab anlegt, der eine eupraxia konstituiert: Perfektion des Vorgehens. Man könnte also der poiesis Reparatur, deren telos in der Fahrtüchtigkeit des Wagens besteht, die praxis Reparatur-Vorgehen zur Seite stellen, deren telos nichts anderes ist als die Perfektion dieses Vorgehens bzw. das richtige Vorgehen. – Auf diesem Hintergrund könnte man sagen, Allgemeinmediziner würden (auf der Grundlage eines ›Leistungsvertrags‹) für praxis, Zahnärzte dagegen (auf der Grundlage eines ›Werkvertrags‹) für poiesis bezahlt. (Beim praktischen Arzt bezahlt der Patient für die zunftgerechte, aber erfolglose Behandlung des Geschwürs. Beim Zahnarzt bezahlt er erst für die tatsächlich angebrachte Füllung oder Bekrönung.) Vgl. 12.4–5 sowie 18.2.
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Auch konkrete Erziehung läßt sich nach primären und nach sekundären Maßstäben bewerten. Die Frage, ob A von B gut erzogen wurde, beantworten wir einerseits ›produkt-bezogen‹, andererseits nach Kriterien, die nicht Beschaffenheiten des Ergebnisses, sondern Aspekte des Erzieher-Verhaltens betreffen. Und auch hier können die beiden Antworten miteinander konkurrieren. Einerseits orientieren wir uns daran, ›was aus A geworden ist‹, ob also das (poietische) telos des Erziehens erreicht wurde. Ist A z. B. mit 25 Jahren ein oberflächlicher, egoistischer Angeber, so ist dies ein Grund zu sagen: ›A ist schlecht erzogen; B hat ihn nicht gut erzogen.‹ Andererseits jedoch legen wir an konkrete Erziehung auch Maßstäbe an, die auf Beschaffenheiten des Erzieher-Verhaltens, nicht des Erziehungsergebnisses, Bezug nehmen. Und um uns die Funktion dieser sekundären Bewertungsweise zu vergegenwärtigen, können wir Parallelen zu den Situationen ziehen, in denen die Bewertung der Kfz-Reparatur bzw. des Klavierspiels nicht auf die Qualität des Ergebnisses Bezug nimmt. a) Einmal wäre an den Fall zu denken, daß man einer Person die erzieherische Zuständigkeit für ein Kind nicht anvertrauen will, weil man sie für einen schlechten Erzieher hält. Man wartet bei dieser Bewertung das Ergebnis – die Folgen für das Kind – erst gar nicht ab, sondern orientiert sich – ja, woran? Die Antwort müßte lauten: ›An Aspekten des erzieherischen Umgangs jener Person mit dem Kind.‹ An dieser Antwort ist zweierlei bemerkenswert. 1) Erstens ist der ›erzieherische Umgang mit dem Kind‹ nicht auf charakteristische ›Handgriffe‹ festzulegen, auf die Ausführung von Verfahrensregeln, wie sie eine typische poiesis kennzeichnen (4.1, 5.2, Kapitel 10). Die relevanten Beschaffenheiten dieses ›Umgangs mit dem Kind‹ bestehen nicht oder nicht ausschließlich in der kompetenten Handhabung dieser oder jener Technik. Es ist das gesamte Handeln der Person, dessen erzieherische Qualität von Belang ist. Und zwar scheinen die Beschaffenheiten des Handelns, durch die es gute Erziehung konstituiert, die Beschaffenheiten zu sein, durch die es gutes Handeln ist. Im Vorgriff auf die Kapitel 13–14 werde ich davon ausgehen, daß dies zutrifft. Dann besteht nach Maßgabe der sekundären Bewertungsweise gute Erziehung im guten Handeln des Erziehers. 2) In dieselbe Richtung deutet eine zweite bemerkenswerte Tatsache. Oben hieß es, man könne sich, statt das Ergebnis abzuwarten, ›an Aspekten des erzieherischen Umgangs jener Person mit dem Kind‹ orientieren, um über die Qualität der Erziehung zu urteilen. Faktisch ist das aber nicht die einzige Alternative. Daß jemand ein schlechter Erzieher ist, zeigt er nicht erst im Umgang mit diesem Kind. Auch auf die Kenntnis seines früheren erzieherischen Einsatzes ist die Bewertung nicht unbedingt angewiesen. Ein geeigneter Anhaltspunkt ist das Handeln der fraglichen Person überhaupt und der Charakter, den es offenbart.81 81 Diese Korrelation zwischen Qualität des Handelns und Qualität des Erziehens gilt allerdings nur mit Einschränkung. Zwar läßt sich ohne Bedenken behaupten, daß jemand, der
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Hierdurch unterscheidet sich die erzieherische von einer technischen poiesis. Man erinnere sich an den Kfz-Mechaniker: Die Eignung seiner konkreten poiesis, ihr spezifisches telos zu realisieren, läßt sich an der Beschaffenheit genau dieser poiesis festmachen. Im Fall der Erziehung hingegen liegt die entsprechende Eignung in der Beschaffenheit des Handelns – eines Tuns also, das nicht nur für erzieherische poiesis konstitutiv ist. Unter welchen Umständen liefern Zusammenhänge der hier beschriebenen Art eine Grundlage für die Bewertung von Erziehung anhand sekundärer Kriterien? Vielleicht in Fällen, in denen wir den Erzieher und seinen Charakter zu kennen glauben und auf dieser Basis annehmen, die ihm anvertrauten Kinder würden gut bzw. schlecht erzogen. Die primären Kriterien lassen sich hier noch gar nicht anwenden. b) Gehen wir nun zu Fällen über, in denen die Resultate der primären und der sekundären Bewertungsweise voneinander abweichen. Die Funktion der sekundären Bewertung liegt hier vor allem darin, die Bewertungskriterien auf den Bereich der Verantwortlichkeit des Erziehers festzulegen (vgl. 10.5 (j)). Man denke an ein Urteil wie dieses: ›Aus A ist ein egoistischer Angeber geworden, obwohl er eine gute Erziehung genossen hat‹. Oder aber: ›Wenn man bedenkt, daß B ihn nicht gerade gut erzogen hat, kann man A’s Charakter nur bewundern‹. In beiden Fällen wird die Qualität der Erziehung nicht nach der Qualität des Ergebnisses beurteilt, sondern ihr gegenübergestellt. Erfahrung lehrt, daß gerade im Bereich der Erziehung das Ergebnis häufig enttäuscht82 oder – weniger häufig – positiv überrascht. Primäre und sekundäre Bewertung der Erziehung klaffen dann auseinander. Das heißt aber nicht, sie hätten nichts miteinander zu tun. Vielmehr setzen wir auch hier eine Korrelation voraus: Die (sekundär) gute Erziehung, die zu keinem guten Ergebnis führt, ist gleichwohl von einer Beschaffenheit, die geeignet ist, zu einem solchen Ergebnis zu führen; sie entspricht den Anforderungen, die das telos der Erziehung, das schlecht handelt, schlecht erzieht. (Wer von einer Person, die schlecht handelt, erzogen wird, mag dennoch ein anständiger Mensch werden; aber nur dank einem gnädigen Schicksal und trotz schlechter Erziehung – nicht infolge einer trotz schlechtem ErzieherHandeln guten Erziehung!) Problematisch ist jedoch die Behauptung, wer gut handle, erziehe gut. Zwar läßt sich zeigen, daß für den Erzieher ein gewisses Maß an pädagogischer Kompetenz eine Bedingung guten Handelns ist (Kapitel 14). Doch folgt daraus nicht, daß guter Charakter eine Person unter beliebigen Umständen zum guten Erzieher qualifiziert. Das heißt: Mit der ethisch qualifizierenden Beschaffenheit ihres (bisherigen) Handelns ist nicht unter allen Umständen diejenige Beschaffenheit ihres erzieherischen Einsatzes gegeben, die als sekundäres Kriterium für dessen Güte dienen könnte. 82 Unter welchen Umständen versagt Erziehung, obwohl sie (im sekundären Sinne) gut ist? Eine deterministische Antwort auf diese Frage kennen wir nicht (vgl. 10.2). Wir wissen lediglich, daß für das gute Ergebnis außer der guten Erziehung Bedingungen gegeben sein müssen, die einerseits im Heranwachsenden und seinem Umgang mit dem Erzieher und der sonstigen Umgebung, andererseits in dieser Umgebung und ihrer Wirkweise liegen – und somit nicht zuletzt in den Kontingenzen der Interaktion.
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ergon des Erziehers, an dessen Verhalten stellt. Ohne diese Annahme hätte die sekundäre Bewertungsweise selbstverständlich keine Basis. Die ›sekundäre Güte‹ der Erziehung – und die daran gemessene Güte des Erziehers – machen wir weitgehend an dessen charakterlichen Qualitäten fest. Insoweit wir damit recht haben (vgl. Kapitel 13), kann man sagen: Gutes Erziehen besteht im guten Handeln. Und: In dem Maß, in dem einer als Erzieher gut handelt, wird er den Erfordernissen gerecht, die das poietische telos der Erziehung an sein Tun und Lassen stellt. Diesen Zusammenhang kann man in der Formulierung von 5.2 zum Ausdruck bringen: ›Erzieherische eupraxia (das praktische ergon des Erziehers und telos des Erziehens) ist nichts anderes als gutes Handeln, eine ethisch qualifizierte Lebensweise, in der Situation und Rolle des Erziehers (also ergon des Menschen und telos des Handelns für einen Erzieher).‹ Erziehung zeichnet sich dann im Vergleich mit anderen Formen von poiesis dadurch aus, daß ihre Bewertung nach sekundären Kriterien mit einer praxis-Berwertung zusammenfällt: mit der Bewertung des Handelns des Erziehers. Offenbar ist es die besondere Struktur der poietischen Finalität der Erziehung (5.2–3), die es nahelegt, Erziehung primär als poiesis und sekundär als praxis einzuordnen und zu bewerten. Das heißt jedoch nicht, allein aus einer analytischen Betrachtung des poietischen telos der Erziehung ergebe sich bereits, welche praxis – oder was sonst – vonnöten sei, um dieses telos zu realisieren. Denn es wäre denkbar, daß etwas anderes als Erziehung (ebenfalls) erreichen könnte, was wir als Erziehungsziel bezeichnen (vgl. 12.3).
5.7
Zweierlei Bewertung der Erziehung ist möglich, weil sich ein und dasselbe Tun nach unterschiedlichen Finalitäten kategorisieren läßt
Das Ergebnis des vorangehenden Abschnitts bestätigt frühere Hinweise (5.2) darauf, daß Erziehung neben ihrem poietischen telos ein praktisches aufweist. Wie aber ist das überhaupt möglich? Schließen sich die Merkmale von poiesis und praxis nicht gegenseitig aus (5.1)? Wie kann dasselbe Tun zugleich poiesis und praxis sein?83
83 Nach Aristoteles (EN VI 5, 1140b3 f.) sind praxis und poiesis »dem Genus nach voneinander verschieden«; und »das Handeln ist sowenig ein Hervorbringen als das Hervorbringen ein Handeln« (1140a5 f.). Zur Auflösung dieser Schwierigkeit vgl. Müller 1982, S. 221–224. David Charles (1986, S. 128) schreibt: »the praxis chosen by the moral agent as his goal is a separate action from any production he undertakes as a means«. Ich weise diese Deutung des Verhältnisses zwischen poiesis und praxis insofern zurück, als ich nicht damit einverstanden bin, die Begriffe Identität und Differenz auf menschliches Tun und Lassen ebenso anzuwenden wie auf Körper.
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Daß man eine einzige Wirklichkeit, je nach der Teleologie, die man an sie heranträgt, unter mehr als einen Begriff bringen und dementsprechend divergent bewerten kann, ist uns aus anderen Zusammenhängen vertraut. Diese teleologische ›Mehrdeutigkeit‹ der Dinge spiegelt sich im Vokabular, mit dem wir unsere materielle Umgebung ›artikulieren‹. Sofern mich z. B. an einem Holzklotz seine Heizqualität interessiert, betrachte ich ihn als Brennmaterial; und mit dieser ›Bestimmung‹ im Sinne einer möglichen Finalisierung ist auch eine ›Bestimmung‹ im Sinne der Konzeptualisierung und Klassifizierung (als ein Stück Brennholz) gegeben. Anderen Interessen entsprechen andere Finalisierungen, Bewertungskriterien und Klassifizierungen (als Hauklotz, als Baumaterial). Ähnlich läßt sich häufig auch dasselbe konkrete Tun unter verschiedene poietische oder auch praktische Begriffe bringen. Dasselbe Tun exemplifiziert, realisiert, konstituiert in solchen Fällen verschiedene Arten von poiesis bzw. praxis. Der jeweils herangezogene Bewertungsmaßstab erweist sich dann als Kriterium der Differenzierung und Mittel der Identifizierung. Durch die Wahl des Maßstabs, nach dem ich ein Tun bewerte, mache ich deutlich, welche poiesis bzw. praxis das, worauf ich mich beziehe, ist. Zur Verdeutlichung mag nochmals das Beispiel der Nachahmung aus Abschnitt 5.4 (b) dienen. Bewertet man mein Schreiben unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit des Ergebnisses mit der Handschrift eines Kollegen, so betrachtet man, was ich tue, als Imitieren. Legt man hingegen die Kriterien von Wortwahl, Rhythmus, Reim und dergleichen an, so betrachtet man dasselbe Tun als Dichten. (Die Feststellung, das Produkt zeige wenig Ähnlichkeit mit der Handschrift von X, ist in diesem Falle irrelevant.) Wieder einen anderen Bewertungsmaßstab liefern Orthographie und grammatische Korrektheit – nur hat in diesem Fall die zugehörige poiesis (im Deutschen) keinen Namen; sie läßt sich jedoch, wie gesagt, durch Rekurs auf den Bewertungsmaßstab (und auf ihr inhärentes telos, auf das dieser Maßstab verweist) bestimmen. Nicht immer weist der Bewertungsmaßstab eindeutig auf poiesis oder praxis hin. Wenn man etwa das Geschriebene unter dem Gesichtspunkt seines Wahrheitswertes beurteilt, betrachtet man mein Tun als Behaupten oder Aussagen. Ist, was ich tue, so gesehen, eine poiesis? In Anbetracht von 5.1 (c1) ist das zweifelhaft. Denn in welchem Sinne läßt sich das, was das Behaupten seinem spezifischen telos nach zu leisten hat – Manifestation von Wahrheit – auch ›unabhängig vom Behaupten verwirklicht denken‹? Ist also das Behaupten etwa praxis? Jedenfalls weist es wohl nicht die Finalität des Handelns auf. Denn die Qualität des Handelns wird an der Wahrhaftigkeit der Mitteilung, die der Behauptung an der Wahrheit des Gesagten gemessen. Vermutlich darf man also die Konzeptualisierung spezifisch menschlichen Tuns mit Hilfe der Kategorien poiesis und praxis nicht als Dichotomie behandeln. Wie dem auch sei: klar ist, daß wir den Bereich der poiesis verlassen, wenn wir ein Tun nach Maßstäben des guten und schlechten Handelns bewerten. Nehmen wir an, ich schreibe ein paar selbstgebastelte Verse in ein Gästebuch. Das Resultat ist u. a. ein Muster an Orthographie, ein miserables Gedicht und eine
5 Zweierlei Finalität
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vorzügliche Imitation der Handschrift des Kollegen X. Mit diesen ProduktBewertungen ist auch mein Tun auf dreifache Weise poietisch bewertet – und als poiesis eingeordnet: als ›Rechtschreiben‹, Dichten und Nachahmen. Darüber hinaus jedoch ist es unter den Umständen, sagen wir, ein Akt der Rache an X und eine Beleidigung des Gastgebers. Mit dieser Feststellung wird mein Tun nicht mehr poietisch beurteilt: als telos gelten diesmal ja nicht Ergebnisse, die vom Tun isoliert identifizierbar wären. Die Beurteilung ist vielmehr nach den Kriterien von 5.1 eine praktische. Und zwar ist sie näherhin eine ethische. Es ist der ethische Maßstab der Bewertung, der mein Tun als Handeln einordnet (Kapitel 6). Im Beispiel findet eine solche Einordnung gleich zweimal statt. Denn sowohl mit dem Begriff der Rache als auch mit dem der Beleidigung kommt ein ethischer Bewertungsmaßstab zur Anwendung, der mein Tun als (schlechtes) Handeln kennzeichnet.84 Diese Überlegungen zeigen, daß kein Widerspruch darin liegen muß, ein und dasselbe Tun zugleich als gut und als schlecht zu bewerten – solange diesen ›gegensätzlichen‹ Bewertungen unterschiedliche Maßstäbe zugrunde liegen, die entsprechend unterschiedliche Weisen signalisieren, jenes Tun begrifflich einzuordnen. Solange sich diese Bewertungen auf unterschiedliche Aspekte oder Dimensionen der fraglichen Wirklichkeit beziehen, ist der Widerspruch nur scheinbar. Das ist aber lediglich eine Folge der grundlegenderen Tatsache, auf die es hier ankommt: daß nämlich ein und dasselbe Tun, aus unterschiedlicher teleologischer Perspektive unterschiedlich konzeptualisiert, für unterschiedliche poiesis- und praxis-Formen konstitutiv sein kann. Diese allgemeine Tatsache ist auch die Voraussetzung dafür, daß sich Erziehung, wie ich behaupte, zugleich als poiesis und als praxis verstehen läßt: daß ein und dasselbe Tun zum einen B’s Handeln ausmacht, durch das A erzogen wird, und zum anderen das mehr oder weniger gut gelingende ›Herstellen‹ eines Erziehungsergebnisses in A’s Charakter durch B. Unbeantwortet bleibt dabei allerdings einstweilen die Frage, wie das Verhältnis zwischen poiesis und praxis näherhin zu denken ist; und welche teleologische ›Binnenstruktur‹ speziell die Dualität der Erziehung kennzeichnet. Eine typische Form des Verhältnisses ist uns im Beispiel vom Eintrag ins Gästebuch begegnet. Was ich da tue, erhält seinen beleidigenden bzw. rachsüchtigen Charakter unter den Umständen dadurch, daß es auf Nachahmung der Handschrift des Kollegen ausgerichtet ist. Das Beispiel zeichnet sich also dadurch aus, daß eine (absichtliche) poietische Finalität des Tuns konstitutiv ist für dessen Qualität als Handeln (hier: für das Verfehlen ethischer eupraxia). 84 Für die ethische Bewertung meines Tuns ist dessen poietische Finalisierung von Bedeutung. Was ich tue, erhält seinen beleidigenden bzw. rachsüchtigen Charakter unter den Umständen dadurch, daß es auf Nachahmung der Handschrift des Kollegen ausgerichtet ist. Ob jedoch diese Nachahmung auch gelingt – ob das poietische telos also verwirklicht wird – ist für die praktische Qualität des Tuns unerheblich.
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Teil I · Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie
Diese Struktur stellt indessen nur eine unter einer Reihe von Möglichkeiten der Verschränkung zwischen poietischen und praktischen Finalitäten dar. In den folgenden beiden Teilen des Buches werden typische strukturelle Muster dieser Art untersucht, wie eine handlungsphilosophische Analyse der Erziehung sie zutage fördert. Teil II handelt von der grundsätzlichen Überordnung praktischer über poietische Finalität. Teil III untersucht Zusammenhänge, in denen das Verhältnis umgekehrt zu sein scheint.
TEIL II Praxis als Sinn von Produktion Unter den denkbaren Formen von praxis nimmt das Handeln – in dem Sinne, in dem man von jemand sagt, er habe gut, oder schlecht, gehandelt – eine einzigartige Stellung ein. Jede praxis steht ihrem Begriff nach unter dem Anspruch des qualifizierten Vollzuges ebendieser praxis. Worin aber besteht die jeweils relevante Qualifikation? In der Regel entnehmen wir den Maßstab zur Bewertung einer praxis den Implikationen des jeweiligen praxis-Begriffs. Dafür liefert der Begriff des Handelns selbst das beste Beispiel: Ausdrücke wie ›gutes bzw. schlechtes Handeln‹ oder ›richtig / klug / ... gehandelt‹ verweisen auf Maßstäbe ethischer Qualität. Die für das Handeln charakteristische Dimension der praxis-Bewertung ist die ethische. Innerhalb dieser Dimension sind Teil-Dimensionen ethischer Bewertung unterscheidbar – die Dimension der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe, der Tapferkeit und anderer Tugenden des Charakters und Qualitäten der praktischen Vernunft. Diese Tugenden und Qualitäten disponieren uns zur Verwirklichung der Motivationsstrukturen, die das Verhalten ethisch qualifizieren. Mit der ethischen Dimension und nur mit ihr – darauf beruht die einzigartige Stellung des Handelns unter den praxis-Formen – verbindet sich der Anspruch letztgültiger Orientierung und Bewertung. Denn der gute Charakter macht zugleich den guten Menschen aus: Ethische Maßstäbe tragen sowohl der Moral als auch dem eigenen Interesse Rechnung; die an ihnen orientierte Vernunft sorgt im Bereich des Verhaltens für die ausschlaggebenden Gründe; ethisch qualifizierte praxis ist konstitutiv für das ›gute Leben‹ auch im vormoralischen Sinn. Im Unterschied zur praxis vollzieht sich poiesis zwar um eines Produktes willen. Indessen sind sämtliche Formen von poiesis, besonders deutlich die verschiedenen Zweige technischer Produktion, letzten Endes praktisch finalisiert, insofern sie im Dienste menschlichen Handelns und Lebens stehen. Das bedeutet nicht für jedes Produkt, man stelle es her, um gut zu handeln oder um gut zu leben. Es heißt jedoch: Was immer produziert wird, verdankt im typischen Fall Funktion und Dasein seiner Verwendbarkeit. Es läßt sich entweder als Material bzw. Werkzeug weiterer Produktion verwenden; oder aber – nicht alles Produzieren kann ja im Dienste weiteren Produzierens stehen – das Produkt steht unmittelbar dem Handeln und dem Leben zur Verfügung, wie z. B. ein Buch oder ein Getränk. Dazu kommen untypische Fälle, in denen das Produzierte vielleicht überhaupt nicht weiter finalisiert ist, das Produzieren selbst jedoch im Dienst einer praxis und, letztlich, des Handelns steht. Auf diese Weise mag jemand beispielshalber am Strand eine Sandburg, die keinem Zweck dient, bauen,
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
um einen Wettbewerb zu gewinnen. – Es gibt also keine poiesis ohne praktische Finalität. Den Zweck der Produktion antizipiert der Produzent in einer Produkt-Konzeption, deren Verwirklichung er beabsichtigt. Wie die Kritik des Intentionalismus gezeigt hat, genügt Erziehung dieser Bedingung nicht. Andererseits weist sie durchaus Merkmale einer poiesis auf. Will man Erziehung daher als poiesis in einem weiteren Sinne verstehen, muß man von jener Bedingung absehen. Erziehung ist dann ergebnis-orientiert, strebt aber nicht danach, eine ProduktKonzeption zu realisieren. Ihr Sinn liegt darin, zur Entstehung eines selbständigen guten Charakters im Erzogenen beizutragen. Diese Ausrichtung unterscheidet die Erziehung von jeder Form der Ausbildung. Denn die Qualifikationen, zu denen man durch Ausbildung anleiten kann, sind als solche von instrumentellem Wert und letztlich ambivalent. Hingegen geht es der Erziehung um eine Qualifikation, die ihren Wert in sich selbst hat und keiner übergeordneten, relativierenden Bewertung unterliegt. Trägt aber der gute Charakter wirklich seinen Wert in sich selbst? – In verschiedener Hinsicht weist auch er tatsächlich so etwas wie instrumentelle Finalität auf. Wie so manches Ergebnis typischer Produktion scheint er nämlich ›unmittelbar dem Handeln und dem Leben zur Verfügung‹ zu stehen. Schließlich ist es die Funktion des guten Charakters, zum guten Handeln zu disponieren. Außerdem kommt er damit indirekt dem Leben derer zugute, die vom Handeln eines guten Menschen betroffen sind. Solche Funktionalität des guten Charakters ist aber nicht von einer Art, die ihn daran hindert, zugleich um seiner selbst willen erstrebenswert zu sein. Denn trotz seiner charakteristischen guten Auswirkungen ist die Qualität des guten Handelns keine Frage seiner Brauchbarkeit. Eher kann man sagen, guter Charakter und gutes Handeln finalisierten sich gegenseitig. Eben diese Gegenseitigkeit erlaubt freilich auch die zuvor artikulierte Auffassung, das Erziehungsziel, der gute Charakter, werde seinerseits durch das gute Handeln des Erzogenen finalisiert. Und insofern bildet Erziehung nur scheinbar eine Ausnahme von der Regel, daß der letzte Sinn aller poiesis praxis ist.
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Gut handeln und gut leben No action can be virtuous, or morally good; unless there be in human nature some motive to produce it, distinct from the sense of its morality. David Hume, A Treatise of Human Nature
In diesem Kapitel soll es darum gehen, innerhalb der Kategorie der praxis diejenige praxis-Form näher zu bestimmen, die dem Leben des Menschen seine
6 Gut handeln und gut leben
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Qualität verleiht und speziell für die Erziehung konstitutiv ist: das Handeln. Die Erörterung dieses Begriffs ist nicht nur ein Kernstück jeder Handlungsphilosophie. Sie ist auch für die hier angestrebte Analyse der Erziehung zweifach bedeutsam. Zum einen nämlich ist Erziehung ihrem materialen Ziel nach Qualifizierung des Heranwachsenden zum guten Handeln. Und zum anderen gedenke ich ja die These zu verteidigen, daß der Weg zu diesem Ziel, das Medium der Erziehung, auf der Seite des Erziehers in dessen Handeln besteht. Im ersten Abschnitt werde ich die Verknüpfung des Handelns mit der ethischen Bewertung menschlichen Tuns aufweisen. Es zeigt sich, daß das Handeln bereits eine Form von praxis unter anderen ist. Jede von diesen scheint, als Selbstzweck, zum Sinn des Lebens beitragen zu können (6.2). Zum Gedeihen des Menschen gehört ein sinnvolles Leben; insbesondere aber gehört zum guten Leben im Sinne des Gedeihens als sinngebende Komponente ein im ethischen Sinne gutes Leben, also auch Moralität (6.3). Unter den konkurrierenden Deutungen der Moral weist die Tugendethik manchen Vorzug auf (6.4–5). Sie bietet für den unbedingten Wert der Selbstentfaltung genauso Platz wie für die Uneigennützigkeit der Moral, für die instrumentelle Bedeutung der Tugenden genauso wie für die Selbstzwecklichkeit der Moralität, für die Ansprüche kritischer praktischer Vernunft genauso wie für die Notwendigkeit erzieherischer Gewöhnung und Einübung. Tugendethisch verstandene Moral ist, bildlich gesprochen, kein Fremdkörper im Leben; sie prägt vielmehr die Motivationsstrukturen. Die Integration dieser Strukturen im Charakter (6.6) unterläuft die Entgegensetzung von Moral und eigennütziger Rationalität (6.7). Auch vermag die Tugendethik auf die Frage nach der ›moralischen Motivation‹ eine Antwort zu geben, die der Struktur tatsächlicher ethischer Urteile gerecht wird (6.8). Dieser Antwort zufolge ist die Absicht, gut zu handeln, für gutes Handeln nicht konstitutiv, sondern allenfalls ein Hintergrundmotiv (6.9).
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Die praxis-Form Handeln ist durch den Gesichtspunkt der ethischen Bewertbarkeit bestimmt
Was ist Handeln? Wenn die in 5.7 angestellten Überlegungen zutreffen, kann man auf diese Frage nicht antworten, Handeln sei ein Tun mit dieser oder jener spezifizierenden Eigenart, Komposition, Umgebung o.ä. Denn welche inneren oder äußeren Merkmale, Komponenten usw. könnten Handeln und Produzieren voneinander unterscheiden, wenn doch grundsätzlich ein Tun, das unter gegebenen Umständen eine poiesis realisiert, unter ebendiesen Umständen auch als praxis betrachtet und näherhin als gutes oder schlechtes Handeln beurteilt werden kann? Nein, auf der Ebene der Erscheinungen läßt sich das Handeln nicht vom Machen (oder auch von anderen praxis-Formen) abgrenzen. Und auch durch das Merkmal einer praktischen Intention kann man es nicht charakterisieren. Denn, wie wir gegen Ende des vorigen Kapitels gesehen haben, kann eine poietische
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
Intention (die das Tun zur poiesis macht) für die Qualität des Handelns (das sich in ebendiesem Tun vollzieht) konstitutiv sein. Und wer schuldhaft etwas versäumt, der handelt schlecht, weil ihm eine Absicht abgeht. Auch scheint es keine ernsthaften Kandidaten für die Position einer das Handeln als solches charakterisierenden Intention zu geben. Noch nicht einmal die unter Philosophen verbreitete Auffassung, alles gute Handeln entspringe einem konstitutiven Motiv, erweist sich als plausibel (6.7). Der Leser mag sich hier daran erinnern, daß sich auch der Erziehungsbegriff nicht auf dem Weg über konstitutive Komponenten bestimmen ließ; insbesondere auch nicht über erzieherische Absichten. Kapitel 4 war ja dem vergeblichen Versuch gewidmet, Aspekte oder Elemente des Erzieher-Verhaltens ausfindig zu machen, auf die man das Erziehen hätte festlegen können. Das Scheitern dieses Versuchs gab dann Anlaß, in der Erziehung eine praxis zu vermuten. Um zu sagen, was Handeln sei, muß man sozusagen in einer anderen Tonart antworten, als gefragt wurde. Die Antwort liegt nicht in einer Auskunft, die anfängt: ›Handeln ist ...‹1 Sie erfolgt vielmehr, indem man klärt, was es heißt, menschliches Tun als Handeln einzuordnen. Versuchen wir es mit folgender Auskunft: Als Handeln läßt sich ein Tun insofern einordnen, als es Maßstäben unterliegt, denen es entsprechen soll und nach denen es gutes oder schlechtes Handeln ist. (Vergleiche: ›Als poiesis einer bestimmten Art läßt sich ein Tun insofern einordnen, als das telos dieser poiesis Maßstäbe impliziert, denen das Ergebnis des Tuns gerecht werden soll – und damit indirekt Maßstäbe, nach denen das Tun selbst, auf dieses telos bezogen, gute oder schlechte poiesis ist.‹) Zwar kann es scheinen, als führe uns diese Erklärung von ›Handeln‹ durch Rekurs auf ›gutes oder schlechtes Handeln‹ im Kreis herum. In Wirklichkeit 1 Die folgenden Ausführungen könnten immerhin diese Definition suggerieren: »Handeln ist, was sich nach ethischen Maßstäben bewerten läßt.« Wörtlich verstanden, ist das eine unangemessene Definition. Denn dasselbe Tun und Lassen, das sich ethisch bewerten läßt, läßt sich auch nach anderen Maßstäben bewerten. Handeln ist es nur, insofern es sich nach ethischen Maßstäben bewerten läßt. In dieser Deutung aber führt die vorgeschlagene Formulierung auf den Gedanken zurück, daß menschliches Tun nicht aufgrund einer differentia specifica als Handeln klassifizierbar ist, sondern unter einem Gesichtspunkt, nämlich dem seiner ethischen Bewertbarkeit. Vgl. hierzu Müller 2003 b und 2004 b. – Alfred Langewand (1992, S. 428) spricht von »der den pädagogischen Systemen des beginnenden 19. Jahrhunderts noch ganz geläufigen Einsicht, daß die Frage ›Was ist Handeln?‹ gar nicht lösbar ist von der Frage ›Was ist richtiges Handeln?‹«. Die begrifflichen Strukturen, die diesen Zusammenhang stiften, untersucht er allerdings nicht. Ähnliches gilt für den Verweis auf die aristotelische praxis bei Brumlik (1992, S. 407). – Buck (1981, S. 144 f.) proklamiert das »Ende der teleologisch verfahrenden Theorie des Handelns« und behauptet: »Was der Handelnde hermeneutisch, durch Bewußtmachung (Kant: ›Aufmerksam‹ werden) seiner eigenen im Vollzug leitenden Hinsichten gewinnt, ist eine ganz allgemeine und formale Charakteristik dessen, was jedes beliebige Handeln zu einem guten und gelingenden macht.« Nur sagt er nirgends, wie Hermeneutik der Erfahrung leisten soll, was aus meiner Sicht (5.4 (c-d)) nur die (teleologische) Analyse des Begriffs des Handelns leisten kann.
6 Gut handeln und gut leben
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verweist aber dieser Ausdruck nicht auf ein vorausgesetztes Verständnis von ›Handeln‹, sondern auf eine bestimmte Weise, menschliches Tun zu beurteilen: er verweist auf moralische oder ethische Bewertung; oder vielleicht auf Dimensionen solcher Bewertung. Als Handeln versteht man menschliches Tun, wenn und insofern es ethische Maßstäbe sind, die man der Bewertung dieses Tuns zugrunde legt, und nicht die Regeln der Etikette oder die Maßstäbe, die einen leiten, wenn man es – nach diesem oder jenem poietischen Maßstab – als Nachahmen, Dichten oder dergleichen einordnet und bewertet. Die hier gegebene Erklärung von ›Handeln‹ mag die Frage veranlassen, ob denn dieses Handeln überhaupt nichts mit Handlung zu tun habe. Man könnte meinen, wo jemand handle, müsse es auch eine oder mehrere Handlungen geben. Ich leugne keineswegs, daß das Verbum ›handeln‹, wenn auch nicht besonders häufig, mit dieser Implikation verwendet wird. Vor allem da, wo es, ähnlich wie ›agieren‹, absolut gebraucht wird. (›Endlich hat der Präsident gehandelt‹.) In anderen Fällen dagegen, insbesondere, wo das Verb als ›Handeln‹ substantiviert und wo es durch Wertungen näher bestimmt wird, muß das Handeln keineswegs in Handlungen bestehen. Man kann z. B. gut, schlecht, selbstlos, egoistisch, taktlos usw. handeln, indem man den geplanten Besuch bei X unterläßt, indem man Y immer häufiger Hilfe anbietet, indem man Z’s Geschichte nicht zu Ende hört. In keinem Fall dieser Art läßt sich eine Handlung oder eine Gruppe von Handlungen bezeichnen, in der das gute oder schlechte Handeln bestünde. Andererseits ist der Begriff des Handelns wiederum nicht so weit, daß alles darunter fiele, was den Charakter eines Menschen manifestiert. Insbesondere scheinen ethisch bewertbare Gefühle, Gefühlsäußerungen und spontane Reaktionen nicht oder jedenfalls nicht offenkundig zum guten bzw. schlechten Handeln zu gehören. – Dieser Umstand ist für die weiteren Überlegungen insofern von Belang, als Lebensäußerungen des Erziehers, die seinen Charakter spiegeln, ohne doch der unmittelbaren Kontrolle seines Willens zu unterliegen, die Qualität der Erziehung mitbestimmen. Der Einfachheit halber werde ich von Handeln auch da sprechen, wo ethisch bewertbare Gefühle usw. ebenso zur Debatte stehen, wie das, was die Umgangssprache als gutes oder schlechtes Handeln gelten läßt. Wie aber verhält sich, unabhängig von der Frage einer solchen Erweiterung, der Begriff des Handelns zu dem der praxis? Aristoteles scheint zwar gute praxis gemeinhin mit dem zu identifizieren, was ›Handeln‹ in der hier beanspruchten (eventuell erweiterten) Bedeutung meint. Doch läßt sein Begriff der praxis, wie ich ihn unter 5.1 gekennzeichnet habe, grundsätzlich Arten von praxis zu, die nicht ethischen, sondern anderen Maßstäben der Bewertung unterliegen, die also anders finalisiert sind als das Handeln. Denn praxis ist jede Art von Tun, deren telos kein separates Ergebnis, sondern einzig eupraxia ist. Diese formale Bestimmung läßt unterschiedliche Qualitätskriterien – unterschiedliche Arten von ›eu‹ – und damit unterschiedliche praxis-Formen zu. Streng genommen ist es also nicht richtig, praxis umstandslos mit Handeln zu identifizieren.
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
Auch kennt die Sprache durchaus praxis-Begriffe, die nicht-ethische Maßstäbe ins Spiel bringen. Zu ihnen gehört z. B. der Begriff des Benehmens. Er ist offenkundig kein poietischer Begriff. Ob nämlich jemand sich gut oder schlecht benimmt, wird nicht nach irgendwelchen Ergebnissen beurteilt. Aber auch nicht nach ethischen Gesichtspunkten. Der Maßstab liegt in Regeln des Anstands oder der ›Schicklichkeit‹. Diese Regeln machen das Benehmen zu der Art von praxis, die es ist – so, wie ethische Maßstäbe das Handeln zu der Art von praxis machen, die es ist. Auch an anderen rein praktischen Maßstäben kann man das Tun eines Menschen messen. Zum Beispiel am Maßstab der Vergnüglichkeit, der Gesetzeskonformität, des Gehorsams gegenüber den Eltern. Oder an ästhetischen Gesichtspunkten. Nur fehlen uns in der Regel sozusagen die Worte, um die Arten von praxis zu bezeichnen, die durch diese Bewertungsdimensionen im selben Sinne ›definiert‹ werden wie das Handeln durch ethische Maßstäbe oder das Benehmen durch die Dimension des Anstands. (Im Schulzeugnis beziehen bzw. bezogen sich die sogenannten Kopfnoten auf pädagogisch relevante Bewertungsdimensionen wie Betragen (jetzt ›Verhalten‹!), Mitarbeit, Aufmerksamkeit, Ordnung und Fleiß. Hier nähern sich die Maßstäbe der Bewertung schon denen, durch die sich bestimmte Tugenden kennzeichnen lassen.) Die Aspekte des Lebens, auf die ein praxis-konstitutiver Bewertungsmaßstab Bezug nimmt, mögen übrigens sehr begrenzt sein. ›Sich kleiden‹ z. B. kann als Bezeichung einer praxis gelten. Der Maßstab, nach dem man als gut oder schlecht gekleidet gilt, umfaßt eine Reihe von Bewertungsdimensionen: Größe, Sauberkeit, Schnitt und farbliche Zusammenstellung, Verhältnis zur Mode(?), Anlaß und Umgebung, Anpassung an Jahreszeit, Temperatur u.a.m. Andererseits handelt es sich bei dieser praxis um einen recht begrenzten Ausschnitt des Lebens.
6.2 Praxis-Formen können das Leben eines Menschen total, partiell und dominant bestimmen Fragen wir nun nach dem Platz, den Formen von praxis im menschlichen Leben einnehmen bzw. einnehmen können. Einerseits scheint es möglich, an einer bestimmten praktischen Finalität das ganze Leben zu orientieren. Andererseits können ihr Anspruch und ihre Bedeutung aber auch begrenzt sein. a) Lebensweisen. Aristoteles nennt drei Arten von praxis, die nach seiner Meinung ernsthaft als Lebensweisen (bioi) in Betracht kommen – als praxis-Formen, deren Gelingen ein gutes oder glückliches Leben bedeuten könnte (EN I 3, 1095b14–1096a9). Es handelt sich um das Leben des Genusses, der gesellschaftlich engagierten Tugend-Praxis und der in Muße betriebenen Theorie. Nebenher erwähnt er dabei, als weniger plausibel, Lebensweisen, die ganz auf politisches Ansehen oder auf Reichtum ausgerichtet sind.
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Wir könnten mit einem Blick auf zeitgenössische Wertvorstellungen weitere (mehr oder weniger bewußt verfolgte) Lebensentwürfe hinzufügen: Machtausübung; Konsum; Orientierung an Prestige oder Erfolg; das Leben des angepaßten Gesellschafters, des Ästheten, des populären Stars. Jeder dieser Begriffe steht für eine praxis, deren telos das ganze Leben orientieren kann und dessen Verwirklichung diesem Leben dann einen Sinn gibt – oder geben soll. (Ich ignoriere vorläufig, daß man den Sinn des Lebens auch mit einem praktischen telos identifizieren kann, das keinen totalen Anspruch stellt, aber andere tele dominiert. Vgl. unten (f).) Jede Lebensweise ist eine praxis und in diesem Sinne Selbstzweck: sie ist auf nichts anderes ausgerichtet als auf die jeweilige eupraxia. Das Leben des Genießers z. B. gelingt – erreicht sein telos – in dem Maß, in dem er nicht leidet, sondern genießt, was er tut und erlebt; er meint gut zu leben, indem er möglichst viel tut und erlebt, was möglichst viel Genuß bedeutet. Wie die Natur einer jeden praxis durch die Natur ihres telos, so ist insbesondere eine Lebensweise durch die Natur ihres telos gekennzeichnet: durch den Sinn, den sie dem ganzen Leben verleihen soll. Mit der Bezeichnung eines solchen angenommenen Lebenssinnes antwortet man auf die Frage: ›Worauf kommt es in deinem Leben letzten Endes an?‹ Die Antwort mag den Anspruch erheben, eine eupraxia zu benennen, auf die es überhaupt im menschlichen Leben ankommt. Dadurch wird der Begriff einer Lebensweise zum Begriff einer exklusiven praxis. Die Ausschließlichkeit weist zwei Aspekte auf. b) Objektive Exklusivität. Zum einen nämlich haben die meisten von uns mehr oder weniger artikulierte Vorstellungen davon, woran – an welchem Lebenssinn – man sein Leben ausrichten sollte; wie sich also das Leben eines erwachsenen Menschen – oder doch eines Menschen dieser oder jener Gruppe – als ganzes vollziehen sollte, soweit es in seiner Hand liegt, dies zu bestimmen. Wir tragen damit einen Maßstab an das Tun auch anderer Menschen heran, an dem sie selbst es nicht unbedingt zu messen gedenken. Nach diesem Muster tritt in der Nikomachischen Ethik der Begriff der Lebensweise (des bios) im Zuge einer Reflexion auf, die sich der Frage nach der richtigen Bestimmung des guten, sinnvollen, glücklichen Lebens widmet. Nach Aristoteles lautet die Antwort: Richtig ist es, wenigstens für einen erwachsenen athenischen Bürger, das eigene Leben als ganzes unter das telos der gesellschaftlich engagierten Tugend-Praxis zu stellen, sofern er nicht zum theoretischen Leben berufen ist. Daher läßt sich das Leben eines solchen Bürgers, auch unabhängig von seinen sinn-gebenden Zielvorstellungen und Beweggründen2, negativ bewerten, wenn er weder Tugend und öffentliches Engagement zeigt noch nennenswerte philosophische Einsichten hat. 2 In der Wahl der Ausdrücke Grund, Motiv, Beweggrund lasse ich mich weitgehend von idiomatischen und stilistischen Gesichtspunkten leiten. Beweggründe sind Gründe, etwas
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
Ähnlich wird ein hedonistischer Theoretiker die von Aristoteles verworfene Lebensweise des Genusses für die richtige erklären. Und er wird das Leben eines beliebigen Menschen, auch z. B. das des Erfolgsmenschen, des vorbildlichen Bürgers oder des glamour- und ruhm-orientierten Stars, am telos der hedonischen Lebensweise messen. Unabhängig davon, was ein solcher Mensch selbst aus seinem Leben machen will, wird es der Hedonist nur in dem Maß als wirklich gelungen gelten lassen, als es genußvoll und frei von Leid ist. Wenn eine Theorie des guten Lebens für eine bestimmte praxis-Form den universellen Anspruch erhebt, ihr Gelingen mache das Gelingen des Lebens aus, so erklärt sie damit eine einzige Lebensweise für richtig.3 Ist Lebensweise X für alle Menschen die richtige, so sind ausschließlich ihre Maßstäbe für die Bewertung auch meines Lebens als ganzen ausschlaggebend. Damit ist die erste Perspektive beschrieben, unter der eine Lebensweise ihrem Anspruch nach eine ›exklusive‹ praxis darstellt: In Reflexion und Theorie ›konkurrieren‹ telos-Konzeptionen einander ausschließender Lebensweisen darum, den richtigen Maßstab des guten Lebens zu repräsentieren. c) Subjektive Exklusivität. Die zweite Perspektive ist die des menschlichen Subjekts, das sich faktisch dieser oder jener Lebensweise verschreibt. Hier konkurrieren nicht mehr theoretische Konzeptionen miteinander; es sind vielmehr gewissermaßen die tele selbst, die darum konkurrieren, die Lebensorientierung der Praxis dieses Subjekts ausschließlich zu bestimmen. Wer sich auf eine Lebensweise einläßt, orientiert sich eo ipso an einem praktischen telos mit ›totalem‹ und insofern ›exklusivem Anspruch‹. Dazu ist weder ausdrücklicher Entschluß noch so etwas wie Pflichtgefühl vonnöten. Vielmehr erhält das Wort ›Lebensweise‹ seine hier einschlägige Bedeutung erst dadurch, daß es Anwendung findet, wo ein Mensch sein Leben tendenziell an einem zu tun oder zu lassen. Motive aber auch. Alle drei Ausdrücke lassen sich z. B. im gleichen Sinne auf die Sorge um den kranken Vater anwenden, aus der heraus ich, sagen wir, zu Hause bleibe. Auch verweisen alle drei Ausdrücke auf Maßstäbe der praktischen Rationalität. Nur nimmt ›guter Grund (zu Hause zu bleiben)‹ auf die Klugheit, auf die (im weitesten Sinne) logische Qualität des Begründungsmusters Bezug, während ›gutes Motiv (zu Hause zu bleiben)‹ die ethische Orientierung bewertet, von der die Begründung ausgeht. Daran liegt es auch, daß es unmittelbare und mittelbare, vorläufige und letzte Gründe für ein Verhalten geben kann, während man in der Regel nur einen letzten Grund oder die in ihm artikulierte Orientierung als Motiv bezeichnet. 3 Bei Aristoteles ist die Universalität des Anspruchs insofern eingeschränkt, als er nur von Bürgern einer polis zu sprechen scheint. Im übrigen kann die Theorie natürlich, streng genommen, auch eine Gruppe wohl-definierter Alternativen zulassen – wie ja Aristoteles tatsächlich neben dem ethisch-politischen das theoretische Leben als erstrebenswerten bios ins Auge faßt. Entscheidend ist, daß andere Optionen als falsch verworfen werden. – Nur wenn es hier Richtig und Falsch gibt, ist die Rede vom ›Gelingen des Lebens‹ mehr als eine modische Gedankenlosigkeit. Dieser Wahrheit kann man sich nicht dadurch entziehen, daß man das Gelingen schlicht mit der Verwirklichung der eigenen Vorstellungen gleichsetzt. Denn diese Gleichsetzung läuft selbst auf eine Auffassung von der richtigen Lebensweise hinaus.
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einzigen übergeordneten telos ausrichtet und dieses telos zum Kriterium macht, nach dem er alles bewertet, was er tut und was ihm widerfährt. Habe ich mich z. B. faktisch einem Leben des Genusses verschrieben, so heißt dies nichts anderes, als daß ich tendenziell mein ganzes Leben von diesem telos finalisieren lasse – auf Kosten jeder Finalisierung meines Tuns durch ein anderes, selbständiges (nicht subsidiäres) telos. Nun hat zwar im Leben jedes Menschen auch der Genuß als telos seinen Platz. Doch werden nur wenige alles, was sie tun, letzten Endes ausschließlich unter dem Aspekt erleben, betrachten und bewerten, wie es die eigene GenußBilanz affiziert. Wie aber sieht das Leben dieser wenigen aus? Was bedeutet die ›subjektive Exklusivität‹ der eupraxia Genuß? Zugegebenermaßen ist auch der Hedoniker nicht rund um die Uhr mit wohlig heißen Bädern, sexuellen Orgien und sorglosen Schlemm-, Trink- und Zechgelagen beschäftigt. Aber tendenziell läßt er sich bei der Planung seiner Zeit und der Gestaltung seiner Tage durchaus von einem einzigen übergeordneten Gesichtspunkt leiten: das Leben soll möglichst wenig Leid und möglichst viel Genuß bereiten. Und sofern er seinem bios konsequent die Treue hält, läßt er sich auch durch moralische Gesichtspunkte als solche von seinem telos nicht ablenken. Er vermeidet es allenfalls, vor anderen als Schurke dazustehen und dadurch mittelbar seine hedonische ›Lebensqualität‹ zu gefährden. Entsprechendes gilt vom Star, der glamour zum telos seines Lebens gemacht hat; vom Ästheten (man denke an Mr. Osmond, Isabels Ehemann, aus The Portrait of a Lady von Henry James); vom Fanatiker, der wie Michael Kohlhaas oder der RAF-Terrorist einem einzigen Anliegen lebt; vom engagierten Mitglied einer religiösen Gemeinschaft; und, wie sich zeigen wird, auch von dem, der sich an ethischen Maßstäben orientiert. d) Partielle tele. Zu den praktischen tele, die das Leben von Menschen bestimmen, gehören allerdings nicht nur solche, die mit totalem und insofern exklusivem Anspruch auftreten. Soeben sagte ich bereits, normalerweise werde ein Mensch in seinem Leben zwar auch Genuß zu schätzen wissen, aber nicht all sein Tun an diesem telos messen. Für ihn ist Genuß eine partielle eupraxia unter anderen. Vielleicht sind es nur die ethische und die religiöse Qualifizierung des Lebens, die schon ihrem Begriff nach einen totalen Anspruch erheben und als partielle Finalisierungen von vornherein mißverstanden wären. Ansonsten präsentiert sich ein praktisches telos im allgemeinen als partieller, nicht als totaler Anspruch. Das bedeutet: Verschiedene, voneinander unabhängige tele, von denen jedes eine Art von praxis definiert, beanspruchen das Leben eines Menschen. Er widmet sich seiner Familie, liebt seine Forschertätigkeit, betätigt sich politisch, pflegt seine Raritätensammlung, ist auf Macht und Einfluß aus, etc.; er schätzt und sucht die Wiederholung des Vertrauten, die Erprobung des Neuen, Spiel und Musik, Sport und Tanz, Natur- und Kunstbetrachtung, Konversation und das
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Zusammensein mit Freunden, die Erinnerung an schöne und an traurige Erlebnisse. Und all dies und vieles andere um seiner selbst willen; so also, daß sein Tun sich danach bewerten läßt, inwieweit es die jeweilige eupraxia realisiert: inwieweit in diesem Tun tatsächlich zufriedenstellendes Familienleben und Forschen, Wiederholung des Vertrauten und Erprobung des Neuen etc. zum Zuge kommen. Auch solche partiellen tele konkurrieren untereinander. Nicht wie einander entgegengesetzte Auffassungen darüber, wie man leben soll (vgl. (b)). Und nicht wie mögliche Lebensorientierungen, die sich gegenseitig einen totalen Anspruch streitig machen (vgl. (c)). Partielle tele konkurrieren um Gewicht und um entsprechenden Aufwand an Ressourcen. Grundsätzlich konkurrieren unterschiedliche praxis-Formen mit ihren nicht-exklusiven tele im Leben eines Menschen ›um Anteile‹; nur als Lebensweisen konkurrieren sie, Ausschließlichkeit beanspruchend, um das Leben eines Menschen. e) Integration. Wegen der Konkurrenz partieller tele benötigt das Subjekt so etwas wie einen Lebensplan: eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung davon, welches Gewicht den einzelnen Arten von praxis zukommen soll und wie sich diese in die maßgebende Lebensweise integrieren lassen. Entweder konstituiert der Lebensplan dann selbst bereits eine Lebensweise, deren eupraxia nichts anderes ist als Realisierung der partiellen tele in den vorgesehenen Proportionen. (Das telos dieser Lebensweise geht über eine Integration der partiellen tele nicht hinaus.) Oder der Lebensplan weist den zu integrierenden partiellen tele ihre Rolle innerhalb einer Lebensweise mit eigenständigem exklusivem telos zu. (So mögen beispielsweise in einem an ethischen Maßstäben orientierten Leben partielle tele wie Bequemlichkeit und Macht ihren Platz haben.) In beiden Fällen wird die integrierende Lebensweise den partiellen tele, wie angedeutet, unterschiedliches Gewicht zumessen. Dies kann sich etwa im unterschiedlichen Aufwand an Ressourcen – z. B. an Zeit und Energie für die Belange der Familie einerseits, für das Zusammensein mit Freunden andererseits – niederschlagen. Unterschiedliches Gewicht ist aber unter Umständen eine Sache der relativen Notwendigkeit. Unter dem Vorzeichen einer bestimmten Lebensweise ist das Gelingen der einen praxis nötiger als das der anderen für das Gelingen des Lebens. Mithin kann sich unterschiedliches Gewicht nicht nur in unterschiedlichem Aufwand niederschlagen, sondern auch z. B. in unterschiedlich intensiver innerer Beteiligung. Diese Beobachtung ist u. a. deshalb von Interesse, weil sie noch einmal daran erinnert, daß eine praxis durch ihr telos und allenfalls sekundär durch Verhaltensabläufe bestimmt ist. Ein solches telos heißt vielleicht ›Bequemlichkeit‹, ein anderes ›langes Leben‹ und ein drittes ›Macht und Einfluß‹. Das unterschiedliche Gewicht dieser tele wird sich nicht darin zeigen, daß dem einen ›mehr Tätigkeit‹ u.ä. zusteht als dem anderen; sondern eher darin, daß das eine als Bewertungsmaßstab für Widerfahrnisse und Verhaltensmöglichkeiten mehr zählt
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als das andere. Ein Beispiel: X wird als Staatsanwalt nach Y versetzt; dort hat er die Möglichkeit, sich im Kampf gegen die Mafia zu engagieren. Die Bewertung sowohl der Versetzung als auch des Engagements wird unter den Gesichtspunkten der Bequemlichkeit, der Lebensdauer und der Einflußmöglichkeiten unterschiedlich ausfallen. Das Gewicht, das X den drei tele beimißt, zeigt sich darin, wie stark die jeweilige Bewertung sein Erleben und sein Tun bestimmt. f) Dominante tele. Der Anspruch eines praktischen telos kann, obschon partiell, doch dominant sein. Das Leben eines Menschen kann ›ganz‹ von einer praxis wie Partnerschaft oder Familienleben geprägt sein (ohne andere praktische tele wirklich auszuschließen). Auch vielen anderen Dingen kann diese dominante Rolle im Leben eines Menschen zugedacht sein, z. B. dem künstlerischen Schaffen, dem Sport, der Macht, dem Reichtum, dem Erfolg. Dafür haben wir Ausdrücke wie Künstler-, Politiker- und nicht zuletzt auch Erzieher-Leben. In allen diesen Fällen bestimmt ein einziges telos sehr weitgehend das Denken, Fühlen und Handeln des Subjekts. Dessen Lebensweise räumt diesem telos einen deutlichen Vorrang vor anderen Finalisierungen ein, ohne diese doch auszuschließen.4 Zwischen einem dominanten und einem bloß gewichtigen partiellen telos läßt sich vielleicht keine scharfe Grenze ziehen. Allenfalls könnte man versuchen, die Unterscheidung an die Frage zu binden, ob das Subjekt die durch das telos finalisierte praxis als etwas erfährt oder jedenfalls behandelt, wodurch sein Leben einen Sinn erhält, oder ob es diese praxis lediglich als in sich sinnvoll erfährt oder behandelt. Denn ein dominantes telos scheint zumindest häufig auf ähnliche Weise wie eines, das man als exklusiv behandelt, das Versprechen mit sich zu führen, dem Leben selbst einen Sinn zu geben. Mit dem Thema ›Lebenssinn‹ sind allerdings Fragen aufgeworfen, denen ich hier nicht weiter nachgehen kann. Wie steht es z. B. um einen Künstler, dem seine Kunst zwar das dominante praktische telos liefert, der aber die Belange des Künstlerlebens moralischen Maßstäben unterordnet? Er wird vermutlich sagen, die Kunst gebe seinem Leben Sinn. Ist sie in seinen Augen auch konstitutiv für den Sinn seines Lebens? Das könnte u. a. davon abhängen, was Moral für ihn bedeutet. Spielt sie einzig die Rolle einer einschränkenden Forderung, so kann sie dem Leben keinen Sinn geben. Anders hingegen sieht es damit schon aus, wenn die Vorstellung eines guten Charakters das Selbstbild prägt, das dieser Künstler in seinem Leben mehr als alles andere – mehr sogar als seinen künstlerischen Impuls – zu realisieren wünscht (vgl. 6.3 (d)).
4 Möglicherweise hat sich Aristoteles den bios theoretikos als eine Lebensweise gedacht, deren charakteristisches telos eher dominant als exklusiv ist. – Beispiele wie Künstlerund Erzieher-Leben werfen die Frage auf, wie sich hier poietische und praktische Finalität zueinander verhalten. Vgl. dazu 7.2 und 7.4.
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6.3
Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
Für ein gutes Leben im Sinne menschlichen Gedeihens ist das ethisch gute Leben konstitutiv
Ich habe darauf hingewiesen, daß Handeln eine praxis-Form unter anderen ist (6.1) und daß eine praxis-Form nicht nur eine partielle und vielleicht dominante Dimension eines Menschenlebens darstellen, sondern dessen Gestaltung insgesamt bestimmen kann (6.2). In diesem Abschnitt möchte ich nun von der Teleologie ausgehen, die der Begriff des Lebens mit sich führt, und zeigen, inwiefern gutes Handeln eine privilegierte Stellung unter den praxis-Formen einnimmt, die zur Konstitution eines guten Lebens beitragen könnten. Nur wenn diese Sonderstellung des guten Handelns verständlich wird, kann auch die These einleuchten, daß Erziehung (im engeren Sinne) nichts anderes ist als ethische Erziehung. a) Daß wir vom guten bzw. schlechten Leben in mehr als einer Bedeutung sprechen, ist offenkundig. Zum einen nämlich sagen wir von einem Menschen, den Natur und Schicksal stiefmütterlich behandeln, er habe ein ›schlechtes Leben‹. Andererseits führt der ein ›schlechtes Leben‹, dessen Handeln es an moralischer Qualität fehlen läßt. Eine ähnliche Zweideutigkeit zeigt der substantivische Ausdruck ›gutes Leben‹. Demnach scheint es zwei Bewertungsmaßstäbe für das menschliche Leben zu geben. Auch wenn sich herausstellen sollte, daß man kein gutes Leben haben kann, ohne ein gutes Leben zu führen, steht also der Ausdruck ›Leben‹ für zwei Arten von praxis. In einer Bedeutung läuft ›gut leben‹ etwa auf dasselbe hinaus wie ›gut handeln‹. Nur bezieht man den Ausdruck ›gut handeln‹ eher auf das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation. Und dann gründet man seine Verwendung auf eine bestimmte Qualität wie etwa Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit, Überlegtheit oder Geistesgegenwart – auf eine Qualität, die in dieser Situation in besonderer Weise gefragt ist. Um hingegen gut zu leben, muß einer in mehr oder weniger allen Situationen gut handeln und daher tendenziell die ganze Palette der Tugenden ins Spiel bringen. Neben diesem ethischen Bezug weist der Ausdruck ›gut leben‹ eine zweite Verwendungsweise auf. Sie hat das Gedeihen des Menschen im Blick, läßt aber Streit darüber zu, worin denn ein gutes Leben im Sinne des Gedeihens bestehen mag. b) Wenn wir im Fall von Pflanzen und Tieren von Gedeihen sprechen, meinen wir das Leben eines Individuums, das in einer seiner Art gemäßen Umgebung, auf der Basis einer vollständigen arteigenen Ausstattung und durch Verwirklichung der arteigenen Lebensvollzüge sich selbst am Leben erhält und in der Lage ist, zum Fortbestand einer Population oder Gruppe seiner Art auf art-typische Weise beizutragen. Es ist nicht einzusehen, warum der Ausdruck ›Gedeihen‹ nicht in analoger Weise auf Menschen anwendbar sein soll.
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Allerdings weist der Mensch bemerkenswerte Besonderheiten auf, die den Begriff des menschlichen Gedeihens tangieren: zu seiner arteigenen Ausstattung gehört Vernunft und damit die Fähigkeit, Lebensvollzüge zu variieren; seine Lebensform weist kaum Bezüge auf eine artgemäße Umgebung auf, stellt ihn dafür aber vor die Möglichkeit und die Notwendigkeit, selbst für die ›Passung‹ zwischen den eigenen Dispositionen und Vollzügen einerseits und dem Charakter der Umgebung andererseits zu sorgen; die Grenze des ›Arteigenen‹ ist also entsprechend weit zu ziehen; zum Kriterium der Selbsterhaltung treten Erfordernisse hinzu wie zufriedenstellende Beziehungen, das Verfolgen eigener Pläne usw. – Erfordernisse eines glücklichen Lebens.5 Zum guten Leben im Sinne menschlichen Gedeihens gehören insbesondere auch Gesundheit und Bedingungen, die dem, was einer für sein Glück selbst tun kann, wenn nicht förderlich, so doch zumindest nicht hinderlich sind. Auf solche Erfordernisse, die nur sehr eingeschränkt seiner Kontrolle unterliegen, bezieht man sich, wenn man von einem Menschen sagt, er ›habe‹ ein gutes Leben. An ethische Qualifizierung hingegen denkt man nur bei der Aussage, er ›führe‹ ein gutes Leben. Welche Lebensvollzüge sind es nun, die menschliches Gedeihen konstituieren? Und insbesondere: Welche Art von praxis ist geeignet, den Menschen glücklich zu machen oder zu seinem Glück zumindest entscheidend beizutragen? Wir werden sie im Bereich dessen suchen, was als Lebensweise oder als dominante praxis ein telos vorgibt, das um seiner selbst willen verfolgt sein will (6.2) und dem Leben Sinn zu geben verspricht. c) Nun könnte man meinen, die Natur des Menschen – seine arteigene Lebensform – sei vielleicht so unbestimmt, daß alle möglichen Lebensweisen geeignet seien, das Gedeihen eines Menschen zu befördern, sofern er nur zum einen das telos der gewählten (oder übernommenen) Lebensweise tatsächlich erreiche und hierin den (oder einen) Sinn seines Lebens erfahre und zum anderen von ernsten Krankheiten, schädlichen Umständen und schlimmen Widerfahrnissen verschont bleibe. Einiges spricht jedoch dafür, daß diese Annahme der Lebensform Mensch nicht gerecht wird. Bei aller Vielfalt der Möglichkeiten scheint noch lange nicht jedes praktische telos mit dieser Lebensform zu harmonieren. Insbesondere fragt sich, ob nicht das gute Handeln ein telos bedeutet, an dem ein Mensch sein Tun orientieren muß, wenn er gedeihen soll; ob also nicht ein gutes Leben führen muß, wer ein gutes Leben haben will. Zwar halten es – einer branchen-internen scientific correctness folgend – die meisten Sozialwissenschaftler heute für ausgemacht, daß es so etwas wie eine Natur des Menschen gar nicht gibt (so daß auch keine philosophische Anthropologie legitim sein kann). Nichtsdestoweniger ist ihre These nichts anderes als
5 Zum Thema Gedeihen vgl. Foot 2001, S. 25–98; Müller 1998, S. 57–71; Thompson 1995.
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eine gedankenlose Übertreibung. Sie selber wissen natürlich sehr wohl die Objekte ihrer eigenen Forschung zu identifizieren. Sie kennen also Merkmale, die Menschen weder mit Gänseblümchen noch mit Schimpansen teilen. Und Marsbewohner, die den Begriff des Lebens hätten, könnten uns mühelos von anderen Spezies unterscheiden – leichter z. B. als eine Mäuse-Art von der anderen. Auch hätten sie in ihrem Bericht über homo sapiens – vielleicht im Stil der Tierfilme, in denen das Fernsehen über das Leben des Waschbären oder der sibirischen Steppenameise berichtet – eine ganze Menge an charakteristischen Zügen unserer Lebensform aufzuführen. Zu diesen Eigenarten unserer Natur gehört die Angewiesenheit auf so etwas wie Moral: auf eine bestimmte Verfassung unseres Wollens. In Arnold Gehlens Anthropologie ist sie eine unerläßliche Komponente menschlicher Kultur. Ohne Tugend keine Kooperation, keine Sicherheit, kein Verlaß darauf, daß auch am folgenden Tag das Nötige zur Verfügung steht. Nur Charakter kann unserem Verhalten die variable und zugleich verläßliche Gestalt geben, deren das Leben eines ›handelnden Organismus‹ bedarf (vgl. Gehlen 1978, insbes. Teil III). Die Frage ist aber, ob für spezifisch menschliches Gedeihen die Orientierung an einem moralischen oder ethischen telos nur instrumentell oder auch als konstitutive praxis notwendig ist. d) Nach Aristoteles liefern tatsächlich ethische Maßstäbe die einzige Bewertungsdimension, die zu Recht den Anspruch erhebt, jene eupraxia zu definieren, an der sich alles Tun zu orientieren hat, wenn menschliches Leben gelingen soll. (Ich sehe dabei vom eher göttlichen bios theoretikos ab, der immerhin auch auf praktische Tugend angewiesen ist, sofern ein Mensch diese Lebensweise überhaupt realisieren kann.) Gutes Handeln wäre dann in einem uneingeschränkten Sinne Selbstzweck. Hat Aristoteles recht, so ist das ethisch gute Leben zugleich der entscheidende Bestandteil des guten Lebens im Sinne des Gedeihens. Damit wird die unter (a) getroffene Unterscheidung nicht hinfällig: der Begriff des guten Lebens im Sinne menschlichen Gedeihens bleibt natürlich vom Begriff des ethisch guten Lebens verschieden. Doch ist die Übereinstimmung im Ausdruck kein Zufall. Die Orientierung an ethischen Maßstäben bedeutet vielmehr deshalb gutes Leben, weil sie selbst die ausschlaggebende Komponente des guten Lebens im Sinne des Gedeihens ausmacht. Ich werde davon ausgehen, daß Aristoteles recht hat, wenn er, dieses Konstitutionsverhältnis annehmend, die eupraxia des Handelns mit eupraxia schlechthin identifiziert. Gutes Handeln ist nicht nur eine instrumentelle Bedingung, sondern zugleich der konstitutive Kern gelungenen menschlichen Daseins. Und dementsprechend ist Qualifizierung des Charakters die zentrale Aufgabe der Erziehung (Kapitel 8). Da diese Sicht der Erziehung nur von wenigen bestritten wird, möchte ich hier die Auffassung, durch die ich sie stütze – die Auffassung, gutes Handeln bilde den Kern des menschlichen Gedeihens – nicht ausführlich begründen. Ich fasse
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nur kurz zusammen, was ich an anderer Stelle (Müller 1998, insbes. S. 176–183) dazu gesagt habe: Um zu gedeihen oder auch nur zu überleben, bedürfen Menschen des vernunftgeleiteten Handelns. Dadurch kompensieren sie – im Sinne der soeben unter (c) erwähnten Überlegungen Gehlens – ›Mängel‹ der natürlichen Ausstattung. Um jedoch den Verlockungen kurzfristiger und egoistischer Ziele gewachsen zu sein, die eigenes oder fremdes Gedeihen gefährden, bedürfen die vernünftigen Motivationsstrukturen einer Verwurzelung in relativ beständigen Dispositionen – in den Tugenden. Da diese Tugenden nicht in jeder einzelnen Situation von instrumentellem Wert sind – und schon gar nicht immer dem Handelnden selber nützen –, kann dieser sie nur dadurch in ein zufriedenes Leben integrieren, daß er die verhaltenswirksame ethische Orientierung selbst als Bestandteil des eigenen Gedeihens behandelt und erfährt. Das aber gelingt nur, wenn er aus dieser Orientierung den letztlich ausschlaggebenden Maßstab seines Tuns gewinnt. Mit einem Wort: Im Kontext menschlichen Lebens weist das Ethische so etwas wie ›Eigendynamik‹ auf: als Instrument des menschlichen Gedeihens können praktische Vernunft und ethische Tugend nur da funktionieren, wo die ›integrierende Lebensweise‹ (6.2 (e)) in der ethischen eupraxia liegt, wo also gutes Handeln um seiner selbst willen geschieht und nicht als Instrument intendiert ist.6 Diese Auffassung von der konstitutiven Rolle guten Handelns in einem gelungenen Leben ist – wenn sie zutrifft – zugleich notwendiger Bestandteil eines solchen Lebens. Oder, etwas vorsichtiger gesagt: Die entgegengesetzte Auffassung, gutes Handeln sei für das eigene Gedeihen belanglos oder von lediglich instrumentellem Wert oder gar nachteilig, hindert das Subjekt daran, in solchem Handeln sein Gedeihen zu finden. Mit der Auffassung, daß gutes Handeln dem Handelnden selber ›gut tut‹, ist freilich eine sehr grundlegende Überzeugung ausgesprochen. Sie ergibt sich einerseits als Postulat aus der oben skizzierten Erwägung, daß die Tugend ihre offenkundige instrumentelle Funktion nur erfüllen kann, wenn man sie als Selbstzweck behandelt. Andererseits sind Wahrheit und Haltbarkeit jener Überzeugung darauf angewiesen, daß der Überzeugte auch die Erfahrung macht, daß gutes Handeln ihm gut tut – daß er sein ethisches Bemühen nicht einem Fremdkörper namens Moral zum Opfer bringt. Diese Erfahrung ist in dem Maße möglich, wie ethisch qualifizierte Motive zur ›zweiten Natur‹ geworden sind und 6 Eine ähnliche Sicht formuliert Bernard Williams (1997, S. 54 f.): »Ethical life [...] contains motivations that indeed serve [...] other ends but at the same time are seen from within that life as part of what make it worth living.« – Aus der Sicht, die ich hier vertrete, gehört die Praxis der Tugenden selbst zu den Lebensvollzügen, die für die Spezies Mensch im Sinne von 6.3 (c) charakteristisch sind. Eine Kennzeichnung des Gedeihens, dem die Tugenden instrumentell zu dienen haben, muß also auf eine Lebensform Bezug nehmen, die sich unabhängig vom konstitutiven Beitrag dieser Tugenden nur unvollständig kennzeichnen läßt. Schon aus diesem Grund ist es höchst fraglich, ob sich aus einem Begriff der menschlichen Lebensform eine Spezifizierung der instrumentell erforderlichen Tugenden herleiten läßt.
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nicht mehr mit dem konkurrieren, was man ›eigentlich‹ will.7 Freilich ist diese Möglichkeit selber Gegenstand ›ethischen Glaubens‹ und persönlicher Erfahrung, nicht statistischer Erhebung oder philosophischer Deduktion. e) Daß Charakterbildung zum guten Leben auch im Sinne des Gedeihens qualifiziert, läßt sich durch eine tugendethische Deutung der Moral besonders plausibel machen (Carr 1991; Carr / Steutel 1999) – vor allem dann, wenn man ›Tugend‹ in einem hinreichend weiten Sinn versteht. Ohne beweisen zu wollen, daß diese Deutung die einzig richtige sei, erläutere und verteidige ich sie in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels. Sie hat nicht nur den Vorteil, erklären zu können, weswegen Eltern glauben, etwas Gutes für ihre Kinder zu tun, wenn sie deren Charakterbildung fördern. Sie expliziert auch die motivationalen Strukturen des Handelns auf eine Weise, die dem alltäglichen Verständnis von Gut und Schlecht gerecht wird und an die meine späteren handlungsphilosophischen Analysen zwanglos anknüpfen können. Ich verstehe die Tugendethik nicht als eine Theorie der ›Moralbegründung‹. Ob es eine tugendethische oder irgendeine andere Moralbegründung gibt oder nicht – die Tugendethik soll bei den folgenden Erörterungen helfen, gutes und schlechtes Handeln in seinen Strukturen und in seiner pädagogischen Bedeutung zu begreifen; nicht, den Skeptiker durch Argumente zu überzeugen. Was die Tugendethik über Handeln und Erziehen zu sagen hat, verliert auch dann kaum an Bedeutung, wenn man sich einer utilitaristischen, deontologischen, diskurs-ethischen, subjektivistischen oder sonstigen Theorie der Moral verschreibt. Jedenfalls besteht heute unter Moralphilosophen weitgehend Einigkeit darüber, daß sich gutes oder richtiges Handeln, wie immer es begrifflich zu bestimmen oder auch zu begründen sein mag, nicht ohne Tugend realisieren läßt. Ohne Disponierung von Gewohnheit, Affekt und Neigung sind moralische Einstellungen nicht verhaltenswirksam.
7 In unterschiedlicher Form wird eine ›Anti-Fremdkörper-These‹ von vielen Moralphilosophen vertreten. So bedeutet nach Sarah Broadie die aristotelisch verstandene Tugend nicht etwa »a power that puts a brake on the basic pleasure / pain impulses, blocking them in mid-trajectory as they try to push beyond the limit of what is appropriate. The effect, instead, is an easy compliance on their part, a reformation of their trajectories so that the completed shapes fit gracefully with the excellent response. Otherwise, the excellent agent will always be fighting with himself« (Aristotle 2002, S. 20). Philippa Foot verweist auf Sokrates, der bereit ist zu zeigen, »what justice is in the soul: that it is health rather than disorder there. He denied that happiness lies in the possession of wealth and power or any other of the advantages listed by Thrasymachus, insisting that it rather lay in harmony in the soul« (2001, S. 101). Und sie selbst nimmt Friedrich Nietzsches Herausforderung an, zu zeigen, daß der moralisch gute Mensch etwas anderes ist als »a wretched, fearful creature, tormented by a biting conscience and unable to seek his own good« (2001, S. 106). Rosalind Hursthouse (1999, S. 163–191) geht explizit auf pädagogische Zusammenhänge ein. Ungefähr das, was ich hier ›ethischen Glauben‹ nenne, behandelt sie ausgiebig unter dem Stichwort »ethical outlook« (S. 189). Vgl. auch 11.5 und Müller 1998 a, S. 148–150.
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Man könnte sogar sagen: Der Kern einer tugendethischen Analyse des Handelns artikuliert nur, was das alltägliche Verständnis von Charakter und Handeln impliziert, und bleibt insofern weitergehenden moralphilosophischen Theorien gegenüber neutral.
6.4
Aus pädagogischer Perspektive ist die Tugendethik utilitaristischen und deontologischen Deutungen der Moral überlegen
Daß die Moral in gewissem Sinne einen totalen Anspruch erhebt und daß Moralität der Maßstab ist, an dem sich die Qualität des Handelns entscheidet: das gehört wohl zum gängigen Begriff der Moral. Es ist jedoch nicht von vornherein klar, daß die Maßstäbe der Moral etwas anderes bedeuten als Einschränkungen und Forderungen, denen wir unsere eigenen Ziele und Wünsche unterwerfen sollen. Kann Moral in dieser Rolle dem Leben einen Sinn geben? Oder gehört das gar nicht zu ihrer Funktion? Und was ist Moral, wenn sie nicht lediglich einschränkt und fordert? Kann Moralität als eupraxia des Handelns gelten? Und wie verhält sie sich in diesem Fall zu anderen praktischen tele? – Wie also greift Moral in die Ausrichtung unseres Verhaltens ein? Auf diese Fragen geben unterschiedliche Moraltheorien unterschiedliche Antworten. Drei exemplarische Antworten, die die gegenwärtige meta-ethische Diskussion beherrschen, will ich hier kurz unter handlungsphilosophischer Perspektive kennzeichnen. Dabei kann es, wie schon angedeutet, nicht um Begründung und Widerlegung moralphilosophischer Theorien gehen. Eher hoffe ich, die Vorzüge, die eine Tugendethik im Hinblick auf meine Untersuchung hat, durch Vergleich mit alternativen Konzeptionen einigermaßen deutlich und attraktiv hervortreten zu lassen. a) Utilitarismus. Die utilitaristische Deutung der Moral schreibt dem, was X zu einem beliebigen Zeitpunkt tut, zunächst einmal ein (ziemlich anspruchsvolles) poietisches telos vor. Dieses telos ist ein Zustand der Welt; genauer: der beste Weltzustand, zu dem X unter den gegebenen Umständen durch sein Verhalten beitragen kann. Je nach Theorie-Variante betrifft dieser Zustand das Befinden der Menschheit oder eines anderen Kollektivs. Wenn das, was X durch sein Verhalten (mit-)bewirkt, dem telos entspricht, ist sein Tun zunächst einmal poietisch qualifiziert. Worin das poietische telos besteht – ob möglichst viel Glück oder Wunscherfüllung oder Schmerzfreiheit oder was auch immer erreicht werden soll: das tut hier nichts zur Sache. Wie aber steht es nach utilitaristischer Auffassung um das praktische telos des Tuns? Durch welche Qualifizierung wird das Verhalten zum guten Handeln? Diese Frage beantwortet der Akt-Utilitarismus auf dem Weg über einen unmittelbaren Vergleich der Verhaltensmöglichkeiten, die sich X unter den jeweiligen
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Umständen anbieten. Sein Tun ist genau dann praktisch qualifiziert, wenn keine Verhaltensalternative die Erreichung eines besseren Weltzustandes erwarten läßt. Wer prinzipiell und kontinuierlich sein Tun auf das (Mit-)Bewirken einer möglichst glücklichen Welt ausrichtet, macht damit diese poietische Orientierung selbst zu einem praktischen telos mit totalem Anspruch. Diese Orientierung wird damit für die Lebensweise von X konstitutiv – nicht anders, als die umfassende Ausrichtung auf Prestige oder Erfolg in 6.2 (a) eine Lebensweise konstituiert. X führt dann in dem Maß, wie er sich der Optimierung des Weltzustandes widmet, ein ebenso moralisch gutes wie sinnerfülltes Leben. Der Akt-Utilitarismus scheint als einziges Motiv des Verhaltens – als einzigen letzten Beweggrund – entweder das jeweils zu erreichende Optimum an, sagen wir, allgemeiner Wunscherfüllung oder aber die Perfektionierung der eigenen Ausrichtung auf dieses Optimum vorzusehen.8 Dann aber hat kein partielles praktisches telos im guten Leben Platz. Denn die akt-utilitaristisch vorgeschriebene Lebensweise verlangt ja unmittelbare Ausrichtung allen Tuns auf ein Maximum menschlichen Wohlbefindens o.ä. zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Jeder weitere praktische Maßstab geriete mit der hier geforderten eupraxia in Konflikt. Utilitaristisch verstanden, ist die Moral zwar geeignet, das menschliche Leben auf einzigartige Weise zu integrieren. Sie tut das jedoch um einen hohen Preis; dadurch nämlich, daß sie für naturwüchsige Motive – mit denen die akt-utilitaristische Moral unweigerlich zu konkurrieren hätte – keinen Platz läßt. Insofern stellt sie einen Fremdkörper im menschlichen Leben dar. Nach regel-utilitaristischer Auffassung ist unmittelbare Ausrichtung jeder einzelnen Handlung am utilitaristisch geforderten poietischen telos aus verschiedenen Gründen nicht praktikabel. Gegenstand des Vergleichs und der Bewertung müssen daher zunächst einmal nicht aktuelle Verhaltensmöglichkeiten, sondern Regelsysteme, Systeme moralischer Normen sein; dem besten dieser Systeme soll dann das Verhalten folgen. X handelt demnach gut, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens muß X in allem, was er tut, ein System von Regeln befolgen. Zweitens muß seine – oder vielleicht jedermanns – Orientierung an diesem System im Vergleich zu alternativen Orientierungen ein utilitaristisch optimales Ergebnis verheißen – ein Maximum an Wohlbefinden aller Menschen o.ä. An diesem Ergebnis soll also nach regel-utilitaristischer Auffassung das Verhalten selbst nur sehr indirekt orientiert sein. Um gute praxis zu sein, muß es lediglich unter den beiden genannten Bewertungsdimensionen – Regelkonformität und Qualität des akzeptierten Regelsystems – gut abschneiden.
8 Beide Alternativen werfen Probleme auf. Der utilitaristisch optimale Weltzustand ist ein poietisches telos; und die Verwirklichung eines poietischen telos ist nie letzter Grund des Handelns (vgl. 7.1–3). Perfekte Orientierung an diesem poietischen telos ist zwar ihrerseits eupraxia, also ein praktisches telos; aber dieses telos liefert – wenn der Utilitarismus recht hat – den Maßstab guten Handelns, nicht notwendig einen Gegenstand der Absicht, ein Motiv des Handelns.
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Im Unterschied zum Akt-Utilitarismus läßt der Regel-Utilitarismus für eine Vielzahl von moralisch geforderten Motiven Platz. Denn die einzelne Regel könnte selbst dazu auffordern, einem bestimmten Motiv im Verhalten Raum zu geben. (›Behandle die Notsituation eines anderen als Grund, ihm zu helfen!‹) Auf jeden Fall läßt der Regel-Utilitarismus unterschiedliche Arten von praxis zu. Denn jede einzelne Regel definiert eine praxis, indem sie eine Dimension konstituiert, in der sich menschliches Tun bewerten läßt. Aber nicht nur moralisch geforderte, auch moralisch zulässige ›außermoralische‹ Motive haben nach dieser Auffassung im moralisch guten Leben Platz. Wenn ich mir mit der üblichen Einstellung – also insbesondere auch ohne poietische Hintergedanken, die der Optimierung des Weltzustands gelten würden – einen Film ansehe, so realisiert sich darin eine praxis, deren telos sich mit Ausdrücken wie ›Unterhaltung‹, ›Spannung‹, ›Zerstreuung‹, ›Charaktere und Schicksale erleben‹ umschreiben läßt.9 Zugleich aber stellt dieser Kino-Besuch auch Handeln dar, d. h.: die durch das telos Moralität definierte praxis. Die beiden praxis-Formen sind regel-utilitaristisch gesehen miteinander vereinbar, solange die beiden Finalitäten einander nicht ausschließen. Im Beispiel etwa handle ich gut, solange dem Kino-Besuch keine moralische Regel entgegensteht. Der Regel-Utilitarist verlangt also auch nicht, daß ich im Film Unterhaltung suche, um gut zu handeln. Fürs gute Handeln ist es nach seiner Auffassung nur nötig, daß das moralbestimmende Regelsystem – mit Blick auf eine möglichst glückliche Welt – der eigenen Unterhaltung weder zu viel noch zu wenig Zugeständnisse macht. (Aus akt-utilitaristischer Perspektive hingegen sollte ich den Film, wenn überhaupt, in poietischer Absicht ansehen: weil ich nämlich zu einer glücklichen Welt zur Zeit durch nichts besser beitragen kann als durch den Besuch dieses unterhaltsamen Films.) b) Deontologische Konzeption. Eine zweite Gruppe von Deutungen der Moral wird als deontologisch bezeichnet. Die Beachtung moralischer Normen wird hier als Pflicht verstanden, also nach dem Modell der Erfüllung von Aufträgen oder Vereinbarungen. Dabei sieht man nicht selten das Verhältnis zwischen Norm und Motivation genauso wie aus regel-utilitaristischer Perspektive: Unter gewissen Umständen muß unser Handeln vielleicht ›moralisch motiviert‹ sein; im allgemeinen aber ist es gut, solange es moralisch zulässig ist – solange es also der moralischen Verpflichtung dadurch genügt, daß ihm keine moralische Norm entgegensteht. Aus deontologischer Sicht ist der unterhaltsame Kino-Besuch in diesem Sinne hinlänglich am moralischen telos orientiert und insoweit gutes Handeln, solange er keine moralischen Pflichten verletzt.
9 Dieses telos kann motivieren, und es darf dies, regel-utilitaristisch gesehen, auch durchaus tun. Denn aus dieser Sicht bedarf es zur Orientierung an moralischen Regeln keiner Motivation durch diese Regeln.
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Allerdings gibt es eine berühmte deontologische Deutung der Moral, die das Verhältnis zwischen moralischer Norm und Motivation etwas anders sieht. Diese Deutung gibt Immanuel Kant. Ihr zufolge ist die Güte des Handelns, also die Moralität des Tuns, nicht schon dadurch gesichert, daß es diesem und jenem verpflichtenden telos (Wahrhaftigkeit, Respekt usw.) gerecht wird. Nicht nur muß jedes meiner tele einer Überprüfung am Kategorischen Imperativ standhalten; vielmehr muß Übereinstimmung mit dem Sittengesetz auch meine Motivation bestimmen. Moralität verwirkliche ich nur dann, wenn ich aus Achtung für das Sittengesetz tue, was mit ihm übereinstimmt. Regel-utilitaristisch verstandene ›Moralität‹ ist nach Kant bloß Legalität. Wie ist aus dieser Perspektive mein Kino-Besuch zu beurteilen? Nehmen wir an, ich hätte nichts anderes als unschuldige Unterhaltung im Sinn. Der KinoBesuch entspricht dann keiner Maxime, deren Übereinstimmung mit dem Sittengesetz mich motivierte, ins Kino zu gehen. Was ich tue, ist also nicht moralisch gut. Aber weder wir noch Kant werden ceteris paribus sagen wollen, der KinoBesuch sei moralisch schlecht. Vielleicht also sollten wir sagen, er sei überhaupt nicht als Handeln einzuordnen und moralisch zu bewerten. Aber unter welchem praktischen telos sind dann Kino-Besuch und Raubüberfall miteinander zu vergleichen? Wenn nicht als Handeln, so muß doch in irgendeiner Bewertungsdimension der eine gut und der andere schlecht abschneiden. Wie dem auch sei, ich will hier nur noch die Frage aufwerfen, ob nicht auch die deontologische Sicht aus der Moral einen Fremdkörper im menschlichen Leben macht. Denn mit der Achtung vor dem Sittengesetz scheint sie ein spezielles ›Moral-Motiv‹ einzuführen, das sich nötigend dem entgegenstellt, was ich ›eigentlich will‹. Zwar wird ein Anhänger Kants dieser Einschätzung entgegenhalten, daß moralische Autonomie genau dafür sorgt, daß nur der eigene Wille einen Menschen dazu bestimmt, moralischen Maximen zu folgen und somit gut zu handeln. Doch stützt sich diese Entgegnung auf die zweifelhafte Voraussetzung, daß der Begriff einer Autorität, durch die ich mir selber übergeordnet bin, und die Vorstellung von Gesetzen, die ich unausweichlich aber frei erlasse und genötigt aber frei befolge, kohärent sind. c) Tugendethik. Meinen späteren Überlegungen werde ich weder eine utilitaristische noch eine deontologische, sondern eine tugendethische Deutung der Moral zugrunde legen, die in den nächsten Abschnitten näher erläutert werden soll. Ich will diese Deutung hier nicht ausführlich begründen. Es spricht aber manches dafür, sie bei den folgenden Erörterungen in Anspruch zu nehmen. Vor allem ist sie theoretisch bescheiden. Sie will keine ›Moralbegründung‹ sein. Auch die Wahrheit oder Plausibilität bestimmter ethischer Überzeugungen und Urteile wird durch die Tugendethik, die ich im Sinn habe, eher erklärt als begründet. Diese Ethik geht in ihrer Deutung der Moral nicht weit über eine Analyse des Vokabulars, der Urteile und der Argumente hinaus, in denen sich die alltägliche Bewertung des Handelns und des Charakters artikuliert. Im übrigen kommt kei-
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ne Moraltheorie um die Anerkennung der Tatsache herum, daß die Verwirklichung von Werten, die Befolgung selbstgesetzter Imperative, das Optimieren der Glücksverteilung, oder was immer sonst die Theorie zur Quintessenz der Moralität erklärt, im Fall von Menschen auf Tugenden und damit auf eine Mehrzahl habitualisierter Motivationsmuster angewiesen ist (vgl. Hursthouse 1999, S. 1–8). Infolgedessen verträgt sich das meiste von dem, was ich in diesem Buch über gutes und schlechtes Handeln und über seine pädagogische Bedeutung zu sagen habe, mit unterschiedlichen Theorien der Moral. Im übrigen dürfte eine tugendethische Perspektive den Anliegen der Pädagogik in besonderem Maße entgegenkommen. Denn diese Perspektive geht von sich aus unmittelbar auf zwei Fragen ein, die sich jedem Heranwachsenden fast unumgänglich stellen: Wie soll ich handeln? Was soll ich aus mir machen? (Und beide Male antwortet sie durch Verweis auf Motive.) Die tugendethisch orientierte Erziehung muß nicht von außen und in pädagogischer Verpackung eine Frage an den Heranwachsenden herantragen, die von sich aus gar nicht in seinem Leben vorkommt: ›Welche Werte gilt es zu verwirklichen?‹; ›Wie kann ich zur Optimierung des Weltzustandes beitragen?‹; ›Was verlangt das Sittengesetz von mir? Welche Maxime kann ich als allgemeines Gesetz wollen?‹; oder eine ähnliche Frage. Dementsprechend stellt sich, wie bereits bemerkt, die Moral unter tugendethischer Perspektive nicht als Fremdkörper dar, dessen Einpflanzung in die Motivationsstrukturen des Menschen nach Rechtfertigung verlangte.10 Diesen Vorzug verdankt die Tugendethik einer bestimmten Sicht von Rationalität: Praktische Rationalität ist keine rein formale Qualifizierung, die nur Verfahren der Urteilsbildung beträfe; sie umfaßt vielmehr alle Motivationsstrukturen, die für gutes Handeln konstitutiv und damit für menschliches Gedeihen erforderlich sind (6.3 (c-d)). Moralische Orientierung ist in diesen Strukturen ebenso eingeschlossen wie die Berechtigung eigener Interessen und eine spezielle Verantwortung für das eigene Wohl (6.7). Auch dem unschuldigen KinoBesucher weist die Tugendethik einen bequemen Platz an: Um gut zu handeln, muß er in keinem Sinne moralisch motiviert sein, den Film zu sehen; es genügt, daß seine Motivation nicht unvernünftig ist, der Tugend nicht widerstreitet. Aus tugendethischer Sicht erübrigt sich der Versuch, aus eigenen Interessen oder Wünschen die Notwendigkeit abzuleiten, auch das Wohl und die Rechte anderer zu bedenken. Die akt-utilitaristischen Probleme der Motivation – ›Warum überhaupt alle anderen wie mich selbst behandeln?‹ und ›Was sollte mich bei der Optimierung des Weltzustandes motivieren?‹ – stellen sich nicht. Der regel-utilitaristische Versuch, sie zu lösen, ist daher überflüssig. Und das, was Kant als ›Sittlichkeit‹ und ›Klugheit‹ auseinanderhält, behandelt der Tugendethiker als 10 Dies scheint auch von manchen Varianten des Regel-Utilitarismus und vom Motiv-Utilitarismus (vgl. Adams 1978) zu gelten. Allerdings unterscheiden sich diese Positionen in ihren praktischen Konsequenzen kaum von der Tugendethik. Denn die poietische Finalisierung von Regelsystemen und Motivationsstrukturen durch den Zweck einer möglichst glücklichen Welt tritt ja in die Motivation des Handelnden selbst überhaupt nicht ein.
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integrierende Komponenten einer einzigen ethischen und vernünftigen Orientierung. Für die Tugendethik verliert, wie ich zeigen werde, die Frage ›Warum moralisch handeln?‹ ihren Sinn. Denn diese Frage fragt nach Beweggründen dafür, sich an bestimmten ethisch qualifizierten Beweggründen zu orientieren. Wenn die aber selbst, aufgrund ihrer ethischen Qualität, zum Arsenal der letzten Gründe gehören, die ein Handeln als vernünftig erweisen können, dann stehen zur Beantwortung eines praktischen ›Warum?‹ eben keine besseren und grundlegenderen Gründe zur Verfügung als moralisch qualifizierte Gründe. – Die Tugendethik unterläuft auf diese Weise von vornherein die Entgegensetzung von Moral und Rationalität, die den Pädagogen vor ein ›erziehungsteleologisches‹ Dilemma stellt. Dieses Dilemma läßt sich so formulieren: Entweder identifiziert man Erziehung mit Erziehung zur Moral. Wie soll man dann dem Einwand begegnen, Erziehung müsse doch als wichtigste, grundlegende und umfassende Lebenshilfe vorrangig den Kräften im Heranwachsenden zur Entfaltung verhelfen, die für sein Gedeihen, für seine Selbstentfaltung am wichtigsten seien? Etwa durch den Nachweis, daß es im wohlverstandenen Interesse des Heranwachsenden und deshalb eine Forderung der Vernunft sei, ihm in erster Linie Orientierung am Wohle anderer beizubringen? Oder aber man gibt dem Einwand Recht und erklärt so etwas wie Selbstentfaltung anstelle moralischer Reifung zum Kern der Erziehung. Wie soll man dann aber mit der Tatsache umgehen, daß unser vortheoretisches Denken über Erziehung in eine andere Richtung zu weisen scheint? Es unterscheidet ja offenbar zwischen gut und schlecht erzogen anhand der moralischen Verfassung des mündig gewordenen Menschen! Tugendethisch gesehen, ist Moral ein unentbehrlicher Bestandteil menschlicher Vernünftigkeit; und die ist nicht nur Mittel, sondern auch Bestandteil menschlichen Gedeihens (6.3 (d)). Darin liegt die tugendethische Antwort auf das ›erziehungsteleologische Dilemma‹. Moralisch – oder besser: ethisch – verstandene Erziehung ist selbst zentrale Komponente einer Hilfe zur Selbstentfaltung, zum Gedeihen, zur Lebenssinngebung. Ich werde nun die tugendethische Deutung der Moral, die ich hier nicht gründlich verteidigen kann11, in ihren Grundzügen darstellen und im Rahmen des Möglichen plausibel machen. In den weiteren Erörterungen werde ich dann auf diesem Hintergrund gutes Handeln als Verhalten in Übereinstimmung mit den Tugenden verstehen.
11 Einen Beitrag zu ihrer Verteidigung hoffe ich in Müller 1998 geleistet zu haben. Vgl. jetzt auch Hursthouse 1999 und Foot 2001.
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Den Kern jeder Tugend bildet eine Motivationsstruktur
a) Die Tugendethik macht – im Einklang mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch – die Qualität des Handelns von einer Vielzahl von Tugenden abhängig. Wie verhalten sich die vielen Tugenden zu der in 6.1 vertretenen Vorstellung, das Handeln sei durch eine, nämlich die ethische Bewertungsdimension bestimmt? – Um diese Frage korrekt zu beantworten, muß man zwischen zwei Weisen unterscheiden, wie sich praktische tele aufeinander beziehen können. Das telos des Handelns ist eine Alternative zu anderen praktischen tele, unter denen das gute Benehmen ein leicht benennbares Beispiel darstellt. Dasselbe Tun läßt sich als Handeln und als Benehmen einordnen und bewerten, ohne daß die eine Bewertung von der anderen abhinge. Ich kann mich z. B. gut benehmen (die von der Etikette vorgeschriebene Anrede und Ausdrucksweise verwenden), ob ich im selben Tun schlecht oder gut handle (den Angeredeten belüge oder bei der Wahrheit bleibe). Die beiden Bewertungsdimensionen stehen einander grundsätzlich neutral gegenüber (was nicht ausschließt, daß man sich in bestimmten Situationen gut benehmen muß, um gut zu handeln, und vielleicht sogar umgekehrt). Man muß auch nicht in beiden Dimensionen gut abschneiden, um dem telos einer weiteren, umfassenderen Dimension von praxis gerecht zu werden. Genau dies jedoch trifft auf die unterschiedlichen Bewertungsdimensionen zu, die durch unterschiedliche Tugenden definiert sind. Das Handeln bildet im Verhältnis zu diesen Dimensionen eine übergeordnete, umfassende Dimension: man muß vernünftig und gerecht und tapfer und ... handeln, um gut zu handeln. Man könnte auch sagen: Gutes Handeln ist das telos einer praxis, deren Qualität unter Bezug auf mehrere Dimensionen beurteilt wird. Und zwar müssen alle tele verwirklicht sein, um derentwillen die Menschen Tugenden benötigen, damit das telos des Handelns verwirklicht und das Ideal des guten Charakters erreicht ist. (Auf ähnliche Weise ließen sich übrigens auch innerhalb der Bewertungsdimension des Benehmens noch einmal konstitutive Teil-Dimensionen unterscheiden.) Was aber ist eine Tugend? Zunächst: Mit Aristoteles unterscheide ich von den im engeren Sinne ethischen Tugenden jene Verfassung des praktischen Denkens, die er phronesis nennt. Sie schlägt die Brücke vom guten Beweggrund zu der Verhaltensweise, die ihm in der jeweiligen Situation entspringen sollte. Phronesis und ethische Tugenden bestehen und wirken allerdings nicht unabhängig voneinander. Die Verwirklichung ethischer Tugend ist immer zugleich Verwirklichung von phronesis, und umgekehrt. Die phronesis ist so etwas wie der Vernunft-Aspekt von Gerechtigkeit, Tapferkeit, Großzügigkeit usw. Durch diese Tugenden, die angesichts der Versuchlichkeit des Menschen vonnöten sind, trägt der Wille zu dessen Gedeihen bei; durch die phronesis bestimmt die Vernunft dem Wollen die Richtung.12 12 Zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen phronesis und ethischer Tugend vgl. EN VI 13, 1144b14–1145a2. Siehe auch Müller 1998, S. 101–168.
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Was Aristoteles mit ›phronesis‹ meint, wird in deutschen Übersetzungen gewöhnlich ›Klugheit‹, ›Weisheit‹, ›Einsicht‹ oder ›praktisches Wissen‹ genannt. Ich werde in der Regel einfach von (praktischer) Vernunft oder auch von Vernünftigkeit sprechen, um diese umfassende Qualifikation des praktischen Denkens zu bezeichnen. Genauer: Je nach Kontext soll ›(praktische) Vernunft‹ entweder das bloße Vermögen des praktischen Denkens oder aber seine qualifizierte Verfassung bezeichnen, die in beliebigen Situationen für angemessene Realisierung der ethischen Tugenden sorgt. b) Die aristotelische phronesis weist ihrerseits noch einmal unterschiedliche Aspekte oder Teiltugenden auf: die Qualität des praktischen Denkens läßt sich in verschiedenen Dimensionen beurteilen. In lockerem Anschluß an Aristoteles möchte ich zwei von ihnen besonders hervorheben: die Dimension des praktischen Wissens und die der Klugheit 13 − zwei Hinsichten, in denen unsere Vorstellung davon, wie wir in einer gegebenen Situation zu handeln haben, zutreffend oder verfehlt sein kann. Zum einen halten wir bestimmte Motivationsstrukturen, vielleicht nur implizit, für zulässig bzw. für geboten. Diese legen wir dann (sofern wir uns nicht durch eine momentane Versuchung davon abbringen lassen) unserem Überlegen und Handeln zugrunde. Wir lassen unser Verhalten von Erwägungen, Gründen, Motiven, Gesichtspunkten einer bestimmten Art leiten und von anderen nicht. Welche sind es, die das Handeln bestimmen sollten? Diese Frage richtig zu beantworten, ist die erste Aufgabe der praktischen Vernunft, und zwar jener Teiltugend der phronesis, die ich als praktisches Wissen bezeichnen werde. Worin dieses praktische Wissen um die richtigen Motivationsstrukturen seinerseits gründet, steht einstweilen nicht zur Debatte. Praktisches Wissen repräsentiert sozusagen die konzeptionelle Komponente der ethischen Tugenden: die in ihnen liegende Vorstellung davon, was einen motivieren sollte. Diese Vorstellung sorgt dafür, daß man nicht nur Maßstäbe 13 Aristoteles unterscheidet hier keine Teiltugenden, sondern lediglich zwei Faktoren: die richtige Vorstellung von guten Beweggründen und das Ermitteln angemessener Implementierung (EN VI 5, 1140a24–33 und b16–20). (Man beachte, daß ich mit ›Klugheit‹ die Qualifiziertheit dieses Ermittelns bezeichne, nicht die phronesis als ganze.) Im guten Leben kommen die Komponenten praktischer Vernünftigkeit natürlich nie in unterscheidbaren Vollzügen zum Tragen. Auch schlagen wir die Brücke zwischen Beweggrund und situationsbestimmter Realisierungsmöglichkeit im allgemeinen nicht durch bewußtes Folgern und Wählen. Doch ist uns dieser Zusammenhang (mindestens zur Zeit des Handelns) bewußt: wir können Auskunft darüber geben, was wir tun und warum wir es tun. – Die Aktualisierung praktischen Wissens ist im Normalfall nicht von der Realisierung ethischer Tugend zu unterscheiden (vgl. Fn. 15). ›Im Normalfall‹; denn eine Notwendigkeit, dennoch zu unterscheiden, ergibt sich u. a. aus der Möglichkeit der Willensschwäche, einer Abweichung von der Norm des guten Handelns, die man seit Aristoteles von der Untugend (bzw. dem Laster) unterscheidet. Beim Willensschwachen hinkt die ethische Qualifikation hinter der noetischen her, so daß er nicht tut, was seinem praktischen Wissen entspricht.
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der Gerechtigkeit anlegt, sondern auch gütig urteilt; daß man in seinem Denken und Handeln Gesichtspunkte des Entgegenkommens, aber auch der Selbstachtung, der Tapferkeit usw. zur Geltung bringt; und daß man ihnen im Konfliktfall das jeweils richtige Gewicht beimißt. Nun können aber auch Beweggründe, die individuelle Ziele repräsentieren und über deren Qualität zumindest auf den ersten Blick und unmittelbar keine ethische Tugend entscheidet, dem Gedeihen eines Menschen zu- oder abträglich sein. Solche Beweggründe sind – als partielle, vielleicht dominante, praktische tele – mit Engagements in Freundschaft, Familienleben, karitativen Belangen, Freizeit, Hobby, Beruf usw. gegeben. Selbst wenn wir hier kaum präzise Maßstäbe des Vernünftigen zu artikulieren vermögen, unterscheiden wir doch zweifellos zwischen mehr oder weniger lohnenden Zielen bzw. Lebensinhalten. To know what’s what: auch das gehört zum praktischen Wissen. Nun zur zweiten Komponente der phronesis. Während die erste für die Angemessenheit praktischer tele sorgt, besteht die zweite im guten Blick für Möglichkeiten und Erfordernisse von deren Realisierung. Ich werde diesen Bestandteil der phronesis als Klugheit bezeichnen. Jeder hat implizite, unter Umständen auch explizite Auffassungen darüber, wie sich die Gesichtspunkte und Beweggründe, von denen er sich leiten läßt, unter variablen Umständen am besten in Verhalten umsetzen lassen. Im Umgang mit der Situation offenbart er – auch hier: sofern er nicht der Versuchung erliegt, wider bessere Einsicht zu handeln – eine Vorstellung davon, wie hier und jetzt Gesichtspunkte zu berücksichtigen, Zwecke zu erreichen, Absichten zu verwirklichen sind. Die Qualität solcher Vorstellungen ist mit-entscheidend für die Qualität des Handelns. Daher ist Klugheit eine Tugend. Sie besteht darin, bei Bedarf prompt und zuverlässig zu sehen, wie sich angemessene Beweggründe (das Thema des praktischen Wissens) unter den Umständen angemessen in Handeln umsetzen lassen (das Thema der Klugheit). Dazu bedarf es, je nach Umständen, einer Reihe von Qualitäten wie Geistesgegenwart, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Einfallsreichtum, Einfühlung, gründlichen und folgerichtigen Denkens. Das alles qualifiziert zu der hier gemeinten Klugheit. Man beachte, daß Klugheit in diesem Sinne des Wortes nicht, wie etwa bei Kant, speziell auf die Interessen des Subjekts bezogen ist. Der tugendethisch verstandenen Klugheit geht es um die situationsgerechte Umsetzung aller ethischen Tugenden. Somit dient sie fremden Interessen nicht weniger als den eigenen. Praktisches Wissen und Klugheit sind unentbehrliche Teiltugenden der phronesis.14 Denn zum guten Leben benötigt man angemessene Antworten auf zwei 14 Ich verzichte darauf, Weisheit zu thematisieren. Nicht, weil sie keine Tugend im Bereich der phronesis wäre. Eher deshalb, weil sie so etwas wie Vertiefung und persönliche Integration von praktischem Wissen und Klugheit darstellt – Qualitäten, auf die nicht Erziehung, sondern Erfahrung und Selbstbildung hinwirken. Nicht zufällig würden wir ein Kind oder einen Heranwachsenden kaum als weise bezeichnen – selbst wenn wir sein Verhalten als durch und durch vernünftig beurteilen könnten.
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Arten von Fragen: An welchen Gesichtspunkten soll ich mein Handeln orientieren? Und: Wie soll ich diese Orientierung verwirklichen? Man benötigt aber nicht nur Qualitäten des praktischen Denkens, sondern auch – und daran wird mancher Pädagoge vorrangig denken – Dispositionen des Wollens. c) Damit kommen wir zu den Tugenden im engeren Sinne: den ethischen Tugenden. Sie betreffen die Muster des ›affektiven Lebens‹. Das heißt: Sie sorgen für eine bestimmte, dem guten Leben dienliche Prägung der Neigungen: des sinnlichen wie auch des vernunftgeleiteten Wünschens und Strebens, des emotionalen Betroffenseins, der spontanen Impulse und des absichtsvollen Verhaltens. Jede ethische Tugend läßt sich als Niederschlag oder Einwurzelung einer vernünftigen Motivationsstruktur in den Neigungen eines Menschen verstehen. Durch diese Sicherung der vernünftigen Orientierung gegen Indifferenz und Versuchung qualifizieren Tugenden den Charakter. Sie machen uns im Idealfall für die Vernunft – für ›zwingende‹ und zulässige Beweggründe, Gesichtspunkte, Erwägungen – zuverlässig ansprechbar und für andere sozusagen taub.15 So sorgt z. B. die Tugend der Gerechtigkeit dafür, daß ich bereit und darauf ausgerichtet bin, die Rechte anderer, ihre Verdienste usw. in meinem Verhalten zu respektieren. Die Präsenz dieses Motivs in meiner Vorstellung vom guten Handeln ist Sache des praktischen Wissens; ein Bewußtsein davon, welche Rechte unter welchen Umständen auf welche Weise zu beachten sind, ist Sache der Klugheit. Auf beides ist die Praxis der Gerechtigkeit offensichtlich angewiesen. Was aber die Gerechtigkeit selbst als ethische Tugend beisteuert, ist die Ausrichtung des Willens samt der entsprechenden Disponierung potentiell konkurrierender Emotionen und Neigungen – eine Ausrichtung, die so zuverlässig ist, daß sie sich unter beliebigen Umständen tatsächlich in gerechtem Verhalten realisiert. Ähnlich ist Dankbarkeit, grob gesprochen, die Bereitschaft, sich von der ungeschuldeten Hilfe eines anderen zu freundlichem Verhalten ihm gegenüber motivieren zu lassen. Der Dankbare will sich an diesem Beweggrund des Handelns orientieren, wo immer ein entsprechender Anlaß vorliegt. Und dieses Wollen ist zuverlässig und effektiv; so effektiv, daß ihm sogar die Neigungen – zum Beispiel im Gefühl der Dankbarkeit – zuarbeiten. Allerdings bestehen nicht alle ethischen Tugenden darin, uns für einen Typ von Beweggrund einzunehmen. Manche qualifizieren den Charakter dadurch – oder teilweise dadurch –, daß sie unsere Ansprechbarkeit für bestimmte Impulse und Beweggründe einschränken. Das gilt z. B. für die beiden bisher noch 15 Festigkeit des Charakters bedeutet natürlich nicht Starrheit. Stabilität der Motivationsstrukturen geht mit jener Flexibilität einher, die die Klugheit in Anbetracht wechselnder situationsbedingter Erfordernisse verlangt. Darüber hinaus gehört zum guten Charakter eine differenzierte Bereitschaft zu normativer Neu-Orientierung (vgl. 16.6).
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nicht genannten Kardinaltugenden der Tapferkeit und der Mäßigung. Die Mäßigung ›widersetzt‹ sich sozusagen dem Anspruch des Verlangens, die Tapferkeit dem Anspruch der Furcht, ohne Rücksicht auf konkurrierende Motive das Verhalten zu bestimmen.16 d) Wie oben unter (a) bemerkt, definieren die ethischen Tugenden partielle tele, deren Inbegriff die Finalität des Handelns ausmacht. Gutes Handeln ist seinerseits, als Implementierung praktischer Rationalität, eine notwendige Bedingung des Gedeihens; und zwar eine Bedingung, deren Erfüllung grundsätzlich in der Macht des Handelnden liegt. Daher behandeln wir die Tugenden im Unterschied zu anderen menschlichen Qualitäten als ›verbindlich‹. Das bedeutet vor allem zweierlei: 1) Wenn wir das Tun eines beliebigen Menschen als Handeln bewerten, wenn wir es also am Maßstab der Tugenden messen, so tun wir das unabhängig davon, ob er selbst diesen Maßstab anlegt oder nicht. Daß er vielleicht keinen Wert darin sieht, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Selbstachtung usw. zu praktizieren, hindert uns nicht daran, sein Handeln als schlecht zu beurteilen. 2) Ebendiese Beurteilung stellt einen Vorwurf dar. Dieser Umstand findet keine Entsprechung, wo es um beliebige andere tele geht, an denen wir das Tun eines Menschen nicht weniger objektiv messen können. Legt er beispielsweise keinen Wert darauf, gut Schach zu spielen, so ist das Urteil, er spiele schlecht oder er bemühe sich nicht um besseres Spielen, zwar berechtigt. Einen Vorwurf aber stellt es allenfalls unter besonderen Bedingungen dar.17 e) Gegner der Tugendethik diffamieren Tugenden gelegentlich als bloße Verhaltensdispositionen, übernommene Gewohnheiten. Dabei übersehen sie, daß es ohne Einstellung, ohne eigenständiges Bejahen und Verwerfen von Motivationsstrukturen, keine Tugend gibt. (Als wäre Gerechtigkeit mit der Gewohnheit vergleichbar, den rechten Schuh vor dem linken anzuziehen.) Und es müssen die richtigen Strukturen sein. (Wer gewohnheitsmäßig seine Miete bezahlt und Geliehenes zurückgibt, nur um seine Ruhe zu haben, handelt nicht gerecht. Das zeigt sich, wenn er einmal ungerecht handeln muß, um seine Ruhe zu haben.)
16 Zur weiteren Analyse der Tugenden unter dem Gesichtspunkt der Motivationsstruktur bzw. des »Rationalitätsprofils« vgl. die Erläuterungen gegen Ende von 6.7 und Müller 1998, Kapitel 5–7. 17 Auch können wir dem schlechten Schachspieler (von besonderen Bedingungen wiederum abgesehen) mit unserem Urteil nur dann einen Grund zur Korrektur geben, wenn er ein einigermaßen guter Schachspieler sein will. Geben wir dem Ungerechten mit dem Urteil, er handle ungerecht, einen Grund, sich zu bessern? Jedenfalls wäre es Unsinn zu sagen: Wir tun es nur dann, wenn er gerecht sein will. Denn das Urteil, er handle ungerecht, hält ihm ja gerade vor, daß er nicht gerecht sein will. Andererseits behauptet es implizit die Existenz von Gründen, die das Handeln des Gerechten bestimmen und die das Handeln jedes Menschen bestimmen sollten, weil seine Rationalität und sein Gedeihen daran hängen – unabhängig davon, ob er gerecht leben will (6.4 (c); vgl. Foot 2001, S. 9–17, 66–69).
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Richtig ist freilich, daß die Aneignung von Tugend damit beginnt, daß man sie übernimmt; und daß sie ohne Gewöhnung nicht gelingt. Beide Bedingungen – und das muß nicht erst die Tugendethik behaupten – sind Bedingungen jeder moralischen Bildung. Es sind diese Bedingungen, in denen die Notwendigkeit von Erziehung gründet. Man kann der tugendethischen Konzeption der Moral auch nicht vorwerfen, indem sie überlieferte Prägungen des Charakters betone, setze sie starre Anpassung an die Vergangenheit an die Stelle der Bereitschaft, sowohl das eigene Verhalten als auch gesellschaftliche Vorgaben kritisch zu prüfen und veränderten Umständen Rechnung zu tragen. Dieser Vorwurf übersieht eine Reihe wichtiger Tatsachen. Insbesondere übersieht er, daß Tugenden weder durch Unbeweglichkeit noch durch Verwurzelung in einer Tradition, sondern dadurch definiert sind, daß sie, gerade auch unter sich wandelnden Bedingungen, verläßlich zum menschlichen Gedeihen beitragen (Müller 2002c, 203–205 und 209 f.). Fähigkeit und Bereitschaft, eigene Ziele, Einstellungen, Verhaltensgewohnheiten usw. zu überprüfen sowie kulturellen Werten und sozialen (incl. politischen) Rahmenbedingungen kritisch gegenüberzutreten, leisten offenbar einen solchen Beitrag. Es besteht kein Grund, Kritikbereitschaft in diesem Sinne nicht als Tugend anzusehen. Betont man an ihr die Bereitschaft, zu differenzieren, so wird man in ihr eine kritike arete – eine Qualifizierung des Urteils – und somit einen Aspekt der phronesis erkennen. Kritikbereitschaft könnte aber auch als Teil der Tapferkeit gelten, insofern sie nämlich eigene Ängste und Bequemlichkeiten in Schach hält. Und auch das schließt Tugendethik nicht aus: daß dem menschlichen Gedeihen unter radikal divergenten Lebensbedingungen variierte Systeme von Tugenden angemessen sind. Allerdings ist die Tugendethik realistisch genug, um – mit dem Erzieher – zu wissen, daß der Versuch, ohne Disponierung des Verhaltens die praktische Vernunft zur Entfaltung zu bringen, an die Stelle verläßlicher Moralität nichts anderes setzt als Attitüde. Und sie wird darauf bestehen, daß eine Kritikbereitschaft, die als Tugend soll gelten können, auf Maßstäbe der Beurteilung angewiesen ist. Kritikbereitschaft kann nicht am Anfang des ethischen ›Lehrplans‹ stehen. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß sich fundierte Kritik auch auf übernommene Maßstäbe richten kann – nicht nur auf ein Verhalten, das diesen Maßstäben nicht gerecht geworden ist (16.7 (b)). f) Disponierung zum guten Handeln verlangt nicht nur Gewöhnung, sondern auch Prägung des affektiven Lebens. Denn die Motivationsstrukturen, die für gutes Handeln konstitutiv sind, werden zum Teil von Emotionen getragen. Und mit der Vorstellung ethischer Reife verbinden wir ganz besonders den Gedanken an qualifizierte Muster emotionaler Reaktion. Das gilt zwar weniger von einer Tugend wie Gerechtigkeit – obwohl sich auch der Gerechtigkeitssinn emotional manifestieren kann, z. B. als Empörung über Unrecht gegen Dritte. Zu anderen Tugenden aber gehört ganz offenkundig eine
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Disposition des Gefühls. Wer angesichts unerheblicher Gefahren große Angst empfindet, ist nicht tapfer. Barmherzig ist man nicht, ohne jemals Mitleid zu fühlen. Selbstvertrauen äußert sich nicht nur in einem Tun, das eigene Leistung und Fähigkeit zum Grund nimmt, vor schwierigen Aufgaben nicht zurückzuschrecken; es verwirklicht sich noch eindeutiger darin, daß man sich aus demselben Grund schwierigen Aufgaben gewachsen fühlt. Noch deutlicher kennzeichnet den Neidlosen zuallererst die Abwesenheit von Neid und den Teilnahmsvollen die Neigung mitzufühlen. Die Gedanken und Gefühle, die den Neidischen quälen, machen den Neid zum Laster; und dem Teilnahmslosen werfen wir mehr den Mangel an Gefühl als entsprechende Taten oder Unterlassungen vor. In den meisten Fällen mag primär die Manifestation in Handlung und Unterlassung die Tugend zur Tugend und das Laster zum Laster machen. Unter dieser Perspektive wäre der Beitrag von Gemütsdispositionen zum Charakter eher subsidiär als konstitutiv. Doch warten Lob und Tadel die Auswirkung von Gefühlen auf das Verhalten nicht ab. Man lobt und tadelt das Auftreten und die Abwesenheit von Gefühlen um ihrer selbst willen. Zwar mag ihre Bedeutung für Handlung und Unterlassung im Hintergrund dieser Praxis stehen. Doch gelten uns Emotionen andererseits als noch ›echtere‹ Indikatoren der motivationalen Verfassung eines Menschen als sein Tun und Lassen. Es ist also nicht verwunderlich, daß nach Aristoteles die ethische Qualifizierung der Affekte für ein gutes Leben nicht weniger bedeutsam (sondern eher grundlegender) ist als die Qualifizierung des Handelns im engeren Sinne. Wenn ihm die heutige Tugendethik darin folgt, so gibt sie zugleich der Sprache Recht, die Gefühlserziehung als Erziehung einordnet. Noch eindeutiger als das Verhalten signalisiert das Auftreten und Ausbleiben von Gedanken und Gefühlen eine charakterliche Disposition – und nicht eine Kompetenz, die man nach Wunsch und Bedarf betätigen könnte.18
6.6
Tugenden begrenzen einander
Im Sinne von 6.5 (a) kann man sagen: Zusammen mit praktischem Wissen und Klugheit qualifizieren die ethischen Tugenden einen Menschen in verschiedenen Dimensionen seines Tuns und Lassens, Fühlens und Denkens. Und er muß in allen diesen Dimensionen gut abschneiden, um gut zu handeln – d. h.: um in der umfassenderen Bewertungsdimension, die das Wort ›Handeln‹ signalisiert, gut abzuschneiden. Jede der ethischen Tugenden stellt das Leben eines Menschen
18 Aristoteles behandelt dieses Thema ausführlich in EN II 2, 1104b3–1105a16 = 1972, S. 29–31. Hier heißt es auch, man müsse »von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung.« Gelegentlich erscheint die Tugend sogar als primär affekt- und sekundär verhaltensbezogen: EN II 4, 1105b19–6a13 = 1972, S. 33 f.; EN II 5, 1106b16–27 = 1972, S. 35.
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und auch sein Handeln in einem beliebigen begrenzten Zusammenhang unter den Anspruch einer Motivationsstruktur. Das ethische Urteil hat sich an entsprechend vielen Bewertungsdimensionen zu orientieren. Wie steht es um Sinn und Einheit eines Begriffs des Handelns, dessen Teleologie derart komplex ist? Vor allem: Läßt sich etwa garantieren, daß es einem Menschen überhaupt in jeder Lage möglich ist, allen jenen Ansprüchen gerecht zu werden und somit gut zu handeln? Nun, daß dem guten Handeln verschiedene Gestalten von Unvernunft in den Weg treten, dürfte unbestreitbar sein. Je nach Situation, greift die Versuchung sozusagen an verschiedenen Stellen des motivationalen Haushalts an. Und so ist der Mensch auf verschiedenartige Qualifizierungen des Denkens und des Wollens angewiesen, um beliebige Herausforderungen zu parieren, vor die das Leben ihn stellt. Nur treten die verschiedenartigen Bedrohungen des guten Handelns nicht alle gleichzeitig auf. Eine Situation, die mich zur Eitelkeit oder zur Faulheit versuchen könnte, enthält in der Regel nicht zugleich Komponenten, die mich zur Ungerechtigkeit oder zum Neid versuchen könnten (es sei denn, die Ungerechtigkeit käme eben dadurch zustande, daß ich faul wäre – wie wenn ich aus Faulheit einem anderen die Arbeit überlasse, die ich hätte tun sollen). Auch gibt es in jeder Situation unendlich viel, was ich nicht tun darf, aber nur dies oder das, was ich tun sollte. Die geforderten Unterlassungen – nicht morden, nicht stehlen ... – verlangen meist weder Aufmerksamkeit noch Mühe. Und ich kann die meiste Zeit den umfassenden Ansprüchen aller Tugenden genügen, ohne hier und jetzt eine Tat der Gerechtigkeit auszuführen, tapfer auszuhalten, anderen neidlos einen Vorsprung zu gönnen usw. (vgl. Fn. 23). Daß sich aber die verschiedenen Tugend-tele tatsächlich in das eine gute Handeln als umfassendes telos integrieren lassen, ist natürlich kein Zufall. Es hat mit der Finalität und der partiellen Verantwortbarkeit des menschlichen Lebens zu tun, die erstens dem Begriff des Handelns seine Einheit geben und zweitens einen Maßstab darstellen, nach dem sich die Tugenden gegenseitig begrenzen. Der Begriff des Handelns ist das Ergebnis eines einheitsstiftenden Interesses (vgl. 3.1 (d)). Der Bezug auf menschliches Gedeihen gibt ihm seine teleologische Einheit. Und aus den Bedingungen solchen Gedeihens greift der Begriff des guten Handelns den Beitrag der Motivationsstruktur heraus – und damit den Bereich der Verantwortlichkeit des Subjekts; denn für das Gelingen meines Lebens bin ich selbst insoweit verantwortlich, als dieses Gelingen von meiner Orientierung an guten Beweggründen abhängt. Es sind also keineswegs beliebige Bedingungen oder Faktoren des Gedeihens, die sich innerhalb der Dimension des guten Handelns zusammenfinden. Dennoch ist es nicht selbstverständlich, daß ein so konstituierter – einheitlicher und zugleich ›multidimensionaler‹ – Begriff des Handelns konsistent ist. Genauer: Es wäre möglich, die für menschliches Gedeihen erforderlichen Motivationsstrukturen so zu denken, daß sie sich nicht notwendig zugleich realisieren lassen. Es könnte dann Situationen geben, in denen gutes Handeln nicht möglich wäre.
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Das kann die Tugendethik nur durch ein Verständnis des guten Charakters ausschließen, das gewissermaßen ›sicherstellt‹, was in der aristotelischen Tradition als Einheit der Tugenden bezeichnet wird: Erfordernisse und Grenzen jeder einzelnen Tugend nehmen auf die Erfordernisse der anderen Tugenden Bezug. Was damit gemeint ist, will ich hier nur anhand von zwei typischen Zusammenhängen erklären.19 a) Einiges spricht dafür, daß nicht von Tapferkeit die Rede sein kann, wo einer seine Gesundheit aus Dummheit oder um eines ungerechten Zieles willen aufs Spiel setzt – wo es also an Umsicht oder an Gerechtigkeit fehlt. Ein Handeln, das den Forderungen der Umsicht und der Gerechtigkeit widerstreitet, kann nicht die Tugend der Tapferkeit für sich in Anspruch nehmen. b) Unsere Vorstellung vom ethisch Gebotenen setzt voraus, daß nicht die eine Tugend ein Verhalten erlauben oder gar fordern kann, das die andere ausschließt. Auch wenn ich z. B. ein feierlich gegebenes Versprechen brechen müßte, um dringend gebotene Hilfe leisten zu können, ist gutes Handeln nicht unmöglich. Hier ist die Vernunft des Abwägens gefragt. Wenn es unter den Umständen richtig ist, das Versprechen zu erfüllen, bedeutet das Unterlassen der Hilfe keinen Mangel an Hilfsbereitschaft; und wenn es richtig ist, Hilfe zu leisten, bedeutet der Bruch des Versprechens keinen Mangel an Zuverlässigkeit und Gerechtigkeit. Man könnte sagen: Die ›Einheit der Tugenden‹ verhindert im Fall von (a), daß schlechtes Handeln zugleich positiv zu bewerten ist. Und im Fall von (b), daß besondere Umstände nur schlechtes Handeln zulassen. So macht sie es zum einen möglich, daß Teil-Dimensionen der Bewertung konsistent in einen einheitlichen Maßstab zur Bewertung des Handelns integriert sind – in einen Maßstab, der grundsätzlich eine eindeutige letzte Orientierung erlaubt. Zum anderen ist die Einheit der Tugenden vorausgesetzt, wenn die ethische Bewertung den Handelnden für sein Tun und Lassen verantwortlich machen will, ohne gelegentlich logisch Unmögliches von ihm zu verlangen.
6.7
Praktische Rationalität und guter Charakter integrieren Interessen des Subjekts und Belange der Moral
Die Tugenden gehören zur Ausrüstung, die der Mensch – zunächst einmal in einem instrumentellen Sinne – benötigt, um zu gedeihen; nicht anders, als er dazu Gesundheit und eine Menge von Fertigkeiten und Kenntnissen benötigt.
19 Vgl. Müller 2004 a. Hier zeige ich auch, daß und warum die alltagssprachlichen TugendBegriffe dem Einheitspostulat nur teilweise Rechnung tragen.
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Die Tugend macht ihn ›tauglich‹ nicht nur zum ethisch guten Leben (diese Feststellung wäre tautologisch), sondern zum guten Leben im Sinne des Gedeihens. Ohne die Tugenden entspricht unser Leben nicht den Anforderungen, die Selbsterhaltung, Zusammenleben und erfahrbares Wohlergehen an die Verfassung von Menschen stellen (6.3). In Übereinstimmung nicht nur mit Aristoteles, sondern auch mit den Utilitaristen weise ich hier dem Handeln ein telos zu, das auf das eigene Wohl nicht weniger bezogen ist als auf das Wohl der anderen. Dies entspricht einer traditionellen Sicht des Moralischen. Von ihr weicht das neuere, engere Verständnis deutlich ab. Sowohl im alltäglichen Denken als auch in der praktischen Philosophie und in den Humanwissenschaften assoziiert man heutzutage mit dem Wort ›moralisch‹ fast ausschließlich die Bewertung menschlichen Tuns nach Gesichtspunkten seiner Wirkung auf andere. Der Sache nach schließe ich mich dem weiteren Verständnis des Moralischen an. Gerade deshalb spreche ich, um Mißverständnisse zu vermeiden, nicht von der moralischen, sondern von der ethischen (charakter-manifestierenden) Dimension des Tuns. Denn wie ich sogleich zeigen werde, läßt sich das populäre enge Moral-Verständnis weder gut begründen noch konsequent durchhalten. Auch wird man einen Menschen nicht als gut erzogen bezeichnen, wenn er ›moralisch in Ordnung‹ ist, mit sich selbst aber unfreundlich, töricht oder gar selbstzerstörerisch umgeht. An guter Erziehung mangelt es nicht nur, wo einer nicht gelernt hat, fremde Rechte zu respektieren und großzügig zu sein, sondern auch, wo er nicht gelernt hat, eigene Ansprüche angemessen zu vertreten und Bescheidenheit mit Selbstachtung und Selbstbewußtsein zu verbinden. In beiden Fällen fehlt es ihm an charakterlichen Qualitäten – an Tugenden. Und der Person ohne Selbstachtung und Selbstbewußtsein fehlt es nicht etwa (nur) insofern an guter Erziehung, als ihre Selbst-Abwertung anderen schaden könnte! Jede Einteilung der Tugenden in solche, die dem Subjekt, und solche, die anderen von Nutzen sind, ist einigermaßen oberflächlich und vordergründig. Tatsächlich sind in der Finalität der Tugenden Interessen anderer und eigene Interessen eng miteinander verknüpft. Es sollte daher einleuchten, daß Erziehung als Charakterbildung nicht gut sein kann, ohne beiden Finalisierungen gerecht zu werden. Die beiden Finalitäten greifen auf unterschiedliche Weise ineinander. Sie tun dies erstens dadurch, daß Tugenden ihre ›Zuständigkeiten‹ sozusagen gegenseitig begrenzen (vgl. 6.6). Überschreitet beispielsweise der Stolz die Grenze, die Tugenden wie Ehrfurcht, Respekt und Wahrhaftigkeit ihm ziehen, wird er aus einer Tugend zum Laster. Zu wenig Rücksicht bedeutet Egoismus; andererseits jedoch ist Rücksichtnahme nur so lange eine Tugend, wie sie für den Durchsetzungswillen Platz läßt, der im Zusammenleben von Menschen nicht weniger notwendig ist. Zweitens haben sehr viele Tugenden eine ›fremdnützige‹ und eine ›eigennützige‹ Seite. Als Kinder lernen wir, mit allen möglichen Dingen ordentlich oder sparsam oder sorgfältig umzugehen. Die hier gelernten Motivationsstrukturen
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stehen im Dienste menschlicher Interessen; doch beziehen sie sich weder speziell auf eigene noch auf fremde Interessen. Ebenso zeigen Qualitäten wie Durchsetzungswille, Kompromißbereitschaft, Hoffnung, Umsicht, Leistungsund Lernbereitschaft, Tapferkeit, Mäßigung, Geduld und nicht zuletzt Vernunft und Klugheit sehr deutlich, daß ›Moral‹ im engeren Sinne und die Bedienung eigener Interessen weitgehend auf dieselben Charaktereigenschaften zurückgreifen. Ein ›Interessenausgleich‹ kommt ferner dadurch zustande, daß Tugenden aufeinander angewiesen sind (Müller 2004a). Beispielsweise benötigt man Umsicht im Umgang mit eigenem Vermögen, um anderen gegenüber großzügig sein zu können; nur wer sich selber achtet, dessen Respekt für andere ist etwas wert; und wer nicht auf eigene Interessen bedacht ist, dem bleibt auch nicht viel Spielraum, anderen zu helfen. Andererseits kann man sich in vielen Kontexten z. B. nicht durchsetzen, ohne großzügig oder gerecht zu sein (ganz abgesehen davon, daß der Durchsetzungswille auch keine Tugend ist, wenn er – eigene oder fremde – Interessen auf ungerechten Wegen verfolgt). Viertens ist es ein Gemeinplatz, daß die Tugend, die anderen zugute kommt, diese in der Regel geneigt macht, auch ihrerseits auf meine Interessen und Rechte Rücksicht zu nehmen. Ein fünfter Gesichtspunkt: Noch nicht einmal dem tugendbestimmten Verhalten in einer bestimmten Situation lassen sich ausnahmslos eigener oder fremder Nutzen zuordnen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Die Finalität des Verhaltens kann indirekt und verzweigt sein. (Wem nützt die Ehrlichkeit des Wahlhelfers, der meinen (ohnehin nicht ausschlaggebenden) Stimmzettel bei der Auszählung nicht unterschlägt? Wem nützt die Gerechtigkeit des Richters, der das Recht der Eltern respektiert, ihre Kinder zu erziehen?) In der Motivation können die eigenen Interessen mit denen des anderen verschmelzen. Das gilt vor allem für die Praxis von Beziehungstugenden. (Wem nützt die Loyalität, die mich veranlaßt, für meine eigenen Kinder anders zu sorgen als für fremde? Verhält sich der hingebungsvolle Ehegatte eigennützig? oder fremdnützig?) Und häufig profitieren beide Seiten gleichermaßen von der Praxis der Tugend. (Wer hat mehr davon, wenn ich meinen Zorn über das Versäumnis des anderen mäßige: er oder ich?) Im übrigen schaden Laster wie Arroganz, die sich ›gegen andere‹ richten, deren Interessen weniger als den eigenen. Schließlich ist daran zu erinnern, daß Tugenden nicht nur instrumentell auf eigenes und fremdes Gedeihen bezogen sind. Ihre Umsetzung ist vielmehr für das eigene Gedeihen konstitutiv (6.3 (d)). Sobald man diese Finalisierung der Tugenden ernstnimmt, erscheint die Frage nach ihrem Nutzen nochmals in einem anderen Licht: Wie immer der instrumentelle Beitrag einer Tugend zum menschlichen Gedeihen sich auf die betroffenen Individuen verteilen mag – als konstitutive Komponente ›nützt‹ die Tugend-Praxis dem Gedeihen des Praktizierenden. Man könnte meinen, eine solche ›idealische‹ Sichtweise sei von unseren alltäglichen Auffassungen von Interesse und Nutzen doch recht weit entfernt. Insoweit
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dem so ist, liegt darin freilich aus der Perspektive der Tugendethik ein Argument gegen jene Auffassungen – nicht gegen die Sicht der Tugend als Gewinn für ihren ›Besitzer‹. Indessen zeigen auch unsere alltäglichen Auffassungen durchaus deutliche Spuren der beschriebenen tugendethischen Perspektive: Wer selbst mit einigem Erfolg um einen guten Charakter bemüht ist, möchte nicht auf das Maß an ethischer Qualität verzichten, das er sich angeeignet hat; und er bedauert sein Ungenügen – auch ohne dabei an den instrumentellen Nutzen der Tugenden zu denken. Noch wichtiger ist vielleicht für den gegenwärtigen Zusammenhang die Beobachtung, daß Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt, ihnen einen guten Charakter wünschen. Sie benötigen weder philosophische Argumente für den Eigenwert der Moral noch eine Abwägung zwischen eigen- und fremdnütziger Instrumentalität der Tugenden, um davon überzeugt zu sein, daß sie für ihre Kinder etwas Gutes tun, wenn es ihnen gelingt, sie zu guten Menschen zu erziehen. Eine Folge des verengten Verständnisses von Moral ist die heute gängige Unterscheidung zwischen dem gutem Leben, dessen Werte und Ideale relativ zu einer partikularen Kultur zu bestimmen seien, und dem richtigen Handeln, das sich durch Bezug auf die Recht anderer und durch universale Verbindlichkeit auszeichne. Dieser Unterscheidung steht die Tugendethik skeptisch gegenüber. Für sie schließt das gute Leben im Sinne des Gedeihens das ethisch gute Leben ein. Dieses wiederum läßt sich, wie bereits ausgeführt, gar nicht konsequent in zwei Domänen aufteilen, für die auf der einen Seite fremdnützige, auf der anderen eigennützige Tugenden zuständig wären. Auch läßt sich unter den Tugenden, die in besonderem Maß den Belangen anderer Personen Rechnung tragen, die Gerechtigkeit zwar besonders hervorheben. Sie unterscheidet sich eben von anderen Tugenden, deren Erfordernisse nicht in (moralischen) Rechten des Gegenübers gründen. Doch ist gerechtes Handeln weder unter allen Umständen noch ausschließlich auf die Interessen anderer ausgerichtet. Man kann auch nicht behaupten, die Praxis der Rücksichtnahme, der Dankbarkeit oder gar der Hilfsbereitschaft sei für das Zusammenleben von Menschen generell entbehrlicher als ›richtiges Handeln‹ im eingeengten Sinn von Orientierung an Maßstäben der Gerechtigkeit. Und schließlich unterschlägt die Entgegensetzung von gutem Leben und richtigem Handeln die Tatsache, daß sich in der Gerechtigkeit und in den übrigen Tugenden gleichermaßen kultur-übergreifend notwendige Strukturen mit kultur-abhängigen Variationen verbinden. Das beste Argument gegen die Isolierung des Moralischen liefert wohl die bereits angedeutete ›Interferenz‹ zwischen Erfordernissen der Moral (im engeren Sinne) und Ansprüchen eigener Interessen. Manches Versprechen z. B., das ich unter gewöhnlichen Umständen nicht brechen könnte, ohne Unrecht zu tun, muß ich nicht halten, wenn ich dadurch (unter den unerwartet eingetretenen Umständen) meine Gesundheit ernsthaft gefährden würde. Die im engeren Sinne moralischen Anforderungen an mein Handeln werden also gelegentlich durch Forderungen selbst-interessierter Klugheit eingeschränkt: Daß ich den Belangen
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meiner Gesundheit unter den Umständen Vorrang gebe, bedeutet nicht, daß ich es in Kauf nehme, Unrecht zu tun. Vielmehr stoßen die Ansprüche der Gerechtigkeit selbst hier an ihre Grenze. Das könnte nicht der Fall sein, wenn die Dimension des Moralischen im Verhältnis zu den Ansprüchen eigener Interessen eine völlig autonome Bewertungsdimension wäre – wie die Dimension des Ethischen tatsächlich im Verhältnis zu den Ansprüchen der Etikette eine völlig autonome Bewertungsdimension ist: die Anstandsregel, das leer getrunkene Glas des Gastes nachzufüllen, kann mich als solche nie davon dispensieren, ein gegebenes Versprechen einzulösen.20
6.8
Die Qualität des Handelns hängt nicht an der Absicht, gut zu handeln
Sowohl die instrumentelle als auch die konstitutive Finalität der Tugend-Betätigung wäre mißverstanden, wollte man sie als Struktur der Motivation verstehen. Ein gutes Leben führt man weder, um menschliches Gedeihen dadurch zu fördern, noch auch deshalb, weil man in diesem (ethisch) guten Leben selbst sein eigenes Gedeihen erblickt. Um mit der konstitutiven Finalität zu beginnen: Kann man im Praktizieren der Tugend sein Gedeihen als Mensch suchen? Möglicherweise kann eine solche Absicht, ein gutes Leben zu haben, indem man ein gutes Leben führt, einen Hintergrund guten Handelns abgeben (vgl. 6.9), ohne die (ethische) Qualität des Handelns zu kompromittieren. Keinesfalls jedoch tut ein einigermaßen normaler Mensch das, was er hier und jetzt, gut handelnd, tut, in der Absicht, zu gedeihen. (Noch auch entspricht seine Motivation dem Gedanken: Indem ich gut handle, gedeihe ich; und indem ich hier und jetzt das und das tue, handle ich gut.) Aber auch die instrumentelle Finalität der Tugenden geht nicht unmittelbar in die Motivation des Handelns ein, das diese Tugenden manifestiert. Dankbares Handeln z. B. ist, wie wir gesehen haben, von der Freundlichkeit des Gegenübers motiviert, nicht vom Gedanken an den langfristigen Nutzen der Dankbarkeit für das Zusammenleben der Menschen oder gar für das eigene Wohlergehen. Der Tugendethiker sieht in der instrumentellen und in der konstitutiven Bedeutung der Tugend für menschliches Gedeihen eine Erklärung ihrer Rolle und ihres Wertes, nicht Motive, sie zu praktizieren.
20 Können aber nicht Tugenden wie Höflichkeit oder Rücksichtsnahme gutes Benehmen verlangen? Doch, das können sie. Dann aber begrenzen Forderungen der Etikette gegebenenfalls die Ansprüche einer Tugend, weil auch jene Forderungen selbst im Namen der Tugend, also von einem ethischen Standpunkt aus erhoben werden. Dagegen kann die Forderung, für die eigene Gesundheit zu sorgen, nicht deshalb die Ansprüche der Gerechtigkeit begrenzen, weil auch eine solche Forderung gegebenenfalls im Namen der Moral (im engeren Sinne) erhoben werden könnte; vielmehr ist Sorge für die eigene Gesundheit ebenso wie Gerechtigkeit von sich aus eine Teil-Dimension ethischer Bewertung.
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Ist also die Tugendhaftigkeit selbst das Motiv, um dessentwillen man handeln muß, um gut zu handeln? Diese Auffassung wäre sozusagen das tugendethische Äquivalent zur Auffassung Kants, die Moralität des Handelns verdanke sich einem speziellen Moral-Motiv: der Achtung vor dem Sittengesetz. Aber auch die Absicht, gut oder tugendhaft zu handeln, ist aus tugendethischer Perspektive für gutes Handeln nicht konstitutiv. Das gute Handeln ist telos, liefert aber nicht den Beweggrund. Allenfalls spielt der Wunsch, gut zu handeln (ebenso wie vielleicht der Wunsch, als Mensch zu gedeihen) die Rolle einer Absicht im Hintergrund (6.9). Heißt das, die moralische Qualität des Handelns hänge nicht davon ab, ob es moralisch motiviert sei? – Selbstverständlich ist ethische Qualität eine Frage der ethisch qualifizierten Motivation. Doch bedarf es keines eigenen qualifizierenden Motivs, das für die ethische Güte allen Handelns konstitutiv wäre, indem es den direkten oder indirekten Grund für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen lieferte. (›Um ein guter Mensch zu sein, unterlasse ich diese Lüge.‹ ›Um den Erfordernissen eines guten Charakters gerecht zu werden, helfe ich ihm; und um ihm zu helfen, fertige ich die Übersetzung an.‹) Auch verlangt das Praktizieren einer Tugend nicht das Motiv, diese Tugend praktizieren zu wollen – wie der Ausdruck ›Tugend um der Tugend willen‹ nahelegen könnte. (›Um wahrhaftig zu sein, unterlasse ich diese Lüge.‹ ›Um hilfsbereit zu sein, fertige ich die Übersetzung an.‹) Ethisch qualifiziert ist ein Motiv, wenn es sich in die Motivationsstrukturen einfügt, die die Tugenden kennzeichnen. (›Weil diese Behauptung eine Lüge wäre, stelle ich sie nicht auf.‹ ›Weil er eine Übersetzung benötigt und von mir erbittet, fertige ich sie an.‹) Es gehört zu den ›Tugenden‹ der Tugendethik, daß sie mit dieser Sicht das Verständnis des guten und vernünftigen Handelns widerspiegelt, das die Begriffe der Umgangssprache vorgeben. Diesem Verständnis zufolge liegt das Gute des guten Handelns zwar in der Gesinnung des Handelnden, in der Motivation seines Handelns. Die aber muß keineswegs in einer Vorstellung von gutem Leben, Tugend, Moral oder dergleichen wurzeln. Die Gesichtspunkte, die von Situation zu Situation einmal dieses, einmal jenes Verhalten motivieren sollen, sind Dinge wie: der eigene Gesundheitszustand (der Vorsichtsmaßregeln nahelegt oder Mäßigung im Trinken verlangt); eingegangene Verpflichtungen (die nicht zu erfüllen ungerecht wäre); Bedürfnisse und Bitten anderer (auf die es Rücksicht zu nehmen oder helfend zu reagieren gilt). Andere Gesichtspunkte sollen, je nach Umständen, bestimmte Verhaltensweisen nicht motivieren: der Erfolg des Nachbarn (der tendenziell Neid auslöst); die Aussicht auf noch mehr Geld (die unter den Umständen nur auf Kosten des Familienlebens zu realisieren ist und der aus diesem Grund die Tugend der Mäßigung entgegentreten muß); usw. Zum guten Handeln ist also die Absicht, gut zu handeln, nicht erforderlich. Für das schlechte Handeln bedeutet dies: Es muß weder darin bestehen, daß einem diese Absicht fehlt, noch darin, daß man es versäumt, sie zu verwirklichen. Entscheidend sind vielmehr Defekte im Bereich der tugend-typischen Motivationsstrukturen und ihrer Umsetzung.
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Praktische Finalität ist insoweit keine Sache der Absicht. (›Insoweit‹; denn selbstverständlich verlangen tugend-typische Motivationsstrukturen bestimmte Absichten, und andere schließen sie aus.) Eine Person, die erwachsen und bei Sinnen ist, kann sich der ethischen Finalität und Bewertbarkeit des eigenen Tuns nicht entziehen. Wer lebt, so könnte man sagen, ist eo ipso ›dazu verurteilt‹ zu handeln; und wer handelt, der handelt gut oder schlecht. Denn als Handeln steht, was er tut und läßt, unausweichlich unter der Finalität ethischen ›Gelingens‹. Ob er eine auf die Qualität des Handelns bezogene Absicht hat, ist dafür unerheblich.21 Zugegeben: auch der Absicht, gut Violine zu spielen, bedarf es möglicherweise22 nicht, damit das Tun eines Menschen als gutes oder schlechtes Violinespiel beurteilt werden kann. Doch kann eine solche Beurteilung jedenfalls nicht zutreffen, wo gar keine Absicht besteht, überhaupt Violine zu spielen. Der Beurteilte könnte sagen: ›Ich will ja gar nicht spielen; ich stimme meine Geige!‹ Hier könnte man nicht antworten: ›Was du willst, ist gleichgültig; dein Spiel ist schlecht!‹ Für den Charakter einer technischen poiesis im Sinne von 5.1–2 ist die Intention des Subjekts ein ausschlaggebender Faktor. Anders bei einer praxis. Wer kritisiert wird, weil er nicht gut handle, kann nicht antworten: ›Ich will ja gar nicht handeln; ich ...‹ – ja, was? Zum Handeln gibt es keine Alternativen. Und so ist es durchaus möglich, das Handeln eines Menschen negativ zu beurteilen, wenn er beispielsweise nicht hilft, wo er dringend benötigte Hilfe mühelos leisten könnte und unter den Umständen leisten sollte. Für die Frage, ob er denn überhaupt zu handeln beabsichtige, lassen unsere Begriffe keinen Platz. Er handelt, was immer er intendiert. Und die Auskunft: ›Ich will ja gar nicht gut handeln‹ entzieht sein Tun nicht etwa der ethischen Beurteilung; sie stellt vielmehr sicher, daß diese Beurteilung negativ ausfällt! Gerade in dieser Hinsicht wird übrigens auch Erziehung ihren praktischen Charakter erweisen (10.1 (c1)).Wie es der erwachsene Mensch nicht vermeiden kann zu handeln, so kann es der erzieherisch Zuständige nicht vermeiden zu erziehen – gut oder schlecht. Das entscheidende Ergebnis dieses Abschnitts ist die Einsicht, daß gutes Handeln nicht von einem moralischen ›Super-Motiv‹ abhängt. Als Motivation konkreten Tuns und Lassens verstanden, sind die Achtung vor dem Sittengesetz, die Intention, ein kollektives Glück zu maximieren, und die Absicht, gut oder tugendhaft zu handeln, gleichermaßen Philosophen-Erfindungen. Die Analyse 21 In diesem Sinne sollte man meines Erachtens auch Aristoteles deuten, wenn er (in EN III 7, 1115b12 f und IV 2, 1122b6 f) den sittlichen Wert (›kalon‹) als telos der Tugend bezeichnet. 22 Nur ›möglicherweise‹. Denn manches spricht für die Auffassung, wer eine poiesis oder eine praxis intendiere, intendiere eo ipso gute poiesis bzw. gute praxis. Kann jemand z. B. versuchen, auf der Violine ein Stück zu spielen, ohne zu versuchen, es richtig zu spielen? Zählt der – gerade dem Könner mögliche – Versuch, es falsch zu spielen, als Versuch, es zu spielen?
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ethischer Urteile und die Phänomenologie des moralischen Bewußtseins weisen in eine andere Richtung: Wo die Güte des Handelns überhaupt auf einem Motiv beruht und nicht lediglich auf der Abwesenheit schlechter Motive, da ist es nicht ein ›Moral-Motiv‹, dem sich die Qualität des Handelns verdankt. Freilich ist es auch nicht etwa das langfristige Interesse des Handelnden an den außermoralischen Früchten seiner Tugendhaftigkeit. Vielmehr beruht der Beweggrund guten Handelns, wo es einen solchen gibt, in einem Umstand, aus dem im gegebenen Kontext diese oder jene Tugend einen Beweggrund macht: in dem Umstand, daß dieser Rasenmäher X gehört, in Y’s Bedürftigkeit, in der Gefährdung meiner Gesundheit durch Rauchen und dergleichen. Was es heißen soll, daß eine Tugend aus diesem oder jenem Umstand ›einen Beweggrund macht‹, muß zum Schluß dieses Abschnitts noch kurz erläutert werden. Zunächst einmal kann es sich dabei um eine ethisch notwendige, also geforderte Motivation handeln oder aber um eine lediglich suggerierte. Diese Unterscheidung entspricht im wesentlichen Kants Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Die Tugend der Gerechtigkeit verlangt, daß ich unter normalen Umständen im Eigentumsrecht des X an diesem Rasenmäher einen zwingenden Grund erblicke, ihm das geliehene Gerät zurückzugeben. Hingegen machen die Tugenden der Wohltätigkeit und der Hilfsbereitschaft Y’s Bedürftigkeit zwar unter gewissen Umständen zum Grund, ihm bei der Finanzierung einer wichtigen Reise zu helfen; doch muß der Wohltätige und Hilfsbereite diesen Grund im Normalfall nicht als zwingend, sondern nur wie eine Einladung behandeln, durch die das Helfen suggeriert wird. (Allerdings verlangen auch solche Tugenden, daß man ihrer Einladung gelegentlich folgt; und gelegentlich kann ihre Einladung auch den Charakter einer unabweisbaren Forderung haben.) Im übrigen darf man nicht vergessen, daß gutes Handeln in den meisten Situationen weder auf zwingende noch auf einladende Beweggründe angewiesen ist. Gutes Handeln besteht eben nicht aus guten Taten. Zwar ist das Gute auch nicht ›stets das Böse, das man läßt‹ – aber eben doch sehr häufig. Die meiste Zeit handelt man einfach insofern gut, als man nicht schlecht handelt. Und auch das besteht nur selten darin, daß man einem naheliegenden (schlechten) Motiv nicht stattgibt.23 23 Die meiste Zeit handelt man also gut, indem man ›nichts Besonderes tut‹, weder Gutes noch Schlechtes. Solange ich mit meinem Pfeifkonzert im Garten nicht den Nachbarn störe (oder gar stören will) und solange ich nichts versäume, was ich tun sollte anstatt zu pfeifen (oder während ich pfeife), ist mein Handeln ›in Ordnung‹. Nicht weil das Pfeifen einem ethisch qualifizierten Motiv entspränge, sondern weil ihm keins entgegensteht. Nur so verstanden kann gutes Handeln Übereinstimmung mit allen Tugenden bedeuten, also: eine einzige Art von praxis sein, die durch die vielen Tugenden qualifiziert wird. Die Vorstellung solchen Handelns ist selbstverständlich nicht die unsinnige Vorstellung eines Verhaltens, das alle Tugenden gleichzeitig manifestiert. Indem ich helfe, handle ich im Normalfall nicht gerecht oder neidlos, sondern nur hilfsbereit – und deshalb gut. Dennoch
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Jede ethische Tugend trägt zur Qualität des Verhaltens dadurch bei, daß sie ihm eine charakteristische Motivationsstruktur verleiht. Sie tut dies, indem sie, je nach Tugend und je nach Umständen, eine bestimmte Art von Motiv verlangt bzw. suggeriert oder aber eine bestimmte Art von Motiv zurückweist oder relativiert. Die Gerechtigkeit liefert ein Beispiel für die erste Art von Motivationsstruktur, die Tapferkeit ein Beispiel für die zweite. Gerechtigkeit disponiert dazu, sich in seinen Handlungen, Unterlassungen usw. von den Rechten anderer Personen motivieren zu lassen. Tapferkeit hingegen disponiert dazu, sich bei der Verfolgung eigener oder fremder Zwecke nicht widerstandslos von Schwierigkeiten, Gefahren und Drohungen zum Aufgeben motivieren zu lassen, sondern jene Zwecke dennoch zu verfolgen, wenn sie nur, im Verhältnis zu den Schwierigkeiten usw., wichtig genug sind. Auf solche Weise können – das sei zum zweiten Beispiel angemerkt – Tugenden wie Tapferkeit, Mäßigung oder Geduld durch Abwehr problematischer Motive anderen Motiven ›Schutz bieten‹ oder zum Zug verhelfen. Aber diese anderen Motive sind dann natürlich nicht das, was mein Tun geduldig oder tapfer macht und insoweit ethisch qualifiziert. Daraus, daß Moralität bzw. ethische Qualität eine Sache der rechten, nämlich ethisch qualifizierten Motivation ist, darf man also nicht den voreiligen Schluß ziehen, das Gute des guten Handelns müsse durchweg in seinem Motiv liegen – sei dies nun ein moralisches ›Super-Motiv‹ oder ein moralisch bzw. ethisch qualifiziertes Motiv. Sehr weitgehend ist das gute Handeln eine Sache der Abwesenheit bedenklicher Motive.
6.9
Das telos des Handelns kann dessen ›Hintergrundmotiv‹ bilden
Um von einem Menschen sagen zu können, er habe in dieser oder jener Situation gut gehandelt, verlangen wir seine gute Gesinnung; und zu dieser gehört nicht selten die gute Absicht. Wir verlangen aber nicht, daß er die Absicht hat, gut zu handeln. Die eupraxia des Handelns ist telos, ohne intendiert zu sein. Auch die Umsetzung einer einzelnen Tugend ist nicht die Verwirklichung der Absicht, diese Tugend zu praktizieren. Als Motiv des Wohltätigen z. B. kann man die Notsituation bedürftiger Menschen oder die Aussicht, ihre Not zu lindern, bezeichnen. Wohltätig zu sein oder Wohltätigkeit zu praktizieren ist, zumindest in der Regel, nicht die Absicht, in der er spendet.
nimmt das Urteil, ich hätte gut gehandelt, auf alle Tugenden Bezug. Denn mit meinem Helfen hätte ich falsch gehandelt, wenn ich, anstatt zu helfen, eine unangenehme Vertragspflicht hätte erfüllen sollen; und die bloße Tatsache, daß die poiesis (oder die Unterlassung), in der mein Helfen bestand, nicht von Neid diktiert war oder irgendeinem anderen Mangel an Tugend entsprang, gehört ebenfalls zu den Bedingungen der Qualität meines Handelns.
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Allerdings habe ich im vorangehenden Abschnitt zugestanden, daß die Absicht, gut zu handeln ›im Hintergrund stehen‹ könne. Und Entsprechendes gilt wohl von der Absicht, wohltätig zu handeln. Wie ist das näherhin zu verstehen? Ich bezeichne einen Beweggrund X als Hintergrundmotiv für das, was einer tut, wenn sein Tun einem Beweggrund M entspringt und X ihn dazu motiviert, sich von M motivieren zu lassen. Bezogen auf das wohltätige Spenden z. B. können die Absichten, Wohltätigkeit zu praktizieren, gut zu handeln, gut zu leben, Hintergrundmotive sein. Dann ist vielleicht die Notsituation von anderen das Motiv, zu spenden; die Absicht, gut zu handeln, das Motiv, sich von so einer Notsituation dazu motivieren zu lassen, zu spenden; und dieselbe Absicht eben dadurch Hintergrundmotiv für das Spenden. Der Begriff eines Hintergrundmotivs ist also relativ. Im Hinblick auf das Spenden ist die Absicht, gut zu handeln, Hintergrundmotiv. Im Hinblick darauf aber, daß der Handelnde sich von Notsituationen zum Spenden motivieren läßt, ist dieselbe Absicht nicht Hintergrundmotiv, sondern Motiv. Man kann darüber streiten, ob die Absicht, gut zu handeln, ein Erfordernis des guten Lebens und somit des guten Handelns sei. Dafür spricht der Gedanke, daß zum guten Leben die Bemühung um ethischen Fortschritt gehört, die Bemühung also, das eigene Handeln kritisch zu prüfen und zu korrigieren. Eine solche Bemühung scheint nämlich notwendig der Absicht zu entspringen, besser zu handeln, und letzten Endes: gut zu handeln. Aber auch wenn das zutrifft, handelt es sich hier um eine Absicht, in der man sein Tun und Lassen von guten Motiven bestimmen läßt, nicht um eine Absicht, in der man dies tut und jenes läßt. Bezogen auf das Tun und Lassen selbst, bleibt die Absicht, gut zu handeln, Hintergrundmotiv. 24 Vergleichbares gilt von der Absicht, tapfer, hilfsbereit, gerecht usw. zu sein. Kann nicht die Absicht, tapfer zu sein, einen Menschen dazu motivieren, anonymen Anrufen zum Trotz für eine Familie einzutreten, die abgeschoben werden soll? Aber tapfer ist sein Verhalten nur, wenn er trotz Bedrohung für die Familie eintritt, um sie vor Verfolgung oder wirtschaftlichem Ruin zu schützen, oder aus
24 Vielleicht besteht das gute Handeln unter den Umständen darin, in einem Streit zu vermitteln. Dann ist freilich die Absicht, in der man sich um Vermittlung bemüht (die Ermöglichung von Kooperation z.B.), identisch mit der Absicht, in der man (im Erfolgsfall) vermittelt. Da aber ›Absicht‹ einen intentionalen (oder ›intensionalen‹) Kontext schafft, folgt daraus keineswegs, daß hier die Absicht, in der man sich um gutes Handeln bemüht, identisch ist mit der Absicht, in der man tatsächlich gut handelt. Gutes Handeln geschieht als solches ohne weitere Absicht; und das, worin es besteht, geschieht im angenommenen Fall schlicht in der Absicht, Kooperation zu ermöglichen. Das Bemühen um gutes Handeln hingegen geschieht natürlich in der Absicht, gut zu handeln und gut zu leben; es besteht in kritischer Reflexion, gesteigerter Aufmerksamkeit, Konsultation des Beichtvaters und dergleichen, nicht oder allenfalls per accidens im Bemühen um Vermittlung zwischen Streithähnen.
6 Gut handeln und gut leben
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einem anderen guten Motiv, das nicht in der Absicht liegt, tapfer zu sein. Die Absicht, tapfer zu sein, motiviert ihn nicht, für die Familie einzutreten, sondern allenfalls dazu, sein Verhalten (generell und deshalb auch jetzt) von guten Motiven selbst da leiten zu lassen, wo Drohungen und dergleichen zu einem anderen Verhalten motivieren wollen. Damit ist klar, was gemeint sein kann, wenn es heißt, der Tapfere handle einzig ›um der Tapferkeit willen‹ tapfer. Entweder heißt es, nur die Absicht, tapfer zu sein, und keine fernere Absicht motiviere ihn dazu, sich die Motivationsstruktur der Tapferkeit zu eigen zu machen. Dergleichen hat z. B. im Kontext reflektierter Identifikation (16.7 (b-c)) oder Selbsterziehung (17.4 (c)) seinen Platz. Oder es heißt (ein wenig plausibler), was der Tapfere trotz Gefahr usw. tue, tue er einzig um des jeweiligen guten Motivs willen – z. B. um den bedrohten Freund in Sicherheit zu bringen – und nicht, um dadurch Anerkennung oder Geld oder sonst etwas zu erhalten. Es heißt nicht, er tue es, um tapfer zu handeln oder um tapfer zu sein. Diese Absicht ist für sein tapferes Handeln nicht konstitutiv, sondern allenfalls ein Hintergrundmotiv. Und ebenso ist die Absicht, gut zu handeln, für gutes Handeln nicht konstitutiv, sondern allenfalls ein Hintergrundmotiv (6.8). Kann auch B’s Absicht, A gut zu erziehen, für B’s gutes Handeln ein Hintergrundmotiv abgeben? Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Es ist nämlich durchaus denkbar – und darüber hinaus wohl auch Erfahrungstatsache –, daß Menschen dadurch zu gutem Handeln motiviert werden, daß sie eine partielle Verantwortung für die charakterliche Verfassung anderer tragen. (Und welcher Mensch hätte überhaupt keine derartige Verantwortung? Vgl. auch 12.1 (d2).) Der Gedanke, daß A durch ein schlechtes Vorbild an einer guten charakterlichen Entwicklung gehindert würde, mag also für B tatsächlich ein Beweggrund sein, gut zu handeln. Auf der Ebene der Verhaltensantriebe mag dieses Motiv sogar sehr wirksam und fast unentbehrlich sein. Doch kann es im Licht der praktischen Vernunft wohl kaum die Rolle eines guten eigenständigen Grundes spielen. Das ergibt sich vor allem aus folgender Überlegung. Zum Begriff des guten Handelns gehört, daß es nicht instrumentalisierbar ist: Jede zusätzliche Finalisierung durch intentionale Zwecksetzung raubt, so scheint es jedenfalls, unserem Tun und Lassen den Charakter des guten Handelns, den es aufgrund seiner internen Motivationsstruktur andernfalls hätte. Wenn ich z. B. Lügen vermeide, um meinem Kind kein schlechtes Beispiel zu geben, wird damit die Wahrhaftigkeit instrumentalisiert und um ihre Selbstzwecklichkeit gebracht – was nicht zu geschehen scheint, wenn ich Lügen vermeide, um gut zu handeln. Die begriffliche Situation ist allerdings komplexer, als diese Skizze erkennen läßt. Eine gründliche handlungsphilosophische Klärung des Problems der Instrumentalisierung müßte jedenfalls auf zwei Gesichtspunkte eingehen. Erstens könnte man behaupten, die ethische Qualität des Handelns (z. B. der Lügenvermeidung) werde durch das erzieherische Hintergrundmotiv nicht kompromittiert; dies geschehe nur, wenn die qualifizierende Motivationsstruktur selbst (Vermeidung der Aussage letztlich, weil sie der eigenen Überzeugung wider-
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
spricht) außer Kraft gesetzt werde. Zweitens ist zu bedenken, daß die erzieherische Motivation kein beliebiges poietisches telos ins Spiel bringt, sondern eines, das seiner Natur nach schon ethisch qualifiziert ist. Wie sollte dieses telos als Hintergrundabsicht die ethische Qualität von B’s Handeln in Mitleidenschaft ziehen? Gewiß, das erzieherische Vorbild leidet darunter, als solches beabsichtigt zu werden (13.2). Von daher ist ein Schielen des Erziehers nach den Auswirkungen seines Verhaltens auf den Charakter des Heranwachsenden ohnehin im allgemeinen kontraproduktiv. Indessen könnte B’s Absicht, mittels der eigenen Motivationsstruktur auf A’s Charakterbildung günstig einzuwirken, so situationsenthoben im Hintergrund von B’s Bewußtsein stehen, daß sie die Echtheit jener Motivationsstruktur nicht tangiert.
7
Praktische Funktionen von Produktion Um einer Sache willen bringt jeder, der hervorbringt, hervor; und zwar ist telos schlechthin nicht was das Hervorbringen leistet (das ist vielmehr ein zweckbezogenes telos und lediglich hiervon oder davon telos), sondern was das Handeln leistet: die eupraxia nämlich ist telos. Aristoteles, Nikomachische Ethik VI
In Abschnitt 5.1 wurde unter (c8) das telos einer poiesis u. a. dadurch gekennzeichnet, daß es seinerseits durch die eigene Funktion finalisiert sei: durch seinen Einsatz in poiesis oder praxis. Betrachten wir zunächst die erste (poietische) Art von Einsatz. Ein Stück Tuch z. B., entstanden als telos des Webens, finde seine Funktion darin, vom Schneider verarbeitet zu werden. Dann stellt sich die Frage nach dem telos der finalisierenden poiesis – hier des Schneiderns: Wozu soll das Stück Tuch verarbeitet werden? Das telos, das die Antwort liefert, mag wiederum poietisch finalisiert sein: Aus dem Tuch sollen durch Zuschneiden Teile entstehen; aus den Teilen soll dann ein Anzug geschneidert werden. Unter der Voraussetzung, daß das poietische telos nicht um seiner selbst willen geschätzt wird (vgl. 5.1 (c7)), steht am Ende einer solchen Finalisierungkette der Einsatz eines poietischen telos im Dienst einer praxis: Mit dem Anzug soll sich jemand kleiden. Auf diese Weise scheint jede poiesis in einer praxis so etwas wie ein indirektes telos zu finden. Inzwischen haben wir aber noch ein zweites Muster praktischer Finalisierung von poiesis kennengelernt. Ohne das ausdrücklich zu vermerken, habe ich in 6.2 (a) und (f) von Lebensweisen gesprochen, die durch eine poiesis konstituiert sind. Auch in dieser Rolle erhält die poiesis ein zusätzliches, indirektes telos. Als Beispiele ›poietischer‹ Lebensweisen habe ich das Künstlerleben und die
7 Praktische Funktionen von Produktion
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dominante Ausrichtung auf Erfolg oder Macht sowie das ›Leben des Erwerbs‹ genannt, das Aristoteles eben seiner offenkundig poietischen Orientierung wegen verwirft25. Auch was sich der Akt-Utilitarist unter einem guten Leben vorstellt (6.4 (a)), ist eine poietisch konstituierte praxis, insofern dieses Leben eine möglichst günstige Bilanz des allgemeinen Wohlergehens zu erreichen sucht – ein deutlich poietisches telos. Diese beiden Muster praktischer Finalisierung von poiesis – mittelbar und unmittelbar praktische Finalisierung – werden in 7.1 bzw. 7.2 auf ihre Strukturen hin untersucht. Abschnitt 7.3 zeigt, wie unmittelbar-praktische Finalisierung das Verhältnis zwischen gutem Handeln und beliebiger poiesis bestimmt, und 7.4, wie Erziehung, ohne instrumentalisiert zu werden, im Erzieher-Leben eine sinngebende Funktion ausüben kann.
7.1
Als ›Lebens-‹ oder ›Produktionsmittel‹ verleiht das telos einer poiesis dieser eine mittelbar-praktische Finalität
Jede poiesis ist durch ein von ihr isolierbares telos finalisiert (5.1 (c1)). Wir kennen jedoch kein poietisches ergon, das nicht seinerseits ein telos hätte; das also nicht durch Funktion oder Intention dazu bestimmt wäre, in einer ferneren poiesis oder in einer praxis eingesetzt zu werden. Betrachten wir eine poiesis, P1, deren Ergebnis entweder seinem Begriff nach oder durch Intention auf eine fernere poiesis, P2, hingeordnet ist. Was aus P1 als Produkt hervorgeht, ist hier ›Produktionsmittel‹, also Material oder Werkzeug o.ä. im Dienst von P2. Wird ein Produkt hingegen nicht wiederum poietisch, sondern praktisch eingesetzt, heißt es bei Aristoteles organon praktikon (also: Instrument im Dienst eines selbstzwecklichen Tuns), bei Karl Marx Lebensmittel. Ich werde mich des Ausdrucks ›Lebens-Mittel‹ in diesem Sinne bedienen. Am Beispiel der Lebensmittel im engeren (und heute üblichen) Sinne von ›Nahrungsmittel‹ dürfte klar sein, daß eine poiesis indirekt praktisch finalisiert sein kann, ohne ihre inhärente poietische Finalisierung und damit ihren poietischen Charakter im geringsten einzubüßen: Wenn jemand Brötchen bäckt, damit man sie verzehrt (und wenn er sie außerdem verkauft, um selbst von den Einkünften zu leben), so konkurriert eine solche praktische Finalisierung natürlich nicht mit der poietischen, die darin liegt, daß er Brötchen bäckt, damit Brötchen da sind. Vielmehr setzt die erste, indirekte, Finalität die zweite, direkte, voraus. Das Backen dient unmittelbar dem Dasein der Brötchen, das Dasein der Brötchen ihrem Verzehr (und dem Leben des Bäckers, der sie verkauft). (Vgl. auch 5.1 (c8)) und das dort angedeutete Beispiel des Lebens-Mittels Kleid.) 25 In EN I 3, 1096a5–7 rümpft Aristoteles die Nase über die Vertreter des chrematistes bios: über Menschen, die im Erwerb von Reichtum einen Sinn sehen, der sich nicht in der Funktion des erworbenen Vermögens erschöpft.
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Mit der bloßen Möglichkeit eines indirekten, praktischen telos der poiesis ist es aber nicht getan. Darüber hinaus, so scheint es, muß vielmehr alles Produzieren als solches indirekt praktisch finalisiert sein – wenn dies vielleicht auch nicht für jede konkrete Produktion gelten mag. Wohin nämlich, salopp gefragt, mit den ganzen Produkten? Offenbar stehen sie nicht alle im Dienste fernerer Produktion. Denn von deren Produkten wäre wiederum zu fragen, was sie sollen. Und irgendwann müßte die Antwort auf ein Erfordernis des Lebens, vielleicht einer bestimmten Lebensweise oder eines partiellen telos, also jedenfalls einer praxis verweisen. Man wird vielleicht das Kunstwerk als Gegenbeispiel anführen wollen: Kann nicht das bloße Dasein eines sechsstimmigen Kanons oder einer Skulptur am Turm der Kathedrale alles sein, was der Künstler intendiert? – Es mag durchaus angehen, von solchen Werken zu sagen, sie würden ›um ihrer selbst willen erzeugt‹ und um ihrer selbst willen geschätzt. Aber was heißt das? Verschiedenes ist hier zu bedenken: a) Daß etwas ›um seiner selbst willen erzeugt‹ wird, kann heißen, daß das Erzeugen – nicht das Erzeugte – Selbstzweck ist, z. B. Teil einer Lebensweise. (Hiervon mehr unter 7.2.) Über die Finalität des Erzeugten ist damit nur gesagt, daß sie den Erzeuger nicht motiviert hat. b) Im übrigen hängt die Finalität der produzierten Sache nicht von der Motivation oder Intention des Produzenten ab, solange diese Sache unter einen teleologischen Begriff fällt. Das gilt natürlich nicht nur, wo das Erzeugen Selbstzweck ist. Man denke nochmals an den Bäcker. Seine Motivation muß mit der Finalität der Brötchen nichts zu tun haben. Er muß deren Verzehr noch nicht einmal intendieren. (Er denkt vielleicht nur an seinen Lebensunterhalt – was die Kunden mit seinen Produkten anstellen, ist ihm gleichgültig.) Die Finalität dieser Brötchen hängt an ihrer Funktion, nicht an der Intention des Bäckers, für die Ernährung der Kunden zu sorgen. (Daß diese Funktion auf das gelegentliche Vorkommen charakteristischer Intentionen bei Produzenten und Konsumenten angewiesen ist, leugne ich selbstverständlich nicht.) c) Der praktische ›Einsatz‹ poietischer Leistungen ist in einem weiten Sinne zu verstehen. In diesem Sinne werden auch Kunstwerke ›eingesetzt‹, insofern sie im Leben eine Rolle spielen; und das tun sie, indem sie beispielsweise Gegenstand der Betrachtung oder des Hörens sind, unsere wahrnehmbare Umgebung schmücken, Phantasie und Denken anregen, uns im Herzen berühren usw. d) Eine Sache ist dadurch Kunstwerk, daß sie in einem kulturellen Zusammenhang entsteht, der ihr die Art von Finalität gibt, derentwegen wir sie als Kunstwerk bezeichnen. Kunstwerk ist sie also, insofern sie geeignet ist, im menschlichen Leben die soeben unter (c) angedeuteten charakteristischen Rollen zu spielen. Wie auch in anderen Bereichen mag im Bereich der Kunst das einzelne
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Werk keine Verwendung finden. Ja, der charakteristische ›Einsatz‹ des Kunstwerks ist vielleicht gar nicht ins Auge gefaßt: der Komponist weiß schon, daß sich für den Druck kein Verleger und für die Wiedergabe kein Orchester finden wird; der Steinmetz arbeitet ›zur Ehre Gottes‹. Dennoch: indem wir das Produkt als Kunstwerk einordnen, schreiben wir ihm die Finalität zu, die es überhaupt zum Kunstwerk macht. Ich bleibe also einstweilen bei der These, daß alle poiesis letztlich auf das Leben ausgerichtet ist: Entweder steht das Produzierte – als ›Endprodukt‹ und Lebens-Mittel – direkt im Dienst einer praxis; oder es dient als Material oder Werkzeug oder Katalysator o.ä. einer ferneren poiesis, die ihrerseits auf dem Weg über ihr Produkt (das wiederum Lebens-Mittel oder aber Material oder Werkzeug sein kann) dem Leben dient. Produkte scheinen näherhin mit begrifflicher Notwendigkeit ›nicht-selbstzwecklich‹ verfaßt zu sein. Und zwar dürfte es einen Aspekt von Rationalität ausmachen, daß ein poietisches telos menschlichem Tun und Lassen kein Motiv, keinen letzten Grund liefert.26 Die Frage, wie sich dies zeigen und erklären läßt, soll uns hier aber nicht beschäftigen. Dem oben erläuterten weiten Sinn von ›Lebens-Mittel‹ entspricht ein weiter Sinn von ›Konsum‹. Der Konsum, dem die Lebens-Mittel zur Verfügung stehen – Konsum durch das produzierende Subjekt oder auch durch seine Mitmenschen – ist nicht poiesis, sondern praxis. Man kocht Kaffee, um ihn mit anderen zu trinken, bügelt ein Kleid, um sich anständig anzuziehen, fertigt Stühle, auf denen andere dann sitzen; Bücher werden geschrieben, um gelesen, Kunstwerke geschaffen, um angeschaut oder angehört zu werden; Medikamente werden entwickelt, produziert, durch Transport verfügbar gemacht, um der Krankheitsbekämpfung und damit indirekt den verschiedensten Lebensvollzügen zu dienen. Finale Strukturen dieser Art lassen sich zwar häufig weiter zergliedern. Unmittelbar erlaubt z. B. die Verfügbarkeit von Medikamenten (ein poietisches Zwischenziel) deren Einnahme; und die, so könnte man geltend machen, ist zunächst einmal auf Resorption der Wirkstoffe und mittelbar schließlich auf gesunde Verfassung des Körpers ausgerichtet. Dennoch, am Ende einer derartigen Sequenz poietischer Finalisierungen steht immer ein praktisches telos: das Gedeihen, dem die Gesundheit dient – oder die Unterhaltung, die der Film bereitet, das Sich-gut-Kleiden oder eine sonstige eupraxia, der dieses oder jenes Produkt zugute kommt. Wenn das richtig ist, stellt sich die Frage nach dem poietischen Charakter von Erziehung unter einer neuen Perspektive: Ist das Erzogen-Sein eines Menschen Mittel zum Zweck? Ist insbesondere ein Charakter, der dem (poietischen) telos 26 Vgl. hierzu auch Müller 2002a (bes. S. 171–189), wo ich die Rationalität gentechnisch gestützter Menschenerzeugung in Frage stelle. – Weiter unten (7.2) identifiziere ich eine Form der praktischen Finalisierung von poiesis, die für die Rationalität von selbstzwecklichen Produkten einen Spielraum läßt. Wie sich aber zeigen wird, bestätigt diese Ausnahme die Regel, daß Produkte um der praxis willen angestrebt werden.
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der Erziehung entspricht, so etwas wie Material oder Werkzeug im Dienst einer praxis des Erziehers oder anderer Menschen? Diese Frage wird uns in Kapitel 9 beschäftigen. Einstweilen soll es um das zweite Muster praktischer Finalisierung von poiesis gehen: um den Fall, daß eine praxis nicht dadurch telos ist, daß sie das Produkt der poiesis einsetzt, sondern dadurch, daß sie die poiesis selbst und unmittelbar finalisiert.
7.2
Eine poiesis kann eine praxis konstituieren und auf diese Weise unmittelbar-praktisch finalisiert sein
Eine Form der Finalität, bei der eine poiesis unmittelbar praktisch finalisiert ist – nicht mittelbar, auf dem ›regulären‹ Weg über ihr jeweiliges poietisches telos, wie in 7.1 – eine solche Form der Finalität scheint meine These zu widerlegen, daß jedes Produkt einer poiesis poietisch oder praktisch finalisiert und somit als Produktions- oder Lebens-Mittel zu verstehen ist. Denn die unmittelbar-praktische Finalität einer poiesis setzt doch wohl die mittelbar-praktische, ›reguläre‹ außer Kraft. Tatsächlich zeichnet sich zwar jede poiesis, als poiesis, durch ein charakteristisches Produkt aus. Doch ist dieses Produkt in typischen Fällen praxis-konstitutiver poiesis weder ›konsumierbar‹ noch auch, in der Rolle von Material oder Werkzeug fernerer poiesis, ›mittelbares Lebens-Mittel‹. Nehmen wir die Strukturen dieser unmittelbaren praktischen Finalität etwas näher in den Blick. Zunächst ein paar Beispiele. a) Zurücksetzen des Zauberwürfels: Indem man wiederholt Elemente des Würfels in ihren Gelenken dreht, stellt man schließlich die Soll-Position wieder her. – Eine poiesis, die der Unterhaltung dient. b) Turmbau-Wettbewerb: Jedes Kind setzt Bausteine aufeinander, bis das Ergebnis zusammenstürzt. Wer den höchsten Turm baut, gewinnt. – Die poiesis wird hier um einer praxis willen betrieben, deren eupraxia etwa heißen könnte: ›die Überlegenheit des eigenen Könnens erleben‹. c) Stiche-Machen: Bei vielen Kartenspielen gewinnt man auf dem Weg über Stiche. Wer die meisten Stiche ›macht‹, ›macht‹ das Spiel. – Stiche sind durch Regeln als poietische tele definiert; durch die Ausrichtung des Stiche-Machens auf Spielgewinn ist diese poiesis konstitutiv für Unterhaltung oder Zerstreuung. d) Hasenjagd: Pascal zeichnet subtil und einprägsam die Intentionalitätsstruktur nach, die der französische Höfling seiner Zeit bei der Hasenjagd zeigt. Es geht nicht um den ›Hasen, dem man nachjagt; man würde ihn nicht haben wollen, wenn man ihn geschenkt bekäme‹. Anders als in der typisch poietischen Ein-
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stellung ›hat man die Jagd lieber als die Beute‹.27 − Das Erlegt-Sein des gejagten Hasen bildet das telos einer poiesis, die aufgrund ebendieses telos-Bezuges (also ihrer poietischen Finalität), aber nicht vermittelst des erreichten Ergebnisses (also ihres poietischen telos), eine eupraxia wie Zerstreuung oder gar Glück konstituieren soll. e) Spiel am Geld-Automaten: Mit Glück (und vielleicht Geschick) erzielt man einen Geldgewinn, indem man Knöpfe und Hebel betätigt. – Diese poiesis konstituiert eine praxis, die durch Werte wie Zerstreuung, Spannung oder Nervenkitzel gekennzeichnet ist; allerdings hat ihr telos zugleich den Charakter eines Lebens-Mittels. f) Orientierung am Erfolg: Mit der Erreichung poietischer tele erzielt man zugleich Erfolg. Man kann dies zum Inhalt des Lebens machen und dessen Qualität an Quantität und Qualität der Erfolge messen. – ›Erfolge erzielen‹ bedeutet in diesem Fall eine poiesis, die dazu dienen soll, dem Leben Sinn zu geben. In allen diesen Zusammenhängen besteht die Relevanz der poiesis für die praxis nicht darin, daß sie durch ihr Produkt – also auf dem Wege über ein von ihr hervorgebrachtes Lebens-Mittel – der praxis dient, sondern darin, daß das Produzieren selbst auf diese oder jene Weise für die praxis konstitutiv ist. Was ›Konstitution‹ hier bedeutet, läßt sich auf folgende Weise bestimmen. Eine poiesis trägt zu einer praxis entweder auf ›reguläre‹ Weise, also dadurch bei, daß das poietische ergon als Produktions- oder Lebens-Mittel dient; oder dadurch, daß die poietische Orientierung bzw. Qualifizierung des Tuns als solche diesem Tun denjenigen Wert verleihen, der die praxis-Form definiert. Im zweiten Fall soll die poiesis für diese praxis-Form konstitutiv heißen. Praktisch finalisiert ist hier zwar nicht das Produkt der poiesis, wohl aber diese selbst. Denn eupraxia wird in dem Maß erreicht, wie das Tun überhaupt den Charakter der konstitutiven poiesis aufweist (›poietische Orientierung‹) oder aber gute poiesis ist (›poietische Qualifizierung‹). Das Tun bleibt hier zwar, als poiesis, durch ein isolierbares telos finalisiert und nach seinem Ergebnis bewertbar. Darüber hinaus jedoch und zugleich ist es Selbstzweck, insofern ebendieses poietische Finalisiert-Sein des Tuns den Maßstab einer praktischen Bewertung abgibt. Man könnte die Konstitution von praxis durch poiesis auch so beschreiben: Insoweit dieses Verhältnis vorliegt, ist nicht das poietische telos, sondern die poietische Finalität des Tuns noch einmal praktisch finalisiert. Das Produkt dient hier nicht dem ›Konsum‹. Genauer: sofern es konsumiert wird, wie im Fall von (e), ist die konsumierende praxis nicht die von der poiesis
27 Pascal 1987, S. 96 (Nr. 139 in der Brunschvicg-Zählung); vgl. auch S. 100 (Nr. 139, Abschnitt C).
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konstituierte praxis. Typisch sind allerdings Zusammenhänge anderer Art. Bei (a-b): das Produkt hat (normalerweise) keine Funktion als Lebens-Mittel, sondern ist von vornherein mit Blick auf eine konstitutive poiesis entworfen; bei (c): das Produkt kann gar nicht als Lebens-Mittel dienen, weil seine Existenz eine Sache der Konvention (hier: der Spielregeln) ist; bei (d): ein Lebens-Mittel wird ›umfunktioniert‹. Im übrigen hängt bei (f) – und je nach Mentalität oder Temperament auch bei (a-b) und (d-e) – die eupraxia an der poietischen Qualifizierung, insofern es das Gelingen des Produkts ist, an dem das Gelingen der konstituierten praxis gemessen wird. Wer den Sinn seines Lebens im Erfolg sieht, erlebt sein Leben nur dann als sinnvoll, wenn sein Streben nach Erfolg Erfolg hat. Hingegen illustriert Beispiel (c) besonders deutlich den Fall, in dem bereits die Intention des poietischen telos und somit die poietische Orientierung des Tuns einen Selbstzweck darstellt. Wer im Kartenspiel Vergnügen, Unterhaltung, Zerstreuung sucht, der erreicht diese (praxis-definierenden) tele schon dadurch, daß er das poietische Ziel verfolgt. In welchem Umfang er es erreicht, ist hier, zumindest der Idee nach, unerheblich.28 Wo eine poiesis unmittelbar durch praxis finalisiert ist, verliert sie übrigens ein unter 5.1 (c6) notiertes Merkmal. Im Normalfall ist das Ergebnis meiner poiesis ›übertragbar‹; es modifiziert und qualifiziert mich selbst genauso wenig wie andere, und es kann im Leben anderer dieselbe Rolle spielen wie in meinem. Dies trifft offenbar nur so lange zu, wie die praktische Finalität der poiesis durch deren Ergebnis, das Produkt, vermittelt, also mittelbar ist. Sobald die poiesis (auch) unmittelbar praktisch finalisiert ist, weil ihre poietische Finalität bereits als solche praxis konstituiert, sieht das anders aus. Der von mir erlegte Hase erfüllt zwar die in 5.1 (c6) genannte Bedingung, insofern das Hasen-Ragout meinem Nachbarn genauso gut schmecken kann wie mir selbst; und Entsprechendes gilt umgekehrt von dem Hasen, den der Nachbar erlegt hat. Doch kann der vom Nachbarn erlegte Hase, wie Pascal bemerkt, im Kontext der höfischen Jagd nicht an die Stelle des Hasen treten, den ich selbst gejagt und erlegt habe. Denn dessen Bedeutung besteht ja – unter dem Gesichtspunkt der eupraxia ›Zerstreuung‹ – nicht in seiner Funktion als Konsumgut und Lebens-Mittel, sondern darin, daß er das poietische telos realisiert, das ich verfolgt habe, um hierin Zerstreuung zu finden. Was wird angesichts dieser Beobachtungen aus der These, jede poiesis sei auf dem Weg über ihr telos praktisch finalisiert, insofern das entsprechende Ergebnis indirekt, als Produktionsmittel, oder direkt, als Lebens-Mittel, dem Leben diene
28 Andernfalls ließe sich eine vernünftige Person nicht auf Spiele mit Gewinn-Chancen ein, die sie selbst nur geringfügig beeinflussen kann. Freilich mag ständiges Verlieren das Vergnügen des Zielverfolgs mindern. Aber nur beim Spielverderber ist Gewinn – also Spiel-Erfolg, das Erreichen des poietischen telos – notwendige Bedingung für die Freude am Spielen. (Vom ›Spieler‹, der um des Gelderwerbs willen spielt, ist hier ohnehin nicht die Rede.)
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(5.1 (c8))? Die These bedarf in der Tat der Modifizierung; genauer: sie bedarf einer Einschränkung. Es bleibt zwar bei der Feststellung, daß der Sinn einer poiesis letztlich in ihrem Beitrag zu einer eupraxia und so zum guten Leben liegt29: in den Strukturen der Rationalität ist kein Platz für ein poietisches ergon als endgültiges telos irgendeines Tuns (vgl. 7.1 (a-d)); keine Nennung eines poietischen ergon ist geeignet, die Frage ›Wozu?‹ in der Weise abschließend zu beantworten, wie der Verweis auf die eupraxia das tut. Diese Feststellung wird durch das hier erörterte, von Pascal identifizierte Muster praxis-konstitutiver poiesis bestätigt, nicht unterminiert. Doch verlegt dieses Muster die praktische Finalität der poiesis nicht, wie das aristotelische Modell (7.1), in die Brauchbarkeit und den Konsum des Produkts als eines Lebens-Mittels, sondern in eine unmittelbar-praktische Finalisierung oder Selbstzwecklichkeit der poiesis – in deren Eignung, durch ihr Gelingen oder auch durch bloße Ausrichtung auf das Produkt eine eupraxia zu konstituieren. Allerdings ist die Vorstellung eines Lebens, in dem jede poiesis ausschließlich praxis-konstitutiv und keine poiesis ›aristotelisch‹, also über die Brauchbarkeit ihrer Produkte, praktisch finalisiert wäre, kaum kohärent. Dagegen kann man sich umgekehrt ohne weiteres menschliche Lebensweisen vorstellen, in denen jede poiesis zunächst einmal in diesem Sinne aristotelisch finalisiert ist. (Wie Abschnitt 7.3 zeigen wird, hat gleichwohl jede menschliche poiesis auch eine praxis-konstitutive Seite.) Es ist kein Zufall, daß der unter (d) erlegte Hase, das unter (e) gewonnene Geld und der unter (f) erzielte Erfolg auch brauchbar sind; daß die Soll-Position und die technische Leistung, die in (a) und (b) keine instrumentelle Bedeutung haben, auf ein Modell von Soll-Positionen und technischen Leistungen verweisen, die als solche durchaus Produktions- oder Lebens-Mittel darstellen; und daß ein ›unbrauchbares‹ Produkt wie Stich und Gewinn im Kartenspiel unter (c) nur durch Konvention das ist, was es ist – es imitiert sozusagen ein von Natur aus brauchbares poietisches telos, und Konvention macht es tatsächlich brauchbar (der Stich kann zum Spielgewinn beitragen, der Spielgewinn Geld einbringen). Die unmittelbare Finalisierung einer poiesis durch praxis ist insofern im Verhältnis zur mittelbar-praktischen Finalisierung abgeleitet und sekundär.
29 Das heißt natürlich nicht, daß sie diesen Beitrag ausnahmslos leistet. Verschiedene Umstände können das verhindern: Die finalisierende praxis mag (wie der chrematistes bios) ungeeignet sein, ein gutes Leben zu konstituieren; die konkrete poiesis mag mißlingen oder aus anderen Gründen ihrem praktischen telos nicht genügen; das Produzierte mag im Einzelfall vergeblich produziert werden, also nicht zum Einsatz kommen; der Produzent mag sinnlos, irrational – nämlich ohne praktische Orientierung – produzieren.
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
7.3
Eine poietisch konstituierte praxis wird durch Mißlingen der poiesis nicht disqualifiziert
Die im vorangehenden Abschnitt analysierten begrifflichen Strukturen sind von erheblicher Bedeutung für das rechte Verständnis des Handelns, also derjenigen praxis, die durch ethische Maßstäbe der Bewertung ausgezeichnet ist. Gerade das Handeln wird nämlich weithin durch poiesis konstituiert. Und insofern poiesis als freiwilliges menschliches Tun unter ethischem Anspruch steht, unterliegt sie ausnahmslos der damit gegebenen unmittelbar-praktischen Finalität. Einer poiesis geht es zwar per definitionem um ein poietisches telos; doch wird sie zugleich und unmittelbar durch eine eupraxia finalisiert, deren Zustandekommen vom Erreichen jenes telos weder abhängt noch garantiert wird. Ein Beispiel: Unter dem Gesichtspunkt der Hilfsbereitschaft wird mein Tun danach beurteilt, inwieweit es sich von Bedürfnis und Bitte eines anderen motivieren läßt. Hilfsbereites Handeln wird aber häufig darin bestehen, ein bestimmtes poietisches telos zu realisieren. Nehmen wir an, die unter den Umständen erforderliche poiesis bestehe darin, ein Fahrrad zu reparieren. Nicht nur ist dann dasselbe Tun zugleich poiesis und praxis. Vielmehr ist auch die mit 7.2 (a-f) illustrierte Finalitätsstruktur gegeben: die poiesis bzw. ihre Finalität oder ihr Gelingen ist konstitutiv für eine eupraxia. Freilich dient die Reparatur des Fahrrads seiner Fahrtüchtigkeit, also – anders als in den Fällen 7.2 (a-c) – einem poietischen telos der üblichen Art. Dieses telos ist Lebens-Mittel. Vermutlich hat das reparierte Fahrrad, auf dem Weg über allerhand weitere poietische tele, eine Funktion im Leben dessen, der es fährt. Auch darin liegt eine praktische – nämlich die unter 7.1 beschriebene ›mittelbare‹ – Finalisierung der poiesis. Von ihr ist jedoch die ebenfalls praktische, aber unmittelbare Finalisierung einer poiesis zu unterscheiden, um die es hier geht: die Reparatur des Fahrrads wird als etwas betrachtet und bewertet, das eine bestimmte eupraxia konstituieren soll. Und zwar ist in unserem Beispiel die Fahrrad-Reparatur in diesem Sinne hingeordnet auf das hilfsbereite und letztlich auf das gute Handeln bzw. das gute Leben des Handelnden selbst. Um in diesem Fall tatsächlich Hilfe zu leisten, muß man das poietische telos natürlich erreichen. Auch ist man nicht hilfsbereit, wenn man dieses Ziel nur halbherzig anstrebt – wie die Hasenjagd nur den unterhält, vergnügt, zerstreut, der den Hasen wirklich zu erlegen trachtet. Dennoch ist es das Erstreben, nicht das Erreichen des poietischen telos, das in beiden Fällen über die Verwirklichung des praktischen telos entscheidet – und damit, im Fall der Hilfestellung, über die Bewertung des Tuns als Handeln. Diese praktische (hier: ethische) Bewertung kann daher von der poietischen divergieren: schlechte Reparatur muß nicht schlechtes Handeln bedeuten. Allerdings muß auch gute Reparatur nicht unbedingt gutes Handeln bedeuten. Ich könnte z. B. ›helfen‹, nur um mit meiner technischen Kompetenz zu prahlen. Während somit auf der einen Seite das Erreichen des poietischen telos nicht über die Qualität des Handelns entscheidet, ist auf der anderen Seite die prak-
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tische Bedeutung dieses telos ›nicht übertragbar‹. Übertragbar, d. h. von beliebigen Personen verwendbar, ist zwar jedes reparierte Fahrrad. Für mein Handeln jedoch spielt die Verfassung des Fahrrads, die aus meiner poiesis resultiert, eine Rolle, die daran hängt, daß ich es bin und nicht ein anderer, der die Reparatur vorgenommen hat. Man könnte sagen: Unter ethischen Gesichtspunkten liegt die Bedeutung dieses poietischen ergon nicht in einem Tun, dem es dient, sondern in einem Tun, das ihm dient: in meinem Reparieren dieses Fahrrads. Dieser Aspekt einer praxis-konstitutiven poiesis reflektiert nur die Tatsache, daß die poietisch konstituierte praxis – wie jede praxis – ihr telos nicht außerhalb des Subjekts hat, sondern sozusagen das Subjekt modifiziert. Auf das Handeln bezogen heißt dies: Mein Handeln hat als solches Bedeutung für mich, es macht mich zu dem, was ich bin (vgl. 15.1); und daher kann ich es – im Unterschied zu einer poiesis – nicht delegieren. Man kann herstellen lassen, aber nicht handeln lassen. Im übrigen gilt natürlich auch für das poietisch konstituierte Handeln, was (in 6.8) über die Intentionalität einer jeden ethischen Motivation gesagt worden ist. Um unter den Umständen hilfsbereit zu handeln, muß man nichts anderes beabsichtigen als die Fahrtüchtigkeit des Fahrrads. Die ›Hinordnung der FahrradReparatur auf das gute Handeln‹ wird nicht durch ein ›Moral-Motiv‹ geleistet. Sie liegt vielmehr darin, daß dieses Tun nicht nur poietisch, sondern auch praktisch bewertbar ist und daß es unter dem praktischen Bewertungsmaßstab, den wir mit dem Begriff des Handelns anlegen, gut abschneidet. Dazu bedarf es hier insbesondere der Motivation durch Bedürfnis und Bitte des Radfahrers sowie der resultierenden Absicht, dem Bedürfnis durch Reparatur des Fahrrads abzuhelfen. Der Absicht, auf diese Weise gut zu handeln, bedarf es nicht.30
7.4
Im Erzieher-Leben erhält die poiesis des Erziehens eine nicht-instrumentelle, unmittelbar-praktische Finalität
In Abschnitt 6.2 war von ›dominanten tele‹ die Rede, die geeignet sind, dem Leben eines Menschen Sinn zu geben. Da diese tele praktischer Natur sind, könnten manche der dort gegebenen Beispiele, wie etwa künstlerisches Schaffen, die Frage aufwerfen: Wie kann ein poietisches telos dem Leben einen Sinn geben, also die Rolle eines praktischen telos spielen?
30 Das Beispiel ist übrigens so gewählt, daß die Motivation, die das poietische Tun als gutes Handeln qualifiziert, nicht den Charakter einer Absicht hat. Zwar beabsichtige ich mit der Reparatur des Fahrrads seine Fahrtüchtigkeit und mittelbar vielleicht die Befriedigung eines Bedürfnisses. Im angenommenen Fall liegt aber mein Motiv für diese Absicht nicht in einem ferneren Zweck (wie dies der Fall wäre, wenn das reparierte Fahrrad letztlich meinem eigenen Leben zugute käme). Vielmehr liefern Bedürfnis und Bitte eines anderen das Motiv. Sie stellen Beweggründe dar, die nicht in realisierbaren Zwecken liegen, sondern in realen Gegebenheiten. Vgl. hierzu Müller 1998 a, S. 113 f.
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Diese Frage hat sich mit den Überlegungen unter 7.2 erledigt. Das poietische telos einer künstlerischen Betätigung – das intendierte Werk, oder auch: das Dasein von Kunstwerken dieser oder jener Art – kann nicht selbst zugleich praktisches telos sein. Genau genommen, ist das, was im Künstlerleben als sinngebendes telos dominiert, nicht das Ergebnis der künstlerischen poiesis, sondern diese selbst bzw. ihre spezifische poietische Finalität. Nicht anders, als in 7.2 (f) ›Erfolge erzielen‹ eine poiesis bezeichnet, die für eine praxis konstitutiv geworden ist, so kann auch ›künstlerisches Schaffen‹ eine praxis-konstitutive poiesis bezeichnen. Auch Erziehung kann, als poietisch finalisiertes Tun betrachtet, mitsamt dieser Finalität ein dominantes praktisches telos liefern und so eine Lebensweise konstituieren. Für Menschen wie Pestalozzi, Don Bosco, Makarenko, Korczak ist Erziehung zur Lebensaufgabe geworden: sie nimmt in ihrem Dasein den Charakter einer dominierenden praxis an. Das Leben solcher Erzieher ist ein ›Erzieher-Leben‹. Wie verhält sich Erziehung als lebenssinngebende praxis zur erzieherischen poiesis? Zunächst ist zu beachten, daß diese praxis nicht die ist, die ich mit dem Handeln des Erziehers identifiziere und von der ich behaupte, sie sei für Erziehung konstitutiv. Was ich ›Erzieher-Leben‹ nenne, weist drei Schichten der Finalisierung auf: a) Das Handeln des Erziehers hat – wie das Handeln jedes Menschen – nichts anderes als gutes Handeln zum telos. (Ich erinnere daran, daß dieses telos nicht durch die Absicht des Subjekts, sondern durch die Bewertungsdimension bestimmt ist, die für den Begriff des Handelns konstitutiv ist.) b) Als Medium der Erziehung ist das Handeln des Erziehers zudem durch ein poietisches telos finalisiert: durch das telos der Erziehung, also das ErzogenSein des Heranwachsenden. (Auch dieses telos muß nicht beabsichtigt sein.) c) Wo Erziehung zum Lebensinhalt wird, erhält sie – ohne ihre poietische Finalität einzubüßen – ein zusätzliches, praktisches telos: die erzieherische Aufgabe definiert hier eine dominierende eupraxia, gutes Erziehen wird konstitutiv für gelingendes Leben. (Wiederum ist das telos nicht ohne weiteres intendierter Zweck. – Ich merke noch an, daß für jeden Erzieher gutes Erziehen insofern für ein gelingendes Leben konstitutiv ist, als er nicht gut handeln und daher auch nicht gut leben kann, ohne gut zu erziehen.) Bedeutet aber ›Erzieher-Leben‹ nicht, daß eine Person den Umgang mit anderen zum Mittel macht, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben? Liegt nicht eine Instrumentalisierung der Erziehung darin, von dieser Aufgabe einen Beitrag zum Gelingen des Lebens zu erwarten? Ich will zunächst bemerken, daß es ganz legitim ist, die Erziehung und sogar das Erzogen-Sein eines Menschen als Mittel zu betrachten – als ›Instrumente‹
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im Dienst des menschlichen Lebens (vgl. 9.1–3). Dies zu leugnen, wäre unaufrichtig. Jetzt steht jedoch die Frage zu Debatte, ob es für den Erzieher legitim ist, Erziehung als etwas zu betrachten, das im Dienst seines Lebens steht. Um dieser Frage gerecht zu werden, muß man sich daran erinnern, daß erstens Finalität nicht Instrumentalität bedeuten muß und daß zweitens im ErzieherLeben die Funktion der Erziehung praxis-konstitutiv und nicht durch das Erziehungsergebnis vermittelt ist. Zum ersten: Für den, der Erziehung zu seinem Lebensinhalt macht, spielt sie in der Tat eine sinngebende Rolle. Was aber heißt das? Es heißt doch wohl: Dieser Erzieher geht in seiner Aufgabe auf; für sie mobilisiert er seine Energien; seine Gedanken kreisen um die ihm Anvertrauten; er reflektiert den Einfluß seines Verhaltens auf sie; er fürchtet, ihnen in diesem oder jenem Punkt kein gutes Beispiel zu geben; er freut sich an ihren Fortschritten; er trägt kein Verlangen, seine Aufgabe gegen eine andere einzutauschen; Einschränkungen, die aus ihr resultieren, nimmt er gerne in Kauf; er läßt sein Tun und Lassen nur von Beweggründen bestimmen, die seinem erzieherischen Engagement nicht in den Weg treten. – Von einer ›Instrumentalisierung‹ der Erziehung oder gar der Heranwachsenden ist all dies weit entfernt. Widmete er sich nicht der Erziehung, so würde deren ›Funktion‹ in seinem Leben vielleicht von einem anderen Engagement eingenommen. Erziehung spielt also in seinem Leben eine wichtige Rolle. Das verleiht ihr aber noch nicht den Charakter eines Mittels. Etwas zum Lebensinhalt zu machen, bedeutet nicht unbedingt, es zu tun, damit das Leben einen Sinn erhält. Die oben unter (c) gekennzeichnete Finalität meint ja, wie dort angemerkt, nicht Intentionalität. Auch ohne mit A’s Erziehung Sinngebung fürs eigene Leben zu beabsichtigen, kann B die Qualität seines erzieherischen Einsatzes (und vielleicht sogar die des Ergebnisses?) faktisch – z. B. in seiner Selbsteinschätzung – zu einer dominanten Dimension der Bewertung des eigenen Lebens machen. Im übrigen hat Finalisierung der Erziehung durch das Erzieher-Leben als dominante praxis allenfalls insofern den Charakter einer Intention, als so etwas wie eine Hintergrundabsicht des Erziehers darauf gerichtet sein mag, seinem Leben Sinn und Gestalt zu geben (vgl. 6.9). Hierin mag die Absicht liegen, in der er erzieherische Verantwortung für andere überhaupt in die Motivationsstrukturen seines Handelns aufnimmt (vgl. 13.5 (a), aber auch 18.2 (a3)). Hingegen sind die Absichten, in denen er handelt, durch eben diese Motivationsstrukturen bestimmt. Das Handeln selbst geschieht nicht etwa in der Absicht, dem Leben Sinn und Gestalt zu geben. Zum zweiten: Die Sinngebung der Erziehung in einem Erzieher-Leben ist nicht mittelbare, sondern unmittelbare praktische Finalisierung im Sinne von 7.1–2. Sie besteht also nicht darin, daß der Erzieher sein ergon in irgendeinem Sinne instrumentalisiert; sie hat nichts mit einer ›Verwendbarkeit‹ des Erziehungsergebnisses zu ferneren Zwecken zu tun. Im Gegenteil: Erziehung kann ihre ›Funktion‹ in einem Erzieher-Leben nur dann erhalten, wenn der Erzieher die Ausrichtung seines Handelns, insbesondere seine Orientierung am Wohl des
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Kindes, durch nichts, durch keine erziehungsfremden Zwecke kompromittieren läßt. Was in einem Erzieher-Leben für Sinn-Erfahrung sorgen soll, ist nicht A’s Ziel-Verfassung, sondern B’s Einsatz für A. Man könnte auch sagen: A’s Erzogen-Sein bezieht seinen Wert nicht (als würde Erziehung hier mittelbar finalisiert) aus dem Wert, den das ErzieherLeben für B hat; sondern umgekehrt hängen vom Eigenwert, der A’s ErzogenSein auch in B’s Augen zukommt, Sinn und Wert dieser Erziehung ab – und damit auch die Möglichkeit, daß B mit der erzieherischen Aufgabe an A seinem Leben Sinn und Wert gibt. Von Instrumentalisierung der Erziehung oder ihres Ergebnisses könnte, soweit ich sehe, nur unter zwei Bedingungen die Rede sein. Zum einen vermutlich dann, wenn B darauf rechnete, von A’s Erzogen-Sein (seinem guten Charakter) als einem ›Lebens-Mittel‹ für sein eigenes Leben zu profitieren.31 Darum aber geht es hier nicht. Der engagierte Erzieher benötigt nicht A’s Erzogenheit, sondern erzieherisches Engagement, damit (nach seinen Vorstellungen) das eigene Leben gelingt. Zum anderen könnte man B vorwerfen, A’s Erziehung und sogar A selbst in einem weniger präzisen Sinne zu ›instrumentalisieren‹, wenn sein ErzieherLeben dem Muster von 7.2 (b) entspräche. Das heißt: wenn es zu jenen Fällen unmittelbarer praktischer Finalisierung gehörte, bei denen das gute Ergebnis einzig die Funktion hat, die Qualität der poiesis anzuzeigen und deren Subjekt auszuzeichnen. Derartiges ist aber natürlich mit ›Erzieher-Leben‹ nicht gemeint. Man bezieht den Ausdruck nicht etwa auf Personen, die darauf aus wären, mit dem Ergebnis ihrer erzieherischen Bemühungen Kompetenz zu beweisen, in einer Konkurrenz zu siegen oder sonstwie zu punkten. All das heißt freilich nicht, die Idee des Erzieher-Lebens sei völlig unproblematisch. Das Problem liegt darin, daß Sinnerfahrung durch ein dominantes telos häufig mit einem gewissen Maß an Bewußtsein und Absicht einhergeht: Wer ein Erzieher-Leben führt, ist sich dessen vermutlich bewußt. Mit solchem Bewußtsein jedoch verbindet sich leicht die Absicht, durch die Erziehung von Kindern dem eigenen Leben einen Sinn zu geben. Und diese Absicht kann sich durchaus, statt Hintergrundabsicht zu bleiben, auf unterschiedliche Weise störend unter die Motive mischen, die de jure unmittelbar das Erzieher-Verhalten prägen.
31 Ob A’s Erzogen-Sein nicht den Charakter eines Lebens-Mittels hat, sogar im Hinblick auf das Leben des Erziehers, untersucht Kapitel 9, speziell unter 9.2 (d).
8 Erziehen – wozu?
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Erziehen – wozu? Weniges nur ist notwendig, ja nur eines. Jesus von Nazareth, Evangelium nach Lukas In order to show that men need virtues to effect whatever men are for, it may turn out unnecessary to determine the end and the good of man. Peter Geach, The Virtues
Abschnitt 5.3 hat gezeigt, daß man einen Begriff von Erziehung nicht haben kann, ohne ihr formales Ziel benennen zu können. Indem ich den guten Charakter als materiales Erziehungsziel behandelt habe, bin ich zwar über die Analyse des Erziehungsbegriffs vielleicht hinausgegangen. Ich habe aber nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich diese allgemein akzeptierte materiale Zielbestimmung durch begriffliche Überlegungen stützen läßt. Solchen Überlegungen ist Kapitel 8 gewidmet. Die entscheidende Frage lautet: Mit welchem Recht soll gerade Anleitung zum selbständigen guten Handeln als Erziehung im engeren Sinne gelten? Gibt es nicht Alternativen zum Anspruch der Charakterbildung, den wichtigsten Bereich der Förderung und speziell der Anleitung zu bilden, auf die Heranwachsende angewiesen sind? In 8.1 erörtere ich unterschiedliche Perspektiven, unter denen sich die Frage nach dem materialen Ziel der Erziehung stellen kann. In den folgenden Abschnitten (8.2–3) weise ich Vorstellungen zurück, die mit dem ethischen Verständnis des Erziehungsziels konkurrieren, das ich dem alltäglichen Erziehungsbegriff entnehme. Dabei versuche ich insbesondere das Verhältnis zwischen Erziehungs- und Ausbildungszielen näher zu bestimmen (8.4–5). Das Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der ethischen Konzeption des Erziehungsziels (8.6).
8.1
Die Frage nach dem Erziehungsziel stellt sich aus erzieherischer, begriffsanalytischer und erziehungstheoretischer Perspektive
Der Begriff der Erziehung enthält eine wenigstens formale Vorstellung von ihrem Ziel. Dieses Ziel ließ sich als spätere Verfassung des jetzt zu erziehenden Menschen bestimmen: als Disposition, selbständig gut zu leben (5.1). Die Frage nach einem darüber hinausgehenden, materialen Ziel stellt sich aus der Perspektive a) des Erziehers als solchen, b) des Benützers des Erziehungsbegriffs und c) des Erziehungstheoretikers. (Zur Perspektive des Heranwachsenden, der sich die Frage stellt, wozu er erzogen werden soll, vgl. 11.8 sowie 16.1.)
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a) B kann Erzieher sein, ohne es zu wissen (4.6). Und wenn er es weiß und eine Vorstellung vom Erziehungsziel hat, wird die Qualität von A’s Erziehung nicht an dieser Vorstellung gemessen – oder doch nur, insoweit sie mit dem übereinstimmt, was Erziehung leisten soll (5.3). Gerade deshalb mag den reflektierenden Erzieher die Frage beschäftigen, was dies denn sei – worin das telos der Erziehung und damit der Maßstab seines eigenen erzieherischen Handelns liege. Auch diesseits eigentlicher Erziehungsziel-Vorstellungen wird B, ob ›unbewußter‹ oder ›bewußter Erzieher‹, im Bewußtsein einer besonderen Verantwortung für A gelegentlich dies oder jenes mit ihm im Sinn haben. Es werden ihm also, mehr oder weniger vage und implizit und situationsbezogen, gewisse Ziele für A’s Entwicklung vorschweben, die ich als ›erzieherische Ziele‹ bezeichnen will. Auch wenn solche Ziele nicht als Erziehungsziele gemeint sind, stehen sie selbstverständlich unter dem Anspruch, dem, was Erziehung soll, zu entsprechen. b) Man kann den Erziehungsbegriff verwenden, ohne sich eine materiale Vorstellung davon zu eigen zu machen, was Erziehung soll (5.3 (b)). Indessen nimmt der korrekte Gebrauch des Wortes ›Erziehung‹ doch auf ein solches materiales Ziel Bezug. Denn erstens ist Erziehung ein teleologischer, normativer Begriff, der zumindest die Möglichkeit impliziert, das formale Erziehungsziel materialiter, und zwar objektiv, zu bestimmen (3.4). Behauptet jemand, Erziehung solle aus Kindern nichts anderes als rücksichtslose Streiter im Lebenskampf machen, so verstößt er damit zwar nicht gegen die Regeln der Sprache – wie wenn er erklärte, Erziehung beginne erst bei 20–jährigen oder diene der Unselbständigkeit (das wäre allenfalls ein mißratenes bon mot). Doch müßte er anerkennen, daß er damit alternativen Zielbestimmungen widerspricht. Und zwar ist dieser Widerspruch von der Art der Unvereinbarkeit von Behauptungen, nicht von Präferenzen (vgl. 3.4). Er müßte also anerkennen, daß materiale Antworten auf die Frage ›Was soll Erziehung?‹ wahr oder falsch sind und daß es so etwas wie ein richtiges Erziehungsziel gibt. In einem zweiten Sinne scheint der korrekte Gebrauch des Wortes ›Erziehung‹ auf ein materiales Ziel Bezug zu nehmen: er scheint das anzunehmende richtige Erziehungsziel mit dem selbständigen guten Charakter zu identifizieren. Auch wenn in einer abweichenden Ziel-Angabe nicht eigentlich ein Fehlverständnis des Wortes ›Erziehung‹ liegt, so haben doch Ausdrücke wie ›gute Erziehung‹, ›schlecht erzogen‹ usw. eine sozusagen prägnante Bedeutung (2.1 (c)). Diese Bedeutung setzt voraus, daß ein selbständiger guter Charakter das ist, was Erziehung erreichen soll. c) Es ist Sache der Erziehungsphilosophie, diese materiale Zielbestimmung der Erziehung zu artikulieren, zum formalen Erziehungsziel, zu den Erfordernissen menschlichen Lebens und zum Erzieher-Verhalten in Beziehung zu setzen. Kann sie aber die Festlegung eines engeren Sinnes von ›Erziehung‹ auf Charakterbildung einfach dem alltäglichen Erziehungsverständnis entnehmen?
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Nun, sie hat dieses Verständnis zu reflektieren. Ob sie die Aufgabe hat und ob sie überhaupt in der Lage ist, es zu begründen (oder nötigenfalls in Frage zu stellen), ist eine andere Frage. Es ist nicht so klar, was ›begründen‹ hier bedeuten könnte. Vielleicht: beweisen, daß sich Anleitung zum selbständigen guten Leben, als Förderung des Gedeihens, in erster Linie als Einwirkung auf die Charakterbildung vollziehen muß? Ein solcher Beweis dürfte Probleme bereiten. Denn erstens haben unsere Vorstellungen von menschlichem Gedeihen zwar eine objektive Basis, aber keine sehr klaren Konturen (6.3). Zweitens wäre zu zeigen, daß gutes Handeln unentbehrliches Mittel oder gar ausschlaggebende konstitutive Bedingung des Gedeihens ist (6.3 (c-d)). Und schließlich müßte der Beweis voraussetzen, daß ein Erzieher-Verhalten, das wir als gute Erziehung bezeichnen würden, geeignet ist, den Heranwachsenden tatsächlich zum guten Handeln zu qualifizieren (3.2). Jedenfalls aber kann die Erziehungsphilosophie erklären, inwiefern es kein Zufall ist, wenn der gewachsene Begriff der Erziehung, wie er sich in der Frage ›gut erzogen?‹ manifestiert, auf Dimensionen des Charakters, nicht der Kompetenz, der Bildung oder dergleichen Bezug nimmt. Sie kann dieses alltägliche Verständnis explizieren, nötigenfalls korrigieren 32 und argumentativ gegen alternative Konzeptionen verteidigen, die im Hinblick auf den kindlichen bzw. jugendlichen Bedarf an Anleitung andere Prioritäten propagieren. An dieser Aufgabe werde ich mich in den folgenden Abschnitten beteiligen. Einer philosophischen Bestimmung des materialen Erziehungsziels stellt sich eine Schwierigkeit in den Weg, die unter (b) bereits erwähnt wurde. Auf der einen Seite ergibt sich eine solche Bestimmung anscheinend aus dem alltäglichen Erziehungsverständnis: Die Frage, ob jemand gut erzogen sei oder nicht, entscheidet sich an der Qualität seines Charakters, nicht z. B. am Umfang seines Vermögens oder auch an seinen Fähigkeiten. Allenfalls werden wir darüber streiten, inwieweit auch schlechtes Benehmen auf schlechte Erziehung hindeutet, ob guter Geschmack eine Frage der Erziehung ist, die sich unter Charakter nicht einordnen läßt, und dergleichen. Auch was zu einem guten Charakter gehört, ob er über Moralität im engeren Sinne hinausgeht (6.7), ob er politische Haltungen umfaßt, wie er sich zur Rationalität verhält und dergleichen: auch diese Fragen beantwortet nicht jeder im selben Sinne. Im übrigen aber ist das umgangssprachliche Verständnis der Erziehung eindeutig ein ethisches. Auf der anderen Seite scheint der begriffliche Zusammenhang zwischen Erziehung und Charakter nicht so eng zu sein, daß die Vorstellung alternativer Erziehungsziele von vornherein absurd wäre. Die Auffassung etwa, Erziehung solle dem Heranwachsenden zum Glück verhelfen oder ihm die Kunst des Über32 Ich selbst plädiere indirekt für eine solche Korrektur. Zwar beziehe ich, dem umgangssprachlichen Verständnis folgend, ›Erziehung‹ auf Charakterbildung. Unter Charakter aber verstehe ich einen Inbegriff von Tugenden, die über den Bereich der Moralität in einem verbreiteten engen Sinn hinausgehen.
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lebens und sonst nichts vermitteln, mögen wir zurückweisen; doch scheinen wir zu verstehen, was da gesagt wird. Diese Unschärfe in den Implikationen des Erziehungsbegriffs läßt sich wohl so erklären: Mit dem Wort ›Erziehung‹ assoziieren wir diejenige anleitende Einwirkung von Erwachsenen auf Kinder, der wir die größte Bedeutung für deren weiteres Leben beimessen. Was durch Erziehung hervorgebracht oder gesichert oder gefördert werden soll, betrifft daher offenbar das Wichtigste am Leben eines Menschen. Erziehung ist also diejenige Anleitung, die am meisten zum selbständigen guten Leben (im Sinne des Gedeihens) beiträgt. Daß dies nun die Anleitung zum guten Handeln ist: das implizieren wir mit den Bewertungsmaßstäben, die wir selbstverständlich an konkrete Erziehung und Erziehungsergebnisse anlegen; es geht jedoch nicht eindeutig in den Begriff der Erziehung ein: wer die Identifizierung des Erziehungsziels mit dem guten Charakter in Frage stellt, redet keinen offenkundigen Unsinn.33 Unter diesen Umständen tut Erziehungsphilosophie gut daran, auch alternative Theorien und Vorstellungen vom Ziel der Erziehung zu prüfen, um zu zeigen, warum diese Konzeptionen plausibel oder vertretbar erscheinen können, was sie tatsächlich zu einer angemessenen Vorstellung erzieherischer Lebenshilfe beitragen und was sie letzten Endes disqualifiziert. Hier kann ich allerdings nur kurz andeuten, was die Prüfung solcher Konzeptionen ergibt. Lediglich auf Vorstellungen, die Erziehung nicht von Ausbildung unterscheiden und deshalb Ausbildungsziele implizit an die Stelle des Erziehungsziels setzen, werde ich ausführlicher eingehen.
33 Die teleologische Struktur des Erziehungsbegriffs erinnert in dieser Hinsicht an die eines Begriffs wie Kohle. Zwar gehört es nicht zum Begriff der Kohle, daß sie zum Heizen dient – chemische Kriterien allein entscheiden. Doch legen die Regeln der Sprache Wertungen wie ›gute‹ und ›schlechte Kohle‹ auf das Kriterium des Heizwertes fest. (Das Beispiel verdanke ich Philippa Foot.) Allerdings entspricht im Fall des Erziehungsbegriffes nichts den chemischen Kriterien für Kohle. Ob etwas Erziehung ist, läßt sich nicht unabhängig davon sagen, wozu sie dient. – Wie dem auch sei, anstatt zu fragen, was der Begriff der Erziehung über deren Ziel besagt, können wir fragen, welche Einwirkung von Erwachsenen auf Kinder denn tatsächlich für deren Leben die größte Bedeutung hat und wozu man sie disponieren muß, wenn sie dazu disponiert werden sollen, zu gedeihen. Wir können insbesondere, in Anlehnung an anthropologische Überlegungen (vgl. 6.3) und anhand empirischen Alltagswissens zu klären versuchen, ob Charakterbildung tatsächlich die Lebenshilfe darstellt, deren das Kind zum Gedeihen am meisten bedarf. Trifft dies zu, so stellt sich noch die Frage, inwieweit und auf welche Weise die Einwirkung Erwachsener dem Kind dabei helfen kann und soll, einen guten Charakter zu entwickeln. Hat die Erziehungsphilosophie auch diese Frage beantwortet, dann hat sie sich analysierend und argumentierend zu ebendem engeren Begriff von Erziehung durchgekämpft, den der Sprachgebrauch manifestiert, wenn er ›gute Erziehung‹ an ethischen Kriterien mißt.
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8.2
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Als Erziehungsziele kommen Alternativen zum selbständigen guten Charakter kaum in Frage
In diesem Abschnitt kritisiere ich eine Reihe von Erziehungsziel-Konzeptionen. Die kritisierten Positionen haben exemplarischen Charakter. Man könnte andere Vorstellungen hinzufügen: das Ziel der Erziehung sei Gesetzestreue oder nationale Gesinnung34, Selbstverwirklichung oder Emanzipation (Müller 1978). Es geht mir hier darum, unter den Punkten (a-d) ein paar Gesichtspunkte anzuführen, unter denen Vorstellungen, die der Erziehung an der Stelle des guten Charakters andere materiale Ziele zuweisen, sich als fragwürdig erweisen. a) Was menschliche Einwirkung nicht erreichen kann: Gewiß, auch die Entwicklung eines selbständigen guten Charakters läßt sich durch keine Erziehung garantieren. Je älter das Kind, desto stärker hängt das Erziehungsergebnis auch von dessen Mitwirkung und von den Einflüssen des Umfelds ab. Darüber hinaus aber gibt es manches, was dem Kind zwar vielleicht zu wünschen ist, was aber jenseits dessen liegt, was menschliche Einwirkung überhaupt erreichen kann – auch dann, wenn sonstige sozialisierende Einflüsse und der Beitrag des Kindes selbst nichts zu wünschen übrig lassen. So könnte man beispielsweise meinen, die Erziehung auf das Glück des Kindes ausrichten zu sollen (vgl. Taschner 2003). Und in der Tat wäre Erziehung weder nötig noch berechtigt, wenn nicht das Gedeihen des Menschen, das im Idealfall Glück bedeutet, auf Erziehung angewiesen wäre. Doch gehören zum Glück – wie auch bereits zum Gedeihen – Komponenten, die in keines Menschen Macht stehen. Sollte sich aber Erziehung nicht vielleicht dennoch in dem Sinn an Glück und Gedeihen orientieren, daß sie auf das Zustandekommen von Bedingungen hinwirkt, die aufseiten des Kindes Glück und Gedeihen begünstigen? – Doch, genau das soll sie. Und sie tut es, indem sie auf die Entwicklung eines selbständigen guten Charakters hinwirkt.35 Erziehung soll und kann dazu qualifizieren, glücklich zu leben – soweit das glückliche Leben eupraxia und somit eine Frage des eigenen guten Handelns, nicht des freundlichen Schicksals ist. Die umfassende Funktion des guten Charakters für das Gedeihen eines erwachsenen Menschen setze ich hier voraus. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist ein Aspekt dieser Funktion besonders bedeutsam: Der gute Charakter, zu dem ja auch Qualitäten wie Zuversicht, Genügsamkeit und innere 34 Ein Beispiel: »C’est l’e´ducation qui doit donner aux ames la forme nationale, et diriger tellement leurs opinions et leurs gouts, qu’elles soient patriotes par inclination, par passion, par ne´cessite´. Un enfant en ouvrant les yeux doit voir la patrie, et jusqu’a` la mort ne doit plus voir qu’elle« (Rousseau 1964, S. 966). 35 Freilich gibt es auch weniger fundamentale Bedingungen des Gedeihens, die durch andere Formen der Lebenshilfe, insbesondere durch Ausbildung, geschaffen bzw. gefördert werden müssen (vgl. 8.4). – Zum Verhältnis zwischen Glück und ethischer Qualität des Lebens vgl. Foot 2001, S. 81–98.
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Freiheit gehören, ist gerade dann eine Voraussetzung von Glück, wenn die Umstände – man denke an Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit, äußere Freiheit und dergleichen – zu wünschen übrig lassen. b) Ungenügende moralische Zielsetzung: Während Zielvorstellungen wie Glück und Gedeihen die Erziehung überfordern, muten andere ihr zu wenig zu. Sie identifizieren nur einen Teil dessen, was Erziehung zu leisten hat. Das gilt auch von der Vorstellung, Erziehung habe moralische Normen zu vermitteln – es sei denn, damit wäre eben Charakterbildung gemeint. Um aber Charakterbildung zu sein, muß moralische Erziehung zwei Bedingungen erfüllen: 1) Sie muß nicht nur Überzeugungen und Einstellungen vermitteln, sondern auf eine Verfassung des Gegenübers hinwirken, die ihm gutes Handeln nicht nur möglich, sondern zum Bedürfnis, zur Gewohnheit und zum verhaltenswirksamen Bestandteil des Selbstbildes macht. 2) Moralische Erziehung als Charakterbildung muß sich auf die Disposition des Wollens überhaupt ausrichten, nicht nur auf die Bereitschaft, Interessen und Ansprüchen anderer gerecht zu werden (6.7). Nicht weniger partiell wäre eine ›Erziehung‹, die aus dem Kind nichts anderes machen will als einen guten Volksgenossen, ein brauchbares Mitglied der Gesellschaft o.ä. Auf andere Weise verengt man das Erziehungsziel, wenn man dem Heranwachsenden nur stoische Unerschütterlichkeit oder nur Aufmerksamkeit auf eigene Interessen oder nur Vorsicht vor Gefährdungen beizubringen trachtet. In allen Fällen dieser Art werden bestimmte legitime und notwendige Motivationsstrukturen einseitig gefördert – auf Kosten anderer, die ebenso zu jener praktischen Rationalität gehören, die über das Gedeihen von Menschen entscheidet (6.3–7). c) Vorgreifende Sinngebung: Wenn es zutrifft, daß ausschließlich die ethische Orientierung des Lebens eine integrierende Lebensweise (6.2 (e)) konstituiert, die menschliches Gedeihen erlaubt, dann nimmt die Hinführung zu konkurrierenden Lebensweisen offenkundig an falschen Zielen Maß. Das Leben des Überlebenskünstlers, des Angepaßten, des braven Bürgers, des Ästheten, des Reichen, des Genießers, des Forschers usw. (6.2 (a)) sind Lebensweisen, die der Erzieher zumindest nicht so als Ideale hinstellen darf, daß sie für übergeordnete ethische Maßstäbe keinen Platz lassen. Im übrigen ist es selbstverständlich Sache der Erziehung, dem Heranwachsenden eine angemessene verhaltenswirksame Einstellung zu Überleben, gutem Benehmen, Gesetzestreue, ästhetischen Werten, Geld, Vergnügen, intellektuellen Ambitionen usw. zu vermitteln. (Was hier angemessen ist, läßt sich nur im Blick auf das Gesamt der Tugenden bestimmen, die der Heranwachsende ausbilden soll – vgl. 6.6.) Zu den hier zurückgewiesenen Erziehungszielen gehört auch die Disposition zu einer Lebensweise, die einzig den eigenen Interessen oder gar nur Wünschen und Präferenzen zum Zug verhilft. Gerade auf diese Lebensweise scheint allerdings ein großer Teil heutiger Erziehung vorzubereiten. Zusammen mit der Kenntnis von Mitteln und Wegen, beliebige Ziele zu verwirklichen, und dem
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Vermögen, sich durchzusetzen, wird dabei eine egoistische Lebenshaltung vermittelt. Auch hier ist es Sache guter Erziehung, wertvolle Kompetenzen wie die erwähnten in die entsprechenden Tugenden – Klugheit und Durchsetzungsbereitschaft – zu integrieren. Ich merke an, daß ›erzieherische Vorgriffe‹ zugunsten einer besonderen Lebensweise auch da bedenklich sind, wo sie die unbedingte Orientierung an ethischen Maßstäben nicht in Frage stellen. Ich denke insbesondere an erzieherische Ambitionen, die beim Heranwachsenden die Freiheit der Lebensgestaltung unnötig und unzulässig einschränken; an die Versuchung des ehrgeizigen Erziehers, das Kind, schon bevor es Wünsche und Neigungen signalisiert, auf die Dominanz eines partiellen telos, auf ein Sportler- oder ein Künstlerleben oder dergleichen festzulegen. Von besonderen Umständen abgesehen, scheint dies über die Art von Eingriff hinauszugehen, die sich durch Bedürfnisse des Heranwachsenden rechtfertigen läßt. Ein Problem scheint unter diesem Gesichtspunkt die Religion aufzuwerfen. Stellt nicht ›religiöse Erziehung‹ einen Übergriff dar, sofern sie das Kind auf eine Lebensweise festzulegen sucht (vgl. 8.3)? d) Sekundäre pädagogische Ziele: Abschließend möchte ich der Erziehung Bildung und Ausbildung gegenüberstellen – zwei Bereiche der Lebenshilfe, die in der sozialen Realität sehr eng mit Erziehung verbunden auftreten und dem Bereich der Pädagogik angehören, die aber von der Charakterbildung unterschieden werden müssen. Es ist vor allem die Schule, die, durch Unterricht, primär zu Bildung und Ausbildung des Heranwachsenden beiträgt. Ihr charakter-bildender Beitrag zu dessen Förderung ist demgegenüber sekundär – zumindest in der Theorie (vgl. Kapitel 18). Das schließt jedoch nicht aus, daß unter dem Gesichtspunkt ebendieser Förderung des Heranwachsenden die Charakterbildung eine Vorrangstellung einnimmt – daß Charakterbildung die primäre pädagogische Einwirkung darstellt und den Anspruch erheben darf, Erziehung im engeren Sinne auszumachen. Zweifellos sind Bildung wie Ausbildung auf tele ausgerichtet, die zum Gedeihen jedes gesunden Menschen beitragen. Sie mögen zur Erziehung im weiteren Sinne gehören, können aber nicht deren Kern ausmachen. Sie sind für das menschliche Gedeihen nicht in der Weise notwendig, wie das (nach 6.3 (d)) die Charakterbildung für sich in Anspruch nehmen kann. Gebildet ist ein Mensch in dem Maß, in dem seine Erfahrung, sein Wissen um Fakten, seine Kenntnisse von Zusammenhängen und seine Wertschätzung von Dingen zu einem angemessenen Verstehen seiner selbst und seiner Stellung in der Welt beitragen.36 Bildung hilft ihm zwar auch, sich in einer sich immer wieder wandelnden Umgebung zu orientieren, für Konversation gerüstet zu sein
36 Hierzu mehr bei Müller 2000 a und 2002 b.
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und dergleichen. Dennoch hat das Gebildet-Sein, wie das Erzogen-Sein und im Unterschied zum Ausgebildet-Sein, den Charakter eines Selbstzwecks (vgl. Müller 2002 b). Und zweifellos gehört es zu den Komponenten menschlichen Gedeihens. Dennoch unterscheiden sich Bildung und Erziehung im telos. Und kaum jemand wird daran zweifeln, daß guter Charakter zum Gedeihen weniger entbehrlich ist als Bildung. Analoges gilt nicht so offenkundig von der Ausbildung – der Ausbildung lebensdienlicher Fähigkeiten, nützlicher Kenntnisse und sonstiger Kompetenzen, wie sie in Schulen und Lehrgängen, aber auch (weitgehend unausdrücklich) in sozialisierenden Kontexten wie Familie und Freundeskreis geleistet wird. Zwar ist das Ziel der so verstandenen Ausbildung, anders als das von Bildung und Erziehung, kein Selbstzweck. Andererseits jedoch scheint Ausbildung in ihrem instrumentellen Wert mit Charakterbildung konkurrieren zu können. Beide scheinen sogar auf ähnliche Weise zum Gelingen des Lebens beizutragen. Diesem Anschein entsprechend und ihn zugleich stabilisierend, neigen sowohl das Alltagsdenken als auch die Erziehungswissenschaft dazu, den Unterschied zwischen Vermittlung von Kompetenz und Bildung des Charakters einzuebnen oder zu vernachlässigen. Ich werde deshalb der Abgrenzung zwischen Ausbildung und Erziehung zwei Abschnitte des Kapitels widmen (8.4–5). Gewiß, theoretische Motive könnten dafür sprechen, für erziehungswissenschaftliche Zwecke dem Wort ›Erziehung‹ eine Definition zu geben, die Charakterbildung und Ausbildung nicht voneinander abgrenzt. Aber welche Motive sollten das sein? Wenn Theorie davon lebt, zu unterscheiden, was in der Realität miteinander verbunden vorkommt – ›sapientis est ordinare‹! – sollte sie umgangssprachliche Differenzierungen auf ihr Interesse hin prüfen (3.1) und, wenn dieses Interesse auch theoretisch von Belang ist, die Differenzierungen dankbar übernehmen und ihre Basis reflektieren. Das Gegenteil geschieht, wo das reale Ineinander von ethischer Anleitung und Kompetenz-Vermittlung auch noch unter einen entsprechend undifferenzierten Begriff ›pädagogischen Handelns‹ gebracht wird, der eine Unterscheidung nach den jeweiligen Zielen gar nicht vorsieht. Ein solcher Begriff ist hier – nicht anders als bei der Vermischung von Erziehung und sonstiger Sozialisation – geeignet, die Komplexität der Ansprüche, die ein Heranwachsender an seine erwachsene Umgebung stellt, zu verdunkeln, statt sie zu erhellen. Um sich oder andere an die zweifellos engen Zusammenhänge zu erinnern, durch die (Charakter-)Erziehung, Ausbildung, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit usw. untereinander verbunden sind, genügt es, über einen entsprechenden Sammelbegriff wie Pädagogik zu verfügen – und jene Zusammenhänge zu artikulieren: die Strukturen realer Verschränkung von Erziehung und Ausbildung in Familie und Schule, die übereinstimmende Finalisierung durch ein selbständiges gutes Leben usw.
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Religiöse Erziehung läßt sich als Teil der Charakterbildung auffassen
Wenn es um die Frage geht, was bei der Anleitung von Kindern das wichtigste Ziel darstellt, muß auch von religiöser Erziehung gesprochen werden. Denn dieser Begriff wirft eine Reihe einschlägiger Fragen auf. Er meint offenbar etwas anderes als Religionskunde – die gehört eher in den Bereich der Bildung oder auch der Ausbildung. Andererseits scheint religiöse Erziehung kein Teil der Charakterbildung zu sein. Ist sie also eine sozusagen autonome Komponente der Förderung von Heranwachsenden? Vielleicht gar die allerwichtigste? Jedenfalls erheben manche Religionen den Anspruch, über Sinn und Wert des menschlichen Lebens zu entscheiden. Und nicht zufällig hat sich das pädagogische Denken immer wieder aus religiösen und theologischen Motiven gespeist. Oder stellt ›religiöse Erziehung‹ in Wirklichkeit einen jener Übergriffe dar, die den Heranwachsenden früh auf eine Lebensweise festlegen wollen, statt ihm die Wahl zu ermöglichen (8.2 (c))? In der Ethik des christlich geprägten Mittelalters gilt religio tatsächlich als Tugend – als eine Komponente der Gerechtigkeit. Religiöse Erziehung ist unter dieser Voraussetzung Bestandteil der Charakterbildung. Verliert aber damit Religion nicht die Rolle, die sie gerade nach christlichem Verständnis beansprucht? Kann sie als eine Komponente des guten Charakters unter anderen ihrem eigenen Anspruch gerecht werden, die Gestalt des ganzen Daseins zu bestimmen? Der richtigen Antwort auf dieses Dilemma bin ich mir nicht sicher. Ich würde sie in dieser Richtung suchen: Die mittelalterlichen Philosophen sehen die Sache richtig – wenn auch vielleicht die Zuordnung der Religion zur Gerechtigkeit (›Gebt Gott, was Gottes ist‹) näherer Klärung und möglicherweise einer Modifizierung bedarf. Daß Religion – zumindest auch – eine Sache des Charakters ist, zeigen folgende Überlegungen. Zunächst einmal ist nicht jede Religion – auch nicht jede der heute praktizierten Religionen – an ethischen Maßstäben gemessen, vertretbar. (Daß eine Religion als solche, nicht nur die sündige Praxis ihrer Vertreter, mit gutem Handeln unvereinbar sein kann, entgeht uns, solange wir ausschließlich nette Religionen in den Blick nehmen.) Die Bereitschaft, andere durch Gehirnwäsche zur eigenen Sekte zu ›bekehren‹ oder Kinder zu opfern oder Ungläubige zu bekriegen, läßt sich mit einem guten Charakter nicht vereinbaren. Insofern besteht zwischen Belangen der Charakterbildung und der religiösen Erziehung wenigstens ein Verhältnis der Überschneidung. Grundsätzlicher ist die Feststellung, daß die Bejahung einer Religion nicht (oder nicht ausschließlich) in religiösen Überzeugungen, sondern (auch) in Religiosität besteht. Religiosität jedoch bedeutet verhaltenswirksame Dispositionen: Einstellungen (zum Schicksal, zu Göttern, Menschen, Tieren ...), Wertungen (des eigenen Todes, der religiösen Gemeinschaft, des Vergnügens ...) und nicht zuletzt Motivationsstrukturen (Orientierung an bestimmten Traditionen, göttlichen Geboten, Anlässen zu kultischen oder sonstigen Vollzügen ...). Mit einem Wort: Reli-
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gion disponiert auch das Wollen. Insofern leistet sie – als Tugend oder als Untugend – einen Beitrag zum Charakter; auch dann, wenn sie im übrigen säkulare ethische Normen nicht in Frage stellt oder vermehrt. Insoweit ist es durchaus möglich, religiöse Erziehung als Bestandteil der Charakterbildung einzustufen. Gegen diese Sicht mag man einwenden, die Berechtigung ›religiöser Erziehung‹ setze religiöse Wahrheiten voraus und es sei nicht Sache des Erziehers als solchen, religiöse Überzeugungen auf ihre Wahrheit zu überprüfen. – In der Tat ist religiöse Erziehung die Vermittlung einer bestimmten Religion oder jedenfalls einer bestimmten religiösen Einstellung. Und wollte der Erzieher ohne entsprechende Überzeugung diese oder jene Religion – oder eine atheistische Auffassung der Welt – vermitteln, würde er unwahrhaftig handeln. Warum aber sollte nicht die Qualität der Erziehung davon abhängen können, ob die religiösen bzw. areligiösen Überzeugungen des Erziehers wahr sind? Auch in anderen Bereichen der Charakterbildung hängt die Qualität der Erziehung von der Wahrheit der Überzeugungen ab, die der Erzieher mitbringt. Das gilt in einem trivialen Sinne ganz allgemein: Der Erzieher kann keine Tugend vorleben, ohne sie wenigstens implizit auch für eine Tugend zu halten. Besonders deutlich aber wird die Voraussetzung von Überzeugungen, wenn man die Gerechtigkeit in den Blick nimmt. Worin die Praxis dieser Tugend bestehen soll, hängt u. a. davon ab, welche sozialethischen Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft die richtigen sind – welche Strukturen und Institutionen des Zusammenlebens gerecht sind. Ohne bestimmte Vorstellungen dieser Art für wahr und andere für falsch zu halten, kann daher der Erzieher zur Tugend der Gerechtigkeit nicht anleiten. Wenn aber die Anleitung zur Gerechtigkeit kein Bestandteil der Erziehung ist – was soll dann ›Erziehung‹ heißen? Heißt das etwa, die Qualität seines Erziehens könne davon abhängen, wie angemessen seine Auffassungen über das gerechte Zusammenleben unter Menschen sind? – Genau das heißt es. Und ebenso hängt die Qualität einer Erziehung – nicht anders als die Qualität des Lebens! – davon ab, ob die zugrunde liegenden religiösen bzw. areligiösen Überzeugungen wahr sind oder nicht. Wer sich über diese Behauptung wundert, sollte sich daran erinnern, daß die Formung seines eigenen Charakters sehr vielen Kontingenzen ausgesetzt war und ausgesetzt bleibt. Auf dem Hintergrund dieser Einsicht kann er dann immer noch fragen, in welchem Umfang eine Person für den Wahrheitswert ihrer Überzeugungen und insoweit auch für die Auswirkung dieser Überzeugungen auf das eigene Leben und auf das Leben anderer verantwortlich ist und getadelt oder gelobt werden darf. Welche erzieherische Bedeutung messen wir denn tatsächlich Überzeugungen bei, wo es – ich setze meinen Vergleich fort – um die Erziehung zur Gerechtigkeit geht? B mag beispielsweise in einem Milieu aufgewachsen sein und leben, in dem es als selbstverständlich gilt, daß Führungspositionen außerhalb der Familie für Frauen nicht in Frage kommen. Man wird ihm dann diese Überzeugung, die natürlich auch in A’s Erziehung eingeht, vielleicht nicht zum Vorwurf machen. Nichtsdestoweniger weist eine solche Erziehung offenbar einen Mangel auf.
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Wer dies hier zugibt, nicht aber für den Bereich der religiösen Erziehung, muß zeigen, worin der relevante Unterschied liegt. Sind z. B. die Auswirkungen unangemessener Überzeugungen im einen Fall gravierend, im anderen aber vernachlässigbar? Das läßt sich nicht generell behaupten. Gewiß, die Unangemessenheit mag mehr oder weniger augenscheinlich und mehr oder weniger folgenreich sein. Doch darf man beim Stichwort ›Glaubensunterschiede‹ nicht nur an vertraute Differenzierungen wie katholisch / evangelisch denken. Es ist keineswegs ausgemacht, daß die Alternative zwischen, sagen wir, jüdischem Glauben und Hinduismus keinen Unterschied der Lebensqualität impliziert. Insbesondere erinnere ich nochmals daran, daß es (auch heute) nicht nur nette Religionsgemeinschaften, sondern auch solche gibt, die ihren Mitgliedern, oder anderen, unsägliches Leid bereiten – nicht anders, als falsche Gerechtigkeitsvorstellungen für das Leid vieler Menschen verantwortlich sind. – Im übrigen dürfen wir auch gar nicht einfach voraussetzen, daß die Wahrheit unserer wahren Überzeugungen nur auf dem Weg über deren Auswirkungen, und nicht als Wahrheit einen Beitrag zum guten Leben leistet. Das Problem der religiösen Erziehung verliert seine Brisanz auch nicht durch die scheinbare Möglichkeit, auf jeden weltanschaulichen Einfluß zu verzichten. Zwar bleibt dem Agnostiker aus Gründen der Aufrichtigkeit nichts anderes übrig als Verhaltensweisen und Worte, die weder eine religiöse noch eine atheistische Einstellung vermitteln. Eine weltanschaulich neutrale Erziehung jedoch ist auch ihm nicht möglich. Vor allem deshalb, weil Erziehung ohne Religion tendenziell Erziehung zur Irreligiosität bedeutet. Denn sie ist wohl nicht Erziehung zum Agnostiker: Agnostiker wird man entweder durch eine Erziehung, die explizit agnostisch ist, oder aber durch ergebnislose Auseinandersetzung mit Glaubensansprüchen. Ebenso wenig aber trifft die verbreitete Auffassung zu, Erziehung ohne Religion überlasse es der Freiheit des Heranwachsenden, sich zu gegebener Zeit auf eigene Faust für oder gegen diese oder jene Religion zu entscheiden. Zwar kommt religiöse Bekehrung vor – wie auch so etwas wie ethische Bekehrung vorkommt. Im allgemeinen jedoch hängt eine religiöse Orientierung des Lebens von religiöser Erziehung ab – wie überhaupt die ethische Orientierung von ethischer Erziehung abhängt. (Bedarf man in vergleichbarem Sinne einer irreligiösen oder unethischen Erziehung, um sich einer irreligiösen bzw. unethischen Lebensweise zuzuwenden?) Nach der Auffassung, die ich hier plausibel zu machen versuche, ist also Erziehung zu Religiosität oder eben zur Irreligiosität tatsächlich Teil der (ethischen) Erziehung. Um gute Erziehung zu sein, muß sie im Idealfall zum Atheismus erziehen, falls der Atheismus wahr ist, und zu dieser oder jener religiösen Einstellung, falls diese oder jene religiöse Überzeugung zutrifft. Wenn wir die Qualität konkreter Erziehung dementsprechend beurteilen, müssen wir freilich bedenken, daß Gewißheit und der Anspruch, zu wissen, zwar auch in religiösen Belangen ihren Platz haben (Müller 1994 b), zugleich aber (wie in manchen anderen ethischen Belangen) einem allgemeinen Vorbehalt
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unterliegen (16.7 und 17.1). Der Vorbehalt kann freilich nicht ›Verzicht‹ auf Gewißheit im Festhalten an grundlegenden Überzeugungen bedeuten – als könnte man zwischen Sicher-Sein und Vermuten wählen. Wohl aber bedeutet er die Bereitschaft, dem anderen vergleichbare Gewißheit im Festhalten an seinen (abweichenden) Grundüberzeugungen zuzubilligen; und zwar insbesondere deshalb, weil die Wahrheitsfrage im Bereich der Religion den Suchenden kaum auf stützende und widerstreitende Evidenzen verweisen kann. Allerdings haben wir auch gesehen, daß religiöse Überzeugungen im allgemeinen ethische Implikationen haben. Und insoweit unterliegen sie auch der ethischen Beurteilung, der wir ethische Überzeugungen unterziehen. Wir machen einen Erwachsenen für religiöse und weltanschauliche Überzeugungen verantwortlich, die wir als abergläubisch, grausam, überheblich, intolerant oder ähnlich einstufen: ein anständiger Mensch wüßte, daß diese Überzeugungen nicht wahr sein können. Dennoch ergibt sich daraus, daß wir Menschen für Wahrheit und Unwahrheit ihrer religiösen Überzeugungen nur begrenzt verantwortlich machen können, die Notwendigkeit, einen Mangel an wahrheitsgemäßer Religiosität nicht in derselben Weise als Charakterfehler zu behandeln wie einen Mangel an Gerechtigkeit oder Tapferkeit. Wird nun aber die hier vertretene idealisierende Auffassung, Religiosität sei unter der Voraussetzung wahrer religiöser Überzeugungen eine Tugend, überhaupt dem Anspruch der Religion gerecht, von dem zu Beginn des Abschnitts die Rede war? Ist Religion nicht mehr als eine Tugend? Müßte nicht, falls es eine wahre Religion gibt, diese selbst der Maßstab aller Tugend oder aber ein Maßstab sein, der ganz unabhängig von ethischen Maßstäben und vielleicht auch gegen sie, letztgültig über die eigentliche Qualität einer Lebensweise und eines Lebens entscheidet? Auf diese Fragen, die tief in das Gebiet der Religionsphilosophie hineinführen, habe ich nur zweierlei zu erwidern: 1) Daß Religion bzw. Religiosität ›mehr‹ ist als eine Tugend, soll durch meine Behauptung, religiöse Erziehung sei ein (guter oder schlechter) Teil der Charakterbildung, nicht ausgeschlossen sein. 2) Die Vorstellung, der Anspruch einer wahren Religion setze unter Umständen jeglichen ethischen Anspruch außer Kraft, kann nicht ganz richtig sein. Vielmehr wird jeder, der sich ethische Tugenden wirklich zu eigen gemacht hat, den Wahrheitsanspruch von Religionen und Weltanschauungen u. a. daran messen, welchen Stellenwert sie jenen Tugenden zuweist.
8.4
Im Unterschied zur Charakterbildung dient Ausbildung ambivalenter und rein instrumenteller Qualifizierung
Unter 8.2 (d) wird Erziehung im engeren Sinne, also Charakterbildung, der Ausbildung gegenübergestellt. Dabei ist ›Ausbildung‹ in einem weiten Sinn zu verstehen, also nicht ausschließlich auf Unterweisung in professionellen
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Zusammenhängen zu beziehen. Das Wort soll hier nichts anderes bedeuten als Anleitung zu einer beliebigen poiesis. Ausbildung hilft, die Kompetenz zu erwerben, eine solche poiesis mehr oder weniger gut zu praktizieren. Somit unterscheiden sich Erziehung und Ausbildung voneinander durch die Finalität des jeweils charakteristischen Ergebnisses. Freilich stimmen sie in einer indirekten praktischen Finalität überein: sowohl Erziehung als auch Ausbildung dienen dem menschlichen Gedeihen (Kapitel 9). Während jedoch das ergon des Erziehers, der gute Charakter eines Menschen, seinerseits unmittelbar durch gutes Handeln finalisiert ist, durch eine praxis also, die das Gedeihen jenes Menschen mit-ausmacht, ist das ergon des Ausbilders, die Kompetenz eines Menschen, unmittelbar auf die entsprechende poiesis ausgerichtet, die seinem Gedeihen instrumentell zugute kommt. Zur Kompetenz gehören Wissen, Fertigkeiten und sonstige Fähigkeiten, die man für die jeweilige poiesis benötigt. Das Maß der Kompetenz von X, das Maß seiner ›Qualifikation‹ für eine poiesis, bestimmt sich danach, wie gut er sie ausüben kann – nicht danach, wie gut er sie tatsächlich ausübt. Denn erst sein Wille entscheidet darüber, ob und wann und wie X seine Kompetenz betätigt. ›Performanz‹ ist demnach nur dann ein Gradmesser für die Qualität der Kompetenz, wenn feststeht, daß X im gegebenen Fall die fragliche poiesis ausüben will. Was er aber will, ist für die Beurteilung seiner Kompetenz ganz ohne Belang. Ausbildung ist einzig darauf ausgerichtet, bei X ein Können zu erreichen, nicht ein Wollen. Hingegen ist es gerade das Wollen, dessen Orientierung und Stabilität durch Erziehung mitbestimmt wird. Der Charakter, der aus der Erziehung hervorgeht, besteht nicht in Kompetenzen, sondern in Motivationsstrukturen. Wer beispielsweise Grammatik gelernt hat oder rhetorisch ausgebildet ist, kann grammatisch korrekt bzw. eindrucksvoll und mitreißend reden; will und tut er das aus irgendeinem Beweggrund nicht, so stellt dies seine grammatische bzw. rhetorische Kompetenz in keiner Weise in Frage. Anders steht es um die Ergebnisse gelungener Erziehung. Wer gelernt hat, wahrhaftig zu sein, der kann nicht nur – er wird tatsächlich die Wahrheit sagen. Er hat nicht eine Kompetenz erworben, die er je nach Motivation betätigen könnte oder nicht; sondern eine Tugend und damit eine Motivationsstruktur, die sozusagen bereits der jeweils naheliegenden Motivation zu lügen den Zugang zum Verhalten verwehrt. Anders als grammatische oder rhetorische Kompetenz ist somit Wahrhaftigkeit ein Aspekt des (guten) Wollens selbst. Sie bestimmt, als charakterliche Qualität, das Handeln von X, wo immer eine Behauptung naheläge, die dem, was X für wahr hält, widersprechen würde. Weil die Wahrhaftigkeit weder bloße Kompetenz noch auch bloße Tendenz, sondern Tugend ist, läßt sie keinen Platz für allfällige nochmals übergeordnete Gründe und Motive, sie bei dieser, nicht aber bei jener Gelegenheit zu praktizieren.37 37 Nur die ›Kooperation‹ mit anderen Tugenden schränkt den unbedingten Anspruch der Motivationsstruktur ein, die für die jeweilige Tugend charakteristisch ist. Vgl. 6.6.
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Das Verhältnis zwischen Ausbildungs- und Erziehungszielen läßt sich auch so kennzeichnen: Kompetenzen qualifizieren das Tun in dieser oder jener poietischen Dimension. Ethisch beurteilt, sind sie aber ambivalent. Sie lassen sich zum Guten oder zum Schlechten einsetzen. Tugenden dagegen qualifizieren dasselbe Tun als praxis; und zwar, insofern sie eine Einheit bilden, in der Dimension des Handelns. Für eine weitere, den Maßstäben auch dieser Dimension noch übergeordnete Bewertung des Tuns ist in den Strukturen menschlicher Rationalität kein Platz.38 Es gibt also keinen Standard, auf den bezogen sich Tugenden gut oder schlecht einsetzen ließen. So sind sie, im Unterschied zu Kompetenzen, nicht ambivalent.39 Im Unterschied zu einem legitimen Ausbildungsziel ist daher ein legitimes Erziehungsziel nicht dem Zweifel unterworfen, ob seine Realisierung dem Gedeihen des Heranwachsenden unter noch unbekannten künftigen Umständen tatsächlich dienen werde (vgl. Schleiermacher 1968, S. 32; Müller 2002 c). Die hier getroffene Unterscheidung zwischen Erziehung und Ausbildung wirft auch ein kritisches Licht auf die gängige Rede von sozialer oder moralischer Kompetenz usw. Ich denke z. B. an den Titel des Buches von J. Schuster: Moralisches Können: Studien zur Tugendethik (Würzburg 1997). Oder an die unter Erziehungswissenschaftlern verbreitete Vokabel ›Handlungskompetenz‹. Nach Benner und Peukert z. B. »stellt sich für die moralische Erziehung erstens die Frage, wie die moralisch-kritische Handlungskompetenz zu bestimmen sei, die es den Menschen ermöglicht, ihr Handeln gegenüber der Natur, gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Menschen verantwortlich zu gestalten« (1992, S. 394). Die hier suggerierte Begrifflichkeit ist unangebracht und irreführend. Zweifellos gibt es Kompetenzen, die zur Klugheit und somit zu verantwortlicher Lebensgestaltung beitragen können. Man denke etwa an die Fähigkeit, umweltfreundlich und energiesparend zu heizen. Oder an Techniken der Meditation, die der Selbsterkenntnis und Selbstbeeinflussung dienen. Auf einige
38 Gäbe es vernünftige Beweggründe, tugendgemäßen Beweggründen das eine Mal zu folgen, ein andermal aber nicht, so müßten diese Beweggründe jenen den Platz abtreten: den Platz, an dem sich entscheidet, ob ein Tun vernünftig, also letzten Endes (nach 6.3: bezogen auf menschliches Gedeihen) gut wäre. Die Motivationsstrukturen, denen jene Beweggründe entsprächen, wären dann konstitutiv für die Qualifizierung des ›eigentlichen‹ Handelns – für die ›eigentlichen‹ Tugenden. Praktische Vernunft – also substantielle, nicht rein formale Rationalität – gibt es nur dann, wenn nicht für jede Bewertungsdimension gilt, daß alles, was in ihr als gut oder schlecht zu gelten hat, aus einer nochmals übergeordneten Perspektive ambivalent ist. 39 Man vergleiche eine im Mittelalter gängige Bestimmung der Tugend, wie sie etwa in der Summa theologiae Thomas von Aquins (I/II q 55 a 4) verteidigt wird: »Virtus est bona qualitas mentis [...] qua nullus male utitur [...]«. Die Quelle, auf die diese Tradition zurückgeht, liegt wohl bei Augustinus, näherhin in Kapitel 19 von De libero arbitrio (z. B. in Sancti Aurelii Augustini Opera Omnia, Band I, Paris 1841, S. 1267 f.): »Virtutibus nemo male utitur: caeteris autem bonis, id est, mediis et minimis, non solum bene, sed etiam male quisque uti potest. Et ideo virtute nemo male utitur, quia opus virtutis est bonus usus istorum, quibus etiam non bene uti possumus.«
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Kompetenzen ist gutes Handeln sogar angewiesen. Zu ihnen könnte man vielleicht Erste-Hilfe-Kenntnisse rechnen. Und erst recht soziale Kompetenzen wie Menschenkenntnis und Geschick im Umgang mit anderen. Nur zeigt sich an diesen Beispielen, daß derlei Kompetenzen ethisch ambivalent sind. Denn der Schurke, der andere über den Tisch zieht und ausnützt, ist auf solche Eigenschaften mindestens ebenso angewiesen ist wie der anständige Mensch, der anderen mit Takt und Hilfsbereitschaft begegnet. Ich weiß nicht, ob Benner und Peukert Qualitäten der genannten Art im Blick haben, wenn sie von Handlungskompetenz im Dienste verantwortlicher Lebensgestaltung sprechen. Was sie tatsächlich meinen, bleibt einigermaßen offen. Indessen glaube ich nicht, daß sie wirklich an bloße Kompetenzen denken, die – wie ich am Beispiel der Menschenkenntnis klargemacht habe – gegenüber der ethischen Qualität ihres Einsatzes ganz und gar neutral bleiben. Warum aber sprechen sie dann – wie viele andere – von Kompetenz, wo moralische Einstellung, Gesinnung, Handlungsbereitschaft, Charakter, Tugend oder ähnliches gemeint ist? – Dafür gibt es vermutlich mehr als einen Grund. Zunächst einmal wirkt sich hier wohl die (auch heute noch nicht ganz überwundene) Weigerung aus, Begriffe wie Tugend als seriöse moralische Kategorien zu behandeln. Da diese Weigerung im allgemeinen auf Mißverständnisse zurückzuführen ist, will ich hier nicht weiter auf sie eingehen.40 Sie kann auch nicht der tiefere Grund dafür sein, daß man auf Kompetenzen ausweicht, wo man eigentlich Charakterqualitäten meint oder meinen sollte. Denn es dürfte klar sein, daß sich Moralität, in welchen Begriffen auch immer sie zu analysieren ist, nicht in Kompetenzen erschöpft. Sie ist eine Sache des Wollens. Das Wollen jedoch als Gegenstand der Erziehung zu begreifen, bereitet Schwierigkeiten. Und zwar sind es wohl vor allem undifferenzierte Vorstellungen von Autonomie und Respekt (11.3–5), die dafür sorgen, daß sensible liberale Theoretiker bei dem Gedanken, der Wille einer Person solle von einer anderen geprägt werden, stellvertretendes Unbehagen empfinden. – Dieses zweite Motiv, Kompetenzen an die Stelle von Charaktereigenschaften zu setzen, ist verständlich. Ich werde das zugrunde liegende Problem in Kapitel 11 erörtern und, wie ich hoffe, neutralisieren. Ein dritter Grund liegt vielleicht in einer schon unter 1.4 beschriebenen Tendenz des Zeitgeistes: Wir wollen alles, was Menschen tun und was mit diesem Tun zu tun hat, nach Möglichkeit in poietischen Kategorien erfassen. Kompetenz ist eine zentrale Kategorie dieser Art. Auf Qualitäten jedoch, die für die Moralität des Handelns und für den guten Charakter des Handelnden sorgen, ist sie nicht anwendbar. Denn die Bestimmung solcher Qualitäten durch Motivationsstrukturen – seien diese nun tugendethisch konzipiert oder nicht – ist kein Merkmal des Kompetenzbegriffs. Vielleicht können diese Überlegungen meine Behauptung stützen, daß nicht Ausbildung, sondern Charakterbildung den Kern der Hinführung zu einem mün40 Vgl. aber Müller 1998 a, insbes. S. 13–41, und Wallroth 2000, S. 15–34.
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digen Leben bilden muß. Anders als eine Kompetenz, muß die Tugend um ihrer selbst willen und ohne Rücksicht auf irgendein sonstiges telos praktiziert werden (6.3), um auch instrumentell zum Gedeihen eines Menschen beizutragen. Charakterbildung bringt, vereinfacht gesagt, das Gedeihen selbst hervor, während Ausbildung nur ein Instrument des Gedeihens bereitstellt – und zwar ein ambivalentes Instrument. Denn was die Ausbildung nützt, entscheidet sich am Charakter. Als Erziehung im engeren Sinne muß die Charakterbildung deshalb gelten, weil nicht Kompetenz oder Inkompetenz darüber entscheiden, ob die Betätigung des guten Charakters etwas Gutes ist, sondern der gute Charakter darüber, ob die Betätigung einer Kompetenz etwas Gutes ist.
8.5
Trotz unterschiedlicher Finalitäten hängen Ausbildung und Erziehung, auch begrifflich, eng zusammen
Nun wird man freilich sagen: Es mag ja sein, daß die erste Aufgabe des Erziehers darin liegt, den ihm Anvertrauten dabei zu helfen, einen guten Charakter auszubilden. Verlangen wir aber nicht auch, daß er für ihre Ausbildung (in meinem weiten Sinne dieses Wortes) Sorge trägt? Sollte er ihnen nicht grundlegende und einfache Fertigkeiten und Kenntnisse selbst vermitteln und im übrigen veranlassen, daß sie von anderen lernen, was sie eines Tages zur Sicherung ihres Lebensunterhalts etc. an Kompetenz benötigen werden? Solche Erwartungen sind sicher berechtigt. Allerdings beweist dies nicht, daß der Erzieher als solcher auch Ausbilder ist. Wohl aber gibt es eine Reihe von Umständen und Bedingungen, die Erziehung und Ausbildung in eine enge Beziehung zueinander bringen. a) Nicht zufällig ist es sehr häufig eine und dieselbe Person, die erzieht und in grundlegende Kompetenzen einführt. Es mag sogar unmöglich sein, ein Kind zu erziehen, ohne dies im Kontext eines Verhaltens zu tun, das diesem Kind zugleich anleitend und lehrend zur Entfaltung seiner Fähigkeiten und zum Erwerb von Kompetenzen verhilft. Das scheint im besonderen für die Vermittlung der Sprache zu gelten. Frühkindliche Erziehung und grundlegende Ausbildung werden vermutlich immer in Personalunion geleistet. Dennoch lassen sich auch hier Erziehung und Ausbildung unterscheiden. B’s Verhalten weist einmal Elemente oder Aspekte auf, die sich günstig oder ungünstig auf A’s Erzogen-Sein auswirken, und dann wieder andere, mit denen A zu bestimmten Fertigkeiten oder Kenntnissen hingeführt wird. Doch stellen Gelegenheiten, bei denen B dem A eine Fertigkeit vermittelt, keine ›Unterbrechung‹ der Erziehung dar (4.2, 4.8). Im Gegenteil: B’s Beiträge zu A’s Ausbildung lassen sich selbstverständlich auch aus der Perspektive der Erziehung betrachten und bewerten. Ob z. B. A im zarten Alter von zehn Jahren Klavier spielen oder aber Cocktails mixen lernt, ist im allgemeinen von erzieherischer Bedeutung.
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Der begrifflichen Unterscheidung kann freilich auch reale Trennung entsprechen. Dies gilt vor allem, wo Teile der Ausbildung in die Hände von Personen gelegt werden, die (obschon natürlich auch sie zugleich ethisch sozialisierend wirken) nicht als Erzieher gelten können. Selbstverständlich lassen sich hier nur unscharfe Grenzen ziehen. Insbesondere sind dem Schullehrer zwar in erster Linie Aufgaben der Kompetenz-Vermittlung, also der Ausbildung übertragen. Doch gilt er wegen des Ausmaßes und der erhofften Qualität seiner kommunikativen Präsenz auch als Erzieher. Während Eltern fast unausweichlich Erzieher und auch ›Fundamental-Ausbilder‹ sind, ist man umgekehrt als Lehrer üblicherweise in Personalunion zugleich ›(Mit-)Erzieher‹. Die Wahrnehmung dieser Rolle, die wir – gerade heute wieder – vom Lehrer erwarten, ist nur begrifflich von der Erfüllung seiner primären Aufgabe zu unterscheiden. Die ›Personalunion‹ scheint durchaus sinnvoll. Denn Erfolg im Unterricht hängt in der Regel nicht nur davon ab, daß man die Kompetenz, die es zu vermitteln gilt, selbst erworben hat und daß man der Vermittlungsaufgabe didaktisch gewachsen ist. Oft ist vielmehr der Charakter des Lehrers eine wichtige Bedingung für die Bereitschaft oder sogar für die Fähigkeit des Schülers, sich das Angebotene anzueignen. Um ein guter Ausbilder zu sein, muß man unter Umständen (ethische) Qualitäten aufweisen, die den guten Erzieher kennzeichnen. Aber wie dem auch sei: wenn der Lehrer Erzieher sein soll, dann hat dies Auswirkungen auf die Art der Professionalität, die einer solchen Rolle angemessen ist (Kapitel 18). b) Ich komme nun auf eine Zone pädagogischer Anleitung zu sprechen, in der sich Erziehung und Ausbildung so zu überschneiden scheinen, daß die begriffliche Zuordnung schwerfällt. Das ist die Zone jener Kompetenzen, die zum ethisch guten Leben, zur Praxis der Tugenden, mehr oder weniger unausweichlich vonnöten sind. Zwar lassen sich die Tugenden selber nicht als Kompetenzen verstehen (8.4). Man kann sie aber nicht praktizieren, ohne sich dabei auf Kompetenzen zu stützen. Das gilt mit Einschränkungen sogar für fundamentale unspezifische Kompetenzen wie motorische und Wahrnehmungsfähigkeiten, Sprechen-Können und grundlegende Kenntnisse der Welt, in der man lebt.41 Wo diese Kompetenzen fehlen, fehlt sozusagen das Material, an dem sich überhaupt ein Charakter – gut oder schlecht – zu bilden und zu manifestieren vermag. Andere Fertigkeiten und Kenntnisse lassen sich der Tugend der Klugheit zuordnen. Oft zeigt sich Klugheit darin, daß man angesichts einer neuen Situation ermittelt, welches Verhalten Charaktertugenden wie Takt, Gerechtigkeit, 41 »Mit Einschränkungen« sage ich, um die Konsequenz zu vermeiden, daß Behinderung Charakterbildung verhindert. Allerdings scheinen manche – insbesondere geistige und emotionale – Behinderungen tatsächlich ethischer Reifung im Weg zu stehen. Etwa so, wie auch Mangel an Erfahrung ethischer Reifung im Wege steht.
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Selbstachtung usw. hier und jetzt verlangen oder nahelegen. Schon dazu bedarf es eines Minimums an Fähigkeiten, Aspekte der Situation zu erkennen, Gesichtspunkte zu koordinieren, Folgerungen zu ziehen etc. Nicht immer aber bietet die Situation Gelegenheit und Zeit zum Nachdenken. Klugheit ist aber auch und gerade dann gefordert. Sie zeigt sich unter solchen Umständen darin, daß man unmittelbar ›sieht‹, welche Art von Reaktion in dieser Art von Situation das Richtige ist. Auch solches ›Sehen‹ setzt so etwas wie Kompetenz voraus, nämlich Wissen um eigene Möglichkeiten und Grenzen, ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und – noch grundlegender – geschulte Sinne, Aufmerksamkeit, Beobachtung und Phantasie. Auch die ethischen Tugenden scheinen, wenigstens zum Teil, spezifische Kompetenzen zu erfordern. Selbstachtung kann nicht praktizieren, wer den beleidigenden Ton in der Äußerung des Gegenübers gar nicht vernimmt. Takt und Rücksichtnahme verlangen die Fähigkeit, sich in den anderen einzufühlen. Um gerecht zu handeln, muß man die Rechte des Gegenübers kennen, wissen, welche Behandlung er verdient usw. Manche Kompetenzen gehören also in der hier exemplarisch angedeuteten Weise – ganz unabhängig von besonderen Lebenswegen, dominanten tele, Berufen usw. – zu den ›Werkzeugen‹, deren ein Mensch sich bedienen muß, um gut zu leben. Charaktererziehung ist auf Förderung dieser Kompetenzen angewiesen. Und sie wird deren Betätigung in ihren Stellungnahmen einfordern: ›Denk doch mal nach!‹ ›Siehst du denn nicht, daß dein Bruder viel weniger hat als du?‹ Ob man die Anleitung zu solchen Kompetenzen als Teil der Erziehung oder aber als eine erzieherisch unentbehrliche Komponente der Ausbildung betrachtet, scheint mir nicht besonders wichtig zu sein. Auch ist die Grenze zwischen ethisch erforderlichen und anderen Kompetenzen ziemlich unscharf.42 Unter beiden Gesichtspunkten muß die Unterscheidung zwischen Erziehung und Ausbildung eine Grauzone pädagogischer Einwirkung dulden, in der sich eindeutige Zuordnungen nicht erzwingen lassen. c) Ein dritter Umstand gibt Anlaß zu dem Mißverständnis, A’s Ausbildung gehöre zu seiner Erziehung. Ich meine die von B verlangte Einstellung zu A und seine umfassende Verantwortung für ihn. Dem B muß an A’s Gedeihen insgesamt liegen; anders kann er kein guter Erzieher sein (vgl. 13.2, 13.5). Daraus könnte man folgern, im Rahmen seiner erzieherischen Aufgabe an A habe B nicht nur dafür zu sorgen, daß A einst als Erwachsener für ein selbständiges Leben ethisch gerüstet sein wird; vielmehr gehöre zum Erziehen ebenfalls das Vermitteln grundlegender Fertigkeiten und Kenntnisse, die A auch poietisch hinlänglich qualifizieren. Wäre diese Folgerung korrekt, so könnte man mit dem gleichen Recht schließen, zum Erziehen gehörten Versorgung mit Nahrung, Bewahrung vor Kälte und 42 So könnte man z. B. in manchen Fällen von ›Bereichserziehung‹ (2.5 (b)) die unterrichtsartige Komponente als Beitrag zur Förderung von Klugheit auffassen.
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Hitze, Konsultation des Kinderarztes, ja sogar das Anlegen von Konten, das Abschließen von Versicherungen u.a. m. Denn nur als gesunder Organismus, mit angemessener finanzieller Ausstattung usw. – so könnte man argumentieren – sei der Heranwachsende für selbständiges Leben und Gedeihen gerüstet. Ein Stück weit ist Überlegungen dieser Art durchaus zuzustimmen: Der hauptverantwortliche Erzieher, dem am Gedeihen der ihm Anvertrauten liegt, wird sich – ›eigenhändig‹ oder durch Erkundigung und gegebenenfalls Veranlassung – um alle diese Belange kümmern. Gute Eltern werden z. B. morgens ihre Kinder nicht so leicht ohne nahrhaftes Frühstück aus dem Haus gehen lassen – u. a. deshalb, weil die Ernährung mit unterwegs gekauften Schokoriegeln usw. tendenziell Gesundheitsschäden und Übergewicht verursachen. Dieser Beweggrund gehört zu den Gesichtspunkten der ›Wartung‹, die Kant als ›Verpflegung, Unterhaltung‹ kennzeichnet und bekanntlich der Erziehung in einem sehr weiten Sinne zurechnet43. Und tatsächlich steht die Sorge um das ›außer-ethische‹ Gedeihen des Kindes der Erzieherrolle der Eltern nicht einfach unverbunden gegenüber. Es lohnt sich, den verbindenden Bezügen anhand des Beispiels nachzugehen. Erstens orientiert sich gute Erziehung, auch und gerade als Charakterbildung, am Maßstab des Gedeihens und damit einer umfassenden Lebensqualität. Mit dieser Orientierung scheint Gleichgültigkeit gegenüber der Gesundheit des Kindes nicht vereinbar zu sein. Zweitens läßt sich, wie schon angedeutet, kaum eine Einstellung zum Heranwachsenden denken, aus der heraus ihm Eltern ohne Fürsorglichkeit, aber dennoch als gute Erzieher begegnen würden. Drittens erfährt ein Kind von ›Rabeneltern‹ nicht die Liebe, die es für ihren erzieherischen Einfluß öffnen würde (13.5). Und schließlich gibt Mangel an Fürsorge, wie jeder Mangel an Tugend-Praxis, ein schlechtes Vorbild ab und bedeutet insofern schlechte Erziehung. All dem zum Trotz ist festzuhalten: Sorge für Gesundheit, finanzielle Ausstattung usw. ist eine andere Art von Hilfe als Erziehung. Und ebenso wenig 43 Kant 1981 b, S. 697. Einem etwas weniger weiten Erziehungsbegriff ordnet er (S. 706 f.) vier Bereiche zu: der Mensch müsse diszipliniert, kultiviert, zivilisiert und moralisiert werden. Dabei entspricht Kultivierung (›die Belehrung und die Unterweisung‹) ungefähr dem, was ich hier Ausbildung nenne. Was im allgemeinen Sprachgebrauch Erziehung heißt, umfaßt Disziplinierung und Moralisierung. Die durch Zivilisierung vermittelte »Klugheit [...], der zufolge man alle Menschen zu seinen Endzwecken gebrauchen kann« (S. 707), ist zweck-neutral und etwas anderes als die ethisch orientierte Klugheit, die ich als Bestandteil der praktischen Vernunft definiert habe. – Von Kants Idee der Erziehung weicht meine Auffassung vor allem dadurch ab, daß ich Komponenten wie Experiment und Arrangement, Theorie und Technik (›Kunst‹) in den Hintergrund treten lasse, weil sie für Erziehung nicht konstitutiv sind; aber auch dadurch, daß ich den Nutzen dieser Komponenten weniger optimistisch beurteile (vgl. 14.4) als Kant, der meint: »Schon erzogene Eltern sind Beispiele, nach denen sich die Kinder bilden, zur Nachahmung. Aber wenn diese besser werden sollen: so muß die Pädagogik ein Studium werden, sonst ist nichts von ihr zu hoffen, und ein in der Erziehung Verdorbener erzieht sonst den andern. Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden« (1981b, S. 704).
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handelt es sich um Erziehung, sondern um Ausbildung, wenn der Erzieher für die Vermittlung grundlegender Kompetenzen sorgt. In beiden Fällen besteht die Gefahr, daß man eine Implikation der rechten erzieherischen Einstellung mit einem Teil der erzieherischen Aufgabe selbst verwechselt. Kein Zweifel: in dem Maße, wie B ein guter Erzieher ist, wird er sich auch um A’s Ausbildung, nicht anders als um seine Gesundheit, kümmern. Und im allgemeinen werden dieselben Umstände, die dafür sorgen, daß B für die Erziehung von A verantwortlich ist, ihm auch andere Aufgaben bescheren, die sich auf A’s Gesundheit, Ausbildung, künftiges Vermögen usw. beziehen. (Normalerweise ist es die Elternschaft, mit der die verschiedenen Aufgaben verbunden sind.) Doch ergibt sich aus all dem nicht, daß zur Erziehungsaufgabe selbst die Vermittlung von Kompetenzen gehört. Das Erziehungsziel erstreckt sich allenfalls auf die unter (b) vermerkten Kenntnisse und Fähigkeiten, ohne die sich kein Charakter entfalten kann.
8.6
Für die Festlegung des Erziehungsbegriffs auf Charakterbildung sprechen gute Gründe
Auf die Überlegungen dieses Kapitels zurückblickend, stehen wir vor der Frage: Inwieweit läßt sich die allgemein geteilte Auffassung begründen, Erziehung sei Charakterbildung? Geht man von einem weiten Erziehungsverständnis aus, so gelangt man zu dieser Auffassung – und damit zum engeren, ethischen Erziehungsbegriff – nicht durch begriffliche Analyse allein. Wir haben aber Gesichtspunkte kennengelernt, die dafür sprechen, daß nichts anderes als Hinführung zum selbständigen guten Charakter den Kern der Erziehung bilden kann. Erstens spiegelt diese Auffassung die Maßstäbe der Beurteilung wider, die der Sprachgebrauch am engsten mit den Ausdrücken ›Erziehung‹ und ›erzogen‹ verbindet. Zweitens entspricht sie dem Erziehungsverständnis einer langen Tradition pädagogischer Theorie. Drittens kann sie sich auf anthropologische Zusammenhänge berufen: Charakterbildung sorgt für die Orientierung des Wollens; und die Qualität des Wollens ist das, was letztlich darüber entscheidet, inwieweit alle übrigen Komponenten eines menschlichen Lebens seinem Gedeihen zugute kommen (6.3 (d)). Vielleicht bleibt auch angesichts dieser ›Belege‹ noch Raum für die Frage, ob denn Charakterbildung für das Heranwachsen von Kindern tatsächlich das Wichtigste sei. Indessen scheint es keine ernsten Gründe zu geben, den Vorrang der Charakterbildung vor anderen Bereichen pädagogischer Anleitung in Zweifel zu ziehen. Konzeptionen, die an die Stelle des guten Charakters alternative Erziehungsziele setzen – das haben die Abschnitte 8.2–4 gezeigt – können aus unterschiedlichen Gründen nicht überzeugen. Also besteht kein Anlaß, die in der pädagogischen Tradition und im alltäglichen Denken vorgenommene Festlegung des Ausdrucks ›Erziehung‹ zu revidieren, die ihm seinen engeren Sinn, Charakterbildung, zuweist.
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Allerdings ist der gute Charakter, der das Ziel der Erziehung bildet, eine facettenreiche Qualifikation (6.5–8). Er ist weder eine Ansammlung von Prinzipien noch ein formales Moral-Motiv noch der Inbegriff angepaßter, blinder Verhaltensgewohnheiten, sondern ein zur zweiten Natur gewordenes System von Motivationsstrukturen. Als solches ist er die Grundlage selbstständigen Handelns. Denn er umfaßt nicht nur die im engeren Sinne ethischen Tugenden, sondern ebenso eine ihnen entsprechende praktische Vernünftigkeit. Diese sorgt für die Grenzen, die die Ansprüche der einzelnen Tugenden einander ziehen. In der so ermöglichten ›Einheit der Tugenden‹ kommen auch die eigenen Interessen zu ihrem besonderen Recht und finden Gewissenskonflikte grundsätzlich eine Lösung. Der Charakter, den Erziehung fördern soll, prägt nicht nur Tun und Lassen, sondern ebenso sehr Erleben und Fühlen, spontane Impulse und Reaktionen. Er enthält ›Optionen‹ wie etwa ästhetische Orientierung und Bildungshunger: Dispositionen, die als Tugenden gelten können, ohne so notwendig zu sein, daß man die entsprechenden motivationalen Defizite als Untugenden bezeichnen würde. Und schließlich umfaßt das (ethische) Erziehungsziel auch so viel Bildung, Reflexionsbereitschaft und kritische Haltung, daß der gut Erzogene bei Bedarf seine Normen überprüft und gegebenenfalls korrigiert.
9
Erziehen – für wen? Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des höchsten privaten Zieles. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft
Auf die Frage ›Wozu erziehen?‹ antwortet Kapitel 8 mit einer Verteidigung der gängigen Auffassung, daß Erziehung zu einem guten Charakter verhelfen soll: das poietische telos der Erziehung liegt in einer Verfassung des Erzogenen, aus der heraus er selbständig gut handelt. Nun fügt sich jedoch nach 7.1–2 das telos einer nicht praxis-konstitutiven poiesis nur insoweit in den Kontext menschlicher Rationalität ein, als es seinerseits durch poiesis oder praxis finalisiert ist. Diese Tatsache verleiht der Frage ›Wozu erziehen?‹ einen zusätzlichen Sinn: Zu welchem Zweck sollen Menschen gut erzogen sein? Wodurch ist das ergon des Erziehers, der gute Charakter des Heranwachsenden, finalisiert? Kann er eine sozusagen poietisch-instrumentelle Rolle als Produktionsmittel spielen (9.1)? Oder läßt er sich als ›Endprodukt‹ begreifen, das in der praktisch-instrumentellen Rolle des Lebens-Mittels auftritt (9.2)? Welche Bedeutung haben gar Interessen des Erziehers für das Erziehungsziel (9.3)? Und kann man die hier erwogene Vielfalt der Finalitäten ernstnehmen, ohne aus der Erziehung so etwas wie ein Mehrzweck-Unternehmen zu machen (9.4)?
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Derartige Fragen klingen seltsam. Daß Erziehung kein Selbstzweck ist, leuchtet ja ein. Soll aber nun auch der Erzogene instrumentalisiert werden? – Ich hoffe zu zeigen, daß die angeführten Fragen allenfalls in einer provozierenden Terminologie gestellt, der bezeichneten Sache nach aber keineswegs abwegig sind. Insbesondere wird sich herausstellen, daß die unterschiedlichen teleologischen Vorstellungen, die in Konzeptionen des Erzogen-Seins – und so der Erziehung – eingehen, weder die Kohärenz dieser Konzeptionen gefährden noch der Auffassung widersprechen, daß der gute Charakter, dem Erziehung zur Entfaltung verhelfen soll, allein um des guten Handelns willen und in gewisser Weise sogar um seiner selbst willen existiert.
9.1
Es gibt eine poietisch-instrumentelle Finalität des guten Charakters
Beginnen wir mit dem Gedanken einer poietischen Finalität des Erzogen-Seins. Einerseits bietet das menschliche Leben leider durchaus traurige Beispiele dafür, daß einer auf die innere Verfassung eines Kindes in der Absicht einwirkt, aus dem Kind bzw. seiner charakterlichen Verfassung ein Werkzeug zu machen, das sich bei der Herstellung ›anderer‹ Produkte nutzbringend einsetzen läßt. Und andererseits liegt, ganz unabhängig von guten oder schlechten Absichten, eine völlig legitime Funktion der Erziehung darin, Menschen ›poietisch einsatzfähig‹ zu machen. a) Denken wir zunächst an die Weise, wie ein von Sklavenhaltern angestellter ›professioneller Pädagoge‹ mit Sklavenkindern umgeht, die ihren Eltern weggenommen wurden. Realistischerweise nehmen wir an, daß dieser Umgang einen jungen Sklaven nicht nur zweckentsprechend ausbilden, sondern auch in eine charakterliche Verfassung bringen soll, die ausschließlich danach beurteilt wird, ob er sich als williges und haltbares Werkzeug zu bestimmten Produktionszwecken verwenden läßt. Haben wir es hier jedoch überhaupt mit Erziehung zu tun? Die Antwort auf diese Frage muß zwei Teile haben. Auf der einen Seite werden wir die Absicht der Sklavenhalter und ihres Pädagogen kaum als ›Absicht zu erziehen‹ bezeichnen. Dafür weicht diese Absicht von dem, was Erziehung ihrem Begriff nach soll, zu weit ab. Auf der anderen Seite jedoch ist daran zu erinnern, daß die Anwendbarkeit des Erziehungsbegriffs auf A und B nicht auf B’s erzieherische Absichten angewiesen ist (4.4–7), sondern darauf, daß B in einem Verhältnis zu A steht, das durch Komponenten wie faktische Einwirkung, Vorsprung an Reife und Zuständigkeit geprägt ist. Ein solches Erziehungsverhältnis liegt aber unter den angedeuteten Umständen durchaus vor. (Insbesondere haben die Sklavenhalter unter den angenommenen Umständen sich und ihren angestellten ›Pädagogen‹ für die Kinder zuständig gemacht.) Allerdings legt man mit der Anwendung des Erzie-
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hungsbegriffs zugleich einen Maßstab der Bewertung an. Und dieser Maßstab fordert eine negative Bewertung der Erziehung, die jene Sklavenkinder erhalten, weil der Erzieher ihnen unweigerlich Schlechtes vermitteln wird: statt praktischen Wissens eine Fehlkonzeption von gutem Leben und richtigem Handeln; und statt Tugenden Charaktereigenschaften wie blinden Gehorsam und Verachtung der eigenen Person. Daß im beschriebenen Fall überhaupt von Erziehung die Rede sein kann und muß – von einer Erziehung freilich, deren Ergebnis als Werkzeug intendiert ist – das wird durch folgende Erwägung bestätigt: Gingen Eltern mit ihren Kindern ähnlich um wie die Sklavenhalter und ihr Pädagog, so würden wir an ihr Tun ohne Zweifel den Maßstab guter Erziehung anlegen. Es würde uns vermutlich nicht genügen, eine derartige Erziehung als schlecht zu bezeichnen; wir würden sie eher als pervers bezeichnen. Aber selbst wenn wir sagten, von Erziehung könne hier ›noch nicht einmal die Rede sein‹, verriete diese Ausdrucksweise noch den angelegten Maßstab – einen Maßstab, den wir nicht an den Umgang nicht-zuständiger Personen mit denselben Kindern anlegen würden, wohl aber an den Umgang jenes Pädagogen mit den Sklavenkindern. b) Poietisch finalisiert ist das Erziehungsergebnis aber auch unabhängig von illegitimen Erzieher-Absichten. Denn der Einsatz von Menschen in Produktionsprozessen ist ein Grundzug unseres Lebens. Dieser Zusammenhang macht aus den Produkten der Erziehung ebenso wie der Ausbildung, aus unserem Charakter nicht weniger als aus unseren Kompetenzen, ›Mittel im Dienste fernerer Produktion‹. Auch auf diesen poietischen Einsatz muß Erziehung uns vorbereiten, auch für ihn muß die Bildung des Charakters (nicht weniger als die Ausbildung der Kompetenzen) uns ausrüsten. Die Instrumentalisierung der Person – daß man ›sich einsetzt‹, um poietische Ziele zu erreichen, und daß andere einen für ihre Zwecke einsetzen – ist an sich nicht entwürdigend. Sie ist Merkmal und unumgänglicher Bestandteil der menschlichen Lebensform. Schlecht ist eine Erziehung, die nicht oder nur auf poietischen Einsatz vorbereitet. Moralisch bedeutsam ist hier, wie Kant wohlweislich sagt, allein die Frage, ob wir einen Menschen ›bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen‹ betrachten oder aber ›zugleich als Zweck‹ 44. Wäre es unerlaubt, überhaupt ein Mittel zu Zwecken in ihm zu erblicken, so dürfte niemand eine Sekretärin (oder auch nur sich selbst?!) für Schreibarbeiten einsetzen, den Bäcker backen lassen, ein Haus mit der Hilfe von Handwerkern bauen. – Allerdings lassen hier ›bloß‹ und ›zugleich‹ keine generell trennscharfen Kriterien zu. Und gängiges Vokabular – ich denke etwa an ›Humankapital‹ – verrät
44 So Kant (1981 a, S. 59 f.) in der Grundlegung. Man beachte auch die selbstverständliche Unbefangenheit, mit der Sokrates in Platons Menon (87 e1–4) die Tugend ebenso wie den Tugendhaften als nützlich bezeichnet.
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mitunter wenig Bereitschaft, den einsetzbaren Menschen zugleich als letzten Zweck zu respektieren. Wie dem auch sei, das Erzogen-Sein eines Menschen ist ›Produktionsmittel‹, ›Werkzeug‹ in poietischen Zusammenhängen. Zwar ist es offenkundig kein spezifisches, nur für diese oder für jene poiesis einsetzbares ›Werkzeug‹. Das unterscheidet die ethisch qualifizierte Verfassung des Menschen sowohl von seinen Kompetenzen (zu rechnen, Vieh zu züchten, ein Fahrrad zu reparieren) als auch von der Verfassung, die ein Werkzeug der üblichen Art als dieses oder jenes Werkzeug qualifiziert (Festigkeit und Schärfe, die eine Schere braucht, um gut zu schneiden). Charaktereigenschaften wie Geduld, Verläßlichkeit, Sorgfalt, Großzügigkeit usw. sind Faktoren, die in den verschiedensten Formen von poiesis die Qualität des Hervorgebrachten mitbestimmen. Gleichwohl sind Erziehung und Erziehungsergebnis durch diese unspezifische poietische Funktion des Charakters, wie man sagen könnte, inhärent finalisiert. Denn auch diese Funktion muß zur Sprache kommen, wenn es gilt, die konstitutive Bedeutung der Erziehung für das menschliche Leben zu kennzeichnen. Freilich erschöpft sich der Sinn von Erziehung nicht in der poietischen Funktion ihres Ergebnisses. Wenden wir uns also der Frage zu, inwiefern das Erzogen-Sein eines Menschen als Lebens-Mittel, als unmittelbar praktisch finalisiert zu gelten hat.
9.2
Eine praktisch-instrumentelle Funktion hat der gute Charakter für das eigene gute Handeln ebenso wie für menschliches Gedeihen im allgemeinen
Poietische Brauchbarkeit ließ sich dem guten Charakter eines Menschen aus dessen eigener Perspektive ebenso wie aus der Perspektive seiner Mitmenschen zuschreiben.45 Die Art und Weise jedoch, wie Sorgfalt und andere Charaktereigenschaften für eine poiesis relevant werden, ist dieselbe, ob man nun den eigenen Charakter oder den eines anderen als Produktionsmittel in Anspruch nimmt. Eine solche Gleichartigkeit scheint hingegen nicht zu bestehen, wenn die Tugenden eines Menschen als Lebens-Mittel wirken. Vermutlich haben meine Mitmenschen eine andere Art von Interesse an meinem Charakter als ich selbst.
45 Die Unterscheidung dieser Perspektiven wirft handlungsphilosophische Fragen auf, denen ich hier nicht nachgehen werde. Fragen ergeben sich u.a. daraus, daß man in seinen Überlegungen die eigenen Qualitäten nicht genauso objektiviert wie die von anderen. Wenn ich mich zum Beispiel der Tapferkeit eines anderen bediene, tritt sie in mein Bewußtsein als Mittel zur Erreichung von Zwecken ein; hingegen mache ich von der eigenen Tapferkeit im Normalfall nicht auf diese Weise, sondern einfach dadurch Gebrauch, daß ich Überlegungen anstelle, die der Motivationsstruktur der Tapferkeit entsprechen (6.5 (c)).
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Dieser Vermutung gehen die Fragen dieses Abschnitts nach: Was habe ich selbst davon, gut erzogen zu sein? Und was haben andere davon: mein jeweiliges Gegenüber, meine Umgebung, die Gesellschaft? a) Kaum jemand wird bestreiten, daß die Mitglieder einer Gesellschaft erzogen werden, damit ihre Verhaltensweisen zu einem erquicklichen Zusammenleben beitragen oder es jedenfalls möglichst wenig belasten. Und zwar dürfte der Zusammenhang wiederum ein begrifflicher sein: Wüßte einer nicht, daß Erziehung wenigstens auch die Funktion hat, Heranwachsende in Kollektive wie Familie, Schule, Arbeitsteam, Verein, Kommune oder Staat zu integrieren, so verstünde er nicht, was ›Erziehung‹ heißt. Wie wir auf Nahrungsmittel und Medikamente, guten Wein, gute Bücher usw. angewiesen sind, um gesund zu leben, zu genießen, uns zu bilden etc. und um so zu gedeihen: so ähnlich sind wir auch auf gut erzogene Mitmenschen angewiesen. Wir sind darauf angewiesen, daß die Motivationsstrukturen des Gegenübers, die uns betreffen können, der Tugend entsprechen. Insoweit sind wir im Hinblick auf unsere praktischen tele auf das Erzogen-Sein anderer angewiesen. Unser Interesse an gut erzogenen Mitmenschen als solchen richtet sich auf ihre Tugenden – auf ihre Neidlosigkeit und Friedfertigkeit, Verläßlichkeit und Treue, Ehrlichkeit und Rücksichtnahme, auf die Zivilcourage, die sie vielleicht benötigen, um wichtige gemeinsame Werte und Ziele zu verteidigen. Wir brauchen ihr Erzogen-Sein zu Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe usw., um für uns, für die Unseren und für unser Eigentum nicht fürchten zu müssen; um ohne Verluste Güter und Leistungen austauschen zu können; um wahrheitsgemäß informiert zu werden, notfalls Hilfe zu erfahren, stabile Beziehungen unterhalten zu können, in einer friedlichen Umgebung zu leben etc. – und um so zu gedeihen. Sollen wir also sagen: ›Erziehungsziel und Produkt jeder guten Erziehung ist die charakterliche Brauchbarkeit des Erzogenen für das Mitleben in seiner näheren und weiteren menschlichen Umgebung‹? – Warum nicht? Ein solches Urteil muß durchaus nicht zynisch gemeint sein. Wir alle betrachten und behandeln Mitmenschen und ihre ethischen Qualitäten unvermeidlich als ›LebensMittel‹ in diesem Sinn. Eine entwürdigende Instrumentalisierung liegt darin ebenso wenig wie in der Anerkennung, daß die poietische Einsatzfähigkeit eines Menschen unausweichlich zu den Funktionen seines Erzogen-Seins gehört. Dennoch schreiben wir der Erzogenheit eines Menschen – und gerade seiner ethisch qualifizierten Verfassung – einen Wert zu, der sich nicht in ihrer gesellschaftlichen Brauchbarkeit erschöpft. Dabei geht es nicht etwa um das berechtigte Anliegen, menschliche Würde von jeglichem Gebrauchswert zu unterscheiden. Diese Würde ist ja gar nicht an das Erzogen-Sein eines Menschen gebunden: wir schreiben sie auch dem noch unerzogenen und selbst dem charakterlich völlig verkommenen Menschen zu. Es geht vielmehr um die Frage, ob nicht speziell der gute Charakter über seine mitmenschliche Brauchbarkeit hinaus einen Wert hat, der von jeder poietischen oder praktischen Brauchbarkeit unabhängig ist.
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
Sofern wir dem guten Charakter zu Recht einen solchen Wert beilegen, unterscheidet sich das Erzogen-Sein in diesem Punkt von jedem typischen Produkt. Zwar bleibt es dabei: Das gute Erziehungsergebnis ist in wenigstens zweifacher Hinsicht ein brauchbares Produkt: zum einen (entsprechend 9.1) als Produktionsmittel weiterer Produktion; zum anderen (wie soeben ausgeführt) als ›EndProdukt‹ und Lebens-Mittel, unmittelbar im Dienst von praxis. Doch scheint sich der Wert eines typischen Produkts in seiner Brauchbarkeit auch zu erschöpfen. Genau dies jedoch scheuen wir uns vom guten Charakter und daher vom Erzogen-Sein zu sagen. Wir möchten beides als Selbstzweck ansehen. b) Nun könnte man die Spannung zwischen Produkt-Charakter und Selbstzwecklichkeit des Erzogen-Seins mit folgender Erwägung aufzulösen versuchen: Nicht nur der Umgebung eines Menschen, sondern auch ihm selbst kommt sein guter Charakter zugute. Also ist das Erzogen-Sein in dem Sinne Selbstzweck, daß es dem Erzogenen selbst als Lebens-Mittel zur Verfügung steht. – Dabei kann man an eine zweifache Finalität denken: 1) Erstens scheint A von seiner eigenen Erzogenheit in ebender Weise zu profitieren, wie auch seine Umgebung von ihr profitiert. Seine Tapferkeit z. B. kommt ja nicht nur anderen zugute. Sie macht zunächst einmal ihn selbst bereit, wichtige eigene Güter und Ziele gegen Bedrohungen zu verteidigen oder durchzusetzen. Insoweit nützt der gute Charakter ihm selbst. Dies gilt jedoch von manchen Tugenden wie Hilfsbereitschaft oder Rücksichtnahme allenfalls indirekt; unmittelbar nützen diese im allgemeinen dem Wohl von anderen. 2) Allerdings können wir, zweitens, A’s Erzogenheit auch als Basis eines ethisch guten Lebens betrachten. Der gute Charakter ist schließlich nichts anderes als unerschütterliche Ausrichtung auf gutes Handeln. Wer gut erzogen ist, dessen Erzogen-Sein entspricht dieser Ausrichtung und ›dient‹ schon dadurch der eigenen eupraxia. Unter dieser Perspektive ist A’s Tapferkeit nicht durch das finalisiert, was er – im Sinne von (1) – durch tapferes Handeln für sich erreichen kann, sondern durch das tapfere und insofern gute Handeln selbst. Ebenso nehmen seine Hilfsbereitschaft und Rücksichtsnahme im Sinne solcher Finalität an der Selbstzwecklichkeit des Erzogen-Seins teil. Freilich lassen sich die beiden unter (1) und (2) charakterisierten praktischen Finalitäten von A’s Erzogenheit begrifflich – und erst recht im Gewebe des Lebens – nicht ganz voneinander trennen. Vielmehr schließt die erste die zweite ein. Wenn nämlich tatsächlich das ethisch gute Leben für ein gutes Leben im Sinne menschlichen Gedeihens konstitutiv ist (6.3), dann sind A’s Erzogen-Sein und das entsprechende Handeln effektiv auch dadurch auf sein Gedeihen ausgerichtet, daß sie ihr telos in seinem guten Handeln finden – nicht nur dadurch, daß tapferes Verhalten die eigenen Ziele erreichen hilft und Mäßigung im Essen und Trinken die Gesundheit erhält. Diese Perspektive korrigiert die Vorstellung, moralische Erziehung tue dem Menschen unrecht, insofern sie sich nicht am Maßstab seines Gedeihens orientiere, sondern an dem, was andere von ihm wollen. Mit dieser Vorstellung muß
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sich nur der ernsthaft auseinandersetzen, der die Moral als Fremdkörper im Haushalt der eigenen Motive auffaßt (vgl. 6.3–4). Andererseits liegt in der These, daß A’s Erziehung der Bildung eines Charakters zu dienen hat, der für A’s eigenes Gedeihen konstitutiv ist, vielleicht auch ein Korrektiv sozialer und politischer Ansprüche. Inwieweit darf z. B. ein politisches Programm Erziehung als Instrument gesellschaftlicher Reformen einsetzen? Auch unter einer Perspektive, die gutes Handeln als Bestandteil des Gedeihens deutet, liegt der Wert des guten Charakters durchaus in einer Funktion – eben darin, daß er gutes Handeln möglich macht und sicherstellt. Ist damit der Grund unserer Wertschätzung eines guten Charakters hinlänglich gekennzeichnet? c) Es ist zwar richtig, zu sagen, A solle ein guter Mensch werden, damit er gut handle und gut lebe. Nicht weniger angemessen ist jedoch die umgekehrte Betrachtungsweise, der zufolge ein Mensch um seines Charakters willen gut handelt: ›Bräche ich dieses Versprechen, so könnte ich mir selber nicht mehr unter die Augen treten!‹ Und Eltern, denen die Erziehung ihrer Kinder am Herzen liegt, wollen, daß sie gute Menschen werden (was sich freilich darin äußern würde, daß sie gut handeln). Der gute Charakter ist demnach kein bloßes Mittel seiner eigenen Betätigung und Manifestation; sein Wert geht nicht ›restlos‹ in ihr auf. Er wird nicht allein um seines ›Einsatzes‹, sondern auch um seiner selbst willen geschätzt – vielleicht deshalb, weil der Charakter im Vergleich zum Handeln das Bleibende ist. So bemüht sich, wer gut erzogen ist, in seinem Handeln darum, ein guter Mensch zu sein bzw. zu werden. Jedenfalls finalisiert auch der Charakter das Handeln. Dieser Umstand läßt das Erzogen-Sein als sehr merkwürdiges Produkt – und so die Erziehung als sehr merkwürdige poiesis – erscheinen. Denn kein typisches Produkt steht in einem Verhältnis wechselseitiger Finalität zu seinem praktischen Einsatz als Lebens-Mittel (oder gar zu seinem poietischen Einsatz als Produktionsmittel). Der gute Charakter hingegen ist nicht weniger telos als Mittel guten Handelns. Und das gute Handeln spielt dementsprechend seinerseits nicht nur die Rolle eines telos, in dessen Dienst der gute Charakter steht, sondern auch die einer Quasi-poiesis im Dienst der Herstellung des guten Charakters (vgl. 15.1). Insofern bleibt es dabei: Auch auf den Erzogenen selbst und die ethische Qualität seines Handelns bezogen, macht Brauchbarkeit nicht den alleinigen Wert des guten Erziehungsergebnisses aus. Der gute Charakter ist auch Selbstzweck. Darin unterscheidet er sich vom Ergebnis typischer poiesis. Ein Vergleich zwischen Erziehung und Dressur kann dieses Ergebnis verdeutlichen. Wer etwa seinen Hund so abrichtet, daß dieser weder andere noch sich in Gefahr bringt, stattet ihn mit einer eindeutig finalisierten Disposition aus. Diese läßt sich zwar in mancher Hinsicht mit einem menschlichen Charakter vergleichen. Doch wird sie nicht um ihrer selbst willen, sondern allein ihres Einsatzes wegen erstrebt. Sie ist einzig auf das risikofreie Verhalten des Hundes ausgerichtet. Von einer wechselseitigen Finalisierung zwischen Disposition und Manifestation kann nicht die Rede sein.
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Zwar mag es zutreffen, daß hier die Disposition nicht nur das Verhalten sicherstellt, sondern auch ihrerseits durch das Verhalten befestigt wird – ähnlich wie sich beim Menschen der Charakter (die Bereitschaft, so und so zu handeln) und die Manifestation des Charakters (das Handeln) gegenseitig bedingen. Eine gegenseitige Abhängigkeit dieser Art ändert aber nichts daran, daß der Zweck, um dessentwillen man überhaupt durch Abrichtung auf das Tier einwirkt, letztlich nicht in der andressierten Disposition, sondern im Verhalten des Tieres und seinen Folgen besteht. Der Wert des Dressur-Ergebnisses erschöpft sich in dessen Brauchbarkeit, er ist der Wert eines typischen Produkts. Insoweit erweist sich bloße Abrichtung im Unterschied zur Erziehung als typische poiesis. Erziehung hingegen läßt sich einmal mehr nur mit Einschränkung als poiesis verstehen. Denn ihr telos ist, was kein anderes poietisches telos ist: Selbstzweck – wenn auch so, daß es außerdem insofern ›Mittel‹ und ›Zweck‹ ist, als der gute Charakter und seine Manifestation im guten Handeln einander wechselseitig finalisieren.46
9.3
Dürfen Wünsche und Interessen des Erziehers das Erziehungsziel instrumentalisieren?
Untersucht man die Finalität des Erzogen-Seins, stößt man auch auf eine Frage, die in den Abschnitten 9.1–2 noch nicht beantwortet wurde: Gehen nicht, neben den Interessen der Gesellschaft und des Erzogenen selbst, auch Interessen oder Wünsche des Erziehers in die praktische Finalisierung des Erzogen-Seins ein? (Hier geht es nicht, wie unter 7.4, um die Frage, ob die erzieherische poiesis zugleich – als Lebensweise, nämlich als Erzieher-Leben – einer praktischen Finalität unterliegen kann. Die Frage betrifft vielmehr ausschließlich die fernere Finalität des poietischen telos, auf das die Erziehung ausgerichtet ist.) Die Frage scheint so alt zu sein wie das Nachdenken über Erziehung selbst. Von Demokrit ist die Feststellung überliefert, »bei den Menschen« sei es »schon eine gewöhnliche Anschauung geworden, daß auch ein gewisser Vorteil vom
46 Als poietisches ergon betrachtet, stellt der gute Charakter in seiner Selbstzwecklichkeit ein Unikum dar. In Müller 2002a vertrete ich die Auffassung, daß menschliche Rationalität überhaupt kein Hervorbringen nicht weiter finalisierter, also selbstzwecklicher Erzeugnisse kennt. Allerdings arbeite ich dort mit einem engen Begriff von poiesis, unter den zwar die gentechnische Erzeugung von Menschen fällt, nicht aber die Einwirkung auf den Charakter existierender Menschen. Nichts also hindert uns nach meiner Auffassung daran, die gezielte Erzeugung von Menschen einer bestimmten Konstitution für vernunftwidrig, die (vielleicht gezielte) erzieherische und insofern poietische Einflußnahme auf ihren Charakter jedoch für vernunftgemäß zu halten. Im Gegenteil, die aller poiesis vorgegebene Selbstzwecklichkeit des Daseins von Menschen ist in deren Anspruch auf Charakterbildung bzw. Erziehung vorausgesetzt und anerkannt. Sie ist auch in der Selbstzwecklichkeit vorausgesetzt, die ich dem guten Charakter als ergon des Erziehers zuschreibe.
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Nachkommen eintreten müßte« (Kranz 1964, S. 201). Nun ist meine Untersuchung weder historischer noch soziologischer oder psychologischer, sondern begrifflicher Natur. Daher fragt sie nur, inwieweit der Begriff der erzieherischen Charakterbildung und ihres telos bestimmte Interessen oder Wünsche des Erziehers ein- oder ausschließt. Und da gilt es zu unterscheiden. a) Erziehung ist zwar nicht auf Erziehungsabsicht angewiesen. Es ist aber klar, daß B, insoweit er A’s Erzogen-Sein intendiert, die Verwirklichung dieser Intention auch wünscht. Denn sogar unabhängig von dieser Intention muß B, um ein guter Erzieher zu sein, dem A einen guten Charakter wünschen. Generell wünscht man durchaus nicht mit Notwendigkeit, was man intendiert. Dem bezahlten Killer ist der Tod des Opfers im allgemeinen gleichgültig; vor allem, wenn er die Bezahlung schon erhalten hat. Als karriere-bewußter Killer hat er aber die Absicht und tut sein Bestes, zu töten, um so den Auftrag zu erledigen. Wurde einer zum Morden nicht gedungen, sondern gezwungen, so mag er sogar das Überleben des Opfers wünschen, dessen Tod er intendiert.47 Warum also können Intention und Wunsch nicht auch im Fall der Erziehung divergieren? Wem am pädagogischen Ergebnis seines Verhaltens nichts liegt, der ist allenfalls ein schlechter Erzieher. Warum aber? Warum erwarten wir selbstverständlich von B, daß ihm A’s Gedeihen und speziell die Qualität seines Charakters am Herzen liegt? Etwa deshalb, weil die Erfahrung zeigt, daß B in diesem Fall eher ›bei der Sache‹ ist und Erfolg hat? Die Erfahrung zeigt vielleicht, daß der Wunsch-Mörder eher bei der Sache ist und Erfolg hat als der Auftrags- und der Zwangsmörder. Sie könnte aber auch das Gegenteil zeigen: daß er nämlich seiner emotionalen Beteiligung wegen dazu neigt, vor lauter Aufregung sein Ziel zu verfehlen! Wenn wir der Meinung sind, zum guten Erzieher gehöre der Wunsch, daß A gedeiht und ein guter Mensch wird, so stützen wir diese Meinung weder auf Statistiken noch auf Vermutungen über die Korrelation zwischen Wunsch-Intensitäten und Erziehungsergebnissen. Daß B für A das Beste wünscht, verlangen wir vielmehr deshalb von B, weil unausweichlich der Wunsch in dem Verhalten zum Ausdruck kommt, das seinerseits für A’s Erziehung durch B konstitutiv ist. (Anders beim Killer: Wenn er den Tod des Opfers wünscht, so ist dies zwar für die moralische und u.U. für die juridische Qualität seines Tuns von Bedeutung; in den Vollzügen hingegen, die das Umbringen konstituieren, muß sich sein Wunsch nicht manifestieren.) Zum Begriff der Intention gehört es, daß einer nur das wirklich intendiert, wofür er
47 Gegen diese Behauptung könnte man einwenden: Unbestreitbare Evidenz dafür, daß einer wirklich X intendiert, ist zugleich Evidenz dafür, daß er X auch wünscht. Meine Antwort: Das ist falsch. Der gezwungene Täter mag sich nach allen Regeln der Kunst in Position bringen, zielen und abdrücken – kein Zweifel an seiner Intention –, dann aber, wenn seine Waffe unerwartet versagt, erleichtert aufatmen – auch unter den angenommenen Umständen ein Zeichen dafür, daß er den Tod des Opfers nicht gewünscht hat.
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sich im Maß des Möglichen einsetzt. Für A’s charakterliche Qualifizierung kann B sich aber nicht im Maß des Möglichen einsetzen, ohne sie zu wünschen und aus diesem Wunsch heraus zu handeln.48 Wir können daher von einer Person, der A’s Charakter gleichgültig ist, nicht sagen, sie intendiere A’s Erzogen-Sein. B kann demnach A’s charakterliche Qualifizierung deshalb nicht ernsthaft intendieren, ohne sie auch zu wünschen, weil das Fehlen des Wunsches der Ausführung der Intention im Wege stünde. Dies wiederum ist deshalb der Fall, weil sich solches Fehlen in B’s Motivationsstrukturen als Mangel bemerkbar macht, der sich wiederum ungünstig auf die Entwicklung von A’s Motivationsstrukturen – d. h.: von A’s Charakter auswirkt (vgl. 13.4–5). Dieser Grund ist aufschlußreich – belegt er doch einmal mehr den praktischen Charakter der Erziehung: in der ethischen Qualität von B’s Verhalten, d.h. in der Qualität seines Handelns, liegt die Qualität seines Erziehens. b) Der beschriebene Zusammenhang zwischen Intention und Wunsch hat noch eine andere Seite. Wäre Erziehung reine poiesis, könnten sich beliebige letztlich motivierende Wünsche und Interessen an die Verwirklichung ihres telos knüpfen. Wenigstens bei einer poiesis, die lediglich mittelbar-praktisch finalisiert ist (7.1), stellt das ergon, als Produktions- oder Lebens-Mittel, ein vorläufiges telos dar. Der Mörder kann den Tod des Opfers beabsichtigen, ohne ihn zu wünschen, weil seine Absicht über das telos des Tötens hinausweist auf Geld oder Ausschaltung von Zeugen o.ä. und letzten Endes auf etwas, das er um seiner selbst willen intendiert, weil er es wünscht. Hingegen ist es nicht möglich, daß sich in analoger Weise auch bei der Erziehung an die Verwirklichung des telos beliebige motivierende Wünsche oder Interessen knüpfen. Dies läßt der praktische Charakter von Erziehung nicht zu. Denn das ErzogenSein eines Menschen, sein guter Charakter, ist kein vorläufiges telos. Es ist zwar durch die bereits beschriebenen Bezüge (9.1–2) in allgemeiner Weise auf poiesis und praxis hingeordnet. Diese Finalität jedoch schließt die Selbstzwecklichkeit des guten Charakters nicht aus (9.2 (c)). Und so schließt sie keineswegs die Möglichkeit ein, daß sich B, statt A’s Erzogen-Sein um seiner selbst willen zu beabsichtigen, von individuellen Wünschen motivieren läßt, die A’s ErzogenSein in den Dienst von B’s Interessen und Zielen stellen.49 Selbst wenn diese 48 Daß der gute Erzieher A’s gute charakterliche Entwicklung wünscht und daß B (sofern er sein Tun überhaupt als erzieherisches Wirken versteht) dieses Wunsches wegen A erziehen sollte: das bedeutet natürlich nicht, die Erziehung und ihr Ergebnis seien dazu da, B’s Wunsch zu erfüllen. Wo wir das, was wir intendieren, auch wünschen, ist doch das intendierte Ergebnis unseres Tuns im Normalfall nicht dadurch finalisiert, daß es einen Wunsch erfüllt. – Ausnahmefälle gibt es freilich. Den des Miesepeters etwa, dem man sagen muß: ›Du solltest dir auch mal einen Wunsch erfüllen, z. B. indem du fein essen gehst‹. Bei ihm soll dann hinter der Intention, fein essen zu gehen, die Intention (und der Wunsch!) stehen, sich mal einen Wunsch zu erfüllen. 49 Soll hier indirekt gesagt sein, individuelle Wünsche dürften den Erzieher nicht dazu motivieren, Kinder zu erziehen? Nein. Wer als professioneller Erzieher sein Geld verdienen
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Wünsche keinen Einfluß auf B’s Vorstellung vom telos der Erziehung nehmen, schlagen sie sich unweigerlich in seinen Motivationsstrukturen nieder: sie machen eben, was er tut, zum Verhalten eines Menschen, der um des eigentlich gewünschten Zieles willen bei A eine charakterliche Verfassung herbeiführen will, die diesem Ziel zugute kommt. Infolge seiner Wirkung auf A konstituiert das so motivierte Verhalten ein anderes (faktisches) Erziehen als ein Verhalten, das sich an ethischen Maßstäben (und vielleicht auch an einer vernünftigen Erziehungsziel-Konzeption), aber nicht an individuellen Zielen orientiert, denen das Erziehungsergebnis dienen soll. Der Grund hierfür liegt wiederum in der Antwort auf die grundsätzliche Frage, warum überhaupt das Handeln des Erziehers – also, entsprechend 6.1, der Niederschlag seiner Motivationsstrukturen in all seinem freiwilligen Tun und Lassen, Empfinden, Aufmerksam-Werden usw. – für die Erziehung konstitutiv sei. Und die Antwort lautet wiederum: Weil diese Motivationsstrukturen von ausschlaggebender Bedeutung für die charakterliche Entwicklung des Kindes sind. Wenn also B ein Erziehungsergebnis um eigener Wünsche und Interessen willen intendiert, so prägt dies, indem es sein Handeln prägt, auch sein Erziehen. Und zwar ungünstig. Denn insoweit B’s Verhalten von seiner instrumentalisierenden Einstellung geprägt ist, gibt es A zu verstehen: Nicht du selbst, dein Charakter und letztlich dein Gedeihen sind ›eigentlich gemeint‹, wenn B sich dir zuwendet und um deinen Charakter bemüht ist. (Kinder sind höchst wahrnehmungsfähig. Sie reagieren z. B. mit Mißtrauen oder gar mit Ressentiment, wenn sie den Eindruck gewinnen, daß ihre Wohlerzogenheit den Eltern deshalb wichtig ist, weil diesen das Ansehen der Familie bei den Nachbarn am Herzen liegt.) Erst recht wird die Erziehung Schaden nehmen, wenn B’s motivierende Interessen auch in seine Konzeption von A’s Erzogen-Sein eingehen; wenn also B z. B. unselbständige Elternbindung und selbst-vergessene Aufopferung als Tugenden hinstellt, weil er sicher sein will, in alten und kranken Tagen auf Pflege durch A rechnen zu können. Enthalten die hier angestellten Erörterungen nicht einen Widerspruch? Einerseits sollen sie meine Behauptung bestätigen, das poietische telos der Erziehung könne gar nicht durch fernere Ziele und Interessen finalisiert sein, die den Erzieher letztlich motivieren. Andererseits bestätigen sie die Beobachtung, daß der Erzieher auf ein Kind durchaus in der Absicht einwirken kann, aus dessen Charakter ein Werkzeug im Dienste eigener Interessen und Wünsche zu machen. (Man denke auch an das Beispiel der Sklavenhalter und ihres Pädagogen.) Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns an die teleologischnormative Struktur des Erziehungsbegriffs erinnern. Dieser impliziert ein will, muß deshalb kein schlechter Erzieher sein (18.2). – Im übrigen bedeutet die Gegenüberstellung zwischen selbstloser und interessierter Erziehung eine gewisse Schematisierung. Realistischerweise wird man davon ausgehen, daß Wünsche und Interessen des Erziehers sowohl seine Vorstellung von seinem ergon als auch sein (erzieherisch wirksames) Verhalten unweigerlich färben.
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Teil II · Praxis als Sinn von Produktion
(objektives) telos der Erziehung, das in der Tat nicht erreicht werden kann, wenn (subjektive) Ziele des Erziehers die Charakterbildung des Heranwachsenden instrumentalisieren. Und ›ergon des Erziehers‹ bezeichnet, was ein Erzieher als solcher durch Erziehung erreichen soll – nicht, was er erreicht oder erreichen will. Seiner Natur nach schließt dieses ergon Finalisierung durch ErzieherWünsche aus. Denn was Erziehung erreichen soll, läßt sich tatsächlich nicht erreichen, wenn der Erzieher ein Kind charakterlich qualifizieren möchte, um von dessen gutem Charakter selbst zu profitieren. Andererseits ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß faktisch individuelle Wünsche des Erziehers hinter dessen Absicht stehen, bei seinem Gegenüber eine entsprechend zweckmäßige charakterliche Verfassung (vielleicht sogar durchaus: einen guten Charakter!) herbeizuführen. Nur konterkariert eine Erziehung, die solchermaßen an instrumentalisierenden Wünschen orientiert ist, die Erfüllung ihrer eigenen Funktion, ihres objektiven telos. Sie ist also insoweit unvermeidlich schlechte Erziehung. (Dies gilt selbst dann, wenn B’s private Wünsche hinter seiner Absicht stehen, A zu einer guten charakterlichen Verfassung zu verhelfen, und wenn ihn dabei eine richtige Vorstellung von dieser Verfassung leitet.) c) Auf die Frage, inwieweit der Begriff der Erziehung und ihres telos bestimmte Interessen oder Wünsche des Erziehers ein- oder ausschließe, habe ich geantwortet: Gut kann nur erziehen, wer 1) dem Heranwachsenden einen guten Charakter wünscht und 2) keine sonstigen Ziele verfolgt, um derentwillen er dieses oder jenes Erziehungsergebnis intendiert. Demokrits Bemerkung reflektiert den naheliegenden Gedanken, der Erzieher habe als solcher ein Interesse an seinem ›Werk‹ (ergon). Ist es nicht recht und billig, wenn B für seine Mühe um A durch ein erfreuliches Ergebnis ›belohnt‹ wird, zu dem auch A’s Dankbarkeit und Respekt gegenüber B gehören? – Als Erwartung mag dieser Gedanke angehen. Aber nur allzu leicht wird aus der Erwartung ein Motiv, das unvermeidlich die praxis des Erziehers ungünstig prägt. Und insoweit kann es nicht zur Teleologie des Erziehungsbegriffes gehören, daß sich über B die Segnungen ergießen sollten, die der gelungenen Erziehung von A entströmen. Andererseits gehört B selbstverständlich, wie beliebige andere Menschen auch, zu den ›Nutznießern‹ von A’s Erzogenheit. Jedenfalls lassen sich kaum Umstände denken, unter denen ausgerechnet er von den Auswirkungen seines erzieherischen Handelns nicht betroffen wäre. Zumindest – und in hohem Maße – gilt dies während der Zeit, bevor die Erziehung endet. Denn zum Erziehen gehören nun einmal Präsenz und Interaktion. Diese Zusammenhänge ergeben sich in der Tat daraus, daß Erziehung Charakterbildung ist. Man könnte daher sagen: B gehört zwar nicht als Erzieher zu den Personen, für die A’s Erziehung – laut 9.2 (a) – ein Lebens-Mittel bereitstellen soll; wohl aber, insofern er aufgrund erzieherischer Präsenz und Interaktion zum engsten Kreis der betroffenen ›Gesellschaft‹ gehört, die vom ErzogenSein ihrer Mitglieder profitiert. Und auf diesem Umweg – aber nur auf diesem
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Umweg – weiß, wer Erziehung als Charakterbildung versteht, eo ipso auch etwas von ›Erzieher-Interessen‹, auf die das Ziel der Erziehung bezogen ist.
9.4
Die verschiedenen Finalitäten des guten Charakters konvergieren
Blicken wir auf die inzwischen angestellten Beobachtungen zur Finalität der Erziehung zurück, so ergibt sich folgendes Bild: 1) Das Handeln des Erziehers, das Erziehung konstituiert, ist durch eine eupraxia finalisiert: durch die ethische Qualifiziertheit dieses Handelns. Man könnte das gute Handeln des Erziehers als ›praktisches telos‹ der Erziehung bezeichnen. 2) Ihr eigentliches, poietisches telos liegt in der ethischen Qualifizierung von Kindern und Jugendlichen, in deren gutem Charakter. 3) Dieses telos erweist sich außerdem als Selbstzweck: zwischen dem guten Charakter und seiner Manifestation im guten Handeln besteht ein Verhältnis wechselseitiger Finalität. 4) Zugleich kennzeichnet den guten Charakter (und somit das Erzogen-Sein) eine Finalität, die über diese Selbstzwecklichkeit hinausweist. Die unter (4) erwähnte Finalität ist wiederum eine mehrfache. Zunächst einmal hat das Erzogen-Sein eines Menschen die Funktion des Produktionsmittels, das sowohl den eigenen Lebensbedingungen und Zielen zugute kommt als auch denen anderer. Sodann ist es Lebens-Mittel; und zwar wieder sowohl für ihn, den Erzogenen, als auch für andere. Für ihn selbst hat diese Finalität des guten Charakters noch einmal zwei Seiten: zum einen die selbstverständliche Hinordnung auf das eigene gute Handeln (in dem sich der Charakter lediglich manifestiert), zum anderen – eben darin – eine praktisch-instrumentelle Hinordnung auf sein Gedeihen insgesamt. Diese Analyse kann den Eindruck hinterlassen, dank glücklicher Konstellationen erfülle ein gutes Erziehungsergebnis eine Reihe disparater Funktionen – so, wie vielleicht Papier eher zufällig als Pack- und Schreib- und Bastel-Material verwendbar ist. Erziehung wäre dann so etwas wie ein Mehrzweck-Unternehmen. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr hat das menschliche Leben eine Finalitätsstruktur, die von sich aus für Koinzidenzen sorgt, wo die Analyse Differenzen freilegt. Um dies zu zeigen, werde ich unter (a) poietisch- und praktischinstrumentelle, unter (b-c) soziale und individuelle, unter (c-d) instrumentelle und selbstzweckliche Finalitäten eines guten Charakters zueinander in Beziehung setzen. a) Den instrumentellen Wert der Tugend kann man zwar im Einzelfall als Wert eines Produktionsmittels oder als Wert eines Lebens-Mittels ansehen. Doch bedeutet dies keine Ambivalenz der Tugend. Der gute Charakter ist nämlich unmittelbar, als Qualifizierung zum Handeln, weder poietisch- noch praktisch-instrumentell, sondern durch gutes Handeln finalisiert. Und die einzelne Tugend ist dadurch Bestandteil eines guten Charak-
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ters, daß sie die praxis einer spezifischen Motivationsstruktur sichert und dadurch zum guten Handeln beiträgt. Die Funktion der Gerechtigkeit, der Tapferkeit liegt im gerechten, im tapferen und somit im guten Handeln. Die einzelne Tugend läßt sich also ebenso wenig wie die gute charakterliche Verfassung insgesamt als Beitrag zu dieser oder jener Form von poiesis kennzeichnen oder spezifizieren. Erst unter den Erfordernissen dieser oder jener Situation nehmen guter Charakter und Tugend die besondere Rolle an, in der sie gegebenenfalls (poietisch-instrumentell, als Produktionsmittel) einer bestimmten poiesis zugute kommen. Ebenso sorgt erst die Situation dafür, daß sie nicht nur dem tugendgemäßen bzw. guten Handeln des Subjekts, sondern auch (praktisch-instrumentell, als Lebens-Mittel) praktischen tele zugute kommen und auf diese Weise zum menschlichen Gedeihen beitragen. Brauchbarkeit für poiesis und Brauchbarkeit für praxis bedeuten also keine disparaten Finalisierungen der Tugend. Denn in beiden Funktionen ist sie letzten Endes Instrument im Dienste menschlichen Gedeihens. Und beide Male ist ihre Verwirklichung, als gutes Handeln, zugleich für das Gedeihen des Subjekts konstitutiv. Um das Gemeinte zu verdeutlichen, möchte ich am Beispiel zeigen, wie eine und dieselbe Tugend diesem Gedeihen einmal in der Rolle des Produktionsmittels und dann wieder in der des Lebens-Mittels dienen kann. Feuerwehrleute z. B. müssen zuverlässig und mutig sein. Man könnte diese Tugenden als ›Werkzeuge‹ ihres Handwerks verstehen. Jedenfalls kommen sie in der Situation des Feuerwehr-Einsatzes poietischen Leistungen, nämlich dem Eindämmen von Feuer und Rauch, der Verfügbarkeit von Rettungswegen usw., zugute – ohne daß Zuverlässigkeit und Tapferkeit als solche durch diese Leistungen finalisiert wären! Der poietisch-instrumentelle Wert der Tugend und ihres Einsatzes ergibt sich also aus der Situation. Und er verdankt sich der Tatsache, daß die Tugend in dieser Situation etwas leistet bzw. zu leisten hilft, was letztlich zum menschlichen Gedeihen beiträgt (im Beispiel: zum Gedeihen anderer). Beides gilt so, wie es hier auf die Tugend als Produktionsmittel zutrifft, a fortiori in anderen Zusammenhängen von der Tugend als Lebens-Mittel. Stellen wir uns einen Zusammenhang vor, in dem ich Tapferkeit benötige, aber nicht, um ein Feuer zu löschen, sondern um Freunden eine Mitteilung zu machen, die für ihre Freundschaft sehr wichtig, mir jedoch äußerst unangenehm ist; oder aber: um eine steile Abfahrt auf den neuen Skiern oder das Segeln auf hoher See zu genießen. Und den instrumentellen Wert meiner Zuverlässigkeit als LebensMittel mag die Tatsache illustrieren, daß sie mich wie andere davor bewahrt, in terminliche Nöte zu geraten. Auch hier gewinnen die Tugenden durch die Situation ihre jeweilige instrumentelle Bedeutung – diesmal als Lebens-Mittel. Und das praktische telos, das der Einsatz der Tugend jeweils ermöglicht bzw. stützt – also gutes Miteinander der Freunde, eigenes Vergnügen, sinnvoller Umgang mit der Zeit – ist jeweils Bestandteil menschlichen Gedeihens.
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Es ist also nicht bloß glücklicher Zufall, wenn das Ergebnis guter Erziehung zugleich poietisch- und praktisch-instrumentelle Bedeutung hat. Beide Funktionen stellen lediglich situationsbestimmte alternative bzw. komplementäre Wege dar, auf denen die Tugenden dem menschlichen Gedeihen dienen.50 b) Ebenso wenig ist es Zufall, wenn Erzogenheit sowohl dem Leben anderer als auch dem des Erzogenen selbst zugute kommt. Fremd- und eigennützige Funktionen des guten Charakters sind zwar nicht auf alle Tugenden gleichmäßig verteilt. Nichtsdestoweniger greifen die beiden Finalitäten, wie 6.7 gezeigt hat, auf vielfältige Weise ineinander. Im gegenwärtigen Kontext interessiert vor allem der Umstand, daß es, grob gesprochen, dieselbe Wirkweise ist, durch die eine Tugend bzw. das Miteinander von Tugenden einmal dem Subjekt und ein andermal anderen Personen nützt. (Man denke an Tugenden wie Tapferkeit, Leistungsbereitschaft, Umsicht, Geduld.) In der Finalität der Erziehung konvergieren also nicht zufällig Belange des Heranwachsenden und Belange seiner Umgebung: der gute Charakter, um dessentwillen Erziehung stattfindet, kommt seiner inhärenten Finalität nach sowohl dem Erzogenen als auch anderen zugute. Implizit schwebt uns vermutlich dieser Zusammenhang vor, wenn wir vor aller philosophischen oder erziehungswissenschaftlichen Reflexion problemlos sowohl im Namen der Gesellschaft als auch um der Heranwachsenden selber willen deren gute Erziehung fordern oder wünschen. Damit soll natürlich nicht geleugnet sein, daß das menschliche Leben Spannung, Konkurrenz und Konflikt zwischen eigenen und fremden Interessen mit sich bringt. Vielmehr resultiert gerade daraus eine Lebensaufgabe, die nur lösen kann, wer durch Erziehung und eigene Bemühung einen Charakter erworben hat, der beide Interessensphären zugleich bedient, und zwar nach Prioritäten, die die Vernunft gesetzt hat. Dazu bedarf es nicht nur ethischer Tugenden im engeren Sinne. Man benötigt auch das praktische Wissen darum, worauf es überhaupt ankommt und welche handlungsrelevanten Gesichtspunkte unter gegebenen Umständen die wichtigsten sind; und die Klugheit, die uns Wege weist, auf denen sich die unterschiedlichen Belange realisieren und womöglich untereinander harmonisieren lassen (vgl. 6.6). c) Guter Charakter und praktische Vernunft bedeuten unter diesem Gesichtspunkt: Integration von Interessen. Die mit dem Ausdruck ›Handeln‹ angerufene Bewertungsdimension des Lebens transzendiert Bewertungen meines Verhaltens, die nur den Maßstab des eigenen oder nur den des fremden Nutzens anlegen wollen. Insofern wird die unter (b) thematisierte Zweiheit der ›Erziehungszwecke‹ durch das Erziehungsziel selbst gewissermaßen überholt. Denn Cha50 Im übrigen gilt selbstverständlich auch hier, was ich gegen Ende von 7.1 bemerkt habe: Die Möglichkeit, finale Strukturen weiter zu zergliedern, bringt eine gewisse Relativität in die Unterscheidung zwischen Produktions- und Lebens-Mittel.
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rakterbildung soll ja zu einer Gesinnung führen, die eigene und fremde Interessen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander setzt. Die objektive Seite dieser Vernünftigkeit liegt darin, daß das Ensemble von Motivationsstrukturen, zu dem Erziehung anleiten soll, dem menschlichen Gedeihen dient (6.3–5). Auf der Seite des Subjekts sind es das praktische Wissen (6.3–5) und gegebenenfalls das ethische Hintergrundmotiv (6.9), die für die Integration von eigenund fremdnütziger Orientierung sorgen. Gute Erziehung vermittelt weniger die Vorstellung, man müsse anderen zuliebe gerecht und hilfsbereit, sich selbst zuliebe fleißig und selbstbewußt, sowohl sich selbst als auch anderen zuliebe klug, kompromißbereit und tapfer sein – als vielmehr die Überzeugung, daß es alle Tugenden ›um ihrer selbst willen‹ zu praktizieren gilt und daß im guten Handeln der ausschlaggebende Bestandteil eines guten Lebens liegt51. Durch Charakterbildung zielt Erziehung nicht auf einen ethisch neutralen Vorteil des Erzogenen oder seiner Umgebung. Vielmehr trägt sie, soweit sie gelingt, zum guten Leben im Sinne des Gedeihens der Menschen bei, indem sie beim Heranwachsenden das gute Leben im ethischen Sinne fördert. Daß man diese Auffassung von der (objektiven) Finalität der Erziehung nicht als rein philosophische Idealisierung abtun kann, zeigt die Besinnung auf Fakten wie diese: 1) Wir würden nicht sagen, daß man einem Raubmörder nützt, indem man ihm Schußwaffen besorgt oder lukrative Opfer nennt. Genauso wenig können wir von einem Nutzen des Kindes reden, wenn sein Erzieher ihm Verhaltensmuster beibringt, die es ihm erlauben werden, sich durch Lüge, Betrug und Erpressung unentdeckt Vorteile zu verschaffen. 2) Im allgemeinen werden reflektierende Eltern nicht nur erklären, ›das Beste für ihre Kinder zu wollen‹; sie werden sich auch zu der Absicht bekennen, ›gute Menschen aus ihnen zu machen‹. Das Bemerkenswerte ist nun, daß sie, nach dem Verhältnis – oder gar einer Rangordnung – zwischen diesen beiden Orientierungen gefragt, nicht selten die Auffassung vertreten werden, hier bestehe keine Diskrepanz und / oder es sei für ihre Kinder gut und das Wichtigste, gute Menschen zu sein bzw. zu werden. Noch häufiger werden sie dies für die Antwort halten, die man geben sollte oder die jedenfalls erwartet wird. Nur wenige Eltern werden sagen: ›Ob unser Kind ein anständiger Mensch wird, ist uns gleichgültig; Hauptsache, es schlägt sich durch.‹ – Derartige Beobachtungen zeigen schon, daß es hier keineswegs um eine Hirngeburt der Philosophie geht. Und man bedarf auch keiner Philosophie, um zu wissen, daß es um eine Gesellschaft, die von der unter (1) und (2) dokumentierten Vorstellung vom Besten für das Kind nichts mehr hält, auch nicht mehr zum Besten bestellt ist. d) Mit den Beobachtungen unter (c) ist bereits die dritte Koinzidenz in den Finalitäten des guten Charakters angesprochen. Meine Analyse hat nicht-ethi51 Die Berechtigung dieser Überzeugung ergibt sich aus der in 6.3 (d) beschriebenen ›Eigendynamik der Tugend‹.
9 Erziehen – für wen?
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sche, instrumentelle Funktionen der ethischen Qualifikation eines Menschen unterschieden vom nicht-instrumentellen Sinn dieser Qualifikation, vom Dasein des guten Charakters um seiner selbst bzw. um des guten Handelns willen. Wie diese beiden Finalitäten des guten Charakters – und somit des Erzogen-Seins – zusammenhängen, ist hier nur kurz zu resümieren: Einerseits verweist der Begriff der Tugend auf Erfordernisse des menschlichen Gedeihens. Gute Qualitäten sind daher die Tugenden und der gute Charakter eines Menschen, insofern sie durch ihren Einsatz solches Gedeihen ermöglichen, fördern und erhalten.52 Andererseits jedoch erfüllen die Tugenden ihre instrumentelle Funktion gerade dann, wenn sich der Mensch von Beweggründen leiten läßt, die tugendgemäßen Motivationsstrukturen entsprechen – also nicht ohne weiteres und immer unmittelbar von Erfordernissen des menschlichen Gedeihens. Auf diese Weise implizieren und bedingen sich zwei Finalitäten des ErzogenSeins gegenseitig: die instrumentelle Hinordnung des guten Charakters auf menschliches Gedeihen (also auf gutes Leben im weiten Sinne) und seine inhärente Hinordnung auf Umsetzung in Handeln (also auf ethisch gutes Leben des Subjekts). Freilich sind diese Zusammenhänge nur verstehbar, ja sogar nur möglich, wenn Finalität in beiden Fällen etwas anderes ist als motivierende Absicht. Zum einen liefern uns Interessen nicht das Motiv, einen guten Charakter zu erwerben, zu pflegen und in Handeln umzusetzen; denn gut ist der Charakter selbst ja gerade als Verinnerlichung rationaler Motivation. Die instrumentelle Finalität des guten Charakters liegt in seiner Funktion für menschliches Gedeihen. Zum anderen besteht auch gutes Handeln – ich wiederhole es – nicht darin, daß man sein Tun und Lassen unmittelbar von jenen Interessen motivieren läßt. Auch hier bestimmen solche Interessen die Funktion, nicht ohne weiteres die Motivation. Genauso wenig liefert eupraxia als telos des Handelns das Motiv, aus dem man dies tut und jenes unterläßt. Sie definiert vielmehr den Maßstab, nach dem dieses Tun und Lassen als Handeln bewertet wird, und liefert ihm allenfalls ein Hintergrundmotiv.
52 Auch die Selbstzwecklichkeit des guten Charakters und die Möglichkeit ethischer Hintergrundmotivation sind somit auf eine begrifflich fundamentalere Hinordnung des Charakters auf menschliches Gedeihen angewiesen. Nur weil der gute Charakter dem menschlichen Gedeihen zunächst einmal instrumentell zugute kommt, kann er dann auch die Rolle eines Gutes spielen, das bedingungslos um seiner selbst willen geschätzt wird. Gutes Handeln muß, zumindest im allgemeinen, ein ›Instrument‹ des Gedeihens sein, um es konstituieren zu können.
TEIL III Produktive Praxis Erziehung weist unbezweifelbar Strukturen einer poiesis auf. Von ihnen muß die Rede sein, wenn man sagen will, wozu sie da ist. Zugleich jedoch bereitet die Vorstellung, Erziehung sei eine Art Produktion, erhebliche Schwierigkeiten. Und zwar ist das Unbehagen, das diese Vorstellung auslöst, mehr als eine sentimentale Weigerung, nüchterne Strukturbegriffe auf lebendige menschliche Bezüge anzuwenden. Es ist vielmehr ein Symptom dafür, daß Erziehung sich nicht in ausschließlich poietischen Begriffen analysieren und verstehen läßt. So steht z. B. der gute Charakter nicht wirklich im selben Verhältnis zu seiner Manifestation im Handeln wie ein Instrument zu seinem Einsatz; vom Erzieher verlangen wir affektive und ethische Qualitäten, die uns am Produzenten nicht interessieren; Erziehung kann und soll ihr Ergebnis nicht durch quasi technische Verfahren erzwingen, und sie wählt sich kein ›Material‹ aus, um es zum intendierten ›Produkt‹ zu ›verarbeiten‹, sondern muß im Kind das Subjekt seiner eigenen Charakterbildung respektieren. In all dem unterscheidet sich Erziehung – anders als Gehirnwäsche und sonstige Formen bloßer Konditionierung – strukturell von technischer Produktion. Wenn sie trotzdem Einwirkung auf den Charakter eines anderen ist, dann nicht als Verfahren, als Einsatz von Mitteln zu intendierten Zwecken. Vielmehr geht vom Handeln selbst erzieherische Wirkung aus. Gerade weil das Handeln, als praxis, keine poietische Absicht verträgt, eignet es sich zum Medium der Charakterbildung. Wie aber wirkt gutes – und schlechtes – Handeln erzieherisch? Nun, charakterliche Qualitäten geben dem Handeln des Erziehers und damit seiner vom Kind erlebten Präsenz ein bestimmtes Gepräge – eine ethische Gestalt, die als gutes oder schlechtes Vorbild nachgeahmt wird. Zum ethisch geprägten Handeln des Erziehers gehören ferner ausdrückliche Stellungnahmen zum Verhalten des Kindes, die ebenfalls jene Qualitäten repräsentieren. Schließlich aber wirkt der Erzieher auch dadurch, daß er unweigerlich am erziehungsbedürftigen Gegenüber handelt – gut oder schlecht; und das heißt für ihn insbesondere: mit Verantwortungsbewußtsein, Liebe und Vertrauen oder eben ohne diese ErzieherTugenden. Ob sein Handeln erzieherische Maßnahmen einschließen soll, ist hingegen eine Frage der Klugheit, die sich nicht allgemein beantworten läßt und die für den Begriff des erzieherischen Handelns ohne Bedeutung ist. So zeigt sich am Beispiel der Erziehung, wie praxis produktiv sein kann, ohne daß ihr Subjekt – wie im Fall der typischen poiesis – ein Produkt konzipiert und intendiert.
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Teil III · Produktive Praxis
Grenzen des technischen Modells Das Kind [...] fügt sich in die Lebensgewohnheiten der Familie, der Nachbarschaft, des Heimatortes ein, verwächst mit Brauch und Sitte, Moral und Glaube seiner Umgebung, ohne daß diejenigen, die vor und nach alles dies an die junge Seele heranbrachten, sich über die lebendige Gestalt Gedanken machten, zu der sie sich unter solchen Einwirkungen herausformen wird. Theodor Litt, Führen oder Wachsenlassen
Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, daß Erziehung einerseits poietische Strukturen aufweist, andererseits jedoch in einer Reihe von Hinsichten vom Muster einer typischen – oder technischen – poiesis abweicht. Die folgenden Überlegungen werden diese Erörterungen zusammenfassen, weiterführen und zu einem Bild der Erziehung als nur eingeschränkt poietischer poiesis ausbauen. Zunächst einmal rufe ich eine Reihe struktureller Besonderheiten der Erziehung in Erinnerung, die bereits in früheren Kapiteln zutage getreten sind: ihr Verhältnis zur Zeit und zum inhärenten poietischen telos, ihre Unabhängigkeit von Ziel-Konzeption, -Intention und Technik, ihre Angewiesenheit auf Affekt und Charakter des Erziehers (10.1). Dann weise ich auf Aspekte der typischen poiesis hin, die deren Ergebnis berechenbar machen und die der Erziehung abgehen: Erziehung ist weder deterministisch zu denken (10.2), noch können ihre ›Ausgangs- und Randbedingungen‹ als bloße Vorgaben gelten (10.3–4). Schließlich ergeben sich aus diesen Besonderheiten der Erziehung Konsequenzen für das Ausmaß erzieherischer Verantwortung: diese Verantwortung ist angesichts der Unberechenbarkeit des Ergebnisses begrenzt, zugleich jedoch insofern unbegrenzt, als die erwähnten ›Ausgangs- und Randbedingungen‹ ihrerseits nicht eingegrenzt sind (10.5). In diesem Kapitel geht es natürlich nicht darum, ob der Erziehung das Etikett einer poiesis umgehängt werden soll oder nicht. Ich verfolge vielmehr drei Anliegen: das Eigentümliche der Erziehung durch Vergleich und Kontrast mit typischen Fällen von poiesis im Sinne von 5.1 (c) zu kennzeichnen; die Grenzen zu markieren, an die das Verständnis von Erziehung nach dem Modell einer poiesis stößt; und auf diesem Weg die Kapitel 13–15 vorzubereiten, die zeigen sollen, wie Erziehung als praxis eine poietische Rolle spielen kann, ohne eine typische poiesis zu sein.
10.1
Als poiesis ist Erziehung in verschiedenen Hinsichten untypisch
Erziehung soll etwas bewirken. Die Erziehung von A durch B findet ihr telos im guten Charakter von A. Insofern ist sie auf das Bestehen einer Situation ausgerichtet, die sich ohne Rekurs auf Erziehung charakterisieren und identifizieren läßt. Damit qualifiziert sie sich als poiesis.
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Allerdings haben die bisherigen Kapitel auch strukturelle Aspekte der Erziehung aufgewiesen, die diese Einordnung in Frage stellen und insoweit die These dieses Buches stützen, daß uns in der Erziehung die Strukturen einer praxis, nämlich des Handelns, begegnen. Machen wir uns diese ›un-poietischen‹ Aspekte und ihre Relevanz noch einmal klar. a) Zeitstruktur: Für eine poiesis – man denke an eine Handlung wie das Binden eines Knotens – ist ein zeitlicher Ablauf typisch, dessen Kontinuität in der Kontinuität bewirkter Veränderungen besteht. Denn das charakteristische Produkt einer poiesis kommt als Resultat bewirkter Veränderungen zustande. Ein solcher Ablauf ist der Unterbrechung ausgesetzt. Es gibt aber nichts, das sinnvoll ›im Erziehen unterbrechen‹ heißen könnte. Ferner kann eine Handlung wie das Binden eines Knotens langsam oder schnell vollzogen werden. Auch dieses Indiz einer typisch poietischen Zeitstruktur1 weist Erziehung nicht auf. Die Kontinuität des Erziehens ist nicht die der kontinuierlich bewirkten Veränderungen. Deutet dies etwa lediglich darauf hin, daß man beim Erziehen gelegentlich abwarten muß – wie man beim Backen eines Kuchens warten muß, während die Ofenhitze für weitere Veränderung sorgt? Wohl kaum. Was die Zeitstruktur der Erziehung auszeichnet, läßt sich so nicht verständlich machen. Denn erforderliche Wartezeiten ändern immer noch nichts an der Möglichkeit, den Kuchen mehr oder weniger schnell zu backen. Und man kann – mit oder ohne Wartezeiten – beim Backen unterbrochen werden – nicht zuletzt dadurch, daß man abgelenkt wird, während der Kuchen im Ofen erhitzt wird (und schließlich verkohlt).2 Wenn also Erziehung etwas ist, das weder mit Unterbrechungen noch ununterbrochen, weder schnell noch langsam vor sich geht, so deutet dies auf eine nicht-poietische Zeitstruktur hin. Ihre Kontinuität ist weder die des Wirkens noch die des Wartens, der Aufmerksamkeit, der Handlungsbereitschaft o.ä., sondern die Kontinuität der Zuständigkeit (4.8). b) Finalitätsstrukturen: Unter dem Gesichtspunkt ihrer poietischen Finalität weist Erziehung Merkmale auf, die in den beiden vorangehenden Kapiteln erörtert wurden. Darunter sind Besonderheiten, die eine rein poietische Teleologie des Begriffs ausschließen. Eine dieser Besonderheiten liegt im absoluten Wert dessen, was gute Erziehung leistet, eine andere im Subjektbezug dieses Wertes.
1 Nach Aristoteles ist jede kinesis, also insbesondere auch eine poiesis, durch die Dimension der Geschwindigkeit gekennzeichnet (EN X 2, 1173a31–33). 2 Erziehung hat also nicht die Zeitstruktur einer Handlung. Analoge Überlegungen zeigen, daß sie auch nicht die Zeitstruktur einer Tätigkeit hat. Man erinnere sich an den Vergleich zwischen Erziehen und Steuern (4.7). Sogar das im psychologisch-technischen Sinne verstandene Steuern impliziert zwar nicht kontinuierliches Bewirken von Veränderung. Unterbrechung aber ist hier dennoch – anders als beim Steuern im ethischen Sinne – möglich.
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Teil III · Produktive Praxis
1) Zwar kann man das Erzogen-Sein eines Menschen, seinen guten Charakter, wie in 9.1 dargetan, als Instrument betrachten, das in der poiesis und in der praxis sowohl des Subjekts als auch seiner Umgebung eingesetzt wird. Doch ist ein guter Charakter noch unmittelbarer durch gutes Handeln finalisiert und, wegen dessen reziproker Hinordnung auf den guten Charakter, sogar Selbstzweck (9.2). Darin liegt ein Merkmal des Erzogen-Seins, das kein anderes poietisches ergon mit ihm zu teilen scheint. Denn was immer sonst hervorgebracht wird, wird nicht um seiner selbst willen, sondern ausschließlich als Produktions- oder Lebens-Mittel hervorgebracht (sofern es nicht als Ergebnis einer praxis-konstitutiven poiesis im Sinne von 7.2 zustandekommt). In den Rollen von Produktions- und Lebens-Mittel weist das poietische ergon lediglich einen relativen Wert auf – einen Wert, den es aus der poiesis bzw. der praxis bezieht, der es dient. (Im Kontext einer praxis-konstitutiven poiesis bezieht das ergon seinen Wert aus der konstituierten praxis.) Hingegen läßt sich der Wert des Erzogen-Seins nicht an seinem Beitrag zu einer derartigen poiesis oder praxis ablesen. Den Wert eines Charakters ›messen‹ wir allenfalls an der ethischen Qualität des Handelns, in dem sich dieser Charakter bekundet; und so, wie die Qualität von Charakter und Handeln sich gegenseitig bedingen, so läßt sich auch der Wert des einen nicht vom Wert des anderen trennen. Dieser nichtinstrumentelle Wert des guten Charakters muß als ›absolut‹ gelten – in dem Sinne, daß er sich keinem anderen Wert verdankt. Daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied zwischen technischer und erzieherischer poiesis. Ein Produkt nämlich von nur relativem Wert ist vergeblich produziert worden, wo es nicht zum Einsatz gelangt. Auf das Ergebnis der Erziehung kann Vergleichbares nicht zutreffen. 2) Im exklusiven Bezug dieses Wertes auf das Subjekt des Charakters liegt eine zweite Besonderheit des telos der Erziehung. Zwar habe ich in Abschnitt 3.1 erklärt, inwiefern die dort unter (c6) vermerkte ›Übertragbarkeit‹ des typischen Ergebnisses einer poiesis auch vom Erziehungsergebnis gilt. Bei dieser Erklärung steht allerdings A’s Charakter nur als Erzogen-Sein – als ›Leistung‹ des Erziehers B – im Blick. Nun läßt er sich aber ebenso gut aus einer anderen Perspektive betrachten und auf A als Subjekt beziehen. Als A’s Charakter kann man nämlich nur eine Qualität bezeichnen, für die man A mit-verantwortlich macht. Und aus A’s Perspektive ist der soeben erwähnte nicht-instrumentelle, absolute Wert seines guten Charakters nicht ›übertragbar‹. Selbst wenn A’s Tugenden und Laster ihre guten bzw. schlechten Wirkungen häufig für A auf ähnlichen Wegen hervorbringen wie für seine Umgebung (9.1), so liegt doch die unmittelbare Finalität von A’s Charakter notwendig in seinem guten Handeln (9.2); und dieses telos gibt A’s gutem Charakter einen Wert, den er ausschließlich für A besitzen kann. So wie man zwar etwas machen lassen, aber nicht ›handeln lassen‹ (sich sozusagen ethisch vertreten lassen) kann: so kann einem auch der gute Charakter eines anderen zwar nützen, er kann einen aber nicht gut machen. Auch dieser
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Aspekt des Erziehungsziels guter Charakter beweist, daß eine poietische Sicht der Erziehung nur eingeschränkt zutreffen kann. c) Intentionalitätsstrukturen: Anders als im paradigmatischen Fall einer poiesis, spiegelt sich bei der Erziehung die Funktion nicht notwendig in der Intention (5.3). Die typische poiesis vollzieht sich, indem ihr Subjekt durch den intendierten Einsatz von Mitteln das Bestehen eines intendierten Zustands erreicht (der der unmittelbaren Funktion der poiesis entspricht). Erziehung weicht von diesem Muster ab: an beiden Stellen ist Intention für sie nicht konstitutiv (4.4–7; 5.3). Das hat Folgen für die Bewertbarkeit des Erzieher-Verhaltens und für die Technik-Ferne von Erziehung. 1) Ziel und Bewertbarkeit: Ob A von B erzogen wird, hängt nicht von B’s Intention ab, A zu erziehen, sondern von relevanter Zuständigkeit und von faktischem Vorsprung und Einfluß (2.3 (b)). Diese Feststellung schließt nicht aus, daß B unter manchen Umständen eine richtige Vorstellung von diesem Ziel oder wenigstens partielle oder mittelbare Zielvorstellungen benötigt, um A gut zu erziehen. Doch nimmt die angemessene Bewertung von A’s Erziehung durch B nicht an B’s Ergebnis-Konzeption, sondern einzig daran Maß, was Erziehung als solche erreichen soll – an einem objektiven ›Erziehungsziel‹. Solange B zuständig und (weitgehend) präsent ist, kann er es nicht vermeiden, A (gut oder schlecht) zu erziehen – ob er nun solches Erziehen intendiert oder nicht. Die Bewertbarkeit von B’s Tun als Erziehung ist auf seine erzieherische Absicht ebenso wenig angewiesen wie der Tatbestand der Erziehung. Hat der Künstler lediglich die Absicht, den Pinsel auszustreichen bzw. die Geige zu stimmen, läßt sich sein Tun nicht als Malen bzw. Spielen einordnen und bewerten. Hingegen läßt sich, was der Erzieher tut, unabhängig von seinen Intentionen als Erziehung einordnen und bewerten. Wer eine erzieherische Verantwortung für A hat, kann dem Vorwurf, er sei ihm ein schlechter Erzieher, nicht durch die Beteuerung begegnen: ›Ich habe gar nicht die Absicht, A zu erziehen‹. Darin gleicht das Erziehen dem Handeln, nicht dem Hervorbringen (vgl. 6.8). 2) Weg ohne Technik: Erziehungsmittel und intendierte Erziehungsmaßnahmen schließt der Erziehungsbegriff selbstverständlich nicht aus. Sie mögen sogar gelegentlich ein Erfordernis erzieherischer Klugheit sein. Doch bilden Erziehungsmaßnahmen und sonstige intendierte Komponenten des Tuns weder hinreichende noch notwendige Faktoren jeder Erziehung (4.4). Wenn sich Erziehung als solche nicht auf dem Weg über intendierte Erziehungsmittel, sondern in den unterschiedlichsten, auch unplanbaren Komponenten des Erzieher-Verhaltens vollzieht, kann Erziehung auch keine Technik sein. Es mag erzieherische Techniken geben. Doch läßt sich Erziehung nicht, wie eine typische poiesis, als Anwendung eines Verfahrens gestalten. Sie ist ein Weg, etwas zu bewirken; aber dieser Weg ist nicht die Umsetzung eines Systems von Verfahrensregeln. Die ›Vorgehensweise‹ des guten Erziehers besteht im guten Handeln (Kapitel 13–14).
220
Teil III · Produktive Praxis
3) Elemente von poiesis: Wenn für Erziehung weder Intention des Zieles noch Intention der Mittel charakteristisch ist, warum behandle ich sie dennoch als eine Art poiesis, als ergebnis-orientierte Produktion? Steht nicht die Erziehung eines Kindes, handlungsphilosophisch gesehen, eher auf einer Stufe mit der mehr oder weniger unreflektierten Erhaltung seiner Gesundheit? Man gibt dem Kind zu essen und zu trinken, verschafft ihm Bewegung, gönnt ihm eine Menge Schlaf usw. All dies hat in der Regel zur Folge, daß das Kind gesund bleibt oder gesünder wird. Doch bedeutet dieser Wirkzusammenhang noch nicht, daß die Erhaltung der kindlichen Gesundheit eine poiesis wäre. Vielleicht haben die Eltern des Kindes keine Ahnung davon, was das Kind benötigt, um gesund zu bleiben, oder sie orientieren sich faktisch nicht an diesen Erfordernissen. Sie gehen lediglich mit ihm um, wie es die anderen auch machen. Im Normalfall erhält ebendas seine Gesundheit. – Können sich Eltern nicht als Erzieher ebenso verhalten – ohne Orientierung an Erfordernissen der Charakterbildung, lediglich nach übernommenen Mustern – was dann im Normalfall zu einem passablen Erziehungsergebnis führt? Diese Analogie ist in vieler Hinsicht treffend. Und sie zeigt vielleicht, daß es keinen zwingenden Grund gibt, jede Erziehung poietisch zu verstehen. Allerdings zeigt sie auch etwas anderes. Sobald nämlich Eltern Erfordernisse der kindlichen Gesundheit im Blick haben, sobald sie es absichtlich so und nicht anders ernähren, bei Kälte warm anziehen etc., läßt sich auch die Gesunderhaltung des Kindes durchaus als poiesis verstehen.3 Entsprechendes muß für seine Erziehung gelten. Das ist aber noch nicht alles. Denn während man unter günstigen Umständen durch übernommene gewohnheitsmäßige Behandlung eines Kindes, ohne sich an Erfordernissen seiner Gesundheit zu orientieren, dieses Kind gesund erhalten kann, scheint Entsprechendes für gute Erziehung – und die muß man mit der Gesunderhaltung vergleichen – nicht zu gelten. Jedenfalls ist zu bedenken, daß sich gutes Handeln – das Medium guter Erziehung – nicht in bloß übernommenem und bloß gewohnheitsmäßigem Handeln erschöpft. Es ist auf eigenständige und situationsbezogene Orientierung angewiesen. Und für B als Erzieher bedeutet dies u. a. Orientierung an den Erfordernissen, die mit seiner Zuständigkeit für A und mit dessen jeweiliger Verfassung gegeben sind. Man kann diese Orientierung als erzieherische Klugheit bezeichnen (Kapitel 14). Sie muß keineswegs von der Konzeption eines Erziehungsziels bestimmt sein. Um gut zu erziehen, benötigt B nicht unbedingt eine derartige Konzeption. Wohl aber muß er – selbst wenn er sich seiner Rolle als Erzieher nicht bewußt sein sollte – sein Verhalten davon mitbestimmen lassen, was für A’s charakterliche Entwicklung jeweils zuträglich ist. In diesem Anspruch an B, sein Tun und Lassen an dessen Auswirkungen auf A zu orientieren, liegt ein Grund, die Kategorie der poiesis auf Erziehung aus3 Zur Relevanz des Übergangs von gewohnheitsbedingter Kausalität zu konzeptionsgeleiteter poiesis vgl. auch Müller 2002 a, S. 164–171.
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zudehnen – wie ich das in diesem Buch tue. Man muß es aber nicht tun. Und wenn man die Einordnung der Erziehung als poiesis aus theoretischen oder auch aus anderen Erwägungen heraus für geraten hält, so ist es notwendig, sich die Grenzen des poietischen Modells bewußt zu machen (vgl. Kapitel 18). d) Affektive Struktur: Auf der Seite des Subjekts erfordert poiesis, um zu gelingen, typischerweise Ergebnis-Intention, Verfahrenskenntnis und Fertigkeit, nicht jedoch affektive Beteiligung. Selbst vom Schauspieler verlangen wir Betroffenheit, Zorn und dergleichen nur, insoweit er den Ausdruck von Betroffenheit usw. nicht ohne einen Anflug dieser Emotionen auf die Bühne zu bringen vermag. Der Erzieher hingegen muß affektiv ›bei der Sache sein‹. Insbesondere kann B nicht gut erziehen, ohne daß A ihm ›am Herzen liegt‹. Gute Erziehung verlangt B’s Engagement für A’s charakterliches Wohl und daher entsprechendes Wünschen. Erzieherische Intentionen sind dafür kein Ersatz. Wenn B ein Erziehungsziel vorschwebt oder wenn er ansonsten die Absicht hat, dies oder jenes für A’s charakterliche Entwicklung zu tun, so verlangen ebendiese Intentionen selbst darüber hinaus, daß er das, was er sich zum Ziel und zur Absicht gemacht hat, auch wünscht. Den Grund hierfür haben wir bereits kennengelernt (9.3 (a)): Eine erzieherische Intention wird unterminiert, sobald sie einem Motiv entspringt, das nicht letzten Endes vom Wunsch getragen ist, der Heranwachsende möge ein guter Mensch werden bzw. gedeihen. Man könnte auch sagen: Wo bewußt erzogen wird, ist das Wie des Erziehens unausweichlich vom Weshalb des Erziehens mitbestimmt. Denn dieses (subjektive) Weshalb – was immer an Wünschen und Zielen die Aufmerksamkeit auf das Kind motiviert – gehört zu den Faktoren, die die Qualität des erziehungskonstitutiven Handelns bestimmen. e) Ethische Struktur: Nicht nur verträgt sich das Wie der guten Erziehung nicht mit jedem beliebigen Weshalb. Beide, Wie und subjektives Weshalb, müssen außerdem die Qualität des objektiven Wozu widerspiegeln. Da dieses Wozu, das Erzogen-Sein, im guten Charakter besteht, müssen Wie und Weshalb – das Medium der Erziehung und das eventuelle Motiv des Erziehers – entsprechend ethisch qualifiziert sein. Auch darin erweist sich Erziehung als un-poietisch. Denn kein telos einer typischen poiesis ist als solches ethisch qualifiziert. Und die Qualität, die ihr Produkt z. B. als ergon des Schneiders aufweist, hängt weder von dessen Motivation noch von der ethischen Beschaffenheit der Mittel ab, die er einsetzt. Bei der Erziehung hingegen bringt die Tatsache, daß das Ziel selbst an der letztgültigen praktischen Bewertungsdimension Maß nimmt, eine Reihe von Erfordernissen mit sich, die den Weg zum Ziel betreffen. 1) Wie unter (d) bemerkt, ist das Motiv, aus dem ich etwas hervorbringe, im typischen Fall für die Qualität des Hervorgebrachten gleichgültig. Hingegen muß mir am guten Charakter des Kindes gelegen sein, wenn ich ihm ein guter Erzieher sein soll.
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Teil III · Produktive Praxis
2) Der Einsatz ethisch bedenklicher Mittel – denken wir etwa an Sklavenarbeit oder an die medizinische Verwendung getöteter Embryonen – wirkt sich auf die Qualität des typischen poietischen Produkts nicht aus. Dagegen ist die ethische Qualifiziertheit erzieherischen Tuns Bedingung für das Zustandekommen eines guten Ergebnisses. 3) Sie ist sogar mehr als Bedingung: ethische Qualifiziertheit und Klugheit sind selbst die entscheidenden erziehungswirksamen Komponenten des ErzieherVerhaltens. 4) Auf der Seite des Subjekts verlangt die Art des poietischen ergon daher im Fall der Erziehung, was sie im Falle keiner typischen poiesis verlangt: einen guten Charakter. Und umgekehrt verlangt sie nur in Ansätzen und nur manchmal, was sie in Fällen typischer poiesis prinzipiell verlangt: spezifische verfahrensbezogene Kompetenz. 5) Letzten Endes entscheidet sich an ethischen Maßstäben, ob ein bestimmtes poietisches ergon unter gegebenen Umständen, oder überhaupt, zustande kommen darf bzw. soll oder nicht. Im Fall der Erziehung dagegen ist deren praktische Notwendigkeit immer gegeben – allgemein: sobald ein Kind auf die Welt kommt; und für einen bestimmten Erzieher: sobald er zuständig ist. 6) Es kann im Fall der typischen poiesis gute Gründe geben, ihr spezifisches telos absichtlich zu verfehlen, also z. B. ein Kleid zu schneidern, das zu kurz oder sonstwie defekt ist. Nicht so im Fall der Erziehung (vgl. 8.4). Mit (6) ist übrigens erklärt, warum im Fall der typischen poiesis die Qualität des Produkts nur dann zugleich die Qualität des Produzierens und des Produzenten anzeigt, wenn es diesem nicht gerade an der Absicht fehlt, gut zu arbeiten. Eine analoge ›rettende Absichtslosigkeit‹ kann es im Fall des Handelns nicht geben (6.8): Verfehlt das Handeln sein telos, so disqualifiziert dies eo ipso das Handeln und den Handelnden. Denn dessen ergon ist ja nichts anderes als gutes Handeln, und gutes Handeln ist eine Sache der Absicht. Das Fehlen der Absicht, das charakteristische ergon zu realisieren, unterminiert hier nicht etwa (wie im Fall einer typischen poiesis) den Schluß vom Mißlingen des ergon auf einen Mangel an Qualität im Subjekt und seinem Tun; im Gegenteil, es offenbart gerade einen Mangel im Handeln und im Handelnden.4 In diesem Punkt steht die Erziehung auf der Seite der praxis, nicht der poiesis: Ist A schlecht erzogen, so kann B den Anspruch, dennoch ein guter Erzieher zu sein, nicht retten, sondern nur weiter beschädigen, wenn er darauf hinweist, daß er gar kein gutes Erziehungsergebnis beabsichtigt und daß er freiwillig A schlecht erzogen habe. Die ethische Bewertung der Erziehung ist eben keine nachträgliche Anwendung ethischer Maßstäbe auf ein Tun, das zunächst ganz unabhängig hiervon nach seiner poietischen Qualität beurteilt würde. Das telos des Erziehens ist 4 Aristoteles kann deshalb sagen: »in der Kunst ist der freiwillig Fehlende vorzüglicher, bei der Klugheit aber wie bei den sittlichen Tugenden ist er schlimmer« (VI 5, 1140b23 f. = 1972, S. 136).
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223
vielmehr von der Art, daß das Erziehen ethischen Maßstäben genügen muß, um gute poiesis zu sein.
10.2
Erziehung läßt sich nicht deterministisch verstehen
Als Menschen sind wir darauf angewiesen, Produktions- und Lebens-Mittel einzusetzen; und zwar weitgehend solche, die wir nicht vorfinden, sondern herstellen müssen. Daher sind wir an Techniken interessiert: an zuverlässigen Verfahren, Dinge einer bestimmten Art zu produzieren oder Zustände an Dingen hervorzurufen, zu erhalten, zu beseitigen. Mit einem Verfahren haben wir es zu tun, wo unter grundsätzlich verfügbaren oder erreichbaren Bedingungen die regelgeleitete Handhabung bestimmter Materialien berechenbare Folgen zeitigt. Eine poiesis, die ein Verfahren in diesem Sinne implementiert, bezeichne ich als technische poiesis (vgl. 5.2). Aristoteles scheint seine Ausführungen über menschliche poiesis auf Fälle zu beschränken, in denen eine techne ausgeübt wird – ein etabliertes Produktionsverfahren, das eine Vorgehensweise verallgemeinert, das also für einen gegebenen Zweck den Einsatz bestimmter, besonders geeigneter Mittel festlegt.5 Und in der Tat scheint sogar die namenlose, in der Not des Augenblicks improvisierte poiesis einer etablierten, technischen mehr oder weniger nahezukommen: man tut, was bei gegebenen Produktionsmitteln, Umständen und Kenntnissen so verläßlich wie möglich das bewirkt, was man herbeiführen möchte; man geht also auf eine tendenziell verallgemeinerbare Weise vor. Als Beispiel einer technischen poiesis mögen Herstellung und Reparatur eines Autos dienen. Dessen Dasein und Verfassung weisen die unter 5.2 (c) aufgeführten Merkmale eines poietischen telos auf. Insbesondere läßt sich ein beliebiges Modell einer beliebigen Marke ganz ohne Bezug auf seine Produktion charakterisieren – wiewohl man de facto einen wirklichen PKW natürlich über den Händler aus dem Werk erhält oder aus der Reparaturwerkstatt abholt, wo er hergestellt bzw. wiederhergestellt worden ist.
5 Vgl. z.B. EN VI 4, 1140a1–23. Ob Aristoteles Erziehung als poiesis eingestuft hätte, ist schwer zu sagen. Unter den vier aristotelischen Gesichtspunkten der Erklärbarkeit (oder ›Ursächlichkeit‹) steht Erziehung jedenfalls ziemlich ›un-poietisch‹ da. 1) Ihre Finalität ist nicht auf Absicht angewiesen und liegt in einem Produkt, das als Selbstzweck gelten kann (was nach 5.1 (c7–8) vom typisch poietischen telos nicht gilt). 2) Sie wirkt nicht auf dem Weg eines technischen Verfahrens und läßt sich nur in marginalen Hinsichten einem Verfahren annähern. 3) Die erzieherische Aufgabe legt keine Eignungsbedingungen fest, die ihr ›Material‹ zu erfüllen hätte (10.3). 4) Schließlich könnte der Aristoteliker den eigentlichen Grund dieser Eigentümlichkeiten der Erziehung in einer Eigenart der zu realisierenden Form erblicken: Während das Subjekt einer typischen poiesis im geeigneten Material nicht seine eigene Form, sondern diese oder jene Produkt-Konzeption zu realisieren sucht, reproduziert der Erzieher im Heranwachsenden gewissermaßen (in Analogie zur Zeugung) den eigenen Charakter, also seine ›ethisch-praktische Form‹ (vgl. 15.2).
224
Teil III · Produktive Praxis
Dabei geht man davon aus, daß die Schritte der Produktion bzw. der vorgenommenen Reparatur den jetzigen Zustand des Fahrzeugs bestimmen. Dies zeigt sich daran, daß man für die Qualität dieses Zustandes die Qualität der Produktion bzw. der Reparatur verantwortlich macht. Die Verwendbarkeit technisch-poietischer Begriffe wie Auto-Produktion bzw. -Reparatur beruht darauf, daß menschliche poiesis in vielen Situationen zwei Bedingungen erfüllt: a) Wenn die vorgesehenen Standard-Materialien und -Umstände vorliegen, ist das Gemachte durch die Art des Machens weitestgehend determiniert. b) Die Standard-Materialien und -Umstände sind bekannt und, wo sie vorliegen, identifizierbar. Diese beiden Bedingungen geben dem Techniker Kontrolle über das Zustandekommen seines ergon und sorgen für die Möglichkeit, auf der Basis der kompetenten Anwendung eines Verfahrens das Ergebnis vorherzusehen. Technische poiesis ist so durch die Verläßlichkeit ihres Verfahrens gekennzeichnet: Wenn ich in allem das Rezept befolge, muß die Tiramisu gelingen. Und leckt das Aquarium, obwohl ich die Anweisungen zur Verkittung der Teile streng befolgt habe, so suche ich den Fehler im Material oder in nicht vorgesehenen Umständen (Randbedingungen). In keinem derartigen Fall erwäge ich die Möglichkeit, daß ein und dasselbe Verfahren, unter völlig gleichartigen Umständen auf völlig gleichartiges Material angewandt, zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Wo eine der Bedingungen (a) und (b) nicht erfüllt ist, läßt sich die Qualität des Produzierens im konkreten Fall nicht ohne weiteres an der Qualität des Produkts ablesen. Wir greifen dann auf andere Indizien zurück: auf Regeltreue in der Anwendung des Verfahrens, auf die Qualität des Produkts bei anderen Gelegenheiten usw. (Auch der beste Hornist z. B. scheint nicht immer für die einwandfreie Ansprache seines Instruments garantieren zu können. Vielleicht, weil Bedingung (b) hier nicht erfüllt ist.) Das Indiz der Produkt-Qualität führt nur dann mit Sicherheit zur selben Bewertung wie diese ›anderen Indizien‹, wenn es ein Verfahren gibt, dessen korrekte Anwendung sicherstellt, daß das faktische Ergebnis der poiesis mit ihrem inhärenten telos übereinstimmt. Nur weil z. B. die Auto-Reparatur den Bedingungen (a) und (b) entspricht, können wir ihre Qualität an der Qualität des Ergebnisses ablesen und daher den Kfz-Mechaniker – näherhin: seine Kompetenz oder seine Bereitschaft – für die Qualität der Reparatur verantwortlich machen. Hätten nicht, unter identifizierbaren Umständen, bestimmte Handgriffe ebenso bestimmte Folgen, so gäbe es keine ›Regeln der Kunst‹, deren Befolgung man von einem guten Mechaniker erwarten könnte. Dem Mechaniker stehen Ersatzteile und Werkzeuge zur Verfügung, die nicht unberechenbar sind wie die Igel und die Flamingos, die man in Alice’s Adventures in Wonderland beim Croquet-Spiel einsetzt. Wäre solche Unberechenbarkeit im Bereich des menschlichen Umgangs mit mittelgroßen Körpern das Übliche, hätte also auf dieser Ebene der Indeterminismus recht6, so 6 Im gegenwärtigen Kontext ist es selbstverständlich unerheblich, ob die Erklärung unbe-
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gäbe es keine Techniken – keine Verfahrensregeln, deren Beachtung unter benennbaren und realisierbaren Umständen mehr oder weniger unfehlbar die Ergebnisse sicherstellte, die die jeweiligen Techniken inhärent finalisieren. Sofern unter solchen Voraussetzungen von einem Kfz-Mechaniker überhaupt die Rede sein könnte, läge es nicht an ihm, was er mit seinen Handgriffen bewirkte und ob dabei ein fahrtüchtiger PKW herauskäme. Zweifellos gehört die Möglichkeit, Produzenten für die Qualität ihrer Produkte verantwortlich zu machen, zur Rolle, die typisch poietische Begriffe in unserem Leben spielen. Insofern impliziert die Struktur dieser Begriffe einen zumindest regionalen Determinismus: die Annahme, daß Verfahrensweisen Ergebnisse bestimmen. Genau diese Voraussetzung scheint nun auf Erziehung nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße zuzutreffen. Erziehung kann zwar als poiesis gelten, insofern auch sie etwas zustandebringen soll, das begrifflich von seiner Hervorbringung unabhängig ist. Wie aber steht es bei der Erziehung um die Sicherheit, mit der Zustandekommen und Qualität des Ergebnisses durch Art und Qualität des hervorbringenden Tuns garantiert sind? Zwar setzen wir Wirkungszusammenhänge auch im Bereich der Erziehung voraus (2.1 (a)). Aber offenkundig sind wir nicht in der Lage, auch nur einigermaßen präzise und zugleich verläßliche Verfahrensregeln aufzustellen, die dem Erzieher sagen, was er zu tun hat, um den Heranwachsenden in diese oder jene Verfassung zu bringen.7 Die Wirkungszusammenhänge zwischen Erzieherverhalten und resultierender innerer Verfassung des Heranwachsenden sind uns gerade deutlich genug, um die Anwendung von Begriffspaaren wie Ein- und Auswirkung, Einfluß und Ergebnis, Ursache und Wirkung o.ä. zu rechtfertigen. Hingegen lassen sich hier, wenn überhaupt, nur wenige Gesetzmäßigkeiten formulieren, die einerseits zutreffen und andererseits spezifisch genug sind, um Vorhersagen zu erlauben oder auch nur interessant zu sein. Also läßt sich der Erziehung zwar ein telos poietischer Art, aber keine Technik zuordnen – keine Verfahrensregeln, deren Anwendung das Zustandekommen dieses telos sicherstellen könnte. Dazu müßte das Ergebnis der Erziehung durch deren Gestaltung gesetzmäßig determiniert sein; und es müßte sich, zumindest unter gewissen Bedingungen, auf der Basis solcher Gesetzmäßigkeit absehen lassen. Da dies nicht der Fall ist, kann man einen Erzieher für das Erziehungsergebnis und dessen Qualität allenfalls partiell verantwortlich machen. Die Unberechenbarkeit von Erziehungsergebnissen hat eine Reihe von Gründen. Als erstes fällt uns vermutlich die Tatsache ein, daß wir von relevanten psychologischen Gesetzmäßigkeiten wenig wissen. Welche Art von Seele rechenbarer Zusammenhänge vielleicht auf determinierte Vorgänge rekurrieren kann, die auf der Ebene der Elementarteilchen ablaufen. 7 Andernfalls hätte die Erziehungswissenschaft vermutlich mehr Ähnlichkeit mit dem ausdrücklich technologisch orientierten »idealen Modell«, das Brezinka 1975, insbes. S. 85– 90, entwirft.
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Teil III · Produktive Praxis
wodurch und auf welche Weise wozu bewegt wird, ist uns nur in Umrissen bekannt. Selbst wenn Bedingung (a) hier erfüllt sein sollte, gilt (b) doch nicht; und so sind wir von deterministischen Aussagen über die Auswirkung, die ein Eingriff erwarten läßt, im allgemeinen weit entfernt. Sodann geht (im Widerspruch zu (a)) all unser Umgang mit Menschen, auch schon mit Kindern, davon aus, daß in ihnen nicht eine rigide ›Seelen-Mechanik‹, sondern auch Freiheit am Werk ist. Schließlich lassen sich drittens im Falle der Erziehung ›Material‹ und Umstände der poiesis nicht in der Weise einem Standard unterwerfen, wie eine technische poiesis dies im Sinne von Bedingung (b) voraussetzt. Dieser dritte Grund dafür, daß sich Erziehungsergebnisse nicht vorhersehen lassen, gibt Anlaß zu Überlegungen, denen die restlichen Abschnitte dieses Kapitels gewidmet sind. Daß Erziehung weder mit ›standardisiertem Material‹ zu tun hat (10.3) noch ihren Einsatz auf vordefinierte Randbedingungen einschränkt (10.4), verleiht ihr eine Eigenart, die sie in gewissem Sinne mit dem Leben teilt: im Unterschied zur typischen poiesis ist sie mit ›grenzenloser‹ Verantwortung verbunden (10.5).
10.3
Das ›Material‹ der Erziehung wird nicht ihres telos wegen gewählt
Betrachten wir die Ausgangssituation einer jeden Erziehung. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß ein menschliches Wesen der Erziehung bedarf. Insoweit man diese als poiesis betrachtet, betrachtet man das unfertige menschliche Wesen als ihr Material. Was unterscheidet die durch dieses ›Material‹ charakterisierte Ausgangslage der Erziehung von der einer technischen poiesis? Im vorangehenden Abschnitt war schon davon die Rede, daß eine Technik sich das Material, auf das sie Anwendung finden soll, ›zurecht-definiert‹: ihre Verfahrensregeln garantieren nur für den Fall Erfolg, daß man sie auf Dinge oder Situationen anwendet, die bestimmte identifizierbare Merkmale aufweisen, und auf nichts anderes. Das Rezept für Tiramisu sieht – mehr oder weniger ausdrücklich – einwandfreie Zutaten vor; die Anweisung zur Verkittung des lecken Aquariums setzt – ausdrücklich – gereinigte, trockene Oberflächen ganz bestimmter Stoffe voraus. Eine Technik des Erziehens würde eine analoge Abgrenzung ihres ›Materials‹ voraussetzen. In der Erziehung gibt es aber (auch wenn Protagonisten der Eugenik hier ein begriffliches Umdenken propagieren) keinen Platz für die Unterscheidung zwischen ›geeignetem‹ und ›ungeeignetem Material‹. Kein Erzieher darf unter diesem Gesichtspunkt eine Auswahl treffen – um ausschließlich auf Kinder einzuwirken, die so konstituiert wären, wie ein ›erfolgversprechendes Verfahren‹ das ›verlangen‹ würde. Man könnte zwar sagen, immerhin beschränkten wir die Erziehung auf lernfähige menschliche Kinder. Eine solche ›Beschränkung‹ liegt jedoch im Begriff der Erziehung: wo es kein Lernen gibt, da gibt es auch kein Erziehen (2.1 (b)).
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Im übrigen hat die ›Beschränkung‹ erzieherischer Bemühungen auf Lernfähige weder das Ziel noch das Ergebnis, daß sich angestrebte Wirkungen hier vorhersehen lassen. Einer technischen poiesis also ähnelt Erziehung im Hinblick auf die Ausgangslage nicht. Wohl aber ähnelt sie in diesem Punkt dem menschlichen Leben. Das Leben nämlich besteht – so könnte man paradox formulieren – darin, daß man ›aus seinem Leben etwas macht‹. Das, woraus man hier – ob man will oder nicht – etwas ›macht‹, ist in jedem Augenblick vorgegeben. Von einer Wahl geeigneten Materials kann keine Rede sein. Zwar hat man jenes ›Woraus‹ vielleicht zuvor gewählt – es ist schließlich das, was man bisher aus sich, aus seinem Leben gemacht hat. Aber jetzt kann sich die Wahl eben nicht auf die Ausgangslage beziehen. Sie bezieht sich einzig darauf, was aus einem ›Material‹ wird, das seinerseits nicht mehr Gegenstand der Wahl ist. Nicht viel anders, als es jedem mit seiner jeweiligen Lebenslage geht, geht es dem Erzieher mit dem jeweiligen Ausgangspunkt seines erzieherischen Einsatzes. Eltern ist ein Kind in der Regel einfach dadurch anvertraut, daß sie es auf die Welt gebracht haben. Doch selbst wenn es sich nicht um die natürlichen Eltern handelt, wenn also, wie bei professionellen Erziehern oder Adoptiveltern so etwas möglich ist wie eine ›Wahl des Materials‹: selbst dann steht die Erziehung nicht im selben Verhältnis zu ihrem ›Material‹ wie eine technische poiesis. Für diese nämlich, so könnte man vereinfachend sagen, steht am Anfang der Zweck, für die Erziehung dagegen das ›Material‹: Der Techniker geht davon aus, daß sein ergon erforderlich ist, um bestimmte Zwecke zu erfüllen. Um dieser Zwecke willen wird das ergon seinerseits bezweckt. Und nur, um es auf dem Weg der ›zuständigen‹ poiesis hervorbringen zu können, sucht sich der Techniker geeignetes Material aus. Anders der Erzieher: Er geht nicht von irgendwelchen Zwecken aus, zu denen man wohlerzogene Menschen benötigen würde. Und er fragt nicht, welcher Art Säuglinge (oder Embryonen?) für die entsprechende ›Bearbeitung‹ – für das Heranbilden zu wohlerzogenen Menschen – am besten geeignet seien. Nicht der Bedarf an Menschen einer bestimmten Qualität ruft den Erzieher auf den Plan, der dann im Hinblick auf diesen Bedarf Individuen auswählen würde, die er durch erzieherische Eingriffe mit der erforderlichen Qualität ausstatten könnte. Vielmehr sind es Individuen – die ›real existierenden‹ Babies, Kinder, Jugendlichen – deren Existenz Erziehung nötig macht. Von diesen Individuen und ihrer erziehungsbedürftigen Verfassung, nicht von ›unserem‹ Bedarf, geht der Anspruch aus, dem Erziehung entspricht. Insofern ist das Dasein jedes einzelnen Heranwachsenden für den Erzieher, im Hinblick auf seine Aufgabe, jeweils Vorgabe – ganz ähnlich, wie für einen jeden das bisher gelebte eigene Leben, im Hinblick auf das ihm noch aufgegebene Leben, Vorgabe ist. Freilich ist diese Vorgabe in beiden Fällen, wie bei jeder beliebigen poiesis auch, auf ein telos bezogen, an dem das Tun des Subjekts gemessen werden kann. Das Erziehen läßt sich danach bewerten, ob der Erzogene einen guten
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Charakter ausgebildet hat, das Leben danach, ob es gelingt. Doch ist das telos, anders als bei einer typischen poiesis, von vornherein individualisiert. Es besteht nicht einfach in einem Gut dieser oder jener Art. Vielmehr geht in seine Bestimmung von vornherein der Bezug auf ein konkretes Individuum ein, ohne dessen Existenz das telos gar nicht möglich und also auch nicht aufgegeben wäre. Im Fall der Erziehung bringt das Dasein jedes einzelnen Kindes das telos der Charakterbildung mit sich. Im Fall des Lebens ist es mein eigenes Dasein, das mir das telos des guten Lebens ›aufnötigt‹.8 Konkretion resultiert hier also nicht erst aus dem Einsatz des konkreten ›Materials‹; vielmehr ist das jeweilige telos selbst bereits konkret: Um des Erzogen-Seins dieses oder jenes Menschen willen wird erzogen – nicht: damit jemand erzogen ist. Und mein Handeln ist auf mein gutes Leben hingeordnet – sein telos besteht nicht darin, daß jemand gut lebt. Die Frage nach einem geeigneten Ausgangspunkt – nach dem ›richtigen Material‹ für die Verwirklichung des telos – stellt sich also im Fall der Erziehung ebenso wenig wie im Fall des Lebens (oder einer sonstigen praxis!). Für alternative Ausgangspunkte gibt es in beiden Zusammenhängen – anders als bei der typischen poiesis mit ihrem nicht-individualisierten telos – aus begrifflichen Gründen keinen Platz. Wo eine Art von Produkt mein telos ausmacht, da ist auch lediglich eine Art von Material erforderlich, die sich entsprechend bearbeiten läßt. Das konkrete Material ist grundsätzlich im Blick auf seine Eignung wählbar und im übrigen austauschbar. Um eine Tiramisu zu erhalten, wählt man Eier, die frisch sind; im übrigen tut es das eine so gut wie jedes andere Ei. Denn die Initiative des Kochs resultiert nicht aus dem Dasein konkreter Eier, die nach Verarbeitung zur Tiramisu verlangen. Sie kommt vielmehr dadurch zustande, daß er oder sonstwer 8 ›Aufnötigt‹, insofern diese eupraxia Maßstäbe mit sich bringt, nach denen mein Leben unabhängig davon bewertbar ist, ob ich die eupraxia intendiere. Ähnlich ist für den Heranwachsenden die gute charakterliche Verfassung ein telos, das als solches weder von ihm selbst noch vom Erzieher frei gewählt, sondern mit der Idee des menschlichen Gedeihens und letztlich mit dem Menschsein des Heranwachsenden gegeben ist (6.3). In der pädagogischen Tradition ist dieser poiesis-kritische Gedanke verbreitet – wenn auch meist, wie bei Theodor Litt, unter intentionalistischem Vorzeichen: »Was macht das Tun des Erziehers demjenigen des Künstlers vergleichbar? Beide haben, allgemein gesprochen, einen ›Stoff‹ vor sich, den sie ›bearbeiten‹ mit der Absicht, ihm eine gewisse ›Form‹ zu geben. [...] Der Marmorblock, die Leinwand [...] – alles dies [...] enthält in seiner gegebenen Beschaffenheit keinen Hinweis auf die Form, die durch die künstlerische Tat an und in ihm sich realisieren wird [...] Wie steht es aber auf der Seite des pädagogischen Handelns? [...] die Form, zu der das pädagogische Objekt durch das erzieherische Wirken geführt werden soll, wird nicht unabhängig von dessen realer Beschaffenheit rein von außen her bestimmt, sondern sie muß in ihm selbst zwar nicht gegeben, aber doch angelegt sein« (Das Wesen des pädagogischen Denkens, Litt 1965, S. 86 f.). Im Fall der Erziehung findet »der Zweckgedanke seine Ansatzpunkte in dem ›Material‹ selbst schon vor, und damit stellt sich, gleichsam über den Kopf jeder denkbaren vermittelnden Theorie hinweg, eine innere Verbindung her zwischen dem Zweckgedanken im Subjekt und den Zweckgerichtetheiten im Objekt« (S. 94 f.).
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etwas haben will, das die Merkmale einer Tiramisu aufweist. Dieses allgemeine telos nimmt auf kein Individuum Bezug. Der Koch kann (und sollte) daher zur Verarbeitung Eier wählen, die als Material für sein Vorhaben geeignet sind. Für eine Wahl dieser Art läßt Erziehung insofern keinen Platz, als die Initiative des Erziehers nicht auf einem allgemeinen telos beruht, sondern darauf, daß konkrete Kinder da sind, die gute Menschen werden sollen9. Das ›Material‹ des Erziehers ist also – anders als das des Technikers – nicht wählbar und nicht austauschbar, da es dem erzieherischen telos vorausliegt. Hiermit hängen drei weitere Merkmale der Erziehung zusammen, die ich wenigstens erwähnen will: a) Während man im Bereich der typischen poiesis probieren und üben kann, gibt es Erziehung – wie das Leben – immer nur als ›Ernstfall‹. b) Die Möglichkeit, den Mißerfolg einer typisch poietischen Bemühung dadurch zu kompensieren, daß der Versuch wiederholt wird und gelingt, findet höchstens eine unvollkommene Analogie im Bereich der Erziehung (die auch hierin dem Leben gleicht). c) Schließlich noch eine Konsequenz aus der Tatsache, daß die Notwendigkeit, ein Kind zu erziehen, aus der Existenz des erziehungsbedürftigen Kindes resultiert: Der Erzieher ›darf nicht aufgeben‹. Genauer gesagt: Man kann durchaus ein guter Schreiner sein, wenn man die Bemühung um ein Material, das sich als widerspenstig erwiesen hat, aufgibt (vielleicht, um das Ziel der Bemühung nun an geeigneterem Material zu verfolgen). Ein guter Erzieher hingegen kann man unter vergleichbaren Umständen nicht sein. Denn solange ein Heranwachsender überhaupt fähig ist zu lernen, ist es seine Erziehungsbedürftigkeit, die das telos des Erziehens vorgibt.10 Ich habe jetzt dargetan, inwiefern Erziehung im Hinblick auf ihre Vorgaben der praxis des Lebens eher gleicht als einer technischen poiesis. Vorgegeben ist ihr der einzelne erziehungsbedürftige Mensch. Vorgegeben und nicht wählbar ist insofern ihr ›Material‹. Schon deshalb ist mit einem Erziehungsverfahren nicht zu rechnen. Erziehung läßt kein Rezept zu. Ein Rezept nämlich müßte beginnen: ›Man nehme ...‹. Solches Nehmen ist nicht möglich, wo vorgegeben ist, wer erzogen werden soll. Als nächstes ist zu zeigen, inwiefern nicht nur das vorgegebene ›Material‹, sondern auch die Umstände oder Randbedingungen des Erziehens dafür sorgen, daß Erziehung nicht als Technik denkbar ist. 9 Das ›sollen‹ spiegelt hier die Notwendigkeit der Erfordernisse menschlichen Gedeihens wider – eine Notwendigkeit, die nach 6.3 (c-d) mit der Teleologie des Begriffes Leben gegeben ist. 10 Vor dem Hintergrund einer solchen Konzeption – die Existenz des konkreten Individuums ist Vorgabe jeder es betreffenden Finalität – läßt sich übrigens ermessen, wie radikal eugenische Projekte sein können. Gründliche Formen der Eugenik greifen in der Tat die Wurzeln unseres Selbstverständnisses an. Aus ihrer Perspektive ist die Existenz des einzelnen Menschen nicht mehr vorgegebener Ausgangs- und Angelpunkt allen Umgangs mit ihm. Vielmehr soll diese Existenz bereits Resultat einer poiesis mit einem telos sein, das im oben erläuterten Sinne allgemein ist; Resultat eines Handelns, dessen Zwecke (wie immer ›wir‹ diese definieren) die Kriterien dafür liefern, daß bzw. ob dieser einzelne überhaupt erwünscht und brauchbar ist. Vgl. Müller 2002 a.
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10.4
Teil III · Produktive Praxis
Erzieherische Verantwortung wird nicht durch vorgegebene Umstände begrenzt
In der Idee einer Technik sind Randbedingungen für den Erfolg der jeweiligen poiesis mehr oder weniger festgelegt oder jedenfalls eingegrenzt. Den Fall z. B., daß in der Küche ein Feuer ausbricht oder daß ein Schlingel den Zucker entwendet oder mit Petersilie und Sand vermischt, während man ins Kochbuch schaut: einen solchen Fall sieht dieses Kochbuch nicht vor. Wer eine Tiramisu zubereitet, weiß, daß das Ergebnis nur berechenbar ist, solange die Umstände ›normal‹ sind – solange endlos viele störende Eventualitäten nicht ›dazwischenkommen‹. Erziehung dagegen kennt keine abgrenzbaren Standard-Bedingungen in diesem Sinne. Standard-Bedingungen sind im Fall einer Technik vorausgesetzt: Um in ihr kompetent zu sein, muß man nicht unbedingt imstande sein, fehlende Bedingungen selbst erst zu schaffen oder beliebigen Störungen zum Trotz ein gutes Ergebnis herbeizuführen. Und in dem Maß, in dem man dennoch vom Koch so etwas wie Geschick im Umgang mit unvorhersehbaren Eventualitäten verlangt, überschreitet diese Forderung die rein fachlich-technische Qualifikation. (Verderben Störungen das Ergebnis, so beweist dies beim Koch vielleicht einen Mangel an Flexibilität, aber nicht an Kochkunst.) Dagegen hat schon die Unterscheidung zwischen ›normalen‹ Umständen und ›störenden‹ Einflüssen im Kontext der Erziehung keinen klaren Sinn. Der Umgang mit ungünstigen Einflüssen, die sich nicht vorhersehen und deren sich unendlich viele denken lassen, ist vielmehr das tägliche Brot der Erziehung, Teil ihrer Substanz. Um es vereinfacht zu sagen: Was für den Koch eine außerplanmäßige Eventualität ist, die er ausschließen darf und nicht einkalkulieren muß, das gehört für den Erzieher zur unendlichen Vielfalt ›zulässiger‹ Bedingungen, auf die er als Erzieher gefaßt sein muß. Man könnte dieser Gegenüberstellung mit dem Hinweis begegnen, es sei durchaus Sache einer Technik, sicherzustellen, daß die vorgesehenen Randbedingungen erfüllt sind. – Das mag sein. Am Unterschied zwischen technischer poiesis und Erziehung ändert es jedoch nichts. Nehmen wir z. B. an, der Koch könne hier und jetzt nicht ausschließen, daß Eventualitäten seine Produktion beeinträchtigen. Dann muß man ihm entweder zugestehen, daß er das Kochen unterläßt, oder man darf ihm das mißlungene Ergebnis nicht anlasten – zumindest nicht ihm als Koch. Ein hauptverantwortlicher Erzieher dagegen kann nicht sagen: ›Die erforderlichen Randbedingungen sind nicht gegeben; ich werde daher auf das Erziehen verzichten oder aber für das Ergebnis nicht verantwortlich sein.‹ Denn die Unterlassung guter Einwirkung ist in seinem Fall nicht ›Verzicht auf Erziehung‹, sondern schlechte Erziehung (vgl. 4.8). Und Standard-Bedingungen gibt es hier gar nicht. Allenfalls sind ›erforderliche Randbedingungen‹
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insofern vorausgesetzt, als ohne die Möglichkeit kontinuierlicher Interaktion zwischen A und B von Erziehung nicht die Rede sein kann; nicht aber im Sinne eines Ausschlusses von Störungen und ungünstigen Einflüssen. Die Vermeidung einer ungünstigen Umgebung ist nicht Voraussetzung, sondern Aufgabe der Erziehung. Und wo sie nicht gelingt, ist es immer noch Sache der Erziehung, mit dem ungünstigen Einfluß, soweit möglich, zum Wohl des Heranwachsenden umzugehen. Auch darin gleicht die Erziehung dem Leben selbst. Auf welche StandardBedingungen sollte eine ›Lebenstechnik‹ Bezug nehmen? Das Leben muß man ›nehmen, wie es kommt‹. Gewiß gibt es innerhalb jeder Kultur mehr und weniger gängige bzw. voraussehbare Lebensumstände. Aber zur Bewältigung des Lebens gehört die Bewältigung aller Umstände, die faktisch eintreten – vom unerwarteten Glücksfall bis zu den schlimmsten Widrigkeiten, Katastrophen und Enttäuschungen. Ob man ein gutes oder schlechtes Leben führt, bemißt sich nicht daran, ob man unter Standard-Bedingungen – und welche sollten dies sein? – das Richtige tut oder nicht. Wo man Randbedingungen wählen kann, ist – anders als im Fall einer technischen poiesis – diese Wahl bereits Teil der ›Sache selbst‹: zum guten Leben gehört auch die Wahl der rechten Lebensumstände. Und wo es nichts zu wählen gibt, entbindet dies nicht von der Notwendigkeit, unter den unvermeidbaren, gegebenen Umständen, wie immer die aussehen mögen, das Leben zu bestehen. Kann man aber nicht auf das Leben verzichten? Gewiß, man kann sich umbringen, weil man eingetretene Lebensumstände, denen man sich nicht gewachsen fühlt, als ›Störung‹ einstuft. Das ist aber nicht mit der Entscheidung des Kochs zu vergleichen, seine Technik nicht zu praktizieren, weil die Küche in Flammen steht. Erstens nämlich ist (bis zum Eintritt des Todes) unter keinen Umständen ein Weiterleben in dem Sinne unmöglich, in dem sich die Kochkunst unter gewissen Umständen einfach nicht ausüben läßt. Und zweitens ist auch Selbsttötung noch Lebensvollzug, Umgang mit gegebenen Umständen. Die Bedingungen für die Ausübung einer Technik liegen sozusagen diesseits ihrer spezifischen Aufgabe. (›Möge doch erst einmal eine andere poiesis oder der Zufall die angemessenen Umstände schaffen. Wo die nicht gegeben sind, kann mein Verfahren nicht angreifen.‹) ›Diesseits des Lebens‹ aber gibt es keine poiesis, die für dieses Leben die ›richtigen Umstände‹ bereitstellen könnte.11 Das Leben bildet den Horizont, innerhalb dessen Umstände hingenommen oder durch poiesis verändert werden. Jeder beliebige Umstand gehört zu den ›Lebensbedingungen‹, solange er das Dasein nicht physisch ausschließt. Und jede Änderung der Umstände ist selbst zugleich Lebensvollzug. Daher kann man beim Kochen, bei der Reparatur eines Fahrzeugs, beim Klavierspiel gestört werden – aber nicht beim Leben. Lebensumstände sind Bedingungen, deren Schaf11 Oder ist gentechnische Menschenerzeugung eine solche poiesis? Vgl. zu dieser Frage Müller 2002 a. Auch wenn man die Frage bejaht, ist die fragliche Produktion doch Teil des menschlichen Lebens überhaupt.
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Teil III · Produktive Praxis
fung bzw. Veränderung dem Leben selbst aufgegeben ist – überall da, wo ihm nicht ein freundliches Schicksal diese Arbeit abnimmt. In all dem gleicht das Erziehen dem Leben, nicht der Ausübung einer Technik: keine Standard-Bedingungen, die vorausgesetzt werden könnten; keine Aussicht, angesichts ungünstiger Umstände der Zuständigkeit enthoben zu sein; keine Entlastung durch den Hinweis auf störende Einflüsse. Vereinfachend könnte man sagen: Umstände können eine typische poiesis verhindern; für die Erziehung – wie für das Leben – können sie allenfalls gesteigerte Anforderungen bedeuten.
10.5
Die Verantwortlichkeit des Erziehers ist unbegrenzt und unbestimmt
Angesichts der unter 10.2 bis 10.4 angestellten Beobachtungen unterscheidet sich Erziehung von einer technischen poiesis dadurch, daß sie nicht wie diese mit Standard-Materialien und unter Standard-Bedingungen arbeitet. Der Erzieher kann sich für seine Aufgabe weder Kinder noch Umstände unter dem Gesichtspunkt der ›Brauchbarkeit‹ auswählen. Heißt das auch: Während dem Koch, der ohne die nötigen Zutaten oder unter beeinträchtigenden Umständen arbeitet, das mißratene Ergebnis nicht angelastet wird, liegt im Fall der Erziehung – wie bei der Lebensführung – die Verantwortung für das Gelingen auch dann beim Subjekt, wenn Ausgangslage und Umstände ungünstig sind? Die Frage, welche Konsequenzen die Art der Bedingungen, unter denen jemand sein Leben führen muß, auf das Urteil über ihn hat oder haben sollte, werde ich hier nicht erörtern. Im Hinblick auf die Erziehung muß eine differenzierte Antwort auf die gestellte Frage wohl etwa so aussehen. a) Zwar wissen wir im Blick auf die ethische Entwicklung eines Kindes kaum etwas von Wirkungen, die mit unfehlbarer Gewißheit aus Anlage und jeweiliger Verfassung des Kindes oder aus Einflüssen der Umgebung resultieren. Dennoch gehen wir mit Sicherheit davon aus, daß Kinder unterschiedlich ›schwer erziehbar‹ sind und daß Außeneinflüsse und sonstige Umstände die Aufgabe des Erziehers erleichtern oder erschweren können. b) Zugleich jedoch ist der Erzieher da, wo das Kind überhaupt in der Lage ist zu lernen, von seiner Aufgabe durch keinerlei Verantwortungsgrenzen entbunden: es gibt keine Standard-Bedingungen im Sinne von 10.2 (a), die solche Grenzen ziehen würden. Anders als für den Techniker sind für den Erzieher Schwierigkeiten kein Grund, ›es mit geeigneterem Material zu versuchen‹ oder, wo er ungünstige ›Randbedingungen‹ nicht ändern kann, sich von der Verantwortung für das Erziehungsergebnis schlicht freizusprechen. Schwierigkeiten zu bewältigen, die der Erreichung des Erziehungsziels im Weg stehen, ist eine Aufgabe, die – soweit sie überhaupt erfüllbar ist – ihren Platz nicht im Vorfeld, sondern innerhalb der Erziehung hat.
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c) Diese Feststellung muß präzisiert werden. Denn wo z. B. die Schwierigkeiten in einem Mangel an Gesundheit wurzeln, ist es durchaus Sache der Medizin bzw. der Therapie, nach Möglichkeit ›im Vorfeld der Erziehung‹ Abhilfe zu schaffen. Doch ist die umfassende Zuständigkeit der Erziehung damit nicht aufgehoben. Nicht nur hat der Erzieher möglichst die nötige Behandlung zu veranlassen. Noch wichtiger: wo medizinische bzw. therapeutische Hilfe nicht verfügbar oder nicht erfolgreich ist, stellt A’s Krankheit B vor eine erzieherische Aufgabe: B muß als Erzieher auf die krankheitsbedingten Schwierigkeiten so eingehen, daß ihnen zum Trotz und im Umgang mit ihnen A, soweit möglich, Qualitäten wie Selbstbewußtsein, Lebensfreude, Tapferkeit usw. entwickelt. In der Erziehung muß man, wie im Leben, ›auf alles gefaßt sein‹. d) Unterschiedliche Bedingungen in der Verfassung des Heranwachsenden und in den Umständen stellen demnach unterschiedliche Anforderungen an den Erzieher. Strukturell gesehen ist das, wie wenn unterschiedliche Klavierstücke unterschiedliche Anforderungen an den Pianisten stellen. Erlaubt man den Vergleich, so sind Schwierigkeiten für die Erfüllung der Erziehungsaufgabe mit den besonders schwierigen Stellen eines virtuosen Klavierstücks zu vergleichen (für deren Bewältigung wir den Pianisten verantwortlich machen), nicht mit den Schwierigkeiten, die daraus resultieren, daß eine Saite des Flügels gerissen ist oder beim Open-air-Festival die Noten wegfliegen (Schwierigkeiten, für deren Bewältigung wir nicht den Pianisten verantwortlich machen). Schwierigkeiten der zweiten Art scheint im Fall der Erziehung nichts zu entsprechen. Und insofern ist die Verantwortung des Erziehers ›unbegrenzt‹: sie erstreckt sich auch auf die Bewältigung von Ausgangs- und Randbedingungen, die der Erreichung des Erziehungsziels im Weg stehen. e) Andererseits gehen wir im Fall einer Technik wie der des Klavierspiels davon aus, daß (ein bestimmter Grad an) Perfektion des Ergebnisses durch Einsatz entsprechender Qualifikation gesichert ist. Analoges setzen wir für den Fall der Erziehung nicht voraus. Im Gegenteil, wir rechnen damit, daß – unabhängig von der Qualität der Ausgangs- und Randbedingungen – ein Erreichen des Erziehungsziels durch noch so gesteigerte Qualität des erzieherischen Einsatzes nicht sicherzustellen ist. Und insofern ist die Verantwortung des Erziehers durchaus begrenzt (wenn auch von völlig unscharfen Grenzen): sie erstreckt sich zwar auf die Bewältigung beliebiger ›Schwierigkeitsgrade‹, nicht aber in dem Sinn, daß wir ihn ohne Einschränkung für das Erziehungsergebnis verantwortlich machen könnten – wie wir den Pianisten ohne Einschränkung für die Qualität seines Spiels verantwortlich machen, solange er lediglich mit schwierigen Stellen und Problemen der Interpretation zu kämpfen hat, nicht jedoch mit gerissenen Saiten, fliegenden Blättern und sonstigen Schwierigkeiten außerhalb des Bereiches seiner ›Zuständigkeit‹. Beim Techniker, so könnte man sagen, ist der Bereich seiner Verantwortung im Sinne der Zuständigkeit begrenzt; doch innerhalb dieser Grenzen der
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Zuständigkeit ist er für die Qualität des Ergebnisses ganz und gar verantwortlich. Beim Erzieher hingegen ist es gewissermaßen umgekehrt: Der Bereich seiner Verantwortung im Sinne der Zuständigkeit ist quasi unbegrenzt; doch ergibt sich aus der Zuständigkeit keine eindeutige Verantwortung für das Erziehungsergebnis. f) Nur wenn normalerweise das freiwillige Erzieher-Verhalten unter angebbaren Ausgangs- und Randbedingungen die Qualität des Erziehungsergebnisses berechenbar determinierte, könnte man den Erzieher für das Erziehungsergebnis uneingeschränkt verantwortlich machen. Von einem solchen Determinismus sind wir aber aus verschiedenen, zum Teil bereits genannten Gründen weit entfernt (10.2): Die endlose Vielzahl und Vielgestaltigkeit der Ausgangs- und Randbedingungen können wir nur sehr allgemein umschreiben. Ihre Relevanz ist uns lediglich in Umrissen bekannt. Ähnliches gilt für das Erzieher-Verhalten selbst. Auch das Erziehungsergebnis läßt sich nur annäherungsweise erkennen und nur vage beschreiben, zumal Charaktereigenschaften in Graden auftreten und außerdem Merkmale darstellen, die sich nicht isoliert voneinander identifizieren lassen (vgl. 6.6). Es gibt kein ›Parallelogramm der Kräfte‹, das uns helfen könnte, die Verursachung eines Erziehungsergebnisses ›in Komponenten zu zerlegen‹, so daß wir sagen könnten, welche Aspekte des Ergebnisses auf welche Aspekte der bedingenden Faktoren, des Erzieher-Verhaltens und der Initiative des Heranwachsenden zurückzuführen wären. Überhaupt wissen wir von relevanten psychologischen Gesetzmäßigkeiten wenig. g) Manche Erziehungswissenschaftler scheinen zu meinen, von erzieherischer Kausalität könne angesichts dieser Situation überhaupt keine Rede sein.12 Das geht zu weit. Fordere ich einen Menschen auf, gegen Bezahlung einen Stein zu werfen, ist es zwar ungewiß, ob er der Aufforderung folgen wird. Aber wenn er kurz nach meiner Aufforderung einen Stein wirft und anschließend die in Aussicht gestellte Bezahlung verlangt, wird das Gericht mit Recht davon ausgehen, daß meine Aufforderung eine Ursache des Geschehens ist; und für die Folgen bin ich (mit-)verantwortlich. Wären wir hier nicht berechtigt, von Kausalität zu sprechen, unter welchen Umständen wären wir dann dazu berechtigt? – Ebenso müssen uns die soeben unter (f) angeführten Unbestimmtheiten nicht an dem Anspruch hindern, auch im Hinblick auf konkrete Erziehungsverhältnisse um einzelne kausale Zusammenhänge zu wissen. Kann aber unter indeterministischen Voraussetzungen überhaupt von einem Erziehungsergebnis gesprochen werden? Nun, wir sprechen auch bei stochasti12 So stellt Oelkers (1985, S. 213) »die Frage, ob die Wirkkausalität in der Pädagogik überhaupt angemessen ist. Die Diskussion von ›teaching‹ zeigt eine eindeutige Präferenz für eine handlungstheoretische Sichtweise. Aber kann man hier von Kausalität sprechen? Der Handelnde, so scheint es, ›verursacht‹ seine Handlungen; aber auch die Wirkungen bei anderen?«
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schen Vorgängen von ›Ergebnissen‹, sogar bei Glücksspielen (ein Vergleich, der vermutlich ohnehin manchem Erzieher wie aus der Seele gesprochen ist). Erziehung ist zwar keine typische poiesis, sie weist aber Charakteristika einer poiesis auf, und dazu gehören kausale Bezüge. Wollte man nicht von Erziehungsergebnissen und ihrer Verursachung sprechen, so könnte auch von Erziehung nicht die Rede sein. (Und Ausdrücke wie Unterweisung und Sozialisation hätten vermutlich aus analogen Gründen keine legitime Anwendung.) h) Aus all dem ergibt sich folgende Antwort auf die Frage, wie sich die Tatsache, daß Ausgangs- und Randbedingungen der Erziehung nicht standardisierbar sind, auf den Umfang erzieherischer Verantwortung auswirkt: Diese Verantwortung ist zwar begrenzt. Indessen resultiert die Begrenzung nicht daraus, daß gewisse Ausgangsbedingungen und Umständen mangels ›Eignung‹ oder ›Brauchbarkeit‹ gar nicht in den Zuständigkeitsbereich der Erziehung fielen. In dieser Hinsicht ist die Verantwortung des Erziehers, wie unter (e) bemerkt, gerade unbegrenzt.13 Hier gibt es lediglich innerhalb der Erziehungsaufgabe größere und geringere Schwierigkeiten; und ihre Bewältigung verdient (soweit sie sich feststellen läßt) ein entsprechendes Maß an Anerkennung. Begrenzt ist die Verantwortung für das Ergebnis der Erziehung. Diese Begrenzung ergibt sich nicht aus Grenzen der Zuständigkeit, sondern daraus, daß wir das Zustandekommen eines Erziehungsergebnisses aus dem Zusammenwirken des Verhaltens von A und von B mit den Bedingungen von A’s Anlage und Verfassung unter gegebenen äußeren Einflüssen und Umständen nicht deterministisch erklären oder gar beschreiben können. j) Aus der indeterministischen Begrenzung erzieherischer Verantwortung ergeben sich Konsequenzen für die Weise, wie wir Erziehung bewerten (siehe 5.6). In einer primären Form der Bewertung bezeichnen wir B’s Umgang mit A bei gutem Ergebnis als gute, bei schlechtem Ergebnis als schlechte Erziehung. Damit haben wir die Erziehung als poiesis bewertet. Doch haben wir sie aufgrund von Auswirkungen beurteilt, die nicht, wie es bei einer typischen poiesis
13 Das haben große Pädagogen immer gewußt oder jedenfalls geahnt. Es ist impliziert in Kants hyperbolischer Bemerkung über den Menschen: »Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (1981 b, S. 699). Da man allerdings kaum je adäquat artikuliert hat, was genau die Behauptung umfassender oder unbegrenzter erzieherischer Zuständigkeit behauptet, hat man die Behauptung mißverstanden und zurückgewiesen. »›Ganzheit‹ ist eine Verlegenheit, die die Erziehung mit Überreichweiten versieht, die angesichts der Knappheitserfahrungen der Praxis grotesk anmuten. Die Gesamtzuständigkeit für ›das‹ Kind oder ›den‹ Menschen ist eine historische Selbstzumutung, die außer der eigenen Rhetorik keine Wirklichkeit für sich hat. Erziehung hat daher kein Gesamtdefizit zur Voraussetzung« (Oelkers 2001, S. 256). Genau deshalb, weil Erziehung tatsächlich kein Gesamtdefizit zur Voraussetzung hat, sondern lediglich keine ethisch relevante Bedürfnislage von vornherein aus ihrem Verantwortungsbereich verbannt, ist so etwas wie erzieherische ›Gesamtzuständigkeit‹ oder unbegrenzte Verantwortung sinnvoll und zumutbar.
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der Fall wäre, B’s Kontrolle schlechthin unterworfen sind. Wollen wir dies vermeiden, so praktizieren wir eine alternative, sekundäre Form der Bewertung (5.6 (b)), die nicht auf das konkrete Ergebnis Bezug nimmt. Taugt die Wiedergabe der Sonate nicht, so hat der Pianist schlecht gespielt; wir machen ihn für das schlechte Ergebnis verantwortlich – sofern es nicht an fliegenden Blättern und gerissenen Saiten liegt. Taugt der PKW nach erfolgter Reparatur nicht zum Fahren, war nicht nur die Reparatur nicht gut, sondern der Mechaniker hat schlecht repariert; das Ergebnis lag in seiner Hand, er ist dafür verantwortlich. Taugt hingegen nach erfolgter Erziehung A’s Charakter nicht, so war zwar in einem offenkundigen Sinne die Erziehung schlecht; wir können sagen, B habe A schlecht erzogen. Diese Beurteilung impliziert hier aber nicht, daß der Erzieher das Ergebnis zu verantworten hat. Solche Verantwortung dürfen wir nur zuschreiben, wo nach menschlichem Ermessen feststeht: B’s (freiwilliges) Verhalten war, in Verbindung mit den übrigen Bedingungen und Einflußfaktoren, Ursache für A’s schlechten Charakter; ein anderes Verhalten mit besserem Ergebnis wäre ihm möglich gewesen; und dies konnte und sollte B bekannt sein. So etwas wird jedoch im allgemeinen allenfalls vermutbar sein, nicht aber feststellbar (vgl. (f)). Faktisch lassen wir gerade in solchen Fällen die Frage der Verantwortung für das Erziehungsergebnis weitgehend offen. Es dürfte aber klar geworden sein, daß diese Frage sich auch dann nur vage und mit Vorbehalt beantworten läßt, wenn das Ergebnis so erfreulich ist, daß es den Erzieher nicht in Verlegenheit bringen muß! Im übrigen werden wir im nächsten Kapitel (11.5) sehen, daß nicht nur unser Mangel an Ursachwissen, sondern auch die Ausrichtung der Erziehung auf A’s gutes Handeln eine deterministische Konzeption erzieherischer Verantwortung ausschließt.
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Das Kind als Subjekt We don’t need no education, we don’t need no thought control. Pink Floyd He had catched a great cold, had he had no other clothes to wear than the skin of a bear not yet killed. Thomas Fuller, History of the Worthies of England
Das vorangehende Kapitel zeigt, daß ein poietisches Verständnis der Erziehung nur in gewissen Grenzen möglich ist. In diesem Kapitel geht es um die Frage, wie sich ein solches Verständnis mit dem Subjekt-Sein des Heranwachsenden vereinbaren läßt. Wie verhalten sich Initiative des Erziehers und Initiative des
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Heranwachsenden zueinander? Kann Erziehung poiesis sein, wenn sie Interaktion ist? Der Mensch ist ein Lebewesen, dessen Lebensform sich durch Freiheit des Handelns auszeichnet und das, wenn es nicht durch Schädigung, Krankheit oder Tod daran gehindert wird, ziemlich früh – kaum, daß die Erziehung eingesetzt hat – mit solchem Handeln beginnt. Ist die Anerkennung solcher Freiheit damit vereinbar, daß man auf die Art ihrer Realisierung durch Erziehung Einfluß nimmt? Noch vor aller Analyse regt sich Unbehagen bei dem Gedanken, ein Subjekt – ein Wesen, das ›sich selbst bestimmt‹ und insbesondere durch Handeln seinen Charakter selbst gestaltet – dürfe und solle in ebendiesem Charakter durch andere bestimmt und gestaltet werden (vgl. 3.2). Ein Ausweg aus dieser Bedenklichkeit scheint darin zu liegen, das Wirken des Erziehers auf ein Arrangieren von Umständen zu beschränken, unter denen das Kind ›von selbst‹ auf erwünschte Weisen des Handelns verfällt. Da dieser Ausweg sich als nicht gangbar erweist (11.1–2), sind wir um so deutlicher auf die Frage zurückgeworfen, wie sich denn die Idee der Erziehung als charakterbestimmender poiesis vereinbaren läßt mit Respekt vor der Selbstzwecklichkeit und der Selbstbestimmung, die zur menschlichen Würde auch eines Kindes gehören. Ich antworte zunächst einmal, daß es dem Erzieher weder erlaubt noch möglich ist, das Wollen des Kindes als Vorgabe oder Maßstab zu behandeln (11.3); und daß nicht jede Einflußnahme auf den Willen eines anderen der Ehrfurcht vor dessen eigenständiger Rationalität widerstreitet (11.4). Freilich ergeben sich aus dem Subjekt-Sein des Kindes Anforderungen an die Erziehung: Weil das kindliche Dasein den Charakter eines Selbstzwecks hat, ist keine Phase des Heranwachsens nur Station auf dem Weg (11.5). Und Verhaltensweisen, in denen sich der Charakter eines Menschen manifestiert, können sich nicht schlechthin der poiesis eines anderen verdanken; vielmehr ist Charakterbildung immer auch Tun des Menschen, dessen Charakter sich bildet (11.6–7). Andererseits schließt die Freiheit dieses Handelns seine Bedingtheit nicht aus (11.8). Und Erziehung ist nicht bloß ermöglichende, sondern richtung-gebende Bedingung (11.9).
11.1
Erziehung kann sich ihrem Begriff nach nicht im bloßen Arrangieren wirksamer Umstände vollziehen
Was ich hier ›Arrangieren‹ nenne, wurde tatsächlich von einem berühmten Philosophen und Theoretiker der Pädagogik mit Erziehung verwechselt oder wenigstens als deren zentraler Bestandteil angepriesen. Es besteht in dem Bemühen, die Ziel-Verfassung des Heranwachsenden durch gezielte Gestaltung und Disponierung seiner Lebensumstände und Erlebnis-Situationen zu erreichen bzw. zu fördern: B führt Bedingungen herbei, die A zum Lernen und zum Modifizieren seines Verhaltens veranlassen sollen.
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Ein solches Vorgehen setzt vielleicht anfänglich auf Konditionierung. Aber das gilt ja auch – und vielleicht noch stärker – vom Frühstadium konventioneller Erziehung (16.3). Später appelliert das Arrangement durchaus an Beweggründe: die von B arrangierten Bedingungen liefern A Motive, jetzt oder künftig dies zu tun und jenes zu unterlassen. Warum sollte ein solches Vorgehen nicht durch Habitualisierung entsprechender motivationaler Strukturen im Lauf der Zeit zur Bildung von A’s Charakter beitragen – und zwar ohne daß B, durch das Arrangement oder sonstwie, A’s Freiheit unter Druck setzt. Der berühmte Pädagoge, dessen Erziehungskonzept diesem Muster zumindest nahekommt, ist natürlich Jean-Jacques Rousseau. Das Konzept wirkt aber nach wie vor anziehend. Hartmut von Hentig prämiiert es schlicht mit dem Gütesiegel »Notwendigkeit ersetzt Zwang«. »Der so aufgewachsene Mensch [...] kann eher als andere erkennen, daß es im eigenen Interesse ist, sich vernünftig und rücksichtsvoll zu verhalten« (1996, S. 237). Kann und soll aber in diesen Dingen tatsächlich das eigene Interesse das Lernen leiten? Läßt sich durch Arrangement ein guter Charakter bilden? Diese Fragen sollen uns hier beschäftigen. Rousseau will für Umstände sorgen, durch die das Kind aus den Folgen des eigenen Verhaltens lernt. So soll z. B. der Einlaß von Kälte und Regen durch das zerbrochene und nicht reparierte Fenster E´mile einen Grund geben, die Zerstörung von Fenstern (oder nur die Zerstörung des eigenen Fensters?) künftig zu vermeiden. Eine andere Maßnahme zum Zweck der Unterweisung ›aus der Sache selbst‹ kommentiert Giesecke (1999, S. 31) folgendermaßen: »Der Kleine will allein in die Fremde gehen, aber der Erzieher weiß, daß das nicht gut gehen kann, also trifft er in professioneller Voraussicht ein entsprechendes Arrangement der Überwachung. Die Erfahrung des Kindes selbst, nicht eine abstrakte Moralpauke werde ihm seine Grenzen [...] deutlich machen. Die Sache selbst soll erziehen, nicht der Erzieher; aber der organisiert sie so, wie sie im wirklichen Leben nicht vorkommt, damit daraus etwas gelernt werden kann.« Das Arrangement ist zweifellos Ergebnis einer Maßnahme, einer poiesis. Es wird geplant herbeigeführt, und mit seiner Hilfe soll im Kind ein neues Verhaltensmuster entstehen (schonender Umgang mit der lebensdienlichen Umgebung im einen Fall, realistisch begrenzter Einsatz der eigenen Möglichkeiten im anderen). Sieht man von der Indeterminiertheit des Ergebnisses ab, so ist das von Rousseau beschriebene Vorgehen typisch poietisch. Solange nun ein solches Arrangement in einem Kontext eingesetzt wird, der im übrigen seiner Finalität nach fraglos als Erziehung zu gelten hat, könnte dieser Einsatz selbst eine Komponente der Erziehung sein (14.3). Man kann jedoch Rousseaus Konzept verallgemeinernd deuten. Die Anleitung des Heranwachsenden sollte sich dann idealiter im Arrangieren von Lernsituationen zur Herbeiführung seines Erwachsen-Seins erschöpfen. Auf den ersten Blick läßt das von B als Erzieher verlangte Bewußtsein einer besonderen Verantwortung für A die Möglichkeit zu, daß B als unsichtbarer, aber pflichtbewußter Arrangeur agiert. Stellen wir uns z. B. vor, zu seinen Arrangements gehörte es, A’s Umgebung mit Erwachsenen auszustatten, die mit A
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Umgang pflegen und auf ihn einwirken. A könnte das Vorbild und die Stellungnahmen dieser Personen erleben. Er würde durch ihr Verhalten in seiner charakterlichen Entwicklung möglicherweise günstig beeinflußt und geprägt. Letztlich aber würde B über unsichtbare Fäden – durch Auswahl jener Personen, durch Anweisungen an sie, durch sonstige Arrangements usw. – indirekt auf A Einfluß nehmen. Wäre er dann nicht als verantwortlicher Arrangeur zugleich Erzieher? Indessen wirft die Verallgemeinerung von Rousseaus Konzept Probleme auf. Und zwar kann man hier ein begriffliches von einem empirischen Problem unterscheiden.14 Das begriffliche Problem besteht einfach darin, daß wir ein Anleiten allein durch Arrangieren nicht mehr Erziehen nennen könnten. Das wird am Beispiel des soeben beschriebenen Arrangements bereits sehr deutlich. Hier tritt der ›Tele-Pädagoge‹ selbst, der Arrangeur, für das Kind überhaupt nicht in Erscheinung. Nur die beauftragten Personen sind als Kommunikationspartner präsent. Das Verhalten des letztlich zuständigen, aber verborgenen Arrangeurs kann das Kind nicht als Verhalten ihm gegenüber erleben. Es dürfte klar sein, daß eine Anleitung, die sich ausschließlich solcher ›Fernsteuerung‹ bediente, keine Erziehung wäre (2.1 (b)) – noch nicht einmal schlechte Erziehung. Denn zu unserem Begriff der Erziehung gehört, daß in ihr Zuständigkeit bzw. Verantwortung und kommunikative Präsenz zusammenkommen (2.3 (b)). Natürlich glauben wir, daß dieses ›Zusammenkommen‹ sich gut auswirkt: daß Zuständigkeit ohne Präsenz wenig sinnvoll wäre, während man auf der Basis von Interaktion mit dem Kind der Verantwortung für dessen Charakterbildung einigermaßen informiert, engagiert und effektiv gerecht werden kann; und daß Präsenz ohne Zuständigkeit dem Zufall zu viel überläßt, während ein Bewußtsein letztlich entscheidender Zuständigkeit den Charakter der Interaktion in der Regel günstig bestimmen wird. Aber das sind empirische Erwägungen oder auch Selbstverständlichkeiten (11.2). Jetzt geht es erst einmal um begriffliche Zusammenhänge. Und der Erziehungsbegriff verlegt das hauptsächliche Medium der Anleitung in die Begegnung, Konfrontation und Kommunikation des Kindes mit der anleitenden Person – in das, was ich kommunikative Präsenz genannt habe; nicht in Faktoren seiner Umgebung, die von dieser Person zum Zweck der Einwirkung arrangiert worden sind. 14 Ich beabsichtige hier keine umfassende Kritik von Rousseaus recht differenzierten (und ein wenig unbeständigen) Gedanken über Erziehung. Auch die Idee des Arrangeurs wirft eine Reihe von Fragen auf, denen ich hier nicht nachgehen werde; z. B.: Was ist von der Voraussetzung zu halten, daß die kindlichen Wünsche, die das Kind dazu bringen, aus (arrangierten) Situationen zu lernen, tatsächlich einen guten Willen repräsentieren? Liegt nicht, andererseits, im Arrangieren unvermeidlich Einflußnahme auch auf das Wollen des Kindes? Findet nicht im Zusammenhang des Arrangierens – ebenso wie in der ›echten‹ Erziehung – Einwirkung auch durch Handeln statt, insofern nämlich entweder (in einer idealisierten, abgeschiedenen Umgebung) der Erzieher oder (im realen sozialen Kontext) wenigstens andere Menschen (wie im Beispiel das ›Überwachungspersonal‹) mit dem Heranwachsenden interagieren?
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Solches Arrangieren wirkt ausschließlich durch poiesis: es besteht im Einsatz von Mitteln, die der Arrangeur für geeignet hält, beim Kind bestimmte Wirkungen auszulösen, die er intendiert. Kommunikative Präsenz hingegen macht zwar Erziehungsmaßnahmen möglich, legt Erziehung aber nicht auf sie fest; statt dessen besteht die erzieherische Relevanz der Präsenz des Erziehers in der Relevanz seines Handelns, dessen Einfluß auf das Kind durch die kommunikative Präsenz unausweichlich gegeben ist. Insoweit läßt sich die Differenz zwischen Erziehen und Arrangieren in handlungsphilosophischen Kategorien bestimmen. All dies gilt ganz unabhängig von der empirischen Frage, ob bloß arrangierende Anleitung ein Kind zum Erwachsen-Sein zu führen vermag; bzw. ob sie dazu mehr oder weniger geeignet ist als Erziehung. Diese Frage können philosophische Überlegungen allein natürlich nicht beantworten. Ich will jedoch ein paar grundlegende Gesichtspunkte artikulieren, die daran zweifeln lassen, daß Arrangements zur Herausbildung eines guten Charakters viel beitragen können.
11.2
Motivationsstrukturen lernt man nicht aus Verhaltensfolgen allein
In diesem Abschnitt werde ich zu zeigen versuchen, daß Arrangements ihrer Natur nach nicht so in die Motivationsstruktur des Heranwachsenden eingreifen, daß sie für dessen Charakterbildung viel ausrichten könnten. Vor allem folgendes ist zu bedenken: a) Auch wo Verhaltensfolgen klug arrangiert werden, ist Erfahrung nicht überall eine so eindeutige Lehrmeisterin wie im Fall der selbstverschuldeten Kälte. b) Orientierung des Lernenden an spürbaren Konsequenzen seines Verhaltens paßt weniger zu charakterbezogenen Lernzielen als zu solchen, die ein poietisches Vermögen betreffen. Zugunsten guten Handelns werden allenfalls Klugheit und Beachtung der eigenen Interessen gefördert. c) Das Kind soll nicht nur Beweggründe lernen, dies und jenes zu unterlassen, sondern auch bestimmte Dinge zu tun. Dazu dürfte das Arrangement nicht besonders wirksam beitragen. Diese Gesichtspunkte will ich hier am Beispiel folgender Frage verdeutlichen: Welche arrangierte Erfahrung könnte den Heranwachsenden Dankbarkeit lehren? Offenbar führt dankbares Verhalten nicht so regelmäßig zu ›natürlichen‹ Folgen einer bestimmten Art wie das Zerstören eines Fensters im eigenen Zimmer. Doch kann der Arrangeur veranlassen, daß Personen in der Umgebung des Kindes belohnt werden, wenn sie sich nach empfangener Wohltat dankbar zeigen, während sie leer ausgehen, wenn sie das nicht tun; ferner, daß solche Personen Wohltaten des Kindes ›dankbar‹ erwidern; und schließlich, daß sie ›dankbare‹ Reaktionen des Kindes belohnen. Auf diese Weise, so könnte man meinen, wird das Kind dazu motiviert, die Praxis der Dankbarkeit zu übernehmen und sich zu eigen zu machen. (Wo ich ›dankbar‹ in Anführungszeichen setze, will ich signalisieren, daß das gemeinte Verhaltensmuster nicht das Motiv oder gar die stabile Gesinnung der Dankbarkeit impliziert.)
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Die hier angedeutete Auskunft kann jedoch kaum überzeugen. Denn im Sinne der Gesichtspunkte (a) und (b) ist damit zu rechnen, daß die empfohlenen Arrangements dem Kind statt Dankbarkeit nichts anderes vermitteln als, erstens, eine Pseudo-Technik: die vermeintliche Fähigkeit, durch ›dankbares‹ Verhalten erwünschte Reaktionen (als Resultate geeigneter poiesis) auszulösen; und, zweitens, eine Tendenz, diese Pseudo-Technik auch einzusetzen: sich also ›dankbar‹ aufzuführen, wenn Belohnung winkt. Mit anderen Worten: Je deutlicher im Erleben des Kindes das dankbare Verhaltensmuster belohnt wird, desto leichter wird es wohl einstweilen dieses Muster übernehmen. Man muß jedoch befürchten, daß es an der Vorführung arrangierter und belohnter ›Dankbarkeit‹ ein anderes Motivationsmuster nachahmenswert findet, als der Arrangeur intendiert; daß es nämlich lernt, sich berechnend an den Folgen zu orientieren, die ›dankbares‹ Verhalten erwarten läßt. Wenn ich darauf hinweise, daß vorgeführte Dankbarkeit kaum geeignet ist, einem Kind das intendierte Motivationsmuster zu vermitteln, vergesse ich keineswegs, daß Nachahmung ein wichtiges Element der wirklichen Erziehung ist. Aber was im Fall der Erziehung nachgeahmt wird, hat nicht nur die überzeugende Echtheit nicht gestellter Lebenswirklichkeit. Es wird auch bei Bedarf im verbalen Austausch zwischen A und B gedeutet und dadurch seiner ›motivationalen Mehrdeutigkeit‹ entkleidet. Noch wichtiger ist vielleicht, daß im realen Umgang zwischen A und B Faktoren ihrer Beziehung zueinander eine Rolle spielen. Für A werden hier insbesondere Faktoren wirksam, die das Lernen von Motivationsmustern wie Dankbarkeit unterstützen, indem sie – statt arrangierte Folgen vorzuführen – die entsprechenden motivationalen Strukturen des Erzieher-Verhaltens attraktiv machen. Während der Arrangeur die ›Selbsttätigkeit‹ des Kindes dadurch schützen (und eben doch herbeiführen!) will, daß er für das Wirken der ›Sache selbst‹ Platz macht, hofft der Erzieher vielleicht, das Kind gerade durch die eigene kommunikative Präsenz für die Sache selbst zu gewinnen. Heißt das etwa, er lasse der Initiative des Kindes, seinem Subjekt-Sein, weniger Spielraum? Im angenommenen Arrangement motivieren die wahrgenommenen Folgen ›dankbaren‹ Verhaltens dazu, das Verhalten zu imitieren bzw. zu wiederholen, da sie den Charakter von Belohnungen haben. Im wirklichen Leben, für das das Kind ja lernen soll, ist mit motivierenden Folgen dieser Art bekanntlich keineswegs immer zu rechnen. Das Kind lernt also im Beispiel, wie gesagt, allenfalls eine (vermeintliche) Technik, erwünschte Reaktionen hervorzurufen. Später wird es dann – aus nicht-arrangierten Erfahrungen – vermutlich lernen, auf Wohltaten nur dann ›dankbar‹ zu reagieren, wenn sich das auszahlt. Motivation durch Belohnung hat in diesem Fall eher verhindert, daß sich das Kind von empfangenen Wohltaten selbst motivieren läßt. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob Belohnung und Bestrafung überhaupt im Zusammenhang der (Charakter)-Erziehung eine Rolle spielen können und nicht vielmehr die intendierte Motivationsstruktur konterkarieren (16.4). Einstweilen aber möchte ich lediglich Gesichtspunkt (b) plausibel machen:
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Spürbare Konsequenzen können bei der Förderung des Charakters nicht dieselbe Rolle spielen wie da, wo (wie im Beispiel Rousseaus) die Aufgabe darin besteht, dem Kind die Relevanz gewisser Verhaltensweisen für das Erreichen oder die Sicherung eines bei ihm vorausgesetzten Zweckes beizubringen. Erziehen heißt ja: zur Bildung des Charakters beitragen. Und das heißt nicht: Motivationsstrukturen voraussetzen und nur entsprechende Fähigkeiten vermitteln, diese Strukturen zu realisieren. Es heißt vielmehr: Motivationsstrukturen beeinflussen und kanalisieren, manche eindämmen oder gar abbauen und andere entfalten oder allererst aufbauen helfen. Durch das Arrangieren spürbarer Konsequenzen jedoch appelliert die Lern-Situation an bereits etablierte (insbesondere: naturwüchsige) Motivationsmuster, von denen anzunehmen ist, daß sie mit den Motivationsmustern (wie Dankbarkeit), die das Kind erwerben bzw. entfalten soll, häufig eher konkurrieren als ihnen Vorschub zu leisten. All dies gilt nicht nur für den Fall, daß der Arrangeur dem Kind Personen vorführt, deren Dankbarkeit belohnt wird, sondern auch, wenn er – näher an Rousseaus Modell – lediglich dafür sorgt, daß ›dankbares‹ Verhalten des Kindes selbst von der arrangierten Umgebung mit typischen Konsequenzen belohnt wird. Im übrigen liegt eine weitere Schwierigkeit in der Idee, wir könnten dadurch ein Kind zur Dankbarkeit veranlassen, daß wir mit seinem ›dankbaren‹ oder ›undankbaren‹ Verhalten positive bzw. negative Folgen verknüpften. Die Schwierigkeit betrifft Gesichtspunkt (c) und tritt vor allem dann auf, wenn das Arrangement solcher Folgen als Mittel der Erziehung zur Dankbarkeit ausreichen soll: Wie identifiziert das Kind überhaupt die Verhaltensweise, die sich hier auszahlt? Nur wenn das Kind schon (von Natur aus) dazu neigte, auf empfangene Wohltaten freundlich (also ›dankbar‹) zu reagieren, möchten arrangierte Konsequenzen dieses Muster verstärken und gegenteiliges Verhalten eindämmen. Andernfalls hingegen müßte das Kind wohl ziemlich genial sein, um erstens ›negative Folgen‹ mit zuvor empfangenen Wohltaten in Verbindung zu bringen und dann zweitens, zwecks Vermeidung solcher Folgen, das Muster Dankbarkeit zu ›erfinden‹ und ›es damit zu versuchen‹. Hinzukommt, daß Undank – im Unterschied zum Zerstören von Fensterscheiben – keine spezifischen Folgen zeitigt. Mit anderen Worten: Wie kommt das Kind überhaupt dazu, die Folgen des Musters Dankbarkeit zu ›testen‹, so daß ›die Sache selbst‹ es belehren könnte? Beobachtung und Erfahrung mögen es lehren, Nässe und Kälte dem Umstand zuzuschreiben, daß es eine Fensterscheibe demoliert hat. Sie werden es kaum auf vergleichbare Weise lehren, beliebige Unannehmlichkeiten als Wirkungen eines Mangels an dankbarem Verhalten einzuordnen. Eine Gesellschaft ohne Dankbarkeit ist in der Tat arm dran. Und das ist ein Erklärungsgrund dafür, daß einem empfangene Wohltaten einen Beweggrund liefern, dem Geber, ohne nach Handlungsfolgen zu schielen, mit freundlicher Aufmerksamkeit zu begegnen. Diesen Zusammenhang aber lehrt keine arrangierte Erfahrung, kein Spüren von Verhaltensfolgen ›am eigenen Leib‹. Erfah-
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rung lehrt den Zusammenhang, wenn überhaupt, nicht ohne fortgeschrittene Reflexion oder deutende Erklärungen, die andere einem geben. Außerdem ist fraglich, ob das Wissen um den genannten Erklärungsgrund seinerseits einen Beweggrund dafür liefert (oder auch nur liefern sollte), sich das Motivationsmuster der Dankbarkeit anzueignen, d. h.: empfangene Wohltaten als Beweggrund zur freundlichen Anerkennung und besonderen Aufmerksamkeit gegenüber dem Geber zu behandeln (Müller 1995, S. 131–192). Die hier angestellten Überlegungen zur empirischen Frage, ob arrangierende mit erziehender Anleitung konkurrieren kann, legen folgendes Fazit nahe: Zweifellos ist das Erleben unmittelbar identifizierbarer Folgen eigenen und fremden Tuns verhaltenswirksam. Indessen wird solches Erleben von sich aus kaum motivationale Strukturen modifizieren oder etablieren. Zum Erwerb von Tugenden wie Dankbarkeit, Gerechtigkeit, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Tapferkeit, Mäßigung usw. genügt es nicht, arrangierte Folgen eigenen oder fremden Verhaltens zu erleben. (Und alles spricht dagegen, daß nicht-arrangierte Verhaltensfolgen den Heranwachsenden für eine Tugend dieser Art gewinnen, bevor es für ihn zu spät ist, sie zu einem festen Bestandteil seines Charakters zu machen.) Das Konzept der arrangierenden Anleitung und des Lernens ›aus der Sache selbst‹ geht allenfalls da auf, wo die Wirklichkeit bei Fehlverhalten so ›zurückschlägt‹, daß relevante Wirkungszusammenhänge mehr oder weniger eindeutig erfahrbar sind, und wo zu erwarten ist, daß das Kind – bei gegebener Motivation – durch Erfahrung der Zusammenhänge veranlaßt wird, sein Verhalten zu modifizieren. Das aber gilt für ein Verhalten von der Art der poiesis, nicht der praxis. E´mile ist motiviert, in einem warmen und trockenen Zimmer zu leben; und deshalb lernt er, das Fenster nicht zu zerstören, indem er lernt, in welchem poietischen Bezug Zerstören und Schonen zum erwünschten telos stehen. Ähnlich könnte er motiviert sein zu lernen, wie sich ein defektes Fenster reparieren läßt, wenn das Ausbleiben des Reparatur-Erfolgs mit unerwünschten Konsequenzen verbunden ist! Dagegen scheint keine Erfahrung geeignet, ihm beizubringen, daß das Geschenk der Tante ein Grund ist, ihr mit freundlicher Aufmerksamkeit zu begegnen; oder daß der Wunsch der Schwester ein Grund ist, den Kuchen mit ihr zu teilen. Arrangements können lehren, Mißstände im Bereich der Mittel, nicht der Motive, abzustellen. So viel zur empirischen Frage, ob arrangierende mit erziehender Anleitung konkurrieren kann. Ich habe Gründe für eine negative Antwort angedeutet. Aber auch wenn diese Antwort nicht zutrifft, ist das verallgemeinerte Konzept von Rousseau, wie sich gezeigt hat, kein Erziehungskonzept. Sobald die Einwirkung auf ein Kind nicht darauf angewiesen ist, daß der zuständige Erwachsene selbst in seinem Verhalten vom Kind erlebt wird, fehlt dieser Form der Einwirkung ein wesentliches Merkmal der Erziehung: die Begegnung zwischen den beiden. Das Arrangement ist ein typischer Fall von poiesis. Dagegen sind erzieherische Präsenz und Begegnung auf dem Weg über die praktische Finalität des Handelns poietisch finalisiert.
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Noch eine Anmerkung zu Gieseckes Hinweis auf die ›professionelle Voraussicht‹ des Arrangeurs. Was kennzeichnet die Professionalisierung der Erziehung, die sich tatsächlich in Rousseaus Konzept anbahnt? Ihr grundlegendes Merkmal ist nichts anderes als dies: Die Einwirkung des Erziehers auf den Heranwachsenden verlagert sich weg vom unmittelbaren faktischen Einfluß seines Handelns hin zur geplanten Auswirkung poietisch arrangierter und intendierter Umstände. Kapitel 18 wird zeigen, wie dieselbe Verlagerung auch heutige Professionalisierungsbestrebungen charakterisiert. Das Arrangieren erhält seinen einseitig poietischen Charakter dadurch, daß es das Kind allein zum unmittelbaren Subjekt der eigenen Veränderung machen will. Der Arrangeur beschränkt sich auf eine poiesis besonderer Art: sein unmittelbares ergon ist nicht eine Ziel-Verfassung des Kindes (die gleichwohl letztlich intendiert ist!), sondern das Zustandekommen einer Umgebung, die das Kind dazu stimuliert, sich veränderte Verhaltensweisen anzugewöhnen. Zwischen das Arrangement und die intendierte Entwicklung soll die freie (aber mehr oder weniger berechenbare) Betätigung des Kindes treten. Vielleicht mutet die Idee der arrangierenden Anleitung dem Kind ›zu viel Subjekt-Sein‹ zu. Gesteht jedoch nicht umgekehrt die (nicht-arrangierende) Erziehung dem Kind zu wenig Subjekt-Sein zu? Darf man überhaupt einen anderen Menschen zum Objekt einer poiesis machen? Sollten sich die poietischen Ambitionen eines Erziehers nicht tatsächlich auf so etwas wie das Arrangieren von Bedingungen beschränken? – Mit diesen Fragen ist das Thema des nächsten Abschnitts benannt.
11.3
Weder der empirische noch ein ›kontrafaktisch unterstellter‹ Wille des Heranwachsenden ist Maßstab der Erziehung
Wir wissen von keinem auch nur annähernd deterministischen Gesetz, nach dem sich Einwirkungen auf einen Heranwachsenden bei diesem so-und-so auswirken. Das heißt: Die psychische Wirklichkeit läßt eine Technik des Erziehens nicht zu (10.2). Ganz unabhängig davon kann man allerdings auch fragen, ob das Erziehungsziel eine solche Technik zuläßt. Gehört nicht zum Erziehungsziel so etwas wie Selbstbestimmung – freie Wahl und Bejahung dessen, was man ist und was man tut? Ein solches telos, so scheint es, kann seiner Natur nach nicht durch fremde Einwirkung, unabhängig von Initiative und Zustimmung des Heranwachsenden, verwirklicht werden. Wenn man sagt, die Natur des Erziehungsziels lasse keine Verursachung zu und schon gar nicht sei dieses Ziel mit erzieherischer Technik vereinbar, so meint man entweder Unmöglichkeit oder aber Unerlaubtheit, Unzulässigkeit. Die Behauptung der Unmöglichkeit werde ich in den Abschnitten 11.6–8 aufgreifen. In diesem und den folgenden beiden Abschnitten soll es vor allem um das Thema Unerlaubtheit gehen. Dabei tut es nichts zur Sache, ob die Einflußnahme als Ausübung einer verläßlichen Technik oder als Bemühen mit unge-
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wissem Ausgang zu denken ist. Und so lautet denn die Frage dieser drei Abschnitte: Ist es B erlaubt, auf A’s Charakter und somit, auch an A’s Wollen vorbei, auf ebendieses Wollen Einfluß zu nehmen? a) Der erste Teil einer Antwort lautet: Falls sich eine solche Einwirkung auf A’s Willen verbietet, so nicht einfach deshalb, weil Wünsche und Absichten des heranwachsenden Gegenübers zu achten wären. Denn auch außerhalb des erzieherischen Kontexts gebieten moralische Gesichtspunkte wie Gerechtigkeit und Rücksichtnahme solche Achtung nur in Grenzen und bedingt – selbst in bezug auf respektable Wünsche und Absichten. Den Wunsch von X, zu meiner Party geladen zu werden, darf ich ignorieren; und daß Y sich auf eine bestimmte Stelle bewirbt, muß für mich kein Grund sein, selbst von einer Bewerbung abzusehen. Unterlassungen und sogar Handlungen, die das Gegenüber affizieren, können durchaus unabhängig von dessen Zustimmung berechtigt sein. Auch der Wille des Heranwachsenden kann schon deshalb als solcher keine unbedingte Vorgabe sein. Und schon gar nicht für den Erzieher. Gerade für dessen Bemühung ist dieser Wille eher Aufgabe als Vorgabe (vgl. unten (c-d)). Ob der Erzieher dem Willen der ihm Anvertrauten Raum geben und gegebenenfalls entsprechen oder aber entgegentreten soll, ist eine Frage, die sich innerhalb der Erziehung stellt und, je nach Person und Situation, verschiedene Antworten fordert. b) Daraus ergibt sich auch, was von der Idee zu halten ist, in einem zeitgemäßen Erziehungsverhältnis müßten Verhandeln und Mitsprache an die Stelle von Belehrung, Anweisung und dergleichen treten; oder sie müßten gar das Anleiten und damit das Erziehen ersetzen (vgl. 2.3 (c) und 3.2). Um dieser Idee gerecht zu werden, muß man grundsätzliche Fragen nach der Natur des Erziehungsverhältnisses von Fragen der erzieherischen Klugheit unterscheiden.15 Hier einige Gesichtspunkte: 1) Zunächst einmal hat die Forderung, A solle an Entscheidungen, die ihn betreffen, beteiligt sein, mit der Natur des Erziehungsverhältnisses nichts zu tun.
15 Das unterläßt z. B. Oelkers 2002. So heißt es im dritten Abschnitt des Vortrags Erziehung als Verhandlung: »Der Modus der Beziehungsgestaltung ist Verhandlung, vorausgesetzt gegenseitige Verlässlichkeit, nicht einseitige Ueberwachung. Das verlangt grosses Zutrauen zu den Kindern, angesichts nicht zu leugnender Gefährdungen. Aber Kinder überwachen auch nicht ihre Eltern und gehen von deren Gefährdungen aus [...]«. Die letzte, eher frivole und überflüssige Bemerkung scheint, nicht anders als die Formulierung »der Modus der Beziehungsgestaltung«, ein symmetrisches, von Verhandlung geprägtes Verhältnis zu signalisieren. Dieser Eindruck wird bestätigt (»Beide Seiten tragen Verantwortung für die Erziehung und müssen verhandeln«), dann aber relativiert (»wenngleich nicht immer und nicht immer gleich«). Angesichts dieser Relativierung – gegen Ende des Vortrags heißt es von den Erwachsenen nur noch: »sie müssen weit mehr verhandeln als früher« – stellt sich das Verhandeln nicht mehr als Konstitutivum zeitgemäßer Erziehung dar, sondern als Erfordernis erzieherischer Klugheit.
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Dessen Asymmetrie schließt solche Beteiligung keineswegs aus. Genauso wenig aber schließt der Umstand, daß A als Mensch B gleichberechtigt gegenübersteht, die Notwendigkeit seiner Beteiligung an Entscheidungen, die ihn betreffen, ein. 2) Auch hilft es kaum, darauf hinzuweisen, daß die Entscheidungsbefugnis des Erziehers als solchen sich allemal auf erzieherisch relevante Bereiche beschränken müsse. Denn welche Lebensbereiche des Heranwachsenden sind erzieherisch irrelevant (vgl. 10.5)? 3) B’s einseitiges Recht, Entscheidungen zu treffen, wurzelt in einer ebenso einseitigen Verantwortung. A’s Mit-Entscheiden kann B’s erzieherische Verantwortung nicht reduzieren. Ob B will oder nicht: er entscheidet darüber, was von A entschieden oder mit-entschieden wird (abgesehen natürlich von Situationen, die B daran hindern, hierüber zu entscheiden). Und insoweit fällt die Entscheidung, die er A überläßt, mit B’s Zustimmung. 4) A über diese Begrenzung seiner Zuständigkeit für die eigene Lebensgestaltung hinwegzutäuschen, wäre Ideologie und Betrug. 5) Selbstverständlich sind B nicht alle möglichen A betreffenden Entscheidungen erlaubt. Das ist aber keine Frage der Befugnis, sondern eine Grenze dessen, was ganz allgemein nach ethischen Maßstäben und speziell unter Gesichtspunkten erzieherischer Klugheit zulässig ist. B darf z. B. A nicht verbieten, mit anderen Kindern zu spielen. Aber nicht, weil A darüber zu entscheiden oder mit-zu-entscheiden hätte. Sondern weil das Verbot A’s Entwicklung schaden würde. Mit A’s Befugnis, in dieser Sache mitzureden, hat das überhaupt nichts zu tun. Das sieht man daran, daß B es nicht dulden dürfte, wenn A von sich aus ›entschiede‹, nicht mit anderen Kindern zu spielen! 6) Das Schlagwort ›verhandeln‹ erweckt den trügerischen Eindruck, hier gehe es um Kommunikation von Gleich zu Gleich. Die Voraussetzung einer fairen Verhandlung ist jedoch mit dem Erziehungsverhältnis nicht gegeben. Die Lage ist nämlich, grob gesprochen, die: A hat wenig anzubieten oder anzudrohen, um B’s Willen zu bewegen; und wo er etwas hat, kann B dem in der Regel einerseits wirkungsvollere Angebote und Drohungen entgegensetzen – die er aber andererseits nicht aussprechen darf. 7) Könnte es aber für A nicht besser sein, schon vor Erreichen der Mündigkeit in eigenen Belangen selbständig zu entscheiden oder wenigstens mitzureden? – Sobald ein Mensch das ›moralische‹ Recht hat, in eigenen Belangen zu entscheiden oder verantwortlich mitzureden, ist er per definitionem mündig. Die Frage muß also lauten: Soll man Mündigkeit dem Heranwachsenden nicht früher zusprechen, als man es tut? Und diese Frage führt zurück auf die Frage: Wie selbständig muß A bereits geworden sein, damit ihm das erwähnte moralische Recht zusteht bzw. damit man die verantwortliche Sorge für seinen Charakter besser ihm selbst als B überläßt? 8) All das schließt A’s Mitreden in Entscheidungen, die ihn betreffen, nicht aus. Nur hat B hierbei Vorentscheidungen zu verantworten, auf deren Basis A mitredet. Was soll A entscheiden oder mit-entscheiden? Worüber und nach welchen Spielregeln soll zwischen A und B verhandelt werden? Wer übernimmt die
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Folgelasten? Diese Fragen sind unausweichlich schon von B entschieden – bewußt oder via facti – wenn A mit B’s Einverständnis mitredet. Dieses Mitreden tritt zwar an die Stelle einzelner andernfalls von B allein getroffener Entscheidungen, nicht jedoch – solange ein Erziehungsverhältnis besteht – an die Stelle von B’s Autorität. Ebenso wenig ist das Erziehungsverhältnis selber Gegenstand des Verhandelns oder einer Entscheidung durch A. 9) Der Vorschlag, A solle von einem bestimmten Alter an berechtigt sein, über bestimmte Angelegenheiten unabhängig von B’s Vorentscheidung (im Sinne von (8)) anstelle von B zu entscheiden oder mit B zu verhandeln: dieser Vorschlag fordert faktisch die Beendigung des Erziehungsverhältnisses in dem ›bestimmten‹ Alter. Denn man kann den Vorschlag nicht verwirklichen, ohne B von seiner erzieherischen Verantwortung zu entbinden. 10) B’s Autorität schließt Verhandeln mit A nicht aus – ein Verhandeln freilich, das B (vielleicht implizit) zuläßt oder auch regelrecht vorsieht und strukturiert. – Und was soll B vorsehen? Von welchem Alter an soll A in welchen Belangen selbst entscheiden oder mitreden? – Das sind keine grundsätzlichen Fragen mehr, sondern Fragen der erzieherischen Klugheit. 11) Eine wichtige Komponente solcher Klugheit wird der Gesichtspunkt sein, daß A sich auch im Mitreden, Verhandeln, Entscheiden für seine Zukunft übt; daß er auf diesem Weg wichtige Erfahrungen sammeln, seine Kräfte messen und Tugenden wie Ehrlichkeit, Standfestigkeit, Kompromißbereitschaft, Verantwortungsbewußtsein usw., vor allem aber kluge Umsicht und letzten Endes Selbständigkeit erwerben kann. 12) Unter mehr als einem Gesichtspunkt dürfte es heutzutage besonders unklug sein, Kinder und Jugendliche in Angelegenheiten, die sie betreffen, nicht im Normalfall und möglichst frühzeitig mitreden zu lassen. Gerade in einer Zeit, in der die eigenständige Orientierung des Individuums enorm bedroht ist, sollte die Kommunikation zwischen A und B auch als Modell entscheidungsorientierter Auseinandersetzung, Durchsetzung und Verständigung fungieren. 13) Das ist die Wahrheit, die ich in der irrigen These erkenne, in einem zeitgemäßen Erziehungsverhältnis sollten Verhandeln und Mitsprache an die Stelle von Anweisungen des Erziehers treten. Wörtlich verstanden, ignoriert die These den Umstand, daß ohne letzte Zuständigkeit für Entscheidungen erzieherische Verantwortung gar nicht möglich ist. c) Auch der Wille des Heranwachsenden darf schon deshalb als solcher nicht als unbedingte Vorgabe gelten. Und schon gar nicht für den Erzieher. Gerade für dessen Bemühung ist dieser Wille eher Aufgabe als Vorgabe (vgl. unten (c-d)). Ob der Erzieher dem Willen der ihm Anvertrauten Raum geben und gegebenenfalls entsprechen oder aber entgegentreten soll, ist eine Frage, die sich innerhalb der Erziehung stellt und, je nach Person und Situation, verschiedene Antworten fordert. Nicht nur ist das Wollen des Heranwachsenden, wie unter (a-b) gezeigt, für den Erzieher keine Vorgabe. Darüber hinaus liegt die eigentliche Substanz von
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Erziehung als Charakterbildung in der Einflußnahme auf den Willen des Kindes. Zwar gehen wir von einer allgemeinen und diffusen Vorstellung aus, wonach auch dieses Kind eine Naturanlage zu praktischer Vernünftigkeit mitbringt, die durch gute Erziehung nicht vergewaltigt, sondern eher ausgedeutet, dabei unvermeidlich auch angepaßt, aber dennoch im Interesse des Kindes entfaltet wird.16 Solche Vorstellungen sind ganz in Ordnung. Dagegen ist es romantischer Unsinn, sich einzubilden, Erziehung könne oder solle nicht nur dem Willen als Vernunftnatur gerecht werden und entsprechen, sondern auch dem Willen des einzelnen Kindes im Sinne eines in nuce gegebenen oder ›kontrafaktisch unterstellten‹ oder gar empirisch feststellbaren Wollens. Immer wieder geben Erziehungstheoretiker vor, die Frage, ob Kinder bezüglich ihrer Erziehung nicht konsultiert werden sollten, wenigstens ›ernstzunehmen‹. In diesem Sinne heißt es z. B. bei Oelkers: »Den Betroffenen wird nicht die Wahl gelassen, ob sie ›mündig‹ werden wollen oder nicht. [...] Die Theorie sieht [...] Neinsagen nicht vor, man muss zustimmen [...]« (2001, S. 264). Wie aber soll das denn aussehen, wenn Ein- oder Zweijährige ›wählen‹, lieber nicht – oder doch – erzogen zu werden? Was für ein ›Nein‹ ist denn ihr ›Nein‹? Was hieße hier ›Zustimmung‹? Und auch später gilt: Solange der Heranwachsende tatsächlich unmündig ist, kann eben deshalb seine ›Stellungnahme‹ für oder wider das Mündig-Werden nichts bedeuten. – Wozu also die Attitüde der Radikalität? d) Weder an einem faktischen noch an einem hypothetischen Wollen des Kindes kann oder soll sich die Erziehung orientieren. Zum einen kann sie es nicht. Denn zu Beginn der Erziehung ›will‹ das Kind allenfalls in einem Sinn, in dem auch Tiere ›wollen‹. Später aber ist sein Wollen bereits durch Erziehung (oder jedenfalls durch Sozialisierung) mitbestimmt, also kein neutraler Maßstab zur Beurteilung der Erziehung. Dies übersieht die Advokatorische Ethik mit ihrer Forderung, »daß eine advokatorisch legitimierte Maßnahme – wenn möglich – später durch den advokatorisch Vertretenen soll legitimiert werden können; mit anderen Worten: Die entsprechende Maßnahme soll nur dann als ethisch ausgewiesen gelten, wenn ihr auch seitens des Betroffenen hätte zugestimmt werden können«17. Weder in der Zukunft noch in der Gegen16 Vgl. hierzu meine Ausführungen über natürliche und ethische Tugenden (Müller 2004 a). 17 So Brumlik (1–992b, S. 118 f.) unter Verweis auf Schleiermacher – der allerdings die advokatorische Rechtfertigung nicht gelten läßt (1968, S. 52): »Will man sich aber auf eine solche Weise helfen, daß man sagt, wenn auch die Kinder ein größeres oder geringeres Widerstreben äußerten gegen die pädagogische Einwirkung insofern sie als solche auf die Zukunft gerichtet sei, so werde doch eine Zeit kommen, in der sie die Zustimmung geben würden; diese Zeit sei aber die vollkommenere, und darum sei das Widerstreben auf dem unvollkommenen Standpunkte der Kindheit zu ignorieren; ja ließe man die pädagogische Einwirkung infolge des Widerstrebens aufhören, so würde das Subjekt selbst in Zukunft dieses mißbilligen und der Erzieher dafür verantwortlich sein –: so würde diese die Aufopferung des Momentes rechtfertigende Deduktion nur richtig sein, wenn das Kind auch mit dem Material der pädagogischen Einwirkung zufrieden wäre; das aber kann man eben nicht wissen. [...] Wir müssen also einen anderen Weg einschlagen.« Vgl. auch meine Kritik an Brumlik in 2.5 (a4).
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wart gibt es ein Kriterium zur Bestimmung dessen, was ein Kind jetzt wollen würde, wenn es jetzt unbeeinflußt und erwachsen wollen könnte. Denn was da bestimmt werden soll, ist eine Chimäre. Gäbe es jedoch tatsächlich die unabhängige Instanz jenes hypothetischen Wollens, so bestünde für den advokatorischen Erzieher kein guter Grund, von dieser Instanz eher Zustimmung als Ablehnung zu erwarten! Wenn also die Voraussetzung advokatorischer Rechtfertigung (die Möglichkeit einer erziehungsunabhängigen Stellungnahme des Erzogenen) gegeben wäre, so müßte der Erzieher auch mit einem schlichten ›Nein danke‹ rechnen. Seine ›Rechtfertigung‹ könnte – ganz unabhängig von der Qualität der Erziehung! – genauso gut scheitern wie gelingen. Spätestens dieses absurde Ergebnis sollte zeigen, daß hier mit der Idee der Stellvertretung leichtfertig gespielt wird. B kann A nicht im (antizipierten) Auftrag von A erziehen. Zum anderen soll Erziehung als solche auch gar nicht einem hypothetischen oder tatsächlichen Willen des Heranwachsenden entsprechen. Zwar ist sie angetreten, um ihn und sein Gedeihen zu fördern. Sie soll und darf das aber nicht nach Maßgabe seiner Wünsche tun, sondern so, wie es für ihn und für andere gut ist. Gerade weil Erziehung Eingriff bedeutet, bedarf sie der Rechtfertigung durch praktische Notwendigkeit. Eine solche Notwendigkeit liegt darin, daß das Kind im Unterschied zum normalen Erwachsenen noch nicht oder nicht allein in der Lage ist, Strukturen praktischer Rationalität für das eigene Gedeihen einzusetzen, und daß nichts anderes als gute Erziehung es dazu anleiten kann. Aus ebendiesem Grund jedoch können des Kindes Wünsche einen Erwachsenen gerade nicht ohne weiteres dazu legitimieren, diese Wünsche zu erfüllen. Erziehung soll auf einen guten Charakter hinwirken. Der aber ist – im weitesten Sinne von ›Wollen‹ – nichts anderes als gutes Wollen. Zum guten Wollen gehören insbesondere die richtigen Strukturen der Motivation. Also soll Erziehung diese vermitteln. Das mit ihnen konkurrierende, noch nicht erzogene ›Wollen‹ des Kindes kann im Hinblick auf dessen Gedeihen keinen Vorrang beanspruchen. Das Wollen des Kindes soll durch Vermittlung jener Strukturen ethische Qualität und einen ihr entsprechend gesteigerten Anspruch, respektiert zu werden, allererst erwerben. Wenn dazu das partielle Ignorieren dessen, was das Kind ›will‹, vonnöten ist, dann muß es auch erlaubt sein. Vielleicht wird man sagen: Unsere Vorstellung von einem guten Charakter ist eben unsere bestmögliche Mutmaßung darüber, was der Heranwachsende eigentlich will. Und insofern ist es in gewissem Sinne doch der Wille des Kindes, an dem sich ein guter Erzieher orientiert. Wenn man damit meint, die eigentliche Norm der Erziehung sei ein hypothetisches oder ›kontrafaktisches aber eigentliches‹ Wollen des Kindes, dessen hypothetischer Inhalt aber verweise uns, faute de mieux, an vorläufige, ›advokatorische‹ Festsetzungen von Erziehungszielen: so macht man sich etwas vor. Der hier eingebaute Rekurs auf den Willen des Kindes ist unbegründet. Bezieht er sich auf dessen (unterstellte) spätere Stellungnahme, ist er außerdem, wie
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bereits nachgewiesen, zirkulär. Zudem erweist er sich als irrelevanter Umweg, der allenfalls einen ideologischen Drang (oder Zwang?) befriedigt. Der advokatorische Pädagog projiziert nämlich (wie sonst sollte er auch vorgehen?) seine eigene Vorstellung vom gut erzogenen Menschen (die durchaus in Ordnung sein mag) hypothetisch in den angeblichen Willen des Kindes, um sie diesem dann, scheinbar autorisiert, zu entnehmen – ein Zauberkunststück, mit dem er nur sich selbst und andere hinters Licht führt. Das Gedanken-Manöver kann aber bei näherem Hinsehen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Erzieher, sofern er überhaupt Erziehungsziele reflektiert, an nichts anderem orientieren kann und darf als am Gedeihen des Heranwachsenden – von dem er sich also eine wenigstens partielle Vorstellung gemacht haben muß. Es ist dann immer noch möglich, daß diese Vorstellung – zu recht oder zu unrecht – Selbstbestimmung und weitestgehende Unabhängigkeit von fremden Einflüssen und vorgegebenen Normen in den Mittelpunkt seiner erzieherischen Bemühungen stellt. Dann sollte er sich aber nicht einreden, dieses Erziehungsziel selbst verdanke sich der Selbstbestimmung des Kindes! Das wäre selbst dann nicht der Fall, wenn er die abstruse Ansicht verträte, das Gedeihen eines Menschen, auch eines Kindes, sei nichts anderes als Erfüllung der eigenen Wünsche.18
11.4
Ehrfurcht vor dem Wollen des Heranwachsenden zeigt der Erzieher vornehmlich, indem er sich an der Ziel-Verfassung dieses Wollens orientiert
Der Verweis auf das ›eigentliche Wollen‹ des Kindes ist vermutlich deshalb plausibel, weil er mehr als ein Körnchen Wahrheit enthält. Wie ich soeben (11.3 (c)) schon gesagt habe, gehen wir davon aus, daß Erziehung nicht vergewaltigt. Damit meine ich: Wenn Erziehung zur Lebensweise der Spezies Mensch gehört, so richtet sie sich eben darum in keinem vernünftigen Sinne ›gegen die Natur des Kindes‹. Freilich: Erziehung bringt – wie auch so manche Situation des Erwachsenen-Lebens – Frustration von Neigungen durch Ansprüche mit sich. Aber das Auftreten solcher Frustration erinnert lediglich daran, daß zur Natur des Menschen nicht nur seine Vernunft, sondern auch die Notwendigkeit gehört, die Ansprüche dieser Vernunft im Einzelfall gegen andere Impulse durchzusetzen. Die Voraussetzung, daß Erziehung im angedeuteten Sinne ›natürlich‹ ist (vgl. 6.3), steht nicht nur hinter der Auffassung, daß Einwirkung auf den Willen des Kindes nicht Vergewaltigung bedeuten muß. Sie berechtigt uns auch zu der 18 Diese Überlegung zeigt auch, daß Rekurs auf den Willen des Heranwachsenden weder in der Theorie noch in der Praxis davon entbindet, eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung vom menschlichen Gedeihen als objektiv richtig zu betrachten. Vgl. 3.4.
11 Das Kind als Subjekt
251
Forderung, daß der Erzieher den Willen des Kindes in dem Sinn respektiert, in dem er überhaupt unter der Forderung steht, zu ›respektieren‹ – näherhin: zu schützen und zu fördern – was das Kind an Faktoren und Bedingungen guten Lebens mitbringt und manifestiert. Wenn Erziehung als solche der menschlichen Natur nicht widerstreitet, dann muß der Erzieher auch umgekehrt davon ausgehen, daß die natürliche Mitgift des Kindes bzw. ihre Manifestation einer guten Erziehung nicht in erster Linie im Weg steht, sondern weitgehend ›zuarbeitet‹. Er muß daher nicht nur den Willen des Kindes als Vermögen, das eigene Verhalten zu orientieren, fördern, sondern auch sein tatsächliches Wollen, soweit wie möglich, als Niederschlag einer lebensdienlichen Ausstattung betrachten und behandeln. Darüber hinaus jedoch schuldet der Erzieher dem Heranwachsenden Ehrfurcht – die Ehrfurcht, die jeder Mensch jedem Menschen schuldet. Solche Ehrfurcht hat durchaus mit dem Willen des Gegenübers zu tun. Denn es ist der Mensch als Geist, dem wir sie schulden; der Mensch also auch als wollendes Wesen, das darauf angelegt ist, sein Verhalten an Gründen auszurichten. Die solchermaßen gebotene Ehrfurcht kennt kein ›Ansehen der Person‹: sie gilt dem Schuft, dem geistig extrem Behinderten oder Dementen und insbesondere eben auch dem Kleinkind, das der Orientierung seines Verhaltens an Gründen noch entgegendämmert, nicht weniger als dem anständigen und kerngesunden Erwachsenen. Daß die so gekennzeichnete Ehrfurcht eine Tugend ist, werde ich hier nicht weiter begründen. Wichtig ist für meine Untersuchung allerdings die Frage, wie diese Tugend sich manifestiert. Zweifellos verlangt sie, daß man grundsätzlich, wenn auch nicht in jedem Fall, Intentionen und Wünsche von gesunden Erwachsenen – also nicht nur deren Bedürfnisse – als relevante Gesichtspunkte in die eigene Verhaltensorientierung einbezieht. Im Umgang mit ganz kleinen Kindern, denen wir Intentionen und Wünsche noch nicht zuschreiben, ist dies nicht möglich. Worin aber besteht die Praxis der hier gemeinten Ehrfurcht später, sobald sich Intentionen und motivierte Wünsche zeigen? Einstweilen soll die Skizze einer Antwort auf diese Frage genügen: B zeigt A gegenüber diese Ehrfurcht, indem er auf A’s Intentionen und Wünsche so reagiert, daß diese Reaktion sich – soweit absehbar – auf A’s Heranwachsen und Gedeihen überhaupt vorteilhaft auswirkt.19 Damit ist die Forderung, dem gegenwärtigen Wollen des Gegenübers durch das eigene Verhalten auch gegenwärtig gerecht zu werden, keineswegs aufgehoben (11.5). Das Erziehungsverhältnis versieht diese Forderung aber mit einem Filter, den sozusagen die erzieherische Verantwortung einbaut. 19 Dabei setze ich selbstverständlich voraus, daß B’s Reaktion nicht ungerecht, unbarmherzig usw. ist. Allerdings läßt sich diese ihre ethische Qualität nicht immer unabhängig von erzieherischen Erfordernissen bestimmen. Auch das ist ein Aspekt der weiter unten erwähnten Integration erzieherischer Klugheit in die praktische Vernünftigkeit des Erziehers. Vgl. Kapitel 14 und Müller 2002 b.
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Wo ein vergleichbarer Vorbehalt Erwachsenen gegenüber praktiziert wird, werden wir ihn in der Regel als paternalistisch zurückweisen. Nicht weil es unstatthaft wäre, den ethischen Fortschritt des Gegenübers zu einem Gesichtspunkt für eigene Entscheidungen zu machen. Sondern weil es häufig von Anmaßung zeugt, wenn man selber besser als der andere zu wissen meint, was gut für ihn ist. Im übrigen (und teilweise aus ebendiesem Grund) hat B Erwachsenen gegenüber allenfalls in Ausnahmefällen eine Aufgabe, die ihn verpflichtet, und eine Autorität, die ihn legitimiert, auf Intentionen und Wünsche so zu reagieren, daß ihre Erfüllung ethischen Fortschritt fördert. Gegenüber A dagegen hat B eine solche Aufgabe. Und es ist kein Ausdruck von Respekt, sondern eher ein Zeichen mangelhafter Reflexion oder schädlicher Verunsicherung, wenn Erziehungswissenschaftler oder Erzieher meinen, sie müßten sich dafür entschuldigen, wenn sie den Erfordernissen des Erziehungsziels einen Vorrang vor Wünschen und Absichten des Heranwachsenden einräumen. Entsprechendes gilt für die sozusagen poietische Einstellung, mit der sich B gelegentlich Neigungen und Bedürfnisse von A zunutze macht, um auf dessen Charakter einzuwirken. Zum Beispiel lesen wir bei Giesecke (1999, S. 244f.): »Wenn aber das Kind gewonnen werden soll, muß man sich auch auf seine Bedürfnisse einlassen. Man muß sie erkennen, ihnen bis zu einem gewissen Grade entgegen kommen, sie aber auch benutzen als Vehikel für die eigenen erzieherischen Zwecke. Dieser doppelbödige, nämlich zugleich akzeptierende wie instrumentalisierende Umgang mit dem Kind als Kind ist für die moderne Pädagogik konstitutiv«. An dieser Sicht ist nur zweierlei auszusetzen. Erstens ist damit zu rechnen, daß Eltern auch vor tausend und vor zehntausend Jahren sowohl in natürlicher Unmittelbarkeit als auch mit erzieherisch instrumentalisierenden Absichten auf die Neigungen und Bedürfnisse ihrer Kinder reagiert haben. Und zweitens gibt es keinen guten Grund, einen in diesem Sinne differenzierten Umgang mit dem Kind als ›doppelbödig‹ zu bezeichnen. Das in diesem Ausdruck schlagende schlechte Gewissen zeugt nicht von irgendwelcher Fragwürdigkeit des gemeinten Erzieher-Verhaltens, sondern von einer ungeklärten Sicht des Verhältnisses zwischen den poietischen und den ethischen Forderungen, unter denen der Erzieher steht. Der Anschein von Unverträglichkeit, den Gieseckes Formulierung erweckt, verschwindet, sobald man Erziehung nicht nur als poiesis, sondern zugleich als praxis versteht. Dann nämlich implementieren angemessene Erziehungsmaßnahmen nicht eine bloße Technik, sondern erzieherische Klugheit; diese aber ist als eine Komponente integriert in jene praktische Vernünftigkeit des Erziehers, die alle Belange des Gegenübers bedenkt (Kapitel 14). B zeigt Respekt vor A’s Vernunftnatur nicht nur, indem er auf dessen Intentionen und Wünsche Rücksicht nimmt, wo immer das vernünftig und möglich ist. Er zeigt diesen Respekt vielmehr auch und gerade dadurch, daß er die Rücksicht durch den beschriebenen erzieherischen Vorbehalt einschränkt. Denn in diesem Vorbehalt zeigt B seine Bereitschaft, A zu erziehen; und damit die Aner-
11 Das Kind als Subjekt
253
kennung, daß A – als Wesen, das seiner Art und Anlage nach sein Leben an der Vernunft ausrichtet – unter dem Anspruch steht, diese Orientierung zu erwerben bzw. noch besser zu praktizieren, als er dies einstweilen tut. Am Symbolischen Interaktionismus orientierte Erziehungswissenschaftler fordern, »daß der zu Erziehende nicht als Objekt erzieherischer Beeinflussung, sondern als das pädagogische Verhältnis mitgestaltende[s] Subjekt aufgefaßt wird« (Oswald 1992, S. 446). Richtig daran (und im Verständnis der Erziehung als Handeln eher selbstverständlich) ist, daß B bei A das werdende Subjekt-Sein erstens zu respektieren und zweitens zu fördern hat; er soll in der Tat »der Eigentätigkeit des Edukandus Raum geben und seine Gestaltungs- und Verantwortungsfähigkeit entgrenzen« (S. 446). Und man wird kaum widersprechen, wenn es heißt: »Interaktionssensibilität für Identitätsbedürfnisse Anderer ist [...] ebenso als Erziehungsziel wie als Berufsqualifikation für Erzieher begründet« (S. 450). Aus all dem folgt aber nicht, daß Erziehung in keinem Sinne poiesis wäre, daß also A nicht auch ›als Objekt erzieherischer Beeinflussung‹ zu gelten hätte.20 Erst recht liegt kein Mangel an Ehrfurcht darin, daß B in einer frühen Etappe der Erziehung (vgl. 16.3) auf A konditionierend einwirkt. Ein Vorgehen, das im Umgang mit Tieren Dressur heißt, verdient hier diese Bezeichnung deshalb nicht, weil es, teleologisch gesehen, in einem anderen Zusammenhang steht. B hat die Aufgabe, bei A die Entfaltung praktischer Rationalität zu provozieren, zu stützen und zu lenken – anfangs auch durch konditionierendes Verhalten. Erst wo A’s Verhalten wenigstens ansatzweise vernunftbestimmt ist, kann überhaupt von einem Willen die Rede sein, dessen Freiheit durch den Versuch der Konditionierung mißachtet würde. Und, allgemeiner: Erst wo autonomes Verhalten möglich ist, kann die Gewährung von Autonomie geboten sein.
11.5
Das Kind hat Anspruch auf eine Gegenwart, die Selbstzweck ist
Erziehung unterscheidet sich von anderen poiesis-Formen u. a. durch die Bedeutung der jeweils erreichten Stadien: Bei der Reparatur eines Wagens bezieht jedes Stadium seinen Wert allein aus seiner Funktion auf dem Weg zum finalisierenden End-Stadium: zur Fahrtüchtigkeit des Wagens. Hingegen hat jedes Stadium der charakterlichen Entwicklung des Heranwachsenden zwar auch eine 20 Angemessene Erziehung ist also kein bloßes ›Wachsenlassen‹ – ebenso wenig, wie sie bloße Geburtshilfe ist – aber auch kein ›Führen‹ in irgend einem intentionalistischen Sinne. Erst recht wird man Erziehung, als Handeln verstanden, nicht mit dem fragwürdigen Unterfangen verwechseln, in der nachwachsenden Generation dem ›vorausgeahnten Neuen‹ zu seinem ›Recht‹ gegen die abdankende Gegenwart und zum glorreichen Durchbruch zu verhelfen. Zur Kritik an diesen Vorstellungen vgl. Litt 1965, S. 17–36. Allerdings richtet sich Litts Kritik nicht nur gegen »Antizipationen der Zukunft« (S. 42), sondern ebenso gegen die Repristinierung des Vergangenen. Hierzu vgl. 15.4 (c).
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Funktion für das Erreichen seiner Ziel-Verfassung (16.2); darüber hinaus jedoch scheint Erziehung auf jedes der Mündigkeit vorausliegende Stadium auch um seiner selbst willen ausgerichtet zu sein. Was heißt das? Wenn erzieherische Absicht kein unentbehrlicher Bestandteil von Erziehung ist, kann es nicht heißen, der Erzieher solle mit seinen ›Maßnahmen‹ das heutige und das morgige Wohl des Heranwachsenden ebenso ›bezwekken‹ wie seine schließlich zu erreichende charakterliche Selbständigkeit. Es muß vielmehr heißen: Auch wenn der Heranwachsende diese Ziel-Verfassung nicht erreicht, hat seine Erziehung nicht eo ipso ›umsonst‹ stattgefunden. Es liegt in der Natur der nicht abgeschlossenen Reparatur, daß sie das Fahrzeug, grob gesprochen, in einem (noch) nicht brauchbaren Zustand beläßt. Bei der Erziehung indessen geht es in keinem vergleichbaren Sinn um Brauchbarkeit (Kapitel 9). Wo immer sie ›angelangt ist‹, steht sie unter dem Anspruch, für den Heranwachsenden um seinetwillen – nicht nur um seiner Zukunft willen – das Beste getan zu haben. Eine endgültig abgebrochene Reparatur hat, so kompetent sie auch ausgeführt wurde, ihr telos verfehlt und, von zufälligen Nebenwirkungen abgesehen, nichts erreicht. Von der abgebrochenen Erziehung kann man Entsprechendes nicht sagen. Oder doch? »Bei einer bedeutenden Anzahl der zu Erziehenden kommen die beabsichtigten Momente gar nicht zur Erscheinung«, schreibt Schleiermacher. »Denn es fällt in die Periode der Erziehung die größte Sterblichkeit, so daß die Aufopferung des früheren Moments für diejenigen, welche früh sterben, ohne Beziehung ist«.21 Der inzwischen erfolgte Rückgang der Kindersterblichkeit tut hier nichts zur Sache. Die entscheidende Frage lautet, grob gesprochen, ob die Erziehung vielleicht dem Heranwachsenden, solange er das Stadium der Mündigkeit nicht erreicht hat, oder doch in den ersten Jahren seiner Entwicklung, um dieses Stadiums willen ›mehr genommen als gegeben hat‹? Zu dieser Frage, die ausführlicher analysiert und diskutiert zu werden verdiente, will ich hier wenigstens zwei skizzenhafte Bemerkungen machen. Erstens handelt es sich, wie schon angedeutet, offenbar um eine Frage, die in den Bereichen technischer poiesis keine Entsprechung findet. Und es ist der praktische Charakter der Erziehung, der die Antwort bestimmen muß. Diese lautet: Erziehung ist auch da nicht sinnlos, wo sie ihr inhärentes poietisches telos nicht erreicht. Denn auf der einen Seite ist die Substanz der guten Erziehung nichts anderes als Tugend-Praxis (Kapitel 13) und als solche unweigerlich guter Umgang des Erziehers mit jedem Gegenüber. Insbesondere muß B, um A gut zu erziehen, dessen Wohl zu jeder Zeit als Ganzes im Blick behalten und die eventuelle Rücksicht auf spezifisch erzieherische Gesichtspunkte in eine umfassendere Klugheit integrieren (Kapitel 14). Auf der anderen Seite – und das ist vielleicht noch wichtiger – gehört zum Gedeihen eines Heranwachsenden die 21 Dies schreibt Schleiermacher (1968, S. 52) auf dem Hintergrund einer intentionalistischen Konzeption, die hier aber nichts zur Sache tut. Vgl. zum Thema auch Brumlik 1992 b, S. 159–170.
11 Das Kind als Subjekt
255
ihm jeweils erreichbare ethische Orientierung nicht erst dann, wenn seine Erziehung abgeschlossen ist.22 Hieraus geht hervor, daß sich Erziehung durch den Anspruch unbedingter Sinnhaftigkeit von der Ausbildung unterscheiden muß. Eltern mit dem traurigen Wissen, daß ihr Kind zwei Jahre später nicht mehr leben wird, werden es – von sehr besonderen Beweggründen abgesehen – keine Fertigkeiten lernen lassen, durch deren Ausübung es innerhalb der verbleibenden Zeit weder sich noch anderen nützen oder Vergnügen bereiten kann.23 Dieselbe Perspektive liefert hingegen keinen Grund, die Vermittlung von Vernunft und Tugend einzuschränken. Für Vernunft und Tugend hat jeder ›Verwendung‹, der ihrer fähig ist; und zwar in dem Maß, in dem er seiner Entwicklung nach ihrer fähig ist; und daher, mit dieser Einschränkung, immer. Denn Vernunft und Tugend qualifizieren das Leben, dessen er fähig ist. Damit ist angedeutet, wie Erziehung dem Anspruch gerecht werden kann, die Entwicklungsstadien des Heranwachsenden nicht nur als Mittel auf dem Weg zur Ziel-Verfassung zu behandeln. Auf diesem Hintergrund betrifft meine zweite Bemerkung die Frage, warum ein solcher Anspruch plausibel ist. Der Grund – oder wenigstens ein Grund – hat damit zu tun, daß das Kind Subjekt ist. Erziehung ist etwas anderes als Dressur. Zwar hat sie zu Beginn den Charakter der Abrichtung (16.4). Aber diese frühe Etappe kann nur deshalb Erziehung heißen, weil sie im Fall des Menschen etwas anderes vorbereitet, das im Vergleich zur Abrichtung paradigmatische Erziehung heißen kann. Paradigmatisch ist Erziehung erst da, wo sie auf die Beweggründe des Heranwachsenden einwirkt – wo ich als Erzieher einem zusehends eindeutiger handelnden Subjekt begegne. Von einem Subjekt jedoch und erst recht von einem, das 22 Wie löst Schleiermacher selbst sein Problem? Ihm zufolge muß »jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist« (1968, S. 53). Dies sei möglich, sofern wir »dann, wenn die Zustimmung des Zöglings erfolgt und kein Widerstreiten auf die Zukunft Rücksicht zu nehmen entgegensteht, die Befriedigung des Moments in dieser Zustimmung selbst erkennen. Dann bleibt das Leben des Zöglings, auch wenn es mitten in der Periode der Erziehung unterbrochen wird, ein solches, das auf sittliche Weise als Zweck behandelt worden ist« (S. 54). Im Hintergrund steht ein allgemeineres ethisches Postulat: »Die Lebensthätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben« (S. 53) – eine Variante der Anti-Fremdkörper-These, die ich hier vertrete (vgl. bereits 6.3 (d) und 9.2 (b)). Freilich artikuliert sich in dieser Sicht ein Ideal. Gieseckes Forderung (1999, S. 245) ist bescheidener: »Das gegenwärtige Alltagesleben muß den Kindern als einigermaßen [!] befriedigend erscheinen«. Doch hat man eher an Ausbildung als an Erziehung zu denken, wenn er fortfährt: »Ferner muß das befriedigende Alltagsleben über sich hinausweisen in eine aussichtsreiche Perspektive für das weitere Leben. Sonst kann Kindern nicht lohnend erscheinen, die als befriedigend erlebte Gegenwärtigkeit zeitweise für Lernanstrengungen außer Kraft zu setzen.« 23 Anders steht es um die Vermittlung von Bildung. Bildung – also nicht Ausgebildet-Sein hierzu oder dazu, sondern Wissen um den Menschen und seinen Platz in der Welt als Beitrag zum eigenen Selbstverständnis – ist in einem ähnlichen Sinne Selbstzweck wie der gute Charakter.
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in einer besonderen Beziehung zu mir steht, gehen typische moralische Ansprüche aus.24 Dadurch, daß dieses Subjekt weiterhin erziehungsbedürftig (weil noch nicht selbständig) ist, werden solche Ansprüche eingeschränkt, nicht aber aufgehoben. Die Ansprüche besagen hier vor allem: Die Einflußnahme des Erziehers hat nicht nur den Weg des werdenden Subjekts zum selbständigen guten Charakter zu fördern (11.4), sondern seine Wünsche und Absichten auch in ihrer Bedeutung für heute und morgen ernstzunehmen. Im Säuglingsalter verlangt das Kind vom Erzieher eine Ehrfurcht, die sich vor allem in förderlicher Vorbereitung seiner charakterlichen Entwicklung manifestiert. Sehr bald jedoch gestaltet das Kind sein Leben; und es erlebt sich dementsprechend. Deshalb will jetzt jede Phase dieses Lebens – mit allem Wollen, mit Erfolg und Vergeblichkeit – auch in ihrer unmittelbaren Bedeutung für das Kind, nicht nur im Hinblick auf dessen charakterliche Ziel-Verfassung bewertet und respektiert sein.
11.6
Ist Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung eine paradoxe Aufgabe?
Die bisherigen Abschnitte dieses Kapitels betreffen vor allem die Frage, ob und wie Erziehung mit Ehrfurcht vor dem Wollen des Heranwachsenden vereinbar sei. Sie zeigen, daß die als poiesis verstandene Erziehung diese Ehrfurcht nicht ausschließt, daß aber erst das Verständnis der Erziehung als praxis zeigt, wie man sich diese Vereinbarkeit vorzustellen hat. Deutlicher wird das Ungenügen der poietischen Konzeption, wenn man fragt: Wie kann Erziehung das Wollen des Heranwachsenden prägen? Auf welchem Weg läßt sich ein guter (oder auch ein schlechter) Charakter überhaupt bewirken? Eine solche Möglichkeit scheint bereits der Begriff der Erziehung auszuschließen. Denn einerseits hat diese keinen Sinn und keine Berechtigung, wenn die Verhaltensweisen des Erzogenen nicht, zumindest partiell, als Lern-Resultate den Einfluß dieser Erziehung widerspiegeln. Andererseits jedoch ist Erziehung nur dann gelungen, wenn das Verhalten des Heranwachsenden zusehends Selbständigkeit der Motivation beweist. – Das Problem läßt sich auch als Dilemma artikulieren: Entweder hat Erziehung auf den Willen des Heranwachsenden einen entscheidenden Einfluß. Dann ist A’s Wollen, soweit die Erziehung erfolgreich ist, durch B’s Wollen bestimmt. Für ein solchermaßen determiniertes Wollen ist A selbst nicht verantwortlich. Einen gesunden Erwachsenen aber machen wir für sein Wollen verantwortlich; denn zum Erwachsen-Sein gehört die Orientierung 24 Ich vertrete hier definitiv nicht die Auffassung, vor der Bekundung von Subjektivität sei der Mensch keine Person, so daß von ihm keine Ansprüche auf Gerechtigkeit, Wohlwollen usw. ausgehen könnten. Doch gewinnen die Ansprüche beim erlebenden und handelnden Subjekt neue Inhalte.
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des Handelns an selbst-konzipierten Gründen. Das aber heißt: Je wirksamer die Willenserziehung, desto weniger verantwortlich und erwachsen ist der so Erzogene. Das ideale Ergebnis der Charakterbildung wäre demnach nicht wirklich ein Wesen, das frei wählt, was es tut, sondern eine Marionette, über unsichtbare Fäden von vergangenen Auslösern mit Langzeitwirkung gesteuert.25 Oder aber der Heranwachsende bildet in dem Maß, in dem seine Erziehung ihr Ziel erreicht, einen Charakter aus, dessen Qualität nicht durch erzieherische (oder sonstige) Einflüsse determiniert ist. Dann steht zwar am Ende der Erziehung vielleicht ein freies, erwachsenes, zurechenbares Wollen. Warum aber sollte dieses Wollen ›Ergebnis der Erziehung‹ heißen? Von jenem kausalen Zusammenhang, den die poietische Konzeption der Erziehung postuliert, kann kaum die Rede sein, wenn einer als desto erwachsener gilt, je weniger sein Wollen durch die Einwirkung des Erziehers determiniert ist! Welche der beiden Alternativen wir auch gelten lassen: auf jeden Fall, so scheint es, müssen wir den Gedanken aufgeben, Erziehung könne einen guten (oder schlechten) Charakter bewirken. »Erziehen«, schreibt Natorp (1985, S. 8), »heißt Wollenmachen«. »Velle«, heißt es indessen bei Schopenhauer, »non discitur«; und schon deshalb kann man anscheinend die Frage des Sokrates, ob Tugend lehrbar sei, nicht bejahen. Das alte Paradox der Pädagogik hat uns eingeholt: Erziehung unternimmt das Unmögliche: Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung. Es würde zu weit führen, Richtiges und Irreführendes in der oben formulierten dilemmatischen Version des pädagogischen Paradoxons auseinanderzudividieren. Daß hier gerade die poietische Sicht der Erziehung vor einem wirklichen Problem steht, können wir aber auch einer weniger dramatischen Überlegung entnehmen: Zum Begriff des Handelns – und damit auch zu dem des Charakters – gehört die Idee des Handelnden als letzter Ursache des Geschehens, in dem das Handeln sich zeigt. Diese Idee ist mit der Annahme, A’s Handlungsweise werde durch Erziehung (oder durch irgend etwas anderes) bewirkt, nicht vereinbar. Also kann B’s Einwirkung A’s Handlungsweise nicht bestimmen. Als ethische Erziehung verstanden, so scheint es, ist Erziehung ein widersprüchlicher Begriff. Und ein wenig abstrakter: Im Handeln bestimmt der Handelnde sich selbst. Die resultierende Bestimmung kann nicht zugleich durch eines anderen Menschen poiesis zustande kommen. Der Gegenstand einer poiesis ist als solcher wesentlich passiv: er ist Rezipient, nicht Produzent von Veränderung. Die Unberechenbarkeit erzieherischer Wirkungen muß demnach wohl mehr sein als ein kontingenter Mangel an Naturgesetzlichkeit. Diese Wirkungen ›dürfen‹ gar nicht berechenbar sein: sonst würde Erziehung den Heranwachsenden nicht dazu führen, frei von bestimmenden Einwirkungen anderer zu handeln; sie 25 Seine ›Wahl‹ wäre determiniert und vorhersagbar. Das hier zugrunde liegende non-kompatibilistische Verständnis von Freiheit verteidigen eine Reihe von Autoren mit überzeugenden Argumenten. Vgl. insbesondere van Inwagen 1983 und Anscombe 1981 d.
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würde vielmehr selbst durch Bestimmung seines Tuns und Lassens derartiges Handeln hintertreiben. – Was damit gemeint ist, wird besonders deutlich, wenn wir Erziehung und Dressur miteinander vergleichen. Zwar läßt sich auch bei der Dressur von Tieren die Wirkung einer Maßnahme faktisch nicht mit Sicherheit vorhersehen. Doch können wir uns unfehlbar wirksame Maßnahmen hier vorstellen. Dagegen ist mit der Idee der Erziehung und ihres Ziels eine deterministische Vorstellung erzieherischen Wirkens nicht vereinbar. Freilich ist es auch nicht mit der Vorstellung getan, erzieherische Bemühungen seien das eine Mal wirksam und das andere Mal nicht. Man kann aber einstweilen sagen: Charakter-Erziehung vermag nur Bedingungen bereitzustellen, unter denen dem Heranwachsenden bestimmte Verhaltensweisen und insbesondere Motivationsmuster suggeriert werden und andere nicht.
11.7
Durch ›learning by doing‹ entstehen eigenständige Motivationsstrukturen emergent
Die bisherigen Beobachtungen zum Paradox der Erziehung weisen darauf hin, daß der Heranwachsende, entgegen dem grammatischen Anschein, nicht ganz und gar passiv ›erzogen wird‹, sondern notwendigerweise durch so etwas wie up-take dazu beiträgt. Was heißt das näherhin? Was bedeutet es für das Verständnis der Erziehung als poiesis? Man könnte hier darauf hinweisen, daß so manche auf Menschen bezogene poiesis die Kooperation ebendieser Menschen verlangt – zumindest, wenn sie zum Erfolg führen soll. Die poiesis des Friseurs z. B. ist darauf angewiesen, daß der Kunde den Kopf ein bißchen zur Seite neigt, still hält etc. Und als paradigmatisch kommt uns vielleicht der Arzt in den Sinn, der seine Behandlung oder sein Rezept mit den Worten begleitet: ›Sie müssen aber ...‹. Indessen liegt in diesen Situationen noch keine hilfreiche Analogie zur Angewiesenheit der Erziehung auf den Beitrag des Heranwachsenden. Zum einen nämlich hat dieser Beitrag ja – anders als beim Kunden des Friseurs und beim Patienten des Arztes – nicht von vornherein den Charakter vernunftgeleiteten menschlichen Handelns. Eine sozusagen ausgewachsene praxis, die durch bestimmte Motivationsstrukturen (aufkosten von Alternativen) ausgezeichnet ist, soll das Kind ja im Verlauf der Erziehung erst erwerben. Zum anderen ist es ein bloß empirisches Faktum, daß Therapie und Haarschnitt die Mitwirkung des Gegenübers verlangen – ein Faktum, das zudem Ausnahmen duldet: der Arzt behandelt nicht selten einen Bewußtlosen; und Samson wurde von seiner Frau im Schlaf geschoren. Vor allem ist das, was solche poiesis bezweckt, ein Zustand, der sich vom Beitrag des Klienten zu seiner Verwirklichung losgelöst denken läßt. Anders im Fall der Erziehung: Hier ist das telos A’s charakterliche Verfassung; und auf diese Verfassung bezieht sich das, was A zu ihr beiträgt, nicht lediglich als ursächlich wirkendes Mittel – nicht als ermöglichende, sondern als konstitutive Bedingung.
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Was immer B dafür tut, daß A z. B. die Tugend der Dankbarkeit erwirbt: A wird nicht dankbar, ohne anzufangen, sich dankbar zu verhalten. Sein Beitrag besteht nicht darin, daß er (wie der Kunde des Friseurs) kausal erforderliche Bedingungen beisteuert, sondern darin, daß er im eigenen Handeln diejenige Motivationsstruktur realisiert, die er erwerben und zum Bestandteil seiner charakterlichen Verfassung machen soll. Soll A also Dankbarkeit erwerben, indem er etwas tut, das einen dankbaren Charakter bereits voraussetzt? Ganz so kann es natürlich nicht sein. Bei Aristoteles findet sich sowohl die klassische Formulierung des Problems als auch ein Hinweis auf die einzig plausible Lösung. Er fragt danach, »wie es gemeint ist, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit gerecht und durch Handlungen der Mäßigkeit mäßig werden müsse, da man doch, um sich gerecht und mäßig zu verhalten, schon gerecht und mäßig sein müsse«26. Angewendet auf den Fall der Dankbarkeit läuft seine Antwort27 auf folgendes hinaus. Am Beginn von A’s Weg zur Tugend steht ein Tun, das nur im äußeren Vollzug die Kriterien dankbaren Handelns erfüllt: auf einschlägige Anlässe reagiert A mit dem geforderten ›Danke!‹. Das Reaktionsmuster ist durch eine Art Abrichtung zustande gekommen und hat sich durch Gewöhnung befestigt. Sofern von Beweggründen die Rede sein kann, liegen die zunächst im Wunsch, B’s Erwartung zu entsprechen, in der Aussicht auf Lohn oder Strafe und dergleichen. Am Ende des Lernwegs steht dankbares Handeln im Sinne der von Aristoteles angeführten Kriterien: die Reaktion ist jetzt erstens bewußt, zweitens ethisch motiviert, drittens selbstverständlich und insofern vorhersehbar. Dabei interessiert hier insbesondere das zweite Merkmal. Für das Beispiel der Dankbarkeit bedeutet es: A reagiert nicht, wie wir sagen, ›mechanisch‹; Anlässe zu danken nimmt er selbständig wahr, und er läßt sich, ›unaufgefordert‹, von ihnen zum Dank bewegen; er tut dies auch da, wo keinerlei sekundäre Motive in Sicht sind; seine Äußerungen von Dankbarkeit sind unabhängig von der Stellungnahme anderer; er bedauert es, einem Erweis von Wohlwollen nicht dankbar begegnet zu sein; was er sagt und tut, bringt seine Wertschätzung von Dankbarkeit zum Ausdruck; etc. Unter Gesichtspunkten der Kausalität kann man den Unterschied, wiederum vereinfachend, so kennzeichnen: Zu Beginn läßt sich das ›Danken‹ zwar A zuschreiben; es manifestiert jedoch eine Disposition, die nicht nur durch B her26 So EN II 3, 1105a17–20. Vgl. auch 2, 1103a31–b25. 27 EN II 3, 1105a28–33 = 1972, S. 32:Aristoteles»Eine dem sittlichen Bereich angehörende Handlung [...] ist nicht schon dann eine Handlung der Gerechtigkeit und Mäßigkeit, wenn sie selbst eine bestimmte Beschaffenheit hat, sondern erst dann, wenn auch der Handelnde bei der Handlung gewisse Bedingungen erfüllt, wenn er erstens wissentlich, wenn er zweitens mit Vorsatz, und zwar mit einem einzig auf die sittliche Handlung gerichteten Vorsatz, und wenn er drittens fest und ohne Schwanken handelt. [...] Die Werke werden mithin als Werke der Gerechtigkeit und Mäßigkeit bezeichnet, wenn sie solche sind, wie sie der Gerechte und Mäßige verrichtet.« – Vgl. auch Kapitel 16 über Stadien der Erziehung.
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Teil III · Produktive Praxis
beigeführt, sondern noch in zwei weiteren Hinsichten sein Werk ist. Erstens sind Verwirklichung und Fortbestand dieser Disposition davon abhängig, was A in einschlägigen Zusammenhängen von B zu erwarten hat. Zweitens läßt sich (noch) nicht behaupten, A sage in dieser Situation ›Danke!‹, weil er in empfangenen Wohltaten einen hinreichenden Grund zu derartigem Verhalten erblicke; der für Dankbarkeit charakteristische Beweggrund liegt vielmehr bei B. – In beiden Hinsichten unterscheidet sich die Dankbarkeit, die A schließlich erwirbt, und damit auch das echte Danken von der anfänglichen Disposition und ihrer Manifestation. Der ausgebildete Charakter manifestiert sich erstens unabhängig von tatsächlichen oder präsumierten Anstößen, Reaktionen, Sanktionen von anderer Seite; und zweitens praktiziert A die manifestierten Motivationsmuster, weil er selbst sie als normativ bejaht. Es wäre irreführend, den von A zurückgelegten Weg nachzeichnen zu wollen, indem man sagte: ›Am Anfang steht ein von B verursachtes Tun; A’s eigene Initiative, sein Impuls trägt zusehends mehr dazu bei, daß er sich dankbar verhält – bis schließlich die Verursachung ganz bei ihm liegt.‹ Eine solche Darstellung läßt sich von einem mechanistischen Bild der Kausalität leiten, das auf das Werden des Charakters kein erhellendes Licht wirft. Eher könnte man sagen: Am Ende von A’s Weg zur Dankbarkeit steht ein anderes Tun als an seinem Anfang; und der Unterschied läßt sich nicht anders charakterisieren, als in den drei vorangehenden Absätzen angedeutet – durch Bezug auf die jeweiligen Beweggründe, mit denen A und B an den unterschiedlichen Stadien beteiligt sind. Was ergibt sich aus all dem für die Beantwortung der Frage: Wie kann A’s Dankbarkeit sowohl Ergebnis seiner Erziehung sein als auch Teil des Charakters, für dessen Manifestationen wir ihn verantwortlich machen?
11.8
Das Paradox der Erziehung spiegelt eine allgemeinere Spannung zwischen Kausalität und Verantwortlichkeit
Man ist versucht, das Paradox der Erziehung dadurch aufzulösen, daß man an seine Stelle ein Nacheinander setzt: Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist die erworbene Disposition der Dankbarkeit (samt ihren Manifestationen?) B’s Werk; dann geht A dazu über, die Dankbarkeit sozusagen in eigener Regie zu praktizieren. – Wessen Werk aber ist dieser angebliche ›Übergang‹? Hat Erziehung ihn bewirkt, wie kann er dann A’s Verantwortlichkeit für sein dankbares Verhalten begründen? Kommt der ›Übergang‹ dagegen aus A’s Impuls heraus zustande, der Impuls aber nicht durch B’s Einfluß, warum sollte man dann überhaupt von einem Ergebnis der Erziehung sprechen? Ich werde hier nicht zu analysieren versuchen, wie B’s Einfluß und A’s eigener Beitrag auf dem Weg von dessen Charakterbildung tatsächlich ineinander greifen. Auch auf Stadien der Erziehung werde ich hier nicht eingehen. Es muß genügen, auf zwei Punkte hinzuweisen.
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261
a) Der Wandel vom anfänglich ›andressierten‹ Reaktionsmuster hin zum dankbaren Verhalten vollzieht sich kontinuierlich. Das bedeutet nicht, zwischen beidem gebe es keinen qualitativen Unterschied. Es deutet aber auf einen Umstand hin, der jene Kontinuität ermöglicht: Ob ein Verhalten noch dem bloßen Reaktionsmuster oder aber bereits der Motivationsstruktur der Dankbarkeit zuzurechnen ist, kann sich teilweise am Mehr oder Weniger eines bestimmten Verhaltensaspekts entscheiden. Daher ist der qualitative Unterschied keine Angelegenheit scharfer Grenzen. Eher gibt es einen fließenden Übergang zwischen der Auslösung bloß konditionierten Verhaltens einerseits und typisch menschlicher Motivierung andererseits. Im übrigen können selbstverständlich begrifflich unterschiedene Motivationsmuster in der Realität des Lebens einander durchdringen. b) B’s Verhalten und seine Auswirkungen auf A’s Situation verlieren im Verlauf von dessen Erziehung den Charakter bloßer Ursachen und Auslöser und erhalten zunehmend die Bedeutung besonders markanter Faktoren im Geflecht jener Wirklichkeit, der A die Beweggründe für sein Verhalten entnimmt. An die Stelle der Erzieher-Hand, die A’s Hand ergreift und beim ›Danken‹ führt, tritt der verbale Hinweis; dieser Hinweis wiederum wirkt zunächst vielleicht als bloßer Auslöser; dann aber motivierend: als Drohung, als Signal für eine Möglichkeit, A’s Liebe mit Gegenliebe zu erwidern, als Aufforderung zum Gehorsam; und schließlich wirkt derselbe Hinweis als zusehends überflüssige Erinnerung daran, daß das inzwischen bereits verwurzelte Motiv der Dankbarkeit im Geschenk der Tante einen passenden Anlaß der Betätigung findet. (Vgl. 16.4.) Mit anderen Worten: Zwar verweist nach erfolgter Erziehung A’s Handeln weder in seinen unmittelbaren Ursachen noch in seinen Beweggründen auf B; zwar machen wir A inzwischen für die guten bzw. schlechten Qualitäten seines Charakters und Handelns verantwortlich, insofern sie seinem der Vernunft zugänglichen Wollen entsprechen; zwar ist A sogar schon während seiner Erziehung in dem Maß, in dem er ein Motivationsmuster wie Dankbarkeit realisiert, alleiniges Subjekt dieser Realisierung. Dennoch können sein Charakter und sein Handeln bzw. deren Qualitäten zugleich auf indirekte Weise Erziehungsergebnis sein – insofern nämlich, als B Situationen herbeigeführt hat, die für A suggestive Gelegenheiten gewesen sind, das fragliche Motivationsmuster zu entfalten. Die hier gemeinten ›Gelegenheiten‹ umfassen B’s Vorbild, die Attraktivität seines eigenen dankbaren Verhaltens, seine erlebbare Einstellung zu A, Erklärung und Hinweis, kritische Frage und Gespräch, arrangierenden Eingriff in A’s Umgebung; und indirekt auch das, was B in A’s Verfassung sozusagen diesseits der Dankbarkeit bewirkt bzw. mit-bewirkt: Gewohnheiten, Reaktionsmuster, Richtung der Aufmerksamkeit usw. ›Gelegenheiten‹ sind also Bedingungen, die eine praxis des Heranwachsenden – hier genauer: die Qualifizierung seines Handelns in der Dimension der Motivierung durch empfangene Wohltaten – unter den Umständen möglich machen.
262
Teil III · Produktive Praxis
In alles, was Menschen, noch so frei handelnd, tun, gehen Bedingungen ein: solche, die das Handeln aktuell ermöglichen; aber auch andere, die auf die Bildung der jetzt benennbaren Antriebe, Vorstellungen, Motivationsmuster Einfluß genommen haben. Zu den Bedingungen der zweiten Art trägt insbesondere die Erziehung bei. Doch besteht kein Grund, sich von der Spannung zwischen ihrer Kausalität und der Verantwortlichkeit des Subjekts stärker beunruhigen zu lassen als von der Spannung, die man – wohl unumgänglich – ganz allgemein empfindet, wenn man das Verhältnis zwischen den Einflüssen auf das Verhalten eines Menschen und seiner Verantwortlichkeit für dieses Verhalten reflektiert. Das Besondere des erzieherischen Einflusses liegt nicht so sehr in seiner Kausalität als in seiner Finalität; sobald wir artikulieren, was Erziehung soll, offenbart sich ihr paradoxer Charakter: B soll dafür sorgen, daß A sein Verhalten selbständig an bestimmten Beweggründen, G, orientiert; und zwar soll B dies durch ein Handeln erreichen, das dem A zunächst einmal andere Gründe für sein Verhalten liefert; und A soll durch diese anderen Gründe irgendwie veranlaßt werden, schließlich (unabhängig von diesen Gründen) sein Verhalten an jenen ›bestimmten Beweggründen‹, G, zu orientieren.28 Freilich wirkt Erziehung in der Regel über eine besonders lange Zeit hinweg, durch unterschiedliche Stadien der Entwicklung hindurch; und die Beziehung zwischen A und B bestimmt die besondere Art und (im allgemeinen) das hohe Maß ihrer Wirksamkeit. All dies verleiht jedoch ihrer Ursächlichkeit keine einzigartige Qualität. Wenn wir A’s Erziehung aus dem Geflecht der Einflüsse hervorheben, die ihn prägen, so übernehmen wir leicht die Perspektive von B. Und aus dieser Perspektive mag sich die Frage stellen: ›Wie kann das, was ich bei A erreiche, etwas sein, wofür er zugleich verantwortlich ist?‹ Sehen wir indessen von dieser Perspektive ab und versetzen uns – soweit dies möglich ist – in die Situation des Kindes, so läßt sich die Erziehung gar nicht von vornherein als eigenständiger Einflußfaktor ausmachen und abgrenzen. A wird in seinen charakterlichen Dispositionen von allen möglichen Komponenten seiner Umgebung beeinflußt – typischerweise, ohne es zu merken und, a fortiori, ohne sozusagen zwischen Erziehung und sonstiger Sozialisierung zu unterscheiden. Erst mit fortschreitendem Alter erkennt und erlebt der Heranwachsende Erziehung als Erziehung. Die durchgängige Bedingtheit auch freien Handelns sollte man sich nicht nach dem Modell einer Kombination von Ursachen vorstellen – als könnte man fragen: Ist A’s Wollen für sein Verhalten stärker oder weniger stark verantwortlich als B’s vorangehende Einwirkung? Vielmehr ist dieses Verhalten grundsätzlich A’s freies Handeln, wenn er Gründe nennen könnte, aus denen er sich so verhalten hat, oder aber Gründe, aus denen er anders hätte handeln können.29 Nehmen wir an, A zeige Dankbarkeit gegen X, indem er X einen Brief schreibt. 28 Vgl. die Beschreibung von Etappe zwei der Erziehung in 16.5. 29 Eine genauere Analyse des Verhältnisses zwischen Handeln und der Fähigkeit, die Frage nach Gründen zu beantworten, nimmt Anscombe 1963 vor.
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Vielleicht ist A’s Dankbarkeit – und damit auch sein Verhalten X gegenüber – eine Folge der Erziehung durch B. Dankbar ist dieses Verhalten aber durch die Art des Beweggrundes, aus dem A den Brief schreibt. Schreibt er beispielsweise an X, weil dieser ihn in den Ferien aufgenommen hat, so ist das Verhalten auf Gründe bezogen und somit freies Handeln. Daß die Erziehung durch B dafür gesorgt hat, daß A sich durch die Gastfreundschaft eines anderen zum Danken bewegen läßt, ändert daran nichts. Es paßt vielmehr in unsere allgemeinere Vorstellung, daß auch freies Tun und Lassen dennoch bedingt ist. Die Frage, unter welchen Einwirkungen A dazu gekommen ist, sich an diesen und nicht an anderen Gründen zu orientieren, spielt in der Regel nur dann eine Rolle für die Zurechnung des Verhaltens, wenn die Art dieser Einwirkungen von ›der Norm‹ abweicht. Dabei spiegelt ›die Norm‹ vor allem das Übliche wider. Ansonsten dürfte sie schwer zu bestimmen sein. Immerhin können wir uns darauf verständigen, daß eine solche Abweichung etwa in Fällen von Gehirnwäsche oder posthypnotischer Suggestion vorliegt, nicht aber im Fall von Beratung und – Erziehung. Auf solche Verständigung ist der gemeinsame Gebrauch des Wortes ›Freiheit‹ angewiesen. Betrachten wir Erziehung – und überhaupt Sozialisation – als Einwirkung, die Freiheit und Verantwortlichkeit unterminiert: unter welchen Umständen wollen wir dann überhaupt Begriffe wie frei und verantwortlich auf menschliches Handeln anwenden? Vor allem aber: Wenn das Verhalten eines Menschen typischerweise dann als frei gelten und zugerechnet werden kann, wenn es den angedeuteten Bezug auf Beweggründe aufweist, so kann Erziehung der Freiheit und Zurechenbarkeit seines Verhaltens im Normalfall nicht im Weg stehen. Denn im Normalfall ist gerade Erziehung diejenige Einwirkung, unter der ein Mensch die Orientierung an Beweggründen – und so die Qualifizierung zur Freiheit – überhaupt erst erwirbt. Genauer: Nur in Ausnahmefällen werden wir die Norm einer zur Freiheit führenden Erziehung nicht erfüllt sehen. Wann dies der Fall ist, bleibt allerdings eine wichtige und schwierige Frage, die sich allenfalls grob beantworten läßt. Wir werden an Weisen von B’s Umgang mit A denken, die wir als manipulierend oder indoktrinierend bezeichnen würden oder die sich Methoden der Gehirnwäsche nähern. Vielleicht spielt aber auch die Art der Gründe eine Rolle, die A in seinem Verhalten zu bedenken und zu beherzigen oder aber zu ignorieren lernt. Ist A im Verlauf der Erziehung zu einem abgefeimten Schurken oder zu einem innerlich verwahrlosten Gangster geworden, werden wir vielleicht weniger bereit sein, ihm die volle Verantwortung für sein Verhalten zuzuschreiben, als wenn er unter B’s Einfluß einen guten Charakter entwickelt hat. (Warum?) Nur werden wir nicht alles, was schlechte Erziehung heißen kann (und welche Erziehung ist rundherum gut?), als freiheitsmindernd ansehen können. Bindet man die Bedeutung der Ausdrücke ›Freiheit‹ und ›Verantwortlichkeit‹ an so enge Kriterien, daß sie auf das Verhalten eines Menschen kaum je zutreffen, so ist dies ein sicheres Zeichen dafür, daß man nicht verstanden hat, wie diese Ausdrücke tatsächlich zu verwenden sind.
264
11.9
Teil III · Produktive Praxis
Der Erzieher ist mehr als ›Geburtshelfer‹
Die Zuschreibung von Freiheit und Verantwortlichkeit konkurriert also nicht mit der Feststellung, A verdanke seinen guten (oder eben auch schlechten) Charakter der Erziehung durch B. Eher, so habe ich suggeriert, schafft Erziehung nichtdeterminierende Bedingungen, unter denen A dazu gelangt, sich so zu verhalten, daß er selbst für dieses Verhalten verantwortlich ist. Mit dieser Gegenüberstellung beanspruche ich allerdings keineswegs, eine Analyse menschlicher Freiheit zu liefern oder der kausalen Komplexität des Zustandekommens eines Charakters alles Undurchdringliche und Geheimnisvolle zu nehmen. Die Unterscheidung zwischen Bedingungen oder Gelegenheiten, die B bereitstellt, auf der einen Seite und A’s Umgang mit ihnen auf der anderen kann nicht bedeuten, B sei lediglich eine Art Geburtshelfer. Das wäre jemand, ohne dessen Beistand A’s Charakter zwar nicht das Licht der Welt erblicken könnte, der aber zur Gestalt dieses Charakters nichts beisteuerte. Eine solche Sicht des Erziehers schließt ohne guten Grund – und völlig unplausibel – eine Möglichkeit aus, die kaum jemand leugnen wird: daß nämlich dieser selbe A unter dem Einfluß von C zu einem besseren oder schlechteren oder jedenfalls charakterlich anderen Menschen werden könnte als unter dem Einfluß von B. Der sokratische Vergleich könnte eher auf gewisse Bereiche oder Aspekte der Ausbildung ein Licht werfen: auf den Erwerb von Kompetenz im Sinne einer Fertigkeit. In der Schreinerlehre wird man angewiesen, Dinge zu tun, die man entweder schon tun kann oder durch eigenes Üben erlernt, so daß man sie schließlich tun kann. Die Rolle des Meisters beschränkt sich darauf, zu sagen und zu zeigen, welche Fähigkeit zu welchem Zweck einzusetzen und wie sie nötigenfalls einzuüben ist. Insofern der Lehrling diese Fähigkeit entweder schon mitbringt oder selber einübt und insofern er das Ziel, ein kompetenter Schreiner zu sein, schon anstrebt: insofern verdanken sich weder Besitz noch Erwerb noch Betätigung der Fähigkeit dem Einfluß des Meisters. Ausbildung scheint weitgehend darin zu bestehen, dem Auszubildenden geeignete Verfahren zu beschreiben und zu demonstrieren; und ihm zu sagen, bei welchen Gelegenheiten der Einsatz welcher Verfahren einzelne Zwecke und das letztlich verfolgte Ziel erreicht. Reine Ausbildung setzt voraus, daß der Lehrling ein Ziel hat und deshalb lernen will und bereit ist, Angebotenes anzunehmen. Hingegen hat Erziehung die ›Ambition‹, auf die Richtung des Wollens selbst einzuwirken. Daher kann man den Unterschied auch so beschreiben: Das Resultat einer guten Ausbildung sind, grob gesprochen, bestimmte Fertigkeiten und das Wissen, wozu sie dienen; Mängel der Ausbildung führen dazu, daß manches an Fertigkeit und Wissen fehlt. Das Resultat einer guten Erziehung sind Tugenden; eine mangelhafte Erziehung führt jedoch nicht nur dazu, daß ›manches an Tugend fehlt‹: sie verdirbt vielmehr den Charakter. Vereinfachend könnte man sagen: Eine Unfähigkeit ist nur das Fehlen einer Fähigkeit, man erwirbt sie nicht, und sie steht dem späteren Erwerb der Fähigkeit nicht im Weg; eine
12 Charakterbildung durch Handeln
265
Untugend dagegen ist nicht nur das Fehlen einer Tugend, sondern ein ›Laster‹, man erwirbt sie, und sie steht dem Erwerb der Tugend durchaus im Weg. Zwar gibt es, sozusagen zwischen Tugend und Laster, auch charakterliche Verfassungen, die durch Unreife, Willensschwäche, äußere Konformität oder Mangel an Festigung gekennzeichnet sind (EN VII 1–11). Doch auch bei ihnen handelt es sich um Prägungen des Wollens, nicht bloß um Nicht-Prägung. Denn sie alle implizieren, daß der Handelnde auch Antrieben Raum gibt, denen er keinen Raum geben sollte, oder wenigstens solche Antriebe, denen er Raum geben sollte, mehr oder weniger nachhaltig ausschließt. Und alle diese charakterlichen Verfassungen teilen mit Tugend und Untugend die undurchdringliche Komplexität des Zustandekommens: A’s Charakter ist sein Werk; er resultiert aus A’s Bereitschaft, das ›ethische Angebot‹ anzunehmen, das von B (und der übrigen Umgebung) ausgeht. Zugleich aber ist B dabei kein bloßer Geburtshelfer: er ist nicht nur dafür verantwortlich, was er in seinem Handeln ›anbietet‹; er hat vielmehr durch ebendieses Handeln auch die Bereitschaft von A, das Angebotene anzunehmen, immer schon mitbestimmt.
12
Charakterbildung durch Handeln? Denn zu machen oder herzustellen ist natürlich nichts. Das würden wir nicht mehr als Erziehung bezeichnen sondern als Indoktrination oder Manipulation. Jürgen Rekus, Bildung und Moral
Im Zentrum dieses Kapitels steht die Dualität des Poietischen und des Praktischen im Erziehungsbegriff. Erziehung kann als poiesis gelten. Doch haben wir inzwischen eine ganze Reihe von Gründen kennengelernt, sie nicht als typische, nämlich technische poiesis aufzufassen. Beweisen diese Gründe aber auch schon eine praktische Teleologie des Erziehungsbegriffs? Habe ich zu Recht dafür plädiert, das Medium der erzieherischen poiesis mit dem Handeln des Erziehers zu identifizieren? – Dieses Kapitel tritt gleichsam einen Schritt zurück, um die bereits behauptete Identität zu erläutern und vor Mißverständnissen zu schützen. Außerdem behandelt es eine Frage, die sich unabhängig davon stellt, ob der Begriff der (ethischen) Erziehung deren Konstitution durch praxis impliziert: Kann und muß die Charakterbildung eines Heranwachsenden durch das Handeln eines anderen geleistet werden? (Unter Charakterbildung werde ich also in den folgenden Abschnitten nicht nur Erziehung, sondern jede denkbare Einwirkung auf den Heranwachsenden verstehen, die seinen Charakter in irgendeinem Sinne verbessern soll. Dieser Begriff der Charakterbildung ist allerdings nicht so weit, daß jeder sozialisatorische Einfluß darunter fiele.) Zunächst versuche ich im Rückgriff auf bereits Gesagtes zu klären, wie ein Miteinander poietischer und praktischer Finalität in der Erziehung überhaupt zu
266
Teil III · Produktive Praxis
denken ist (12.1) Sodann soll deutlich werden, daß die Indeterminiertheit des Erziehungsergebnisses von sich aus nicht den Schluß auf den praktischen Charakter der Erziehung zuläßt (12.2). Auch ist die Notwendigkeit, mit der die Verwirklichung des erzieherischen ergon – die Bildung eines guten Charakters – anscheinend auf das gute Handeln des Erziehers angewiesen ist, tatsächlich nicht begrifflicher, sondern empirischer Natur: alternative Formen der Charakterbildung sind denkbar (12.3). Die Qualität der Charakterbildung unter dem Einfluß eines zuständigen Erwachsenen kann man im konkreten Fall sekundär, d. h. unter Absehung vom tatsächlichen Ergebnis, bewerten. (Wer in diesem Sinne eine gute Erziehung erhalten hat, ist nicht notwendig gut erzogen.) Die Abschnitte 12.4–5 beschäftigen sich mit der Frage, warum es gerade das Handeln des Erwachsenen (und nicht z. B. sein erzieherisches Bemühen) ist, das man beurteilt, um jene sekundäre Bewertung vorzunehmen. Die poietisch-praktische Dualität des Erziehungsbegriffs bedeutet bei oberflächlicher Betrachtung Inkonsistenz. Doch spiegelt sie die Komplexität der Phänomene, denen unsere Begrifflichkeit hier gerecht werden muß. (Zum Beispiel läßt eine Bewertung der Erziehung, die mit der Bewertung des ErzieherHandelns zusammenfällt, gleichermaßen für Indeterminismus und für die Anerkennung von Verantwortung Raum.) Insofern erfüllt die Dualität des Erziehungsbegriffs – das mögen die folgenden Überlegungen zeigen – eine Funktion. Diese sollte auch von der Erziehungswissenschaft beachtet werden (12.6).
12.1
Wie kann Erziehung poietisch finalisierte praxis sein?
Verwickelt man sich nicht in einen Widerspruch, wenn man behauptet, Erziehung lasse sich zugleich als poiesis und als praxis verstehen? Schließlich repräsentieren poiesis- und praxis-Begriffe unterschiedliche Finalitätsstrukturen. Und falls sich beide Kategorien auf Erziehung anwenden lassen – in welchem Verhältnis stehen dann ihre poietische und praktische Finalität und die entsprechenden Weisen ihrer Bewertung zueinander? – In diesem Abschnitt werde ich vier Versuche, diese Fragen zu beantworten, vorstellen und prüfen. a) Einer von ihnen besteht im Rekurs auf die Tatsache, daß man ein und dasselbe Tun in unterschiedlichen Dimensionen bewerten und somit unter entsprechend disparate Begriffe bringen kann (5.7). Warum sollte nicht auch erzieherisches Tun als poiesis und als praxis kategorisierbar sein? Diese Überlegung ist korrekt. Nur ist zu beachten, daß die praktische Bewertung der Erziehung von ihrer poietischen Bewertung nicht völlig unabhängig ist. Als sekundäre Bewertung nimmt sie durchaus indirekt auf ein (poietisches!) Ergebnis Bezug – auf das Ergebnis nämlich, das von dem Tun, das da als Handeln bewertet wird, eigentlich zu erwarten ist bzw. wäre (5.6). Wenn man die Erziehung eines Heranwachsenden einerseits als poiesis und andererseits als
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267
praxis bewertet (›A ist gut / schlecht erzogen‹ – ›A hat eine gute / schlechte Erziehung gehabt‹), so ist das nicht, wie wenn man den Bau einer Autobahn einerseits als Beitrag zum Verkehrsnetz und andererseits als ökologischen Eingriff einordnet und dementsprechend beispielsweise einmal positiv und einmal negativ bewertet – nach zwei Maßstäben, die miteinander nichts zu tun haben. b) Man könnte meinen, Erziehung sei deshalb sowohl poietisch als auch praktisch bewertbar, weil sie sowohl poietisch als auch praktisch finalisierte Elemente und Aspekte enthalte. Die Zweizahl der Bewertungsmaßstäbe würde dann darin gründen, daß es in Wirklichkeit zweierlei zu bewerten gäbe: zum einen praktisch und zum anderen poietisch orientierte Komponenten des erzieherischen Tuns – den ethischen Aspekt dieses Tuns auf der einen Seite und regelrechte Erziehungsmaßnahmen auf der anderen.30 Nun haben zwar in der Erziehung auch gezielte, poietisch finalisierte Maßnahmen ihren Platz. Doch hängt (um es noch einmal zu sagen) die poietische Finalität der Erziehung nicht am Erfordernis solcher Maßnahmen. Auch ohne sie ist das Ganze der Erziehung mit allen ihren Komponenten poietisch orientiert. Und ebenso besteht das Ganze der Erziehung im Handeln des Erziehers. Wie wir sehen werden (14.3), bilden erzieherische Maßnahmen davon keine Ausnahme. Insofern ist Handeln nicht bloß eine ›praktisch finalisierte Komponente‹, sondern das Medium der Erziehung. c) Einen dritten Versuch, das Verhältnis zwischen poietischer und praktischer Finalität in der Erziehung zu klären, erwähne ich hier nur, um einem Mißverständnis ihrer Dualität zu wehren. Man könnte nämlich meinen, wie auch andere Formen von poiesis sei die erzieherische poiesis entweder über ihr telos (7.1) oder aber konstituierend (7.2) auf praxis hingeordnet. Aber keines dieser beiden Verhältnisse hat mit der Dualität zu tun, die für die Erziehung charakteristisch ist. Zwar kann man, wie ich das in Kapitel 9 getan habe, erörtern, wodurch das ergon des Erziehers – der gute Charakter des Heranwachsenden – finalisiert ist. Auch kann das konkrete Erziehen selbst, als poiesis, unter die Frage gestellt werden, wie es zu einer praxis bzw. zu deren Qualität beiträgt. Und so kann man sagen: Einen Jugendlichen zu erziehen, den man als Zwölfjährigen aus einem Heim adoptiert, ist mutig gehandelt. Oder: In der Erziehung dieser Kinder findet X einen Sinn für sein Leben (vgl. 7.4). Indessen ist diese Art der praktischen Bewertbarkeit von Erziehung nicht diejenige, die mich veranlaßt, Erziehung, ihrem poietischen telos zum Trotz, auch als praxis einzuordnen. 30 Auf andere Formen der Lebenshilfe könnte eine analoge Deutung der Dualität tatsächlich zutreffen. Um ein guter Rechtsanwalt zu sein, muß man einerseits durch Einsatz juristischer Kompetenz einen möglichst günstigen Ausgang des Prozesses erreichen können, andererseits müssen Ziel der Prozeßführung und Weise des Vorgehens ethischen Maßstäben genügen.
268
Teil III · Produktive Praxis
d) Damit komme ich zur korrekten Bestimmung des poiesis-praxis-Verhältnisses innerhalb der Erziehung, auf das die bisherigen Beobachtungen und Überlegungen hindeuten. Insbesondere die Kapitel 5 und 10–11 liefern Gründe, die Erziehung nicht als typische poiesis zu behandeln. Und zwar scheint das Untypische der erzieherischen poiesis gerade darauf zu beruhen, daß sie durch praxis, nämlich durch das Handeln des Erziehers, konstituiert wird – und nicht umgekehrt, wie in (c) vermutet, darin, daß eine praxis durch die erzieherische poiesis konstituiert wird. Unser Begriff der ethischen Erziehung bezieht sich auf eine poietisch finalisierte praxis, nicht auf eine praktisch finalisierte poiesis. Der Weg, auf dem der Erzieher erzieht, ist sein Handeln. Gutes Handeln steht im Dienst guter Erziehung. In meiner vorläufigen Erläuterung der Kategorie der praxis (5.1, insbesondere (b8)) ist eine solche Finalisierung durch poiesis und namentlich jede ›Instrumentalisierung‹ des Handelns ausgeschlossen. Wenn nun der Begriff der ethischen Erziehung derartige Finalisierung und Instrumentalisierung zu verlangen scheint, so ist es notwendig, entweder diesen Anschein als Illusion zu entlarven oder aber zu einem modifizierten Verständnis der Finalität von praxis bzw. Handeln zu gelangen. Soweit ich sehe, ist sogar beides angesagt. 1) Tatsächlich trügt der Anschein einer Instrumentalisierung des Handelns als ›Erziehungsmittel‹. Denn wenn das (poietische) telos der Erziehung gar nicht intendiert sein muß, um B’s Tun und Lassen erzieherisch zu finalisieren, dann kann B’s gutes Handeln A’s Erziehung dienen, ohne von B als ›Erziehungsmittel‹ beabsichtigt und insofern instrumentalisiert zu sein. Weil Erziehung nur in einem eingeschränkten Sinne poiesis ist – ihre Realisierung ist nicht darauf angewiesen, daß der Erzieher sein ergon konzipiert und intendiert – deshalb kann eine praxis im Dienst der Erziehung stehen, ohne sozusagen ihre eigene Selbstzwecklichkeit31 zu kompromittieren. 2) Nun ist es aber möglich, daß B sich die Bildung von A’s Charakter ausdrücklich zum Ziel setzt und daß er außerdem weiß: Die Qualität von A’s Erziehung ist eine Funktion der Qualität meines Handelns. Wird nicht unter diesen Umständen das gute Handeln, soweit es gelingt, instrumentalisiert? – Das wäre nur der Fall, wenn das Erziehungsziel B’s Handeln motivieren müßte. Das jedoch trifft auch unter den angenommenen Umständen nicht zu. Von den Motiven, die tatsächlich in erzieherisch qualifiziertes Handeln eingehen, und speziell von der Relevanz erzieherischer Ziele für die Klugheit solchen Handelns soll das nächste Kapitel handeln. Hier genügt der Hinweis, daß B’s Intention des Erziehungsziels eine ähnliche Rolle spielt wie B’s Absicht, ein gutes Leben zu führen: beide fungieren, auf B’s Handeln bezogen, als Hintergrundmotive (6.9), nicht als Motive.
31 Wie 6.9 gezeigt hat, ist allerdings bereits die Selbstzwecklichkeit einer praxis keine Sache der Intention – oder allenfalls die einer Hintergrundabsicht.
12 Charakterbildung durch Handeln
269
Wenn B z. B. A eine bestimmte Aufgabe anvertraut, mag die Motivationsstruktur dieses Handelns die folgenden zwei Aspekte aufweisen: Zum einen beabsichtigt B, was immer mit der Ausführung der Aufgabe erreicht werden soll. Zum anderen läßt er sich nicht von der Befürchtung leiten, A sei dieser Aufgabe nicht gewachsen. Nehmen wir an, diese Befürchtung sei tatsächlich unbegründet und jene Absicht gut: dann ist B’s Handeln ceteris paribus gut. Die beschriebene ›zweiteilige‹ Motivationsstruktur ist ihrerseits noch einmal motiviert: durch die Absicht, gut zu handeln. Nun ist aber in dieser Absicht im Fall von B – aufgrund seiner erzieherischen Zuständigkeit für A – die Absicht, A zur Ausbildung eines selbständigen guten Charakters zu verhelfen, notwendig eingeschlossen. Auch von B’s Erziehungsabsicht gilt also: Sie bildet nicht B’s Motiv, A jenen Auftrag zu erteilen (dafür liefert sie ein Hintergrundmotiv); unmittelbar motiviert sie B vielmehr dazu, die im Beispiel angenommene Motivationsstruktur zu realisieren, die ihrerseits dem Auftrag unmittelbar zugrunde liegt. B’s Erziehungsabsicht liegt demnach auf einer anderen Ebene als die Beweggründe, die sein Handeln leiten. Sie konkurriert also nicht mit diesen Beweggründen, sondern bildet deren stützenden Hintergrund. (Die Erziehungsabsicht stützt B darin, sich vom Zweck des Auftrags und nicht von der erwähnten Befürchtung motivieren zu lassen.) Vielleicht aber vertragen sich die beiden Hintergrundmotive – Absicht, gut zu handeln, und Erziehungsabsicht – nicht miteinander? Kann B die Motivation seines Tuns und Lassens gleichermaßen an der Absicht, gut zu leben, und an der Absicht orientieren, A’s Charakter zu bilden? – Meine Antwort auf diese Frage hat zwei Teile. Erstens verdankt sich in der Tat die explizite Bejahung von Motivationsstrukturen des Handelns, die den guten Charakter eines reflektierenden Erwachsenen kennzeichnet, der Absicht, gut zu leben und zu handeln. Ob neben oder hinter dieser Absicht fernere Beweggründe am Werk sein können, ohne den ethischen Wert seines Handelns zu kompromittieren – ob dies, näherhin, begrifflich ausgeschlossen ist – diese Frage kann ich hier nicht erschöpfend behandeln. Im Hinblick auf B’s Erziehungsabsicht jedenfalls läßt sich sagen: Es ist kaum vorstellbar, daß B einzig deshalb ein guter Mensch sein will, weil er andernfalls A nicht gut erziehen kann. Wohl aber kann z. B. die Konfrontation mit erzieherischer Verantwortung so etwas wie moralische Bekehrung auslösen. Und wie gegen Ende von Abschnitt 6.9 schon angedeutet, dürfte gerade Erziehungsabsicht als Hintergrundmotiv mit der Reinheit ethischer Gesinnung vereinbar sein. Vielleicht aber gilt ganz allgemein, daß bei seelisch komplexen Wesen wie uns die Eindeutigkeit einer Orientierung nicht schon dadurch ausgeschlossen sein kann, daß sie in ein Geflecht von Beweggründen verwoben ist, von denen einige diese Orientierung mittragen oder stützen, ohne sie doch zu bedingen. Der zweite Teil meiner Antwort ergänzt den ersten in einem wichtigen Punkt. B’s erzieherische Verantwortung bringt nämlich spezielle Anforderungen an seinen Charakter mit sich: er benötigt Erzieher-Tugenden (13.4–6). Als Erzieher – und das kennzeichnet ihn als Lebenshelfer – kann B nicht gut handeln, ohne
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Teil III · Produktive Praxis
Motivationsstrukturen zu praktizieren, deren Notwendigkeit aus dem Erziehungsverhältnis zu A resultiert. Daher kann B’s Absicht, A gut zu erziehen, nicht nur insofern Hintergrundmotiv seines Handelns sein, als er sich bewußt ist, die Charaktereigenschaften, zu denen er anleiten will, selbst repräsentieren zu müssen (13.2); sondern auch insofern, als er im Praktizieren besonderer Erzieher-Tugenden ein Erfordernis sieht, das der Orientierung an A’s Charakterbildung entspringt (13.4).
12.2
Die Konstitution der Erziehung durch Handeln folgt nicht aus ihrem indeterministischen Charakter allein
Kapitel 10 und 11 machen deutlich, daß Erziehung eine untypische poiesis ist. Zu ihrer Abweichung vom typischen Modell tragen insbesondere zwei Züge bei, die allerdings im Zusammenhang der Erziehung miteinander verflochten zu sein scheinen. Der erste ›un-poietische‹ Zug der Erziehung liegt darin, daß in ihr eine praxis am Werk ist; und zwar liegt der erzieherisch wirksame Faktor in der ethischen Qualität des Erzieher-Verhaltens (vgl. 10.1). Zweitens verstehen wir dessen Wirksamkeit indeterministisch; die Erziehung erfüllt nicht die Bedingungen, unter denen sich ihr Ergebnis einem poietischen Verfahren verdanken könnte (vgl. 10.2–5). a) Inwiefern sind diese beiden Züge miteinander verflochten? Nun, die Gesichtspunkte, die das Handeln des Erziehers bestimmen, lassen sich nicht auf Verfahrensregeln reduzieren. Zum Beispiel sind die Merkmale, durch die das Erzieher-Verhalten gutes und kluges Handeln ausmacht, von Fall zu Fall so disparat, daß es völlig unsinnig ist, eine gesetzmäßige Korrelation zwischen solchen Merkmalen und einem guten Erziehungsergebnis ins Auge zu fassen. Es hat sich aber auch gezeigt, daß der gute Charakter, auf den Erziehung hinwirken soll, seiner Natur nach nicht das berechenbare Ergebnis eines Verfahrens sein kann (11.6–8). Aus beiden Gründen ist es unmöglich, der primären Bewertung konkreter Erziehung nach Maßgabe ihres Ergebnisses eine sekundäre Bewertung an die Seite zu stellen, die – wie im Fall einer Technik – auf einer bereits etablierten (deterministischen) Korrelation von Vorgehensweisen mit Ergebnissen beruhen würde. Möglich ist hingegen eine sekundäre Bewertung, wie wir sie tatsächlich vornehmen: eine ›praktische‹ Bewertung der Erziehung, die A von B erhält, durch Bewertung von B’s Handeln (vgl. 5.6 (a1) und Kapitel 13–14).32 32 Einer sekundären Bewertung (die sich nicht, wie die primäre, am faktischen Ergebnis orientiert) kommt in der Beurteilung von Erziehung und Erzieher besonderes Gewicht zu. Da sich nämlich der erzieherische Wirkungszusammenhang nicht deterministisch verstehen läßt, ist B’s Verantwortung für A’s Charakter durch die Unberechenbarkeit des Erziehungsergebnisses begrenzt (5.6 (b), 10.5). B kann jedoch für A’s Charakterbildung inso-
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b) Derartige Zusammenhänge könnten den Eindruck erwecken: Wo immer man einen mehr oder weniger deterministischen Rückschluß vom Wert des poietischen Ergebnisses auf den Wert der poiesis nicht ziehen kann, da wird diese poiesis von einer praxis konstituiert. Das trifft jedoch nicht zu. Daß eine praxis und näherhin das Handeln des Erziehers das Medium der Erziehung bildet, folgt nicht einfach daraus, daß wir keine Gesetzmäßigkeiten kennen, nach denen sich ein guter Charakter bewirken ließe. Das wird klar, sobald man sich das Beispiel einer poiesis vergegenwärtigt, die indeterministisch zu verstehen, aber keineswegs durch eine praxis konstituiert ist. Beim Glücksspiel am Geld-Automaten besteht, sofern alles mit rechten Dingen zugeht, ein Wirkzusammenhang zwischen den Handgriffen des Spielers und dem Spielergebnis – anders als etwa beim Roulette-Spiel. Das Spiel-Ergebnis erfüllt die in 5.1 (c) formulierten Bedingungen eines poietischen telos.33 Von berechenbaren Wirkungen kann jedoch keine Rede sein – noch weniger als im Fall der Erziehung. Ein paradigmatisch poietischer, nämlich technischer Begriff des Spielens ist hier also ausgeschlossen. Gute und schlechte Ergebnisse sind nicht mit ›gutem und schlechtem Spielen‹ korreliert. Gewiß, wir können dem Ausdruck ›gut gespielt‹ auch für den Fall des Glücksspiels einen Sinn geben, etwa: ›mit gutem Ergebnis gespielt‹. Doch machen wir damit den Begriff des Glücksspiels keineswegs zu einem typisch poietischen Begriff (genauso wenig, wie der Ausdruck ›gut erzogen‹ die Möglichkeit erzieherischer Technik verbürgt). Denn die ›Qualität des Spielens‹ könnte unter dieser sprachlichen Konvention ausschließlich nachträglich, anhand von Gewinn und Verlust, ermittelt werden. Nur eine primäre Bewertung (anhand der Ergebnis-Qualität), keine sekundäre Bewertung (anhand der Weise des Spielens) wäre hier möglich – anders als z. B. bei einer Auto-Reparatur, deren Wert sich nicht erst am Wert des Ergebnisses, sondern bereits an der Weise des Vorgehens ablesen läßt (10.2). Jedenfalls ist das Glücksspiel so unberechenbar, daß es nicht als Technik gelten kann. Aus diesem ›Mangel‹ ergibt sich indessen keineswegs, es müsse praktische Strukturen aufweisen, wo die poietischen es sozusagen im Stich lassen. Und aus der Tatsache, daß uns ein poietischer, an Verfahren orientierter Maßstab für ›gutes Spielen‹ fehlt, folgt keineswegs, es müsse einen praktischen Maßstab geben. Es gibt keinen guten Grund, warum in bezug auf das Glücksspiel der Ausdruck ›gut spielen‹ überhaupt einen Sinn haben müßte.
fern verantwortlich gemacht werden, als er für sein eigenes Handeln verantwortlich ist, das A’s Entwicklung zwar nicht berechenbar, aber doch ursächlich mitbestimmt. 33 Sogar die Absicht, durch Geldeinwurf, Betätigung von Hebeln usw. einen Gewinn zu erzielen (vgl. 5.1 (c9)), wird man dem Spieler, der Ungewißheit des Ergebnisses zum Trotz, nicht absprechen können. – Übrigens sehe ich hier ganz von der Möglichkeit ab, daß er spielt, ohne an der Verwendung gewonnenen Geldes interessiert zu sein. Vgl. 7.2 (e).
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c) Ein solcher Grund muß also für den Fall der Erziehung eigens identifiziert werden. Ist nicht auch das Erziehen für das Erziehungsergebnis auf ziemlich unberechenbare Weise verantwortlich – ähnlich wie das Spielen am Automaten für das Spielergebnis? Warum also sieht die Sprache neben einer primären Bewertung der Erziehung eine sekundäre vor, die auf die Qualität des Handelns des Erziehers Bezug nimmt? Eine notwendige Bedingung hierfür liegt offenbar darin, daß die Auswirkung von B’s Tun und Lassen auf A’s Charakter nicht so unberechenbar ist, daß das eine keinerlei Erwartungen bezüglich des anderen zuließe. Daß die Erfahrung mehr oder weniger verläßliche Zusammenhänge zwischen spezifizierbarem Erzieher-Verhalten und spezifizierbarem Erziehungsergebnis belegt: das setzen wir voraus (2.1 (a), 10.5 (g)). Dazu kommt ein Motiv, Erziehung sekundär zu bewerten: Wir hoffen, auf die Qualität von Erziehungsergebnissen Einfluß nehmen zu können, indem wir bessere Erziehung anmahnen, qualifiziertere von weniger qualifizierten Erziehern unterscheiden usw. Das aber ist nur möglich, wenn wir, auch unabhängig von konkreten Ergebnissen – und somit auf der Grundlage sekundärer Bewertung – Unterschiede in der Qualität von Erziehung artikulieren können (vgl. Fn. 32). Mit diesen beiden Gesichtspunkten ist allerdings noch nicht geklärt, warum es das Handeln des Erziehers ist, das man bewerten muß, um eine sekundäre Bewertung der Erziehung vorzunehmen. Oder besser: warum Erziehung, als Handeln des Erziehers verstanden, die poiesis ausmacht, von der wir uns den guten Charakter eines Jugendlichen als ›Produkt‹ versprechen. Auf diese Frage werde ich sogleich zurückkommen (12.3; vgl. auch 12.5). Einstweilen ist nur festzuhalten, daß Unberechenbarkeit des Ergebnisses allein kein Grund ist, das Medium einer poiesis in einer praxis zu vermuten. Das Glücksspiel liefert das Beispiel einer poiesis mit unberechenbarem Ausgang, die sicher nicht durch eine praxis konstituiert wird. Freilich läßt sich am Glücksspiel auch eine Bewertungsdimension aufweisen, die ein praktisches telos offenbart, etwa Spannung oder Vergnügen. Aber damit ist lediglich die begriffliche Situation gegeben, in der eine poiesis auf die besondere in 7.2–3 beschriebene Weise für eine praxis konstitutiv, nämlich ›unmittelbar praktisch finalisiert‹ ist. Hierfür ist die Indeterminiertheit des Spiel-Ergebnisses nur insofern verantwortlich, als sie für Spannung und dergleichen sorgt. Denn jene unmittelbare praktische Finalisierung einer poiesis (hier: Ausrichtung auf Geldgewinn um der Spannung willen) finden wir auch z. B. beim Kegeln (nämlich: Ausrichtung auf das Abräumen von Kegeln um der Spannung willen); Kegeln aber ist ein eher technisches Spiel, dessen Ausgang (sofern die Kegelbahn nicht defekt ist) weitgehend durch mehr oder weniger geschicktes Vorgehen determiniert ist. d) Es gibt durchaus Spiele, deren Ergebnis nicht allein durch die Weise, wie man spielt, determiniert ist und die dennoch eine Bewertung der Spielweise zulassen – eine Bewertung, die demnach anscheinend nicht von der Qualität des
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Spielergebnisses bestimmt sein kann. Kartenspiele wie Doppelkopf bezeugen dies: Ein gutes Ergebnis ist hier durch gutes Spielen nicht garantiert. Sogar für den besten Doppelkopfspieler hängt das Ergebnis auch von der zufälligen Verteilung der Karten und davon ab, wie gut der Partner und die Gegner spielen. Gleicht nun nicht die praktische Bewertung von Erziehung der hier charakterisierten Weise, die Leistung eines Doppelkopfspielers zu bewerten? In beiden Fällen ist für die Qualität des Ergebnisses die Qualität des Einsatzes für dieses Ergebnis nicht bestimmend, aber relevant. Diese Analogie ist nicht zu leugnen, doch besteht auch ein wichtiger Unterschied. Die Qualität des Spielens ist ausschließlich und auf berechenbare Weise durch die Qualität hypothetischer Ergebnisse festgelegt, von denen der Spieler eines erreichen würde, wenn die Verteilung der Karten gewissen Wahrscheinlichkeitsannahmen entspräche und die Mitspieler ihrerseits gut spielten.34 Hingegen kann von einer analogen hypothetisch-poietischen Bewertung des Erziehens keine Rede sein. Wie gut B A erzieht, läßt sich offenbar nicht dadurch bestimmen, daß man die Qualität eines hypothetischen Erziehungsergebnisses angibt, das B unter bestimmten Bedingungen durch solches Erziehen erreichen würde. Denn niemand kann einschlägige Bedingungen artikulieren.
12.3
Daß Charakterbildung auf das Medium des Erzieher-Handelns angewiesen ist, stellt kein begriffliches Erfordernis, sondern so etwas wie eine selbstverständliche Naturtatsache dar
Blicken wir zurück: Daß das Erzieher-Verhalten unter dem Anspruch guten Handelns steht, ist bereits mit der Einordnung von Erziehung als Lebenshilfe gesagt (1.2). Mit anderen Arten der Lebenshilfe teilt Erziehung die Dualität des Poietischen und des Praktischen. Insofern jedoch die Kriterien, nach denen wir Erziehung sekundär bewerten, einzig auf den Charakter (einschließlich der Klugheit) des Erziehers Bezug nehmen, deuten sie darauf hin, daß diese Dualität im Fall der Erziehung eine eigentümliche Gestalt annimmt: Das Handeln des Erziehers bildet das Medium des Erziehens (1.3).35 34 Daß durch diesen Bezug auf das gute Spielen der Mitspieler die Bestimmung des guten Doppelkopfspiels zirkulär wird, ist ein logisches, hier irrelevantes Problem. Zur Möglichkeit seiner Lösung vgl. 4.5. 35 Die Dualität der Erziehung kann somit als Basis der Möglichkeit gelten, neben ihrer primären Bewertung (nach Maßgabe des poietischen telos) eine sekundäre Bewertung vorzunehmen, die mit der Bewertung des Erzieher-Handelns zusammenfällt. Bei anderen Formen der Lebenshilfe hängen Dualität und Bewertungsweisen nicht auf dieselbe Weise zusammen. Neben der Qualität des Handelns geht bei ihnen die Manifestation von Kompetenz in die Kriterien einer sekundären Bewertung ein. Der Tod des Patienten beweist zwar nicht, daß der Arzt nichts taugt; um jedoch als guter Arzt zu gelten, muß er nicht nur ethisch einwandfrei, sondern auch lege artis vorgegangen sein.
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Steht diese praktische Natur der Erziehung in Zusammenhang mit der weitgehenden Unberechenbarkeit ihrer Resultate? Dazu ist zweierlei zu sagen. Einerseits bedeutet diese Unberechenbarkeit in der Tat, daß Erziehung keine typische, keine technische poiesis ist. Näherhin zeigt Kapitel 11: Die Natur des Erziehungsziels bereitet der Vorstellung, dieses Ziel könnte sich auf dem Weg eines determinierenden poietischen Verfahrens erreichen lassen, unüberwindliche Schwierigkeiten.36 Andererseits jedoch beweist die Tatsache, daß der Charakter eines Menschen nicht als Ergebnis eines determinierenden poietischen Verfahrens aufgefaßt werden kann, allein noch nicht, daß er statt dessen als (partielles) Ergebnis erzieherischen Handelns aufgefaßt werden kann (12.2). Jetzt soll es um die Frage gehen, ob charakterbildender Einfluß ausschließlich als Erziehung denkbar ist. Meine These lautet: Die Idee der Charakterbildung im Sinne einer Einwirkung auf die charakterliche Verfassung des Heranwachsenden legt von sich aus die Weise dieser Einwirkung noch nicht auf das Handeln einer Bezugsperson und insofern nicht auf Erziehung fest. Eine begriffliche Notwendigkeit besteht hier nicht. Es ist vielmehr eine empirische Tatsache, daß sich Charakterbildung fast ausschließlich als Erziehung vollzieht. Ich werde im folgenden Alternativen zur Erziehung, d. h. zur Charakterbildung durch Handeln, in den Blick nehmen, um die These plausibel zu machen, daß sie sich nicht rein begrifflich ausschließen lassen. Zugleich aber hoffe ich zu zeigen, warum für derartige Alternativen in unserem Denken kaum Platz ist. a) In meiner vorläufigen Kennzeichnung der Kategorien poiesis und praxis habe ich behauptet, was diese oder jene poiesis bzw. praxis sei, entscheide sich daran, wozu sie sei – an ihrem telos. Diese Behauptung bedarf einer Modifizierung: Außer dem Wozu ist auch das Wie für das Was konstitutiv. Diese Modifizierung betrifft allein die poiesis. Das telos einer praxis ist ja nichts anderes als genau deren qualifizierte Realisierung. Im Bereich der poiesis hingegen ist zwar häufig mit der Nennung eines telos faktisch schon klar, an welche poiesis zu denken ist; sogar in Fällen, in denen die Bezeichnung des telos – denken wir an ›Sonate‹ oder ›Stuhl‹ – auf die Weise seines Zustandekommens keinen Bezug nimmt. Doch ist es grundsätzlich möglich, eine und dieselbe Art von Resultat durch mehr als eine Art von poiesis zu erzielen. Und gelegentlich setzen wir tatsächlich zum selben Zweck alternative poiesis-Formen ein. Was eine gegebene poiesis ist, entscheidet sich also nicht allein am Begriff dessen, was sie leistet. Daß die teleologische Komponente eines teleologischen Begriffs dessen Inhalt nicht immer vollständig determiniert, läßt sich leicht anhand von Beispielen deutlich machen, die gar kein Tun, sondern Personen oder Sachen klassifizieren. 36 Es sei noch angemerkt, daß natürlich die gegenteilige Auffassung, Charakterbildung sei durch Handeln zu erreichen, nicht völlig indeterministisch sein kann. Auch sie setzt ja voraus, daß wirksamer, wenn auch nicht berechenbarer, Einfluß auf die ethische Entwicklung eines Menschen möglich ist (2.1 (a)).
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Mittels vieler teleologischer Begriffe schreiben wir – aristotelisch gesprochen – nicht nur Finalität, sondern auch formale, materiale oder effizientkausale Beschaffenheiten zu. So gehört zum Schneider nicht nur die Ausrichtung seiner charakteristischen Betätigung auf Änderung und Herstellung von Kleidern (seine Finalität als Schneider), sondern natürlich auch das Menschsein (seine substantielle oder ›formale‹ Identität – eine automatische Nähmaschine ist kein Schneider). Die Papierserviette teilt mit der Stoffserviette ihre konstitutive Finalität, aber nicht die ›Materie‹, aus der sie besteht. Klassifizieren wir eine Substanz als Unkrautvernichtungsmittel, so bezeichnen wir damit nicht nur ihren Zweck, sondern auch die Weise ihres Wirkens (nämlich als Gift – ein Gerät, mit dem man jätet, ist kein Unkrautvernichtungsmittel). Was solchermaßen für funktionale Bezeichnungen für Personen und Sachen gilt, findet eine Entsprechung bei Bezeichnungen für Formen der poiesis: auch deren Begriffe weisen nicht-teleologische Merkmale auf. Um an das letzte Beispiel anzuknüpfen: Der Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln ist offenbar nur ein Weg, Unkraut zu beseitigen; man kann auch jäten. Ein und dasselbe telos – die Unkrautlosigkeit des Blumenbeets – kennzeichnet somit zwei Arten von poiesis. Keine dieser beiden ist also in ihrer Eigenart durch das inhärente telos allein bestimmt. Sie unterscheiden sich durch die Weise, wie dieses telos jeweils verfolgt und gegebenenfalls verwirklicht wird. Eine spezifische Ursächlichkeit gehört zu den Begriffsmerkmalen der Unkrautvernichtung einerseits, des Jätens andererseits. Und selbstverständlich lassen sich rein theoretisch beliebig viele weitere Methoden denken, ein Beet von Unkraut zu befreien, denen entsprechend viele weitere poiesis-Begriffe entsprächen. Analoges läßt sich an anderen Fällen poietischer Finalität aufzeigen. Für die Bezeichnung einer poiesis ist es daher typisch, neben dem inhärenten Zweck auch eine Weise des Vorgehens zu spezifizieren. Allerdings sorgt die Ökonomie sowohl der Daseinsbewältigung als auch der Sprache dafür, daß wir sehr häufig nur eine einzige Weise kennen, und daher benennen, wie ein bestimmtes poietisch erreichbares Gut tatsächlich hergestellt wird. Darin liegt der Grund dafür, daß wir eine Art von poiesis in der Regel abkürzend durch bloße Angabe ihres telos, ohne Rekurs auf die Produktionsweise, identifizieren können; und daß der Eindruck entstehen kann, mit der Teleologie des poietischen Begriffs sei dessen Inhalt schon vollständig bestimmt. b) Wie steht es nun in dieser Hinsicht um den Erziehungsbegriff? Weist auch er die beschriebene Struktur auf? Dann wäre Erziehung wohl gegen andere (zumindest theoretisch) denkbare Vorgehensweisen abzugrenzen, die im poietischen telos mit ihr übereinstimmten. Genau dies scheint zuzutreffen. Der Begriff des selbständigen guten Charakters legt ja noch nicht fest, durch welche Art des Vorgehens dieses telos erreicht werden kann oder soll. Der Begriff der ethischen Erziehung enthält neben seiner Teleologie noch andere Komponenten. Inhärente Finalisierung durch das cha-
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rakterliche Erwachsen-Sein eines anderen macht ein Tun zwar zum CharakterBilden, aber noch nicht zum Erziehen. Das ergibt sich schon daraus, daß zur Erziehung das Moment der unter 4.8 spezifizierten Zuständigkeit gehört. Aber auch davon abgesehen, läßt sich das Erziehen nicht durch sein Wozu allein bestimmen (vgl. Kapitel 2). Darin stimmt der Erziehungsbegriff mit anderen poiesis-Begriffen überein. Zumindest lassen sich Alternativen zur Erziehung konzipieren, die ebenso auf charakterliche Selbständigkeit des Kindes ausgerichtet wären – Alternativen, die sich insbesondere durch das Wie des Vorgehens von Erziehung unterscheiden. Gewiß hat man faktisch bereits Erziehung identifiziert, sobald man von einem menschlichen Tun spricht, das durch den guten erwachsenen Charakter des Gegenübers finalisiert ist. Alternative Weisen, auf dieses Ziel hinzuwirken, fallen einem verständlicherweise kaum ein. Ebendieser Umstand verdeckt jedoch die Tatsache, daß ›Erziehen‹ gleichwohl eine bestimmte Weise bezeichnet, ein telos zu verfolgen bzw. zu verwirklichen, das ebenso das telos anderer Formen von Charakterbildung sein könnte. (Diese Übereinstimmung im telos unterliegt einer Einschränkung, die ich unter (d) erläutern werde.) c) Um zu sehen, daß das telos der Erziehung noch nicht ihr Medium bestimmt, muß man sich lediglich Praktiken in Erinnerung rufen oder ausdenken, die dieses telos mit der Erziehung teilen bzw. teilen würden. Vermutlich gibt es keine Formen der Charakterbildung, die ein vernünftiger Mensch an die Stelle der Erziehung setzen möchte. Es geht nur um den Nachweis, daß das telos der Erziehung seinem Begriff nach die Möglichkeit von Alternativen zur Erziehung offenläßt – wie der Begriff des Goldes die Möglichkeit alchemistischer Produktionsmethoden nicht ausschließt. Eine solche Alternative zum Erziehen ist uns bereits im Arrangieren begegnet, dessen Aussicht auf (ethischen) Erfolg zwar sehr zweifelhaft ist (8.3), das sich im übrigen jedoch vom Erziehen nicht im telos, sondern in der Weise des Wirkens unterscheidet (8.2). Auch von dem, der für die Charakterbildung seines Kindes sorgt, indem er es Pflegeeltern überläßt oder auf ein Internat schickt, kann man nicht sagen, auf diese Weise erziehe er es. (Freilich schreiben ihm Moral und Recht eine letzte ›erzieherische‹ Verantwortung zu. Zugleich wird das Kind von den Pflegeeltern tatsächlich erzogen werden bzw. im Internat professionelle Erzieher vorfinden. Daher wird man hier kaum den Ausdruck ›Alternative zur Erziehung‹ wählen. Außerdem gibt es natürlich Grenzfälle: Vertraut man sein Kind vorübergehend anderen Personen an, kann dies durchaus als erzieherische Maßnahme, als Bestandteil der Erziehung gelten. Vgl. auch 2.4.) Manipulierende Vorgehensweisen wie Indoktrination, Gehirnwäsche und sonstwie ausschließlich konditionierende 37 Verfahren (vgl. 3.4 (b-c) und 11.8) sind 37 Mit der Qualifizierung ›ausschließlich‹ lasse ich Raum für die Möglichkeit, daß Konditionierung nicht als Ersatz, sondern als frühes Stadium von Erziehung auftritt (16.3).
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ebenfalls dazu angetan, auf den Charakter eines Heranwachsenden einzuwirken, ohne Erziehung zu sein. (Ihre Konkurrenz zur Erziehung wird gerade darin deutlich, daß sie sich gern als ›Umerziehung‹ ausgeben.) Soweit ich sehe, gibt es nur zwei Gesichtspunkte, unter denen Gehirnwäsche, Indoktrinierung und dergleichen nicht als begrifflich ebenbürtige Alternativen zur Erziehung gelten können: Bei diesen Praktiken ist der Begriff des jeweiligen telos erstens nicht auf ein heranwachsendes Gegenüber und zweitens nicht auf dessen guten Charakter festlegt. Unter dem ersten Gesichtspunkt läßt sich eine Angleichung an den Erziehungsbegriff leicht vornehmen. Der zweite hingegen wirft Probleme auf. Man könnte nämlich meinen, so etwas wie Gehirnwäsche sei teleologisch schon deshalb mit Erziehung nicht vergleichbar, weil die ethische Qualität dieses Vorgehens nicht erwarten lasse, daß jemand es zur Förderung eines guten Charakters einsetze38 und weil die Vorstellung eines zurechenbaren Charakters, der zugleich Ergebnis von Gehirnwäsche ist (vgl. 11.6–8), kaum kohärent sein dürfte. Diese Bedenken übersehen jedoch wichtige Aspekte der begrifflichen Situation. Aus den Implikationen und der Unerlaubtheit der Gehirnwäsche folgt nämlich nicht, daß jeder, der sie praktiziert oder auch nur konzipiert, um ihre Implikationen und ihre Unerlaubtheit weiß. Das ist im Fall der Indoktrination vielleicht noch deutlicher. Wer indoktriniert, ist sich in der Regel gar nicht darüber im klaren, daß er indoktriniert. Schon deshalb schließt eine unerlaubte Weise der Einwirkung gute Absicht ebenso wenig aus, wie Erziehung dies tut. Auch scheint der Begriff der Indoktrination (der Manipulation, der Gehirnwäsche) nicht eindeutig zu implizieren, daß man sie nicht um eines guten Zweckes willen praktizieren darf. Daß die Vorgehensweise unerlaubt ist, schließt also in den genannten Fällen gute Absicht nicht ohne weiteres aus; und es geht vielleicht auch nicht in die Begriffe dieser Vorgehensweisen ein. Wie aber steht es um deren telos?
38 Vgl. 10.1 (e). Im übrigen werden wir es vielleicht nicht für möglich halten, daß Gehirnwäsche den Betroffenen verbessert; und jedenfalls nicht, daß sie ihm einen guten Charakter vermittelt. Liegt darin eine quasi-empirische Mutmaßung? Ich glaube: nein. Eher bestehen hier begriffliche Zusammenhänge. Denken wir uns X, den Betroffenen, als einen Charakter dieser oder jener Art: sein Tun und Lassen ist bereits von einem Ensemble von Motivationsstrukturen habituell bestimmt, bevor er einer Gehirnwäsche unterzogen wird. Diese arbeitet mit Verfahren, die im Erfolgsfall einen Teil der Motivationsstrukturen außer Kraft setzen. Dabei handelt es sich ausschließlich um Verfahren, die wir als bloße Konditionierung einstufen und nicht als Präsentation von Gründen und Motiven anerkennen, die an die freie spontane Reaktion oder an mitgebrachte Motivationsstrukturen von X appellieren würden und die sich X (im Verlauf der ›Behandlung‹) reflektierend und prüfend aneignen könnte. Das heißt: Gehirnwäsche baut auf vorliegender Rationalität nicht auf, sondern baut sie (teilweise) ab. Insoweit kann sie dem Charakter von X nur schaden. Oder könnte sie ihm, wenngleich als Verfahren unerlaubt, tatsächlich nützen, falls die charakterliche Verfassung, die X ursprünglich mitbringt, durch und durch schlecht ist??
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Gewiß, Indoktrinierung, Manipulation, Gehirnwäsche sind sicher nicht, wie Erziehung im engeren Sinne, darauf festgelegt, einen guten selbständigen Charakter herbeiführen zu sollen! Soweit jedoch ihre Begriffe überhaupt ein telos und nicht nur eine Art des Vorgehens festlegen, scheint dieses telos, erlaubt oder unerlaubt, keineswegs auszuschließen, daß man Indoktrinierung und dergleichen für Wege hält, einen guten selbständigen Charakter herbeizuführen. Ähnlich ist auf das Bedenken zu antworten, ein zurechenbarer Charakter könne nicht das Ergebnis von Gehirnwäsche sein. Das Bedenken ist zwar berechtigt. Doch kann es nicht die Möglichkeit ausschließen, daß man sich der Vorstellung hingibt, man könne auf dem Weg der Gehirnwäsche (der Manipulation, der Indoktrination) Charakterbildung betreiben. Und diese Möglichkeit genügt vielleicht, um zu beweisen, daß sich allein aus dem Begriff des guten selbständigen Charakters als telos noch nicht ergibt, daß die einzig denkbare Form von Charakterbildung in der Erziehung besteht. Malen wir uns schließlich noch entlegenere Alternativen aus. Zum Beispiel könnte ja die Erfahrung lehren, daß Kinder einen guten Charakter entwickelten, sofern nur die Eltern – auch ohne sich ansonsten viel um sie zu kümmern – fleißig für sie beteten. Oder daß man einem Heranwachsenden nur die richtigen Tabletten in vorgeschriebenen Abständen und Dosen verabreichen müßte, um einen rücksichtsvollen oder rücksichtslosen, selbstbewußten oder unsicheren, tapferen oder feigen Zeitgenossen aus ihm zu machen. Kein Zweifel: weder das elterliche Beten noch die Verabreichung von ethopharmaka könnten Erziehung heißen. Sie könnten aber die Finalität mit ihr teilen. Vielleicht enthalten diese Gedankenexperimente zu viel Phantasie, um hinreichend plausibel zu sein. Realen Szenarien kommen wir jedoch schon wieder näher, wenn wir Genmanipulation ins Auge fassen. Könnte man mit einem solchen Eingriff auf den Charakter des werdenden Menschen Einfluß nehmen, so hätten wir hier eine poiesis vor uns, deren Technik mit Erziehung nichts zu tun hätte, deren telos jedoch als mit dem poietischen telos der Erziehung identisch gelten könnte. Das einstweilige Fazit: Weder Arrangement noch Genmanipulation, weder Gebet noch Gehirnwäsche sind Formen der Erziehung. Jeder dieser Versuche, auf den Charakter des Kindes Einfluß zu nehmen, ist bzw. wäre eine (mehr oder weniger abstruse) Alternative zur Erziehung39, die sich aber immerhin widerspruchfrei beschreiben läßt. Die Notwendigkeit der Erziehung ist eine empirische Tatsache. Nicht allein insofern, als gute Charakterbildung ›nur‹ faktisch auf die Unterstützung durch andere angewiesen ist. Sondern auch, insofern diese Unterstützung sich ›nur‹ faktisch im Handeln eines Erziehers vollziehen muß. Anders gesagt: Wenn auch ethische Erziehung ihrem eigenen Begriff nach notwendig eine Sache des Handelns ist, impliziert doch der Begriff ihres poieti-
39 Allenfalls mögen Arrangieren und Konditionieren zu den Techniken gehören, die als mögliche Komponenten von Erziehung einen Platz in ihr haben. Vgl. 14.3 bzw. 16.3.
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schen telos nicht, daß dieses telos, der gute erwachsene Charakter, nur durch Erziehung, nicht aber durch alternative, nämlich technisch-poietische, Eingriffe gefördert werden kann. d) Allerdings unterscheiden sich alle hier erwogenen hypothetischen Formen der Charakterbildung von der Erziehung in einem wichtigen Punkt: Sie bestehen ausschließlich im Einsatz poietischer Mittel.40 Erziehung hingegen besteht im Handeln. Sie findet daher, unabhängig von den privaten Zielen des Handelnden, ihr telos notwendig in einem guten Charakter41 − während die Finalität ihrer rein poietischen Alternativen, was die Qualität des herbeizuführenden Charakters angeht, neutral ist. Wer es etwa darauf abgesehen hätte, den Heranwachsenden mit schlechten Charaktereigenschaften auszustatten, würde nicht eo ipso schlecht arrangieren, konditionieren, indoktrinieren, manipulieren usw., wohl aber schlecht erziehen. Meine Behauptung, das telos der Erziehung könne auch als telos alternativer Vorgehensweisen auftreten, muß ich unter dieser Rücksicht einschränken. Nur das telos der Erziehung ist als guter Charakter spezifiziert. Daß jedoch die Finalität der übrigen erwähnten Formen von Charakterbildung für dasselbe Ziel grundsätzlich Platz haben könnte: das wird durch die zugestandene Einschränkung nicht widerrufen. Es bleibt dabei: Charakterbildung vollzieht sich nicht mit logischer Notwendigkeit im Medium des Handelns – als Erziehung. e) Das heißt freilich nicht, wir sollten mit der Möglichkeit rechnen, daß Alternativen zur Erziehung geeignet sind, zur Bildung eines guten Charakters beizutragen.42 Und ebenso wenig heißt es, wir benötigten die Erfahrung fehlgeschlagener Versuche einer technisch-poietischen Charakterbildung, um mit Recht davon überzeugt zu sein, daß Kinder, um einen selbständigen guten Charakter zu entwickeln, nicht Tabletten usw., sondern Erziehung brauchen.
40 Gilt das auch vom Gebet? Die meisten Theologen würden zu Recht bestreiten, daß Beten eine Form von poiesis sei. Doch wäre es als Versuch, den Charakter eines anderen (zum Guten oder zum Schlechten!) zu beeinflussen, anstatt ihn durch Vorbild, Stellungnahme usw. anzuleiten, ein magisches und insoweit (der Intention nach) poietisches Vorgehen. – Die Frage, warum hier nur das Handeln und keine andere praxis-Form als denkbares Medium der Charakterbildung in Betracht gezogen wird, überlasse ich einstweilen dem Leser. Vgl. 12.5 (c2). 41 Zur Erinnerung: Mit der Ausrichtung des konstituierenden Handelns auf seine eupraxia, nämlich gutes Handeln, ist die Ausrichtung der Erziehung auf den guten Charakter als telos vorgezeichnet. 42 Eine Sonderstellung unter den hier in Betracht gezogenen poietischen ›Alternativen‹ zur Erziehung scheint die Genmanipulation einzunehmen: Daß sie günstige Ausgangsbedingungen für einen guten Charakter bewirken könnte, scheint nicht ausgeschlossen. Unplausibel ist jedoch die Annahme, daß solche Ausgangsbedingungen, die ja nicht auf das wirkliche Erleben des Kindes abgestimmt sein können, Erziehung überflüssig machen.
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Diese Überzeugung wird zwar durch relevante Kenntnisse, z.B. durch unsere Erfahrung mit Verwendungsmöglichkeiten von Tabletten, gestützt. Doch dürfte sie kaum in solchen Kenntnissen gründen. Die Notwendigkeit von Erziehung steht für uns relativ fest: wir kennen weder Argumente noch Gegenargumente, die so fraglos verläßlich wären, daß sie uns in der selbstverständlichen Überzeugung, daß Kinder erzogen werden müssen, noch gewisser machen bzw. erschüttern könnten. (Wenn ich also diese Notwendigkeit als ›empirisch‹ bezeichne, ist der Ausdruck cum grano salis zu nehmen. Vgl. 3.2, insbesondere Fn. 30.) Die Gewißheit, mit der wir Erziehung für die einzig gangbare charakter-bildende poiesis halten, zeigt sich beispielsweise daran, wie wir auf die Behauptung reagieren würden, Experimente hätten bewiesen, daß die Verabreichung bestimmter Tabletten einer durchschnittlich guten Erziehung gleichwertig oder überlegen sei. Wir würden die Behauptung entweder nicht ernstnehmen. Oder wir würden sie vielleicht zu entkräften suchen: Zufall war im Spiel; die Ergebnisse sind statistisch nicht signifikant, oder voreingenommen und willkürlich gedeutet; die Versuchspersonen haben schließlich nicht nur Tabletten geschluckt, sondern auch Menschen erlebt; vermutlich waren sie vor Beginn des Experiments bereits gut erzogen – oder so miserabel, daß jede Änderung der Umstände sich günstig auswirken mußte; und wie sah die Versuchsanordnung eigentlich aus, welche Kriterien charakterlichen Fortschritts wurden angelegt? Etc. Auch rechnen wir gar nicht mit der Möglichkeit, daß irgendeine Erfahrung die Frage nahelegt, ob sich Erziehung nicht vielleicht durch Medikation oder ähnliches ersetzen läßt.43 Keine philosophisch unbelastete pädagogische Erörterung und kein Gedanke außerhalb des Umkreises von science fiction erwägt so etwas. f) Das Ergebnis dieses Abschnitts läßt sich so zusammenfassen: 1) Der Charakter einer poiesis wird zum einen durch ihr telos, zum anderen durch die Art des Vorgehens bestimmt, durch die das telos verwirklicht werden soll, die aber durch den Begriff dieses telos noch nicht festgelegt ist. So bezieht sich auch der Erziehungsbegriff auf eine bestimmte Weise im Unterschied zu anderen (fiktiven) Weisen der Charakterbildung. 2) Die denkbaren Alternativen sind rein poietischer Natur: wollte man das telos der Erziehung nicht durch Erziehung, sondern durch Arrangement, Gebet, Tabletten, Gehirnwäsche o.ä. zu fördern suchen, so wäre dies der Einsatz poietischer Mittel. In der Erziehung allein wird das Handeln des Erziehers selbst zum Medium der Charakterbildung. 3) Darin liegt der Grund dafür, daß die sekundäre Bewertung des ›Charakterbildens‹ im Fall der Erziehung, nicht aber im Falle denkbarer Alternativen, mit 43 Mit dieser Feststellung schließe ich eine solche Möglichkeit jedoch nicht aus. Auch leugne ich keineswegs eine Tendenz, die heute zu beobachten ist, quasi-technische Verfahren an die Stelle von Erziehung zu setzen. Im Gegenteil – ich werde sie in Kapitel 18 thematisieren. Aber diese Gefahr resultiert aus einem Mißverständnis der Erziehung selbst, nicht aus der Bevorzugung einer Alternative.
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der Bewertung des Erzieher-Handelns zusammenfällt und insofern eine rein ethische ist. 4) Laut (1) bezeichnet ›Erziehung‹ zwar keine Technik, wohl aber eine abgrenzbare Weise der Einwirkung. Worin diese liegt – wie sich das ergon des Erziehers (im Erfolgsfall) erreichen läßt – das ergibt sich nicht durch bloße Analyse dieses ergon. Wir stellen es vielmehr als ›anthropologische Konstante‹ fest: Heranwachsende entwickeln charakterliche Qualitäten unter dem Einfluß ihrer Umgebung; innerhalb dieser Umgebung lassen sich typischerweise Personen mit besonderer Zuständigkeit für einzelne Heranwachsende identifizieren; und diese Personen werden für das Ergebnis ihres Einflusses insoweit verantwortlich gemacht, als sie für die Qualität ihres Handelns im Kontext solcher Zuständigkeit verantwortlich sind (Kapitel 13–14). Das Faktum der charakterlichen Förderung durch Erziehung ist insofern quasi eine Naturtatsache. 5) Wie eine unumstößliche Naturtatsache behandeln wir insbesondere die Überlegenheit der Erziehung über jede denkbare Alternative. Zwar gründet unsere diesbezügliche Überzeugung nicht in vergleichender Beobachtung oder Untersuchung. Doch spiegelt sie auch keinen rein begrifflichen Zusammenhang zwischen dem telos ›erwachsener Charakter‹ und der Erziehung wider. 6) Daß kein solcher Zusammenhang besteht, ergibt sich schon daraus, daß völlig spontane ethische Reifung – ein Zustandekommen des ›Erzogen-Seins‹ ohne Erziehung (und ohne sonstige poiesis mit gleichem telos) – nicht logisch unmöglich ist. Aber auch die logische Möglichkeit alternativer Optionen der Einwirkung ist deutlich geworden. 7) Wenn es selbstverständlich scheint, daß der gute erwachsene Charakter, wenn überhaupt, allein durch Erziehung herbeigeführt werden kann, so hat das wohl unterschiedliche Gründe, zu denen folgende Umstände gehören dürften: Es fällt nicht leicht, ernstzunehmende Alternativen zu konzipieren. Was uns dabei einfällt, erfüllt unter Umständen auch den Tatbestand der Erziehung (das Arrangieren kann eine Komponente sogar der guten Erziehung sein; das Konditionieren steht am Anfang jeder Erziehung). In unserer Erfahrung kommen Alternativen bzw. alternative Versuche so gut wie nicht vor. Und schließlich halten wir sie, wenn nicht für aussichtslos, dann für (weitgehend) unerlaubt.
12.4
Die erziehungskonstitutive praxis läßt sich nicht als Bemühen kennzeichnen
Einen ersten Anhaltspunkt für den praktischen Charakter des Erziehens lieferte die Beobachtung, daß wir gelegentlich auch da von guter Erziehung reden werden, wo sich jemand als schlecht erzogen erweist. Bisher bin ich davon ausgegangen, daß die praxis, die in dieser sekundären Bewertung als gut beurteilt wird, nichts anderes sein kann als das Handeln des Erziehers, das unter Berücksichtigung der Gegebenheiten geeignet war, zur Bildung eines guten Charakters beizutragen – auch dann, wenn es diese Wirkung faktisch nicht erzielt hat. Wäre
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Teil III · Produktive Praxis
es aber nicht denkbar, daß ein Urteil, welches Erziehung sekundär als praxis bewertet, nicht auf die Qualität des Erzieher-Handelns, sondern auf die Qualität des erzieherischen Bemühens Bezug nimmt? In der Tat scheint Bemühen durchaus ein praxis-Begriff zu sein. Genauer gesagt: Man kann aus einem beliebigen Begriff einer poiesis den praxis-Begriff der entsprechenden Bemühung bilden. Dem Reparieren eines Fahrrads z. B. ›entspricht‹ in diesem Sinne das Bemühen, es zu reparieren. Und während sich die Bewertung des Reparierens selbst primär an der Qualität des Ergebnisses und sekundär an der Eignung des konstitutiven Tuns orientiert, wird das Bemühen nach dem Maß bewertet, in dem der Handelnde sich mit den ihm verfügbaren Fähigkeiten reparierend einsetzt. Insofern weist solches Bemühen offenbar die Merkmale einer praxis auf: sein telos ist nichts anderes als ein Maximum an angemessener Bemühung. Muß aber das telos des Bemühens nicht mit dem telos der poiesis identisch sein, der das Bemühen gilt, damit von echtem Bemühen überhaupt die Rede sein kann? Verlangt bzw. enthält nicht die ernsthafte Bemühung, das Fahrrad zu reparieren, die ernsthafte Absicht, es zu reparieren? Dann aber ist das telos doch poietisches telos, nicht lediglich optimales Bemühen, also eine Art eupraxia! – Tatsächlich lassen sich im Begriff der Bemühung zwei teleologische Strukturen unterscheiden. Das in der jeweiligen Bemühung intendierte telos ist freilich das der entsprechenden poiesis und somit poietischer Natur. Nur wo dieses telos realisiert wird, ist die Bemühung gelungen. Und nur wer dieses telos – die Fahrtüchtigkeit des Fahrrads – wirklich intendiert, ist um dessen Reparatur tatsächlich bemüht. (Natürlich ist dieses telos, der zu intendierende Zweck der Reparatur, nicht schon damit realisiert, daß die Bemühung so intensiv ist wie nur möglich!) Zugleich jedoch behandeln wir das Bemühen in gewissem Sinne als ›Selbstzweck‹. Denn sein Begriff enthält die Idee eines (praktischen) telos, das – intendiert oder nicht – tatsächlich mit dem Maximum an Einsatz identisch ist. Das zeigt sich am Maßstab, nach dem wir eine Bemühung bewerten. Deren Qualität beurteilen wir nämlich nicht danach, wie nahe sie ihrem poietischen Ziel kommt (das ist allenfalls ein Indiz), sondern allein nach Qualität und Energie des Denkens und Wollens, die das Subjekt in die Verfolgung des poietischen Zwecks investiert. Diese Qualität ist es, die uns veranlaßt, das Bemühen – auch das erfolglose – zu loben. Für die primäre Bewertung der poiesis – der Reparatur z. B. – ist entscheidend, ob das Bemühen zur Fahrtüchtigkeit des Rades führt; für die sekundäre Bewertung derselben poiesis, ob dieses Bemühen sich der geeigneten Mittel und Wege bedient. Hingegen sind für die Bewertung der Bemühung selbst Erfolg und angemessenes Verfahren nicht mehr als unsichere Indizien. Das eigentliche Kriterium liegt in der Intensität, mit der das Subjekt die verfügbaren Kräfte in den Dienst der poiesis (der Reparatur z. B.) stellt. Kehren wir zur erzieherischen Bemühung zurück. Ist vielleicht sie – und nicht das Handeln des Erziehers – die praxis, die bewertet wird, wenn man vom schlecht Erzogenen sagt, er sei trotz guter Erziehung mißraten?
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Mit dieser Annahme wäre, so scheint es, der indirekte Bezug dieser positiven Bewertung auf das (nicht realisierte) poietische telos der Erziehung problemlos gewahrt. Einerseits nämlich ist B’s Bemühung, A charakterlich zu bilden, qua erzieherische Bemühung (anders als B’s Handeln qua Handeln!) durch eben jenes telos als intendierten Zweck finalisiert: die Bemühung ist kraft der sie konstituierenden Absicht auf ein gutes Erziehungsergebnis ausgerichtet. Und doch wäre andererseits der Tatsache Rechnung getragen, daß die Qualität der Erziehung als praxis nicht ohne weiteres an der Qualität des Ergebnisses gemessen werden kann; denn ebenso wie der Versuch unterscheidet sich das Bemühen, ein poietisches telos zu erzielen, von der entsprechenden poiesis selbst gerade dadurch, daß es unabhängig vom Erfolg bewertbar ist. – Warum also sollte nicht das erzieherische Bemühen die praxis sein, die einer bewertet, wenn er, vom Erziehungsergebnis absehend, von guter oder schlechter Erziehung redet? Soweit ich sehe, spricht nichts dagegen, erzieherisches Bemühen als praxis zu verstehen. Indessen scheint sie nicht die gesuchte praxis zu sein. Die Vorstellung, wir meinten die erzieherische Bemühung, wenn wir Erziehung sekundär, also praktisch und nicht ergebnis-orientiert bewerten, wird der begrifflichen Situation nicht gerecht. Zumindest bringt sie nur einen Teil dessen in den Blick, was in einer solchen Bewertung bewertet wird. Das mögen die folgenden Überlegungen deutlich machen. a) Betrachten wir zunächst erzieherische Maßnahmen, also Handlungen und Unterlassungen, mit denen B die Absicht verbindet, auf A’s Charakter einzuwirken. Maßnahmen bilden zwar in der Regel eine eher marginale Komponente von Erziehung. Ihre Notwendigkeit hängt von Umständen und von A’s Verfassung ab. Jedenfalls aber sind sie von sich aus poietischer Natur. Und so bilden sie offenkundig einen Bereich, in dem die Qualität des Bemühens tatsächlich die Qualität des Erziehens mitbestimmt. Ein Beispiel aus 4.5 abwandelnd, wollen wir annehmen, B verbiete A bestimmte Fernsehsendungen. B verspricht sich von dieser Maßnahme eine Dämpfung von A’s Aggressivität gegenüber den Geschwistern. Die erhoffte Wirkung bleibt jedoch aus. – Hier könnten wir sagen: ›Daß das Erleben von Gewalt im Fernsehen aggressive Tendenzen unterstützt, darf man annehmen. Das Verbot war daher sinnvoll. Und nicht nur das. B hat sich die Sache auch sehr gut überlegt; eine geeignetere Maßnahme war nicht in Sicht. Wenn das Verbot den gewünschten Erfolg nicht hatte, liegt dies an der unüberschaubaren Vielfalt und Vielzahl weiterer Faktoren der Situation. B ist für das Ausbleiben des erhofften Ergebnisses nicht verantwortlich. So weit jedenfalls ist an der Weise, wie B A erzieht, nichts auszusetzen. Im Gegenteil, als erzieherische Bemühung ist das Fernsehverbot sogar positiv zu werten.‹ Können wir in einem solchen Falle – nicht poietisch, sondern praktisch wertend – ceteris paribus sagen, A werde von B gut erzogen und B sei insoweit ein guter Erzieher? – Hier ist zu beachten, daß eine solche Bewertung der Erziehung
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und des Erziehers nach dem Ausmaß erzieherischen Bemühens voraussetzt, daß dieses Bemühen nur auf Ziele gerichtet ist, die dem telos der Erziehung hinlänglich angemessen sind, und daß der Erzieher um dieser Ziele willen tatsächlich gute Mittel und Wege einsetzt oder doch nach Kräften einzusetzen versucht. (Und gut sind hier solche Mittel und Wege, die erstens allgemeinen ethischen Maßstäben gerecht werden und zweitens die Vermutung rechtfertigen, daß sie ihren Zweck erfüllen.) Versuchte etwa ein unerleuchteter Erzieher, die Sanftmut des Heranwachsenden durch Fußtritte zu fördern, so könnte eine solche erzieherische Bemühung auch durch noch so intensives Engagement nicht die Tatsache wettmachen, daß das eingesetzte Mittel weder poietisch noch ethisch beurteilt überzeugen kann. Diese Überlegung zeigt: Selbst da, wo durch erzieherische Maßnahmen ausschließlich angemessene Ziele intendiert werden, sorgt keinesfalls das Ausmaß der erzieherischen Bemühung allein dafür, daß von guter Erziehung in einem sekundären (oder ›praktischen‹) Sinne die Rede sein kann. Erst recht ist intensive erzieherische Bemühung kein hinreichender Grund, auch die erfolglose Erziehung positiv zu bewerten, wenn sie unangemessene Ziele verfolgt. b) Bemühung impliziert Intention. Gemeint ist die Absicht, das poietische telos zu realisieren, dem die Bemühung gilt. Solche Absicht gehört, als erzieherische Absicht, ohne Zweifel zu jeder erzieherischen Maßnahme. Sie gehört jedoch keinesfalls mit Notwendigkeit zum Erziehen überhaupt (4.4–7). Zur guten Erziehung mögen daher im Einzelfall Bemühungen unterschiedlichster Art erforderlich sein, auch erzieherische Bemühungen – Handlungen also und Unterlassungen, mit denen der Erzieher die Absicht verfolgt, zum guten Charakter des Heranwachsenden beizutragen. Konstitutiv für Erziehung als solche sind derartige Bemühungen indessen nicht. Da jedoch die Dualität der Bewertungsmaßstäbe Erziehung als solche kennzeichnet – unabhängig davon, ob der Erzieher sich durch den Einsatz von Maßnahmen um Erfolg bemüht – darf man wohl folgern: Was den praxis-Charakter der Erziehung bedingt, der sich in den Kriterien ihrer sekundären Bewertung manifestiert, kann nicht das Bemühen im Bereich der erzieherischen Maßnahmen sein. c) Angesichts dieses Ergebnisses könnte man es noch damit versuchen, die Idee der erzieherischen Bemühung nicht auf Maßnahmen, sondern auf das gesamte Handeln des Erziehers zu beziehen – oder jedenfalls auf dieses Handeln, insoweit es erzieherisch relevant ist. Die Frage lautet dann: Bezieht man sich, wenn man Erziehung sekundär bewertet, auf das Ausmaß der Bemühung des Erziehers, gut zu handeln? Offenbar lautet die Antwort auf diese Frage: Nein. Selbst ausgeprägtes Bemühen um gutes Handeln ist noch kein gutes Erziehen. Auch wenn man einen sekundären, nicht ergebnis-bezogenen Bewertungsmaßstab anlegt, behauptet man sicher nicht, B erziehe A insoweit gut, als er sich um gutes Handeln bemü-
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he. B muß vielmehr tatsächlich gut handeln44, damit man (immer noch im sekundären Sinne!) sagen kann, er erziehe A gut und sei ein guter Erzieher. Wäre allein die Bemühung um gutes Handeln für gutes Erziehen konstitutiv, so könnte, wer trotz Bemühung nicht gut handelt, dennoch ein guter Erzieher sein. Das aber meint man nicht, wenn man von guter, wiewohl mißlungener, Erziehung spricht. Das Zugeständnis, das im Vergleich zur primären die sekundäre Bewertung der Erziehung macht, trägt dem Abstand zwischen erzieherischem Einsatz und Erziehungsergebnis Rechnung, nicht dem Abstand zwischen gutem Willen und Ausführung im Bereich des Handelns. d) Somit bleibt es dabei, daß die sekundäre Bewertung von Erziehung, die unser Sprachgebrauch vorsieht (5.6 und 10.5 (j)) – die Bewertung des erzieherischen Einsatzes – auf die Qualität von B’s Handeln Bezug nimmt; also nicht auf die Qualität seines Bemühens um gutes Handeln; und auch nicht – jedenfalls nicht unmittelbar – auf die Qualität seiner erzieherischer Bemühungen im Sinne fehlbarer Maßnahmen. Damit schließe ich nicht aus, daß zum guten Handeln des Erziehers, je nach Umständen, solche Bemühungen gehören können, also das unter (a) thematisierte Bemühen, durch (ethisch und erzieherisch angemessene) Maßnahmen ein (gleichermaßen angemessenes) Ziel zu befördern. Man könnte sagen: Selbst wenn aus A ein Schurke werden sollte, ist seine Erziehung, sekundär bewertet, insoweit gut, als B gut handelt und im Zuge des guten Handelns intensiv bemüht ist, durch angemessene Maßnahmen A’s Charakterbildung zu fördern, wo Klugheit solche Maßnahmen fordert.
12.5
Die praktisch-poietisch ambivalente Teleologie des Erziehungsbegriffs hat lebensweltliche Wurzeln
Angesichts dieses Ergebnisses kann man allerdings immer noch nach dem Sinn der besonderen Dualität fragen, die mit der Idee der Erziehung gegeben ist: Warum hält unsere Sprache hier einen Begriff bereit, durch den sie einem und demselben Tun zwei Finalitäten zuordnet? Gibt es eine Erklärung dafür, daß wir von guter bzw. schlechter Erziehung nicht nur im Blick auf die Qualität des Erziehungsergebnisses sprechen, sondern auch im Blick auf die Qualität des erzieherischen Einsatzes? Worin liegt die Funktion einer solchen Dualität? – Bei
44 Freilich ist gerade hier daran zu erinnern, daß wir das Handeln – aber dementsprechend dann auch das Erziehen! – als mehr oder weniger gut beurteilen. – Können sich nicht gerade B’s ethische Schwächen erzieherisch positiv auswirken, insoweit sie ihn dazu veranlassen, A das Beispiel ethischer Bemühung zu geben? Das mag sein. Und das gute Handeln, das gute Erziehung ausmacht, schließt natürlich den guten Umgang mit eigenen Schwächen ein. Auf der anderen Seite dürfte das Risiko, daß A in die Hände eines Erziehers gerät, der bereits zu vollkommen ist, um das Beispiel der Bemühung um ethischen Fortschritt geben zu können, vernachlässigbar gering sein.
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dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird es hilfreich sein, eine Reihe von Problemen auseinanderhalten. a) Warum beläßt es unsere Begrifflichkeit nicht bei einer primären Bewertung der Erziehung? Der Ausdruck ›guter erwachsener Charakter‹ zieht zwar keine sehr scharfen Grenzen, ist aber doch genau genug, um ein telos zu identifizieren, dessen Realisierung sich grundsätzlich feststellen läßt. Dementsprechend hat B A gut erzogen, wenn die Erziehung einen deutlichen Beitrag dazu geleistet hat, daß an ihrem Ende A einen guten erwachsenen Charakter aufweist. Wozu noch eine sekundäre Bewertung, die sich nicht auf die Realisierung des telos stützt? Diese Frage habe ich in 5.6 bereits ausführlich erörtert: Wie bei jeder anderen Art von poiesis kann uns im Fall der Erziehung daran liegen, bei ihrer Bewertung von der Realisierung des telos abzusehen – insbesondere da, wo das zu bewertende Tun das telos nicht realisiert, obwohl es nach Maßstäben erzieherischer Klugheit das richtige Tun, d. h. geeignet ist, ebendies zu leisten. b) Allerdings prägt dieses Interesse an sekundärer Bewertung im Fall der Erziehung unser Sprechen und Denken auf eine Weise, die sich im Falle anderer Arten der poiesis nicht zeigt. Auch von einem charakterlich mißratenen Jugendlichen nämlich könnte es zu Recht heißen, er sei richtig erzogen worden, habe eine gute Erziehung erhalten oder dergleichen; dagegen wird man kaum von einem nach wie vor defekten PKW sagen, er sei gut repariert worden, oder von einem Knoten, der nachgibt, er sei richtig gebunden worden. Dieser Unterschied mag auf eine Spannung hinweisen, die unser Interesse an der Leistung des Erziehers kennzeichnet. Auf der einen Seite nämlich kommt der Qualität von Erziehern, Erziehung und Erziehungsergebnis herausragende Bedeutung für das menschliche Leben zu; auf der anderen kann gerade hier von einer uneingeschränkten Verantwortlichkeit für das Ergebnis nicht die Rede sein (10.2–4). Was aus den Kindern einer Gesellschaft wird, kann dieser nicht gleichgültig sein. Zunächst einmal enthält unser Interesse am Wohlergehen von Kindern eine spontane Komponente. Menschen neigen von Natur dazu, auf Kinder schonend, wohlwollend, helfend zu reagieren. Und speziell bei den eigenen Kindern neigen Eltern dazu, sich intensiv um deren Wohlergehen zu kümmern. Dazu kommt aber die Tatsache, daß ein friedliches Zusammenleben mit der nachwachsenden Generation von deren charakterlichen Qualitäten abhängt. Und schließlich haben Menschen speziell im Hinblick auf ihr Alter ein Interesse daran, daß Jüngere bereit sein werden, sie zu tolerieren und ihnen beizustehen. Ein solches mehrfaches Interesse daran, was aus unseren Kindern wird, schlägt sich natürlich im Interesse an ihrer Erziehung nieder. Viel hängt davon ab, ob Erzieher ihre Sache gut oder schlecht machen. Auch diesbezügliche Wertungen und Weisungen haben daher eine wichtige Funktion. Indessen können wir nicht viel mit ihnen anfangen, solange sie sich ausschließlich auf Erziehungsergebnisse beziehen. Um verhaltenswirksam zu orientieren, müssen sie
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auf Qualitäten des erzieherischen Einsatzes Bezug nehmen – auch wenn diese Qualitäten nur sehr umrißhaft und unzuverlässig mit Qualitäten des Ergebnisses korreliert sind. Unser vitales Interesse an Erziehung verlangt infolgedessen nach einem Bewertungsmaßstab, der sich auf Aspekte des Erzieher-Verhaltens bezieht, die zwar nicht nach sehr spezifischen oder zuverlässigen Gesetzen, wohl aber erkennbar für das Erziehungsergebnis relevant sind. c) Aspekte dieser Art sind vermutlich nicht ausschließlich in der Qualität des Handelns, also im Charakter des Erziehers, zu finden. Es ist z. B. denkbar, daß manches, aber nicht jedes Erzieher-Verhalten mit Anziehungskräften ausgestattet ist, die mit dessen ethischer Qualität nichts zu tun haben, auf die das Gegenüber jedoch mit erhöhter Lernbereitschaft reagiert. Freilich unterliegen solche Anziehungskräfte nur sehr eingeschränkt der Kontrolle des Erziehers. Dennoch: Das Handeln ist nicht der einzige Aspekt seines Verhaltens, das seiner Kontrolle unterliegt. Warum also soll gerade die ethische Bewertung des Erzieher-Verhaltens die gesuchte (sekundäre) Bewertung der uns interessierenden Form von Charakterbildung liefern? Warum ist es gerade das Handeln des zuständigen Erwachsenen, das man bewertet, um die Qualität seiner Einflußnahme unabhängig von der Qualität des Ergebnisses zu beurteilen? Ich möchte diese Frage beantworten, indem ich auf zwei Teilfragen eingehe: 1) Warum sind es nicht einzig poietische Mittel, nämlich erzieherische Maßnahmen, deren Eignung als Basis einer sekundären Bewertung ethischer Anleitung dienen? 2) Warum ist es das Handeln im Unterschied zu sonstigen praxis-Formen, dessen Qualität diese Basis abgibt? 1) Um auf die erste Frage zu antworten, rufe ich noch einmal in Erinnerung, daß Erziehung zwar Zuständigkeit und damit Verantwortlichkeit impliziert, nicht aber Absicht. Aus diesem Grund kann sich die Verantwortlichkeit hier nicht – wie etwa beim Kfz-Mechaniker – auf die Wahl der richtigen Maßnahmen zur Verwirklichung einer solchen Absicht beziehen. Genauer gesagt: Die Verantwortlichkeit des Erziehers ist nicht von vornherein und per se Verantwortlichkeit für den Einsatz geeigneter poietischer Mittel, sondern nur da, wo erzieherische Absichten im Spiel sind oder im Spiel sein sollten. Warum aber gibt die Sprache nicht anstelle eines solchen Begriffs einen anderen vor, den Begriff einer ethischen Anleitung, die im Einsatz geeigneter Maßnahmen zur Erreichung eines explizit konzipierten und intendierten Zweckes besteht? – Hier ist zu bedenken, daß unsere Sprache die Sprache einer Spezies oder jedenfalls einer Gesellschaft ist, in der gewöhnlich die ethische Anleitung der Kinder vorwiegend in den Händen ihrer Eltern liegt. Die Zuständigkeit eines Erziehers ist daher in der Regel nur indirekt Gegenstand seiner Wahl. Und da die meisten Menschen in die Situation solcher Zuständigkeit leicht geraten können und (immer noch) häufig geraten, liegt es schon deshalb nahe, vom ErzieherVerhalten nur Qualitäten zu verlangen, die man von jedem Erwachsenen verlangen kann – Qualitäten also, die sich nicht herausragender Begabung, Bemühung,
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Reflexion oder Ausbildung verdanken. Darin dürfte eine Erklärung dafür liegen, daß der Begriff der ethischen Erziehung den Erzieher nicht unter den Anspruch stellt, ein Erziehungsziel zu konzipieren, zu intendieren und durch geeignete Maßnahmen zu realisieren. Zugleich muß die Qualität der erzieherischen Präsenz etwas sein, wofür der Erzieher verantwortlich ist – etwas Freiwilliges und nicht z. B. angeborene Merkmale. Die Elemente oder Aspekte seines Verhaltens, derentwegen es sich als gute oder schlechte Erziehung bezeichnen läßt, müssen der Kontrolle dieses Erziehers unterliegen. Daher stellt sich jetzt, nachdem eine rein poietische Implementierung der ethischen Anleitung ausgeschlossen worden ist, die Frage, welche praxis-Form das Medium solcher Anleitung bilden kann. 2) Kaum jemand wird auf den Gedanken verfallen, das Erziehungsergebnis vor allem mit der Weise in Verbindung zu bringen, wie sich der Erzieher kleidet, oder mit den Anstandsregeln, die er befolgt. Diese nicht-poietischen (und insofern, wie das Handeln, ›praktischen‹) Aspekte des Erzieher-Verhaltens mögen sich zwar auf den Charakter des Heranwachsenden auswirken. Man wird diese Wirkung jedoch vor allem darin erblicken, daß sie im gegebenen Kontext indirekt doch den Charakter des Erziehers widerspiegeln. D.h.: man wird ihren Beitrag zum Handeln des Erziehers und letztlich ebendieses Handeln als Medium der ethisch Anleitung betrachten. Woher diese Selbstverständlichkeit? Gewiß, das Handeln erfüllt die Bedingung, der Kontrolle des Erziehers zu unterliegen, ohne notwendig in zielgerichteten Maßnahmen zu bestehen. Wodurch aber ist die Qualität des Handelns dazu geeignet, den Bewertungsmaßstab zu liefern, nach dem das Erzieher-Verhalten als gute oder schlechte ethische Anleitung beurteilt wird? Diese Eignung kann nur in der empirischen Tatsache liegen, daß, unter Bedingungen kommunikativer Präsenz, die Manifestation des Charakters im gesamten Handeln eines Menschen auf die Charakterbildung von Kindern und Jugendlichen ausschlaggebend einwirkt (12.3). Die Gewißheit, daß es sich so verhält, gehört zu den Grundlagen unserer Sicht von Erziehung (2.5 (a2)). Nur ein faktischer qualitativer Zusammenhang zwischen dem Handeln des Erziehers und dem Handeln des Erzogenen berechtigt uns, anhand des Charakters bzw. des Handelns des Erziehers die Qualität der Erziehung sekundär zu bewerten. Kein begrifflicher Zusammenhang kann garantieren, daß sich B’s gutes oder schlechtes Handeln im großen und ganzen gut bzw. schlecht auf A’s Charakter auswirkt (auf das Ergebnis also, dessen Qualität über die primäre Bewertung von A’s Erziehung entscheidet). Umgekehrt aber setzt der Begriff der Erziehung ebendieses Faktum voraus.
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12.6
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Für die Erziehungswissenschaft hat die Dualität des Erziehungsbegriffs heuristische Bedeutung
Primäre und sekundäre Bewertung von Erziehung können divergieren: A ist unter Umständen, B’s erzieherischem Einsatz nach zu urteilen, gut erzogen worden, ohne doch, der tatsächlich erlangten charakterlichen Verfassung nach, gut erzogen zu sein. Insofern riskiert die Sprache, indem sie in einem einzigen Begriff poietisch- und praktisch-teleologische Strukturen unterbringt, so etwas wie Inkonsistenz oder wenigstens Zweideutigkeit. Doch scheint die Verständigung unter diesem Schönheitsfehler des Erziehungsbegriffs nicht zu leiden. Offenbar helfen uns in der Regel idiomatische Wendungen, grammatische Nuancen und Kontext, das jeweils Gemeinte mühelos zu vermitteln. Zudem ist die verbale Inkonsistenz eine systematische. Sie beruht ja weder auf der in sich widersprüchlichen Auffassung einer einzigen Wirklichkeit noch auf bloßem linguistischem Zufall. Vielmehr hat sie darin ihren Grund, daß ein und derselbe Maßstab bei der primären Bewertung direkt und bei der sekundären indirekt zur Anwendung kommt – und manchmal mit divergentem Resultat. Den Maßstab liefert das poietische telos der Erziehung. In direkter Anwendung mißt er die Qualität von B’s erzieherischem Einsatz am tatsächlichen Erziehungserfolg: ›Inwieweit hat B’s Einsatz bei A erreicht, was Erziehung erreichen soll?‹ In indirekter Anwendung mißt er die Qualität von B’s Einsatz lediglich an der Eignung dieses Einsatzes, erfolgreich zu sein: ›Inwieweit hat B getan, was mit Blick auf A geeignet war, das Erziehungsziel zu erreichen?‹ Hierbei gilt die Frage: ›Welcher Art Einsatz ist denn dazu geeignet?‹ als schon beantwortet mit der Annahme, daß gutes Erzieher-Handeln die besten Aussichten hat, zu einem guten Charakter beizutragen. Dieser generellen Antwort aber liegt (und zwar unmittelbar) ebender Maßstab zugrunde, dessen ›direkte Anwendung‹ auch zu der fall-bezogenen Auskunft führt, A sei gut erzogen, seine Erziehung sei in dieser oder jener Hinsicht mißlungen, oder dergleichen. Mit anderen Worten: ›B hat A gut erzogen‹ ist nicht etwa deshalb zweideutig, weil ›gut‹ oder ›erziehen‹ zweideutige Ausdrücke wären; sondern deshalb, weil ein und dasselbe inhärente (poietische) telos der Erziehung einmal unmittelbar, ein andermal aber bloß mittelbar den Maßstab der Bewertung abgibt, die sich in der Formulierung ›gut erzogen‹ artikuliert. Allerdings kann man fragen, ob es nicht angezeigt wäre, solche Zweideutigkeit zumindest in der Sprache der Wissenschaft zu vermeiden. Zu diesem Vorschlag möchte ich zunächst bemerken: Die faktische Praxis der Erziehungswissenschaft stößt kaum je auf das Problem. Das liegt daran, daß sie zwar andere Probleme zur Kenntnis nimmt, die aus der Unberechenbarkeit erzieherischer Einwirkung resultieren, Probleme der Bewertung aber im allgemeinen gar nicht oder recht abstrakt behandelt. Insbesondere liest man in zeitgenössischen erziehungswissenschaftlichen Arbeiten recht wenig über Kriterien guter Erziehung; sie halten sich (im Unterschied zur pädagogischen Ratgeber-Litera-
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tur) in diesen Fragen eher bedeckt. So stoßen sie kaum zu den Fragen vor, die dazu zwingen würden, Dualität und zweifache Bewertbarkeit der Erziehung zu reflektieren. Diese für den Uneingeweihten befremdliche Zurückhaltung mag ihrerseits eine Reihe von Gründen haben. Unter anderem die Tatsache, daß das Interesse der Erziehungswissenschaft, ihrem Namen zum Trotz, nur noch sehr partiell der Erziehung und weitgehend anderen Bereichen der Pädagogik gilt.45 Vor allem aber macht sich hier wohl eine Scheu bemerkbar, Qualitätsfragen überhaupt in eine wissenschaftliche Betrachtung einzubeziehen (vgl. 3.4, speziell (d3)). Für den einen gilt es als ausgemacht, daß solche Fragen sich nicht objektiv beantworten lassen. Ein anderer versackt im meta-ethischen Bemühen, ebendiese Skepsis zu widerlegen. Der dritte schließlich glaubt es der Wissenschaftlichkeit seines Faches schuldig zu sein, jede Zuständigkeit für Wertungen von sich zu weisen. (Gleichwohl finden alle drei einen Weg, ihre Antworten auf Qualitätsfragen, die sich ja unabweisbar aufdrängen und die Untersuchung erst relevant machen, doch in dieser oder jener Verkleidung einzuführen – also etwa durch stillschweigende Voraussetzungen; in der Gestalt persönlicher, aber ›zustimmungsfähiger‹ Stellungnahmen; auf dem Weg über suggestive Ausdrücke und Zitate; durch Präsentation statistischen Materials, das sozusagen für sich selbst spricht.) Erziehung ist nun einmal kein Geschehen, das sich ohne Rekurs auf normative Bezüge kennzeichnen und untersuchen ließe. Der Begriff der ethischen Erziehung ist inhärent normativ: er impliziert einen primären, unmittelbar am Erziehungsziel orientierten, und einen sekundären, unmittelbar an der Qualität des Erzieher-Handelns orientierten Maßstab der Bewertung. Und die Erziehungswissenschaft kommt nicht daran vorbei, ihren vorrangigen Gegenstand unter beiden teleologischen Perspektiven zu analysieren und zu präsentieren. Die beiden Perspektiven richten den Blick auf unterschiedliche Fragenbereiche. Insofern ist die Dualität des Erziehungsbegriffs von heuristischer Bedeutung. 1) Zum einen kann die Erziehungswissenschaft nicht von der poietisch-normativen Struktur des Erziehungsbegriffs absehen, weil dessen ganze Pointe auf dieser Struktur beruht. ›Erziehung‹ bezeichnet ja den Beitrag, den ein Erwachsener zu einem ›isolierbaren‹ Ergebnis (5.1 (c1)) von enormem Interesse leistet – zum künftigen Charakter eines ihm anvertrauten jungen Menschen. Dieser 45 Ich denke an schulischen Unterricht, Erwachsenenbildung, Sozial- und Behindertenpädagogik, betriebliche Weiterbildung usf. – In der Zeitschrift Erziehungswissenschaft, dem offiziellen Mitteilungsorgan der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft erfährt man, unter »Berichte aus den Sektionen«, über das Symposium Innovationspotentiale der Allgemeinen Erziehungswissenschaft (München, 25.–27. März 2002): »E. Liebau schlug vor, angesichts der Breite und der thematischen Fokussierung gegenwärtiger Forschung zu Bildung, Lernen und Biographie (und weniger über Erziehung) [...] die als ›Erziehungswissenschaft‹ zur Zeit offensichtlich falsch benannte Disziplin mit einem programmatisch aussagekräftigeren Namen zu versehen, der auch eine adäquate öffentliche Wahrnehmung fördern könnte« (Jg. 13, 2002, S. 42).
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Zusammenhang lenkt den Blick auf alle Fragen, die das faktische Ergebnis der Erziehung, aber auch deren poietisches telos und seine Erfordernisse betreffen. 2) Zugleich lokalisiert der Erziehungsbegriff jenen Beitrag aus Gründen, denen ich nachgegangen bin, im Handeln des Erziehers. Das gibt diesem Begriff seine zusätzliche praktisch-normative Struktur. Um ihr gerecht zu werden, muß die Erziehungswissenschaft auch davon sprechen, wodurch konkrete Erziehung im Sinne des erzieherischen Einsatzes, also ergebnis-unabhängig und insofern sekundär oder praktisch bewertet, gute oder schlechte Erziehung ist. Diese Zweite Perspektive muß sich die Erziehungswissenschaft nicht nur deshalb zu eigen machen, weil sie sich andernfalls ihrer eigenen Relevanz für die Beurteilung der Erziehungspraxis und für diese selbst beraubt. Tiefer reicht ein anderer Grund: Erst die praktisch-normative Perspektive – die Betrachtung des Erzieher-Verhaltens unter dem Gesichtspunkt seiner ethischen Qualität – greift das heraus, was im Strom des Erzieher-Verhaltens überhaupt Erziehung ist – ganz so, wie beispielshalber erst die Perspektive der Anstandsregeln herausgreift, was im Strom dieses Verhaltens Benehmen ist (vgl. 6.1). Unter Voraussetzung dieser Zusammenhänge stellt sich allerdings immer noch die Frage: Sollte sich nicht der Erziehungswissenschaftler einer Terminologie bedienen, die von vornherein und sprachlich eindeutig zwischen primärer und sekundärer Bewertung der Erziehung unterscheidet? Beispielsweise könnte er für den ersten Fall die Prädikate ›gut‹ und ›schlecht‹, für den zweiten aber ›richtig‹ und ›falsch‹ vorsehen. Angesichts der Funktion sekundärer Bewertung der Erziehung (12.5) kann eine solche Terminologie von Nutzen sein – solange sie nicht die begriffliche Abhängigkeit zwischen guter und richtiger Erziehung verschleiert, die ich zu Beginn dieses Abschnitts nachgezeichnet habe. Auch könnte eine differenzierende Terminologie daran erinnern, wie sehr sich das Medium der Erziehung von einem technischem Verfahren unterscheidet. Erziehung ist zwar nicht Selbstzweck. Sie ist auf ein Ergebnis ausgerichtet, das sich begrifflich – und in der Phantasie auch kausal – von ihr ablösen läßt. Andererseits vollzieht sie sich im Medium eines durch eupraxia finalisierten Tuns. Erziehung ist poiesis durch praxis, Einwirken durch Handeln. In das Bild dieser bislang vor allem formal untersuchten Struktur werden nun die beiden folgenden Kapitel weitere Konturen einzeichnen – Konturen, die jene Aspekte des Erzieher-Handelns wiedergeben, denen wir erzieherische Bedeutung zuschreiben.
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Ethische Qualität und kommunikative Präsenz Meister Dsong sprach: Ich prüfe täglich dreifach mein Selbst: Ob ich, für andere sinnend, es etwa nicht aus innerstem Herzen getan; ob ich, mit Freunden verkehrend, etwa meinem Worte nicht treu war; ob ich meine Lehren etwa nicht geübt habe. Kungfutse, Gespräche
Die These, das Medium der Erziehung liege im Handeln des Erziehers, habe ich bisher in Umrissen erläutert und gegen Mißverständnisse und Einwände verteidigt. Es ist nun noch zu klären, wie die Qualität von B’s Vernunft und Charakter durch sein Handeln auf A’s Vernunft und Charakter Einfluß nehmen. Dementsprechend lauten die Fragen der Kapitel 13 und 14: Inwiefern ist das Handeln des Erziehers Erziehung? Auf welchen Wegen wirkt B’s Handeln vernunft- und charakterbildend – und insofern poietisch – auf A? Worin liegt seine erzieherische Relevanz? Meine Antwort setzt als Ergebnis früherer Analysen voraus, daß der hier einschlägige Begriff des Handelns auf Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmung von Motivationsstrukturen mit den Tugenden Bezug nimmt. Auf diesem Hintergrund unterscheide ich in diesem Kapitel zwei Wege, auf denen B’s Handeln zur Qualität von A’s Charakter beitragen kann. Die erziehungsrelevante tugendgemäße Motivationsstruktur des Erziehers kann nämlich entweder durch das Erziehungsverhältnis selbst definiert sein oder, hiervon ganz unabhängig, durch sonstige, allgemeinere Erfordernisse des menschlichen Lebens. Motivationsstrukturen der zweiten Art sind konstitutiv für die allgemeinen ethischen Tugenden. Ihnen entsprechendes Handeln des Erziehers scheint sich im Erzogenen tendenziell zu ›reproduzieren‹ (13.1). Dabei wirkt B’s Handeln vor allem dadurch charakterbildend auf A, daß es entweder als Vorbild (13.2) oder aber als wertende Kommunikation (13.3) eine bestimmte Motivationsstruktur nahelegt. Motivationsstrukturen der ersten Art sind konstitutiv für Erzieher-Tugenden (13.4). Unter der Perspektive dieser Bewertungsdimension liegt die erzieherische Bedeutung des Erzieher-Verhaltens einfach darin, daß bzw. wie es den Heranwachsenden und insbesondere seine Bereitschaft und seine Fähigkeit, ethisch zu lernen, tangiert. Das soll an den Beispielen Verantwortungsbewußtsein, Liebe und Vertrauen gezeigt werden (13.5). Abschließend möchte ich dartun, inwiefern B’s ›kommunikative Präsenz‹ in A’s Leben die Art des Handelns ermöglicht und bedingt, die als erzieherisch gelten kann (13.6–7). Von den Unterscheidungen, die ich in diesem Kapitel bemühen werde, gilt übrigens in besonderem Maß, was zur Methode der ganzen Untersuchung gesagt wurde: Die begrifflichen Grenzen lassen sich nicht immer trennscharf ziehen. Und auch wo dies möglich ist, durchdringt sich unweigerlich in der Realität, was um des angemessenen Verständnisses ebendieser Realität willen unterschieden bleiben muß.
13 Ethische Qualität und kommunikative Präsenz
13.1
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Der Charakter des Erziehers wirkt durch erlebbare Manifestation poietisch
Daß sich B’s gutes Handeln in aller Regel gut auf A’s Charakter auswirkt und B’s schlechtes Handeln schlecht: das gehört zu den Überzeugungen, die den Begriff der ethischen Erziehung möglich machen und tragen (12.4–5). Und wenn auch die erzieherische Einwirkung, die durch Handeln stattfindet, ihre Auswirkungen nicht determiniert, so haben wir doch eine Vorstellung davon, in welcher Richtung welche Art von Einfluß einen so oder so verfaßten Heranwachsenden wahrscheinlich bewegen wird. Wir erwarten z. B., daß Kinder anständiger Eltern eine gute Chance haben, auch selber anständige Menschen zu werden; und daß wir umgekehrt Tugenden wie Gerechtigkeit, Rücksichtsnahme, Aufrichtigkeit und Hilfsbereitschaft – das ungefähr meine ich hier mit ›Anstand‹ – bei den Kindern nicht so leicht antreffen werden, wenn sie den Eltern abgehen. Dabei denken wir nicht an den Zusammenhang, der zwischen der technischen Qualifikation eines Herstellers und der Qualität des Produkts besteht. Wir meinen auch nicht, die Natur habe es so eingerichtet, daß anständige Eltern außer ihrer Tendenz, sich anständig zu verhalten, auch noch die Tendenz hätten, ein bestimmtes Repertoire an pädagogischen Maßnahmen einzusetzen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in den Kindern Anstand hervorbrächten. Aber auch nicht: aus Rücksichtsnahme, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeitssinn und Hilfsbereitschaft erzögen sie ihre Kinder zu ebendiesen Tugenden. Sie tun dies vielmehr aus Liebe – weil sie das Beste für ihre Kinder wollen – oder aus erzieherischem Verantwortungsbewußtsein (vgl. 13.5). Freilich denken wir, daß z. B. ein Erzieher, der selbst um eine Tugend wie Gerechtigkeit oder Rücksichtsnahme bemüht ist, diese Tugend für eine wichtige Qualität hält und deshalb, wo erzieherische Klugheit dies verlangt, auch Maßnahmen ergreift, um A’s Gerechtigkeit, Rücksichtsnahme usw. zu fördern. Wir wissen jedoch bereits, daß weder Maßnahmen noch auch nur die ihnen zugrunde liegende Vorstellung davon, was aus A werden soll, zu jeder guten oder gar zu jeder Erziehung gehören. Insofern stellt der beschriebene Zusammenhang einen Sonderfall der erzieherischen Wirksamkeit des Erzieher-Charakters dar. Plausibler läßt sich unsere Annahme, Kinder anständiger Eltern hätten eine gute Chance, anständige Menschen zu werden, wohl so verstehen, wie schon in Abschnitt 1.3 vermutet: B’s gutes Handeln ist selbst das Medium, durch das sich die Qualität von B’s Charakter auf A erzieherisch auswirkt. Darin scheint der grundlegende Zusammenhang zu bestehen, den wir zwischen B’s und A’s ethischen Qualitäten erwarten. An den exemplarisch erwähnten Tugenden sieht man im übrigen, daß B’s Handeln und die guten – oder schlechten – Charaktereigenschaften, denen es entspringt, durchaus nicht A betreffen müssen, um (diesseits aller Maßnahmen) auf A’s Charakter Einfluß zu nehmen. A lernt von B Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft usw. nicht nur in Kontexten, in denen sich B’s gerechtes oder hilfsbereites
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Verhalten auf A bezieht. Nur erzieherische Beziehungstugenden (vgl. 13.4) zeichnen sich durch konstitutiven Bezug auf den Heranwachsenden als solchen aus. Diese Beobachtung legt einen Vergleich der erzieherischen Bedeutsamkeit des Erzieher-Verhaltens mit der tugendethisch konzipierten gesellschaftlichen Bedeutsamkeit individuellen Verhaltens überhaupt nahe. Bekanntlich unterscheidet Aristoteles zwischen einer allgemeinen Gerechtigkeit, die nichts anderes ist als »die vollkommene Tugend, [...] soweit sie auf andere Bezug hat«, und der besonderen Gerechtigkeit »als Teil der Tugend«46. Ähnlich wie die ›vollkommene Tugend‹, nämlich der Inbegriff aller ethischen Tugenden, nicht nur den einzelnen Bürger zu einem guten Menschen macht, sondern (als ›allgemeine Gerechtigkeit‹) auch seinen Mitbürgern zugute kommt47: so ähnlich qualifizieren dieselben ethischen Tugenden den Erzieher nicht nur als Menschen, sie sind vielmehr darüber hinaus für die ihm Anvertrauten von Bedeutung. Und zwar nicht nur, weil diese (wie beliebige andere Mitmenschen auch) von den guten Folgen seines guten Handelns profitieren, sondern speziell insofern, als für sie dieses Handeln vorbildhaften und anleitenden Charakter hat. Um den Vergleich fortzusetzen, muß man jetzt nur noch beachten, daß auch zwischen jener Gerechtigkeit, die eine Tugend unter anderen ist, und den ErzieherTugenden eine Analogie besteht: So wie die besondere Gerechtigkeit als solche auf das Wohl der politischen Gemeinschaft ausgerichtet ist, so beziehen sich Erzieher-Tugenden als solche auf die Charakterbildung von Heranwachsenden. Indessen greift dieser zweite Teil des Vergleichs bereits auf spätere Abschnitte vor (13.4–5). Kehren wir also einstweilen zu der Feststellung zurück, daß grundsätzlich jede ethische Qualität und jeder ethische Mangel von B’s Handeln erzieherisch wirken können, unabhängig davon, ob dieses Handeln A betrifft oder nicht. Hier ist es wichtig, sich noch einmal die sozusagen grenzenlose Anwendbarkeit des Wortes ›Handeln‹ zu vergegenwärtigen. Denn potentiell erzieherisch relevantes Handeln liegt ebenso sehr im Tun wie im Reden; es besteht nicht nur in Handlungen, sondern auch in Unterlassungen; es wird konstituiert von Aspekten wie Verteilung der Aufmerksamkeit, Ansprechbarkeit für dies aber nicht für jenes, Lebensstil u. a. m.; es entspringt im allgemeinen keiner erzieherischen Absicht; vieles davon ist überhaupt kein absichtliches Verhalten, sondern spontane Reaktion oder Gefühlsäußerung (vgl. 4.7 und 6.1). Was all dies verbindet, ist die ethische Bewertbarkeit bzw. der Charakter, den es manifestiert. Wie aber hat man sich die Auswirkungen des Erzieher-Verhaltens vorzustellen? – Es handelt sich hier um Zusammenhänge, die zwar im einzelnen unberechenbar sind, deren grobe Strukturen aber jeder kennt. Ich will daher nur die 46 EN V 3, 1129b25–27 = Aristoteles 1972, S. 102 f. und EN V 4, 1130a14 = 1972, S. 103. 47 Eine durch Beziehung bestimmte Bedeutung spricht Aristoteles den Tugenden auch im Kontext der ethisch orientierten Freundschaft zu. In einem solchen Verhältnis ist nach EN 1156b12 f. = 1972, S. 186 »jeder der beiden Freunde schlechthin gut und gut für den Freund«.
13 Ethische Qualität und kommunikative Präsenz
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offenkundigsten Komponenten dieser Einflußstrukturen benennen. Sie verteilen sich auf zwei Kanäle, über die das Handeln des Erziehers auf die charakterliche Entwicklung des Heranwachsenden Einfluß nimmt: die Vorbild-Wirkung und die Stellungnahme.
13.2
Die Motivationsstrukturen des Erziehers wirken durch absichtslose Vorbildhaftigkeit
Mit Vorbild-Wirkung meine ich hier nicht die Anziehungskraft einer Persönlichkeit oder eines Lebensstils, die beim Heranwachsenden Ideale bildet oder Zukunftswünsche auslöst: ›So will ich mal sein! Das wäre ein Leben!‹ Ich denke vielmehr an die für alles Lernen grundlegende Tatsache, daß Menschen einander nachzuahmen geneigt sind; daß sie – je jünger sie sind, desto weniger bewußt und desto wirksamer – Verhaltensweisen und Motivationsstrukturen schlicht übernehmen. A wird also dazu neigen, B’s Verhaltensweisen und Motivationsstrukturen zu übernehmen. Vorbildhaft, als Vorbild, wirkt auch der nicht vorbildliche Erzieher. Allerdings genießt im allgemeinen nicht nur das schlechte, sondern auch das gute Beispiel, das Vorbild im engeren Sinne, einen schlechten Ruf. Hat dieser schlechte Ruf einen guten Grund? Der Grund scheint vor allem dieser zu sein: Wer als Vorbild zu wirken beabsichtigt, wird gerade so sein Ziel verfehlen. Dieses Bedenken ist berechtigt. Es beruht jedoch auf einem Mißverständnis der Vorbild-Funktion. Jedenfalls bietet ein angemessenes Verständnis der erzieherischen Vorbild-Funktion dem Bedenken keinen Angriffspunkt. Denn mit dem Intentionalismus ist auch die Vorstellung zurückgewiesen, Vorbildlichkeit verlange die Absicht, vorbildlich zu wirken. Übt B z. B. Rücksicht, so tut oder unterläßt er etwas aus Rücksicht. Und das heißt: Er tut bzw. unterläßt es, weil er andernfalls sein Gegenüber (nämlich A oder eine andere Person) verletzen oder stören könnte – und nicht, um Vorbild zu sein und auf diese Weise A’s Charakter zu bilden. B’s Handeln wirkt jedoch gelegentlich vorbildhaft auf A und ist dadurch – als Handeln des Erziehers – konstitutiv für A’s Erziehung. Gewiß gibt es auch Gelegenheiten, bei denen der kluge Erzieher etwas in der Absicht tut, ein gutes oder kein schlechtes Beispiel zu geben. Man denkt an Situationen wie die an der Fußgänger-Ampel. (›Den Kindern zum Vorbild!‹) Allerdings ist hier die Verkehrsregel nicht eo ipso ethische Norm. Es gibt vielmehr Anlässe, ethisch unbedenklich gegen die Regel zu verstoßen. Gerade deshalb bleibt Spielraum für das Vorbild-Motiv – für ein Handeln, das darauf abzielt, reproduziert zu werden. Unter gewissen Umständen gibt erst die Aussicht auf gefährliche Nachahmung durch gelehrige Kinder der Regelverletzung bzw. -befolgung ihre ethische Qualität. Spielraum für das Vorbild-Motiv scheint es außerdem zu geben, wo ›unvollkommene Pflichten‹ bestehen; wo also die ethische Norm zu einer Handlungsweise einlädt, ohne sie strikt zu fordern.
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Läßt die Norm hingegen keinen Spielraum für alternative Verhaltensweisen, so scheint auch für das Vorbild-Motiv – ›Mit diesem Verhalten würde ich ein schlechtes (oder gutes) Beispiel geben‹ – eigentlich kein Platz zu sein. Wer z. B. meint, eine Pflicht der Gerechtigkeit erfüllen zu sollen, um kein schlechtes Vorbild abzugeben, handelt erstens nicht wegen der zu respektierenden Rechte und deshalb nicht gerecht. Er handelt zweitens, eben weil er sich vom falschen Motiv bestimmen läßt, nicht wirklich vorbildlich. Und drittens ist häufig damit zu rechnen, daß Kinder das Vorbild-Motiv durchschauen – ›man merkt die Absicht, und man wird verstimmt‹.48 Solche Probleme dürften in dieser oder jener Mischung hinter der Kritik am Vorbild-Gedanken stehen. Indessen treten sie nur auf, solange man darauf besteht, die pädagogische Finalität als poietische Intentionalität zu verstehen. Unter den Vorzeichen meiner Analyse dagegen kann die Vorbild-Funktion des Erzieher-Verhaltens, auch und gerade ohne vom Erzieher intendiert zu sein, als ein entscheidender Faktor der Erziehung gelten. Daß sie darüber hinaus als ein solcher Faktor gelten muß, wird besonders deutlich, wenn man an Gefühlserziehung denkt. Ohne Zweifel haben wir es hier mit einem wichtigen Teil der Erziehung zu tun; und zwar durchaus mit einem Teil der Erziehung im engeren Sinne: Gefühlserziehung ist ethische Erziehung par excellence (6.5 (f)). Ohne Gefühlserziehung keine Erziehung zur Tugend. Zum Wohlwollen beispielsweise gehört nicht nur die habituelle Entschlossenheit, anderen mit aufbauendem Handeln zu begegnen. Diese Tugend verlangt vielmehr auch freundliche Wünsche und teilnehmende Gefühle. Es ist kaum denkbar, daß B A zum Wohlwollen erzieht, ohne daß für A solche Wünsche und Gefühle an B’s Verhalten erlebbar werden. Das scheint bei näherem Hinsehen für alle ethischen Tugenden zu gelten, für die einen mehr, für die anderen weniger. Gefühlserziehung aber ist weder durch Instruktion und Ermahnung noch durch intendiertes Vorbild zu leisten. Auf die absichtslose Vorbild-Funktion des Erziehers kann also keine Erziehung verzichten. Gerade da, wo das gute (oder schlechte) Beispiel in spontanen Impulsen und Reaktionen des Erziehers gegeben wird, muß man es als unentbehrliche (bzw. unvermeidbare!) Komponente von Erziehung anerkennen – nicht nur von Sozialisierung. Nehmen wir etwa an, der Erzieher habe Anlaß, sich über eine gute Nachricht zu freuen oder über ein Unglück oder ein Unrecht traurig zu sein, von dem er gerade hört. Die Anwesenheit des Kindes mag hier zwar sein Grund sein, die Äußerung solcher Gefühle nicht zu unterdrücken – wie sie in anderen Situationen ein Grund sein kann, sie zu unterdrücken (vgl. unten (b)). Aber Äußerungen der Freude, des Wohlwollens, des Mitgefühls usw. sind nur echt (und auf 48 Absicht macht aus dem Vorbild eine erzieherische Maßnahme. Vgl. Schleiermacher 1968, S. 127: »Wenn in dieser Thätigkeit das streng technische Verfahren die Oberhand gewinnen sollte, so würde das Resultat sein, daß der Zögling glaubte, man wolle in ihm Gesinnung erwecken um eines anderen Zweckes willen.«
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Dauer nur dann potentiell auch ansteckend und erziehungswirksam), wenn ihr Grund der freudige Anlaß ist und nichts sonst – auch nicht die erzieherische Absicht. Wie wirkt ein Vorbild? Psychologische Einzelheiten interessieren hier nicht. Zunächst genügt es festzustellen, daß die Vorbild-Wirkung des Erzieher-Verhaltens auf einer Tendenz des Gegenübers beruht, sich zur Nachahmung ebendieses Verhaltens anregen zu lassen. Wie bei der Ähnlichkeit kann man allerdings auch bei der Nachahmung immer fragen: In welcher Hinsicht? Da hier von Erziehung im Sinne von Charakterbildung die Rede ist, denken wir selbstverständlich bei der Vorbild-Wirkung des Erziehers an diejenige Nachahmung seines Verhaltens, die sich auf dessen ethische Qualität bezieht; und das heißt: auf die motivationale Struktur seines Handelns. Wirksam ist also z. B. im Falle tapferen oder dankbaren Verhaltens die Erfahrung des Kindes, daß der Erzieher an einem wichtigen Ziel trotz damit verbundener Mühen festhält oder daß ihn ein empfangenes Geschenk zu besonderer Aufmerksamkeit motiviert. Je eindeutiger solche Strukturen vorliegen – und je eindeutiger insbesondere der Erzieher nicht von der Aussicht auf die Vorbild-Wirkung vorgeführten Handelns motiviert ist – desto bessere Chancen hat sein Verhalten, ›Wirkung zu zeigen‹, nämlich: beim Heranwachsenden Wahrnehmung und Nachahmung ethisch guter Motivationsstrukturen hervorzurufen. Hier mag man fragen: Wie kommt A dahin, daß er B’s konkretes Tun einem Verhaltensmuster (z. B. ›besondere Aufmerksamkeit‹) und die konkrete Situation einem Typ von Situation (›Geschenk erhalten‹) zuordnet; daß er in der Situation einen Auslöser des Tuns erkennt; und daß er eine Motivationsstruktur erfaßt, wo er allem Anschein nach allenfalls eine Verbindung wahrnimmt, die B’s Tun mit jener auslösenden Situation (oder, im Falle anderer Tugenden, mit einem später eintretenden Ergebnis des Tuns!) verknüpft? Ich formuliere diese Fragen hier nur, um sie einstweilen auf sich beruhen zu lassen. Wichtig ist für das Thema ›Vorbild‹ einzig die Tatsache, daß kleine Kinder – nicht anders als viele andere Lebewesen – in der Lage sind, Verhaltensmuster, auch situationsspezifische Verhaltensmuster, als solche wahrzunehmen und zu übernehmen; und daß sie offensichtlich darüber hinaus ziemlich früh – und im Unterschied zu anderen Lebewesen – in der Lage sind, auch Motivationsmuster zu erfassen und nachzuahmen – womit der Erwerb von Tugenden (bzw. Untugenden) beginnt. Vermutlich kann ein Verhalten bzw. seine Motivationsstruktur auf Kinder (und vielleicht auch auf Erwachsene) schon dadurch vorbildhaft wirken, daß es ihnen überhaupt begegnet. Exempla trahunt. Man darf aber annehmen, daß sich der junge Mensch vor allem solche Verhaltensweisen und Motivationsmuster aneignet, die er anziehender als andere findet: Herbarts Rekurs auf die »ästhetische Nothwendigkeit« (1996, S. 53–55) läßt grüßen. Dieser Anziehungskraft entspricht auf der Seite des Kindes zunächst nur ein sozusagen instinktives Echo in Phantasie und Neigung, zusehends aber auch eine artikulierbare Orientierung am geliebten oder bewunderten Gegenüber (vgl. 16.3–4).
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Teil III · Produktive Praxis
Unter dem hier artikulierten Gesichtspunkt der Attraktivität des ErzieherVerhaltens hängt die Qualität der Erziehung offenbar davon ab, in welchem Maß der Erzieher selbst moralische Maßstäbe bzw. Tugenden in sein Leben integriert hat, statt sie als Einschränkungen oder Fremdkörper zu erleben und zu behandeln (vgl. 6.3–4).
13.3
Die Motivationsstrukturen des Erziehers wirken durch Stellungnahmen
B’s Charakter manifestiert sich natürlich auch in den Maßstäben des Handelns, die er A gegenüber artikuliert und vertritt. Erzieherisch wirken seine Empfehlungen, Mahnungen, Forderungen und überhaupt seine Stellungnahmen zu A’s Tun und Lassen; also: jener Ausschnitt seines Verhaltens, in dem er durch verbale oder auch non-verbale Impulse und Reaktionen seine ethische Bewertung von Verhaltensweisen – und konkret von A’s Verhalten – zum Ausdruck bringt.49 Bei Weisungen und Stellungnahmen scheint es sich um spezifisch erzieherisches Tun zu handeln. Das muß aber gar nicht der Fall sein. Denn es ist durchaus denkbar, daß B’s Beweggrund, direktiv oder hinweisend, in Frage stellend, bestätigend oder ablehnend zu reagieren, keinerlei Bezug auf eine zu bewirkende Veränderung in A’s Charakter hat. (Das gilt vor allem, aber keineswegs ausschließlich von spontanen Initiativen und Reaktionen.) Nichtsdestoweniger ist B’s Handeln auch in diesen Fällen Komponente von A’s Erziehung. Gefragt, warum er A tadle, mag B ehrlicherweise nichts anderes zu sagen haben als z. B.: ›Könntest du das bei deinem Kind mit-ansehen, ohne es zu tadeln? Würdest du ihm das durchgehen lassen?‹ Im angenommenen Fall nimmt B unter dem Eindruck von A’s Verhalten zur Qualität dieses Verhaltens tadelnd Stellung, und darin erschöpft sich seine Motivation. B’s Motiv bringt die wahrgenommene Gegenwart bzw. Vergangenheit ins Spiel, nicht aber eine bewirkbare Zukunft. Gewiß: Wäre B nicht A’s Erzieher, so würde er vermutlich nicht mit Tadel reagieren; B läßt sich also in seiner Motivation davon bestimmen, daß das beurteilte Verhalten das Verhalten einer ihm anvertrauten Person ist (vgl. 13.5 (a)). Und: Hielte B den Tadel in der Situation für schädlich, würde er A vielleicht trotz tadelnswertem Verhalten nicht tadeln; B läßt sich also möglicherweise in seiner Motivation auch davon bestimmen, daß ein Schaden für A’s Entwicklung nicht zu befürchten ist. 49 Der Charakter eines Menschen setzt sich natürlich nicht einfach aus Tugenden und Lastern zusammen. Vor allem erstreckt sich zwischen einer Tugend und dem ihr entgegengesetzten Laster ein Kontinuum charakterlicher Verfassungen, die sich dem einen oder dem anderen Ende des Spektrums mehr und weniger weit nähern. Vor allem aus diesem Grund ist damit zu rechnen, daß B’s Stellungnahmen seine Einstellung oft getreuer widerspiegeln als sein übriges Handeln. Daß auch das Umgekehrte vorkommt, ist uns ohnehin vertraut. Beide Diskrepanzen setzen A der Spannung zwischen Orientierung an der Stellungnahme und Orientierung am Vorbild aus.
13 Ethische Qualität und kommunikative Präsenz
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Dennoch: Die Tatsache, daß unter anderen Bedingungen – wenn das Gegenüber ihm fremd wäre oder wenn Tadel schaden könnte – B’s Grund für seine Stellungnahme nicht zum Zuge käme: diese Tatsache zeigt nicht, daß B’s tatsächlicher Beweggrund das Motiv enthält, eine ihm anvertraute Person zu fördern. Im angenommenen Fall bleibt der Tadel unmittelbar durch A’s Verhalten und durch sonst nichts motiviert. Seine vielleicht erwünschte Wirkung geht in B’s Beweggrund nicht ein. Freilich würde diese Wirkung die Funktion des Tadels illustrieren – eine Funktion, die jeden Tadel als solchen kennzeichnet.50 Als erzieherische Maßnahme wäre B’s Tadel aber nur dann zu bezeichnen, wenn die Hoffnung auf die erwünschte Wirkung B’s Beweggrund für die Stellungnahme bildete. Daß dies vorkommt, ist natürlich nicht zu bestreiten. Es geht mir nur darum, daß B’s Hinweise auch dann Elemente der Erziehung ausmachen, wenn sie nicht erzieherischer Absicht entspringen (oder auch sonstwie zweckrational motiviert sind). Dies läßt sich besonders deutlich an denjenigen Hinweisen zeigen, die B unter passenden Umständen auch Personen gäbe, die er nicht zu erziehen hat. In solchen Fällen benötigt B offenkundig nicht die erzieherische Aufgabe als Grund, A zu mahnen, zu loben oder zu tadeln. Allenfalls mag hier das Erziehungsverhältnis dazu beitragen, daß B kein Motiv hat, die Stellungnahme zu unterdrücken. Wie das vorbildhaft wirkende, so muß also auch das wertende und auffordernde Verhalten von B nicht erzieherisch gemeint sein. Ja, es muß überhaupt nicht auf einen Zweck gerichtet sein. Im allgemeinen wird es einfach Teil von B’s Handeln sein – nicht poietisch intendiert, sondern auf eine oder beide der folgenden Weisen motiviert: a) Der Beweggrund der Stellungnahme spiegelt die Motivation der Verhaltensweise wider, der die Stellungnahme gilt. So läßt sich B vielleicht von Gerechtigkeitssinn oder Mitgefühl dazu bewegen, zu einem Verhalten Stellung zu nehmen, in dem A Gerechtigkeitssinn bzw. Mitgefühl beweist oder aber vermissen läßt. b) Die Stellungnahme spiegelt B’s Einstellung zu A’s charakterlicher Entwicklung wider. B lobt oder tadelt z. B. A’s Verhalten, weil er darüber Freude bzw. Besorgnis empfindet. Motive wie Hoffnung, Wohlwollen, Anerkennung, Genugtuung bzw. Enttäuschung, Empörung, Abscheu usw. bewegen B dazu, Verhaltensweisen zu loben, zu kritisieren, zu verbieten, anzumahnen und dergleichen. Präsenz und Gewicht von beiderlei Motiven in B’s Wertungen und Weisungen verdanken sich seinem Charakter, nicht aber seiner Absicht. Das poietische telos von Wertungen und Weisungen liegt in ihrer Natur; auf die Intention des
50 Man könnte von einer konstitutiven poietischen Finalisierung der ›Institution‹ des Tadels sprechen (vgl. Müller 1998 b).
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Teil III · Produktive Praxis
Subjekts ist es nicht angewiesen. So gründet auch ihre erzieherische Wirkung, wo sie eintritt, darin, daß Einstellungsäußerungen, Reaktionen usw. ihrer Natur nach, unabhängig von jeder Absicht, dazu tendieren, auf die Verhaltensorientierung des Gegenübers einzuwirken – Motivationsstrukturen zu wecken, zu bestärken oder zu unterminieren und Wertungen zu transportieren bzw. zu revidieren.
13.4
Erzieherische Einwirkung ist Umsetzung von Beziehungstugenden
Von den beiden unter 13.1–3 behandelten ›Kanälen‹ erzieherischen Einflusses unterscheide ich die Prägung des Erzieher-Verhaltens durch Charaktereigenschaften, die das Verhältnis des Erziehers, seine Einstellung, seine Haltung zum Heranwachsenden betreffen. Erziehung besteht auch darin, daß B in seinem Handeln bestimmte A-bezogene Motivationsstrukturen realisiert. Von dieser Komponente der Erziehung will ich hier handeln. Diesmal sind also nicht Wege zu analysieren, auf denen sich B’s Handeln in Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung mit den Tugenden überhaupt auf A’s Charakter auswirkt. Es geht vielmehr um Eigenart und erzieherische Funktion spezieller Erzieher-Tugenden. Welche Bewertungsdimensionen ergeben sich für B’s Handeln aus seiner Zuständigkeit für A? Und inwiefern entscheiden sie über die Qualität der Erziehung? Ich beginne mit einer Erinnerung an die aristotelische Unterscheidung zwischen ›allgemeiner‹ und ›besonderer‹ Gerechtigkeit (EN V 3–4 = Aristoteles 1972, S. 102–104). Mit der ›allgemeinen Gerechtigkeit‹ (der ›vollkommenen Tugend‹ eines Bürgers in ihrer sozialen Bedeutsamkeit) habe ich den guten Charakter des Erziehers in seiner erzieherischen Bedeutsamkeit verglichen (3.1). Nun vergleiche ich mit der ›besonderen Gerechtigkeit‹ (derjenigen unter den ethischen Tugenden, die auf Rechte, Gleichverteilung usw. achtet) spezifische Erzieher-Tugenden. Wie das Zusammenleben der Menschen jedem einzelnen Bürger Gerechtigkeit (im engeren Sinne) abverlangt, so verlangt das Erziehungsverhältnis dem Erzieher beziehungsspezifische Tugenden ab, die speziell jenen Anforderungen gewidmet sind, die sich aus der Erziehungsbedürftigkeit des ihm anvertrauten Heranwachsenden ergeben und die ich deshalb als Erzieher-Tugenden bezeichne. Ich widerrufe damit keineswegs meine Behauptung, alle Tugenden (und Laster) eines Erziehers seien erziehungsbedeutsam. Für die ethischen Tugenden habe ich diese Bedeutsamkeit oben (13.1–3) dargetan; und von der erzieherischen Relevanz der praktischen Vernunft wird das folgende Kapitel handeln. Erzieher-Tugenden sind auch nicht erzieherisch ›wichtiger‹ als die übrigen. Sie spielen vielmehr eine andere Rolle in B’s Einflußnahme auf A. Nicht jede Tugend, die eine Tendenz hat, auf den Charakter des Gegenübers aufbauend zu wirken, ist eine Erzieher-Tugend im intendierten Sinne. So hat z. B. Ehrfurcht eine Tendenz, die Selbstachtung des anderen zu stärken. Im
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Kontext der Erziehung dürfte also B’s Ehrfurcht vor A einen Beitrag zur Bildung von dessen Charakter leisten. Und insofern sie in der Regel einen gewichtigeren Beitrag leisten wird als die Ehrfurcht, die andere Personen A entgegenbringen, könnte man sie als ›erzieherische Tugend‹ bezeichnet. Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, daß Ehrfurcht eine Tugend der Interaktion zwischen Menschen überhaupt ist; daß also nicht erst das Erziehungsverhältnis (oder auch sonst eine persönliche Beziehung) das ist, was B zur Ehrfurcht vor A verpflichtet und motivieren sollte. Kurz, Ehrfurcht ist keine Beziehungstugend – und deshalb auch keine Erzieher-Tugend. Unter ›Beziehungstugend‹ verstehe ich nämlich eine Tugend, die man erwerben und praktizieren sollte, sofern man in einer bestimmten Art von Beziehung zu konkreten Personen steht und weil diese Art von Beziehung für das Gedeihen menschlichen Lebens eine Funktion hat, die sie ohne jene Tugend nicht oder nicht gut erfüllen kann. Beziehungstugenden spielen in allen ethischen Traditionen eine wichtige Rolle. Sie bilden den Kern der konfuzianischen Lebenslehre. Als Beziehungstugend läßt sich die höchste Form der von Aristoteles beschriebenen philia (›Freundschaft‹) verstehen. Beziehungstugenden entsprechen auch weitgehend jenen Aspekten und Ansprüchen des guten Lebens, deren ethische Bedeutung feministische und kommunitaristische Autoren den Theoretikern einer Moral der reinen Unparteilichkeit entgegenhalten. Die Praxis von Beziehungstugenden antwortet auf Erfordernisse der besonderen Verantwortlichkeit, der Loyalität, der Solidarität, der Treue, der Pietät, der Liebe usw. gegenüber einzelnen Personen (und vielleicht auch Institutionen), mit denen uns bestimmte Beziehungen verbinden – Beziehungen wie Verwandtschaft, Partnerschaft, Freundschaft, Anstellungsverhältnis, gemeinsame Zugehörigkeit (zu einer Gemeinschaft, einem politischen oder sonstigen Verband) usw. Zu diesen ethisch relevanten besonderen Beziehungen gehört auch die des Erziehers zum Heranwachsenden. Sie bildet die Seite des Erziehungsverhältnisses, um deren ethische Ansprüche es im folgenden Abschnitt gehen soll. (Die andere Seite, die Beziehung des Heranwachsenden zum Erzieher, wird u. a. durch die Beziehungstugend des Gehorsams qualifiziert, von der unter 16.4 die Rede sein soll.)
13.5
Zu den Erzieher-Tugenden gehören insbesondere Verantwortungsbewußtsein, Liebe und Vertrauen
Welche Erzieher-Tugenden verlangt das Erziehungsverhältnis? Selbstverständlich verlangt es, ebenso wie andere Lebenskontexte, die unparteilich-sozialen Tugenden (wie Gerechtigkeit, Ehrfurcht, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Verläßlichkeit) und die primär affekt-bezogenen (wie Tapferkeit, Durchsetzungsbereitschaft, Mäßigung, Neidlosigkeit). Doch welche Beziehungstugenden benötigt man darüber hinaus, um ein guter Erzieher zu sein?
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Darüber mag man streiten. Es ist aber klar, daß die Zuständigkeit, die B zum Erzieher von A macht, eine Verantwortung bedeutet, die B nicht für andere hat und die andererseits kein anderer (außer eventuellen Miterziehern) für A hat. Und zu den Tugenden, die man braucht, um diese Verantwortung zufriedenstellend wahrzunehmen, dürften vor allem die drei gehören, die ich hier exemplarisch anführen will: erzieherisches Verantwortungsbewußtsein, erzieherische Liebe und erzieherisches Vertrauen.51 a) Zunächst einmal verlangt die Rolle des Erziehers eine bestimmte Variante des Verantwortungsbewußtseins – nennen wir es: erzieherisches Verantwortungsbewußtsein. Damit meine ich des Erziehers habituelle Ausrichtung darauf, seine erzieherische Aufgabe diesem bestimmten ihm anvertrauten Menschen gegenüber zu erfüllen. Nun haben wir gesehen, daß sich Erziehung durchaus ohne explizite Konzeption der Erziehungsaufgabe vollziehen kann – wenn auch andererseits nicht ohne ein wenigstens rudimentäres Bewußtsein konkreter Zuständigkeit für die Qualität des Handelns eines Heranwachsenden, für den unter dieser Hinsicht manches nötig, manches nützlich und manches schädlich ist. Unter dieser Voraussetzung ist erzieherisches Verantwortungsbewußtsein ein Ideal, das sich durch Anforderungen wie die folgenden kennzeichnen läßt: B hält seine Motivation im Umgang mit A von unzuträglichen Interessen rein.52 B vermeidet indoktrinierende Anleitung (vgl. 3.4 (c), 12.3 (c-d)). Er fördert A’s Weg zur Selbständigkeit. Er schenkt sämtlichen erziehungsrelevanten Faktoren der jeweiligen Situation seine Aufmerksamkeit (10.5 (b)). Belange, die faktisch A’s Charakterbildung betreffen, sind B gegenwärtig, und zwar an prominenter Stelle unter den Gesichtspunkten, die sein Verhalten leiten. Er ist als Kommunikationspartner verläßlich präsent (erreichbar). Nicht zuletzt ist B sich auf verhaltenswirksame Weise bewußt, daß ihn im Unterschied zu beliebigen anderen Personen Schuld trifft, wo er den genannten Belangen nicht hinreichend Rechnung trägt. b) Über das Thema Liebe hat man, gerade aus pädagogischer Perspektive, endlos gestritten: Soll die Liebe des Erziehers karitativ, partnerschaftlich, erotisch, kreativ, spezifisch pädagogisch oder sonstwie geartet sein? Gehört sie überhaupt konstitutiv zur guten Erziehung? (Nicht viele Erziehungswissenschaftler werden diese Frage heute bejahen.) Vor allem aber: Läßt sich Liebe einfordern?
51 Eine Erweiterung der Liste wäre sicher möglich. Zum Beispiel könnte erzieherische Sorge eine Tugend sein – sofern man darunter nicht ängstliche Besorgtheit versteht, sondern Aufmerksamkeit für charakterliche Gefährdungen des anvertrauten Kindes und tätige Bereitschaft, ihnen zu begegnen. Solche Sorge wäre wohl eine Komponente erzieherischen Verantwortungsbewußtseins. 52 Erinnern wir uns an den Ausgangspunkt erzieherischer Verantwortung. Dieser liegt nicht in irgend jemandes Wunsch, dieses Kind solle in eine bestimmte Verfassung gelangen, sondern im Dasein eines Kindes, das der Erziehung bedarf.
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Im Unterschied zu einer durch überzeugende Vertonung geadelten populären Einstellung – ›Kann denn Liebe Sünde sein?‹ – zweifelt die moderne Moralphilosophie eher, ob denn Liebe Tugend sein könne. Allerdings ist das seit Kant verbreitete Bedenken, ›pathologische‹ Liebe könne nicht moralisch geboten, nicht ›Pflicht‹ sein, irreführend. Liebe ist ja nie ein bloßes Gefühl nach Art einer Sinnesempfindung. Sie ist immer auch Motivationsstruktur, beurteilbar aus der Perspektive praktischer Rationalität. Und auch die affektive Komponente der Liebe ist nicht jeder Verantwortung entzogen (vgl. 4.7 (b)). In der Regel jedenfalls ist sie keine rein schicksalhafte Heimsuchung. Gewiß, mit dem Imperativ ›Empfinde jetzt Zuneigung für X‹ kann niemand etwas anfangen. Dennoch erwartet man mit der größten Selbstverständlichkeit (und mit Recht) z. B. von gesunden Eltern, daß ihr Verhältnis zum eigenen Kind normalerweise von Anhänglichkeit geprägt ist; daß sein Ergehen ihnen ›am Herzen liegt‹; daß sie mit den eigenen Kindern mitleiden und sich mitfreuen etc. Man legt ihnen Gefühllosigkeit und Mangel an Zuneigung durchaus zur Last, geht also davon aus, daß die richtigen Absichten (für die sie auf jeden Fall verantwortlich sind) unter normalen Umständen beim Erzieher auch die richtigen Gefühle, insbesondere auch solche der Liebe, mit sich bringen. Ausnahmen von der Regel, daß Liebe vom Erzieher gefordert werden kann (und soll), mag es im Falle psychischer Erkrankungen geben. Daraus folgt aber nur, was wir ohnehin wissen: daß man nämlich ohne gewisse natürliche Voraussetzungen kein guter Erzieher sein kann. Im übrigen sind Menschen für ihre Gefühle verantwortlich, soweit diese das – vielleicht langfristige – Ergebnis von Gedanken und Verhaltensweisen sind, für die sie Verantwortung tragen und von deren Rückwirkung auf ihren emotionalen Haushalt sie wissen sollten. Im Fall des Erziehers gehören zu diesen Verhaltensweisen nicht nur Formen der Zuwendung zum Kind, sondern auch vieles andere wie etwa das Setzen angemessener Prioritäten in der Gestaltung und Organisation des ganzen Lebens. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie weit Erziehung davon entfernt ist, bloß eine Angelegenheit erzieherischer Maßnahmen zu sein. Nicht, weil das Setzen von Prioritäten selbst ein andersartiges ›Element des Erziehens‹ neben solchen Maßnahmen wäre. Sondern, weil im Erzieher-Verhalten das Setzen von Prioritäten Auswirkungen hat, die ihrerseits durchaus als Komponenten der Erziehung gelten müssen, ohne Maßnahmen zu sein. Ob Eltern ihrem Kind mit Zuneigung begegnen oder nicht, ist eine Frage ihres Charakters und nicht lediglich einer zufälligen psychischen Konstitution, für die sie nicht verantwortlich wären. Dasselbe gilt jedoch auch von anderen Erziehern. (›Mit einer Professionalisierung der Pädagogik ist aber diese Auffassung – und die entsprechende Forderung erzieherischer Liebe – nicht vereinbar!‹ Nun, wenn es denn so sein sollte: um so schlimmer für die Professionalisierungsforderung!) Gewiß, den Eltern wird die Liebe zu den eigenen Kindern häufig – aber keineswegs immer – durch allerlei begünstigende Erfahrungen, Perspektiven usw. leichter gemacht als dem professionellen Erzieher die Liebe zu den ihm Anvertrauten. Das zeigt aber lediglich, daß die ethisch geforderte erzieherische
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Liebe so verstanden werden sollte, daß sie nicht alles einschließt, was für Elternliebe typisch ist. Im übrigen muß man selbstverständlich auch Elternliebe von ihren Fehlformen unterscheiden, die das Kind verwöhnen und vergöttern oder seiner Selbständigkeit durch Bestechung, übertriebene Fürsorge, unnötige Einmischung und dergleichen entgegenwirken. Worauf es hier jedoch ankommt, ist dies: Auch nicht-elterliche erzieherische Liebe ist etwas anderes als unparteiliche Nächstenliebe, gepaart mit dem Bewußtsein besonderer Zuständigkeit für ein bestimmtes Kind. Daß nämlich Liebe für die Charakterbildung des Kindes gut und wichtig ist: daran dürfte kaum jemand ernsthaft zweifeln. Welche motivationale Struktur aber zeichnet die Erzieher-Liebe aus? Jedenfalls wirkt sie nicht nur auf dem Weg der Handlungen und Unterlassungen, die ihr entspringen, sondern ebenso auf dem Weg der spontanen Äußerung von Gefühlen – und die ist etwas anderes als der Ausdruck von Nächstenliebe. Auf beiden Wegen ist B’s Liebe zu A als Beziehungstugend wirksam. Sie qualifiziert B’s Handeln durch eine ›individualisierte‹ Motivationsstruktur: um gutes Handeln zu sein, muß sein Handeln – und nicht das eines jeden, der mit A zu tun hat – diese Struktur aufweisen; eine Struktur, in die der Bezug auf A – auf dieses Kind, nicht auf Kinder oder Menschen überhaupt – eingeht. ErzieherTugend ist die so strukturierte Liebe deshalb, weil das Kind darauf angewiesen ist, von der Person geliebt zu werden, die für die Unterstützung seiner Charakterbildung zuständig ist. Also nicht etwa deshalb, weil die erziehende Person in ihrer Liebe durch diese Zuständigkeit motiviert sein müßte. Im Gegenteil: B’s Motivation erwächst aus der Weise, wie er A wahrnimmt, was er mit ihm erlebt, was er ihm wünscht, wie er mit ihm umgeht usw. – aus all dem, was auch sonst die Liebe nährt. Daß Kinder Liebe brauchen, ist freilich – wie so vieles, was uns selbstverständlich scheint – leichter gesagt als belegt. Ich will wenigstens zu spezifizieren suchen, inwiefern wohl ›das Kind darauf angewiesen ist, von der Person geliebt zu werden, die für die Unterstützung seiner Charakterbildung zuständig ist‹. Die Bedeutung der erzieherischen Liebe dürfte komplex sein. An erster Stelle ist vielleicht die Tatsache zu nennen, daß die Erfahrung des Kindes, geliebt zu sein, hemmende Ängste fernhält, die jeder charakterlichen Entwicklung im Weg stehen. Sodann vermittelt Liebe das Bewußtsein des eigenen Wertes. Dadurch fördert sie Tugenden, die auf dieses Bewußtsein angewiesen sind. (Man denke etwa an Selbstachtung, Durchsetzungsbereitschaft, Bescheidenheit, Großzügigkeit oder Neidlosigkeit.) Kaum weniger bedeutsam ist wohl, daß B durch seine Zuneigung zu A für diesen schlicht anziehender und daher in seinem Verhalten nachahmenswerter wird (vgl. 13.2). Aber auch dies darf man annehmen: A wird dazu neigen, B’s Liebe in der Weise zu erwidern, daß er dessen Erwartungen und Urteilen (13.3) zu entsprechen sucht. Solche Gegenliebe ist die anfängliche Motivation, am eigenen Erwachsen-Werden zu arbeiten (16.4). Schließlich dürfte B ohne Liebe nicht leicht das Verständnis für A haben, ohne das er ihn kaum gut erziehen wird.
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c) Daß auch Vertrauen Tugend sein könne, läßt sich mit ähnlichen Gründen bestreiten bzw. verteidigen wie die gerade behandelte These, es gebe Beziehungstugenden der Liebe. Denn auch Vertrauen ist teilweise eine Sache des Gefühls und der spontanen Reaktion, nicht ausschließlich des überlegten und kontrollierten Handelns. Vertrauen zu jemand faßt man nicht dadurch, daß man sich ihm zu vertrauen entschließt. Ein anderes Problem kommt gerade dann hinzu, wenn Vertrauen als Erzieher-Tugend gelten soll: Muß nicht der Realist dem Heranwachsenden und seinen Potenzen wenigstens ebenso viel Mißtrauen wie Vertrauen entgegenbringen? Gewiß, Heranwachsende enttäuschen ihre Erzieher. Schon als kleine Kinder scheinen sie sich auf Bosheiten zu verstehen, die ihnen gar nicht beigebracht wurden; und auch später gibt ihr Verhalten wenig Grund, Naivität und Blauäugigkeit für Erzieher-Tugenden zu halten. Tugend ist das Vertrauen nur, sofern es in einem Verhältnis weiser wechselseitiger Begrenzung zu anderen Tugenden wie Realitätssinn und Vorsicht steht. Doch wenn es diese Bedingung erfüllt, ist B’s Vertrauen in A tatsächlich eine Tugend. B muß solches Vertrauen praktizieren, damit das Erziehungsverhältnis seine Funktion erfüllt, A’s charakterliche Reife zu befördern. Was sind die Merkmale dieser Tugend und wodurch wirkt sie? Am Erzieher-Vertrauen lassen sich insbesondere zwei Komponenten hervorheben. Da ist einmal B’s unerschütterliche Überzeugung zu nennen, daß A einen guten erwachsenen Charakter erwerben kann und sich (je nach Alter) tendenziell oder ansatzweise bereits von Motiven bestimmen läßt, die für einen solchen Charakter konstitutiv sind. Nicht weniger wichtig sind, zum anderen, Wunsch und Hoffnung, A möge auf dem eingeschlagenen Weg auch fortschreiten. Inwiefern aber ist das so beschriebene Erzieher-Vertrauen eine Tugend? Welchen Beitrag leistet entsprechendes Erzieher-Verhalten zur guten Erziehung? Negativ formuliert, heißt die Antwort: Mit einer skeptisch abwartenden Einstellung zu den Entwicklungsaussichten von A würde B sowohl die Energie des eigenen erzieherischen Bemühens schwächen als auch A’s Resonanz empfindlich dämpfen. Positiv wäre mehr darüber zu sagen, auf welchem Weg ein von Vertrauen getragenes Verhalten erzieherisch wirksam ist. Hierzu will ich zunächst einmal anmerken, daß das Erzieher-Vertrauen ein gutes Beispiel dafür abgibt, mit welchem Gewicht neben Absicht und Entschluß auch Überzeugung, Gefühl und spontane Reaktion in die Erziehung eingehen – Faktoren also, die nicht der unmittelbaren Kontrolle des Subjekts unterliegen, gleichwohl aber das erzieherische Handeln (im weitesten, ethisch relevanten Sinne) bestimmen. Diese Beobachtung lenkt den Blick auf einen Komplex von Auswirkungen des Vertrauens. B’s vertrauensvolle Überzeugungen, Wertungen, Hoffnungen und die ihnen entsprechenden Gefühle äußern sich in einem verbalen und non-verbalen Verhalten, das selbst (auf weitgehend spontane, unplanbare Weise) ›vertrauensvoll‹ ist. Solches Verhalten enthält z. B. jenen Überzeugungen entsprechende Zumutungen und Appelle an das schon bewiesene und das antizipierte Können und
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Teil III · Produktive Praxis
Wollen von A; es bringt begrenzte Enttäuschung über A’s Versagen, vor allem aber Wertschätzung und Zuversicht für A’s Fortschritt zum Ausdruck (und nicht etwa Überraschung angesichts des Gelungenen!); und so weiter. Daß sich solche Verhaltenskomponenten bei B auf A’s Charakter auswirken, indem sie dessen Eifer, Selbstvertrauen, eigene Vertrauensfähigkeit usw. stärken, dürfte kaum jemand bestreiten.
13.6
Ihrer erzieherischen Finalität nach unterscheiden sich Erzieher-Tugenden sowohl von anderen Tugenden des Erziehers als auch von Erziehungs‹techniken‹
Die Umsetzung von Erzieher-Tugenden ist eine wichtige Komponente jener praxis, die nach der zentralen These dieses Buches Erziehung ausmacht. Sie ist nach zwei Seiten hin gegen andere Faktoren der Erziehung abzugrenzen: a) gegen erzieherische Maßnahmen, also poietisch motivierte Handlungen des Erziehers; und b) gegen dessen Praxis der übrigen, nicht erzieher-spezifischen Tugenden. a) Zunächst also zum Thema ›erzieherische poiesis und Motivation‹. Hier möchte ich exemplarisch daran erinnern, daß meine soeben skizzierte kleine Phänomenologie des Erzieher-Vertrauens auf keinerlei Absicht aufseiten des Erziehers verweist, den Heranwachsenden in eine bestimmte Verfassung zu befördern. Die beschriebenen Verhaltensweisen sind auch ohne dieses Motiv vollauf verständlich (und erzieherisch vermutlich wirksamer!). Sie sind als natürliche und in einer guten moralischen Tradition kultivierte Weisen des Umgangs mit den ›unfertigen‹ Menschen verstehbar, die einem in besonderer Weise anvertraut sind. Die Motive solchen Verhaltens nehmen zwar, da das Erzieher-Vertrauen eine Beziehungstugend ist, auf eine konkrete Person, auf diesen Heranwachsenden Bezug. Doch sind person-bezogene Einstellungen und Motive dieser Art streng von der poietischen Absicht zu unterscheiden, durch bestimmte Maßnahmen auf den Charakter dieses Heranwachsenden einzuwirken. b) Offensichtlich sind es nicht dieselben Wege, auf denen sich die Praxis der Erzieher-Tugenden einerseits und die Praxis beliebiger sonstiger Tugenden des Erziehers andererseits auf den Charakter des Heranwachsenden auswirken. Dieser Unterschied der Wirkungsweisen wurzelt in einem Unterschied zwischen den jeweiligen (praktischen) Finalitäten. Und zwar setzen die ›sonstigen Tugenden‹ dem Erzieher-Verhalten ein telos, das weder mit dem Kontext der Erziehung noch auch nur mit dem Heranwachsenden als solchen zu tun hat. Ihre (unbezweifelte) poietische, nämlich erzieherische Relevanz erhalten diese Tugenden in gewissem Sinne per accidens – dadurch nämlich, daß auch Erzieher unter dem Anspruch der Tugend stehen und
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daß sich menschliches Handeln unweigerlich auf die charakterliche Entwicklung eines unfertigen Gegenübers auswirkt. Hingegen bringen Beziehungstugenden wie erzieherisches Verantwortungsbewußtsein, Liebe, Vertrauen in das Tun und Lassen des einzelnen Erziehers ein praktisches telos, das nicht per accidens, sondern als solches auf den Kontext erzieherischer Zuständigkeit und sogar auf den konkreten Heranwachsenden bezogen ist, der diesem Erzieher anvertraut ist. Man könnte auch sagen: Zum guten Leben, das menschliches Handeln als eupraxia finalisiert, gehört im Fall des Erziehers, aufgrund seiner besonderen Zuständigkeit, über die Praxis der ›sonstigen‹ Tugenden hinaus der verantwortungsbewußte, liebevolle, vertrauende Umgang mit denen, die er zu erziehen hat. Mit diesem Unterschied zwischen Erzieher- und sonstigen Tugenden in der praktischen Finalität geht nun ein Unterschied in der Wirkweise, also in der poietischen Relevanz einher. Wir haben gesehen, daß der Erzieher durch die Praxis jeder beliebigen Tugend (aber natürlich auch jeden Lasters) erzieherisch wirken kann, und zwar insbesondere auf den Wegen der Vorbildlichkeit und der Stellungnahme (13.1–3). Auf beiden Wegen können beliebige Motivationsstrukturen und somit beliebige Tugenden (oder Laster) ›transportiert‹ werden. Demgegenüber hat die Praxis einer jeden der erzieherischen Beziehungstugenden ihre je eigene spezifische Weise, sich auf den Heranwachsenden auszuwirken (13.4): Verantwortungsbewußtsein manifestiert sich im reflektierten Fördern und Sichern seines Erwachsen-Werdens; Vertrauen in seinen Fortschritt wirkt ermutigend; erzieherische Liebe hat eine (nochmals vielgestaltige) Tendenz, sein Verhalten für erwünschte Motive zu öffnen. An diesem letzten Beispiel läßt sich gut zeigen, durch welche Art von Zusammenhang die Wirkungsweise einer Beziehungstugend mit ihrem (praktischen) telos verknüpft sein kann. Die Praxis der erzieherischen (wie jeder) Liebe besteht in einem Handeln, das sich, vereinfachend gesagt, vom empfundenen Wert der anderen Person als solcher, von ihrer Anziehungskraft – und nicht von ihrer Brauchbarkeit – motivieren und bestimmen läßt. Ein Handeln, das dieses Motiv, den Heranwachsenden zu fördern, zu korrigieren usw., zur Geltung bringt und das insofern ein praktisches telos, das der Liebe, realisiert: ein solches Handeln ist zugleich dazu angetan, ein poietisches telos zu befördern, nämlich: bei diesem Menschen das Gefühl und das Bewußtsein zu wekken bzw. zu stärken, unersetzlich und liebenswert zu sein. Nun betrachten wir aber Gefühl und Bewußtsein des eigenen Wertes als Bedingungen, unter denen ein guter Charakter gedeiht. Und weil (unter anderem) auf diesem Weg B’s Handeln in dem Maß, in dem es das praktische telos ›Motivation durch Liebe zu A‹ verwirklicht, zugleich dem poietischen telos ›A’s guter selbständiger Charakter‹ zuarbeitet: deshalb ist B’s Liebe zu A den Erzieher-Tugenden zuzurechnen. Was Erzieher-Tugenden und sonstige Tugenden des Erziehers in ihrer erzieherischen Relevanz unterscheidet, könnte man auch so kennzeichnen: Die ›son-
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Teil III · Produktive Praxis
stigen‹ haben sozusagen die Funktion, sich selbst im Heranwachsenden zu reproduzieren. Die erzieherische Bedeutung der Erzieher-Tugenden hingegen liegt nicht darin, daß sie sich im Gegenüber reproduzieren, sondern darin, daß sie, gleichsam katalytisch wirkend, den ›sonstigen‹ beim Gegenüber Eingang verschaffen.
13.7
Die Möglichkeit erzieherischen Handelns beruht auf kommunikativer Präsenz
Wie Abschnitt 11.1 gezeigt hat, entspräche ein rein arrangierendes Einwirken auf den Heranwachsenden, ganz abgesehen von der Frage des Ergebnisses, nicht dem Begriff des Erziehens. Insofern erinnert uns Rousseau bzw. der Versuch, sein Konzept des Arrangierens zu verallgemeinern, ex negativo, an einen Aspekt der Erziehung, der uns andernfalls wegen seiner Selbstverständlichkeit leicht entgehen könnte: Zum erzieherischen Handeln gehört die kommunikative Präsenz des Erziehers im Erleben des Kindes – eine Präsenz, die es auch umgekehrt dem Erzieher erlaubt, den Heranwachsenden zu erleben, die also zwischen A und B reziproke Kommunikation – im weitesten Sinne des Wortes ›Kommunikation‹ – ermöglicht. Inwieweit leibliche Anwesenheit zur kommunikativen Präsenz gehört, ist teilweise eine Frage der Terminologie. (Ist man durch regelmäßige Treffen, durch Telephonate, durch E-mail-Nachrichten ›leiblich‹ präsent?) Teilweise aber ist es eine Frage der teleologisch mit-bestimmten begrifflichen Grenzziehung, die ich hier offen lassen will. (Kann man auch dann noch von Erziehung sprechen, wenn zwischen A und B nur regelmäßige Treffen (wie oft? wie lang?), nur Telephonate, nur E-mail-Austausch und dergleichen stattfinden?) Kommunikative Präsenz schließt jedenfalls ein, daß A und B sich, grob gesprochen, als füreinander erlebbare, einander ansprechende und aufeinander wirkende Verhaltenssubjekte begegnen. Entscheidend ist also für B’s Rolle als Erzieher, daß B’s Handeln dadurch auf A wirkt, daß A es als B’s Handeln erlebt; daß also nicht lediglich durch B’s Handeln etwas veranlaßt wird, was auf A wirkt, wie dies beim Arrangieren geschieht. Freilich kann B erzieherisches Verantwortungsbewußtsein zeigen, indem er etwa dafür sorgt, daß A unter anständigen Menschen aufwächst. Sobald jedoch ein solches Arrangement B’s kommunikative Präsenz auf Dauer ersetzen soll, verteilen sich die begrifflich konstitutiven Komponenten der Erziehung sozusagen auf unterschiedliche Subjekte: Verantwortung (und ihre Wahrnehmung durch quasi-technisches Überlegen) finden wir bei B, charakter-prägende Einflußnahme durch Kommunikation (im weitesten Sinne) bei anderen Personen. Nur im Rahmen kommunikativer Präsenz, als von A erlebtes Subjekt, kann B unmittelbar durch Handeln auf A einwirken – auf den unter 13.1–5 und im folgenden Kapitel spezifizierten Wegen. Und nur wo B dieses Handeln nicht auf Dauer delegiert, ist er Erzieher.
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Diesen Überlegungen scheint die Weise zu entsprechen, wie wir Arrangement und Delegation im Bereich der Erziehung tatsächlich beurteilen. Denn was ich angedeutet habe, ist ja nichts anderes als das, wozu manche Eltern gezwungen sind (oder sich gezwungen oder doch berechtigt glauben): ihr Kind langfristig in die Obhut einer anderen Person zu geben, einem Internat anzuvertrauen oder dergleichen. Es kommt hier nicht darauf an, den Gebrauch des Wortes ›Erziehen‹ scharf zu begrenzen, sondern darauf, die Gesichtspunkte seiner korrekten Verwendung zu erkennen. Und da kann die Betrachtung von Grenzfällen hilfreich sein. Einer Grenze dessen, was noch ›Erziehung‹ heißen kann, nähert sich die Erziehung von A durch B in dem Maß, in dem B den kommunikativen Umgang mit A an C delegiert oder faktisch, durch Unterlassen und Dulden, C überläßt. Ist die Grenze erreicht, an der B mit A keinen Umgang hat, während – beauftragt oder faktisch – C mit A so umgeht, wie typische Erzieher das tun, so ist C A’s Erzieher, und nicht B – selbst wenn dieser juridisch zuständig bleibt oder auch seine moralische Verantwortung für A nicht abschieben will oder kann (vgl. 2.6 (a)). Wie steht es in so einem Fall um C’s Zuständigkeit? Dazu will ich nur sagen, daß sich einschlägige moralische Rechte und Pflichten zumindest auch aus faktisch entstandenen Verhältnissen ergeben – ob C nun von B mit A’s Erziehung beauftragt ist oder nicht. Allerdings dürfte es nicht unwichtig sein, diese Zusammenhänge gründlicher zu erörtern. Insbesondere gilt es, Rechte und Pflichten ursprünglicher Zuständigkeiten gegen die faktische Bedeutung abzuwägen, die dem Engagement eines Menschen für ein Kind durch faktischen Umgang und Eignung zugewachsen sein mag. Denn es geht hier um die moralische Basis für die Praxis von Jugendämtern, Gerichten usw., die zu entscheiden haben, wem ein Kind ›zugesprochen‹, ob ein Vormund bestellt wird, und dergleichen. In 11.1–2 bezeichne ich die Frage, ob sich das Ziel von Erziehung auch durch ›umgangsloses‹ Arrangieren erreichen lasse, als empirisch. Damit soll nicht gesagt sein, wir müßten über die richtige Antwort im Zweifel sein; oder wissenschaftliche Untersuchungen seien nötig – oder auch nur hilfreich – um nachzuweisen, daß Kinder nicht Arrangement, sondern Erziehung brauchen. Wohl aber bietet der Vergleich zwischen Arrangieren und Erziehen einen Anlaß, etwas näher zu bestimmen, wodurch denn B’s Präsenz in A’s Erleben erzieherisch wirksam ist. Eine solche Bestimmung kann man nicht in wenigen Worten geben. Denn erstens ist die Präsenz des Erziehers auf unterschiedlichen, einander kreuzenden Wegen für das Heranwachsen eines Kindes bedeutsam. Und zweitens sind diese Wege der Wirksamkeit zum Teil so selbstverständlich, daß sie uns nicht leicht in den Blick kommen. Ich will aber wenigstens andeuten, welche Gesichtspunkte mir relevant erscheinen.
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13.8
Teil III · Produktive Praxis
Kommunikative Präsenz hat unterscheidbare erzieherische Funktionen
Wir haben bereits gesehen, daß der Erziehungsbegriff erzieherische Verantwortung und kommunikative Präsenz an eine und dieselbe Person knüpft: Als Erzieher gilt nur jemand, der zugleich für die charakterliche Entwicklung des Heranwachsenden zuständig ist und, in Interaktion mit ihm, durch die Qualität des eigenen Handelns auf seine charakterliche Entwicklung einwirkt. In dem Maß, in dem eine Person ›erziehen läßt‹, verzichtet sie selbst darauf, Erzieher zu sein. Man könnte auch sagen: In der Person des Erziehers läßt sich die Funktion des ›Erziehungsmittels‹ (das er durch seine Präsenz selbst ist) von der Funktion des ›Erziehungsagenten‹ nicht trennen. Was dies bedeutet, macht man sich am besten durch einen Vergleich klar: Wer eine Vortragsreihe organisiert, kann sich selbst als einen der Referenten aufs Programm setzen. Er tritt dann bei einem der Vorträge in zwei Rollen auf: als Veranstalter und als Referent; oder, wenn man will, als ›Agent‹ und als ›Mittel‹ der Veranstaltung. Daß Veranstalter und Referent bei den übrigen Vorträgen nicht identisch sind, zeigt, daß sich die beiden Rollen voneinander trennen lassen. Ja, der Begriff der Vortrags-Veranstaltung suggeriert diese Trennung sogar. Die Erziehung läßt eine hierzu analoge Trennung zwischen ›Veranstaltung‹ und ›Ausführung‹, zwischen erzieherischer Zuständigkeit und direkter Einflußnahme nicht zu. B’s kommunikative Präsenz ist nicht bloß als ein von B eingesetztes Erziehungsmittel zu verstehen – als bediene er sich, qua Erzieher, der eigenen Präsenz so, wie er sich tatsächlich im Rahmen einer Erziehungsmaßnahme der Präsenz von anderen (oder sogar der eigenen Präsenz) bedienen könnte, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Vielmehr ist B’s kommunikative Präsenz zunächst einmal Bestandteil seines Handelns und durch keine Absicht finalisiert. Erst der erzieherische Kontext, der nicht durch B’s Intentionen, sondern durch seine Zuständigkeit konstituiert wird, verleiht B’s Präsenz die (poietische) Finalität eines ›Erziehungsmittels‹. Worin aber liegt dessen Wirksamkeit? a) Zum einen wohl darin, daß durch die kommunikative Präsenz des Erziehers dessen Einstellung zum Heranwachsenden von diesem erlebt wird. Durch B’s Präsenz ist seine Einstellung ein Faktor in A’s charakterlicher Entwicklung.53 53 Je nach Qualität der Einstellung kann diese freilich ein ungünstiger Faktor sein. Analoges gilt jedoch von der Erziehung überhaupt. Wenn wir sagen, Kinder hätten Erziehung nötig, denken wir an gute Erziehung. Doch wie schlecht muß eine Erziehung sein, damit wir sagen würden: ›Besser keine als diese‹? Und was könnte das eigentlich heißen – unter welchen Bedingungen würden wir von einem Kind denn sagen, es wüchse ohne Erziehung heran? – Die hier, unter (a), zu diskutierende Bedeutung der kommunikativen Präsenz des Erziehers für die Entwicklung eines Kindes liegt zwar darin, daß B’s Einstellung zu A für dessen Charakterbildung überhaupt Voraussetzungen schafft – günstige oder ungünstige. Andererseits jedoch legen wir mit dem Erziehungsbegriff – einem teleologischen und somit normativen Begriff (5.4) – einen Maßstab an B’s Verhalten an, der uns erkennen läßt, welche Funktion (bzw. Funktionen) B’s Präsenz für A’s Charakterbildung haben soll.
13 Ethische Qualität und kommunikative Präsenz
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In den Erzieher-Tugenden Liebe und Vertrauen treten uns Einstellungen entgegen, die den Beitrag kommunikativer Präsenz zur guten Erziehung auf paradigmatische Weise deutlich machen. Nur relativ kontinuierliche Interaktion mit B erlaubt es A, B’s Handeln in einem solchen Maß als liebend und vertrauend zu erleben, daß in A Bedingungen charakterlicher Reifung, wie etwa Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, grundgelegt oder doch gefördert werden. B’s Präsenz ist also zunächst einmal dadurch erziehungswirksam, daß A in B’s Handeln B’s Einstellung zu A erleben kann. Diese Funktion der Erzieher-Präsenz schließt eng an die Funktion an, die das Angesprochensein durch Menschen sowie deren Zuwendung überhaupt für die ›Menschwerdung‹ kleiner Kinder haben. Erinnern wir uns daran, daß B sich von anderen Instanzen der Sozialisierung primär durch seine Verantwortung unterscheidet – und jedenfalls nicht unbedingt durch die Weise, wie er von A erlebt wird. Welche Kontinuität und Intensität, welche Gestalt und welches Gewicht gerade seine Präsenz entfaltet: daran entscheidet sich bereits die Frage, wie und wie gut B seiner Verantwortung gerecht wird, und nicht die Frage, ob B A’s Erzieher ist. Allerdings werden wir nicht mehr von Erziehung sprechen, wo B’s Präsenz für A ein gewisses Minimum an Kontinuität unterschreitet (vgl. 2.3 (b), 2.6 (a)). Nicht zuletzt wohl deshalb, weil weder die Erzieher-Tugenden der Liebe und des Vertrauens noch die entgegengesetzten Mängel Eigenschaften sind, die in einer vorübergehenden Präsenz vom Gegenüber intensiv und nachhaltig erfahren werden könnten. Insbesondere dürfte gute Erziehung auf die Kontinuität von B’s Liebe und Vertrauen angewiesen sein. Nur auf dem Weg der kontinuierlichen Präsenz einer und derselben Person können diese Tugenden die Funktion erfüllen, im Kind die oben angedeuteten Bedingungen charakterlicher Reifung zu stärken. Man darf die Vermutung hinzufügen, daß es für das Gelingen von A’s Erziehung viel bedeutet, wenn dieselbe Person, die ihm mit Forderung und kritischer Stellungnahme begegnet, auch Vergewisserung, Bestätigung und Anerkennung zum Ausdruck bringt. Das aber kann B nicht tun, ohne für A präsent zu sein. Die Vergewisserung, Bestätigung und Anerkennung, die A benötigt, lassen sich nicht ›übermitteln‹. Sie sind auf die mehr oder weniger direkt erlebbare Äußerung von Liebe und Vertrauen angewiesen. Könnte aber B nicht dafür sorgen, daß eine andere Person im Leben von A sowohl mit Kritik und Forderung als auch mit Bestätigung und Anerkennung präsent ist? – Freilich kann er das. Doch würde die Wirkung auch dieser Präsenz auf Kontinuität beruhen. Und damit wäre die Situation erreicht, in der Verantwortung und Kommunikation so weit auseinandergetreten sind, daß eher der Delegierte als der Delegierende Erzieher heißen müßte. b) Eine zweite Funktion der Erzieher-Präsenz ist die in 13.2 beschriebene Repräsentation der guten Eigenschaften, die der Heranwachsende erwerben soll.
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Teil III · Produktive Praxis
B’s Präsenz macht es möglich, daß A diese Eigenschaften kennenlernt und als anziehend erlebt. Allerdings soll B ihm nicht nur durch entsprechendes Handeln als Repräsentant der Tugenden gegenübertreten, sondern auch – durch Erwartung, Forderung, Kritik, Gespräch usw. – als jemand, der für A und von A den Erwerb und die Praxis der Tugenden will. Die Attraktivität der Tugend läßt sich dem Kind vielleicht in gewissen Grenzen durch geeignete Geschichten nahebringen. Es scheint aber einer erlebbaren Person zu bedürfen, die gutes Verhalten autoritativ verlangt, damit das Kind lernt, was es heißt, zu tun bzw. nicht zu tun, was man tun soll.54 Die Weisung einer Autorität, die als fordernd, erwartend, hoffend (und zugleich als wohlwollend) erlebt wird, wäre dann – nicht dem Begriff der Sache nach, wohl aber entwicklungspsychologisch – eine unentbehrliche Vorläuferin jener unbedingten Forderung, die sich im Erleben und im Denken des charakterlich gebildeten Erwachsenen an die Inhalte seiner ethischen Überzeugungen knüpft. Daß diese Auffassung Probleme aufwirft, wie sie teils in der Psychologie, teils in der Philosophie diskutiert werden, ist mir natürlich klar. Doch scheint zu unserer Überzeugung, daß Kinder Erziehung brauchen, auch die Annahme zu gehören, daß ihr Verhältnis zum Erzieher als forderndem Gegenüber für die Entfaltung ihres Charakters eine ausschlaggebende Rolle spielt. Zur Fruchtbarkeit dieses Verhältnisses ist auf der Seite des Kindes die grundsätzliche Bereitschaft zu einem Gehorsam nötig, der sich auf den Erzieher richtet, insofern dieser will, was es soll (16.5). Ebenso unentbehrlich scheinen auf der Seite des Erziehers, neben dem vorbildhaften Handeln, das erwähnte Stellungnehmen und Fordern, die erlebbare Anerkennung des Guten, das dem Kind bereits gelungen ist, aber auch Verweis und Tadel. c) Ein weiterer Aspekt von B’s Präsenz ist seine Verfügbarkeit. Im Unterschied zu einer technischen poiesis kann sich die Erziehung nicht auf eine Kenntnis zu erwartender Abläufe stützen. Was daher in der nächsten Minute oder am nächsten Tag von B verlangt ist, kann dieser im allgemeinen nicht vorhersehen und einplanen. Jederzeit könnte er von A gebraucht werden – als Deuter einer unverstandenen Situation, als Teilnehmer an einer freudigen Überraschung, als Schlichter, als Ratgeber oder Helfer oder Tröster. Zwar geht es dabei häufig um helfende ›Einsätze‹ mit mehr oder weniger deutlich definierter poietischer Finalität, die auch außerhalb des Erziehungszusammenhangs angesagt sein könnten. Aber das gilt von fast allen Komponenten erzieherischen Handelns. Wichtig ist, daß gerade solche Einsätze angesichts der Umstände direkt oder indirekt für die Bildung von A’s Charakter viel bedeuten können. Daher läßt sich B’s erzieherische Verantwortung nur in Grenzen damit vereinbaren, daß er diese Einsätze, deren Notwendigkeit sich kaum vorhersehen läßt, delegiert – oder eben verpaßt.
54 Vgl. hierzu Wallroth 2000, S. 152–157, mit Hinweisen auf weitere Literatur.
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Natürlich wird sich die erforderliche Kontinuität von B’s Verfügbarkeit nach Alter und Art des Heranwachsenden, nach den Besonderheiten der Situation und nach B’s eigenen Möglichkeiten richten. Auf jeden Fall aber macht offenbar ein gewisses Maß an Verfügbarkeit einen Teil der erzieherischen Bedeutung von B’s Präsenz aus. d) Eine vierte Funktion, die man der kommunikativen Präsenz des Erziehers zuschreiben kann, ergibt sich daraus, daß er beim Heranwachsenden u. a. Tugenden zu fördern hat, die den Umgang mit anderen betreffen – Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme usw. Durch seine kontinuierliche Präsenz ist der Erzieher selbst – im Unterschied zum bloßen Arrangeur – zugleich ein Gegenüber, vielleicht das wichtigste Gegenüber, ›an dem‹ das Kind den rechten Umgang mit anderen ›üben‹ kann. Für diesen Zweck mag er zwar, gerade wegen des Erziehungsverhältnisses, in manchen Zusammenhängen kein besonders geeignetes Gegenüber sein. Zum Beispiel, wenn es gerade um den Umgang mit fremden Personen geht. Oder wenn es das Aushalten und Lösen von Konflikten einzuüben gilt. (In diesem Fall mag Abhilfe möglich sein, wo sich Mutter und Vater die Erziehungsaufgabe teilen.) Andererseits wird B bei vielen Anlässen ›ethischen Übens‹ einen Partner abgeben, dessen Erwartungen und Reaktionen besonders hilfreich sind, weil er aufgrund kontinuierlicher Präsenz mit A besonders vertraut ist. e) Präsenz ist nicht nur eine Bedingung dafür, daß B’s Umgang mit A von intimer Kenntnis profitieren kann, sondern auch dafür, daß umgekehrt B’s Kenntnis des Entwicklungsstandes und der jeweiligen Situation von A durch intensiven Umgang mit ihm gewinnt. Als ›Betroffener‹ kann B um so näher erleben und um so deutlicher erkennen, mit welchen Qualitäten und Mängeln er es einstweilen bei A zu tun hat. Der Hintergrund solchen Erlebens und Wissens wird ihm helfen, A’s Perspektiven nachzuvollziehen, seine Chancen und Gefährdungen zu reflektieren, sein Verhalten zu verstehen, seine Entwicklung zu verfolgen usw. Die unter (a-d) aufgeführten Funktionen der Erzieher-Präsenz betreffen unmittelbar die Weise, wie A’s Möglichkeiten, B zu erleben, für die Bildung von A’s Charakters bedeutsam werden. Jetzt, unter (e), geht es um die Bedeutung von B’s Möglichkeiten, A zu erleben. An diesem Aspekt der kommunikativen Präsenz hängt eine Möglichkeit, die der bloße Arrangeur nicht hat: Durch Präsenz ist der Erzieher in der Lage, das eigene Handeln durchgängig und auf der Grundlage von Erlebnissen und Kenntnissen aus erster Hand an den relevanten Tatsachen zu orientieren. Diese kognitive Funktion der kommunikativen Präsenz ist zugegebenermaßen so selbstverständlich, daß man sie kaum eigens erwähnen möchte – vielleicht aber auch so selbstverständlich, daß man sie leicht vergißt. f) Schließlich sei noch erwähnt, daß B’s Möglichkeiten, A zu erleben, nicht nur eine kognitive, sondern ebenso sehr eine affektive Funktion haben. Denn
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Teil III · Produktive Praxis
auch als Erzieher-Tugenden sind Liebe und Vertrauen Gemütseinstellungen; sie sind von Emotionen getragen und teilweise durch emotionale Äußerung wirksam. Sie speisen sich daher nicht aus bloßer Einsicht in die Erfordernisse der Erziehungsaufgabe, sondern aus der lebendigen Begegnung mit dem Heranwachsenden.
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Praktische Vernunft Es verrät keiner dem andern die Handgriffe einer Kunst oder eines Handwerks, geschweige denn die vom Leben. Johann W. von Goethe, Gespräche mit Eckermann
Wenn von den Wegen die Rede ist, auf denen Tugenden und Laster des Erziehers die charakterliche Entwicklung des Heranwachsenden beeinflussen, stehen natürlich nicht nur seine im engeren Sinne ethischen Eigenschaften zur Debatte. Auch praktisches Wissen und Klugheit, Torheit und Dummheit des Erziehers bestimmen die Qualität seines Handelns und damit des Erziehens. Jene Vernunft, die die ethische Qualität des Handelns mitbestimmt, ist einerseits Komponente guten Erziehens, andererseits aber auch Bestandteil des Erzogen-Seins. Hier wird es primär um die erste dieser beiden Rollen praktischer Vernünftigkeit gehen. Erinnern wir uns an die erzieherische Bedeutung der ethischen Tugenden: Die Erzieher-Tugenden benötigt B, um als Erzieher gut zu handeln (10.2); die erzieherische Bedeutung seiner sonstigen, nicht speziell von der Erziehungsaufgabe geforderten ethischen Tugenden liegt vor allem darin, daß sie die Vorbildlichkeit seines Handelns bedingen und den Inhalt seiner Erwartungen und Stellungnahmen bestimmen (10.1). Da praktische Vernünftigkeit sämtlichen ethischen Tugenden gleichermaßen zuarbeitet, weist sie grundsätzlich diese beiden Arten von Bedeutsamkeit auf. Um ein gutes Vorbild abzugeben, benötigt der Erzieher zunächst, wie jeder andere, praktische Vernunft in zwei Funktionen (6.5 (a-b)). Zum einen, insofern sie, als praktisches Wissen, eine angemessene implizite Vorstellung vom guten Leben und vom guten Handeln festhält – eine Ziel-Orientierung, die sich in den Motivationsstrukturen seiner ethischen Tugenden niederschlägt. Zum anderen benötigt der Erzieher Klugheit, um diese Tugenden situationsgerecht umzusetzen. In Abschnitt 14.1 untersuche ich, ob diese beiden Teiltugenden der Vernunft vorbildhaft wirken können. 14.2 zeigt sodann, wie hier Transfer-Probleme aussehen und wie sie durch Kommunikation zu bearbeiten sind. Die beiden anderen Abschnitte verfolgen die Parallele zwischen (ethischen) Erzieher-Tugenden und dem, was man als erzieherische Vernunft bezeichnen könnte: Wie kann und soll die Ausrichtung des Erzieher-Handelns auf die charakterliche Entwicklung des Heranwachsenden in das praktische Wissen
14 Praktische Vernunft
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und in die Klugheit des Erziehers eingehen (14.3)? Inwieweit ist erzieherische Kompetenz zum einen mit der Vernunft guten Handelns gegeben und zum anderen ohne sie nicht denkbar (14.4)?
14.1
Klugheit läßt sich nicht am Vorbild lernen
Kann man überhaupt einen anderen dazu anleiten, vernünftig zu handeln? Und wie? Kann etwa B für A als Vorbild an praktischem Wissen und Klugheit wirken? Läßt Vernunft sich nachahmen? Oder kann B allenfalls A dazu anregen, sich seinerseits um ein Mehr an Vernunft zu bemühen? Zweifellos nehmen praktisches Wissen und Klugheit durch ihre konstitutive Bedeutung für die Praxis ethischer Tugenden an der Vorbildhaftigkeit guten Handelns teil. Konstitutiv ist ihre Bedeutung für das gute Handeln deshalb, weil sich ethische Tugend und praktische Vernünftigkeit gegenseitig bedingen: Praktisches Wissen – die Vorstellung der grundlegenden Werte, die sich in den Motivationsstrukturen der einzelnen ethischen Tugenden niederschlagen – stellt gewissermaßen die Prämissen bereit, aus denen der Kluge eine angemessene situationsbezogene Vorstellung davon gewinnt, wie das Handeln diesen Tugenden gerecht werden kann und soll. Daraus ergibt sich: Sofern die Qualität von B’s Handeln die Qualität von A’s Handeln beeinflußt, tragen nicht nur B’s ethische Tugenden, sondern auch sein praktisches Wissen und seine Klugheit dazu bei, daß A einen guten Charakter erwirbt. Nun ist aber natürlich auch bei A, nicht anders als bei B, Vernunft für die Charaktertugenden konstitutiv. Und so könnte man sagen: Über die VorbildWirkung von B’s Handelns auf A regen nicht nur ethische Tugenden die Bildung ethischer Tugenden an, sondern ebenso, und eo ipso, Vernunft die Bildung von Vernunft. Diese Sicht ist wohl nicht völlig falsch. Denn insoweit Vernunft in der richtigen Vorstellung von den Motivationsmustern besteht, die es zu praktizieren gilt, muß man wohl sagen: Ineins mit der Tugend, sagen wir: mit der Hilfsbereitschaft, erwirbt man selbstverständlich das praktische Wissen, daß man hilfsbereit sein soll. Außerdem muß ja das Vorbild, B’s hilfsbereites Handeln, in einem Tun bestehen, das in einer bestimmten Situation die Hilfsbereitschaft verwirklicht. A kann also diese Hilfsbereitschaft nicht erleben, attraktiv finden, nachahmen, ohne etwas von der Weise mitzubekommen, wie sie klug umgesetzt wird. Praktisches Wissen und Klugheit – ebenso wie der Mangel an beidem – lassen sich also durch Vorbild vermitteln. Dennoch ist die Vorbildwirkung praktischer Vernunft grundsätzlich begrenzt. Das liegt an einem fundamentalen Unterschied zwischen affektiven und kognitiven Dispositionen. Die einen können ansteckend wirken, die anderen nicht. Etwas genauer: Spricht mich eine affektive, insbesondere auch motivationale Disposition des anderen an, so kann Aufmerksamkeit auf ihn mir helfen, sie ebenfalls zu erwerben. Spricht mich dagegen eine kognitive Disposition des
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Teil III · Produktive Praxis
anderen an, so kann Aufmerksamkeit auf das Vorbild mir zwar helfen, mich um ihren Erwerb zu bemühen; um jedoch die kognitive Disposition zu erwerben, muß ich meine Aufmerksamkeit nicht auf ihn, sondern auf die Gegenstände richten, in deren Kenntnis die Disposition besteht. Um es noch genauer zu sagen und um das Gemeinte auf die praktische Vernunft zu beziehen, werde ich deren Tugenden im Hinblick auf ihre Lernbarkeit mit den ethischen Tugenden vergleichen. In diesem Sinne handeln die folgenden Überlegungen a) on der Klugheit (der Disposition, die für die jeweils angemessene Umsetzung der ethischen Tugend sorgt) und b) vom praktischen Wissen (der dabei vorausgesetzten angemessenen Vorstellung vom ethisch guten Leben). a) Die kluge Bewältigung einer bestimmten Anforderung in einer bestimmten Situation mag als Vorbild dafür wirken, wie eine ähnliche Anforderung in einer ähnlichen Situation zu bewältigen ist. Dennoch läßt sich Klugheit des Handelns nicht ebenso am Beispiel lernen wie, sagen wir, Dankbarkeit. B’s Handeln kann ein Modell der Dankbarkeit (oder einer sonstigen ethischen Tugend) sein, aber nicht im selben Sinne ein Modell der Klugheit. Denn wie soll A im Fall der Klugheit das Erlebte auf eine völlig neue Situation übertragen? Wie soll der ›Transfer‹ aussehen? Man könnte auch sagen: Lernen am Vorbild verlangt Transfer; also läßt sich Transfer selbst nicht am Vorbild lernen. Um die Art der Schwierigkeit zu erkennen, betrachte man einen Zusammenhang, in dem B’s Handeln ein Vorbild sowohl an Dankbarkeit als auch an Klugheit darstellt: B zeigt, daß er sich von einer empfangenen Wohltat zur freundlichen Aufmerksamkeit motivieren läßt, und daß er diese Aufmerksamkeit in einer dem Zusammenhang angemessenen Weise praktiziert. Wie kann A einerseits B’s Dankbarkeit und andererseits B’s Klugheit nachahmen? Im Fall der Dankbarkeit gehört dazu zweierlei. Offensichtlich muß A sich von B’s Handeln motivieren, also zur eigenen Dankbarkeit anregen lassen – zur verläßlichen Bereitschaft, selber dankbar zu handeln. Zweitens jedoch muß er, wenigstens unausdrücklich und ungefähr, verstehen, was Dankbarkeit ist, damit er deren Erfordernisse auch unter beliebig variierten Umständen wahrnehmen kann. Unter diesen Voraussetzungen kann davon die Rede sein, daß B durch Dankbarkeit zur Dankbarkeit anleitet. Kann unter analogen Voraussetzungen auch davon die Rede sein, daß B durch Klugheit zur Klugheit anleitet? Zunächst zur Rolle der Motivation: B’s Vorbild mag A dazu anregen, ebenfalls klug handeln zu wollen. Doch während Dankbarkeit nichts anderes ist als die Bereitschaft, dankbar zu handeln, ist Klugheit nicht dasselbe wie die Bereitschaft, klug zu handeln. Nun wird man sagen: Auch zur wirklichen Dankbarkeit genügt Bereitschaft, dankbar zu handeln, nur insoweit, als auch die zweite der oben genannten Voraussetzungen erfüllt ist; insoweit also der Dankbereite weiß, worin Dankbarkeit ganz allgemein besteht. Das ist richtig. Setzen wir also, um die Analogie zu wahren, folgendes voraus: Nicht nur ist A durch B’s Beispiel dazu motiviert und insoweit bereit, klug zu
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handeln; er weiß vielmehr auch, worin Klugheit ganz allgemein besteht. (Er kann sich etwa sagen: ›Klugheit ist Angemessenheit des Handelns in bezug auf gute Beweggründe unter beliebigen Umständen‹.) Wird ihn nun, unter dieser Voraussetzung, die Bereitschaft zur Klugheit in die Lage versetzen, auch unter variierten Umständen klug zu handeln? Keineswegs. Erfassen und verallgemeinerndes Nachahmen des Vorbildes: so etwas scheint für den Fall der ethischen Tugenden in gewissem Umfang möglich zu sein, nicht aber für den Fall der Klugheit. Woran liegt das? Nun, an der ethischen Tugend ist das, was erfaßt und nachgeahmt wird, die grundlegende Motivationsstruktur und die Gesinnung, nicht die Reichweite und die Vielfalt der Verwirklichungsmöglichkeiten. Deren Bewältigung gehört bereits zu den Aufgaben der Klugheit. Und die Klugheit ist nicht Sache einer Motivation, die erfaßt und nachgeahmt werden könnte. Sie ist vielmehr Erkenntnis und will durch Erkennen erworben sein. Klugheit gehört zu den ›Verstandestugenden‹, und die sind ›themen-neutral‹. Sie betrifft die Umsetzung beliebiger ethischer Tugenden unter beliebigen Umständen. So ist Dankbarkeit nicht weniger auf Klugheit angewiesen als Tapferkeit. Verfüge ich über viel Geld und wenig Zeit, sieht kluges Handeln anders aus, als wenn es sich damit umgekehrt verhält. Klugheit will deshalb, vereinfacht gesagt, für jede der verschiedenen ethischen Tugenden und für jede Art von Umständen neu gelernt sein.55 Nicht ein gründlicheres Verständnis dessen, worin Klugheit besteht, sondern die Erweiterung seiner praktischen Kenntnisse durch Gespräch, Unterweisung, Erfahrung und eigenes Überlegen wird A dazu befähigen, Klugheit da zu praktizieren, wo er sie bis jetzt weder bei anderen am Werk gesehen noch selbst zu praktizieren versucht hat. Unterweisung, Erfahrung und Nachdenken werden ihm zeigen, welche Verhaltensweisen die ethische Tugend unter jeweils wechselnden Bedingungen zuläßt und verlangt. Die Vorbildwirkung des Erzieher-Verhaltens bewegt sich also in engen Grenzen, wo es um die Vernünftigkeit der Umsetzung guter Motive geht. Wie aber steht es um jenen Aspekt der Vernunft, den ich als praktisches Wissen bezeichne: Kann B durch seine Vorstellung davon, welche Motive gute Motive sind und ›was an Tugend zu einem guten Leben gehört‹, für A ein Vorbild sein? b) Auch in diesem Punkt scheint die Entfaltung praktischer Vernunft zunächst weniger vom Vorbild zu profitieren als die Bildung ethischer Tugenden. Denn wenn sich A von B’s Orientierung an diesen oder jenen grundlegenden Werten angezogen fühlt, ist das Anziehende ja nicht B’s Wissen oder Auffassung, daß Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Tapferkeit usw. zum guten Leben gehören, sondern die verhaltenswirksame gerechte, dankbare, tapfere Gesinnung, also B’s ethische Tugend. 55 Was die Vereinfachung unterschlägt, ist vor allem dies: Einheit und gegenseitige Begrenzung der ethischen Tugenden lassen nicht zu, daß die Aufgaben der Klugheit in getrennten ›Abteilungen‹ für Gerechtigkeit, Tapferkeit, Dankbarkeit usw. abgewickelt werden.
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Erst in einem recht fortgeschrittenen Stadium, wenn überhaupt, wird A von B’s praktischer Vernunft beeindruckt sein: von der Angemessenheit gewisser Wertvorstellungen, von B’s vermuteter Einsicht in die Zusammenhänge zwischen Charakter-Qualitäten und sonstigen Erfordernissen menschlichen Gedeihens, von der Differenziertheit und Treffsicherheit, mit der B konkurrierende ethische Ansprüche zu gewichten scheint, usw. Das alles mag es geben. Es ist aber kaum das, woran wir denken werden, wenn wir vom Erzieher erwarten, daß er durch sein Beispiel dem Heranwachsenden praktisches Wissen vermittelt. Nicht daß er seine Vorstellungen vom guten Leben attraktiv präsentiert, erwarten wir von B, sondern daß diese Vorstellungen, die A zunächst fast unvermeidlich fraglos übernehmen wird, stimmen. Und in dieser Hinsicht kann und sollte der Erzieher tatsächlich auch im Bereich der praktischen Vernunft als Vorbild wirken. Das ist für Inhalte, auf die sich das praktische Wissen bezieht, in einer Weise möglich, die bei ›Inhalten‹ der Klugheit keine Parallele findet. Denn das Wissen darum, worauf es im Leben ankommt, ist nicht im selben Sinne themen-neutral wie die Klugheit. Das praktische Wissen nämlich qualifiziert die Vernunft (qua Fähigkeit, praktisch zu denken) gerade dadurch, daß es Unbestimmtheit und Beliebigkeit der Orientierung und der Zielsetzung einschränkt; daß es bestimmte Motivationsstrukturen auf Kosten anderer vorgibt. Daher kann das praktische Wissen (oder eben auch Unwissen), das sich in B’s Handeln manifestiert, für A so etwas wie ein Modell sein. Das Transfer-Problem, das in (a) mit den situationsspezifischen Inhalten der Klugheit verbunden war, stellt sich hier nicht. Oder besser: Es stellt sich nur insoweit, als es sich auch für die VorbildWirkung von B’s ethischer Tugend stellt: Das Lernen am Vorbild setzt voraus, daß A die vorbildhafte Motivationsstruktur implizit erkennt. Derartiges Erkennen verlangt eine Art Übertragungsleistung: das Erfassen des gemeinsamen Musters in den verschiedenen Realisierungen der Dankbarkeit (bzw. der Gerechtigkeit, der Mäßigung usw.) in B’s Handeln von Situation zu Situation. Es ist der Transfer selbst, den zu leisten A nicht am Vorbild lernt – und der am Vorbild lernbar sein müßte, damit die Klugheit, die ja zum Transfer qualifiziert, am Vorbild lernbar wäre.
14.2
Ist Transfer lehrbar?
Praktische Vernünftigkeit kann also zwar als Vorbild wirken: B’s Beispiel kann phronesis möglicherweise attraktiv machen. Und im Bereich des praktischen Wissens (und so auch der Gesinnung) wird A am Modell von B’s Motivationsstrukturen lernen. Klugheit jedoch läßt sich nicht durch Lernen am Vorbild erwerben. Zudem ist das Erfassen des Gemeinsamen, das Verallgemeinern und Übertragen, wodurch solches Lernen erfolgt, sehr realen Gefahren ausgesetzt. Vom Kontext absehend, kann man nämlich jede Handlung oder Unterlassung eines Menschen in zahllose Motivationsmuster einordnen. Je mehr Kontext man
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einbezieht, desto enger wird der Kreis der alternativen Möglichkeiten, die Handlung bzw. die Unterlassung aufzufassen oder auszulegen. Dennoch bleiben Fehlwahrnehmung und Mißdeutung oft möglich – besonders für einen Menschen, der noch damit beschäftigt ist, die Erfahrung zu sammeln, die diese Gefahr reduziert. Aber auch wo A die Motivationsstruktur von B’s Verhalten mehr oder weniger angemessen erfaßt, ist nicht gesagt, daß die Übertragung aus dem beispielgebenden Kontext in die unterschiedlichsten Situationen des eigenen Lebens gelingt. Die Dreijährige versteht ganz gut, was Mutter da tut, um den kleineren Bruder aufzumuntern; und da will es ihr nicht so schnell einleuchten, daß es nicht dasselbe (Handeln) ist, wenn sie ihrerseits dasselbe tut – daß ihr andersartiger Status im Beziehungsgefüge des Kleinen eine (ethisch gesehen) andersartige Situation schafft. Die Problematik der Vernunft- und insbesondere ›Klugheitserziehung‹ (Wie lernt A Motivationsstrukturen im situationsgebundenen Verhalten anderer zu erfassen? Wie lernt er, was die Umsetzung einer solchen Struktur in je neuen Situationen jeweils verlangt?) – diese Problematik läßt sich als praktischer Ausläufer des Universalienproblems verstehen, mit dem sich im 20. Jahrhundert wohl kein Denker intensiver, innovativer und pädagogisch relevanter befaßt hat als Wittgenstein.56 Die Problematik ist keineswegs eine rein theoretische oder gar philosophengemachte Schwierigkeit. Im Gegenteil: sie stellt sich überall, wo Maßstäbe auf neue Situationen anzuwenden sind; und besonders in einer Gesellschaft, in der Familie, Schule und Gruppe der Gleichaltrigen den Heranwachsenden vor sehr verschiedenartige soziale Anforderungen stellen. Nach Krappmann »wird den Kindern tatsächlich viel abgefordert, wenn sie sich darum bemühen, die ihnen vermittelte Orientierung durchzuhalten, denn in diesen Räumen kommt es nun ganz auf sie an, mitgebrachte Prinzipien weiterzudenken und unter immer wieder wechselnden Handlungsbedingungen auszubuchstabieren« (2001, S. 157).
56 Vgl. z.B. Wittgenstein PU, § 65–87, 139–242. Alles Lernen – ob am Vorbild oder sonstwie – und insbesondere das Erlernen von Dispositionen, so oder so zu handeln, ist darauf angewiesen, daß der Lernende etwas überträgt, daß er eine gegebene Situation mit einer neuen gleichsetzt. Wenn das aber zutrifft: wie kann dann so etwas wie Transfer und also Klugheit überhaupt je gelernt werden? Wie lernt man das Lernen selbst oder jedenfalls diese Komponente des Lernens? Keine Erklärung des Gemeinten kann garantieren, daß man richtig auf neue Situationen überträgt, was am Vorbild zu lernen ist. Unter anderem deshalb nicht, weil auch die Erklärung falsch verstanden werden kann – wie wenn »ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur damit [reagierte], daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung zur Fingerspitze« (§ 186). Die Möglichkeit von Transfer beruht letzten Endes auf natürlichen Reflexen oder Reaktionsweisen, die ihrerseits nicht in der Übertragung von Gelerntem bestehen: auf dem Blick in der Richtung zur Fingerspitze, auf dem ›richtigen‹ Imitieren eines Verhaltens, auf dem typischen Umgang mit Gesten der Zustimmung und der Ablehnung, etc.
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Angesichts dieser Aufgabe des Heranwachsenden steht der Erzieher seinerseits im Bereich der ›Klugheitserziehung‹ vor zwei Aufgaben.57 Einerseits muß B das, was zu vermitteln ist, artikulieren und kommentieren. Er muß mit A über die Motivationsstrukturen, die zum guten Leben gehören, und insbesondere über die variablen Erfordernisse und Chancen ihrer Implementierung in wechselnden Situationen sprechen. Und andererseits muß B berücksichtigen, daß A den Transfer in neue Situationen nur leisten wird, wenn er ebendiesen Transfer übt – wenn er also auch außerhalb der Beziehung zu B, in anderen sozialen Kontexten, die Umsetzung jener Motivationsstrukturen praktiziert und diskutiert. »Kinder und Jugendliche« benötigen »sowohl vertrauensvolle Beziehungen zu der Generation, die ihnen Wichtiges weiterzugeben hat, als auch intensive Beziehungen zu Gleichaltrigen, die miteinander herausfinden wollen, ob mit dem Weitergegebenen etwas anzufangen ist« (Krappmann 2001, S. 166). Umfassende Verantwortlichkeit des Erziehers schließt nicht aus, daß der Heranwachsende im Kontext der Gruppe moralische Urteilsbildung lernt. Im Gegenteil: sie verlangt, daß er ihm einen solchen Kontext ermöglicht und die resultierenden ethischen Fragen mit ihm reflektiert.
14.3
Inwiefern verlangt erzieherische Vernunft Orientierung an der charakterlichen Entwicklung des Heranwachsenden?
Medium der Erziehung ist B’s Handeln nicht nur durch seine Vorbildwirkung, sondern auch, insofern es Erzieher-Tugenden verwirklicht (oder nicht verwirklicht), insofern also seine Motivationsstrukturen so oder so auf A Bezug nehmen. Dieser Bezug der Motivationsstrukturen auf A betrifft natürlich nicht nur B’s charakterliche Verfassung, sondern auch das Profil seines praktischen Wissens (oder auch Unwissens). Ferner muß die Klugheit des Erziehers bei der Umsetzung der ethischen Tugenden – auch der allgemeinen Tugenden – in besonderer Weise den Heranwachsenden berücksichtigen. Mit anderen Worten: Wie es ErzieherTugenden gibt, so sollte es auch so etwas wie erzieherische Vernunft geben. Daher die Frage: Welche besonderen Anforderungen stellt das Erziehungsverhältnis an die Vernünftigkeit von B’s Handeln? Dieser Frage will ich hier mit Blick auf a) das praktische Wissen und b) die Klugheit des Erziehers nachgehen. a) Wenn der Vernünftige als ›praktisch Wissender‹ weiß, worauf es im Leben ankommt, dann bedeutet praktisches Wissen für B unter anderem, zu wissen,
57 Vgl. auch Eckert 2001, S. 181: »Wenn demokratische Werte im Sinne von Tugenden vermittelt werden sollen, braucht es also zweierlei: erstens unmittelbare Erfahrungen und zweitens präzise kognitive Transfers. Eine Jugendgruppe kann beispielsweise im Gebirge rasch in eine Situation geraten, wo Solidarität, Verzicht und gerechtes Teilen unmittelbar einsichtig werden. Ob von dort aus ein Bezug zu Menschenwürde und humaner Solidarität hergestellt wird, ist – wie die Geschichte der Reformpädagogik zeigt – erst einmal offen«.
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worauf es in seinem Leben ankommt; worauf es also auch speziell insofern ankommt, als A ihm anvertraut ist. Die Zuständigkeit für A bedeutet ja für B: rollenbedingte Erweiterung der für jeden gültigen Anforderungen an gutes Handeln und Leben, Anreicherung des ethischen telos seines Tuns durch erzieherische Beziehungstugenden. Angesichts der Überlegungen in 13.4–5 gehört es für B zum guten Handeln, im Bewußtsein seiner Verantwortung für A zu leben, sein Verhalten also (auch) davon bestimmen zu lassen, was A’s charakterliche Entwicklung verlangt; und ebenso gehören Liebe zu A und Vertrauen in A dazu. Als ›zusätzliche‹ Tugenden bedeuten diese Erzieher-Tugenden: Normierung des Handelns durch zusätzliche Motivationsstrukturen, und damit sozusagen: inhaltliche Erweiterung der praktischen Vernunft. Muß nicht auch das Erziehungsziel in die Beweggründe und somit ins praktische Wissen des guten Erziehers eingehen? – Ja und nein. Auf der einen Seite läßt B es an praktischer Vernunft fehlen, wenn sein Handeln nicht auf A’s charakterliche Reifung ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite gehört zu dieser Ausrichtung nicht notwendig die Absicht, A zu einer bestimmten Ziel-Verfassung hinzuführen. Notwendig sind hingegen die Beweggründe, die den einzelnen Erzieher-Tugenden ihr jeweiliges Profil geben. Sie sind – sofern auch die übrigen Tugenden in B’s Vorstellung vom guten Leben eingehen – alles, was erforderlich ist, damit das Erziehungsziel in dieser Vorstellung hinlänglich repräsentiert ist. b) Zur Erinnerung: Gute Motive in die eigene Konzeption vom guten Handeln einzuschließen und schlechte auszuschließen: das ist, als praktisches Wissen, nur der Ausgangspunkt praktischer Vernünftigkeit. Um die Konzeption in Handeln zu übersetzen, muß man aus ihr mit Blick auf situationsbedingte Umstände, Folgen usw. eine Vorstellung davon ableiten, was hier und jetzt zu tun ist. Die Angemessenheit dieser Ableitung und der abgeleiteten Vorstellung ist Sache der Klugheit. Dementsprechend sorgt erzieherische Klugheit dafür, daß tugendgemäße Beweggründe situationsgerecht in B’s Verhalten A gegenüber einfließen. Im Hinblick auf die ›allgemeinen‹ Tugenden bedeutet dies, daß B ein im jeweiligen Kontext möglichst eindeutig und effektiv gutes Vorbild ist; im Hinblick auf die Erzieher-Tugenden, daß er die Motive der Verantwortung, der Liebe usw. in ein Verhalten umsetzt, das den jeweiligen Bedürfnissen dieses Heranwachsenden in dieser Lage gerecht wird; und im Hinblick auf beide Tugend-Bereiche, daß er in Forderung und Hinweis, in Lob und Tadel hilfreich artikuliert, was geeignet ist, A gerade jetzt in der Entwicklung eines guten Charakters weiterzubringen. Vor allem seine erzieherische Verantwortung A gegenüber kann B nicht ohne erzieherische Klugheit wahrnehmen. Dabei geht es keineswegs ausschließlich um die Wahl von Erziehungsmaßnahmen. Häufig gilt es zu entscheiden, ob eine Handlungsweise, die gar nicht als solche erzieherisch finalisiert ist, unter dem Gesichtspunkt von A’s Charakterbildung am Platz ist oder wie sie ihren Zweck erfüllen kann, ohne seinem Erwachsenwerden im Weg zu stehen. Ein Beispiel: A
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tut sich schwer mit der Erledigung einer Hausaufgabe für die Schule. Soll B ihm helfen? – Auch wo sie angebracht ist, macht Hilfestellung dieser Art nicht als solche einen Bestandteil von Erziehung aus. Im angenommenen Beispiel könnte sie ein Stück Ausbildung darstellen (vgl. 2.5 (b)). Damit wäre ihre poietische Finalität benannt. Praktisch steht die Hausaufgaben-Hilfe insbesondere unter der ethischen Frage, ob sie die Tugend der Hilfsbereitschaft manifestiert. Nicht jede Hilfe ist ja eine Tat der Tugend. Ob sie es ist, hängt von vielen Umständen ab, denen der Kluge Rechnung trägt. Im vorliegenden Fall hängt es insbesondere davon ab, ob es, ›all things considered‹ und auf Dauer, für A das Bessere ist, wenn B ihm hilft, oder nicht. Dabei fragt das erzieherische Verantwortungsbewußtsein nach den Auswirkungen auf B’s Charakter: Wie würde sich die Hilfe bzw. die Verweigerung der Hilfe auf A’s Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen, auf seine Ausdauer und Geduld, aber auch auf seinen eigenen Sinn für Hilfsbereitschaft, auf seine Einstellung zu B usw. auswirken? Und wie wäre hier – gegebenenfalls – zu helfen, damit die Hilfe A’s charakterlicher Entwicklung nicht schadet, sondern dient? Die verschiedenen Tugenden, insbesondere die allgemeine der Hilfsbereitschaft und die Erzieher-Tugend des Verantwortungsbewußtseins, begrenzen hier wechselseitig ihre Ansprüche. Und die eine mag darüber entscheiden, wie die andere sich manifestieren sollte. Diesen beiden Erfordernissen der ›Kooperation‹ der Tugenden untereinander (6.6) hat die Klugheit des Erziehers Rechnung zu tragen.
14.4
Anders als technische, sind erzieherische Maßnahmen nicht ethisch neutral bewertbar, sondern, als Erfordernisse der Klugheit, Komponenten guten Handelns
All dies kann man unabhängig davon feststellen, ob B im Umgang mit A ein Erziehungsziel im Sinn hat. Denn das Erzogen-Sein unterscheidet sich vom typischen poietischen telos unter anderem dadurch, daß es den Vollzug einer entsprechenden poiesis finalisiert, auch ohne vom Subjekt der poiesis intendiert zu sein (10.1 (c)). A’s Erziehung durch B besteht in B’s Handeln, und dazu muß in dessen telos, wie schon mehrfach gesagt, das Erziehungsziel keineswegs repräsentiert sein. Dieses Ziel gehört nur insofern zum telos von B’s Handeln, als die Beweggründe dieses Handelns von den Erzieher-Tugenden mitbestimmt sein müssen. Erzieherische Klugheit ist daher nicht speziell, nicht notwendig und vor allem nicht ausschließlich die Klugheit von Erziehungsmaßnahmen. a) Kann man wirklich, ohne zu übertreiben, sagen: ›A’s Erziehung durch B besteht in B’s Handeln‹? Ist tatsächlich gutes Handeln aufgrund seiner ethischen Qualität das Medium der Erziehung – weder mehr noch weniger als gutes Handeln? 1) Wäre es nicht denkbar, daß B in einer Situation gut handelt, ohne daß
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sein Handeln in dieser Situation erzieherisch relevant wäre? 2) Könnte B nicht sogar, gut handelnd, etwas tun, das von A in einer Weise wahrgenommen oder verstanden werden müßte, die seiner charakterlichen Entwicklung unzuträglich wäre? 3) Muß das gute Handeln nicht – vor allem wo die Erziehung sich schwierig gestaltet – durch Maßnahmen ergänzt werden – durch etwas also, das von sich aus nicht ethische, sondern eher technische Güte-Kriterien erfüllen muß? (Denn verantwortungsbewußten Eltern, die bei der Erziehung ihrer Kinder psychologische Fehler machen oder Maßnahmen auslassen, die sich als nützlich erweisen könnten, werden wir doch deswegen kaum schlechtes Handeln vorwerfen.) Diese Fragen verfehlen den in Kapitel 6 erläuterten Sinn des Wortes ›Handeln‹. Ich will sie der Reihe nach beantworten. 1) Man kann zwar sagen, B’s Handeln sei nicht in allen seinen Komponenten unmittelbar erzieherisch relevant. Vieles, was B tut, gehört zu den Dingen, die A nicht betreffen und noch nicht einmal von ihm wahrgenommen werden. Andererseits jedoch kann der faktisch A affizierende oder von A erlebte Ausschnitt von B’s Verhalten gar nicht unabhängig von seiner Einbettung in B’s übriges Leben als gutes Handeln gelten (6.6). Zudem ist, was B hier und jetzt tut, von seinem anderweitigen Verhalten mitbestimmt. Es ist schließlich ein und derselbe Charakter, der sich in B’s verschiedenen Lebensäußerungen manifestiert. Damit der zufällig von A erlebte Verhaltensausschnitt gutes Handeln ist, muß B überhaupt gut handeln. 2) Wie könnte B, ›gut handelnd‹, etwas erzieherisch Unzuträgliches tun? Die ethische Qualität des Handelns verlangt Qualität in allen seinen Bewertungsdimensionen. Was immer daher B tut: es kann nicht gut gehandelt sein, wenn es den Erzieher-Tugenden widerstreitet, wenn es sich also insbesondere nicht mit seiner Verantwortung für A vereinbaren läßt. 3) Differenzierter muß die Antwort auf die dritte Frage ausfallen. Einerseits lassen sich, wie ich sogleich unter (b) zeigen werden, erzieherische Maßnahmen als solche nicht rein technisch, unabhängig von ihrem Beitrag zur ethischen Qualität des Erzieher-Verhaltens bewerten. In diesem Sinne wird das Handeln als Medium der Erziehung nicht durch Maßnahmen ergänzt. Auf der anderen Seite ist zuzugeben, daß Erziehung gelegentlich Kompetenzen und kompetente Maßnahmen verlangt, die man nicht als Erfordernisse gewöhnlicher Klugheit auffassen kann. Unter (c) will ich prüfen, ob darin eine Ausnahme zu der These liegt, Erziehung bestehe im Handeln. b) Inwiefern sind erzieherische Maßnahmen von sich aus eine Frage der Klugheit und nicht rein technisch bewertbar? Niemand wird leugnen, daß solche Maßnahmen ein Erfordernis erzieherischer Klugheit sein können.58 Insbesondere kann Verantwortungssinn – speziell in 58 Vielleicht wäre dies ein Grund, das Thema Erziehung bereits in der Schule anzuschneiden. Erzieherische Klugheit läßt sich zwar nicht durch Unterricht vermitteln; sie bildet sich durch Erfahrung. Warum aber sollte schulischer Unterricht nicht Erfordernisse der
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einer pluralistischen Gesellschaft – von B verlangen, darüber zu reflektieren, wozu er A erziehen soll und welche besonderen Maßnahmen in der konkreten Situation erforderlich sein mögen, um dieses Erziehungsziel zu fördern. Den Charakter einer Erziehungsmaßnahme hat B’s Tun dann insoweit, als seine erzieherische Ziel-Konzeption es poietisch finalisiert. Diese Konzeption ist eine Frage der phronesis, näherhin des praktischen Wissens. Und die Maßnahmen, die der Konzeption entspringen – vom gezielten Schweigen bis zum Einschalten professioneller pädagogischer Hilfe – werden mehr oder weniger klug sein. Allerdings ist nicht alles, womit der Erzieher etwas faktisch Erziehungsrelevantes zu erreichen trachtet, eine Erziehungsmaßnahme im soeben spezifizierten Sinne. B mag etwas in der Absicht tun, auf A’s Charakter Einfluß zu nehmen, ohne daß er damit ein Erziehungsziel verfolgt. Auch wo eine solche Absicht vorliegt, werde ich von einer ›erzieherischen Maßnahme‹ sprechen; dagegen werde ich das Wort ›Erziehungsmaßnahme‹ den Fällen vorbehalten, in denen die Maßnahme einer Erziehungsziel-Konzeption entspringt. Stellen wir uns Maßnahmen wie die folgenden vor: B gibt einer Bitte von A nur unter Vorbehalt und zögernd nach, um ihn zum Nachdenken über den Inhalt dieser Bitte und vielleicht zu einer veränderten Einstellung zu bewegen; er lobt ihn für einen Erfolg, um sein Selbstvertrauen zu stärken; er bringt ihm bei, daß auch kleine Tiere Schmerz empfinden und nicht zum Spielen da sind; B erteilt Erlaubnisse, straft, arrangiert Herausforderungen, unterbindet eine Begegnung ... All das kann Erziehungsmaßnahme im erläuterten, engen Sinne sein, also eine Handlung, die letztlich einer Konzeption von A’s Erzogen-Sein entspringt. Oft jedoch wird B eine solche Konzeption gar nicht haben, wenngleich er um A’s charakterlicher Entwicklung willen und aus erzieherischem Verantwortungsbewußtsein zögert, lobt, erlaubt usw. Sehen wir uns unter dieser Perspektive auch das Beispiel von 4.5 nochmals an. Hier hält B es für richtig, A eine Fernsehsendung zu verbieten. Verschiedene Fälle sind denkbar. 1) Das Verbot entspringt einer Auffassung darüber, wozu A erzogen werden soll. Dann ist es Erziehungsmaßnahme. 2) B hofft – aber ohne ein regelrechtes Erziehungsziel zu verfolgen – das Verbot wirke zügelnd auf A’s Aggressivität. In diesem Fall spreche ich von einer erzieherischen Maßnahme. 3) B ist der Auffassung, das Verbot sei gut für seinen eigenen Frieden mit den Nachbarn. Dann ist es noch nicht einmal eine erzieherische Maßnahme. Aber Erziehung in allgemeiner Form zur Sprache bringen und außerdem Erziehungsmaßnahmen, also Standard-Möglichkeiten erzieherischer Reaktion auf pädagogische StandardSituationen behandeln? Erziehungswissenschaftler und Psychologen sollten schließlich einiges darüber sagen können, welche ›Erziehungsmittel‹ sich in der Regel günstig bzw. ungünstig auf den Charakter eines Kindes auswirken. Ihr Wissen scheint jedoch den Weg in die Erziehungspraxis von Eltern allenfalls über Berater-Literatur zu finden. Liegt dies daran, daß es nicht politisch korrekt ist zu wissen, was den guten Charakter eines anderen ausmacht? Kann aber von einem solchen Wissen nicht die Rede sein: was spricht dann überhaupt dafür, Kinder zu erziehen? Vgl. 3.4.
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auch in diesem Fall kann sich das Verbot auf A’s Charakter günstig oder ungünstig auswirken: es ist erzieherisch relevant. Als Bestandteil von B’s Handeln, speziell unter dem Gesichtspunkt erzieherischer Klugheit, ist es somit Bestandteil von A’s Erziehung – wiewohl das poietische telos des Verbots nicht, wie in den Fällen (1) und (2), A’s Charakter betrifft. Erzieherische Maßnahmen sind nicht, wie eine typische poiesis, auch unter dem Gesichtspunkt ihrer ethischen Tragweite bewertbar. Vielmehr schließt bereits die besondere Natur ihres poietischen telos eine rein technische, vor-ethische Beurteilung aus. Mit dieser Behauptung widerspreche ich der gegenteiligen Auffassung, die sich etwa so charakterisieren läßt: Jede poiesis hat, als Faktor menschlichen Handelns, sowohl auf der Ebene der Ziele – ›Soll ich das produzieren?‹ – als auch auf der Ebene der Mittel – ›Darf ich so vorgehen?‹ – ethischen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. So stellen sich auch mit Blick auf die erzieherische poiesis auf den beiden Ebenen entsprechende Fragen: ›Soll ich Erziehungsziel Z verfolgen?‹ und ›Darf ich dabei Maßnahme M einsetzen?‹ Auf der Grundlage quasi-technischer Kenntnisse ist nun zu klären, ob Z mit einiger Wahrscheinlichkeit durch M gefördert wird. Die phronesis hat sodann die ethische Zulässigkeit bzw. Notwendigkeit sowohl von Z als auch von M zu prüfen bzw. sicherzustellen. Diese Auffassung verfehlt jedoch die von vornherein ethisch bestimmte Natur der Erziehung. Das nämlich, was unethische Formen der Einwirkung auf den Heranwachsenden ausschließt, ist der Erziehungsbegriff als solcher, nicht erst eine zusätzliche, nachträgliche ethische Beurteilung derartiger Formen. M steht als erzieherische Maßnahme überhaupt nur insoweit zur Wahl, als über seine ethische Qualität und über seine Hinordnung auf ein ethisch qualifiziertes Erziehungsziel, Z, bereits entschieden ist. Die poietische Eignung eines ›Erziehungsmittels‹ läßt sich gar nicht vorgängig zu seiner ›praktischen Eignung‹ feststellen. Denn, was immer B tut, die ethische Qualität dieses Tuns ist ein potentieller Faktor in A’s Erziehung (vgl. oben (a1)). Insofern würde eine ethisch schlechte Maßnahme als solche ihren eigenen erzieherischen Zweck frustrieren. Insofern Klugheit für die angemessene Umsetzung angemessener Ziele sorgt, ist sie in sehr vielen Lebensbereichen auf technische oder quasi-technische Kompetenz angewiesen. So kann auch im Bereich der Erziehung Kompetenz von Nutzen oder vonnöten sein – psychologisches Wissen, Geschick in der Einflußnahme auf andere und dergleichen. Nur zeichnet sich der Einsatz solcher Kompetenz dadurch aus, daß er bereits seiner poietischen Zielsetzung nach ethischer Bewertung unterliegt. c) Besonders schwierige Situationen mögen erzieherische Maßnahmen und daher Kompetenzen erfordern, die man vielleicht von professionellen Erziehern, nicht aber von durchschnittlichen Eltern erwarten darf. Liegen diese Erfordernisse jenseits dessen, was zur qualifizierten praktischen Vernunft und damit zum guten Handeln gehört – so daß die Qualität der Erziehung doch nicht ausschließlich durch die Qualität des Handelns bestimmt ist? – Diese Frage möchte ich aus drei Perspektiven antworten.
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1) Eine erste Perspektive ergibt sich aus der Frage: Was geschieht, wenn ein besonders geschulter oder erfahrener Erzieher auf der Basis seiner ungewöhnlichen Kompetenz eine schwierige Situation im Erziehungsverhältnis durch geschickte erzieherische Maßnahmen meistert? Für diesen Fall gilt offenbar, was unter (b) bereits klar geworden ist: Solche Maßnahmen sind ihrer Finalität nach Einsatz von Klugheit, nicht nur von Kompetenz. Und insofern bleibt es dabei, daß gute Erziehung im guten Handeln besteht. Auch wo der professionelle Erzieher ein Erziehungsziel artikuliert, Etappen- oder Teilziele reflektiert und erprobte, vielleicht theoretisch fundierte Erziehungsmaßnahmen einleitet usw.: auch da wird Klugheit durch Know-how nicht etwa abgelöst oder ersetzt, sondern implementiert (vgl. Kapitel 18). 2) Wo es B an der hier gemeinten Kompetenz gebricht, wird er A nicht gut erziehen können – jedenfalls nicht so gut, wie wenn er sie hätte. Das werden wir ihm aber nicht zum Vorwurf machen, solange es sich um Spezialwissen und besonderes Geschick handelt. In B’s Mangel an erzieherischer Kompetenz zeigt sich kein ethischer Mangel. Insofern ist es also nicht ausnahmslos wahr, daß gute Erziehung eine Sache des guten Handelns ist. Das liegt jedoch, so scheint es, daran, daß wir hier die Qualität von A’s Erziehung durch B nicht daran messen, was von B gefordert werden kann, sondern an den Erfordernissen, die sich unter den Umständen aus dem Erziehungsziel ergeben, während wir die Qualität von B’s Handeln, umgekehrt, nicht daran messen, was unter den Umständen ideal wäre, sondern daran, was von B gefordert werden kann. Aber wie dem auch sei: auf jeden Fall ist zuzugeben, daß die These, gute Erziehung bestehe im guten Handeln, wenn sie einleuchtet, deshalb einleuchtet, weil im Normalfall ›gewöhnliche‹, jedem zumutbare Klugheit ausreicht, um Erziehungsaufgaben zu bewältigen. Wäre die Förderung eines heranwachsenden Charakters grundsätzlich eine Kunst, die nur ausgebildete Spezialisten betrieben, so fehlte unserem Erziehungsbegriff der Boden. Denn ein Vorgehen, das im wesentlichen aus Maßnahmen von Charakter-Ingenieuren bestünde, könnte nicht Erziehung heißen. – Dies muß man im Blick behalten, wenn man feststellt, daß innerhalb des Erziehungsverhältnisses Situationen auftreten können, denen gewöhnliche Klugheit nicht gewachsen ist, und daß insofern die These, gute Erziehung verlange nichts anderes als gutes und damit kluges Handeln, einer Einschränkung bedarf. 3) Unter einer dritten Perspektive erscheint diese These, wenn man bedenkt, daß die Erfordernisse der Klugheit – und damit des guten Handelns – nicht nur im Erziehungsverhältnis unscharfe Grenzen haben. Im Blick auf den Einsatz spezifischer Kompetenzen leistet die Klugheit (auch die erzieherische Klugheit) insbesondere zweierlei. Erstens muß man klug sein, um zu wissen, wo das gute Leben (einschließlich des guten Erziehens) auf bestimmte mehr oder weniger technische Maßnahmen angewiesen ist. Und zweitens gilt es, klug zu entscheiden, welche Kompetenzen man, um dieser Maßnahmen willen, selbst erwirbt und einsetzt und wo man andererseits den Einsatz einer erforderlichen Kompetenz delegiert. Wo solche Delegation nicht möglich ist oder selbst ein ethi-
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sches Problem bedeutet, da zeigen die Forderungen der Klugheit unscharfe Grenzen. Nicht möglich ist die Delegation erforderlicher Kompetenz im allgemeinen bei der Praxis von Tugenden des Zusammenlebens. Sie verlangen nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Fähigkeit, eigene und fremde Bedürfnisse, Motive usw. zu verstehen. Unter manchen Umständen würde man sogar ungewöhnliche psychologische Einsicht oder Selbsterkenntnis oder Geschicklichkeit benötigen, um sich selbstkritisch, rücksichtsvoll, höflich, teilnehmend oder ermutigend zu verhalten. Takt z. B. verlangt Menschenkenntnis und Geschick, und zwar häufig in unvorhergesehenen Situationen. Diese lassen mir im allgemeinen nicht die Zeit, mich schnell noch der Menschenkenntnis eines anderen zu bedienen. Und ich muß richtig reagieren: im taktvollen Handeln kann ich mich nicht vertreten lassen (vgl. 5.1 (b6)). Takt verlangt also nicht-delegierbare Kompetenz. In schwierigen Situationen verlangt er sie in ungewöhnlichem Maß. Wer sie in diesem Maß besitzt und entsprechend taktvoll handelt, zeigt freilich Klugheit. Und man kann sagen, mit dem Maß an tugend-relevanter Kompetenz wachse auch die Klugheit. Indessen scheint manche tugend-relevante Kompetenz sich unbegrenzt steigern zu lassen. Muß man aber deshalb, um als klug zu gelten, mehr aufweisen als ein gewisses Minimum an solcher Kompetenz? Ähnlich kann man bei der erzieherischen Klugheit einerseits an die Bewältigung beliebig schwieriger Situationen denken und deshalb vom Erzieher ›grenzenlose‹ pädagogische Kompetenz verlangen. Andererseits kann man ein Minimum an solcher Kompetenz, das keine spezielle Ausbildung voraussetzt, als notwendiges Ingrediens der erzieherischen Klugheit betrachten: Ebenso, wie die Tugend des Takts auf ein gewisses Maß an Menschenkenntnis angewiesen ist, so kann B erzieherisches Verantwortungsbewußtsein kaum praktizieren, ohne eine Ahnung davon zu haben, mit welchen Maßnahmen er unter welchen Bedingungen welche Veränderungen bei A erreichen kann – was Lob und Tadel, Belehrung und Verbot, Belohnung und Bestrafung, arrangierte Schwierigkeiten, Hilfestellungen etc. günstigen- und ungünstigenfalls bewirken werden.59 Zu dieser ›begrenzten‹ erzieherischen Klugheit wäre natürlich auch die Fähigkeit erforderlich, die Grenzen der eigenen Kompetenz und gegebenenfalls die Notwendigkeit zu erkennen, Rat oder professionelle Hilfe zu erbitten, einen Aufenthalt im Internat vorzusehen und dergleichen. Die Erwähnung professioneller Erziehung suggeriert, daß meine pädagogische Kompetenz – im Unterschied zur Kompetenz, die z. B. der Takt von mir verlangt – durch die Kompetenz eines anderen vertretbar ist. Hierzu ist allerdings zweierlei zu bemerken. Erstens handelt es sich dabei um eine Delegation besonderer Art. Lasse ich mein Haus von einem anderen bauen, so stelle ich ihm insoweit lediglich eine poietische Aufgabe; lasse ich dagegen das eigene Kind von einem anderen (mit-)erziehen, so 59 Als Erzieher von Kindern »muß man ihre Motive kennen und daran möglichst anknüpfen«; und die »Anforderungen an die Kinder müssen ihren Kräften entsprechen« (Giesecke 1999, S. 246).
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Teil III · Produktive Praxis
stelle ich diesen vor eine ›ethische Aufgabe‹: für ihn ist nun die Frage geeigneter erzieherischer Maßnahmen eine Frage der praktischen Vernunft und damit des guten Handelns. Zweitens kann diese Art von Delegation, wie schon angedeutet, selbst ein ethisches Problem darstellen: Schwierigkeiten im Erziehungsverhältnis können den Erzieher vor die Wahl stellen, es dem Kind gegenüber entweder an pädagogischer Kompetenz oder aber an kontinuierlicher kommunikativer Präsenz fehlen zu lassen. Weil es also bei der Erziehung nicht um ethisch neutrale Maßnahmen geht, ist hier das Delegieren selbst keine ethisch neutrale Angelegenheit: der Erzieher könnte besser handeln, wenn er zu den nötigen erzieherischen Maßnahme selbst in der Lage wäre. Darin bestätigt sich die These, daß sich die Qualität der Erziehung nicht von der Qualität des Handelns trennen läßt. d) Die Ergebnisse dieses Abschnitts lassen sich in der Aussage zusammenfassen, daß erzieherische Maßnahmen kein ethisch neutrales Mittel zur Erreichung eines vom Erzieher intendierten Erziehungszieles, sondern – wo erzieherische Klugheit sie empfiehlt – Komponenten guten Handelns sind. Ich benenne abschließend die wichtigsten Punkte, in denen diese Aussage einem verbreiteten einseitig poietischen Verständnis der Erziehung entgegentritt. 1) Grundsätzlich sind erzieherische Maßnahmen kein begrifflich notwendiger Bestandteil von Erziehung. Ob zwischen zwei Personen ein Erziehungsverhältnis besteht, entscheidet sich an Fragen der Zuständigkeit und der faktischen Präsenz und Beeinflussung. 2) Nie ist die Einwirkung durch Maßnahmen allein für Erziehung konstitutiv. Vielmehr sind prinzipiell alle Komponenten des Handelns für die ethische und damit für die erzieherische Qualität des Erzieher-Verhaltens bedeutsam. 3) Auch wo sich Erziehung in erzieherischen Maßnahmen vollzieht (in Handlungen, die erzieherischer Verantwortung entspringen und charakterbildend wirken sollen), handelt es sich nicht notwendig um Erziehungsmaßnahmen (Handlungen, in denen ein Erziehungsziel verfolgt wird). 4) Erzieherische Maßnahmen entspringen in der Regel keiner SpezialistenKompetenz. Insofern muß die entsprechende Fähigkeit des Erziehers als allgemein zumutbares Erfordernis der Klugheit gelten.60 60 Das Erziehungsverhältnis ist schließlich nicht die einzige Art von Beziehung, die gelegentlich verlangt, daß der eine imstande ist, zum Wohl des anderen etwas Bestimmtes zu tun, weil es gut für ihn ist! Zum Beispiel ist auch ein Liebesverhältnis von dieser Art. So kann die Klugheit der Liebe verlangen, daß X eine Gefahr abwendet, die seinen Partner Y bedroht. Das ist so selbstverständlich, daß hier kaum einer von ›Partnerschafts-‹ oder ›Liebesmaßnahme‹ wird sprechen wollen – obwohl auch in diesem Fall X etwas bewirkt, wofür die Beziehung ihn verantwortlich macht. Das Besondere am Erziehungsverhältnis liegt darin, daß es B speziell für A’s charakterliche Entwicklung verantwortlich macht. Was erzieherische Klugheit – zur Umsetzung erzieherischer Verantwortlichkeit und Liebe – gelegentlich verlangt, ist daher: daß B etwas Bestimmtes deshalb tut, weil es für A’s charakterliche Entwicklung gut ist. Solches Tun mag dann erzieherische Maßnahme heißen; und Erziehungsmaßnahme, sofern sich die zugrunde liegende Absicht auf ein mehr oder weniger deutlich artikuliertes Erziehungsziel richtet.
14 Praktische Vernunft
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5) Selbst Konstitution durch lauter Erziehungsmaßnahmen würde aus der Erziehung keine rein technisch bewertbare poiesis machen, da Erziehung sowohl ihrer Finalität nach als auch in ihren instrumentellen Aspekten unter inhärentem ethischem Anspruch und somit unter dem Anspruch der praktischen Vernunft steht. 6) Auch wo in schwierigen Erziehungssituationen professionelle Kompetenz vonnöten ist, enden zwar vielleicht Forderungen der Klugheit; dennoch sind geeignete erzieherische Maßnahmen Erfordernisse der praktischen, nicht einer ethisch neutralen Vernunft, und insofern nichts anderes als gutes Handeln.
TEIL IV Varianten ethischer Einwirkung Erzieherische Einwirkung ist in einem zweifachen Sinne ›ethisch‹. Sie ist, so könnte man sagen, zum einen ethos-basiert und zum anderen ethos-orientiert. Denn die praxis, die Erziehung konstituiert, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die Charakterqualität, auf der sie basiert, tendenziell zugleich re-produziert. Eine reproduktive Struktur zeigt das Handeln nicht nur im Zusammenhang der Erziehung. Schon innerhalb des Subjekts wird die ethische Einstellung, die zu seinem guten bzw. schlechten Handeln führt, durch gleichartiges Handeln auch stabilisiert, ja allererst herbeigeführt. Und auf der Ebene der Gesellschaft vollzieht sich so etwas wie ethische Reproduktion, insoweit durch die Erziehung der einzelnen eine Generation der anderen die eigenen ethischen Konturen vermittelt. Solche ›Fortpflanzung‹ von Motivationsstrukturen trägt als ›Reproduktion‹ die Züge einer poiesis und zugleich als menschlicher Lebensvollzug die Züge einer praxis. Die ›Mikro-Analyse‹ dieses Geschehens bringt freilich Varianten der ethischen Einwirkung zum Vorschein. Die Erscheinungsformen der Erziehung liefern Beispiele solcher Variation sowohl auf der Seite dessen, der erzogen wird, als auch auf der Seite des Erziehers. Erzogen zu werden, kann nicht von vornherein bedeuten: Vorgelebtes stillschweigend zu beurteilen, gut zu finden und einsichtig nachzuleben; oder: Aufforderungen zu verstehen und sich – gegebenenfalls – zur Befolgung motivieren zu lassen. Das Verstehen, das Urteilen, ja sogar die Motivation durch Gründe wollen selbst gelernt sein. Daher vollzieht sich Erziehung in Etappen, die mit Stadien der ethischen Reifung in einem Wechselverhältnis stehen. Der Einfluß des Erzieher-Handelns auf den Heranwachsenden nimmt nacheinander unterschiedliche Formen an – von der vorläufigen Verhaltenskonditionierung bis hin zur Vermittlung einer Distanz, aus der heraus der Erzogene die eigene ethische Orientierung ethisch prüfen kann. Das Ende der Erziehung – nicht der ethischen Reifung! – ist erreicht, wo der Erzieher nur noch Muster des Handelns zu präsentieren vermag, die sein Gegenüber auf der Basis des inzwischen erworbenen praktischen Urteilsvermögens selbständig bejaht oder ablehnt. Erst mit diesem Stadium findet der Heranwachsende zur ethischen Selbststeuerung – zum Handeln im Vollsinn des Wortes. Jetzt kann an die Stelle der Erziehung ›Selbsterziehung‹ treten. Aber diese bedarf im Unterschied zu jener der expliziten Zielsetzung. Andererseits gehen ihr alle Komponenten ab, die die Erziehung als (asymmetrisches) Verhältnis zwischen zwei Menschen mit sich bringt. Und so kann Selbsterziehung – anders als ihr Name suggeriert – schon nicht mehr zu den Varianten der Erziehung zählen.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Nicht nur auf der Seite dessen, der erzogen wird, auch auf der Seite dessen, der erzieht, vollzieht sich erzieherische Einwirkung in Varianten, die das Interesse der Handlungsphilosophie verdienen. Wir können hier vor allem die professionelle von der nicht-professionellen Erziehung unterscheiden. In unserer Gesellschaft ist Erziehung nach wie vor hauptsächlich Sache der Eltern; und so habe ich bisher vor allem Familienerziehung im Blick, wenn ich von Erziehung spreche. Doch gibt es seit Jahrtausenden auch den professionellen Erzieher, der im Auftrag anderer und gegen Entlohnung einen Teil seiner Zeit der Charakterbildung der ihm Anvertrauten widmet. Vor allem sind es heute die Lehrer, denen – zusätzlich zu ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Unterricht – die Rolle des Erziehers zugemutet wird. Viele Erziehungswissenschaftler und Politiker halten Professionalität in der Erziehung für erstrebenswert und desavouieren die Erziehung in der Familie als bloßen Sozialisierungsprozeß. Doch läßt die handlungsphilosophische Betrachtung Zweifel an dieser Einschätzung aufkommen. Denn die lehr- und prüfbare Qualifikation, die man dem bezahlten Auftrags- und Teilzeit-Erzieher abverlangen kann, ist keine Garantie für die charakterliche Verfassung, die Vernünftigkeit und die Qualität des Handelns, die eine Person zum guten Erzieher machen. Der professionelle Erzieher ist freilich nicht überflüssig. Professionalität kann aber nicht bedeuten, daß ihn statt Reifung Ausbildung, statt Charakter Kompetenz und statt ethischer Motivation pädagogische Konzeption und Intention zu seiner Aufgabe qualifizieren. Ob professionalisiert oder nicht: Erziehung kann und sollte zwar als poiesis im weiteren Sinne verstanden werden. Das Medium jedoch, in dem sie sich vollzieht, ist in jedem Fall das Handeln.
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Ethische Reproduktion Alle ursprüngliche Erziehung geht in der Form vor sich, daß eine Summe von selbstverständlichen Normen der Lebensführung auf werdende Menschenkinder übertragen wird. Theodor Litt, Führen oder Wachsenlassen
Erziehung ist in den Zusammenhang menschlicher praxis auf sehr besondere Weise eingebettet: Als gutes Handeln reproduziert gute Erziehung im Leben der Menschen eine gute ethische Verfassung. Diese Redeweise ist zwar vielleicht nur ein Bild. Doch faßt sie auf suggestive Weise zusammen, was sich über die Art und Weise sagen läßt, wie erzieherisches Handeln wirkt, ohne aufzuhören, so etwas wie Selbstzweck zu sein. Reproduktion bedeutet nämlich: art-erhaltende Erzeugung von Gleichem durch Gleiches. In diesem Sinne scheint sich im Erzieher-Handeln eine charakterliche Verfassung – oder auch die Qualität des Handelns – unter drei Gesichtspunkten zu reproduzieren und so für ihren eigenen Fortbestand zu
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sorgen: ›ethische Reproduktion‹ als Aspekt allen Handelns und so als Element des Erzieher-Lebens selbst (15.1); als Vermittlung von Motivationsstrukturen an den Heranwachsenden (15.2); als Erhaltung eines Ethos im Kollektiv (15.3). Der letzte Abschnitt verteidigt diese Sicht gegen Mißverständnisse.
15.1
Der Charakter des einzelnen reproduziert sich durch dessen Handeln in seinem eigenen Leben
Die Selbstzwecklichkeit, die ich dem guten Charakter zugeschrieben habe, ist eine gewissermaßen vermittelte. Denn wie wir gesehen haben (9.2 (c)), besteht eine wechselseitige Finalität zwischen Charakter und Handeln. Der gute Charakter steht im Dienst guten Handelns; doch läßt er sich auch als telos dieses Handeln auffassen und liefert diesem unter Umständen sogar eine Hintergrundmotivation. Dieser zweite Aspekt der reziproken Finalität bringt die Struktur des Handelns in die Nähe der Struktur einer poiesis. Zwar entspringt das Handeln nicht der Absicht, diese oder jene Art von Mensch zu sein1, wie eine poiesis der Absicht entspringt, daß eine bestimmte Art von Produkt bestehe. Doch könnte man in beiden Fällen sagen: Eine als telos vorgegebene Gestalt wird mehr oder weniger gut verwirklicht, und ihre Qualität entscheidet darüber, wie gut die praxis bzw. die poiesis ist, aus der sie resultiert. Den Vorschlag, ethische praxis unter diesem Gesichtspunkt als Quasi-poiesis zu betrachten, habe ich im Kontext einer Aristoteles-Interpretation gemacht (Müller 1982). Was ich jetzt nur als (mögliche) Hintergrundabsicht des Handelns anerkenne, habe ich damals im Anschluß an Aristoteles als mittelbare Handlungsabsicht aufgefaßt. Durch diese Absicht und ihre Realisierung – so diese Deutung – gibt der Handelnde sich selbst eine ethische Gestalt, die er, seinem bereits etablierten Charakter entsprechend, konzipiert. Dabei schlägt sich diese Gestalt zum einen im unmittelbar intendierten Handeln nieder; zum anderen aber, und vor allem, wird sie in dem Charakter verwirklicht, der durch dieses Handeln befestigt wird. Auch wenn man (wie ich jetzt) davon ausgeht, daß im Handeln normalerweise nicht die Absicht verwirklicht wird, ein guter oder sonstwie beschaffener Mensch zu sein, kann man sagen: Das Handeln eines Menschen stabilisiert die entsprechende Disposition – seine Bereitschaft, weiterhin in der gleichen Gesin-
1 Darin löse ich mich von der Auffassung des Aristoteles, die ich so deute: Die phronesis impliziert eine Konzeption der ethischen Gestalt, die ein guter Mensch als solcher sich selbst zu geben bzw. zu erhalten wünscht, wie die techne eine Konzeption der ProduktGestalt impliziert, die ein Produzent als solcher einem Material zu geben wünscht. Aus meiner Sicht hingegen geht die Konzeption einer guten charakterlichen Verfassung allenfalls in die Hintergrundabsicht, nicht aber in die eigentliche, konstitutive Motivation des guten Handelns ein.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
nung zu handeln. Umgekehrt schlägt sich diese Disposition tendenziell in solchem gleichartigen Handeln nieder – in einem Handeln, das dann seinerseits wiederum die Disposition stabilisiert. Als Komponente seines Charakters trägt diese Disposition dazu bei, das Subjekt in der ethischen Gestalt zu erhalten, von der sie selbst ein Teil ist. Im Handeln des einzelnen und durch dieses Handeln reproduziert sich also in der Regel – solange sich seine Motivationsstrukturen nicht verschieben – die Gestalt seiner ethischen Verfassung. Durch tapferes Handeln z. B. – durch Festhalten an diesem oder jenem guten Ziel trotz Widrigkeiten und Gefahren – erwirbt bzw. stabilisiert man Tapferkeit: die Bereitschaft, weiterhin ebenso zu handeln. (Ähnlich erwirbt man durch feiges Handeln – durch Aufgeben angesichts von Widrigkeiten und Gefahren – Feigheit.) Als Disposition, unter einschlägigen Umständen tapfer zu handeln, manifestiert sich Tapferkeit in Vollzügen, die den Handelnden in ebendieser charakterlichen Disposition erhalten. Analoges gilt für alle anderen Tugenden und Laster. Und so reproduziert die ethische Gestalt, der Charakter eines Menschen, gewissermaßen sich selbst. Wie aber gelangt der Mensch in diesen Zirkel hinein, in dem sich Qualität des Handelns und Qualität des Charakters gegenseitig bedingen und stabilisieren? Schon Aristoteles kennt dieses Problem, und er deutet auch die Lösung an (EN II 4, 1105a17–b18; vgl. 11.7): Die Motivationsstrukturen, die dem Handeln und so dem Handelnden, aber auch dem Handelnden und so dem Handeln ethische Qualität verleihen, entfalten sich allmählich. Die Wirklichkeit des Handelns ist keine Sache des ethischen Alles-oder-nichts. Genau dieser Umstand macht aber nicht nur das Entstehen einer charakterlichen Verfassung – und damit erst wirklichen Handelns – möglich, sondern auch die allmähliche Änderung einer solchen Verfassung und der Qualität des Handelns. Was ein Mensch durch sein bisheriges Handeln ethisch geworden ist, macht die Qualität des weiteren Handelns nicht unausweichlich. Man könnte diesen Aspekt seiner Freiheit so charakterisieren: Die Konturen seines Charakters – die Grenzen der Ansprechbarkeit und Nicht-Ansprechbarkeit für einzelne Motive – sind realiter, und nicht lediglich für unser beschränktes Erkenntnisvermögen, unscharf.
15.2
Der Erzieher reproduziert tendenziell den eigenen Charakter im Heranwachsenden
Die Abschnitte 13.2–3 zeigen, daß und wie B bei A unumgänglich die Entwicklung eines Charakters fördert, der weitgehend B’s Charakter widerspiegelt. Unter dieser Perspektive erscheint auch Erziehung – gute wie schlechte – als eine Art Reproduktion. B’s Charakter sorgt nicht nur (wie unter 15.1), durch Umsetzung in Handeln, für seine eigene Erhaltung in B selbst. (Tapferes Handeln stabilisiert die Tapferkeit, feiges die Feigheit.) Er sorgt auch, durch ebendiese Umsetzung, innerhalb des Erziehungsverhältnisses für die Entstehung eines Charakters derselben Art in A. (B’s tapferes bzw. feiges Handeln wirkt
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vorbildhaft auf A; aus einer Haltung der Tapferkeit heraus nimmt B zu A’s wenig tapferem Verhalten kritisch Stellung.) Freilich trifft eine solche Sicht die Wirklichkeit ethischen Erwachsen-Werdens nur eingeschränkt. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens teilen sich dem Heranwachsenden die ethischen Einstellungen, die ›Werte‹, des Erziehers in unterschiedlichen Brechungen mit. Insbesondere werden die Ansprüche und Stellungnahmen, die B artikuliert, gelegentlich andere Motivationsstrukturen repräsentieren und vermitteln als sein faktisches Verhalten. Was er A gegenüber äußert, kann mißverständlich, einseitig oder übertrieben sein. Was er tut und läßt, kann aufgrund von Willensschwäche oder Mangel an Klugheit die Motivationsstrukturen unterlaufen, die er sich eigentlich zu eigen gemacht hat. Zweitens wirkt natürlich auch das übrige soziale Umfeld auf die charakterliche Entwicklung des Heranwachsenden ein. Aus der Perspektive des ›reproduktiven‹ Einflusses von B’s Charakter bedeutet diese Einwirkung Interferenz. Sodann läßt sich die Ursächlichkeit sowohl der erzieherischen als auch der sonstigen sozialisatorischen Einwirkung zwar feststellen; doch bleibt sie uns einigermaßen undurchschaubar und unberechenbar (10.2). Auch deshalb kann man dem Erzieher-Verhalten lediglich eine Tendenz zusprechen, B’s Charakter in A zu reproduzieren. Schließlich stellt A’s eigene Initiative einen entscheidenden Faktor in seiner charakterlichen Entwicklung dar (2.2 (e)). Das gilt gleichermaßen für seinen Umgang mit B’s kommunikativer Präsenz, mit dem sozialisatorischen Umfeld und mit der jeweils erreichten eigenen charakterlichen Verfassung. Dennoch läßt sich B’s Einfluß auf A seiner Tendenz nach als ethisch reproduktiv bezeichnen. Denn von Erziehung können wir gar nicht sprechen, ohne Kausalität zu unterstellen. Und daß die Art der charakterlichen Wirkung in erster Linie vom Erzieher-Charakter selbst abhängt, ist kaum weniger offenkundig als die Tatsache, daß etwas bewirkt wird.2
15.3
Erziehung ist ein Medium ethischer Reproduktion des menschlichen Kollektivs
In seiner ›reproduktiven‹ Funktion vertritt der Erzieher in gewisser Weise das Gattungswesen Mensch. Man kann nämlich sagen: Die Lebensform dieses Wesens ist dadurch gekennzeichnet, daß es sich selbst, den Bestand der menschlichen Lebensform, dadurch erhält, daß es – über die organismische Fortpflanzung hinaus – auch charakterlich Seinesgleichen ›hervorbringt‹, indem es seinen Nachwuchs, Motivationsstrukturen weitergebend, darauf vorbereitet, möglichst
2 Es ist plausibel, kann aber hier nicht gezeigt werden, daß man die Wirksamkeit einer Sache im allgemeinen nicht feststellen kann, ohne die Art des Bewirkten festzustellen.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
selbständig möglichst gut zu leben. Erziehung gehört zu den arteigenen Lebensvollzügen des Menschen. Wer solche Zusammenhänge artikuliert, betrachtet – scheinbar ein bißchen spekulativ – das Gattungswesen als ein Subjekt, dem sich Prädikate zuschreiben lassen: Prädikate, die z. B. auf ›den Menschen‹ nicht unbedingt deshalb zutreffen, weil sie auf jedes Individuum zuträfen.3 So heißt es vom Menschen (aber nicht von jedem einzelnen), er stamme (oder stamme nicht) vom Affen ab; er habe 32 Zähne; er lebe eher monogam als polygam; er stelle seine Lebens-Mittel selber her; er reproduziere seine Existenz seit jeher arbeitsteilig. Und zu den Prädikaten, durch die wir die Lebensform des Menschen von anderen Lebensformen unterscheiden können, gehört auch dieses: ›erzieht über Jahre hin seinen Nachwuchs‹. Das Herstellen von Lebens-Mitteln hat offenkundig eine Funktion für das Leben unserer Spezies. Aber worin besteht dieses Leben selbst? Wenn wir vom Leben eines Lebewesens alles, was eine lebensdienliche Funktion hat, sozusagen ›abzögen‹, bliebe wenig, vermutlich gar nichts übrig. Mit Blick auf den Menschen können wir also sagen: Eine poiesis wie das Herstellen von Lebens-Mitteln trägt instrumentell zu einer Lebensform bei, in der dieses Herstellen zugleich als Bestandteil des Lebens selbst, d. h. als praxis-Komponente (und insofern sogar als Selbstzweck) einen Platz hat. In Anlehnung an die Erörterung praxis-konstitutiver poiesis in 7.2 kann man sagen: poiesis ist als solche für die praxis des menschlichen Lebens konstitutiv. – Wie steht es in dieser Hinsicht um die Erziehung? Insoweit sie als poiesis gelten kann, gilt von ihr ebenfalls beides. Einerseits hat sie eine quasi instrumentelle Funktion im Leben der Spezies: Wo sie gelingt, da ›produziert‹ sie das Erzogen-Sein des Nachwuchses. Andererseits jedoch gehört das Erziehen auch zu den charakteristischen Lebensäußerungen des Menschen; es ist praxis-konstitutiv. Will man nämlich die menschliche Lebensform kennzeichnen, die Komponenten derjenigen praxis also, um derentwillen Erziehung (wie jede andere poiesis) letztlich stattfindet, so ist unter diesen Komponenten wiederum das Erziehen (wie auch poiesis überhaupt) zu nennen. Ich merke an, daß hier die in 6.3 (a) getroffene Unterscheidung zwischen praxis des Lebens und praxis des Handelns von Bedeutung ist: Leben und Handeln stehen in einem teleologisch unterschiedlichen Zusammenhang mit der Erziehung. B’s Handeln nämlich weist – über seine ethische Qualität, das telos dieser praxis, hinaus – eine zusätzliche poietische Finalität auf, insofern es als Erziehung auf ein poietisches telos, A’s Erzogen-Sein, ausgerichtet ist. Andererseits weist Erziehung ihrerseits – über dieses poietische telos hinaus – eine praktische Finalität auf, insofern sie zu den arteigenen Vollzügen und charakteristischen Lebensäußerungen des Vernunftwesens Mensch gehört und in dieser Rolle zu dessen Leben beiträgt.
3 Vgl. Thompson (1995), der solche Zuschreibungen als Aristotelian categoricals bezeichnet.
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337
Spielt also für B’s Leben das Erziehen von A eine konstituierende Rolle? Diese Frage verlangt eine differenzierende Antwort. a) Nicht jeder Mensch gerät in die Rolle des Erziehers. Erziehung ist also nicht für das Leben des menschlichen Individuums als solchen konstitutiv. Wo Erziehung jedoch zu den Aufgaben eines Menschen gehört, kann sie auf unterschiedliche Weise in sein Leben integriert sein. Ich hebe zwei idealtypische Fälle, (b) und (c), hervor. b) Wie in Abschnitt 7.4 dargetan, kann Erziehung mitsamt ihrer poietischen Finalität ein dominantes praktisches telos abgeben und so eine Lebensweise bestimmen. Bei exemplarischen Pädagogen wie Pestalozzi oder Korczak spielt demnach das Erziehen eine Rolle, die für ihr Leben konstitutiv ist – sofern man sagen kann, der von ihnen selbst gewählte Lebenssinn sei für die Qualität ihres Lebens konstitutiv. c) Ist B’s Leben kein Erzieher-Leben im Sinne von 7.4, so ist doch A’s Erziehung zumindest ein Bestandteil dieses individuellen Lebens. Insofern mag sie auch praxis-konstitutiv und konstitutiv für B’s Leben heißen. Andererseits jedoch ist festzuhalten: 1) Das Erziehen konstituiert hier nicht, wie im Fall von (b), eine praxis im Sinne einer Lebensweise. 2) Für das Leben keines Individuums ist das Erziehen in dem Sinn konstitutiv, in dem z. B. die Betätigung der praktischen Vernunft für das Leben eines (gesunden, erwachsenen) Individuums konstitutiv ist – nämlich unentbehrlich. Genau dies, Unentbehrlichkeit, kennzeichnet die Erziehung als Komponente des Lebens der menschlichen Spezies. Wie die organismische, ist die charakterliche Reproduktion für das Leben der nachwachsenden Individuen und daher für das Leben eines Kollektivs konstitutiv, nicht aber für das der erziehenden (wie auch der sich fortpflanzenden) Subjekte – obwohl sich natürlich so etwas wie ›kollektive Reproduktion‹ nur in individuellen Lebensvollzügen abspielt. Insofern kann man Erziehung als ›autopoietische praxis‹ eines kollektiven Quasi-Subjekts betrachten, die für sein Leben – das Leben eines Stammes, einer Gesellschaft usw. – konstitutiv und zur Erhaltung von Art und Qualität dieses Lebens erforderlich ist. Unter dieser Perspektive stellt sich Erziehung als einer unter anderen Lebensvollzügen dar, durch die ein solches Kollektiv sein eigenes Dasein ›reproduziert‹. Wie nämlich das Individuum sein physisches Dasein durch Essen, Trinken, Anwendung hilfreicher Techniken u. a.m. zugleich vollzieht und erhält oder sichert, so spielen auch Vollzüge des menschlichen Kollektivs zugleich eine konstitutive und eine instrumentelle Rolle in seinem Leben. Das Kollektiv vollzieht und erhält oder sichert sein physisches Dasein zum einen durch die erwähnten individuellen Vollzüge, zum anderen darüber hinaus durch Fortpflanzung, Tausch, Erfindungen, gemeinschaftliche Aktionen usw.
338
Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
In Analogie hierzu könnte man nun sagen: Wie das Individuum sein ethisches (und dadurch, mittelbar, ein Stück weit auch sein physisches) Dasein im Handeln zugleich vollzieht und reproduziert, so vollzieht und reproduziert das menschliche Kollektiv sein ›ethisches Dasein‹ (das zugleich zu seinem physischen Bestand beiträgt). Und zwar geschieht dies erstens durch eben jenes individuelle Handeln, durch das der Charakter jedes einzelnen Erwachsenen sich selbst reproduziert (15.1); und zweitens durch ethische Sozialisation und insbesondere durch Erziehung (15.2).4 Diese Funktion kann Erziehung haben, weil B in seinem erzieherisch wirkenden Handeln nicht nur seine eigene Vorstellung vom guten Leben repräsentiert und vermittelt. B’s Handeln repräsentiert auch, in einer Variante, die ethischen Vorstellungen seiner Gruppe, seiner Gesellschaft usw. Somit erzeugt und stabilisiert sein Handeln, qua Charakterbildung, in A – zumindest partiell und tendenziell – eben diese Vorstellungen und ihnen entsprechende Verhaltensdispositionen. Der Erzieher trägt als solcher dazu bei, ein kollektives Ethos von einer Generation zur nächsten fortzupflanzen.
15.4
Bezeichnet ›ethische Reproduktion‹ ein bedenkliches Modell?
Obwohl erzieherisches Handeln als poiesis gelten kann, ist es zugleich in einem doppelten Sinne Selbstzweck. Als Manifestation einer ethischen Verfassung betrachtet, als Handeln, ist es einzig durch seine ethische Qualität finalisiert – wie jede praxis ihr telos in der entsprechenden eupraxia findet (6.1). Als Vermittlung ethischer Überzeugungen und Reproduktion eines gemeinsamen Ethos, als paradigmatische Sozialisationsinstanz, ist erzieherisches Handeln außerdem artgemäße Lebensäußerung eines ›kollektiven Subjekts‹. Daß Erziehung auch für das Leben des Kollektivs, wie im Blick auf das Leben des einzelnen Heranwachsenden, eine instrumentelle Funktion hat, ist damit natürlich nicht in Abrede gestellt. Aber auch ein lebenssichernder und -erhaltender 4 Anders gesagt: Der Mensch gibt sich selbst im Kollektiv durch Erziehung eine ethische Gestalt – nicht viel anders, als er sich individuell durch seine praxis eine ethische Gestalt gibt (vgl. 15.1). – Der Gedanke einer ›charakterlichen Reproduktion‹ steht natürlich in einer Denktradition. Insbesondere greift er auf die Idee der gesellschaftlichen Reproduktion bei Karl Marx zurück (der vielleicht auch in diesem Punkt von Aristoteles beeinflußt ist). Zur Rezeption des politisch-ökonomischen Begriffs der gesellschaftlichen Reproduktion in der materialistischen Pädagogik vgl. insbesondere Priebe 1977, S. 268; Hurrelman / Priebe 1977, S. 178; und Vath 1977, S. 152, wo vom Bildungswesen im Dienst der »sozialen Reproduktion der Gesellschaft« die Rede ist. Titze spricht von den »materiellen Bedingungen«, unter denen die »bürgerliche humanistische Bildung [...] sich gesellschaftlich reproduziert« (1992a, S. 48; ähnlich Schmied-Kowarzik 1992). Bei John Dewey findet sich die Formulierung: »Speaking generically, education signifies the sum total of processes by means of which a community or social group, whether small or large, transmits its acquired power and aims with a view to securing its own continuous existence and growth«. (1985, S. 425).
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Lebensvollzug ist Lebensvollzug: er ist integraler Bestandteil des Lebens einer Gesellschaft und in diesem Sinne Selbstzweck. ›Erziehung‹ gehört in jede angemessene Charakterisierung der menschlichen Lebensform. Wenn ich Erziehung hier als ethische Reproduktion deute, gehe ich damit über eine handlungsphilosophische Analyse hinaus. Dieses ganze Kapitel ist als anthropologischer Exkurs zu verstehen. Es will lediglich auf eine vielleicht fruchtbare Möglichkeit hinweisen, das Thema Erziehung sozialphilosophisch in den Blick zu nehmen: die Möglichkeit, auch dem Kollektiv so etwas wie praxis zuzuschreiben und Erziehung als facettenreichen Teil solcher praxis zu begreifen – wie immer diese Perspektive genauer zu explizieren sein mag. Keinesfalls ist eine Mystik kollektiver Subjekte intendiert. Den Gedanken an eine gesellschaftlich-reproduktive Funktion der Erziehung mag man in mancher Hinsicht fragwürdig oder anstößig finden. Ich möchte auf einige Bedenken kurz eingehen. a) Ist Mystik wirklich vermeidbar, wenn man Gattungswesen und kollektive Subjekte einführt? Ich muß hier darauf verzichten, den Sinn von Aussagen zu analysieren, in denen grammatischen Subjekten wie ›der Mensch‹ oder aber ›die Gesellschaft‹ Prädikate zugesprochen werden. Ich habe bereits auf Michael Thompsons gründliche Untersuchung ›The Representation of Life‹ hingewiesen, die den Grundstein zu einer solchen Analyse legt. Insbesondere weist der Autor überzeugend nach, daß es nicht möglich ist, Aussagen über ›den Menschen‹ auf statistische oder sonstige Feststellungen über menschliche Individuen zurückzuführen. Und doch bilden jene Aussagen den unumgänglichen Hintergrund ganz gewöhnlicher Aussagen über den einzelnen Menschen, z. B. über seinen Gesundheitszustand (Thompson 1995, S. 280–291). Die Einführung kollektiver Subjekte ist also an sich noch kein Grund, deren mystische Hypostasierung zu befürchten. b) Wird die naturalistische Deutung von Erziehung als Reproduktion dem geistigen Charakter der Erziehung gerecht? Ethische Reproduktion ist eine Metapher. Deren ›naturalistische‹ Untertöne sind erwünscht und berechtigt, insoweit sie an die anthropologische Einsicht erinnern, daß auch geistige – nämlich durch Motivationsstrukturen charakterisierte – Lebensvollzüge wie Erziehung zur Natur des Menschen, zu seiner Konstitution als Lebewesen, gehören. Andererseits habe ich keinen Anlaß zu einem im gängigen Sinne naturalistischen – beispielsweise behavioristischen – Verständnis der Erziehung gegeben. (Einem solchen Verständnis zufolge bestünde sie in einem naturnotwendigen Tun des Erziehers, das nach Naturgesetzen zu gleichartigem Tun beim Heranwachsenden führt, sofern nicht Interferenzen den kausalen Zusammenhang komplizieren.) Was in der Erziehung partiell und tendenziell reproduziert wird, sind Motivationsstrukturen, also Elemente praktischer Rationalität. Die Wege solcher
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Reproduktion führen auf der Seite des Erziehers über die Umsetzung ebendieser Elemente von Rationalität. Auf der Seite des Kindes besteht die Aufnahme oder Übernahme von Verhaltensmustern anfänglich in der Tat und unvermeidbar darin, daß es prärationalen Tendenzen folgend nachahmt, sich konditionieren läßt usw. Auf anderem Wege würde es allerdings gar nicht dahin gelangen, jene Anfänge praktischer Rationalität überhaupt zu entwickeln, die es ihm später erlauben, Motivationsstrukturen, die andere ihm vorleben, an eigenen Maßstäben der Vernünftigkeit zu messen, zu beurteilen und auf dieser Basis in den eigenen Charakter zu integrieren oder aber zu verwerfen (vgl. Kapitel 16). Ich füge hinzu, daß ›Reproduktion‹ eine keineswegs rein biologische Kategorie ist. Gemälde, Photos, Drucke, Musik werden auf technischem Wege reproduziert. Jede Produktion durch Imitation ist Reproduktion des Originals. Im Sinne selbst-veranlaßter Kopie-Bildung läßt sich der Ausdruck auf Kettenreaktionen in den Bereichen der Atomspaltung, der ›Viren-Ansteckung‹ beim PC und sogar in sozialen Zusammenhängen anwenden. Mit der technischen Produktion teilt reflektierte Erziehung die Wirksamkeit von Vorstellungen: Wie die Vorstellung der zu realisierenden Produkt-Gestalt eine poiesis bestimmt, so ähnlich können Vorstellungen davon, was ein guter Mensch ist, B’s Handeln und damit seine Wirkung auf A bestimmen. (Nur so ähnlich. Denn der Hersteller intendiert die Realisierung der vorgestellten Gestalt im Produkt, während B’s Vorstellung von einem guten Leben in der Regel nur implizit und vielleicht als Hintergrundabsicht (vgl. 6.9) in sein erzieherisches Handeln eingeht.) Andererseits teilt Erziehung mit der biologischen Fortpflanzung die unumgängliche Relevanz der Gestalt des Subjekts für die reproduzierte Gestalt: Wie Eltern in ihrer biologischen Funktion die eigene Natur und eigene genetische Komponenten vererben, so ähnlich vermitteln sie als Erzieher – soweit ihr Einfluß bestimmend ist – unweigerlich die eigene ethische Orientierung. (Der entscheidende Unterschied liegt selbstverständlich darin, daß in der Erziehung, wie soeben ausgeführt, nicht Gene, sondern Vorstellungen – wenn auch nicht notwendig Menschenbilder oder Erziehungsziele – am Werk sind.) Im übrigen liegt durchaus ein Sinn darin, durch den Terminus ›ethische Reproduktion‹ Assoziationen mit organismischer Fortpflanzung zu wecken. Denn organismische und ethische Reproduktion sind durch eine gemeinsame Funktion im Leben der Spezies bzw. der Gesellschaft miteinander verbunden: beide wirken sich ausschlaggebend auf den Fortbestand und das Wohlergehen des Kollektivs aus. c) Haben wir unter diesen Voraussetzungen Erziehung als Einrichtung aufzufassen, mit deren Hilfe Kinder zu Kopien der Erwachsenen werden und das Festschreiben des Bisherigen wirkliche Zukunft verhindert? – Hier sind verschiedene Gesichtspunkte zu unterscheiden. Zunächst einmal ist es selbstverständlich, daß ein Erziehungsergebnis, soweit es durch das (gute und schlechte) Handeln des Erziehers zustande kommt, dessen
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ethische Verfassung widerspiegelt. Nach den bisherigen Analysen bilden Weitergabe und Übernahme unvermeidlich das Medium der Erziehung. Eine allen Betroffenen zuträgliche Entfaltung von Freiheit und Individualität des Heranwachsenden vollzieht sich innerhalb der Entfaltung von Rationalitätsstrukturen, die er weder frei erfindet noch individuell gestaltet. Erst im Kontext und auf der Basis übernommener Rationalität lassen sich Bestandteile und Grenzen des Übernommenen in Frage stellen. Da Erziehung für den Heranwachsenden notwendig ist, kommt alles darauf an, daß Charakter und entsprechendes Handeln des Erziehers möglichst weitgehend das sind, was sie sein sollten, damit auch die Erziehung, soweit es an ihm liegt, möglichst weitgehend erreicht, was sie erreichen sollte. Abweichung ihres Ergebnisses – der charakterlichen Verfassung des Erzogenen – von der ethischen Verfassung des Erziehers kann daher aus der Perspektive eines guten Erziehers kein Ideal der Erziehung sein. Allenfalls kann B, wo er sich eigener charakterlicher Mängel bewußt ist, versuchen, die Ambivalenz seines Einflusses zu reduzieren, indem er die Vorbildwirkung seines Handelns auf A in bestimmten Punkten nach Möglichkeit einschränkt. B kann z. B. versuchen, A’s Urteilsvermögen zu stärken oder ihm in Worten Haltungen zu vermitteln, die er selbst nicht hinreichend praktiziert, usw. Es gehört ja auch nicht zu den Idealen des Unterrichts, daß der Schüler Zahlen nach anderen Regeln addiert als der Lehrer. Und ist der Schüler etwa eine bloße Kopie des Lehrers, weil er Rechtschreibung und Grammatik von diesem übernimmt? – Freilich sind die Grenzen hier unscharf: Wie z. B. lernt er vom Lehrer gutes Deutsch, ohne dessen persönlichen Stil zu kopieren? Bei der erwünschten erzieherischen Reproduktion von B’s Charakter geht es aber ohnehin nur um einen Bestand an Motivationsstrukturen, der menschliches Handeln bestimmen soll – der also keine bloßen ›Stilfragen‹ betrifft. Im übrigen werden Umstände, die wachsende Selbständigkeit des Heranwachsenden und die Grenzen seiner Bildsamkeit ohnehin dafür sorgen, daß sich im Charakter des Erzogenen Abweichungen von den Motivationsstrukturen einstellen, die der Erzieher repräsentiert hat. Und natürlich wünschen wir dem Heranwachsenden, daß glückliche Umstände oder gar die eigene Vernunft ihn davor bewahren, sämtliche Untugenden seines Erziehers zu übernehmen. Betrachten wir aber ein Erziehungsergebnis, bei dem sich B’s Motivationsstrukturen tatsächlich mehr oder weniger originalgetreu beim 20–jährigen A wiederfinden. Werden wir hier tatsächlich sagen, A sei nichts anderes als eine Kopie von B? Gewiß, von einer Kopie kann man überall reden, wo kausale Einwirkung für irgendwelche Übereinstimmung sorgt. Im allgemeinen aber denken wir an Persönlichkeitsmerkmale einer bestimmten Sorte, wenn wir den Begriff der Kopie auf Personen beziehen. Zum Beispiel an markante Vorurteile und Vorlieben, an die Gewohnheit, sich auf charakteristische Weise zu räuspern oder Flaschen zu entkorken oder andere mitten im Satz zu unterbrechen. Manche Merkmale dieser Art (wie etwa das letztgenannte) verweisen zwar auch auf übereinstimmende
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Motivationsstrukturen. Andere aber tun das nicht. Und nur ein weites (nicht rein ethisches) Verständnis von Erziehung kann die Befürchtung begründen, wo Erziehung reproduziere, müsse sie Kopien des Erziehers hervorbringen. Tugenden und Untugenden sind keine Persönlichkeitsmerkmale im Sinne von Eigentümlichkeiten, Besonderheiten oder gar Idiosynkrasien und Schrullen. Hat A von B z. B. Intoleranz oder Rücksichtslosigkeit gelernt, so entspricht dies dem reproduktiven Charakter von Erziehung. Daß A auch noch dieselben intoleranten Vorurteile hegt und seine Rücksichtslosigkeit auf dieselbe Weise manifestiert wie B, ist dagegen unter dieser Perspektive ganz unerheblich und akzidentell. Entsprechendes gilt für die Vermittlung von Tugenden. Freilich ist damit zu rechnen, daß A in vielen (oft unschuldigen) Punkten B’s Eigentümlichkeiten und seinen Stil kopiert – meist ohne es zu merken. Ein verantwortungsbewußter Erzieher wird solches Kopieren aus guten Gründen einzudämmen suchen. Und erst recht wird er der Versuchung widerstehen, Tendenzen dazu zu wecken oder zu unterstützen. Es ist aber keineswegs Erziehung als ethische Reproduktion, die dafür sorgt, daß Kinder gelegentlich auf peinliche Weise an ihre Eltern oder sonstige Vorbilder erinnern. Ebenso wenig ist gute Erziehung im engeren Sinne, also Charakterbildung durch den Erzieher, dazu angetan, »den gerade vorliegenden Zustand des Lebens mit allen ihm eingewachsenen Gepflogenheiten, Einrichtungen, Überzeugungen, Wertungen unverändert auf die junge Generation zu übertragen« und so »das Recht der Zukunft [...] einfach [zu] übersehen« (Litt 1965, S. 38). Mit den hier gemeinten Aspekten des Lebens haben Motivationsstrukturen – und um diese geht es in der Erziehung – allenfalls indirekt zu tun. Unter anderem freilich insofern, als sich Mängel in B’s Motivationsstrukturen auf A’s Zukunftsfähigkeit ungünstig auswirken können. Aufgrund charakterlicher Schwächen (Motivationsstrukturen der Eitelkeit, der Faulheit usw.) wird B dazu tendieren, A faktisch auf das festzulegen, was ihm selbst vertraut ist, anstatt in erzieherischem Verantwortungsbewußtsein und Vertrauen (13.5) durch Vorbild und Stellungnahme (13.2–3) in A Motivationsstrukturen der Neugier, der Lernbereitschaft, des Selbstvertrauens usw. zu fördern, die es ihm erlauben, Neues aufzunehmen und selber mitzugestalten. Und Mangel an praktischer Vernunft kann B dazu verleiten, etwas zu ethischen Erfordernissen hochzustilisieren, was in Wirklichkeit eine Frage der gewohnten Organisation, des liebgewordenen Lebensstils oder auch zeitbedingter Bildungsvorstellungen ist. Sind aber die Veränderungen im Leben einer modernen Gesellschaft nicht so radikal, daß nur eine formale Moral wie die des Utilitarismus oder des Kategorischen Imperativs flexibel genug ist, auf die jeweils gewandelten Umstände zu reagieren? Können nicht tugendgemäße Motivationsstrukturen veralten? – Eher, so scheint mir, kommt es gelegentlich vor, daß wir eine Tugend entdecken, die unter den bisherigen Lebensbedingungen nicht nötig oder deren Notwendigkeit noch nicht offenkundig war. Dergleichen könnte man z. B. vom Umweltbewußtsein behaupten. Daß hingegen die Motivationsstrukturen wirklicher Tugenden eines Tages obsolet werden, ist viel weniger wahrscheinlich. Im
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Gegenteil: Diese Strukturen sind im Unterschied zu bloßen Reaktionsmustern (16.4) formal genug, um den Wandel poietischer Strukturen überstehen und dem Charakter ebenso wie der öffentlichen Moral die Kontinuität der Orientierung verleihen zu können, deren ein gutes Leben gerade unter der Herausforderung des Wandels bedarf (Müller 2002 c). d) Ist es unter Bedingungen des Pluralismus noch möglich, von einem übereinstimmenden Ethos zu sprechen, das durch Erziehung reproduziert würde? Vermutlich spielen in den ethischen Vorstellungen der Menschen individuelle, nicht geteilte Überzeugungen heute eine größere Rolle als früher. Im Vergleich jedoch zu dem Bestand an Überzeugungen, die auch eine moderne Gesellschaft immer noch weithin einen, ist die Bedeutung der Abweichungen eher gering. Nur fallen die übereinstimmenden Überzeugungen nicht auf – gerade weil sie sich nicht in Auseinandersetzungen und in abweichendem Verhalten manifestieren; aber auch, weil sie die fundamentaleren sind und deshalb selbstverständlicher scheinen. Möglicherweise könnte man – aus dem Abstand des Ethnologen etwa – sagen, Abweichung gehöre nicht weniger zur faktischen gesellschaftlichen Selbstgestaltung als Angleichung; auch auf die Gestalt des Charakters bezogen, schließe Reproduktion Mutation nicht aus. Diese Feststellung wäre freilich für eine objektive Bewertung ethischer Überzeugungen irrelevant. Wie weit die Überzeugungen des einzelnen mit denen anderer übereinstimmen, entscheidet nicht darüber, ob sie stimmen. Nur hängt die Möglichkeit von Objektivität – im Falle ethischer nicht weniger als im Falle sonstiger Überzeugungen – daran, daß Übereinstimmung in grundlegenden Urteilen die Regel ist (Wittgenstein PU, § 240–242).
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Stadien der Reifung Die Grundlage jeder Erklärung ist die Abrichtung. (Das sollten Erzieher bedenken.) Wittgenstein, Zettel
Die bisherigen Analysen haben A’s Erziehung durch B als einheitlichen, kontinuierlichen Zusammenhang behandelt, an dem sich vor allem verschiedenartige Strukturen gleichzeitiger Finalität unterscheiden lassen. Offenkundig ist jedoch der Verlauf der Erziehung nicht einförmig. Der Fortschritt vollzieht sich zwar kontinuierlich und allmählich. Dennoch unterscheiden sich aufeinander folgende Abschnitte der ethischen Reifung und der Erziehung auch qualitativ voneinander. Eine erste Besinnung auf das Geschehen, mit dem es die Erziehung zu tun hat, macht so viel deutlich: Zu Beginn kann B offenkundig weder an Verstehen noch
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an Verantwortlichkeit appellieren. Beides soll A unter B’s Einfluß entwickeln, um auf dieser Basis weiter erziehbar zu sein – bis er schließlich der Erziehung nicht mehr bedarf. Das ist dann der Fall, wenn er so gut versteht, wie er handeln soll, daß er für seine weitere Charakterbildung autoritative Anleitung nicht mehr nötig hat, sondern allenfalls Rat; und wenn er daher für sein Tun und Lassen die alleinige Verantwortung trägt. Die Phasen dieses Geschehens müssen sich demnach im Muster der jeweiligen Verhaltensorientierung voneinander unterscheiden. Unter einem Orientierungsmuster verstehe ich dabei die Weise, wie ein Mensch sein Verhalten von Umständen bestimmen läßt, die er wahrnimmt oder erfaßt bzw. wahrzunehmen oder zu erfassen meint. Einander ablösende Orientierungsmuster kennzeichnen also nicht, oder jedenfalls nicht per se, so etwas wie Abschnitte eines Weges charakterlicher Besserung. Ethische Reifung ist primär eine Angelegenheit strukturellen Wandels. Ich werde vier einander voraussetzende Orientierungsmuster und daher vier (oder mindestens drei) durch sie charakterisierte Stadien ethischer Reifung unterscheiden. Zur Kennzeichnung der Muster genügen hier die Stichworte: sensorische Auslösung von Reaktionen; vorläufige (insbesondere beziehungsorientierte) Motivation; übernommene, aber in gewissem Sinne endgültige ethische Motivation; verantwortete ethische Motivation. Inwiefern die Stichworte in dieser Reihenfolge Reife-Stadien bezeichnen und welche Verhaltensdimensionen von der Reifung betroffen sind, werde ich unter 16.1 erörtern. Den Stadien ethischer Reife entsprechen Etappen ethischer Erziehung. Wie diese Entsprechung aussieht, soll Abschnitt 16.2 klären. Es folgt dann mit 16.3 ein Exkurs zur Frage, warum sich die Theorie de facto stärker für die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit interessiert als für charakterliche Reifung im engeren Sinne. Die weiteren Abschnitte betreffen die vier Etappen der Erziehung. In einem ersten, eigentlich einem ›Null‹-Stadium ethischer Reife ist A’s Verhalten und Fühlen bestimmt von mitgebrachten oder konditionierten Dispositionen, auf auslösende sinnliche Reize zu reagieren. Das Erziehen muß daher selbst als Konditionieren beginnen (16.4). Die zweite Etappe der Erziehung ist von A’s vorläufigen Motivationsstrukturen geprägt, in denen B’s ethische Qualitäten und Vorgaben wirksam werden (16.5). Die dritte Etappe entspricht einem ReifeStadium, das für viele Menschen faktisch wohl das letzte ist: A entfaltet übernommene, aber ›endgültige‹ Motivationsstrukturen; B’s erzieherisches Handeln wirkt an deren tugend- bzw. untugendgemäßer Ausprägung mit und sollte ihre Emanzipation von erzieher-bezogenen Motiven fördern (16.6). Kommt es zu einer vierten Erziehungsetappe, so vermittelt sie A eine reflektierende, quasidistanzierende Perspektive, aus der ihm vorher ungeprüft bejahte Motivationsstrukturen als nicht-selbstverständliche, von ihm zu verantwortende (oder zurückzuweisende) Maßstäbe gegenübertreten (16.7). Wenn ich bei der Erörterung der Erziehungsetappen auf vier Reife-Stadien rekurriere, greife ich nicht auf Ergebnisse einer moralischen Entwicklungs-
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psychologie zurück (oder vor). Allerdings werde ich dem Leser empirische Zusammenhänge in Erinnerung rufen. Sie betreffen insbesondere die Determinanten, die das Tun und Lassen des Heranwachsenden in unterschiedlichen Phasen seines Heranwachsens kennzeichnen. Doch dürfte es sich dabei um Tatsachen handeln, die jedem bekannt sind, der überhaupt die Begriffe Kindheit und Jugend hat. Freilich bedeutet die Zuordnung der Wirklichkeit des Verhaltens zu Stadien der Reife eine Typisierung. Zwar gehen die Orientierungsmuster selbst natürlich nicht kontinuierlich ineinander über. Die Stadien lassen sich also dem Begriff nach klar auseinanderhalten. In ihrer realen Abfolge aber sind die Grenzen unscharf. Das gilt zunächst einmal insofern, als sie einander nicht vollständig verdrängen, sondern auch überlagern: Motivationsmuster, die unterschiedliche Stadien kennzeichnen, können teilweise nebeneinander auftreten. Ein Kind, das sich im Hinblick auf den Umgang mit Onkeln und Tanten auf Motive der Rücksicht ansprechen läßt (Stadium drei), mag in seinem Umgang mit den Geschwistern oder mit Hausaufgaben für die Schule noch stark auf ethisch vorläufige Motive angewiesen sein, die für Stadium zwei charakteristisch sind. Und vermutlich bleiben wir alle ein ganzes Leben lang durch das Verhalten anderer (wie auch durch alle möglichen sonstigen Umstände) auf prärationale Weise konditionierbar (Stadium eins). Hinzu kommt der Umstand, daß sich das Verhalten eines Menschen häufig nicht auf ein einziges Orientierungsmuster festlegen läßt. Zum Beispiel wird auch das ethisch motivierte Handeln eines Erwachsenen nicht selten davon mitbestimmt sein, wie er in den Augen anderer oder jedenfalls ihm wichtiger Menschen dazustehen wünscht. Schließlich sei noch bemerkt, daß sehr allgemeine Orientierungstypen auch in unterschiedlichen Reife-Stadien wiederkehren mögen. Ein Beispiel liefert die Orientierung am Vorbild. Dessen Verhaltenswirksamkeit liegt im ersten Stadium in einem quasi instinktiven Nachahmen durch das Kleinkind, während im zweiten Stadium Verhaltensweisen des Erziehers einen Beweggrund darstellen können, es ihm gleichzutun. Und in der Welt der Erwachsenen (im dritten bzw. vierten ReifeStadium) können Laster wie Dummheit, Faulheit und unkritische Vertrauensseligkeit die Form gedankenlosen Nachahmens annehmen. Schließlich mag es sogar Fälle geben, in denen man klugerweise dem Beispiel eines weisen Menschen folgt, gerade weil man sich von guten Beweggründen leiten läßt.
16.1
Was ist ethische Reifung?
a) Präformierte Entwicklung? Die Veränderung, der die Erziehung im engeren Sinne zuarbeiten soll, habe ich ethische Reifung genannt (vgl. (b)). Ich verwende somit den Ausdruck ›Reifung‹ anders als viele Psychologen und Pädagogen, die darunter ausdrücklich nur solche Veränderungen verstehen, die endogen und präformiert sind, also
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unabhängig von äußeren Einflüssen, insbesondere von Konditionierung oder sonstigem Lernen vor sich gehen. Daß es allerdings so etwas wie ethische Reife-Stadien überhaupt gibt – und nicht nur mehr und weniger gutes Handeln in einer Folge von Episoden, die ohne Wandel der Orientierungsmuster allenfalls kontinuierliche Veränderungen ethischer Qualität aufweisen: diese Tatsache gründet in einem wohl tatsächlich präformierten Schema menschlicher Entwicklung; darin nämlich, daß unterschiedliche Lebensalter des Menschen von Natur aus auf leicht variierte Muster der Verhaltensorientierung angelegt sind, die einander ablösen bzw. ergänzen. Dadurch haben diese Lebensalter den Charakter von Entwicklungsstadien und somit von Stadien potentieller ethischer Reife (vgl. Wallroth 2000, S. 138–169). b) Die Finalität der ethischen Reifung Von Reifung und Reife-Stadien kann man nur aus einem teleologischen Blickwinkel sprechen. Ob ein Mensch charakterlich mehr oder weniger reif ist, beurteilen wir anhand eines Maßstabs, der auf ein telos verweist, auf ein (nicht unbedingt erreichbares) Ideal der Reife, in dem für Unreife kein Platz mehr ist. – Unter dieser Perspektive könnte man dem Handeln eine zweifache Finalität zusprechen. Zum einen ist alles, was man als Handeln einordnen kann, eo ipso durch seine eigene ethische Qualität finalisiert (6.1) und insofern durch Beschaffenheiten, die die jeweilige Situation verlangt. Wo beispielshalber Tapferkeit verlangt ist, erreicht mein Handeln seine Qualität als gutes Handeln – sofern es dieses unmittelbare telos tatsächlich erreicht – durch eine der Tapferkeit entsprechende Motivationsstruktur. Zum anderen aber gehört zum guten Handeln zumindest eines reflektierten Menschen die Hintergrundabsicht, ein guter Mensch zu sein, also: überhaupt möglichst gut zu handeln und zu leben (6.9). Angesichts der Möglichkeit, sich im Lauf der Zeit diesem Ideal zu nähern, sollte der Hintergrundabsicht zudem die Absicht entsprechen, sich im Handeln, also charakterlich, zu bessern. Und implizit gehört diese Absicht wohl auch zum guten Charakter eines weniger reflektierten Menschen. Jedenfalls ist es plausibel, dem Handeln eines Menschen, von seinem ›unmittelbaren‹ und zeitgleichen telos – der ethischen Qualifizierung ebendieses Handelns – abgesehen, ein weniger direktes telos zuzusprechen, dem er sich im Lauf der Zeit durch Verbesserung nähern kann.5 Und zwar gibt der selbständige gute Charakter den Maßstab ab, nach dem aus ethischer Perspektive erstens von mehr oder weniger reifen Individuen, zweitens aber auch von mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadien der Reife die Rede sein kann. Denn nicht nur läßt sich z. B. die ethische Verfassung, die A in
5 Auf das telos ethischer Reifung werde ich in Kapitel 17 zurückkommen, um die Finalitätsstrukturen von Erziehung und Selbsterziehung miteinander zu vergleichen.
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seinem achten oder in seinem vierzehnten Lebensjahr zufällig erreicht hat, am Erziehungsziel messen. Vielmehr bedeutet dieses Ziel auch ein Kriterium für die Wertung der Reife-Stadien selbst. Nur wenn sich die Abschnitte eines Typs von Geschehen als solche bewerten lassen, kann ihre Abfolge zugleich Verbesserung bedeuten. Wo aber von Verbesserung nicht die Rede sein kann, da auch nicht von Fortschritt und Reifung. Gäbe es im Bereich der Charakterbildung kein strukturelles ›besser‹, so könnte sich ein Abschnitt der Erziehung vom anderen in seinem zeitlichen Abstand zum Ende der Erziehung unterscheiden, nicht aber in seinem qualitativen Abstand zu deren Ziel. Tatsächlich jedoch unterscheiden sich Reife-Stadien und Erziehungsetappen nicht nur strukturell und zeitlich voneinander. Vielmehr bleibt das frühere Stadium zugleich in gewisser Weise seinem Wert nach hinter dem jeweils nächsten zurück. Und das letzte stellt nicht nur das Ende einer Serie von ReifeStadien dar, sondern auch ihr telos. Mit der größeren oder geringeren zeitlichen Distanz zu ihm ist die größere oder geringere Distanz zu einem Soll-Zustand gegeben. Die Teleologie des Begriffs der Reifung beschränkt sich aber nicht darauf, ein Reife-Stadium (oder auch die konkret erreichte charakterliche Verfassung eines bestimmten Menschen) am Soll-Zustand zu messen. Sie scheint auch zu implizieren, daß ein vorläufiges Stadium gewissermaßen um des jeweils folgenden willen und letztlich um der zu erreichenden Reife willen da ist. Gerade aus der Perspektive des Erziehers bilden Stadien der ethischen Reifung Schritte auf dem Weg zum Erziehungsziel. Und zweifellos hat ein Reife-Stadium für das jeweils folgende eine Funktion. Was A bereits ist und was er bereits erreicht hat, ist aus dieser Perspektive durch das finalisiert, was er noch nicht ist und was er noch nicht erreicht hat. A wie B stehen unter der Erwartung, aus dem schon Erreichten ›etwas zu machen‹. A’s jeweilige Verfassung und das Stadium seiner ethischen Entwicklung prädisponieren gleichsam ein ›Material‹, das im Lauf der Zeit eine andere Gestalt erhalten soll. Auf den ersten Blick ist so viel Teleologie eher anstößig: Eine Lebensphase soll mehr ›wert sein‹ als die andere? Und das Kind lebt also jetzt ein Leben des Vertrauens auf die Eltern – nur, um irgendwann einmal sein Handeln selbst vernünftig zu steuern und zu verantworten? Aber diese rhetorischen Fragen verzerren die begriffliche Situation. Richtig ist: Der Begriff der Reifung impliziert die Idee eines Soll-Zustands. Und auf diesen trifft zweierlei zu: 1) Es gibt einen Maßstab, an dem gemessen er (und in der Regel jeder andere Zustand) vorangehenden Zuständen überlegen ist. 2) Diese Zustände haben im Hinblick auf das Zustandekommen des jeweils nächsten und insbesondere des Soll-Zustands eine Funktion. – Um diese beiden Beobachtungen nicht mißzuverstehen, sollte man allerdings folgendes beachten. 1) Wo ein Maßstab größerer und geringerer Reife angelegt wird, da werden einander folgende Verfassungen nicht als ethisch besser oder schlechter eingeordnet. Sie werden ausschließlich in der mit jenem Maßstab gegebenen Dimension miteinander verglichen; d. h.: im Hinblick darauf, nach welchem Orientie-
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rungsmuster das beurteilbare Verhalten und Fühlen des Heranwachsenden zustande kommt. Und war das Leben, das jemand vor fünf Jahren führte, seinem jetzigen Leben an ethischer Reife unterlegen, so folgt daraus keineswegs, daß sein Leben vor fünf Jahren weniger wert war als heute. (Einen Fehlschluß dieser Art begehen viele Bio-Ethiker, wenn sie aus Unterschieden, die sie an Maßstäben wie Bewußtsein, Interessenfähigkeit, Lebensqualität und dergleichen festmachen, Unterschiede im Wert des Lebens folgern.) Vielleicht suggeriert der Bezug der faktischen ethischen Verfassung auf einen ›Soll-Zustand‹ die Vorstellung, der Siebenjährige sei unvermeidlich in einer ethischen Verfassung, in der er nicht sein sollte. Etwas Derartiges ist aber keineswegs impliziert. Wie auch in vielen anderen dynamischen Zusammenhängen deutet die Distanz zwischen Ist und Soll hier nicht auf Defekt und Mangel hin. Hier wird vielmehr durch Bezugnahme auf einen Soll-Zustand der faktische Zustand zum vorläufigen Stadium: er wird in ein Geschehen eingeordnet, das seinerseits, als Reifung beurteilt, eine bestimmte Richtung aufweist – eben die Richtung auf das letzte Reife-Stadium, auf den Soll-Zustand hin. 2) Zwar hat darüber hinaus ein vorläufiges Stadium ethischer Reife eine Funktion für das Zustandekommen der folgenden Stadien. Wir haben jedoch in Abschnitt 11.5 bereits gesehen, daß sich der Sinn einer Lebensphase niemals in ihrer Funktion für eine spätere erschöpft. c) Maßstab und Aspekte ethischer Reife Nun zu dem in (b1) erwähnten Maßstab ethischer Reifung. Im Hinblick worauf sagt man von einer Person oder einer Phase ihres Lebens, sie zeige mehr oder weniger Reife als eine andere? Wenn der selbständige gute Charakter eines Menschen als Erziehungsziel gelten muß, so deshalb, weil – mit gewissen Einschränkungen – ethische Reifung überhaupt durch den selbständigen guten Charakter finalisiert ist. Er also liefert das telos ethischer Reifung und damit den Maßstab, nach dem man aus ethischer Perspektive sowohl von mehr oder weniger reifen Personen als auch von mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadien der Reife spricht. Innerhalb dieses telos kann man unterschiedliche Komponenten hervorheben. In Abschnitt 17.2 soll es vorwiegend um den Aspekt der Selbständigkeit gehen. Einstweilen orientiert sich meine Einteilung des Reifungsgeschehens in Stadien schlicht daran, daß das Leben eines Menschen im ›Soll-Zustand‹ von vernünftigen, tugendgemäßen Beweggründen bestimmt ist. Aus dieser Perspektive zeichnen sich die Stadien eins und zwei durch Muster der Verhaltensorientierung aus, die als Vorläufer erwachsener Motivationsstrukturen in Stadium drei gelten können, während in Stadium vier die Vernünftigkeit der Beweggründe nochmals vernünftiger Beurteilung ausgesetzt wird. Einen Fortschritt stellt die Folge der Stadien dar, insofern sie eine Zunahme an praktizierter Vernunft bedeutet. ›Bestimmung des Lebens durch vernünftige, tugendgemäße Beweggründe‹ kann als komplette Beschreibung des letzten Reife-Stadiums gelten. Doch lassen sich, wie soeben angedeutet, Komponenten des so beschriebenen Soll-Zustandes
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und dementsprechende Dimensionen der Reifung hervorheben. Sie spielen eine Rolle, wenn man in einem gegebenen Fall über Fortschritte auf dem Weg zu einem selbständigen guten Charakter urteilt. Insbesondere ist ein Mangel an ethischer Reife immer ein Mangel in dieser oder jener Hinsicht. Genauer: Kein Mensch ist vom Soll-Zustand in jeder Hinsicht gleich weit entfernt. d) Strukturelle und qualitative Reifung Welche Hinsichten sind es also, in denen man ethisch mehr oder weniger reif sein kann? Welche Komponenten weist das Ideal des guten Charakters, welche Dimensionen die Reifung auf? Bei der Antwort auf diese Fragen ist es hilfreich, 1) strukturelle und 2) nicht-strukturelle (›qualitative‹) Komponenten des Soll-Zustands bzw. Dimensionen der Reifung voneinander zu unterscheiden. 1) Unter strukturellen Reifungsdimensionen verstehe ich Aspekte des Verhaltens, die entweder über das Stadium der Reife entscheiden oder doch mit dem jeweils erreichten Stadium eng verknüpft sind. Es ist die Reifung in diesen Dimensionen, die in den Abschnitten 16.4–7 von Stadium zu Stadium verfolgt wird. Da ich Reife-Stadien anhand von Orientierungsmustern unterscheide, gehört zu den strukturellen Reifungsdimensionen in erster Linie das Orientierungsmuster selbst. In den über Stadium eins hinausgehenden Stadien kann man innerhalb dieses Musters zwei ›Sub-Dimensionen‹ unterscheiden, die etwa den Aspekten der Legalität und der Moralität in Kants Konzeption der Sittlichkeit entsprechen. Die Dimension der verhaltensleitenden Vorstellungen betrifft die Frage: Was muß ich je nach Anlaß tun, was lassen, um gut zu handeln? Dagegen betrifft die Dimension der Verhaltensmotivation die Frage, was mich letztlich dazu bewegt, jenen Vorstellungen zu entsprechen. Mit dem Fortschritt des Orientierungsmusters insbesondere in der zweiten Sub-Dimension wächst ferner die Selbständigkeit im Sinne ethischer Selbststeuerung. Auch Lebenserfahrung ist ein Faktor ethischer Reifung, vielleicht ab Stadium drei eine potentielle Komponente der Klugheit. Zwar dürfte die entsprechende ›Lebenserfahrenheit‹ eher zu den qualitativen Dimensionen der Reife gehören. Andererseits scheint aber auch ein entwicklungsbedingter und insoweit struktureller Faktor in sie einzugehen – wie das folgende Beispiel zeigen mag. Nehmen wir an, ich wollte einen Behinderten zu trösten versuchen, indem ich ihn darauf hinweise, daß es doch immerhin ganz bequem sei, sich im Rollstuhl fahren zu lassen. So etwas wäre bestenfalls ein völlig deplacierter Scherz. Auf jeden Fall verriete mein Verhalten Taktlosigkeit und Dummheit, einen seltenen Mangel an Verständnis und Einfühlung. Hingegen kann derselbe Hinweis aus dem Mund eines kleinen Kindes tatsächlich Anteilnahme zum Ausdruck bringen und kindliche Tugend verraten. Mir wird offenbar eine andere Art von Lebenserfahrung zugetraut und abverlangt als dem Kind. Ähnlich wie die Lebenserfahrung mögen einige andere Dimensionen der Reifung weder allein die Struktur noch allein die Qualität der jeweils erreichten charakterlichen Verfassung betreffen. Die strukturelle Seite einer solchen
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Dimension läßt dann Reife-Stadien zu, die u. a. vom Stand der kognitiven Entwicklung abzuhängen scheinen. Allen voran ist da die Dimension der Weisheit zu nennen, die ja eng mit der Lebenserfahrung zusammenhängt. (Man kann zwar mehr oder weniger weise handeln; Weisheit setzt aber die Motivationsstrukturen des dritten Reife-Stadiums voraus und bildet insofern eine strukturelle Dimension der Reifung.) Ich denke sodann an Konsequenz und Kohärenz in der Orientierung des Verhaltens; an die Integration von Maßstäben des Handelns in den inneren ›Haushalt‹ der Gefühle, der individuellen Wünsche und Zielsetzungen; an die Art der Internalisierung von Normen (einerseits Identifizierung, andererseits Bereitschaft zu reflektierender Distanz); und schließlich an das Gewissen. 2) Ethische Reifung ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit strukturellen Wandels in aufeinander folgenden Stadien. Sie vollzieht sich auch als mehr oder weniger kontinuierliches Wachstum bestimmter Qualitäten. Unterschiede der Reife können offenkundig auch da vorliegen, wo der eine schlicht besser, vernünftiger, konsequenter ... handelt als der andere; oder wo ein und derselbe Mensch innerhalb eines Reife-Stadiums allmählich von weniger qualifiziertem zu qualifizierterem Handeln fortschreitet. Anders gesagt: Es gibt auch qualitative Dimensionen bzw. Teildimensionen der Reifung, in denen nicht ein Muster ein anderes ablöst, sondern eine bestimmte ethische Qualität im Rahmen eines Musters mehr oder weniger kontinuierlich zunimmt. Nur weil und insofern es qualitatives Reifen dieser Art gibt, kann von Reifung innerhalb eines Reife-Stadiums die Rede sein; nur deshalb und insofern kann auch der Erwachsene, der ja keine Stadien ethischer Reife mehr vor sich hat6, trotzdem weiter reifen. Ich habe schon im Hinblick auf Lebenserfahrung und einige andere ReifeDimensionen bis hin zum Gewissen angedeutet, daß wir bei diesen Dimensionen vor allem an Qualitäten denken, die sich – innerhalb der Reife-Stadien zwei (bzw. drei) bis vier – verstärken oder steigern können. Das dürfte auch von einigen weiteren Aspekten der Reifung gelten. Insbesondere die Entfaltung einer den Tugenden entsprechenden Emotionalität ist wenigstens teilweise eine Angelegenheit kontinuierlichen Wachstums. Ebenso könnte man die Reinheit der Motivation hier nennen – wobei ich nicht an die Abwesenheit von Hintergedanken, sondern an die Vermeidung von Selbsttäuschung denke. Noch grundlegender sind freilich die Möglichkeiten qualitativer, nicht-struktureller Verbesserung in den beiden grundlegenden Dimensionen ethischer Reifung: Menschen können innerhalb der Stadien zwei bis vier sowohl vernünftiger als auch charakterfester (in der Verwirklichung des Bejahten zuverlässiger) wer6 Meine Einteilung des Verlaufs ethischer Reifung in vier Stadien ist natürlich nicht die einzig mögliche. Ihr Kriterium – die Rolle der Vernunft in der Orientierung des Verhaltens – arbeitet der Unterscheidung von vier Etappen der Erziehung zu, sieht aber für die weitere Reifung nach Beendigung der Erziehung keine zusätzlichen Stadien vor. Solche Stadien unterscheidet überzeugend Wallroth 2000, S. 138–169.
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den. Im dritten (und vierten) Stadium können sie außerdem ihr Spektrum an Tugenden allmählich entwickeln und erweitern. Sie können in manchen dieser Tugenden größere Fortschritte machen als in anderen. Das vierte Stadium erlaubt einen Zuwachs an Fähigkeit und Bereitschaft, die übernommenen Tugenden aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Allerdings kann sich die Qualität des Handelns in diesen Dimensionen nicht nur verbessern. Sie kann sich leider ebenso leicht – in gewisser Hinsicht sogar leichter – verschlechtern. Das gilt vielleicht nicht von allen unter (2) zu nennenden Dimensionen. Dagegen scheint umgekehrt bei allen Dimensionen, die unter (1) fallen, der Rückfall in ein vorläufigeres Stadium entwicklungspsychologisch ausgeschlossen – wir rechnen nicht mit strukturellem Rückschritt. e) Bezüge zwischen den Reifungsdimensionen Ich habe (unter (c)) bereits gesagt, daß der ethische Soll-Zustand als Orientierung an vernünftigen Beweggründen adäquat gekennzeichnet ist. Die Begriffe von Dimensionen der Reifung greifen nur unterscheidbare Strukturen und Qualitäten heraus, die auf dem Weg zu diesem telos zur Entfaltung kommen müssen. Um dies zu verdeutlichen und Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich zwei Aspekte der bisherigen Darstellung noch einmal zum Bewußtsein bringen: 1) Es wäre ein Irrtum zu meinen, jede der angeführten Dimensionen lasse sich von den übrigen begrifflich isolieren. 2) Das vorgestellte Schema sieht nicht vor, daß jedes Reife-Stadium in jeder Reifungsdimension determiniert ist. 1) Zwischen den verschiedenen Dimensionen ethischer Reifung bestehen logische und empirische Zusammenhänge. Sie überschneiden sich gewissermaßen. Zum Beispiel eignet sich ein Kind im zweiten oder dritten Stadium die jeweils angemessenen Motivationsstrukturen nicht an, ohne gleichzeitig das entsprechende Wissen um die richtigen Beweggründe zu erwerben. Das Wissen erwirbt es nicht, ohne zugleich zu lernen, wie man es in dieser oder jener Situation in Verhalten übersetzt. Und ethische Selbständigkeit ist nichts anderes als ein Aspekt der Umsetzung vernunftgeleiteter und vernünftig reflektierter tugendgemäßer Motivationsstrukturen. 2) Selbstverständlich ist auch nicht jedes Stadium der Reifung dem Fortschritt in jeder ihrer Dimensionen gleichermaßen zugänglich. Woran liegt das? Es liegt im Begriff eines Stadiums, daß ein Reife-Stadium das andere voraussetzt. Aber auch manche Dimensionen der Reifung setzen andere voraus – in dem Sinne nämlich, daß von der einen erst dann überhaupt die Rede sein kann, wenn das Subjekt in der anderen ein bestimmtes Reife-Stadium erreicht hat. So kann z. B. von der Dimension des praktischen Vernunftgebrauchs nicht die Rede sein, bevor in der Dimension der Verhaltensorientierung das Stadium bloßer Reaktion auf Reize durch ein anderes Orientierungsmuster überwunden ist – durch die Orientierung an vorläufigen Beweggründen, mit der die Vernunft ihre Arbeit erst aufnimmt. Einige weitere Beispiele seien genannt: Nur in dem Maß, in dem sich die Orientierung des kindlichen Verhaltens von erzieherbezogenen Motiven unab-
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hängig macht, wird Tugend im eigentlichen Sinne möglich. Ohne praktisches Wissen fehlt kritischer Reflexion der Boden. Und Weisheit setzt Lebenserfahrung einer bestimmten Art voraus.
16.2
Was bedeuten die verschiedenen Aspekte ethischer Reifung für die Etappen der Erziehung?
In der Einführung zu diesem Kapitel sage ich, den Stadien ethischer Reife ›entsprächen‹ Etappen ethischer Erziehung. Wie sieht nun diese Entsprechung aus? a) Ist ethische Reife dasselbe wie Erzogen-Sein? b) Inwiefern trägt Erziehung zur ethischen Reifung bei? c) Wie wirken sich ethische Reifung und ReifeStadien ihrerseits auf die Erziehung aus? Inwiefern stützt sich Erziehung auf Ergebnisse ethischer Reifung? a) Zunächst ist ein gewisser Unterschied der Finalität zwischen Reifung und Erziehung zu beachten. Ethische Reifung ist nach dem Gesagten faktisch niemals abgeschlossen. Das telos, der Soll-Zustand, der diese Reifung zum Abschluß bringen würde, schwebt uns eher als regulative Idee vor, der wir unser Handeln immer weiter annähern können. Anders steht es in dieser Hinsicht um die Erziehung. Zwar erreicht auch Erziehung ihr telos allenfalls näherungsweise. Doch kann sie nicht, wie die ethische Reifung, prinzipiell beliebig fortschreiten. Und das liegt nicht daran, daß sie aus Gründen, die der Sache äußerlich wären, irgendwann einmal abgebrochen werden müßte. Erziehung kommt vielmehr zu einem Abschluß, sobald sie zur Erreichung ihres telos nichts mehr beitragen darf oder nichts mehr beitragen kann (vgl. 17.3) – fast so, wie auch eine technische poiesis zum Abschluß kommt, sobald sie zur Realisierung ihres telos nichts mehr beizutragen hat, selbst wenn das Produkt nicht vollkommen oder gar eher minderwertig ausgefallen ist. Fast genauso, aber nicht ganz so. Denn der Erzogene – auch der schlecht Erzogene – steht unter dem ethischen Anspruch, die Arbeit des Erziehers (wie natürlich auch das eigene bisherige Bemühen) durch ›Selbsterziehung‹ fortzusetzen (Kapitel 17). Das telos der Erziehung bleibt dem Erzogenen gewissermaßen in transformierter Form – im Ideal vollkommener ethischer Reife – erhalten: als gegenwartsbezogene Hintergrundabsicht des Handelns und als zukunftsbezogene Absicht der Selbsterziehung. ›Transformation‹ ist in zwei Hinsichten angesagt. Erstens nämlich wird aus einem telos von B’s Handeln (das in den von A oder B verfolgten Absichten gar nicht vorkommen muß, damit dieses Handeln Erziehung ist) ein telos von A’s Handeln, das von A intendiert sein muß, damit durch dieses Handeln Selbsterziehung stattfindet. Die zweite Transformation betrifft die Spezifizierung des telos. Das Erziehungsziel ist nämlich im Sinne einer rudimentären oder einstweiligen Reife zu verstehen: der erwachsene gute Charakter, den Erziehung
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herbeiführen soll, ist der Charakter eines ›jungen Erwachsenen‹. Der Abschluß der Erziehung schließt daher zwar weitere Erziehung aus, eröffnet aber eine Phase weiterer Reifung. Das telos der Selbsterziehung bringt also neue Ansprüche mit sich (vgl. Wallroth 2000, S. 159–169). Im übrigen bildet natürlich das Ideal der ethischen Reife als solches die Grundlage auch des Erziehungsziels. Nur deshalb ist es sinnvoll, die Unterscheidung von Etappen der Erziehung an der Unterscheidung von Stadien der Reife zu orientieren. Und aus demselben Grund liefert jenes Ideal der ethischen Reife den Maßstab, an dem man eine vorgeschlagene Spezifizierung des Erziehungsziels mißt – und mittelbar auch die Qualität eines faktisch erreichten Erziehungsergebnisses und den ethischen Fortschritt eines Heranwachsenden zu unterschiedlichen Zeiten des Erziehungsgeschehens.7 b) Wo aber findet Erziehung im Kontext ethischer Reifung überhaupt ihre Aufgabe? Die Ablösung eines Reife-Stadiums durch das andere scheint nicht auf erzieherischen Einfluß zurückzugehen, sondern psychischen Gesetzen zu folgen. Genauer: Ein Minimum an sozialisierend wirkender Umgebung dürfte genügen, um jene Abfolge von Mustern der Verhaltensorientierung auszulösen, die im Menschen angelegt zu sein scheint. Diese Umgebung muß nicht unbedingt die kommunikative Präsenz eines Erziehers enthalten. Besteht also die Funktion der Erziehung etwa darin, innerhalb eines ReifeStadiums den Heranwachsenden von einer schlechten Verfassung in eine gute zu befördern? Auch das klingt nicht sehr plausibel. Erziehung hat es nicht (zumindest nicht immer!) mit kleinen Teufeln zu tun. Sie findet nicht eine verdorbene Verhaltensorientierung vor, an deren Stelle sie eine gute setzen soll. Eher läßt sich ihre zentrale Aufgabe so verstehen: Die Abfolge von Strukturen der Verhaltensorientierung ist tatsächlich weitgehend eine Frage angelegter Entwicklung. Die tatsächliche Orientierung jedoch ist zwar in groben Umrissen ebenfalls angelegt (vgl. 11.3 (c)); doch ist es Sache der Erziehung, das Angelegte so zu kultivieren, daß aus unzuverlässigen und nur begrenzt erwünschten Verhaltensorientierungen möglichst verläßliche und erwünschte werden, und gegebenenfalls zur Überwindung unerwünschter Orientierungen beizutragen. Mit anderen Worten: A’s Erziehung – und das heißt: die Qualität von B’s Handeln – spielt eine entscheidende Rolle in der ›Füllung‹ jener Strukturen von A’s Verhaltensorientierung. Ein Reife-Stadium ist zwar durch das Muster der Verhaltensorientierung charakterisiert. Ob aber ein solches Muster – z. B. das des zweiten Stadiums und speziell die erzieher-bezogene Motivation – bei A vor allem die Form der Angst vor B oder aber die der Bewunderung annimmt; und 7 Was heißt hier ›messen‹? Kann man z. B. sagen, wie nahe ein Heranwachsender in seiner ethischen Entwicklung dem Erziehungsziel (und dem Ideal der Reife) gekommen ist? Sind quantitativ vergleichende Beurteilungen hier überhaupt möglich? Welche Kriterien kommen dabei ins Spiel? – Offensichtlich ist jedenfalls, daß wir Unterscheidungen der genannten Art, wie vage auch immer, vornehmen.
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ob A an B’s Beispiel geduldiges oder eher ungeduldiges Verhalten lernt: das entscheidet sich nicht an A’s Reife-Stadium, sondern weitgehend an der Qualität von B’s Handeln. c) Schließlich finden Reife-Stadien in Etappen der Erziehung insofern eine Entsprechung, als der strukturelle Wandel in A’s Verhaltensorientierung einen Wandel in B’s Einfluß auf ihn nach sich zieht – einen Wandel der Art und Weise, wie B’s Handeln auf A’s Verhalten und schließlich auf seine charakterliche Verfassung einwirkt. Mit dem Wandel der Orientierungsmuster bei A wandelt sich die Bedeutung von B’s kommunikativer Präsenz für A’s Leben. Denn es wandelt sich die Art und Weise, wie A unter B’s Einwirkung lernt. Je nach Reife-Stadium des Heranwachsenden nimmt die Erziehung bereits etablierte Orientierungsmuster sozusagen in Anspruch, um ihre Wirkung zu tun – wodurch sie zugleich die Prägung der Muster vorbereitet, die in späteren Stadien das Verhalten des Heranwachsenden bestimmen werden. Wie das näherhin zu verstehen ist, wird die Diskussion der einzelnen Erziehungsetappen in 16.4–7 zeigen. Zuvor jedoch ein paar Bemerkungen zu einer unter Erziehungswissenschaftlern anzutreffenden Neigung, einseitig der kognitiven Dimension der ethischen Reifung ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
16.3
Die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit läßt sich nicht isoliert identifizieren
Unter den Dimensionen, in denen sich ethische Reifung vollzieht, hat bei den Erziehungswissenschaftlern der letzten Jahrzehnte die Dimension der charakterlichen Qualifizierung im engeren Sinne – der Erwerb von Tugend – vielleicht das geringste Interesse auf sich gezogen. Die Gründe hierfür dürften komplex sein. Einer davon ist die ideengeschichtliche Karriere der Selbständigkeit, die das Erziehungsziel Tugend verdrängt hat und von der im folgenden Kapitel noch gehandelt werden soll. Aber auch die Dimension der praktischen Vernunft findet in der Erziehungswissenschaft mehr Aufmerksamkeit als die der Charaktertugend. Dies wiederum liegt zum Teil daran, daß lange Zeit fast alle Autoren der Erziehungswissenschaft wie auch der Philosophie jeder Form von Tugendethik mit Skepsis begegnet sind.8 Zum Teil jedoch liegt es auch daran, daß sich kognitive Begriffe allem Anschein nach eher operationalisieren lassen als solche der effektiven Motivation. Für den Fortschritt im praktischen Urteil scheint es eher als für den Fortschritt in der Tugend Kriterien zu geben, die eine intersubjektive Überprüfung erlauben. 8 Ein notorisches Beispiel liefert die weitgehend oberflächliche und unzutreffende Kritik, die Kohlberg wiederholt (z. B. 1981 b, S. 2, 31, 38 f., 78–81) an einer aristotelisch inspirierten Tugendethik, als »bag of virtues« approach bezeichnet, übt. Vgl. hierzu Wallroth 2000, insbes. S. 33 f. und Müller 1998, S. 13 f.
16 Stadien der Reifung
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Auch wenn das so ist, folgt daraus natürlich nicht, daß die charakterliche Reifung eines Heranwachsenden für die Psychologie oder gar für die Erziehungswissenschaft kein Thema ist. In der Erziehung geht es primär um die Qualifizierung des Heranwachsenden zum guten Handeln. Praktische Vernünftigkeit steht im Dienst des guten Lebens, nicht umgekehrt. Wofern also der Stand der ethischen Überzeugung nicht eo ipso den Stand der charakterlichen Qualifizierung signalisiert, bleibt das zentrale Thema der Erziehungswissenschaft offenbar ausgespart, solange sich die Erörterung der ›Moralentwicklung‹ auf deren kognitive Seite beschränkt. Allerdings ist gar nicht klar, ob sich Vernünftigkeit tatsächlich leichter überprüfen läßt als die Qualität des Charakters. Lawrence Kohlberg z. B. beschränkt sich nicht nur auf die Spezifizierung und Untersuchung kognitiver Stufen moralischer Entwicklung; er beschränkt sich auch auf die Analyse empirischer Befunde, die das Urteil über hypothetische Fälle betreffen und schon deshalb eher theoretische als praktische Denkformen und Überzeugungen widerspiegeln. Denn indem man feststellt, mit welcher Begründung der jeweils Befragte die eine oder andere Lösung eines imaginären praktischen Dilemmas befürwortet, stellt man sicher nicht eo ipso fest, welche Motivationsstrukturen er sich lebenswirksam zu eigen gemacht hat und wie klug er unter dem Eindruck realer Umstände entscheiden würde.9 Aus tugendethischer Perspektive sind Ausbildung eines guten Charakters und Entwicklung der praktischen Vernunft – ebenso wie ethisches SelbständigWerden – Aspekte eines einzigen Geschehens ethischer Reifung. Zwar gehen ›an den Rändern‹ die Manifestationen von Charakter und Vernunft auseinander: Zum Beispiel kann die situationsbezogene Vernunft der guten Gesinnung hinterherhinken; und auf der anderen Seite kann es an Charakterfestigkeit fehlen, so daß gelegentlich der richtigen Vorstellung nicht die Umsetzung ins Handeln entspricht. Im großen und ganzen aber läßt sich die praktische Rationalität eines Menschen nicht unabhängig von der charakterlichen Qualität seines Verhaltens prüfen – und umgekehrt. Denn was er uns sagt, läßt lediglich auf theoretische Vorstellungen schließen, solange er nicht weitgehend in Praxis umsetzt, was er 9 Kohlberg gibt dies zu, wenn er beispielsweise schreibt: »Whereas moral judgement interviews are designed to tap hypothetical reasoning, moral action interviews are designed to elicit practical reasoning, that is, reasoning about what the subject actually would or did do in a particular dilemma« (1981 a, S. 36). Das hindert ihn aber keineswegs daran, moralische Entwicklungsstufen ausschließlich mit Blick auf solchermaßen ›hypothetisches‹ Denken zu definieren und zu überprüfen (S. 4, 10); »our test of moral stage measures moral competence rather than performance« (S. 35). ›Moralische Kompetenz‹ jedoch kann bestenfalls ein quasi-technisches Erfordernis praktischer Vernunft bezeichnen (vgl. 14.3 (b), 14.4 (4), 18.3 (e)). Und was bedeutet eigentlich »reasoning about what the subject actually would or did do in a particular dilemma«? Es bedeutet jedenfalls nicht: tatsächliches praktisches Überlegen angesichts eines Dilemmas, also nicht: auf Entscheidung ausgerichtetes Überlegen. Dazu kommt, daß nicht jedes handlungswirksame Bewußtsein von praktischen Zusammenhängen als Überlegung explizit wird. Vgl. auch die gründliche Kohlberg-Kritik bei Wallroth 2000, S. 48–69.
356
Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
für richtig erklärt (das schränkt die Tragweite von Kohlbergs Ergebnissen ein); und umgekehrt erhält, was er tut, den Charakter des guten Handelns erst dadurch, daß er die Gründe benennen kann, die sein Verhalten geleitet haben. Die Frage, ob bzw. wie sich Fortschritt in beiden Bereichen, möglichst auch differentiell, mit wissenschaftlichen Methoden überprüfen läßt, mag für die empirische Erziehungswissenschaft von Bedeutung sein. Doch kann von der Lösung dieses Problems natürlich nicht die Entscheidung darüber abhängen, was als Kriterium für den Stand moralischer Entwicklung gelten kann, den eine Person erreicht hat. Freilich mag gerade in dem soeben hervorgehobenen Umstand, daß Entwicklung der praktischen Vernunft und Entwicklung des Charakters weitgehend Hand in Hand gehen, ein weiterer Grund für die Vernachlässigung charakterlicher Reifung in der Erziehungswissenschaft liegen. Denn es sind ja dieselben Motivationsstrukturen, die in beiden Dimensionen der Reifung internalisiert und entfaltet werden. Lernt ein Kind z. B. Rechte eines anderen respektieren, so erwirbt es einerseits die Überzeugung bzw. das Wissen, daß in den und den Situationen diese und jene Ansprüche Gründe darstellen, sich so oder so zu verhalten. Andererseits jedoch und ineins damit erwirbt es eine affektive Disponierung, sich in solchen Situationen handelnd auf solche Ansprüche einzulassen. Vernunft und Charakter nehmen im selben Geschehen der Übernahme und der Aneignung von Motivationsstrukturen zu. Und die jeweils erreichte Verfassung manifestiert sich auch weitgehend im selben Verhalten. Daß es sich hier um verschiedene Aspekte der Reifung handelt, wird erst deutlich, wo, an den soeben erwähnten ›Rändern‹, Qualifizierung der Vernunft und Qualifizierung des Charakters einander nicht völlig entsprechen. Allerdings sind diese ›Ränder‹ gerade aus erzieherischer Perspektive keineswegs belanglos. Insbesondere liegt eine wichtige Aufgabe der Erziehung darin, dem Heranwachsenden zu helfen, eingesehenen Erfordernissen auch im Handeln zu entsprechen. Wer sich mit ethischer Reifung beschäftigt, hat also keinen guten Grund, die Frage auszuklammern, wie zuverlässig der Heranwachsende in Handeln umsetzt, was er für richtig erklärt. Die Tendenz von Erziehungswissenschaftlern, das Thema Charakterbildung zugunsten des Themas Entfaltung der praktischen Vernunft zu vernachlässigen, ist also erklärbar, aber nicht entschuldbar.
16.4
In einer ersten Etappe der Erziehung läßt sich das Kind zu modifiziertem Verhalten konditionieren, nicht motivieren
Wie Aristoteles, sich auf Platon berufend, bemerkt (EN II 3, 1104b8–13; vgl. auch 6.5 (f)), hängt das Gelingen der Erziehung weitgehend davon ab, daß das Kind durch positive bzw. negative ›Sanktionierung‹ rechtzeitig lernt, gewisse Dinge gern zu tun und andere als unerfreulich zu erleben. Kinder können (und sollen) durch diese vorläufige Orientierung an angenehmen bzw. unangenehmen
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Konsequenzen dafür aufgeschlossen werden, eines Tages das Richtige auch aus den richtigen Gründen zu tun und zu lassen. Anthropologie, Psychologie und alltägliche Erfahrung scheinen dieser These recht zu geben. Die Verhaltens- und Reaktionsmuster, die ein Kind mit auf die Welt bringt, liegen im Bereich einer instinktiven Antriebsstruktur. Sie liegen nicht in irgendwelchen verhaltensorientierenden Vorstellungen. Und erst recht nicht in Kriterien, nach denen es Vorgaben und Angebote seiner Umgebung beurteilen könnte. Angeborene und dann auch erworbene Impulse und Schemata der Reaktion auf Reize kennzeichnen aber nicht nur die erste Lebens- und Lernphase des Kindes: ihre weitere Entfaltung und Gestaltung ist – durch Etablierung von Gewohnheiten und Tendenzen – auch für die Prägung der Verhaltensmuster späterer Reife-Stadien bestimmend. Solche Reaktionsschemata liefern daher die ersten Ansatzpunkte der Erziehung. Mit dieser Feststellung leugnet man keineswegs, daß Erziehung es mit der Vernunft und dem Willen des Menschen zu tun hat. Aber Vernunft und Wille machen zunächst einmal eine Lebensform aus (oder jedenfalls: durchgängige Komponenten einer Lebensform), nicht Attribute, die man am Individuum von einem bestimmten Alter an zeitweise antrifft. Als Lebensform charakterisiert die Vernunft das Leben des Menschen in seinen anatomischen, physiologischen und Antriebsstrukturen nicht weniger als in seiner Fähigkeit zu denken, in seiner Sozialität und in seinen kulturellen Schöpfungen. In diesem Sinne prägt Rationalität das Leben eines Menschen von seiner Empfängnis bis zum Tod, also auch die Potenzen und Tendenzen des Säuglings – und den Gang seiner Entwicklung. (Vgl. Müller 1997, S. 163–188; 1998 a, S. 57– 71.) Am Anfang dieser Entwicklung steht Rationalität als Anlage: als Fähigkeit und Tendenz, bestimmte rationale Fähigkeiten zu erwerben, sich in diesen Fähigkeiten allmählich zu qualifizieren und die jeweils erworbene Verfassung situationsentsprechend zu aktualisieren. Die tatsächliche Orientierung an Gründen des Denkens, Machens, Handelns will selbst erst gelernt sein. Die Reaktion des Säuglings auf seine Umgebung – einschließlich des Erziehers – orientiert sich ebenso wenig wie sein sonstiges Verhalten an Gründen. Die Muster seines Verhaltens sind keine Motivationsstrukturen, sondern werden diesen später Platz machen. Erziehung beginnt also nicht mit dem Appell an Einsicht, sondern damit, daß das Erzieher-Verhalten (wie die Umgebung überhaupt) als Reiz auf bereits vorhandene Reaktionsschemata des Säuglings trifft. Und sie wirkt zunächst dadurch, daß sie diese Schemata so, wie es dem Lernverhalten des Säuglings entspricht, modifiziert. Sie muß sich unweigerlich der Struktur einer prärationalen Orientierung des Verhaltens an Reizen anbequemen, um die vorhandenen Schemata, wo nötig, durch Konditionierung zusehends zu modifizieren; und um die künftige Entwicklung in erwünschte Bahnen zu lenken. An dieser scheinbar vernunftfeindlichen Einsicht10 führt kein Weg vorbei. Die entgegengesetzte Auffassung will sich nicht damit abfinden, daß Rationalität als 10 Vgl. auch das Motto dieses Kapitels, das Wittgensteins Zetteln (§ 419) entnommen ist.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Anlage auf sozusagen nicht-rationalen Wegen in Rationalität als Vollzug, als Fähigkeit, als Verfassung übergehen und übergeführt werden muß. Sie tut, als könnte und sollte B von vornherein auf A’s Vermögen setzen, sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Entscheidung aber ist eine Angelegenheit der Gründe. In letzter Konsequenz läuft daher eine solche Auffassung auf die Idee hinaus, daß der Erzieher eigentlich bereits dem Kleinkind Gründe dafür zu liefern hätte, sich so zu verhalten, wie er es ihm nahelegt (vgl. 11.3 (d)). Wenn das aber offenkundiger Unsinn ist: wie kann ein Mensch dann dahin gelangen, sich überhaupt an Gründen zu orientieren – insbesondere an Beweggründen, etwas zu tun oder zu lassen – und dann auch noch zu wissen, was ein guter Grund wofür ist? Wir können ihm ja keine Gründe geben, von einem prärationalen Verhalten, das von Gründen ›nichts weiß‹, auf ein rationales umzustellen, das sich an ihnen orientiert. Zur Orientierung an Gründen gelangt man nicht dadurch, daß man einen guten Grund hat (und beherzigt), sich an Gründen zu orientieren. Um A zur Einsicht zu bringen, kann B nicht an A’s Einsicht appellieren. Erziehung beginnt also wohl oder übel konditionierend. Um sich dieser Erkenntnis zu entziehen, muß man entweder tatsächlich die phantastische Annahme machen, daß jeder über ein (für den Einstieg ins Leben hinreichendes) Arsenal von Motivationsstrukturen von Geburt an verfügt und sich in seinen Reaktionen auf die Umgebung und speziell auf die Suggestionen des Erziehers insgeheim an entsprechenden Beweggründen orientiert (daß er also etwa das Beispiel des Erziehers als vernünftigen Grund behandelt, sich ebenso zu verhalten, und dergleichen). Oder man muß von einer Anlage ausgehen, der entsprechend das Kleinkind (bei pfleglicher Behandlung) ein solches Begründungsarsenal von selbst auf der Basis angeborener und erworbener Schemata von Reiz und Reaktion entwickelt. Oder aber man muß dekretieren, daß wirkliche Erziehung erst beginnt, wenn das Kind – auf welchen Wegen auch immer – bereits in eine Verfassung gelangt ist, in der es sich an Gründen orientiert. Die erste dieser Positionen wird kaum jemand einnehmen wollen. Die zweite kommt der Wahrheit bereits sehr nahe. Denn bei manchen Motivationsstrukturen scheint es durchaus so etwas wie allmähliche Emergenz von Rationalität aus instinktiven oder auch erworbenen Verhaltensmustern zu geben (Müller 2002b). Doch scheint das bloße ›Wachsen-Lassen‹ nicht zu genügen, damit das Kind jene qualifizierte praktische Rationalität entfaltet, um deren Erwerb es in der Erziehung geht. A muß offenbar auch – und zwar bevor B an die Motive der Erziehungsetappen zwei und drei appellieren kann – durch Konditionierung zu Unterlassungen und Vollzügen veranlaßt werden, in denen A einstweilen ohne Einsicht und in einzelnen Bereichen das praktiziert, woraus allmählich jenes vernünftige Verhalten werden soll, das einer allgemeinen Struktur der Orientierung an Beweggründen entspricht. Die dritte Position ist eher bequem als bedenkenswert. Sie entlastet den Erziehungswissenschaftler zwar von einem theoretischen Problem; aber nur dadurch, daß sie den Begriff der Erziehung auf willkürliche Weise einengt. Die Frage, wie
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denn das Kind – durch Erziehung oder sonstwie – dazu gelangt, sein Verhalten an Gründen zu orientieren, läßt sie offen. Diese Frage ist nicht nur eine der interessantesten in der Erziehungsphilosophie. Sie ist selbstverständlich auch von höchstem praktischem Interesse. Denn in dem Alter, in dem der Heranwachsende beginnt, sich wirklich von Beweggründen leiten zu lassen, sind die Weichen für die Qualität seines künftigen Handelns weitgehend schon gestellt, und für tiefenwirksame Korrekturen ist es dann in aller Regel zu spät.11 Bedeutet aber Konditionierung nicht menschenunwürdige Manipulation? – Das wäre ein Mißverständnis. Der Unterschied liegt auch nicht lediglich darin, daß man bei ›Manipulation‹, aber nicht bei ›Konditionierung‹ an unehrenhafte Ziele und an fragwürdige Inhalte denkt. Vielmehr ist der Ausdruck ›Manipulation‹ (in seiner negativ wertenden Verwendung) da am Platz, wo die Konfrontation mit Gründen oder auch der Appell an spontane Reaktionen gut und möglich wären und trotzdem durch die Einwirkung von Determinanten ersetzt werden sollen, die das Gegenüber nicht durchschaut oder denen es sich nicht entziehen kann; und da, wo Konditionierung selbständiges vernünftiges Handeln nicht vorbereiten, sondern verhindern soll (vgl. 11.4 und 11.8). Durch Manipulation versündigt man sich am Gegenüber durch Mangel an Respekt vor dessen rationalen Fähigkeiten und Dispositionen. Das Kleinkind jedoch ist ein Gegenüber, das genau diese Fähigkeiten und Dispositionen erst noch zu entwickeln und zu erwerben hat – und das ohne Konditionierung nicht dazu gebracht werden kann, sie in qualifizierter Gestalt zu entwickeln und zu erwerben. Weit davon entfernt, Respekt vermissen zu lassen, ist sie vielmehr beim Kleinkind vonnöten, um allererst das herbeizuführen, was diesen Respekt verlangt. B wird durch solches Konditionieren da, wo A erwünschte Muster des Reagierens und Nicht-Reagierens nicht als quasi instinktive Tendenzen und Neigungen mit auf die Welt bringt oder (unter dem Einfluß der Umgebung) von selbst entwickelt, A’s Verhalten an gewisse Auslöser binden und von anderen lösen. Und zwar durch intendiertes oder auch bloß faktisches Vormachen, Dulden, Arrangieren, Disponieren, Unterbinden, Frustrieren, Intervenieren, Verstärken, Bestrafen usw. (Wobei ›Bestrafen‹ im rein verhaltenspsychologischen Sinne des Entzuges angenehmer und des Vermittelns unangenehmer Reize zu verstehen ist. Im übrigen muß uns die Unterscheidung von Formen der Konditionierung hier nicht weiter interessieren.) Daß B durch Verhalten der genannten Art auf A konditionierend wirken und ihm dadurch prärationale Reaktionsmuster beibringen kann, beruht natürlich wiederum auf bereits etablierten Mustern prärationaler Verhaltensorientierung.
11 Erziehungswissenschaftler und sogar Politiker dürften dies wissen. Darauf hinzuweisen und Konsequenzen daraus zu ziehen, scheint aber nicht der political correctness zu entsprechen. Vgl. Müller 2000 c.
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Ein Beispiel erzieherischen Konditionierens liefert die Art und Weise, wie Eltern auf das Schreien des Säuglings eingehen oder nicht eingehen, wie sie auf die Zornesausbrüche des Kleinkinds, auf seine Wünsche, zu trinken und zu essen, usw. reagieren. So mag etwa sachgerechter Aufschub von Triebbefriedigung, angemessen placiert und dosiert, der Tugend der Mäßigung den Weg bereiten. Andererseits jedoch kann unkluges Warten-Lassen (›um das Kleine nicht von vornherein zu verwöhnen‹) beim Säugling Ängste bewirken und so einem Mangel an Zuversicht, Mut und Lebensfreude Vorschub leisten. Ein anderes Beispiel ist uns in 11.8 (b) begegnet: B führt bei gegebenem Anlaß A die Hand und spricht ihm ein ›Danke‹ vor. Dadurch kann sich bei A ein Reaktionsmuster etablieren, das schließlich – unter dem Einfluß von Vorbild, Stellungnahme, Erläuterung usw. – zur Emergenz der Motivationsstruktur der Dankbarkeit führt. In ihrer ersten Etappe ist Erziehung demnach auf Schemata von Reiz und Reaktion verwiesen, und zwar in drei Hinsichten: Erstens findet B bei A ausschließlich dieses Muster der Verhaltensorientierung vor. Zweitens sind es Schemata von Reiz und Reaktion, die A’s Lernen steuern. Das gilt auch, wo er unter dem Einfluß von B’s Verhalten neue bzw. modifizierte, differenziertere Schemata dieser Art erlernt. B leitet also durch Konditionieren an. Drittens können A’s angeborene oder erworbene Reaktionsmuster Motivationsstrukturen präformieren, die sich in der zweiten und insbesondere in der dritten Etappe der Erziehung entfalten sollen.
16.5
Die zweite Erziehungsetappe ist durch ›äußerliche‹ Beweggründe gekennzeichnet
Das Verhalten von Tieren bringt man mit Antrieben, Reizen und Auslösern in Verbindung, nicht aber mit Beweggründen. Im Verhalten von Kindern finden wir nun den Übergang vom einen zum anderen. So beginnen z. B. die pädagogischen Institutionen von Lohn und Strafe in der ersten Etappe der Erziehung als bloße Konditionierungsmaßnahmen. Nach einiger Zeit jedoch weist das Verhaltensrepertoire des Kindes die Komplexität und die sprachlichen Ausdrucksmittel auf, die es rechtfertigen, ihm ein Begreifen relevanter Zusammenhänge und entsprechende Motive zuzuschreiben. Man denke etwa an eine Situation, in der das Kind ein ansonsten attraktives Verhalten unterläßt, weil es in der Aussicht auf Strafe einen Grund sieht, darauf zu verzichten. Zwar liegt der Beweggrund des Kindes hier ›bloß‹ im Wunsch, sich unangenehmen Konsequenzen zu entziehen. (Und das gelingt, wie man weiß, nicht nur Kindern gelegentlich auch ohne Verzicht auf das sanktionierte Verhalten! Entfällt so der äußerliche Beweggrund, fehlt jedes Motiv, das Verhalten zu unterlassen.) Dennoch ist Motivierung durch die Aussicht auf Strafe, pädagogisch gesehen, ein entscheidender Fortschritt gegenüber jenem Verhaltensverzicht, der unmittelbar aus konditionierenden Erfahrungen unliebsamer
16 Stadien der Reifung
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Folgen in der Vergangenheit resultiert. Allgemeiner gesprochen: Ein wichtiger Fortschritt in der Erziehbarkeit des Kindes – und somit auch in seiner ethischen Reifung – liegt darin, daß an die Stelle bloßer Auslöser seines Tuns und Lassens überhaupt Beweggründe treten. Worin liegt der Unterschied? Diese grundlegende Frage der Handlungsphilosophie kann ich hier nur durch die skizzenhafte Formulierung eines Kriteriums beantworten: Ein verhaltensrelevanter Umstand, eine Determinante des Verhaltens, konstituiert für X, das Subjekt, (zumindest) da einen Beweggrund, wo die Verhaltensrelevanz des Umstands sich nicht nur im entsprechenden Verhalten selbst manifestiert, sondern – auch da, wo X sich nicht entsprechend verhält – von X als Verhaltensrelevanz anerkannt wird und artikuliert werden kann.12 Worin aber liegt der Fortschritt? In ebendiesem Vermögen, einen Beweggrund als solchen zu identifizieren – einem Vermögen, das für typisch menschliches Verhalten konstitutiv ist. Gründe, etwas zu tun oder etwas zu denken, sind die eigentlichen logoi des zoion logon echon, des ›Begründung bereithaltenden Lebewesens‹. Was das Kind artikulieren kann, das kann es auch verstehend aufnehmen. Als Beweggründe des Handelns sind ihm auch Aspekte der Wirklichkeit zugänglich und vermittelbar, die sich nicht in einem sinnlichen Empfinden niederschlagen, das als bloßer Auslöser oder Verstärker von Verhalten in Frage käme. Der Anblick eines Glases Saft z. B. kann entweder das Trinken bloß auslösen oder in einen Beweggrund eingehen, zu trinken. Die vergangene Begegnung mit der heißen Herdplatte kann als bloße Ursache oder als Komponente eines Grundes am Werk sein, wenn ich in der Folge auf Berührung verzichte. Dagegen kann der Anspruch des anderen Kindes auf ein Spielzeug nicht wie ein Reiz den Verzicht auf ungenierten Zugriff auslösen; wohl aber kann er ihn motivieren. Oder, um nicht bereits auf das dritte Reife-Stadium vorauszugreifen: Ein Verbot, den Fernseher ohne besondere Erlaubnis zu bedienen, kommt nicht als bloßer Auslöser, sondern nur als Beweggrund entsprechenden Verhaltens in Betracht. Die zweite Etappe der Erziehung ist nicht von der Orientierung an Sanktionen allein geprägt, sondern allgemeiner davon, daß es ›äußerliche‹ Gründe sind, von denen sich das Kind zu einem Verhalten bewegen läßt, das nicht immer von sich aus attraktiv ist oder attraktive Folgen verspricht. An welche Gründe ist dabei zu denken? Belohnung und Bestrafung sind erzieherische Maßnahmen. Der Erzieher kündigt sie an oder praktiziert sie, um dies oder das zu erreichen. Aber auch ganz unabhängig von derartigen Intentionen liefert die Person des Erziehers dem
12 Wie verhält sich derartiges ›Anerkennen von Verhaltensrelevanz‹ zum Feststellen bloßer Kausalität? Nach Anscombe (1963, S. 9–25) ist hier zunächst die Weise zu beachten, wie X die Frage beantwortet, warum er sich so-und-so verhalte. Hat man durch Verdeutlichung dieses Kriteriums analysiert, was ein Ausdruck der Form ›Aus dem-und-dem Grund verhält sich X so-und-so‹ bedeutet, bleibt noch zu klären, was es heißt, das Beherzigen eines solchen Grundes als richtig zu behandeln. Vgl. hierzu Müller 2003 a.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Kind Beweggründe vorläufiger, äußerlicher Art – also Gründe, sich so-und-so zu verhalten, die nichts mit den Gründen zu tun haben, aus denen sich der ethisch Selbständige so-und-so verhalten sollte. Äußerliche Beweggründe bilden sich (vielleicht aus bloßen Reaktionsmustern ›emergierend‹) im Kontext eines Erziehungsverhältnisses heraus, vor allem durch die Weise, wie das Kind die kommunikative Präsenz des Erziehers erlebt. Hierzu einige Beispiele: Das Thema Bestrafung lenkt den Blick auf Ängste vor unwillkommenen Reaktionen des Erziehers überhaupt – vom physischen Eingriff über den Tadel bis zum abweisenden Gesicht. Und die Erwartung von Belohnung steht in einer Reihe mit anderen Hoffnungen auf Bestätigung, Zuwendung, Lob usw. Ein anderer Bereich: An die Stelle instinktiv imitierenden (also ›bloß ausgelösten‹) Verhaltens im ersten Reife-Stadium tritt im zweiten die vorläufige Rationalität motivierter Nachahmung. Das Kind ist jetzt bestrebt, sich zu verhalten, wie der Erzieher sich verhält, weil er sich so verhält – es handelt aus Bewunderung oder aus dem Wunsch zu gefallen oder ähnlichen beziehungsgeprägten Motiven. Für die zweite Etappe der Erziehung bedeutet dies u. a.: Die Habitualisierung solcher Motive konstituiert bei A eine Einstellung zu B; sie hat zur Folge, daß auch das Wort des Erziehers – nicht nur sein Verhalten – erzieherisches Gewicht erhält. So etwas wie Autorität als (freilich immer noch äußerlicher, vorläufiger) Beweggrund des Verhaltens wird möglich. Die kindliche Anerkennung dieser Autorität in mehr oder weniger ausgeprägtem Gehorsam bedeutet: A tut, was B sagt, weil B es sagt. Eine vergleichbare Motivationsstruktur liegt vor, wo A, in Anerkennung von B’s überlegener Kompetenz, sich so verhält, wie B es verlangt, weil B ›schon wissen wird, was richtig ist‹ o.ä. Schließlich sei noch die komplexe Rolle der kindlichen Liebe zum Erzieher erwähnt; hier sind es B’s Vertrautheit, Anziehungskraft und erlebte Zuwendung, die A dazu motivieren, die von B erwarteten Verhaltensweisen zu praktizieren – wobei ein zweifacher Wunsch am Werk sein dürfte: B zu gefallen; und B zu erfreuen. Müssen die in diesem Abschnitt erwähnten ›vorläufigen‹ Motivationsstrukturen von Angst und Hoffnung, Bewunderung, Anerkennung und Liebe selbst erst gelernt werden? – Bisher bin ich davon ausgegangen, daß sich einfache Motivationsstrukturen – zumindest unter dem Einfluß wahrnehmbarer, sprechender, intervenierender Menschen – auf der Basis prärationaler Verhaltensimpulse und Reaktionsweisen sozusagen emergent herausbilden. Auf die genannten Strukturen dürfte das zutreffen. Jedenfalls scheinen sie auf angeborenen Schemata von Reiz und Reaktion aufzubauen, wie sie im ersten Reife-Stadium am Werk sind und auch bei Tieren vorkommen. Dies ist für den Fall der Angst besonders deutlich: Motivierung des Verhaltens durch ein drohendes Übel weist offenkundig zurück auf Situationen, in denen wahrgenommene Merkmale der Umgebung prärationales, animalisches AngstVerhalten auslösen. Ähnliches scheint aber auch für Hoffnung, Bewunderung, Folgewilligkeit und Liebe zu gelten.
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Inwieweit derartige Motivationsstrukturen durch Sozialisierung mitgeprägt werden, mag offenbleiben. Vor allem werden sie von der Erziehung in ihrer zweiten Etappe beansprucht. Und sicher wirkt Erziehung eben dadurch auf die Ausprägung der Strukturen auch ein. Der Umgang mit ihnen ist also ein Thema erzieherischer Klugheit. Daß z. B. Angst ein Motiv ist, das sich unabhängig von erzieherischer Einwirkung einstellt, bedeutet nicht, der Erzieher sollte sich ihrer nach Belieben zur Verfolgung ›erzieherischer‹ Zwecke bedienen. Er wird vermutlich im Gegenteil, im Wissen um die seelische Gefährdung, die von ihr ausgehen kann, dem Kind nach Möglichkeit keinen Anlaß zu Ängsten geben. Ähnlich sollte er bestrebt sein, vom Kind nicht so geliebt zu werden, daß diese Liebe der Selbständigkeit des Kindes im Weg steht, statt ihr zu dienen. Zugleich mit der Ausbildung der hier thematisierten Motivationsstrukturen erwirbt das Kind eine formale Komponente praktischer Rationalität: den Begriff des Beweggrunds. Jedenfalls entwickelt es allmählich zwei Fähigkeiten: Es lernt, im Horizont von Motiv-Konkurrenz und Verhaltensalternativen abzuwägen und sich von diesem und nicht von jenem Motiv bestimmen zu lassen. Und es lernt, das eigene Tun und Lassen zu erklären und zu begründen. Die erzieherische Bedeutung der für das zweite Reife-Stadium charakteristischen Motivationsstrukturen läßt sich kaum bezweifeln. Äußerliche, vorwiegend beziehungsbetonte Beweggründe nehmen hier vorläufig den Platz von tugendoder auch untugendgemäßen Motiven ein. Sie treten im Verlauf der kindlichen Entwicklung spontan auf. Doch können sie kraft ihrer sozialisations- und speziell erziehungsbedingten Ausprägung Wollen und Gewohnheit des Kindes rechtzeitig auf diejenigen Verhaltensmuster hinlenken und einstellen, die auch tugendgemäßen Motivationsstrukturen entsprechen.13 Ebenso wird freilich in dem Maß, in dem B schlecht handelt, A’s erzieher-bezogene Motivation dem Mangel an Tugend und dem Laster Vorschub leisten. Im übrigen ist mit der Chance der Vorbereitung tugendgemäßer Motivationsstrukturen durch ›Platzhalter‹ zugleich die Gefahr gegeben, daß die ethisch gesehen vorläufigen und äußerlichen Beweggründe den einmal eingenommenen Platz nicht mehr räumen wollen. Man denke an Eichmann, der sich auf die Forderung des Gehorsams berief. Die Überlegungen dieses Abschnitts erinnern noch einmal an die Bedeutung der kommunikativen Präsenz des Erziehers für das Gelingen seiner Aufgabe. Erziehung findet in ihrer zweiten Etappe insoweit statt, als ein Kind – aus Motiven wie Hoffnung und Angst, Bewunderung, Anerkennung und Liebe – nachahmend und gehorchend sich auf das einläßt, was der zuständige Erzieher tut bzw. sagt. Gerade beziehungsorientierte Motivationsstrukturen wie diese sind für ihre 13 Ich schließe keineswegs aus, daß auch Tugenden in Verhaltenstendenzen wurzeln, die wenigstens partiell auf naturwüchsige Anlagen bzw. auf Schemata von Reiz und Reaktion zurückgehen und sich spontan entwickeln. Aristoteles spricht hier von natürlichen Tugenden (EN VI 13, 1144b1–1145a2). Vgl. auch 16.6 (b) und ausführlicher Müller 2004 a.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Ausprägung und für ihre Rolle als Vorläufer eines guten Charakters offensichtlich auf die Präsenz der Bezugsperson angewiesen. Als Medien charakterlichen Lernens können solche Motive nur greifen, wenn der Erzieher im Leben des Kindes erlebbar vorkommt.
16.6
Die dritte Etappe der Erziehung entfaltet ethisch bewertbare Motivationsstrukturen
Das dritte Stadium ethischer Reife ist dadurch gekennzeichnet, daß A sich zusehends an Beweggründen orientiert, die als solche über die ethische Qualität des Verhaltens entscheiden – und zunehmend weniger an Beweggründen, die diesem Verhalten, ethisch gesehen, äußerlich sind und weitgehend in A’s Einstellung zu B wurzeln. A kann jetzt die Bereitschaft erwerben, bestimmte praktische Gründe, die ›der Sache selbst innerlich sind‹, zu erfassen, zu gewichten und im Verhalten zu beherzigen; und andere zurückzuweisen. Was bedeutet dies für die dritte Etappe der Erziehung? a) Da Erziehung das Ziel hat, den Charakter des Kindes für ein gutes Leben zu qualifizieren, muß sie auf seine Gesinnung Einfluß nehmen; sie muß ihm Tugenden und somit Motivationsstrukturen vermitteln (6.3 (d)). Das Kind soll eine Verfassung erwerben, in der es selbständig, einsichtsvoll, zuverlässig und verhaltenswirksam bestimmten Motiven des Handelns Gewicht gibt und anderen nicht. Es soll lernen, die ungewohnte Hautfarbe eines Menschen oder seine religiöse Überzeugung nicht als Grund zu behandeln, ihn abzulehnen; berechtigte Ansprüche anderer als Grund zu behandeln, das Beanspruchte zu gewähren; drohende Gefahr oder Mühe nicht als Grund zu behandeln, von wichtigen Zielen abzulassen; den Umstand, daß etwas zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen gehört, als Grund zu behandeln, schonend damit umzugehen. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Erziehung letzten Endes nicht darin bestehen kann, ein Kind dazu anzuleiten, daß es in dieser konkreten Situation dieses, in jener aber jenes tut. Erziehung ist auf Transfer des hier und jetzt Angemessenen in neue Situationen, auf Verallgemeinerung ausgerichtet (vgl. 14.1–2). Dabei geht es aber nicht lediglich um das Erlernen von Verhaltenstypen. Bereits das Verhalten auf der Basis eines Schemas von Reiz und Reaktion variiert mit den jeweiligen Besonderheiten des Auslösers und der Umstände. Entsprechendes gilt erst recht für die Orientierung des Verhaltens an Motiven: Was jemand z. B. mit Rücksicht auf die Rechte eines anderen tut, ist von Situation zu Situation so verschieden, daß man das Gemeinsame nur benennen kann, indem man auf die Übereinstimmung im Motiv rekurriert – wobei natürlich auch diese Übereinstimmung nichts mit wahrnehmbarer Ähnlichkeit zu tun hat. Erziehung zur Tugend – hier zur Achtung von Rechten anderer – ist also nicht Anleitung zu einem Verhaltenstyp.
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Sie vermittelt auch nicht die bloße Beherrschung von Mustern, nach denen ein bestimmtes Verhalten auf bestimmte Anlässe oder Zwecksetzungen reagiert. Das tut die Ausbildung, der es um Kompetenzen oder Fertigkeiten, nicht jedoch um deren Einsatz geht (8.4). Ist die Ausbildung gelungen, bleibt doch die ›Performanz‹, der Einsatz der erworbenen Fertigkeit, immer auf nicht mit-gelernte, variable Beweggründe angewiesen, die für die Fertigkeit selbst völlig unerheblich sind. Wer erfolgreich gelernt hat, beim Schachspiel auf eine bestimmte Eröffnung mit der richtigen Verteidigungsstrategie zu antworten, wird das Gelernte bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit unter Beweis stellen, falls er seine Kompetenz beweisen oder das Spiel gewinnen will oder sonst ein Motiv hat, die Verteidigungsstrategie anzuwenden. Anders steht es um das Ergebnis gelungener Erziehung. Wer gelernt hat, auf die vernünftige Bitte eines Gegenübers ceteris paribus freundlich zu reagieren, wird das Gelernte – die Tugend der Höflichkeit – bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit unter Beweis stellen – Punkt. Für ein ›falls‹, eine Bedingung der Performanz, ist hier kein Spielraum. Denn die Gelegenheit liefert selbst zugleich das Motiv. Wer nicht gelernt hat, unabhängig von sonstigen Motiven die vernünftige Bitte des Gegenübers als Grund (und nicht lediglich als ›optionale‹ Gelegenheit) zu behandeln, freundlich zu reagieren, hat eben nicht gelernt, ›auf die vernünftige Bitte eines Gegenübers ceteris paribus freundlich zu reagieren‹. Zur Tugend der Höflichkeit gehört nicht nur die Fähigkeit, freundlich zu reagieren, sondern der Habitus, entsprechend motiviert zu sein. Von den Beweggründen, die A sich im Zuge seiner Charakterbildung aneignen soll, kann man sagen, daß sie ›der Sache selbst‹ entspringen. Allerdings entspringen sie ihr im allgemeinen nicht auf dem Weg, den Rousseau unterstellt (11.1–2): es ist kein unmittelbares eigenes Interesse, das A veranlaßt, sich an tugendgemäßen Beweggründen zu orientieren. Daher die Notwendigkeit einer Anleitung, die über das Arrangieren hinausgeht. Die Wirksamkeit dieser Anleitung beruht auf der Wirksamkeit jener vorläufigen Motive, die sich (im zweiten Reife-Stadium) aus A’s Verhältnis und Einstellung zu B und insofern nicht aus der Sache selbst ergeben. Was aber vermittelt werden soll, ist die Wirksamkeit der Sache selbst durch Orientierung des Handelns an guten Gründen im Sinne der Tugenden. b) Inwiefern können nun, im Vergleich zu jenen vorläufigen Motiven, die tugendgemäßen Motive des dritten Reife-Stadiums als ›endgültig‹ gelten? Gemeint ist mit diesem Ausdruck nicht, daß sie keiner Korrektur zugänglich wären, sondern dies: Die den Tugenden entsprechenden Motivationsstrukturen sind konstitutiv für A’s charakterliche Reife; und sie müssen nicht – wie die Motivationsstrukturen des zweiten Stadiums – um weiterer Reifung willen andersartigen Mustern der Verhaltensorientierung Platz machen. Maßstäbe der Tapferkeit, der Toleranz, der Gerechtigkeit, der Hilfsbereitschaft usw. kann man an A’s Verhalten in dem Maße anlegen, wie dieses Verhalten sich Motiven verdankt, die diesen Tugenden entsprechen oder widerstreiten.
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Nicht zufällig empfinden wir es als unangemessen, von gutem Handeln bei einem Kind zu sprechen, das einzig deshalb tut, was der Erzieher ihm sagt, weil er es sagt, weil es seine Liebe nicht verlieren will, weil es sein Lob erhofft usw. Ein solches Kind verhält sich ›artig‹ oder ›brav‹; und man kann ihm kindliche oder vorläufige Tugenden zuschreiben: sowohl Beziehungstugenden, z. B. Liebe zu den Eltern oder kindlichen Gehorsam, als auch Ansätze zu Tapferkeit, Toleranz usw.14 Von Handeln dagegen spricht man erst in dem Maß, wie man ihm ein gewisses Spektrum allgemeiner Tugenden (bzw. Untugenden) zuschreiben kann. Man könnte sagen: Die ›Sache selbst‹, der die Motivationsstrukturen von Stadium zwei noch äußerlich und die von Stadium drei bereits innerlich sind, ist das Handeln. Denn die Gründe, aus denen ein Erwachsener letztlich handelt, sind ja nicht bloße Anlässe, sondern die Substanz des Handelns. Erinnern wir uns daran, daß das Handeln als solches durch ein telos charakterisiert ist, das sich in Bewertungsmaßstäben ausbuchstabieren läßt, die wir an das Tun eines Menschen anlegen. Um gut zu handeln, muß man z. B. gerecht handeln; und das heißt: die Rechte anderer als letzte Gründe, als Motive behandeln, dies zu tun und jenes zu lassen. Nichts ist dem Handeln innerlicher als seine Motive. Bleiben wir beim Beispiel der Gerechtigkeit. Ich kann das Recht eines anderen zum Anlaß meines Verhaltens machen, ohne es als letzten und unabhängigen Grund, als Motiv zu behandeln. Das geschieht etwa, wenn ich ein Versprechen nur halte, um keinen Ärger zu bekommen, um auf Gegenleistungen hoffen zu dürfen, um eine Wette zu gewinnen, um ein gutes Image aufzubauen. Und es geschieht ebenfalls, wenn ich das Versprechen nur halte, um einem geliebten oder gefürchteten Menschen zu gefallen. Von der Tugend der Gerechtigkeit ist mein Handeln unter solchen Voraussetzungen nicht geprägt. Der Tugend entspricht es nur, wenn ich, unabhängig von jenen Beweggründen, das Recht des anderen selbst als (normalerweise) hinreichenden Beweggrund behandle, das Versprechen zu halten. Für den Kontext der Erziehung bedeutet dies: A lernt gerechtes Handeln erst in dem Maß, in dem er sich die Motivationsstruktur der Gerechtigkeit aneignet – in dem er also lernt, sein Tun und Lassen vom Recht eines anderen als eigenständigem Beweggrund bestimmen zu lassen. Mit dieser Struktur sind – vereinfacht gesagt – die vorläufigen Motivationsstrukturen des zweiten Stadiums nicht mehr vereinbar. Denn unter deren Vorzeichen mag A die Ansprüche seines Spielkameraden zwar als Anlaß behandeln, das geliehene Playmobil, wie versprochen, zurückzugeben. Solange er sich jedoch an diesem Anlaß einzig deshalb orientiert, weil B ihn dazu anhält, weil er Bestrafung fürchtet usw.: so lange sind jene Ansprüche nicht das wirkliche Motiv. A’s Verhalten weist dann zwar ein bestimmtes Schema der Verhaltensveranlassung auf, nicht aber die Motivationsstruktur der Gerechtigkeit. 14 Siehe hierzu 8.6 und ausführlicher Wallroth 2000, S. 120 f. Über Gehorsam als kindliche Tugend vgl. Müller 2004 a, Abschnitt 6.4.
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Man könnte das auch so formulieren: Für A verschiebt sich beim Übergang zwischen den beiden Etappen der Erziehung die Funktion von ›sollen‹. Denn zunächst signalisiert dieser Ausdruck: was B von mir will oder: was ich tun muß, um von ihm anerkannt, geliebt, nicht getadelt ... zu werden. Zusehends aber verweist derselbe Ausdruck auf so etwas wie eine ›Forderung‹, unter die jeder Mensch durch die Beweggründe gestellt wird, die den Tugenden entsprechen. Wenn – zu Recht – gesagt wird, Erziehung habe die Aufgabe, sich selber überflüssig zu machen, so sollte das vor allem bedeuten: Gestützt auf die erste Funktion von ›du darfst‹ und ›du sollst‹, in Etappe zwei, hat sie dafür zu sorgen, daß an die Stelle dieser Funktion eine andere tritt: von Etappe drei an bekunden jene normativen Ausdrücke nicht das Wollen des Erziehers, sondern einen ethischen Maßstab des Verhaltens. c) Der Übergang vom zweiten ins dritte Reife-Stadium läßt sich etwas differenzierter darstellen, wenn man die drei zentralen Dimensionen der Reifung unterscheidet. Ich bediene mich noch einmal des Beispiels der Gerechtigkeit. 1) Erstens betrifft ethische Reifung die Vernunft. A erwirbt jetzt einen (rudimentären) Begriff von Gerechtigkeit. Er erfaßt Strukturen der Verknüpfung bestimmter Anlässe mit praktischen Konsequenzen. Zum Beispiel: ›Gerechtigkeit bedeutet u.a.: Wenn man (erstens) X versprochen hat, in Situation Y Z zu tun, und wenn (zweitens) Y jetzt eingetreten ist (= die beiden Komponenten des Anlasses, der X’s Anspruch konstituiert), dann tut man jetzt Z (= Konsequenz).‹ Und ähnlich: ›Was allen Geschwistern geschenkt wurde, muß man gleich verteilen; was X gehört, darf X verschenken; was Y gehört, darf X nur mit Y’s Erlaubnis benutzen ...‹ Damit aber dieser Begriff der Gerechtigkeit ein Stück praktischen Wissens bedeutet, muß A sich die Überzeugung zu eigen machen, selbst jene praktischen Konsequenzen bei gegebenen Anlässen ziehen zu sollen; und zwar muß er diese Anlässe (hier also: gerechte Ansprüche) als hinreichende letzte Gründe betrachten, die jeweiligen Konsequenzen zu ziehen. Außerdem könnte sein Gerechtigkeitswissen ohne Klugheit nicht wirklich praktisch sein: Zur guten Erziehung gehört (in ihrer dritten Etappe), daß A die Anlaß-Typen unter variierten Umständen wiedererkennen lernt; und daß er lernt, die jeweils vorgesehenen praktischen Konsequenzen auf diese Umstände abzustimmen. Praktische Vernünftigkeit dieser Art vermittelt Erziehung zweifellos zum Teil durch B’s Vorbild-Wirkung. Sodann trägt A’s Einübung in gerechtes Handeln dazu bei, seine Überzeugung zu stabilisieren, daß man gerecht handeln soll. Ohne solche Einübung sammelt A auch nicht die Erfahrung, die er benötigt, um klug zu werden. (Gemeint ist Erfahrung im Umgang mit Anforderungen der Implementierung von Gerechtigkeit, insbesondere auch angesichts der Erfordernisse sonstiger Tugenden). Ebenso ermöglicht Einübung die Erfahrung, die er benötigt, um für die im vierten Reife-Stadium anstehende Distanzierung gerüstet zu sein. (Hier geht es um Erfahrung mit der Rolle der Gerechtigkeit im Zusammenleben, mit unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen usw.). Im übrigen wird es in der Regel auch der verbalen Anleitung und der
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Korrektur verkehrter Vorstellungen durch B bedürfen. Und nicht zuletzt der gemeinsamen Reflexion. Denn ohne Reflexion wird das, was A erlebt, nicht leicht zu der soeben erwähnten Erfahrung, die seine ethische Überzeugung präzisieren und vertiefen kann. 2) Neben den Erwerb von Begriffen, Überzeugungen und Einsichten tritt als zweiter Aspekt der ethischen Reifung die Aufnahme der erfaßten Motivationsstrukturen in die Verfassung des Willens und der Affekte. Sie vollzieht sich vor allem dadurch, daß A sich bemüht, das Verstandene und Eingesehene in tatsächliches Verhalten umzusetzen. (Er lernt, nicht unvorsichtig zu versprechen; an das Versprochene rechtzeitig zu denken; das Versprechen auch dann zu halten, wenn dies unbequem ist ...) Solches Einüben bedeutet Stabilisierung der Willensausrichtung, Formung der Gefühlsimpulse und -reaktionen, Prägung der Interessen, Gewichtsverschiebung in den Präferenzen, Lenkung der Aufmerksamkeit usw., kurz: Charakterbildung im engeren Sinne. Um diese Charakterbildung zu fördern, kann B sich nicht darauf beschränken, in einschlägigen Situationen auf ein bestimmtes Verhalten zu dringen. Er muß tugendgemäße Orientierung einfordern. Das aber heißt im Fall des Beispiels: das gegebene Versprechen (bzw. den Anspruch des Gegenübers auf Einlösung) als einzig ausschlaggebenden Beweggrund dafür hinstellen, das Versprochene zu tun. A soll ja lernen, sich vom gegebenen Versprechen allein dazu motivieren zu lassen, das Versprochene zu tun. Erst wenn er das lernt, wird aus dem bloßen Anlaß tatsächlich ein Beweggrund und aus dem bloßen Tun-wie-versprochen ein vom Versprechen motiviertes Handeln – während vorher, im zweiten Reife-Stadium, vorläufige, insbesondere erzieher-bezogene Motive dafür sorgen, daß das Kind bei gegebenem Anlaß die geforderten Konsequenzen zieht. A hat nur in dem Maß gerecht zu handeln gelernt, wie er das Versprochene nicht mehr tut, um keinen Ärger zu bekommen oder um Gegenleistungen erwarten zu dürfen usw.; und insbesondere auch nicht mehr, um B eine Freude zu machen oder dergleichen. Allerdings ist mit der tugendgemäßen Orientierung allein noch nicht jeder Bezug von A’s Motivation auf B überwunden. Denn es bleibt möglich, daß A sich zwar von tugendgemäßen Beweggründen motivieren läßt, daß aber dieses Sich-motivieren-Lassen seinerseits noch einmal erzieher-bezogen motiviert ist. Dieser Aspekt von A’s ethischer Unreife betrifft die Dimension der Selbständigkeit, von der nun noch zu sprechen ist. 3) Wenn ich unter (b) die Gegenüberstellung von vorläufiger und endgültiger Motivation als Vereinfachung bezeichnet habe, so deshalb, weil dort die jetzt identifizierte ›Motivation der Motivation‹ noch nicht berücksichtigt ist. Mit der Erörterung dieser Motivationsstruktur kommt besonders deutlich der dritte Aspekt in den Blick, unter dem sich ethische Reife als Ziel der Erziehung darstellt: der Aspekt der charakterlichen Selbständigkeit. Denn ›Motivation der Motivation‹ liegt im Erziehungsverhältnis vor, solange sich der Heranwachsende nur wegen seiner Einstellung zum Erzieher (aus Liebe zu ihm, in Erwartung seiner Anerkennung, aus Gehorsam usw.) vom gegebenen
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Versprechen dazu bewegen läßt, es zu halten. Auf die Frage ›Warum tust du das?‹ kann A zwar zu Recht und guten Gewissens antworten: ›Weil ich es versprochen habe‹. Er müßte z. B. nicht ehrlicherweise sagen: ›Sonst kriege ich Ärger‹; und auch nicht: ›Sonst wäre B traurig‹. Dennoch ist seine Verhaltensorientierung indirekt erzieher-bezogen und somit nur eingeschränkt unabhängig: Immer noch sorgt, als Hintergrundmotiv des Handelns (vgl. 6.9), A’s Einstellung zu B dafür, daß das einmal gegebene Versprechen sein Handeln motiviert, daß A sich also von Motiven bestimmen läßt, die der Tugend der Gerechtigkeit entsprechen – daß er gut handelt. Unabhängigkeit von diesem Hintergrundmotiv ist der entscheidende Faktor jener charakterlichen Selbständigkeit, zu der Erziehung führen soll. Auch den Schritt in diese Unabhängigkeit rechne ich zu den Aufgaben der dritten Erziehungsetappe. Wie unter (b) erwähnt, liefern Motivationsstrukturen der Gerechtigkeit und der übrigen Tugenden ›endgültige‹ Beweggründe des Handelns – in dem Sinn, daß diese Gründe nicht bloß vorläufige ›Platzhalter‹ für andere Strukturen der Verhaltensorientierung sind, die dereinst, nach weiterer Reifung, an ihre Stelle treten sollten. Jetzt könnte man hinzufügen: Was in diesem Sinne endgültig ist, kann immer noch durch ein vorläufiges Hintergrundmotiv gestützt sein; eine ›wirklich endgültige‹ Motivationsstruktur ist erst dann gegeben, wenn die tugendgemäße Motivation nicht ihrerseits motiviert ist – zumindest nicht durch die vorläufigen, beziehungsorientierten Motive, die hier zur Debatte stehen.15 Solange A’s Einstellung zu B ein Hintergrundmotiv seines Handelns liefert, handelt er nicht selbständig. Und solange er in diesem Sinne unselbständig ist, hat die Erziehung ihr Ziel nicht erreicht. d) Das hier beschriebene dritte Stadium ethischer Reifung geht mit der zunehmenden Fähigkeit einher, die Orientierung an Beweggründen zu artikulieren. Dazu gehören: Erklärung des eigenen Tuns durch Nennung von Absichten und sonstigen Motiven; begründende Rechtfertigung und Offenheit für begründete Korrektur; Reflexion von Verhaltensmöglichkeiten unter gegebenen ethischen Ansprüchen; ethische Einordnung eigenen und fremden Verhaltens; Argumentation für oder wider die ethische Vertretbarkeit einer Verhaltensweise auf der Basis der erworbenen ethischen Überzeugungen. All dies jedoch bewegt sich innerhalb eines übernommenen Rahmens: innerhalb des Systems von Motivationsstrukturen, deren Geltung der Erzieher vertritt und zu deren Aneignung er angeleitet hat. Die Maßstäbe, die A an eigenes und fremdes Verhalten, an Urteile und Absichten anlegt, sind die Maßstäbe der von B vermittelten Tugenden. Diese selbst werden nicht beurteilt. Und in einem vorwiegend traditional geprägten Umfeld wird B sich in der Regel kaum veran-
15 Andere Hintergrundmotive, insbesondere die Absicht, ein guter Mensch zu sein, bringen kein Defizit an Reife mit sich.
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laßt sehen, die Erziehung über das dritte Stadium hinauszuführen. In modernen Gesellschaften indessen und in pluralistisch geprägter Umgebung wird A irgendwann darauf stoßen, daß so manche Verhaltensweise von verschiedenen Traditionen bzw. Personen verschieden bewertet wird. Daraus dürfte für unsere Zeit die Notwendigkeit einer vierten Etappe der Erziehung erwachsen.
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Die vierte Etappe der Erziehung ermöglicht Distanz zum Erworbenen
Die vierte Etappe der Erziehung soll dem Heranwachsenden helfen, sich zu übernommenen Normen in ein angemessenes Verhältnis von Abstand und Identifizierung zugleich zu setzen. Die Frage, inwiefern diese Etappe einem vierten Stadium ethischer Reife entspricht, sei einstweilen zurückgestellt. Jedenfalls traut und mutet sie dem Heranwachsenden den Erwerb der Fähigkeit und der Bereitschaft zu, sich theoretisch und unter Umständen praktisch von den mühsam angeeigneten Motivationsstrukturen, die für den erreichten Reife-Stand charakteristisch sind, in gewisser Weise zu distanzieren, ohne jede Identifizierung mit ihnen aufzugeben. Wie das gemeint ist, möchte ich anhand von drei Bereichen der praktischen Orientierung dartun, zu deren Erschließung diese vierte Erziehungsetappe anleitet. Sie lassen sich mit den Stichworten Toleranz, Reflexion und Sinngebung andeuten. In allen diesen Bereichen wird irgendwie das Genügen der bisher erworbenen Motivationsstrukturen für ein gutes Leben in Frage gestellt. Und zwar geht es jedesmal um eine Verbreiterung der Basis ethischer Urteilsbildung und Orientierung, die sich nicht als Vermehrung der ethischen Bewertungsdimensionen einordnen läßt. a) Fast überall, wo der Heranwachsende unvertrauten Vorstellungen vom guten Handeln und vom guten Leben begegnet, muß er Toleranz gegenüber fremden Maßstäben lernen. Toleranz als Tugend des angemessenen Umgangs mit allem, was fremd ist, gehört zwar ohnehin zur Charakterbildung. Bezogen jedoch auf ethische Maßstäbe, muß die Realisierung von Toleranz einer besonderen Frage Rechnung tragen: In welchem Sinn und in welchem Umfang läßt (und verlangt!) der Anspruch der eigenen ethischen Orientierung Spielraum für die Duldung entgegenstehender Ansprüche (vgl. Müller 2000d)? Zunächst sollte klar sein, daß die Pluralität der Ansprüche nichts über deren Berechtigung besagt. Aus der Tatsache einander ausschließender ethischer Orientierungen folgt kein ›Pluralismus‹ im Sinne des Eingeständnisses, daß kein ethischer Anspruch einem anderen überlegen sei. Ein um Vernunft und gutes Handeln bemühter Erzieher darf und wird davon ausgehen, daß er mit der ethischen Orientierung, die er tendenziell praktiziert und repräsentiert, der Wahrheit so nahe kommt, wie er kann. Und auch diese Sicht der eigenen Orientierung wird er, wie die Orientierung selbst, dem Heranwachsenden vermitteln.
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An dieser Verbindung von Objektivismus und Zuversicht ist überhaupt nichts auszusetzen (vgl. 3.4). Auch wird ein Blick in die nähere und auch in die weitere Umgebung den Heranwachsenden weitgehend in dem Eindruck bestätigen, das Richtige gelernt zu haben. Denn dieser Blick wird auf eine Mehrheit vernünftiger Zeitgenossen fallen, die, selbst wenn sie fremde kulturelle Traditionen repräsentieren, in einem erheblichen und zentralen Bestand an ethischen Überzeugungen mit ihm übereinstimmen. Die Konvergenz reicht nämlich bei näherem Hinsehen viel weiter, als das übliche Pluralismus-Gerede erwarten läßt. Ihr Ausmaß wird gerade deshalb häufig übersehen, weil grundlegende Übereinstimmungen wegen ihrer Selbstverständlichkeit leicht verborgen bleiben (15.4 (d)). Auf diesem Hintergrund ist es durchaus vernünftig, verbleibende Divergenzen teils als alternative Belegungen ethischer Spielräume zu begreifen, teils dem Irrtum zur Last zu legen, teils darauf zurückzuführen, daß sich effektiv ähnliche Wertsysteme in getrennten ethischen Traditionen (wie z. B. der konfuzianischen und der jüdich-christlichen) unterschiedlich artikulieren. Die Herausforderung durch Konfrontation mit solchen Divergenzen betrifft vor allem den Umgang mit der Möglichkeit des Irrtums. Zum einen stehe ich unter der Forderung, selbst da, wo ich mir meiner Sache nicht anders als sicher sein kann, den Vertreter eines anderen Maßstabs und sein Handeln zu dulden, solange dieses Handeln in seinen Auswirkungen gewisse Grenzen (die unausweichlich von meinen Maßstäben gezogen werden!) nicht überschreitet. Zum anderen muß ich in Belangen, in denen es Raum für Ungewißheit gibt16, bereit sein, mir einzugestehen, daß der Irrtum auf meiner Seite liegen könnte; und diese Ungewißheit auszuhalten, ohne deshalb von meinem Maßstab abzurücken. Auf jeden Fall verlangt der Weg zur Toleranz von mir eine neue, sozusagen durch Distanz vermittelte, Identifizierung mit den von mir bejahten Motivationsstrukturen und Maßstäben. b) Von den Herausforderungen der Toleranz ist kein weiter Weg zu den Herausforderungen der Reflexion. Denn die Konfrontation mit alternativen ethischen Vorstellungen führt fast unweigerlich zu einer Reihe von Fragen: ›Was spricht für, was gegen diese fremden Vorstellungen, was für bzw. gegen die eigenen? Wie könnte ich übernommene Maßstäbe an übernommenen Maßstäben prüfen? 16 Viele Theoretiker fordern, man solle in allen seinen Überzeugungen (ethischen wie auch theoretischen) mit der Möglichkeit des Irrtums rechnen. Sie ignorieren die Tatsache, daß solches ›Rechnen‹ nicht damit getan ist, daß man seine allgemeine Fehlbarkeit deklariert. Ob ein Mensch mit der Möglichkeit rechnet, daß er sich in seinem Urteil über die Folter irrt, zeigt sich nicht in Äußerungen, die er im Kontext einer epistemologischen Kontroverse tut, sondern in seinem alltäglichen Umgang mit dem Thema: in Reaktionen auf Berichte, in Stellungnahmen zu einer ernst gemeinten Verteidigung der Folter usw. Vgl. 3.4 (d2) sowie Müller 1994 b und 2000 e.
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Und andererseits: Woher sollte ich andere nehmen? Gibt es überhaupt so etwas wie Gründe, sich an diesem und nicht an jenem ethischen Maßstab zu orientieren – wenn doch erst die ethischen Maßstäbe selbst, und zwar ihrem Anspruch nach abschließend und verbindlich, den Bezirk der Gründe abstecken, die unser Tun und Lassen als Handeln leiten dürfen und sollen? Steht ein übergeordneter, nicht relativer Maßstab zur Beurteilung konkurrierender ethischer Systeme überhaupt zur Verfügung?‹ Freilich ist die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen in erster Linie Sache der Philosophie. Doch drängen sich Fragen philosophischer Art nicht nur professionellen Philosophen auf. Und so hat Erziehung hier ebenfalls ihre Aufgaben, nämlich: das ihr Mögliche zu tun, um dem Heranwachsenden Wege zu zeigen, sich seinem Verständnishorizont entsprechend auf diese Fragen einzulassen; ihm in den etwa resultierenden Erschütterungen beizustehen und nach Möglichkeit zu helfen, die Vielfalt der Vorstellungen nicht mit der Unmöglichkeit zu verwechseln, der Wahrheit nahe zu kommen; marginalen oder partiellen Dissens nicht mit fundamentaler oder totaler Unvereinbarkeit zu verwechseln; die Anerkennung von Differenzen nicht mit dem Abrücken von den eigenen Maßstäben gleichzusetzen; und Gegenargumente nicht als Widerlegung zu behandeln. Auch in der Reflexion von ethischen Maßstäben geht es, wenn sie existentiell und nicht rein theoretisch orientiert ist, um die Qualität des Charakters. Also ist es B’s Aufgabe, A im Für und Wider der Gesichtspunkte und in der resultierenden Beunruhigung zur Seite zu stehen. Das ist auch dann notwendig und möglich, wenn B sich von den logischen Ansprüchen der Thematik überfordert fühlt. Denn intellektuelle Verunsicherung und an den Tag gelegte Werte-Skepsis bilden in der Regel zugleich die Oberfläche eines tiefer liegenden emotionalen und motivationalen Umbruchs, der für die weitere charakterliche Reifung – insbesondere für den Weg zur Selbständigkeit – die eigentlich entscheidende Rolle spielt. Diese Beobachtung schließt nicht aus, daß B u.U. gut daran täte, A an einen kompetenteren Gesprächspartner zu verweisen. Im übrigen gibt es freilich auch so etwas wie begründeten Umbau des Systems der eigenen ethischen Maßstäbe. Doch vollziehen sich schwerwiegende Verschiebungen in den Motivationsstrukturen eines Menschen normalerweise nicht durch Reflexion allein – weder durch bloßen Einsatz von common sense noch auf der Basis philosophischer Untersuchungen.17 Häufiger sind sie die Folge allmählich zunehmender Versuchlichkeit, Gleichgültigkeit und Vernachlässigung des eigenen Charakters – einer schleichenden Umgewöhnung in den Bereichen von Praxis, Affekt und Einstellung. Oder aber sie resultieren aus einer Art Bekehrung, die durch Zunahme ethischer Sensibilität und Ernsthaftigkeit vorbereitet und dann vielleicht von einem Erlebnis ausgelöst ist, das dem Betroffenen ›die Augen öffnet‹, ihm also eine neue Gewißheit verschafft. 17 Ich denke hier nicht an weniger gravierende Modifizierungen, die sich fast unmerklich in den normativen Vorstellungen eines Menschen vollziehen. Zur Möglichkeit radikaler Umorientierung vgl. Wittgenstein ÜG, § 92, 262, 609–612 und Müller 1994 b, S. 210–213.
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Zu welchem Ergebnis auch immer Reflexion und Prüfung übernommener Maßstäbe führen mögen: was ein Mensch danach für richtig bzw. falsch hält, was er auf dem Hintergrund von Reflexion und Prüfung als Maßstab an sein Handeln anlegt, dafür ist er auf eine Weise verantwortlich, die auf bloß übernommene Normen nicht zutrifft. Hier wird deutlich, inwiefern ein Mensch, der von seinen ethischen Selbstverständlichkeiten reflektierend und prüfend Abstand nimmt, auf diesem Weg zu einer neuen Form der Identifizierung kommt. Heißt dies, man könne sich der resultierenden Verantwortlichkeit für die Qualität der eigenen Maßstäbe – oder eben für den Mangel an richtigen Maßstäben – dadurch entziehen, daß man auf Reflexion und Prüfung verzichtet? Eine einfache Antwort auf diese Frage dürfte kaum möglich sein. Zu viel hängt hier von Anlage und sozialer Umgebung ab. Doch wird man sagen müssen, daß unter manchen und insbesondere unter heute recht häufigen Umständen der ›Verzicht‹ auf Reflexion und Prüfung des ethisch Selbstverständlichen selbst einen Mangel an Charakter offenbart und insofern das Subjekt für die Qualität der Normen verantwortlich macht, bei denen es ohne Prüfung verharrt. c) Nicht nur die Konfrontation mit alternativen ethischen Vorstellungen und die reflektierende Prüfung der übernommenen Maßstäbe, sondern auch die Frage nach dem Sinn guten Handelns distanziert den Heranwachsenden in gewisser Weise von den erworbenen Motivationsstrukturen. In einem traditionalen und ideell eher homogenen Kontext ist diese Frage fast nur als ›immer schon kollektiv beantwortete‹ präsent – vor allem in Spruchweisheit, Mythos und Religion. Im Zuge von Aufklärungsbewegungen und im Erfahrungshorizont einer pluralistischen Gesellschaft dagegen wird der Sinn guten Handelns zur einigermaßen offenen Frage des einzelnen an sich selbst. Der Erzieher wird diese Frage mehr oder weniger explizit für sich beantwortet haben; er wird die Praxis der Tugenden, soweit er sie praktiziert, zumindest implizit auf einen umfassenden Sinn beziehen. Und er wird seine eigene Antwort fast unvermeidlich auch vermitteln – ein wichtiger Gesichtspunkt übrigens, wenn es darum geht, die Aufgabe der Erziehung eines Heranwachsenden auf mehrere Personen zu verteilen. Erblickt man im Umgang mit der Frage, welchen Sinn es habe, gut zu handeln, eine Angelegenheit der Gesinnung und der ethischen Reife, so wird man vom klugen Erzieher erwarten, daß er diese Frage – bei gegebenem Anlaß und im Rahmen seiner Fähigkeiten – dem Heranwachsenden gegenüber auch artikuliert und die beste Antwort, die er zu geben vermag, kommuniziert. Diese Antwort muß sich innerhalb gewisser Grenzen bewegen, die ich kurz markieren möchte. 1) Man handelt nur gut, wenn man ohne ferneres Motiv aus den Beweggründen handelt, die den ethischen Maßstäben entsprechen. Um den Sinn guten Handelns kann es insbesondere nicht so bestellt sein, daß beispielsweise der Hilfsbereite einen anderen unterstützte, um dessen Not abzuhelfen, dieser Not aber abhülfe, um hierdurch irgend etwas anderes zu erreichen, das für den Sinn
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des Helfens konstitutiv wäre. – Das etwa meint man in der Regel, wenn man vom guten Handeln oder von der Tugend als ›Selbstzweck‹ spricht. 2) Darüber hinaus jedoch kann man mit diesem Ausdruck auch folgendes meinen: Insoweit die Absicht, gut zu handeln, dazu motiviert, sich von tugendgemäßen Beweggründen motivieren zu lassen, steht hinter dem von diesen Beweggründen motivierten Verhalten als Hintergrundmotiv die Absicht, gut zu handeln. Im Sinne eines Hintergrundmotivs also kann das gute Handeln selbst ›Sinn und Zweck‹ des Verhaltens sein, das von Situation zu Situation für das gute Handeln konstitutiv ist. 3) Was immer sonst als Sinn guten Handeln gelten kann: es liefert keine Antwort auf die praktisch gemeinte Frage: ›Warum (soll ich) gut handeln?‹ Denn mit dieser Formulierung fragt man nach der ›praktischen Rationalität guten Handelns‹ so, als müßte es vernünftige Beweggründe geben, gut und nicht anders zu handeln. Doch ergeben genau diese Ausdrücke keinen Sinn. Denn gutes Handeln ist gerade ein Handeln, das sich an vernünftigen Beweggründen und somit an den Maßstäben praktischer Rationalität orientiert. Die (praktische) Frage: ›Warum gut handeln?‹ sucht also nach guten Gründen, sich an guten Gründen zu orientieren. Eine brauchbare Antwort ist daher nicht möglich: sie müßte ja auf Gründe zurückgreifen, für deren Anerkennung sie erst die Gründe liefern soll. 4) Während sich also die praktisch gemeinte Frage ›Warum soll ich gut handeln?‹ nicht vernünftig beantworten läßt, kann man derselben Frage durchaus einen theoretischen Sinn abgewinnen, nämlich: Wozu ist es notwendig oder nützlich, daß ich als Mensch gut handle? Oder auch: Wodurch sind die Motivationsstrukturen, die gutes Handeln kennzeichnen – und so auch das entsprechende Handeln selbst und seine Beweggründe – gut? Was macht die Tugend zur Tugend? Diese Fragen beantwortet man, indem man auf die (instrumentelle und schließlich auch konstitutive) Bedeutung verweist, die das gute Handeln der Menschen für ihr Gedeihen hat; darauf also, daß die Motive guten Handelns gut und vernünftig sind, insofern sie (zunächst einmal instrumentell) die den Menschen kennzeichnende Lebensweise möglich machen und dadurch ›gedeihlich‹ sind.18 18 Diese Zusammenhänge wurden in Kapitel 6 dargelegt, vor allem unter 6.3. – Könnte menschliches Gedeihen die Rolle einer Hintergrundabsicht spielen? Könnte jemand gut handeln und dabei in (oder zu) seiner tugendgemäßen Motivation von der Absicht motiviert sein, dem menschlichen Gedeihen zu dienen? Vielleicht. Doch könnte den so ›Hintergrund-Motivierten‹ das Schicksal des Regel-Utilitaristen ereilen. Dieser scheitert vor der Aufgabe, zu erklären, warum sich am Ziel maximalen Wohlergehens ausschließlich Verhaltensregeln und niemals konkrete Entscheidungen orientieren sollen. Ähnlich könnte man fragen: Warum sollte die Aussicht auf menschliches Gedeihen ausschließlich ein Motiv sein, bestimmte Motivationsstrukturen zu implementieren, und niemals ein unmittelbares Motiv, im Einzelfall so oder so zu entscheiden? Vielleicht liegt eine Antwort in der ›Eigendynamik des Ethischen‹ (6.3 (d)). – In Kants Postulaten der praktischen Vernunft liegt der Versuch, im Hinblick auf das gute Handeln eine Sinngebung zu formulieren – eine Sinngebung, auf die man zwar als Mensch kaum verzichten kann, die jedoch gleichwohl nur das Denken zufriedenstellen, nicht aber das Handeln motivieren darf.
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5) Mit diesem Verweis auf die Rolle der Tugend in der Lebensform des Menschen ist die Frage nach dem Sinn guten Handelns zwar korrekt beantwortet, aber nicht unbedingt erledigt. Es fragt sich, ob darüber hinausführende Antworten zulässig sind. Das hängt davon ab, ob sich weitere objektive oder auch subjektive Sinn-Zuschreibungen begründen lassen (vgl. 6.2). Inwiefern ist nun Einsicht in den Sinn des guten Handelns als Komponente ethischer Reife anzusehen? Vielleicht kann man sagen, daß eines Menschen Vorstellung von diesem Sinn den ›Geist‹, den Horizont ausmacht, in dem er sein Verhalten an ethischen Maßstäben orientiert. Mir scheint, daß seine Gesinnung davon mitbestimmt ist, ob er z. B. mit dem Präferenz-Utilitaristen glaubt, sein Handeln sei insoweit gut, als es dem subjektiven Wohlbefinden einer möglichst großen Anzahl von Menschen diene; oder ob er mit dem Tugendethiker der Meinung ist, gutes Handeln finde seinen Sinn in einem menschlichen Gedeihen, zu dem u. a. das gute Handeln selbst gehört. Auch denkt z. B. ein Egoist über den Sinn guten Handelns kaum genauso wie einer, der auf das Befinden und die Rechte anderer Rücksicht nimmt. Also wird in der Regel auch umgekehrt die Vorstellung vom Sinn guten Handelns, die jemand in der Erziehung erwirbt, einen Einfluß auf seine praktische Orientierung haben oder wenigstens das Bewußtsein färben, in dem er tut, was er für gut hält. Man könnte sagen: Die Sinnfrage betrifft das Kriterium, nach dem ein Mensch das System seiner Motivationsstrukturen zu etablieren bzw. zu beurteilen und zu korrigieren hätte, wenn er durch philosophische Reflexion das System seiner praktischen Orientierung grundlegen könnte und sollte. Oder: In seiner Vorstellung vom Sinn des guten Handelns ordnet ein Mensch seine praktische Orientierung (die letztlich bestimmende Orientierung seines Tuns und Lassens) in seine theoretische Orientierung ein: in sein Selbst- und Weltverständnis; und näherhin (aus anthropologisch-tugendethischer Perspektive gesprochen): in sein Verständnis der finalen (aber nicht intentionalen) Bezüge, in denen sein Handeln steht. In Absatz (5) bleibt freilich offen, ob die Sinnfrage aus anthropologisch-tugendethischer Perspektive allein zu beantworten ist. Man könnte insbesondere meinen, sie sei letztlich eine metaphysische oder weltanschauliche oder religiöse Frage. Und sofern sie überhaupt eine Angelegenheit der Erziehung sei, gehöre der Versuch, sie zu beantworten, in den Bereich der weltanschaulichen Erziehung. Diese aber beginne unvermeidlich relativ früh und jedenfalls nicht erst als Bestandteil einer vierten Etappe. – Auf diesen Einwand möchte ich mit einer Unterscheidung antworten. Einerseits besteht weltanschauliche Erziehung darin, bestimmte Motivationsstrukturen zu vermitteln oder zu fördern bzw. dies nicht zu tun. Ich meine insbesondere Motivationsstrukturen wie die Orientierung an einer kirchlichen Tradition oder einer nationalen Ideologie und andere Motivationsstrukturen, die das Handeln auf Natur oder Gott oder andere unverfügbare Autoritäten oder Mächte zurückbeziehen. Insoweit gehört religiöse und sonstige weltanschauliche
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Erziehung zur Charakterbildung (vgl. 8.3); und die beginnt in der Tat im Kleinkindalter. Auf der anderen Seite implizieren die hier vermittelten weltanschaulich bestimmten Motivationsstrukturen auch Überzeugungen weltanschaulicher Art. Und die Relevanz dieser Überzeugungen für die Frage nach dem Sinn guten Handelns kann sich dem Heranwachsenden naturgemäß erst in einem Stadium erschließen, in dem er auf diese Frage stößt bzw. gestoßen wird. Es scheint, daß religiöse Einstellungen heutzutage noch leichter und effektiver als andere, insbesondere ethische Einstellungen durch Kontakt mit alternativen Wertvorstellungen, Haltungen usw. unterminiert werden. Zum Teil liegt das wohl daran, daß sich die implizierten religiösen Überzeugungen bizarr oder antiquiert ausnehmen auf dem Hintergrund der oberflächlichen, aber leicht eingängigen Annahmen und Dogmen, die in unserer Gesellschaft unausdrücklich zu gelten scheinen: ›Jeder hat ein Recht auf Glück‹; ›Sinnfragen sind jedermanns private Angelegenheit‹ (oder gar ›Geschmackssache‹); ›Vernünftig ist nur, was letztlich dem eigenen Interesse dient‹; und dergleichen. Unter diesen Umständen werden religiöse oder sonstige weltanschauliche Überzeugungen in der Erziehung – und insbesondere bei der Beantwortung der Frage, welchen Sinn gutes Handeln habe – kaum eine Rolle spielen. Was freilich nicht die Möglichkeit ausschließt, daß eine angemessene Antwort auf diese Frage auf weltanschauliche Überzeugungen zurückgreifen muß (und so auch die Wahrheitsfähigkeit derartiger Überzeugungen voraussetzt). In welchem Verhältnis würde eine religiös verankerte Antwort auf die Sinnfrage zu der unter (4) gegebenen Auskunft stehen, gutes Handeln finde ein (nicht-intentionales) telos im Gedeihen menschlichen Lebens? – Hier sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Zum Beispiel kann eine religiöse Lehre menschliches Gedeihen als vorläufiges telos oder die Beziehung des einzelnen zu Gott als entscheidende Komponente dieses Gedeihens hinstellen. Jedenfalls muß ein religiös bestimmtes Verständnis der Finalität guten Handelns nicht notwendig dem in (4) skizzierten anthropologisch begründeten Verständnis widersprechen. Wie immer die Frage nach dem Sinn guten Handelns beantwortet wird: als Frage raubt auch sie der ethischen Orientierung zunächst einmal ihre Selbstverständlichkeit. Ob sie auf dem Weg über solche Distanzierung das Subjekt in ein neues Verhältnis der Identifizierung mit der Tugend bringt, hängt davon ab, wie die Antwort lautet.
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Selbständig handeln: Von der Erziehung zur Selbsterziehung Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch. Immanuel Kant, Über Pädagogik
Dieses Kapitel betrachtet Qualität des Handelns, ethische Reife, Erziehung und Selbsterziehung unter der Perspektive der Selbständigkeit. Ich beginne mit einem kleinen Exkurs über die Gefahr, das Erziehungsziel charakterliche Selbständigkeit zu verselbständigen: eine falsche Deutung dieses Ideals hat zur Folge, daß man den Erwerb von Selbstbestimmung den übrigen Dimensionen ethischer Reifung entgegensetzt (17.1). Der Rückblick auf Kapitel 16 eröffnet dem gegenüber eine plausible Weise, ethische Reifung als Zuwachs an ethischer Selbständigkeit zu verstehen (17.2). Diese Perspektive erlaubt es, das legitime Ende legitimer Erziehung daran zu binden, daß sich die Selbständigkeit des Heranwachsenden durch Erziehung nicht weiter stärken läßt; und somit ceteris paribus daran, daß er für sein Tun und Lassen uneingeschränkt verantwortlich ist (17.3). Selbsterziehung ist dann keine weitere und letzte Etappe der Erziehung. Vielmehr verdankt sie ihre Bezeichnung lediglich gewissen Analogien mit wirklicher Erziehung. Während diese einen anderen dazu anleiten soll, sein Verhalten selbst zu steuern, ist Selbsterziehung intendiertes, selbstgesteuertes Weiter-Reifen, das sich vor allem im Medium der Gewissensbildung vollzieht (17.4).
17.1
Charakterliche Selbständigkeit setzt objektive ethische Vorgaben voraus
An der Dimension der Selbständigkeit besteht ein pädagogisches Interesse, das sich besonders deutlich im Kontext der Aufklärung artikuliert. Deren Betonung der Mündigkeit geht den Ideen der Reformpädagogik, der antiautoritären und der emanzipatorischen Erziehung sowie der Antipädagogik lange voraus; und offensichtlich überlebt sie diese Ideen auch. Im Zusammenhang der Aufklärung drängt die Betonung der Selbständigkeit die Bedeutung charakterlicher Qualifizierung keineswegs in den Hintergrund. Mit den Idealen des Selbstdenkens und der Mündigkeit stellen die Aufklärer weder den objektiven Wert individueller Tugend noch den der politischen Ordnung in Frage. Im Gegenteil, sie glauben an allgemein verbindliche Maßstäbe des guten Lebens und hoffen auf die Möglichkeit, daß der einzelne sich selbst moralisch so qualifiziert, daß er unter den Gesetzen eines nicht-despotischen Staates leben will und kann, ohne seine Freiheit als eingeschränkt zu erleben.
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Allerdings glaubt die Aufklärung weithin auch daran, daß der einzelne es sich – nämlich seiner angeborenen Freiheit, Vernunft und Würde – schuldig ist, den Inhalt der zu befolgenden Normen auf das eigene Urteil zu gründen. Genauer: Der Mündige akzeptiert nur einen ethischen Maßstab, den er selbst als begründet erkannt hat – oder gar, wie bei Kant, autonom sich selbst verordnet; und er unterwirft sich nur einer staatlichen Autorität, die er selbst in impliziter Übereinkunft mit anderen etabliert hat. Heutige Vorstellungen von Mündigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung übernehmen diese Komponenten der Aufklärung – und gehen tendenziell über sie hinaus: Das Kind soll nicht nur eigenständig denken lernen; man soll ihm möglichst auch gar keine ethischen Maßstäbe, sondern allenfalls die formale Qualifikation vermitteln, durch eigene Einsicht oder Setzung zu solchen Maßstäben zu gelangen19; der Heranwachsende ist nicht nur am impliziten Gesellschaftsvertrag beteiligt – sein Handeln steht auch, sogar in nicht-politischen Lebensbereichen, ›unter dem Anspruch der [...] Ausweitung des demokratischen Handlungsspielraums‹20. Was diese Forderungen von denen der Aufklärung unterscheidet, ist aber nicht nur die angedeutete Tendenz, die Ansprüche der Autonomie sozusagen höherzuschrauben. Vielmehr verzichtet man heute im Zuge dieser Tendenz auch auf ein zweifaches Gegengewicht, das den meisten Aufklärern selbstverständlich war. Erstens nämlich nahmen diese an, die gemeinsame Vernunftnatur des Menschen garantiere, daß das mündige Denken und Handeln der einzelnen tatsächlich konvergiert – konvergiert auf eine übereinstimmende ethische Orientierung und auf eine stabile gesellschaftliche Ordnung hin, die von den Tugenden der einzelnen getragen ist. Und zweitens waren sie auf dem Hintergrund dieser zuversichtlichen Annahme der Auffassung, Erziehung dürfe und solle auf die Charakterbildung des Kindes vorausgreifend einwirken, schon bevor es zur Einsicht in die Notwendigkeit der Tugenden gelangt sei. Heutige Vorstellungen von Selbstbestimmung lassen für die Annahme jener Konvergenzen nicht viel Spielraum. Normen des Handelns werden weitgehend dezisionistisch oder kontraktualistisch aufgefaßt. Und so halten Erziehungswissenschaftler häufig vom Thema Charakterbildung vornehm Abstand – halb in der Einsicht, daß die von ihnen postulierte Selbstbestimmung eigentlich jede autoritative ethische Erziehung ausschließt, halb im gesunden, aber uneingestandenen Bewußtsein, daß solche Erziehung doch notwendig ist: menschliches Zusammenleben ist auf bestimmte Charakter-Qualitäten angewiesen, und solche Qualitäten bzw. die entsprechenden Defekte bilden sich primär und nachhaltig durch Gewöhnung, nicht durch autonome Prinzipien-Wahl. (Mit diesem Bewußtsein mag die stille Hoffnung oder auch die beruhigende Gewißheit des 19 Varianten dieser Forderung, die gelegentlich unter dem Etikett »Rational Autonomy« firmiert, stellt Allen (1992, S. 48–50) zusammen. 20 Mit dieser Formulierung kennzeichnen Kaiser / Kaiser (1981, S. 46) eine Komponente ihres Bildungsbegriffs.
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Theoretikers einhergehen, daß die Selbstbestimmungssuppe im praktizierten Erziehungsverhältnis nicht so heiß gegessen wird, wie sie von den ideologischen Küchenmeistern gekocht wird.) Ein Beispiel: Im Studienbuch Pädagogik, das sich ansonsten eher durch einen gewissen pragmatischen Realismus als durch Ideologie auszeichnet, gilt als »allgemeines Ziel der Erziehung« ein »Persönlichkeitszustand, der den Einzelnen befähigt, sein Handeln auf Einsicht und Sachkompetenz zu gründen und es kritisch-prüfend unter dem Prinzip der Selbstbestimmung zu verantworten« (Kaiser / Kaiser 2001, S. 49). Dabei betrifft die hier gemeinte »Einsicht« nicht etwa (wie mein ›praktisches Wissen‹) Maßstäbe, sondern »den Handlungszusammenhang« (S. 49). Zwar sind Maßstäbe unentbehrlich, aber jeder muß sie sich selber setzen: »Er kann sein Handeln nur kritisch-prüfend realisieren, sofern er es auf einen Maßstab bezieht. Oberster Bezugspunkt ist das Prinzip der Selbstbestimmung (Aspekt der Emanzipation)« (S. 50). Dieser Vorstellung zufolge nimmt Verantwortung nicht auf allgemeingültige Maßstäbe der Gerechtigkeit, der Selbstachtung usw. Bezug. Statt dessen hat man das eigene Handeln ausschließlich in dem Sinn zu ›verantworten‹, daß man es (warum aber eigentlich?) an Maßstäben messen soll, die man selbst bestimmt hat, oder vielleicht daran, ob es (nach welchen Kriterien?) selbstbestimmtes Handeln ist. So ist es auch möglich und nicht mehr so erstaunlich, daß ein Lehrbuch, in dem »die wichtigsten systematischen Teilgebiete der Erziehungswissenschaft repräsentiert sein« sollen (S. 6), das Thema Charakterbildung völlig ausspart, das mit dem umgangssprachlichen Erziehungsbegriff eigentlich als zentraler Gegenstand der Betrachtung vorgegeben ist. Was aber soll man dann über die Selbstbestimmung sagen? Ist denn nicht auch sie ein legitimes und zentrales Erziehungsziel? – Nein, nicht ›auch‹ – als könnte Selbstbestimmung neben (oder gar anstelle von) charakterlicher Verfassung und praktischer Vernünftigkeit das sein, was Erziehung erreichen soll. Auch nach meiner Auffassung kann und muß Selbstbestimmung als das Erziehungsziel gelten. Nur darf man sie weder als Quelle von Normen noch als eine Qualifikation des Handelns unter anderen21 mißverstehen. Selbstbestimmung bedeutet Selbständigkeit des Wollens und des praktischen Urteilens (also Selbständigkeit im Bereich der Qualifizierung des Handelns) – im Unterschied zur Selbständigkeit des Könnens und des theoretischen Urteilens (in den Bereichen der Kompetenz und des theoretischen Wissens). Alle Erziehung (im engeren Sinne) ist darauf ausgerichtet, dem Heranwachsenden zur so verstandenen ethischen Selbstbestimmung zu verhelfen. Den Etappen der Erziehung, von denen Kapitel 16 handelt, entsprechen Stadien auf dem Weg zur Selbstbestimmung: an die Stelle bloßer Konditioniertheit treten vorläufige
21 An anderer Stelle habe ich Selbständigkeit daher als ›formales Erziehungsziel‹ bezeichnet (Müller 1978).
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Beweggründe, aus denen heraus das Kind, was es tun soll, tut; an die Stelle dieser Beweggründe treten sodann allmählich diejenigen, aus denen es tun soll, was es tun soll; schließlich ist Selbstbestimmung in dem Maß erreicht, wie es sich solche Beweggründe zu eigen gemacht hat und aus ihnen handelt, ohne auf Vernunft und Klugheit anderer oder auf sekundäre Motive des Handelns angewiesen zu sein. Die Betonung des Selbständig-Werdens auf Kosten der Charakterbildung ist also verständlich, beruht jedoch auf einem Mißverständnis. Tugend ist einerseits ohne Selbständigkeit nicht zu haben; andererseits ist Selbständigkeit in ethischen Belangen erst dadurch ein Wert, daß sie einem guten Leben zugute kommt – also kann sie kein Erziehungsziel sein, das von der Tugend absieht.
17.2
Ethische Reifung ist Zuwachs an Selbststeuerung
Ein Blick zurück auf bereits Erörtertes mag helfen, das Ideal der ethischen Selbständigkeit angemessen einzuordnen. Erziehung wurde bestimmt als poiesis durch praxis. Sie ist das Handeln einer zuständigen Person, betrachtet unter dem Gesichtspunkt seiner Wirkung auf die ethische Verfassung eines Heranwachsenden. Die jeweils erreichte Verfassung läßt sich zum poietischen telos in Beziehung setzen, das für Erziehung konstitutiv ist: zum Ideal eines erwachsenen, also selbständigen guten Charakters. Das ›jeweils Erreichte‹ ist nicht nur von einem Heranwachsenden zum anderen, sondern vor allem innerhalb eines Erziehungsverhältnisses von Zeitpunkt zu Zeitpunkt verschieden. Und zwar nicht lediglich in dem Sinn, daß dasselbe Kind heute, sagen wir, tapferer (oder auch weniger tapfer) ist als vor einem Jahr – so, wie es tapferer (bzw. weniger tapfer) ist als dieses oder jenes andere Kind. Nein, von dieser Art Fort- und Rückschritt abgesehen, gibt es noch einen strukturellen Wandel, einen Fortschritt des Orientierungsmusters. Einander ablösende Orientierungsmuster definieren die in Kapitel 16 spezifizierten Stadien ethischer Reife. Auf die Finalität der ethischen Reifung möchte ich an dieser Stelle nochmals im Blick auf die Ablösung der Erziehung durch Mündigkeit und Selbsterziehung eingehen. In 16.1 habe ich ethische Reifung als ein Geschehen dargestellt, das den Heranwachsenden in verschiedenen Dimensionen einem selbständigen guten Charakter näherbringt. Die Unterschiede zwischen den Stadien habe ich als Unterschiede im Orientierungsmuster charakterisiert, den Fortschritt von Stadium zu Stadium als Annäherung an ein Leben unter der Einwirkung qualifizierter praktischer Vernunft verstanden. Im gegenwärtigen Kontext möchte ich nun den Zuwachs an Selbständigkeit hervorheben. Denn der Übergang von der letzten Etappe der Erziehung zur Mündigkeit ist Übergang zur ethischen Selbständigkeit. Auch die Abfolge der vorangehenden Reife-Stadien stellt sich im Rückblick aus dieser Perspektive als Weg des Heranwachsenden zu einem Orientierungsmuster dar, das die Selbständigkeit maximiert.
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Wäre A (per impossibile) von vornherein in der Lage, bereits die Herausbildung der Orientierung an guten Vernunftgründen selbst zu steuern, dann gäbe das vorläufige Fehlen dieser Orientierung niemandem einen legitimierenden Grund, erzieherisch in A’s Leben einzugreifen. Nur weil A zunächst nicht imstande ist, den Weg ethischer Reifung auch ohne Anleitung, also selbständig, zu gehen: nur deshalb ist B’s Autorität als Erzieher notwendig und daher auch zulässig. Jedenfalls ist der in den Anlagen eines Menschen vorgezeichnete Wandel in den Strukturen der Verhaltensorientierung zumindest auch deshalb mehr als Wandel, nämlich Fortschritt, weil er diesen Menschen der Selbständigkeit näher bringt. Und zwar ist mit dem dritten Reife-Stadium die Art von Selbststeuerung erreicht, die sich in differenzierten Motivationsstrukturen des Handelns niederschlägt. Jetzt erst kann eigentlich von praktischer Vernunft und Unvernunft, von ethischer Tugend und Untugend die Rede sein. Eine Stufe der Selbststeuerung läßt sich in jedem Reife-Stadium erkennen, so daß sich die ethische Reifung des Heranwachsenden unter der Perspektive seiner Selbständigkeit als Zuwachs an ›Identität‹ mit dem darstellt, was sein Verhalten bestimmt. Wie ist das zu verstehen? Ihren Ausgang nimmt nach 16.4 die ethische Reifung mit Strukturen der vorprogrammierten oder konditionierten Reaktion auf innere oder äußere Reize. ›Selbstgesteuert‹ ist solches Reagieren in einem minimalen Sinne, nämlich allenfalls insoweit, als organismus-eigene Dispositionen über die Art der jeweiligen Reaktion entscheiden. Einen Zuwachs an Unabhängigkeit von diesem Orientierungsmuster und damit von physischen und instinktartigen Determinanten bringt im zweiten Reife-Stadium die Fähigkeit, das Verhalten an Beweggründen zu orientieren. Mehr Selbststeuerung bedeutet dieses Mehr an Unabhängigkeit am deutlichsten in der rückblickenden Perspektive, aus der ich mich unweigerlich vor allem mit eigenen Zielvorstellungen und sonstigen Motiv-Konzeptionen identifiziere, denen mein Verhalten entspringt und entspricht – und nur in geringerem Maß mit einschlägigen Neigungen, Trieben oder gar physischen Dispositionen. Zu den jetzt steuernden Beweggründen gehören insbesondere die beziehungsbestimmten Motive, die mit den Verhaltensmustern, Erwartungen und voraussichtlichen Reaktionen anderer Menschen, insbesondere des Erziehers, gegeben sind (16.5). Im dritten Stadium wird die Orientierung am Erzieher durch ethisch bewertbare Motivationsstrukturen verdrängt. Hierin liegt ein weiterer Zuwachs an Selbststeuerung auf dem Weg zur Reife des Charakters: Der Beweggrund, dies zu tun und jenes zu lassen, liegt für den Heranwachsenden jetzt nicht mehr im Wollen eines anderen, sondern, grob gesprochen, in der Sache, die er selbst – wenn auch wie dieser andere – will. Schließlich tritt, in Stadium vier, die Reflexion der Motive hinzu, die er sich in Stadium drei zu eigen gemacht hat. Auch solche Reflexion bringt ein höheres Maß an Selbststeuerung mit sich. Denn sie distanziert das Subjekt von der Selbstverständlichkeit übernommener Motivationsstrukturen, um deren Beja-
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
hung – oder eben, im einzelnen Fall, ihre Ablehnung oder die Bejahung von Alternativen – zu einer Angelegenheit ausdrücklicher Aneignung und Identifikation zu machen. Worin liegt nun der Schritt zu weiterer Selbständigkeit, den der Heranwachsende tut, indem er der Erziehung entwächst? Oder tritt er mit dem Abschluß der Erziehung gar nicht in ein Stadium der Reife ein, das über das dritte und vierte hinausführt? Erklären wir Jugendliche lediglich deshalb nach einer gewissen Zeit der Erziehung für mündig, weil es schließlich Menschen geben muß, die als so erwachsen gelten, daß sich die Erzieherschaft aus ihnen rekrutieren kann? Gibt es – abgesehen von der konventionellen Altersgrenze – einen Grund, die Erziehung zu diesem und nicht zu jenem Zeitpunkt enden zu lassen? Wie gelingt es der Erziehung, sich überflüssig zu machen?
17.3
Wann endet Erziehung?
Kaum ein Mensch, so erwachsen er auch sei, wird von sich sagen, an seinem Charakter lasse sich nichts mehr verbessern, sein praktisches Wissen sei lükkenlos, seine Selbststeuerung vollkommen. Wenn wir den 18–jährigen für mündig erklären, leugnen wir keineswegs, daß er ethisch unvollkommen geblieben ist; auch dann nicht, wenn wir die Erziehung als gelungen ansehen. Und dadurch, daß wir dem Erziehungsverhältnis eine allgemeingültige und somit offenkundig willkürliche Altersgrenze setzen, bekunden wir, daß es auch für den Übergang zwischen erziehungsbedürftiger und erwachsener Unvollkommenheit keine scharfe Grenze gibt. Indessen bekunden wir mit jener Altersgrenze ebenfalls, daß es hier einen, wenn auch allmählichen, Übergang gibt; einen Übergang, den man sogar als qualitativ bezeichnen könnte. Die gewählte Altersgrenze mag von unterschiedlichen wirtschaftlichen und rechtlichen Belangen, von Gesichtspunkten der physischen und psychischen Entwicklung, des Ausbildungsstandes usw. mitbedingt sein. Aus der Perspektive der ethischen Reife führt der Schritt in die Mündigkeit von einer Lebensphase, in der die Charakterbildung auf autoritative Anleitung angewiesen ist und von ihr profitiert, in eine Phase, in der es für den einzelnen möglich und besser ist, in eigener Regie für seinen ethischen Fortschritt zu sorgen. Die Möglichkeit beruht darauf, daß er inzwischen mit Hilfe der Erziehung die ethische Reife und insbesondere die Selbständigkeit der Motivation erreicht hat, die ihn zur Selbsterziehung befähigt. Und wenn er selbst tun kann, was andere höchstens ebenso gut für ihn tun könnten, ist es für ihn auch besser, es selbst zu tun; schon deshalb, weil sich im selbständigen ethischen Fortschritt selbst ein Stück guten Lebens vollzieht. Auch von einem Menschen, der durch Erziehung oder trotz Erziehung im Alter von 18 oder 20 Jahren ein Faulpelz oder ein egoistischer Gewalttäter ist, der die Rechte anderer ignoriert oder gar die eigenen Belange vernachlässigt,
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383
werden wir kaum annehmen, daß ihm durch ein fortgesetztes oder auch neues Erziehungsverhältnis geholfen wäre. Von Freundschaft oder Partnerschaft würden wir schon eher Hilfe für einen solchen Menschen erhoffen – guten Rat vielleicht oder eindringliches Zureden, die Erfahrung gegenseitiger Angewiesenheit oder die bekehrende Wirkung von Liebe und Hingabe. Erziehung hingegen gelangt irgendwann an einen Punkt, von dem an sie Unreife – insbesondere Unselbständigkeit – nicht mehr überwinden, sondern eher stabilisieren hilft. Man könnte meinen, diese Auffassung werde durch das Beispiel von Menschen mit verzögerter Entwicklung widerlegt. Es sei nicht nur legitim, sondern gut und notwendig, solche Menschen über die übliche Dauer hinaus zu erziehen. Aber diese Ausnahme gehört zu denen, die die Regel bestätigen. Denn hier ist von Menschen die Rede, die wir als kindlich erleben und bei denen wir mit Blick auf ihre innere Entwicklung einen Rückstand feststellen. Sie mögen in der Tat auch noch 20–jährig von Erziehung profitieren. (Hat man Grund, ihrer Weiterentwicklung keine Chance zu geben, wird man eher an so etwas wie ›ethische Betreuung‹ als an Erziehung denken müssen.) Wer in diesem Sinne in seiner Entwicklungsfähigkeit eingeschränkt ist, unterscheidet sich offenkundig von einem Menschen, der zwar das Alter der Mündigkeit erreicht hat, dem wir aber charakterliche Reife deshalb absprechen, weil er in dieser oder jener Dimension der Reife ›mißraten‹ ist: weil es ihm trotz oder wegen der Erziehung, die er genossen hat, in besonderem Maße(!) an praktischem Wissen oder Klugheit, an Gerechtigkeit, Selbstachtung, Hilfsbereitschaft oder anderen Tugenden, an charakterlicher Stabilität oder Selbstkritik, an Bereitschaft zu reflektieren oder Unabhängigkeit des Urteils fehlt. Seine Erziehung ist mißlungen und nicht durch den Versuch zu retten, sie selbst fortzusetzen, bis er charakterlich besser qualifiziert ist. Worin liegt der Unterschied? Ich werde diese Frage hier nicht detailliert beantworten können. Doch gibt das Wort ›kindlich‹ einen Hinweis: Wer im Alter von 20 in seinem gesamten Denken, Fühlen und Verhalten den Eindruck eines Kindes macht, ist für sein Tun und Lassen nur begrenzt verantwortlich. Fehlt es dagegen einem 20–jährigen, der auch den Eindruck eines 20–jährigen macht, an Vernunft und Tugend, so ist er grundsätzlich für sein Tun und Lassen nicht weniger verantwortlich als andere Erwachsene. Offenbar unterscheiden wir sogar in der Dimension der Selbständigkeit von Urteil und Motivation auf der einen Seite ein Zu-wenig, das wir Erwachsenen vorwerfen, und auf der anderen Seite eine Unselbständigkeit, die wir Heranwachsenden zuschreiben und zugestehen – jene Unselbständigkeit, die sie eben erziehungsbedürftig macht und die man beim 20–jährigen nur in den angedeuteten Ausnahmefällen von Entwicklungsverzögerung antrifft. Das heißt: Wir ziehen unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit eine qualitative, wenn auch unscharfe Grenze zwischen zwei Lebensabschnitten. Da ist zum einen jene Altersspanne, in der ein Mensch für sein Tun und Lassen zwar in zunehmendem Maß, aber noch nicht uneingeschränkt verantwortlich ist. Von ihr unterscheiden wir das ›Erwachsenen‹-Alter, in dem er einigermaßen unabhängig
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
davon, ob seine Umgebung starken oder schwachen, guten oder schlechten Einfluß auf ihn ausübt, als voll verantwortlich gilt (es sei denn, er wäre geistig oder seelisch krank bzw. weniger als normal entwicklungsfähig). Diese Grenze ist es eigentlich, die auch der Erziehung ihre zeitliche Grenze setzt. Die Bedingung der Verantwortlichkeit übertreibend, könnte man sagen: Erst der Erwachsene handelt; und sobald ein Mensch handelt, hat Erziehung ihm nichts mehr zu sagen. Nicht, als hätte sie dann in jedem Fall ihr Ziel erreicht. Denn sie soll ja gut handeln lehren. Wohl aber setzt Erziehung voraus, daß das Gegenüber noch nicht die Selbständigkeit der Motivation und des praktischen Denkens erreicht hat, die der Begriff des Handelns tendenziell impliziert. Gibt es ein Kriterium uneingeschränkter Verantwortungsfähigkeit? Dazu kann man wohl nur sagen: Wir schreiben einem gesunden Menschen dann die volle Verantwortung für sein Tun und Lassen zu, wenn er ethisch selbständig ist oder sein sollte. Ethische Selbständigkeit ist in dem Maß erreicht, wie seine ethische Motivation nicht mehr auf beziehungsbasierte oder sonstige äußerliche Beweggründe angewiesen ist (16.6 (c)). Erziehung hört aber auch dann auf, sinnvoll zu sein, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, die ethische Selbständigkeit des Jugendlichen weiter zu stärken – so daß in diesem Sinne spätestens jetzt diese Selbständigkeit erreicht sein sollte. Man könnte diesen Zeitpunkt auch so charakterisieren: ›Wenn der Heranwachsende nicht von jetzt an für sein Verhalten verantwortlich ist, dann nie.‹ Es scheint, als würden wir ihn selbst gegebenenfalls sogar dafür mit-verantwortlich machen, daß er nicht selbständiger geworden ist. Wir schreiben ihm nämlich später, auch wenn es ihm an Selbststeuerung mangelt, die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu und machen ihm ebendiesen Mangel zum Vorwurf. (Man denke an den Eichmann-Prozeß. Ich lasse hier die Frage offen, unter welchen Umständen man von einem Jugendlichen oder einem Erwachsenen sagen muß, er sei zu uneingeschränkter Verantwortung für sein Tun und Lassen gar nicht in der Lage, nicht weitere Erziehung, sondern Betreuung seien hier angemessen.) Solange der Heranwachsende noch durch Erziehung ethisch selbständiger werden kann, behandelt man seine Verantwortlichkeit als eingeschränkt. Gewiß, auch jetzt schon legt man an sein Verhalten zusehends die Maßstäbe an, die mit den Bewertungsdimensionen ›ausgewachsenen‹ Handelns gegeben sind. Damit aber stellt man ihn nicht unbedingt unter denselben Anspruch wie den Erwachsenen. Denn indem man sein Verhalten beurteilt, als wäre es ausgewachsenes Handeln, antizipiert man gewissermaßen – gegebenenfalls in erzieherischer Absicht – ein Maß an Selbststeuerung und somit an Zurechenbarkeit, das er erwerben soll (vgl. Müller 1998b). Der Maßstab signalisiert hier nicht, was jetzt sein sollte, sondern was noch werden soll. Die Beurteilung ist sozusagen prospektiv. Daher muß sie auch keine uneingeschränkte Verantwortlichkeit unterstellen. Auf dem Hintergrund dieser Erwägungen lassen sich die Fragen, mit denen der erste Abschnitt schließt – Fragen nach den Bedingungen, unter denen Erziehung zu ihrem Ende kommt – etwa so beantworten:
17 Selbständig handeln: Von der Erziehung zur Selbsterziehung
385
a) Erziehung macht sich durch ihren Beitrag zur ethischen Reifung des Heranwachsenden überflüssig; und zwar insbesondere, indem sie seine Fähigkeit und Bereitschaft fördert, sein Verhalten im Sinne guter Motivationsstrukturen selbst zu steuern. b) Die Selbständigkeit, die der Jugendliche mit dem Ende seiner Erziehung erlangt, ist in der Tat keine neue Stufe der Selbststeuerung. Auch in den übrigen Dimensionen der Reifung bildet Mündigkeit kein fünftes Stadium, das über die Stadien drei und vier strukturell hinausführte. c) Es gibt jedoch ein, wenn auch vages, Kriterium, nach dem die Erziehung eines Menschen als abgeschlossen gelten kann und auf dessen Basis dementsprechend die Altersgrenze zwischen Erziehungsbedarf und Mündigkeit zu ziehen ist. d) Dieses Kriterium kann nicht primär oder gar allein im Maß an praktischer Vernünftigkeit und Tugend liegen, die der Jugendliche erreicht hat. Denn auch schlechte Erziehung findet irgendwann ein Ende; und gut ist Erziehung nur gewesen, wenn sie den Heranwachsenden auch selbständig gemacht hat. e) Erziehung muß dann als abgeschlossen gelten, wenn diese Selbständigkeit erreicht ist oder erreicht sein sollte und durch weitere Erziehung nicht mehr zu stärken ist. Das ist zugleich der Zeitpunkt, von dem an wir von einem Menschen folgendes sagen müssen: 1) Für ihn ist von jetzt an Selbsterziehung besser als der erzieherische Einsatz eines anderen. (Wir können auch sagen: Der gute erwachsene Charakter macht zwar zunächst das ergon des Erziehers aus. Da jedoch Erziehung dieses ergon allenfalls approximativ realisiert, bildet es fernerhin die Aufgabe des Erzogenen und das telos seines Lebens. Als Medium der ›Produktion‹ dieses telos kommt jedoch die ethische praxis eines anderen nicht mehr in Frage, sondern nur noch die eigene – als Medium der Selbstgestaltung.) 2) Der Erzogene ist – von besonderen Umständen abgesehen – für sein Tun und Lassen uneingeschränkt verantwortlich. 3) Weil er der Erziehung nicht mehr bedarf, hat auch niemand mehr ein Recht, ihm gegenüber erzieherische Autorität in Anspruch zu nehmen. f) Zwar läßt die Verhaltensorientierung über die Reife-Stadien drei und vier hinaus keinen weiteren strukturellen Zuwachs an Selbständigkeit zu. Doch bedeutet die Beendigung eines Erziehungsverhältnisses selbst einen Einschnitt, der geeignet ist, den Jugendlichen ethisch selbständiger zu machen. Wie das gemeint ist, möchte ich zum Schluß dieses Abschnitts etwas näher erläutern. Vor allem gibt das Ende der Erziehung dem Jugendlichen schlicht das Bewußtsein, nicht mehr erzogen zu werden – und damit, wenigstens tendenziell,
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
nicht nur das Bewußtsein, einer Autorität entzogen zu sein, sondern auch das Wissen, unter dem Anspruch ›verschärfter‹ Selbständigkeit zu stehen.22 Er muß sich jetzt sagen: ›Ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, daß mir im Zweifelsfall ein Erzieher sagt, an welchem Gesichtspunkt ich mein Handeln orientieren soll oder wie ich Eingesehenes hier und jetzt in richtiges Verhalten umsetze. Ich habe keinen Anspruch mehr darauf, daß andere von außen meine guten Motive oder ihre Stabilisierung und Umsetzung in entsprechendes Handeln bestärken und stützen. Ich muß selbst prüfen, ob ich meinen ethischen Maßstäben gerecht werde, und muß selbst für die weitere Besserung und Reifung meines Charakters sorgen – durch ›Selbsterziehung‹. Im übrigen bin jetzt einzig und allein ich selbst für mein freiwilliges Tun und Lassen verantwortlich.‹ Einsicht in diese Situation ist sozusagen das Letzte, das ein Erzieher den ihm Anvertrauten vermitteln muß – und mit gutem Gewissen vermitteln darf, wenn er zuvor nach Kräften bemüht war, die jetzt überholte Stütze tatsächlich zu gewähren. Die Einsicht der Erzogenen in die Erfordernisse seiner neuen Unabhängigkeit mag aber noch so lebenswirksam sein: diese Unabhängigkeit bringt kein neues Stadium ethischer Reife mit sich. Denn was hat er durch das Mündig-Werden hinter sich gelassen? 1) Er ist keiner erzieherischen Autorität mehr unterstellt; aber dieser Zuwachs an Freiheit führt keinen strukturellen Zuwachs an Selbststeuerung herbei, sondern verlangt nur dringender die eigenständige Implementierung der bereits herausgebildeten Verhaltensorientierung im Sinne guter Motivationsstrukturen. 2) Der frühere Anspruch auf Hilfe besteht nicht mehr. Auch darin liegt vor allem die Anforderung, ohne Anleitung Tugend und Vernunft zu praktizieren. 3) Von der Verantwortlichkeit für sein Verhalten ist der Mündige nicht mehr partiell entlastet. Auch diese Änderung der Situation stellt per se kaum einen Schritt der Reifung und schon gar keinen strukturellen Zuwachs an Selbständigkeit dar. Das Ende der Erziehung bringt zwar, als Ende der Erzieher-Autorität, einen zusätzlichen Spielraum für Entscheidungen. Als Ende der Verantwortlichkeit des Erziehers bringt es aber auch die umfassende ›Zuständigkeit für sich selbst‹, die den Erwachsenen kennzeichnet.
22 Der Tatsache, daß ich hier typisiere, bin ich mir bewußt. Im einzelnen Fall wird A seiner seelischen Entwicklung und seiner ethischen Reife nach für sein Handeln allein verantwortlich sein, bevor B’s rechtliche Zuständigkeit als Erzieher endet und bevor A aufhört, B Gehorsam zu schulden. Ebenso kommt es vor, daß A von einem Erziehungsverhältnis länger profitieren würde, als Recht oder Umstände zulassen. Solche Diskrepanzen sind vor allem auf zwei Tatsachen zurückzuführen. Erstens ist das Ende der Erziehungsberechtigung (und -verpflichtung) im allgemeinen konventionell, und zwar einheitlich, geregelt, während das Tempo ethischer Reifung variiert. Zweitens unterscheiden sich natürlich auch die Erzieher ihrer ethischen Reife nach; daher hält das für Erziehung konstitutive ›Gefälle‹ zwischen B und A unterschiedlich lange an. Vgl. 2.6 (a).
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17.4
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Selbsterziehung ist nicht Erziehung, sondern geplante Selbstgestaltung
a) In den Reife-Stand, in dem man sich für das eigene Verhalten zu verantworten hat, gerät man unabhängig davon, ob man die Qualität der praktischen Vernunft und des Charakters erreicht hat, zu der man durch Erziehung gelangen sollte. Aber auch wo die Erziehung gelungen ist, bedeutet ihr Ende nicht das Ende ethischen Lernens. Der gute Charakter ist ein Ideal; der wirkliche ist nie ›fertig‹ und noch nicht einmal dagegen gefeit, zu degenerieren. Indem die Tugend den Menschen unter den Anspruch stellt, gut zu handeln, stellt sie ihn zugleich unter den Anspruch, besser zu handeln, als er gehandelt hat, und damit unter den Anspruch, besser zu werden.23 Solches Weiter-Lernen kann zwar von Hinweisen oder gar Mahnungen anderer profitieren. Es basiert jedoch fast ausschließlich auf der eigenen Initiative. Und, noch wichtiger: es ist einzig der eigenen Verantwortung aufgegeben. Damit unterscheidet es sich vom Lernen des Unmündigen. Dessen Lernen verlangt zwar ebenfalls in zunehmendem Maße eigene Initiative und Zuständigkeitsbewußtsein. Doch macht das Erziehungsverhältnis einen anderen dafür verantwortlich, dieses Lernen zu fördern und von Fall zu Fall anzustoßen; so reduziert und relativiert es einstweilen die Verantwortung des Heranwachsenden. Dieses ›Moratorium‹ endet, sobald er selbst für seine weitere Reifung besser sorgen kann als andere. Jenseits der Grenze, die der Erziehung durch Mündigkeit gesetzt ist, beginnt die Aufgabe der ›Selbsterziehung‹. b) Ich setze das Wort an dieser Stelle in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß es sich bei der Selbsterziehung nicht um eine Art der Erziehung im wörtlichen Sinne handelt. Gewiß, die Wortbildung verrät eine Analogie der Funktion. Selbsterziehung stellt eine Aufgabe dar, die sich fruchtbar mit Erziehung vergleichen läßt. Beide Aufgaben stimmen miteinander darin überein, daß sie ihrem Begriff nach der Fortentwicklung eines Charakters dienen. In beiden Fällen ist das telos daher als solches Selbstzweck – in dem Sinne, daß es ausschließlich durch gutes Handeln finalisiert ist (vgl. 5.1 (b7)). Sowohl Erziehung als auch Selbsterziehung weisen im übrigen poietische Strukturen auf – insbesondere auch darin, daß ihr telos nicht zeitgleich mit ihnen realisiert wird (5.1 (c4)). Die Analogie verführt aber auch dazu, die Pointe der Erziehung und die Tatsachen zu verkennen, die der Unterscheidung zwischen Mündig und Unmündig zugrunde liegen. Wer der Verführung erliegt und behauptet, weil der Mensch nie fertig sei, könne seine Erziehung eigentlich niemals enden, der ist für die23 Vgl. 16.1 (b). – Dieser Anspruch stellt sich in den verschiedenen Lebensaltern (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter) in verschiedener Form dar. Insbesondere treten unterschiedliche Dimensionen der ethischen Reifung in den Vordergrund. Vgl. hierzu Wallroth 2000, S. 144–146.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
selben Unterschiede blind wie der Antipädagog, der scheinbar das Gegenteil behauptet, nämlich: weil der Mensch von vornherein selbsttätig mit sich und seiner Umgebung umgehe und so seine Reifung selbst besorge, dürfe man mit so etwas wie Erziehung nie auch nur beginnen. Um die Vermengung von Erziehung und Selbsterziehung zu vermeiden, muß man beachten, daß sie unterschiedliche Formen von poiesis darstellen. Ihr Bezug auf ein telos weist unterschiedliche Eigenarten auf. Und so sind sie für die Kategorie der poiesis auch in unterschiedlicher Weise untypisch. Eine poiesis richtet sich normalerweise nicht als solche auf ihr eigenes Subjekt. Ein Arzt mag zwar im Einzelfall sich selbst behandeln. Objekt der Behandlung ist er dann aber nicht als Arzt. Er ist quasi zufällig selber einer seiner Patienten. Eine Besonderheit der Erziehung liegt nun darin, daß sich hier die poiesis aus Gründen, die ich noch anführen werde, gar nicht auf den Erzieher richten kann. Betrachtet man hingegen Selbsterziehung als poiesis, so liegt ihre Besonderheit gerade darin, daß Subjekt und Objekt hier zusammenfallen müssen – ein Merkmal, durch das sie angesichts des Kriteriums 5.1 (c6) vom typischen Muster einer poiesis abweicht. Das telos der Selbsterziehung läßt sich zwar (in Übereinstimmung mit 5.1 (c1)) auch ohne selbsterzieherischen Einsatz verwirklicht denken – nicht gerade als reines Geschenk des Himmels, aber doch als Ergebnis ethischer Reifung. Indessen könnte offenkundig nicht umgekehrt die Art von poiesis, mit der sich jemand selbst erzieht, statt dessen auf ein anderes telos, insbesondere etwa auf die Vervollkommnung einer anderen Person gerichtet sein. Anders als beim Arzt, der neben sonstigen Patienten auch sich selbst behandelt, gibt es hier kein Verfahren, von dem man sagen könnte: Wende ich es auf andere an, so erziehe ich sie; und wende ich es auf mich an, so erziehe ich mich selbst. Vor allem aber fehlen der Selbsterziehung wesentliche strukturelle Merkmale der Erziehung. Am deutlichsten fehlen ihr die in Kapitel 2 notierten Aspekte von Asymmetrie: Ich kann zwar mir selbst etwas klarmachen oder ins Gedächtnis rufen – aber nicht aufgrund eines praktischen Wissensvorsprungs vor mir selbst. Ich kann mir etwas vornehmen – nicht aber im wörtlichen Sinne etwas von mir fordern; denn zum Begriff der Forderung gehört, daß der Aufgeforderte sie nicht hinfällig machen kann, indem er sie zurücknimmt oder zurückweist. Also kann auch von Autorität im ›selbsterzieherischen‹ Verhältnis keine Rede sein. Es mag so etwas wie ethische Pflicht zur Selbsterziehung geben – ihr steht jedoch kein Recht auf sie gegenüber, das man durch Pflichtvergessenheit verletzen könnte; wie nämlich Aristoteles (EN V 9, 1136a31–b14) bemerkt, ist es möglich, sich selbst zu schaden, nicht jedoch, sich Unrecht zuzufügen. Und auch dadurch unterscheidet sich Selbsterziehung von der Erziehung: Diese findet durch B’s Handeln statt, ob B sie und ihr telos intendiert oder nicht; und erst recht unabhängig davon, ob A sich des Erzogen-Werdens bewußt ist und dessen telos bejaht oder nicht. Selbsterziehung hingegen ist mehr als das Handeln des Selbsterziehers: wer sie und ihr Ziel nicht intendiert, der versäumt
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sie (vgl. 16.2 (a)). – Über die hier angedeutete Unterscheidung zwischen Selbsterziehung und gutem Handeln möchte ich jetzt unter (c) mehr sagen, um dann unter (d) auf die entsprechende Unterscheidung zwischen Selbsterziehung und Erziehung zurückzukommen. c) Offenbar wäre es nicht richtig, jeden Beitrag, den A bereits im Kontext der Erziehung zur eigenen charakterlichen Reifung leistet (vgl. 2.2 (e), 11.2, 11.6–7), als Selbsterziehung zu bezeichnen. Ebenso wenig ist auch außerhalb des Zusammenhangs der Erziehung jedes Bemühen um tugendgemäßes Handeln eo ipso Selbsterziehung. Man erzieht sich selbst, indem man etwas tut, um charakterlich zu reifen, ein gutes Leben zu führen, ein besserer Mensch zu werden o.ä. Selbsterziehung besteht darin, zur Absicht zu machen, was im guten Handeln allenfalls als Hintergrundmotiv am Werk ist. Unter dieser Rücksicht kann man die Selbsterziehung mit mehr Recht als das Handeln ›Selbstgestaltung‹ nennen (vgl. 15.1). Denn wer um Selbsterziehung bemüht ist, legt diesem Bemühen eine (ungefähre) Vorstellung von ethischer Reife zugrunde; dieser Idealvorstellung entnimmt er vielleicht konkretere Ziele, die er zu erreichen sucht; jedenfalls ist das Tun und Lassen, in dem sich seine Selbsterziehung vollziehen soll, letzten Endes von der Absicht bestimmt, eben dadurch sich selbst eine ethische Gestalt zu geben, die jener Idealvorstellung möglichst nahekommt. Als Implementierung dieser Absicht kann selbsterzieherisches Tun und Lassen also Selbstgestaltung heißen. Als Medium der Selbsterziehung unterliegt dieses Tun und Lassen selbstverständlich ethischen Bewertungsmaßstäben. Auch ist es von ethischer Bedeutung, ob jemand sich selbst erzieht oder nicht. Unter beiden Perspektiven ist Selbsterziehung Handeln. Gleichwohl besteht zwischen den Begriffen Selbsterziehung und Handeln ein fundamentaler teleologischer Unterschied. Wie wir gesehen haben, setzt die Zuschreibung von Selbsterziehung die Absicht des Subjekts voraus, sein Handeln und seinen Charakter einem mehr oder weniger deutlich konzipierten Ideal näherzubringen. Hingegen ist das telos des Handelns einfach damit gegeben, daß sich alles Tun und Lassen eines Erwachsenen, ganz unabhängig von dessen Absichten, mittels des Begriffs des Handelns unter den Maßstab ethischer Qualität stellen läßt. Wer sich selbst erzieht, nimmt notwendig an einer Vorstellung vom telos der Selbsterziehung Maß, während der Handelnde sich in seinem Handeln, wenn überhaupt, nur insofern von einer derartigen Vorstellung leiten läßt, als diese als Hintergrundabsicht in sein Handeln eingeht. Dieser teleologische Unterschied läßt sich auch so kennzeichnen: Wer nicht gut handelt, handelt schlecht. Wer hingegen sich selbst nicht gut erzieht, erzieht sich nicht unbedingt schlecht: es ist auch möglich, daß er es ganz unterläßt, sich selbst zu erziehen. Während der psychisch gesunde Erwachsene unausweichlich handelt, ist Selbsterziehung nichts Unausweichliches, sondern eine Sache der Wahl und der Absicht. (Was nicht ausschließt, daß diese Absicht mindestens gelegentlich ein Erfordernis des guten Handelns ist.)
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Der hier hervorgehobene Unterschied zwischen Handeln und Selbsterziehung findet sich – da Erziehen Handeln ist – auch innerhalb des Unterschieds zwischen Erziehung und Selbsterziehung wieder. Solange nämlich jemand als Erzieher für einen anderen zuständig ist, läßt sich sein tatsächliches Verhalten unvermeidlich als gutes oder schlechtes Erziehen einordnen. Hingegen stellt die Zuständigkeit, die jeder Erwachsene als selbständiges Vernunftwesen für seine eigene charakterliche ›Weiterbildung‹ hat, keineswegs sicher, daß er sich selbst erzieht. Ich habe darauf hingewiesen, daß Selbsterziehung keine typische poiesis konstituiert. Darin wird noch einmal deutlich, daß die handlungsphilosophische Orientierung mittels der Kategorien poiesis und praxis an Grenzen stößt. Immerhin aber kann man an den Begriff der Selbsterziehung die Kriterien anlegen, die ich in Kapitel 5 zur Kennzeichnung der beiden Kategorien herangezogen habe. Dann ergibt sich, daß Selbsterziehung den Tatbestand einer poiesis insoweit erfüllt, als sie den dort formulierten Kriterien 5.1 (c1–5) und (c9) genügt. Züge einer praxis hingegen weist die Selbsterziehung in diesen Punkten auf: Ihr telos – vielleicht: das erreichbare Höchstmaß ethischer Reife – ist in Übereinstimmung mit 5.1 (b6) ›nicht übertragbar‹, d. h.: nur am Subjekt selbst durch Selbsterziehung zu verwirklichen (vgl. oben 17.4 (b)); und es ist in Übereinstimmung mit 5.1 (b7–8) nicht instrumentalisierbar. Inzwischen habe ich drei poietische Aspekte hervorgehoben, durch die sich Selbsterziehung vom Handeln unterscheidet. Zum einen: daß ihr telos Gegenstand einer Absicht ist. Zum anderen: daß man (aus diesem Grund) nicht unweigerlich sich selbst erzieht, wie man unweigerlich handelt. Schließlich habe ich drittens darauf hingewiesen, daß das telos der Selbsterziehung nicht ausschließlich als telos von etwas charakterisierbar ist. (Ethische Reife ist nicht ausschließlich als realisiertes telos von Selbsterziehung denkbar, während gutes Handeln schlechterdings nichts anderes ist als das realisierte telos des Handelns). Ich möchte diesen Beobachtungen noch eine vierte hinzufügen, die ebenfalls zeigt, wie tiefgreifend sich die beiden Begriffe unterscheiden. Sie betrifft deren Zeit-Struktur (vgl. 4.8): Handeln und Selbsterziehung stehen in einem ungleichen zeitlichen Verhältnis zum jeweiligen telos. Im Fall des Handelns wird das telos, sofern es verwirklicht wird, zeitgleich mit dem Handeln selbst verwirklicht. Das läßt sich so erläutern: Hat X angesichts einer bestimmten Situation so gehandelt, wie er handeln sollte, so läßt sich diesem Handeln trivialerweise keine andere Zeit zuschreiben als dem mit diesem Handeln identischen richtigen oder guten Handeln. Im Fall der Selbsterziehung hingegen wird das telos, sofern es verwirklicht wird, erst nach dem selbsterzieherischen Einsatz wirklich, der vonnöten war, um das Ergebnis herbeizuführen. Hat X an seiner ethischen Reifung so gearbeitet, daß er die ihm mögliche Reife erlangt hat (falls dergleichen denkbar ist), so tritt dieses Ergebnis erst nach erfolgter Selbsterziehungsarbeit ein. d) Im Licht der vorangehenden Erörterungen ist Selbsterziehung in keinem Sinne als letztes Stadium der Erziehung anzusehen. Sie liegt insofern, streng
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genommen, außerhalb des Themenkreises dieses Buches, und ich habe nicht viel über sie zu sagen. Vor allem muß offen bleiben, auf welchem Wege jemand denn auf den eigenen Charakter gestaltend einwirken könne (vgl. aber 15.1). Ich möchte nur einige Komponenten des Umgangs mit sich selbst benennen, an die man beim Thema Selbsterziehung in erster Linie zu denken hat. Zu diesen Komponenten mögen Techniken gehören, die man – in Analogie zu Erziehungsmaßnahmen – regelrecht einsetzt. So mag man sich z. B. mittels eines Arrangements von Umständen dazu bringen, etwas einzuüben, das man ohne solche Übung nicht fertigbringt oder das man mit Übung leichter und lieber tut. Man ›erzieht sich‹ dazu, morgens rechtzeitig aufzustehen, abends nicht mehr als zwei Glas Wein zu trinken, auf Kritik nicht umgehend mit Entschuldigungen zu reagieren etc. Im Hinblick auf andere Ziele – man denke an Gelassenheit oder Anteilnahme und überhaupt an die emotionale Seite der Tugenden (6.5 (f)) – mag es hilfreich sein, sich Bildern, Romanen oder sonstigen eindrücklichen Erfahrungen auszusetzen. Und so weiter. Indessen macht wohl Gewissensbildung den Kern der Selbsterziehung aus. Dabei denke ich an dreierlei. Erstens an die fortgesetzte Aufmerksamkeit darauf, ob die Maßstäbe, die man (im Sinne praktischen Wissens) bejaht, nicht ›abstumpfen‹, sondern tatsächlich in den Motiven zum Tragen kommen, die das Handeln leiten. Solche Aufmerksamkeit schließt ein, daß man sein Handeln und seine Absichten anhand jener Maßstäbe überprüft; aber auch, daß man die Demut aufbringt, mit Selbsttäuschung zu rechnen, daß man entschlossen ist, sie zu durchschauen, und daß man nach Transparenz und Reinheit der Motive strebt. Sodann gehört zur Gewissensbildung, daß man den Stand seines praktischen Wissens überprüft – eines Wissens, das bei der soeben erwähnten Prüfung des eigenen Handelns vorausgesetzt ist. Es geht hier darum, daß man sich seine Vorstellungen von den Erfordernissen der Tugend überhaupt bewußt macht; daß man sie auf der Basis eigener Lebenserfahrung von eingedrungenen Klischees befreit und verfeinert (Wallroth 2000, S. 159–164); daß man die Grenzen besser ziehen lernt, die die Erfordernisse verschiedener Tugenden einander setzen (6.6). Schließlich denke ich drittens an die Aufgabe, auch darüber hinaus die Angemessenheit der Maßstäbe zu überprüfen, an denen man sein Handeln orientiert. Wie wir gesehen haben (16.7), sollte der Heranwachsende in einer letzten Phase der Erziehung lernen, die eigenen ethischen Vorstellungen zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren. Auch solches Reflektieren und Modifizieren gehört zur Gewissensbildung und damit zur Selbsterziehung. Denn durch ethisches Lernen will man ja letzten Endes dem Ziel näher kommen, gut zu leben – und nicht dem (im Verhältnis hierzu vorläufigen) Ziel, den faktisch angeeigneten ethischen Maßstäben gerecht zu werden.
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Professionalität Gardez-vous surtout de faire un me´tier de l’e´tat de pe´dagogue. Rousseau, Conside´rations sur le Gouvernement de Pologne, Ch. IV
Mit dem Ausdruck ›Erzieher‹ habe ich mich in den bisherigen Kapiteln unterschiedslos auf Eltern und Vormünder bezogen, auf gemeinsam und allein Erziehende, auf Zuständige mit und ohne Auftrag, auf umstandsbedingte und hauptberufliche Erzieher, auf ausgebildete und auf solche, denen auch ohne pädagogische Ausbildung Klugheit abverlangt ist. Allerdings haben im allgemeinen Eltern das Modell abgegeben – einfach deshalb, weil dieses Modell am wenigsten leicht die irreführende Assoziation heraufbeschwört, in der Erziehung würden systematisch Erziehungsmaßnahmen eingesetzt, mit deren Hilfe das beabsichtigte Erziehungsziel erreicht werden sollte.24 Indessen findet Erziehung auch außerhalb des Elternhauses statt, insbesondere im Kontext pädagogischer Berufstätigkeit, durch professionelle Erzieher. Daß »die Zuständigkeit für Erziehung professionellen Anbietern übertragen werden kann«, charakterisiert gerade die »heutige Erfahrungswelt von Kindern und Erwachsenen« (Oelkers 2001, S. 197). Mit Blick auf diese Situation soll das abschließende Kapitel zeigen, welche Relevanz die Unterscheidung der Kategorien poiesis und praxis für ein angemessenes Verständnis gerade auch der professionalisierten Erziehung hat. Dabei werde ich mich auf die erzieherische Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern konzentrieren. Teils, weil diese Aufgabe das Interesse der Gesellschaft in besonderem Maße auf sich zieht; teils, weil sich bei ihr die erzieherische von anderen Komponenten besser unterscheiden läßt als z. B. bei Jugend- oder Sozialarbeit. Ich werde zunächst die zweifache Aufgabe der Schule als Ausbildungs- und Erziehungsstätte kennzeichnen. Im zweiten Abschnitt will ich dann einen, wie mir scheint, repräsentativen Begriff von Professionalität kommentieren und kritisieren. Abschließend behandle ich das Thema Professionalisierung aus der Perspektive der in diesem Buch entwickelten ethischen Konzeption von Erziehung.
18.1
Gängige Erwartungen an Lehrer verraten eine inadäquate Vorstellung von Erziehung
In Abschnitt 8.4 habe ich ausführlich dargelegt, wie und warum man zwischen Erziehung (im engeren Sinn) und Ausbildung (in einem weiten Sinn) unterscheiden sollte. Diese Unterscheidung ist für ein angemessenes Verständnis pädagogischer Berufe von grundlegender Bedeutung, insbesondere auch für den des Lehrers. 24 Nicht zufällig geht die intentionalistische Auffassung der Erziehung mit einem Paradigma einher, das sich nicht an Eltern, sondern an Schul- und Hauslehrern orientiert.
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Einerseits nämlich bildet die Schule aus. Sie soll durch die Vermittlung grundlegender Fertigkeiten und Kenntnisse, durch Anregung und Anleitung zum Lernen, durch Hinweis auf Verhaltens- und Berufsmöglichkeiten, durch Korrektur von Irrtümern usw. Schülerinnen und Schülern zum Erwerb von Kompetenzen verhelfen. Andererseits wird vom Lehrer ›Erziehungsarbeit‹ erwartet. Wie sich aus 8.4 ergibt, ist das keineswegs selbstverständlich. Der Dozent der Volkshochschule und der Kursleiter eines Weiterbildungsseminars sind keine Erzieher. Gewiß, charakterliche Qualitäten eines Lehrenden, denen der Lernende (auch der erwachsene) kontinuierlich ausgesetzt ist, wirken sich fast unausweichlich auf dessen ethische Entwicklung aus. Das aber macht den Lehrenden noch nicht zum Erzieher – es macht nur sein Verhalten zu einem wichtigen sozialisierenden Faktor. Indem wir den Schullehrer als Erzieher betrachten, schreiben wir ihm erzieherische Verantwortung zu. Wie er sich diese Verantwortung mit den Eltern bzw. sonstigen Erziehern der Schüler teilt und wie er dazu kommt, soll hier nicht interessieren. Daß der Lehrer erzieherische Verantwortung trägt und daß sie in einer Gesellschaft, in der der Einfluß der Familie auf die Kinder schwindet, von besonderer Bedeutung ist, wird aber kaum jemand bestreiten. Darüber hinaus vertritt man nicht selten sogar die Auffassung, die Schule sei die eigentliche Erziehungsinstanz oder solle nach Möglichkeit dazu werden. So zitiert Jürgen Rekus Hartmut v. Hentig mit der Zielsetzung der Schule als »place for kids to grow up in«. Und zweifellos beschreibt er eine wachsende Tendenz, wenn er feststellt: »[...] in der aktuellen Schulreformdiskussion wird unter Hinweis auf die schwindende Erziehungsfunktion der Familie immer häufiger gefordert, die Schule von einem Lernort in einem Lebensort umzuwandeln«.25 (Faktisch sieht es wohl so aus: Da viele Schüler bei ihren berufstätigen oder als Allein-Erzieher überforderten oder kranken oder verunsicherten Eltern emotional und charakterlich nicht gut aufgehoben sind, kommen sie in die Schule, ohne für die Verarbeitung von Unterricht hinreichend disponiert zu sein. Dem Lehrer bleibt häufig nichts anderes übrig als der Versuch, Erziehungsarbeit nachzuholen.) Auch die Kultusminister haben die Zeichen der Zeit erkannt und suggestiv in Worte gefaßt: »Die Lehrkräfte müssen also gezielt mit sozialisatorischen Einflüssen umgehen und dabei eventuell sogar gegen diese pädagogisch zu wirken versuchen. Entsprechende absichtsvolle Bemühungen um Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung kann man deshalb als pädagogische Handlungen im Sinne von ›Erziehen‹ verstehen« (Terhart 2000, S. 50 f.). Die hier implizierte Einebnung der Familienerziehung in »sozialisatorische« 25 Rekus 1997, S. 44. Die Formulierung »school should be a place for kids to grow up in« stammt von Paul Goodman (v. Hentig 1996, S. 236). – Rekus selbst vertritt keineswegs die Auffassung, die Schule könne besser leisten, was elterliche Erziehung allenfalls unprofessionell betreibe. Vgl. seine an J. F. Herbart und A. Petzelt orientierte Idee des erziehenden Unterrichts (Rekus 1993, S. 183–254).
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Einflußnahme findet sich explizit bei Giesecke (1999, S. 252), der »pädagogische Fachlichkeit« dem »ursprünglichen Sozialisationsprozeß« gegenüberstellt: »die Intervention des Lehrers ist keine bloße Fortsetzung des elterlichen Willens und rechtfertigt sich auch nicht aus diesem«. Wie kommt es, daß die hier dokumentierten Auffassungen und Tendenzen zugunsten einer Verlagerung der Erziehungsaufgabe in die Schule gegenwärtig so weit verbreitet sind? Verschiedene Erklärungen sind möglich. Vor allem ist da natürlich die schon mehrfach angesprochene Schwäche der Familie als Sozialisationsinstanz zu nennen. Sofern die Gesellschaft diese Situation nicht zum Anlaß nehmen will bzw. kann, Funktion und ›Leistungsfähigkeit‹ der Familie wieder zu stützen und zu stärken und von den Eltern dann auch mehr erzieherisches Engagement und erzieherische ›Leistung‹ zu erwarten, ist die Schwäche der Familie gewiß ein guter Grund, sich nach anderen Erziehungsinstanzen umzusehen. Andererseits tragen wohl auch irrige Voraussetzungen zu den Erwartungen bei, die mitunter an die Schule gerichtet werden. Ich denke insbesondere an drei Irrtümer. a) Der erste besteht in der bereits beklagten Verwechslung zwischen Unterricht und Erziehung. Freilich vollzieht sich Erziehung weitgehend im selben Tun des Lehrers wie Ausbildung. Wie jede andere, beruht auch die schulische Erziehung wesentlich auf der ethischen Qualität des Umgangs der Zuständigen mit den ihnen Anvertrauten. Die poiesis, die dem Lehrer als solchem aufgetragen ist, der Unterricht, realisiert, wie alles erwachsene Tun und Lassen, zugleich praktische Motivationsstrukturen, die seinem Tun den Charakter des Handelns geben. Diese Strukturen werden aber nicht nur realisiert, sie werden auch repräsentiert; und insoweit der Lehrer über seinen Unterrichtsauftrag hinaus noch einen Erziehungsauftrag an den Schülern hat, wird diese Repräsentation zur Erziehung. Vollzüge des Lehrers bilden schon dadurch zugleich das Medium von Unterricht und das Medium von Erziehung. Die Verflechtung zwischen beiden wird dadurch verstärkt, daß ethisch orientierte Stellungnahmen vor allem dann von einem Lehrer zu erwarten sind, wenn sie zugleich didaktisch relevant sind – z. B., wenn er Ehrlichkeit oder gegenseitige Rücksichtsnahme einklagt, vor Eitelkeit warnt, auf Gründlichkeit und Ordnung dringt. Dazu kommen Komponenten des Unterrichts, bei denen die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten ethische Anregungen und Stellungnahmen impliziert oder zwanglos veranlaßt – ich denke hierbei etwa an die Bereiche der ›Bindestrich-Erziehung‹, von deren Doppelcharakter schon unter 2.5 (b) ausgiebig die Rede war. All das entbindet jedoch die philosophische Analyse bzw. die pädagogische Theorie nicht davon, zwischen Unterricht und Erziehung sorgfältig zu unterscheiden. b) Eine zweite irrige Voraussetzung überzogener Erwartungen an die Schule liegt in der intentionalistischen Idee, Erziehung unterscheide sich von bloßer
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Sozialisation durch das Beabsichtigen spezifischer Erziehungsziele und -mittel. Nur unter dieser in 4.4–7 widerlegten Annahme würden Lehrer eher als Väter und Mütter die Bezeichnung ›Erzieher‹ verdienen. Man könnte die Frage nach dem korrekten Verständnis von ›Erziehung‹ als bloße Angelegenheit der Wortwahl abtun, wenn nicht einiges an dieser Wortwahl hinge. Meint man nämlich, nur die Funktion der Schule verdiene eigentlich den Namen ›Erziehung‹, während man Familienerziehung besser als ›Sozialisation‹ bezeichne, so hat man faktisch gewertet und gewichtet. Man hat die Bedeutsamkeit fürs Leben, die man gemeinhin mit dem Ausdruck ›Erziehung‹ assoziiert, der Schule zugestanden. Identifiziert man nun außerdem – im Sinne des ersten Irrtums – die erzieherische Aufgabe der Schule mit der Vermittlung von Kompetenzen, so hat man vergessen, worin eigentlich das besteht, was Kinder, um gut leben zu lernen, in erster Linie brauchen – wie immer es bezeichnet und wo immer es geleistet wird. c) Hinter der Vorstellung, eigentlich sei die Schule, nicht die Familie für Erziehung zuständig, mag sich gelegentlich eine dritte Annahme verbergen, die ich für irrig halte: die Annahme, nicht der Familie, sondern der Gesellschaft und dem durch sie demokratisch legitimierten Staat gebühre das Recht, in erster Verantwortung darüber zu entscheiden, was aus den Kindern werden und wie man sie dazu anleiten solle. Ich will diese Auffassung, die sich durchaus auf namhafte Autoritäten berufen kann – man denke nur an Platon, Aristoteles oder Rousseau – hier nicht zu widerlegen suchen. Es muß der Hinweis genügen, daß sie keineswegs selbstverständlich ist, daß sie den Totalitarismus begünstigt und daß sie im großen und ganzen weder das Selbstverständnis noch die Strukturen neuzeitlicher Gesellschaften prägt. In der Praxis unserer Gesellschaft darf z. B. der Staat den Eltern nur dann das Erziehungsrecht entziehen, wenn sie ihre Aufgabe zum schweren Schaden des Kindes mißbrauchen oder vernachlässigen. Auch wenn man die hier identifizierten Irrtümer vermeidet, ist damit nicht die Tatsache aus der Welt geschafft, daß die Schule eine erzieherische Aufgabe hat. Und eine korrigierte Vorstellung von dieser Aufgabe ändert nichts daran, daß sie angesichts der Schwächung der Familie an sehr viele Lehrer neue und hohe Ansprüche stellt. Wohl aber könnte die korrigierte Vorstellung darüber entscheiden, wie man der Schule zu helfen gedenkt, und insbesondere: welche Qualifikation man dem als Erzieher herausgeforderten Lehrer abverlangt. Die Antwort auf diese Frage sehen heute viele in einer Professionalisierung des pädagogischen Handelns. Um die Haltbarkeit dieser Antwort zu prüfen, werde ich im folgenden Abschnitt zentrale Aspekte der Konzeption von Professionalität vorstellen und kommentieren, die Giesecke in seinem Buch Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes ausarbeitet.
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18.2
Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Erzieherische Wirksamkeit wird durch Professionalität eher behindert als gefördert
a) Vergütung: Giesecke (1999, S. 250) beginnt seine explizite Erklärung des Begriffs der Professionalität mit erfrischendem Realismus: »Das professionelle Handeln ist bezahlte Tätigkeit.« – Daß dem Lehrer seine Tätigkeit als ›Ausbilder‹ vergütet wird und werden sollte, bedarf wohl keiner Diskussion. Soll er aber auch dafür Geld erhalten, daß er eine erzieherische Aufgabe erfüllt? Spontane Reaktionen auf diese Frage weisen in entgegengesetzte Richtungen. Auf der einen Seite wird man fragen: Hat es nicht immer delegierte hauptamtliche Erzieher gegeben, die für ihre Aufgabe vom Auftraggeber zumindest unterhalten werden mußten? Werden nicht Wissenschaftler, die doch einzig der Wahrheit verpflichtet sind, gleichwohl für die Forschung und für die Vermittlung ihrer Ergebnisse bezahlt? Und sogar der hl. Paulus scheint zu lehren, daß nicht nur die Erfüllung rein poietischer Aufgaben entlohnt werden soll, wenn er im Ersten Korintherbrief (9,13) fragt: »Wißt ihr nicht, daß, die im Tempel dienen, vom Tempel leben, und die am Altar dienen, vom Altar ihren Anteil bekommen?« Auf der anderen Seite scheint der Einwand unabweisbar, daß Gelderwerb ein fernerer Zweck ist, der mit der inhärenten Finalität einer praxis unverträglich ist. Sokrates warf den Sophisten vor, daß sie mit ihrer Unterweisung diesen Zweck verfolgten. Denn dadurch unterwarfen sie sich der Notwendigkeit, an den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Klienten und Auftraggeber zu messen, was sie als wahr oder gut hinstellten. Geht es dem heutigen Lehrer etwa anders? Zwar wird die poietische Finalität der von ihm zu leistenden Ausbildung – deren Ausrichtung auf die Kompetenz, die der Schüler erwerben soll – durch Aussicht auf Bezahlung nicht tangiert.26 Denn zumindest in der Regel gibt es keinen Grund, warum die Absicht, durch das Ausbilden Geld zu verdienen, mit dem inhärenten (poietischen) Ziel dieses Ausbildens kollidieren sollte. Die praktische Finalität der Erziehung hingegen – die Selbstzwecklichkeit des Handelns – wird, so scheint es, durch Orientierung an pekuniären Zielen unweigerlich kompromittiert. Man könnte diese Unterscheidung zwischen bezahltem Ausbilden und bezahltem Erziehen als Haarspalterei abtun: es ist ja zugestandenermaßen dasselbe Tun, in dem sich Erziehung und Unterricht vollziehen. Wer also fürs Unterrichten 26 Das gilt unabhängig davon, ob man die Anstellung eines Ausbilders in Analogie zum Werkvertrag versteht (wie der Patient ihn mit dem Zahnarzt schließt) oder in Analogie zum Leistungsvertrag (wie der Patient ihn mit anderen Ärzten schließt – die dann für ihre ›Bemühungen‹ bezahlt werden). Im ersten Fall ist die tatsächlich resultierende Kompetenz der Ausgebildeten aus der Perspektive des Ausbilders ein ›Produktionsmittel‹, durch das die Bezahlung herbeigeführt wird. Im allgemeinen wird der Ausbilder aber nicht nach dem Ergebnis (dem ›Werk‹), sondern danach bezahlt, was er an Leistung investiert hat. In diesem, dem zweiten Fall ist der Geldverdienst als Hintergrundabsicht des Ausbilders einzuordnen, die ihn dazu veranlaßt, durch seine poiesis die Kompetenz des Auszubildenden herbeiführen zu wollen. (Aber auch den ersten Fall kann man so betrachten.)
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bezahlt wird, kann fürs Erziehen genauso wenig zusätzlichen Lohn erwarten wie ein Page, der für das Tragen von Koffern und das Bedienen des Aufzugs bezahlt wird, zusätzlichen Lohn dafür verlangen kann, daß er den Gästen des Hotels mit gesitteten Umgangsformen begegnet und nicht auf den roten Teppich spuckt. Diese Auskunft geht dem Problem jedoch nicht auf den Grund. Das zeigt sich schon darin, daß sie sich nicht auf professionelle Erzieher wie Kindergärtner oder Internatspräfekten anwenden läßt, die ihre – in der Regel begrenzten – Dienstzeiten zwar ebenfalls weitgehend organisierend, herrichtend, ausbildend, schreibend und sonstwie poietisch verbringen, die aber im allgemeinen gar nicht eingestellt würden, wenn es keine Erziehungsaufgabe zu erfüllen gäbe. Daß sie als Erzieher bezahlt werden, läßt sich kaum leugnen. Läßt es sich aber rechtfertigen? Darf man die Absicht haben, fürs Erziehen Geld zu erhalten – eine Absicht, ohne die es im allgemeinen nicht zum pädagogischen Dienstvertrag kommen wird? Wird hier nicht A selbst von B instrumentalisiert, indem seine Erziehung instrumentalisiert wird? Schließen nicht erzieherische Intentionen ihrem Begriff nach jede weitere Finalisierung aus? Wie soll es möglich sein, durch Praxis der Tugenden (Erziehungsmaßnahmen eingeschlossen) zur Charakterbildung eines Heranwachsenden beizutragen, um Geld zu verdienen? In der Tat schließt Tugend aus, daß man ihre Verwirklichung von der Aussicht auf irgendwelche Erträge abhängig macht. Und wenn der Erzieher einen Tierfilm in der erzieherischen Absicht vorführt, bei den Schülern eine Einstellung aufmerksamer Schonung gegenüber Tieren zu fördern und zu festigen, dann verträgt diese Absicht aus begrifflichen Gründen kein weiteres Um-zu. Das gilt auch, wenn Ertrag und Um-zu in Bezahlung bestehen. Zwar mag jemand gut handeln, indem er Geld verdient; und natürlich kann – und sollte – was er tut, um Geld zu verdienen, zugleich gutes Handeln sein. Aber aus keiner dieser beiden Feststellungen ergibt sich, man könne gut handeln, um Geld zu verdienen. Ebenso wenig läßt sich ein Erziehungsziel als solches in der ferneren Absicht anstreben, für die Realisierung dieses poietischen telos – für eine charakterliche Qualität des Erzogenen – Geld zu erhalten. Bezahlte Tätigkeit als Erzieher ist damit jedoch noch nicht ausgeschlossen. Um dies zu verstehen, geht man am besten von der Frage aus: Zu welcher Art Tun und Lassen verpflichtet sich B, indem er freiwillig erzieherische Zuständigkeit für A übernimmt? Ich werde an diesem Tun und Lassen vier Aspekte unterscheiden, unter denen dann die weitere Frage zu beantworten ist, inwieweit es sich vergüten läßt: 1) Was B zu tun hat, ist: A gut zu erziehen – im Sinn einer poiesis, die durch A’s Erzogen-Sein finalisiert ist. 2) B hat also gut zu handeln. 3) Dieses Handeln bedeutet unter den Umständen auch Implementierung ›optionaler‹ Motivationsstrukturen. 4) B muß Zeit und Energie einsetzen und Unwillkommenes in Kauf nehmen. 1) Selbst wenn B (durch die Qualität seines Handelns) sicherstellen könnte, daß aus A ein anständiger Mensch würde, dürfte er nicht für das Resultat seiner Mühen bezahlt werden. Auch der professionelle Erzieher steht nicht unter einem
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
›Werkvertrag‹ (vgl. Kapitel 5, Fn. 80)! Obwohl die charakterliche Verfassung des Erzogenen (mit Einschränkung) als Produkt der Erziehung gelten kann, darf diese nicht als Instrument betrachtet und also auch nicht nach irgendeinem Gebrauchswert bezahlt werden. (Vgl. Kapitel 9.) 2) Aber auch unter einem ›Dienstvertrag‹ kann B nicht im Hinblick auf das eigentliche Medium der Erziehung stehen. Denn dieses Medium ist sein Handeln. Gutes Handeln aber, Sich-von-guten-Beweggründen-motivieren-Lassen, ist nichts anderes als ein Erfordernis der Tugend. Wer sich die Qualität seines Handelns vergüten lassen wollte, hätte dieses Handeln eo ipso disqualifiziert. 3) Man könnte allerdings darauf hinweisen, daß B durch die übernommene Verantwortung das Spektrum guter und schlechter Beweggründe freiwillig für sich selbst erweitert hat. Hätte er den Erziehungsauftrag nicht übernommen, stünde sein Handeln nicht unter dem Anspruch der Erzieher-Tugenden und der erzieherischen Klugheit (vgl. Kapitel 13 und 14). Diese Tugenden sind ›optional‹; ihre Forderungen entspringen der eingegangenen Vereinbarung und den aus ihr resultierenden Umständen – wenngleich B nunmehr (unter diesen Umständen) den Forderungen entsprechen muß (um gut zu handeln). Darf B sich dafür bezahlen lassen, daß er freiwillig eine Verantwortung übernommen hat, unter der sich Eltern in gewissem Sinne ungefragt vorfinden – oder genauer: dafür, daß ihm unter dem Anspruch der erweiterten Motivationsstrukturen etwas abverlangt ist, das ihm andernfalls nicht abverlangt wäre? (Werden Berufssoldat und Feuerwehrmann u. a. dafür bezahlt, daß sie freiwillig einen gefährlichen Beruf ergriffen haben, der sie unter (ethische!) Forderungen der Tapferkeit stellt, denen sie andernfalls nicht ausgesetzt wären?) Ich weiß die Antwort auf diese Frage nicht. (Immerhin könnte ja, tugendethisch gesehen, das Mehr an ethischem Anspruch durch ein Mehr an Lebensqualität ausgeglichen werden!) Falls die Antwort Ja lautet, müßte man den gemeinten motivationalen Zusammenhang vermutlich so verstehen: Geldverdienst ist die Absicht, in der sich B auf Vereinbarungen und Umstände einläßt, die ihn unter den zusätzlichen ethischen Anspruch stellen. Geld ist dann ein Hintergrundmotiv des erforderlichen Handelns, insofern es die Orientierung an jenen zusätzlichen Beweggründen motiviert, die ihrerseits in die Motivation von B’s Handeln eingehen. 4) Ob das plausibel ist, muß hier nicht entschieden werden. Denn das erziehungskonstitutive Handeln wird seinerseits durch Handgriffe, Gänge, Reden, Aufmerksamkeiten, usw. konstituiert, die Zeit und Energie beanspruchen. Dem Erzieher entstehen damit, ökonomisch gesprochen, ›Opportunitätskosten‹, deren Ausgleich durch den Auftraggeber nicht mehr als gerecht ist. Zudem zehren die erziehungskonstitutive Betätigung und die mit ihr in Kauf genommene Mühe, Aufregung usw. vermutlich an seinen Kräften, was ebenfalls einen Anspruch auf Vergütung oder vielleicht Entschädigung schafft. Ist das aber nicht eine Konstruktion, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat? Man stelle sich einen Kindergärtner vor, bei dem die Kleinen lügen, fluchen und sich prügeln lernen. Wird die Leiterin des Kindergartens ihn nicht mit der
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Begründung entlassen, dafür werde er nicht beschäftigt und bezahlt? Und dieses ›dafür‹ bezieht sich natürlich nicht darauf, daß er es am Einsatz von Zeit oder Aktivität oder Aufregung fehlen läßt; sondern auf seinen schlechten Einfluß auf den Charakter der ihm anvertrauten Kinder. Demnach, so scheint es, wird der erwünschte Erzieher, entgegen meinen Beteuerungen, tatsächlich dafür bezahlt, daß sein Tun und Lassen die Aspekte (1) oder (2) aufweist: daß er also bei den Kindern zur Stabilisierung eines guten Charakters beiträgt; oder daß er die Tugenden praktiziert. Oder auch dafür, daß er, im Sinne von (3), eine ethisch besonders anspruchsvolle Verantwortung übernimmt. Das Argument ist aber nicht viel wert. Denn auch dann z. B., wenn der Kindergärtner exorbitante Summen für neues Spielzeug usw. ausgäbe, könnte es heißen: ›Dafür wirst du nicht bezahlt‹. Gewiß, wer einen Erzieher beschäftigt, will, daß dieser einen guten Charakter hat und so die Gewähr eines günstigen Einflusses auf Heranwachsende bietet. Und wer die Mittel dazu hat, wird sich ›die richtige Person‹ auch ›etwas kosten lassen‹. Aber daraus folgt nicht, daß er diese Person für ihren günstigen Einfluß entlohnt. Mit welcher Begründung nämlich kann der Bewerber gute Bezahlung oder der angestellte Erzieher eine Gehaltserhöhung fordern? Kann er sagen: ›Im Vergleich zu den Mitbewerbern bin ich sehr tugendhaft‹ bzw.: ›Seit der letzten Gehaltserhöhung hat sich mein Charakter verbessert‹? Die Antwort müßte zweifellos lauten: ›Einen guten Charakter und die Bemühung um Tugend setzen wir voraus. Und daß du dafür Geld verlangst, kompromittiert die Reinheit deiner Motive und spricht eher gegen die behauptete ethische Qualifikation!‹ Begründungen im Sinne von (4) hingegen würden uns nicht überraschen und wären ganz in der Ordnung: Mein Schlaf wird fast jede Nacht gestört – Ich muß nebenher die Buchhaltung erledigen – Diese Jugendlichen sind gewalttätig und deshalb besonders strapaziös – Ich habe weite und mühsame Wege zwischen den Internatsgebäuden zurückzulegen – Der Kindergarten hat jetzt mehr Kinder aufgenommen, ohne mehr Erzieher einzustellen. Ich bleibe also dabei, daß eine Formulierung wie ›Einsatz von Zeit, Energie usw.‹ geeignet ist, den Aspekt erzieherischen Tuns zu beschreiben, unter dem professionelle Erziehung vergütet werden kann. Vielleicht würde man sogar, statt von Vergütung, treffender von Entschädigung sprechen. Denn weder das, was Erziehung hervorbringt, noch ihr Medium, gutes Handeln, ist ›bezahlbar‹. Im Hinblick auf das jedoch, was der Erzieher dabei aufwendet bzw. in Kauf nimmt oder riskiert, ist Entschädigung möglich. Freilich kann man vom Internatspräfekten nicht sagen, er lege einen mühsamen Weg zurück oder bange um seine Gesundheit, um dafür Geld zu erhalten. Er legt vielmehr den Weg zurück, um im Tischtennis-Raum nach dem Rechten zu sehen, oder fürchtet sich, weil er bedroht wird. Wie bei fast allen bezahlten Tätigkeiten, liefert die Aussicht auf Bezahlung auch im Fall professioneller Erziehung nicht den unmittelbaren Beweggrund zu dieser oder jener tätigkeitskonstitutiven Handlung, sondern den (oder einen) Beweggrund, sich auf einen
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Kontext einzulassen, in dem sich (neben Befürchtungen, Strapazen, Risiken, Zeitaufwand usw.) Beweggründe zu solchen Handlungen einstellen. In einem Sinn, der etwas weiter ist als der in 6.9 erklärte, ist somit die Vergütung Hintergrundmotiv für das, was der professionelle Erzieher in Ausübung seines Berufes in Kauf nimmt und tut. b) Beauftragung: Ich bin davon ausgegangen, daß Menschen, wenn sie Eltern werden, im Normalfall eo ipso zugleich die Haupt-Verantwortlichen für die Erziehung ihrer Kinder werden – unabhängig von jedem Auftrag und von jeder Vergütung. Ob alternative Zuständigkeiten, wie wir sie in anderen Gesellschaften antreffen, sozialethisch gleichwertig sind, ob in unserer Gesellschaft Eltern für die mit der Kindererziehung verbundene Arbeit Geld erhalten sollten, und von wem: derartige Fragen möchte ich hier auf sich beruhen lassen. Auch werde ich nicht untersuchen, wer dem professionellen Erzieher in letzter Instanz den Auftrag – und das Geld – zu geben hätte. Ich nehme vielmehr an, daß hinter seiner Bezahlung immer ein Auftraggeber steht. Giesecke, mit dem ich diese Annahme teile, sagt allerdings darüber hinaus vom Auftraggeber, daß er »grundsätzlich auch die Ziele des Handelns zumindest mitbestimmen kann«. Und er folgert daraus, daß die pädagogische Beziehung »keine ganzheitliche und die Person des anderen voll umfassende, sondern nur eine begrenzte sein kann. [...] Es geht immer um begrenzte Zwecke, in der Schule etwa um Unterrichtung, in der Sozialpädagogik etwa um Verhaltenskorrektur« (1999, S. 250). Zwar »brauchen Berufspädagogen durchaus eine ganzheitliche Vorstellung über ihre kindlichen und jugendlichen Partner. Daraus folgt jedoch nicht, daß die personale Ganzheit der anderen auch der Gegenstand des pädagogischen Handelns sein müsse, als ginge es darum, diese Ganzheit zu traktieren bzw. zu verändern. Ganzheitliches Verstehen muß vielmehr ausbalanciert werden mit partikularem, also begrenztem Handeln« (S. 254). Und schon vorher (S. 247) äußert er sich kritisch zur gegenteiligen Auffassung: »›Erziehung‹, so ist die immer noch weit verbreitete Meinung, müsse ihren Sinn verfehlen, wenn sie sich nicht mehr umfassend auf die ganze Persönlichkeit des Kindes richtet, sondern in einer den anderen Berufen vergleichbaren Begrenzung ausgeübt werde«. Dieser ›Meinung‹ also widersprechen des Autors eigene Ansichten über professionelle oder Auftragserziehung. Diese Ansichten leiden darunter, daß sie die Finalität der Charakter-Erziehung überhaupt mißdeuten. Natürlich kann man, wie Giesecke das tut, mit einem weiten Erziehungsbegriff arbeiten. Dann aber muß man innerhalb der so verstandenen Erziehung zwischen Charakterbildung und Vermittlung von Kompetenzen unterscheiden. Letztere betrifft in der Tat ›begrenzte Zwecke‹. Und deren Festsetzung kann prinzipiell dem Auftraggeber überlassen bleiben, der seinerseits prinzipiell das Verfolgen dieser Zwecke delegieren kann. Indessen sind beide Feststellungen einzuschränken, sofern der Lehrer nicht ausschließlich Kompetenzen vermitteln, sondern auch im engeren Sinn, also ethisch, erziehen soll.
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In diesem Fall erstreckt sich nämlich die Zuständigkeit des Lehrers auch darauf, im Rahmen seiner Möglichkeiten zur charakterlichen Qualifizierung der Schüler beizutragen. Ist dies ›keine ganzheitliche und die Person des anderen voll umfassende‹ Aufgabe? Gewiß, sie bezieht sich nicht (oder jedenfalls nicht unmittelbar) auf primär außer-ethische Bereiche wie Gesundheit, finanzielle Sicherung oder ReiseKompetenz der Schüler. Auch spannt sie die Aufmerksamkeit und die Einsatzbereitschaft des Lehrers für den einzelnen Schüler nicht rund um die Uhr oder konkurrenzlos ein.27 Und das ist vertretbar, weil nicht er, sondern andere – in der Regel die Eltern – die Hauptlast der ethisch-erzieherischen Verantwortung tragen. In diesen Hinsichten also kann von einer Begrenzung der Aufgabe eines Lehrers durchaus die Rede sein. Doch wäre es irreführend, den guten Charakter einen ›begrenzten Zweck‹ zu nennen. Denn das gute Leben im Sinn des Gedeihens ist zwar ein noch umfassenderes Ideal als das charakterlich gute Leben; doch ist menschliches Gedeihen bis in alle seine Verästelungen hinein auf die instrumentelle ebenso wie auf die konstitutive Rolle des guten Charakters angewiesen (vgl. 6.3 (d), 8.6). Ferner kann wegen der wechselseitigen Bezüge zwischen den Tugenden (6.6) kein Erzieher eine ›begrenzte‹ Charaktereigenschaft fördern, ohne sich für die Charakterbildung als ganze zuständig zu wissen. Und schließlich gilt für die ethische Aufgabe auch des Lehrers, was in 10.5 gesagt wurde: Der Bereich seiner Verantwortung wird nicht durch die Schwierigkeiten begrenzt, die der Erfüllung seiner Aufgabe aus der Verfassung eines Schülers oder der Ungunst der Umstände erwachsen. Und wie steht es um die These, der Auftraggeber des professionellen Erziehers könne ›grundsätzlich auch die Ziele des Handelns zumindest mitbestimmen‹? Auf (ethische) Erziehungsziele dürfte sie kaum zutreffen. Denn solche Ziele betreffen, wie soeben erwähnt, unweigerlich die charakterliche Qualifizierung des Schülers als ganze. Die erzieherische Zuständigkeit des Lehrers läßt sich daher allenfalls darauf festlegen, bestimmte Aspekte dieser Qualifizierung besonders in den Blick zu nehmen und zu unterstützen. Und welche Verfassung der Charakter des Schülers mit Hilfe von Erziehung annehmen soll: diese Frage darf sich der Lehrer von keinem Auftraggeber beantworten lassen, ohne nach Maßgabe eigenen Wissens und Gewissens zustimmen zu können. c) Fachlichkeit: »Jede Professionalität beruht auf einer spezifischen Fachkenntnis und auf Techniken bzw. Methoden, wie dieses Wissen mit Erfolg anzuwenden ist. Wie wir sahen, hat schon Rousseau dafür einen Grundstein gelegt: Der Pädagoge ist demnach Fachmann für die Kindlichkeit des Kindes, und er versteht dessen Erziehung mit den entsprechenden Methoden zu arrangieren. Diese 27 Giesecke (1999, S. 251) schreibt in diesem Sinne: »Öffentliches pädagogisches Handeln ist zeitlich begrenzt.« Und: »Im Unterschied zur Familie [...] erstreckt sich die professionelle Beziehung auf eine tendenziell unbegrenzte Anzahl von Personen.«
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Fachlichkeit ist im familiären Umgang nicht nur unnötig und in der Regel auch nicht zu erwarten, sie würde vielmehr hier auch die Beziehung eher gefährden, insofern diese ja auf umfassender Akzeptanz und spontaner und uneingeschränkter Zuwendung beruht« (Giesecke 1999, S. 252). Während der Autor an anderer Stelle (S. 231; vgl. 3.1 (c)), das ›Erziehungsverhältnis‹ weit auslegend, darauf besteht, daß Erziehung stattfindet, seit es Menschen gibt, heißt es hier: »Pädagogische Fachlichkeit ist eben keine Fortsetzung oder Optimierung des ursprünglichen Sozialisationsprozesses, sondern eine eigentümliche Intervention in diesen«. In dieser Auffassung scheint mir die Vernachlässigung einer Unterscheidung mit der Überzeichnung einer anderen zusammenzuwirken. Was ich damit meine, will ich hier am Beispiel der schulischen Erziehung erläutern. 1) Vernachlässigt wird von Giesecke, wie bereits moniert, die Unterscheidung zwischen (ethisch) erziehender und ausbildender Anleitung. Er übersieht, daß Fachlichkeit nicht die erste, sondern die zweite kennzeichnet. Und zwar sind fachliche Kenntnisse und Kompetenzen zur Qualifizierung des Lehrers für den schulischen Unterricht (wie auch für jede sonstige Ausbildungstätigkeit) nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend, insoweit die ethische Qualität seiner Motivation für den Erfolg belanglos ist. Unterricht ist in der Tat ›keine Fortsetzung oder Optimierung‹ der familialen – oder irgendeiner – Erziehung. Wohl aber sind Erziehung durch den Lehrer und Erziehung durch die Eltern ihrer Finalität nach dasselbe; sie sollen einander stützen und ergänzen. ›Der Finalität nach dasselbe‹: Ist es dann nicht immer noch möglich, daß sie sich in der Weise des Vorgehens unterscheiden? Daraus, daß Fachlichkeit den Unterricht kennzeichnet, folgt doch nicht, daß so etwas wie fachliches Wissen und Können nicht auch im Kontext schulischer Erziehung ihren Platz haben! Können nicht z. B. die komplizierte innere Verfassung eines Schülers und manche knifflige Situation spezielle psychologische Kenntnisse und besonderes Geschick verlangen, damit die ethische Botschaft ankommt? 2) Das will ich nicht leugnen. Nur hat es wenig mit dem Unterschied zwischen schulischer und häuslicher Erziehung zu tun. Diesen Unterschied überzeichnet Giesecke. Auch zu Hause sind bzw. wären gelegentlich spezielle Kenntnisse und besonderes Geschick vonnöten, um z. B. den Heranwachsenden zugänglicher zu machen. Nur werden wir von den Eltern in dieser Hinsicht weniger Kompetenz erwarten als vom professionellen Erzieher – zumal sie häufig diesen Mangel durch die Wirksamkeit der engeren Beziehung auf Dauer ausgleichen.28 Im übrigen sucht man die fragliche professionelle Kompetenz
28 Dies deutet auch das Zitat aus Gieseckes Buch an. Nur sind eben beim Lehrer spontane Zuwendung – oder Zurückweisung! – usw. nicht weniger erziehungswirksam als bei den Eltern. Auf der anderen Seite stehen quasi-therapeutische ›Techniken bzw. Methoden‹ durchaus nicht notwendig im Widerspruch zu ›umfassender Akzeptanz und spontaner Zuwendung‹. Das Erziehungsverhältnis läßt in dieser Hinsicht manches zu, was Partnerschaft und Freundschaft ausschließen. Das sollte bedenken, wer aus dem Erzieher einen
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wohl eher in Erziehungsberatung und Jugendhilfe als in der Schule. Aber wie dem auch sei: das vom Lehrer vielleicht verlangte Mehr an ›Fachlichkeit‹ im Dienst erzieherischer Klugheit bedingt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen schulischer und häuslicher Erziehung – nicht im Hinblick auf die in den Kapiteln 13 und 14 genannten Medien der Vermittlung und also nicht im Hinblick auf die Anforderungen an Vernunft und Charakter des Erziehers. d) Überprüfbarkeit der Kompetenz: Der soeben soeben artikulierten Gleichstellung häuslicher und schulischer Erziehung könnte Giesecke nicht zustimmen. Denn pädagogische »Fachkenntnis wird in einer Ausbildung erworben, die mit einer Prüfung abgeschlossen wird. [...] So lassen sich Fachkenntnisse verhältnismäßig gut lehren und prüfen, weniger oder gar nicht jedoch charakterliche, motivationale und überhaupt emotionale Aspekte der Persönlichkeit [...]. Qualitäten, die in der Ausbildung nicht gelehrt und objektivierbar und somit vergleichbar überprüft werden können, können anschließend auch nicht erwartet werden, wenngleich sie ›eigentlich‹ von besonderer Bedeutung sein mögen, – wie etwa bestimmte Fähigkeiten der Empathie« (Giesecke 1999, S. 253). In 8.4–5 habe ich bereits darauf hingewiesen, daß man in der Tat durch Ausbildung als solche nicht Charakter, sondern nur Kompetenz erwirbt. Indessen benötigt der Lehrer als Erzieher ethische Qualitäten: nicht ein einstudiertes Repertoire an Verhaltensmustern, sondern allgemeine Tugenden, die sich in seinem Handeln ebenso wie in seinen Stellungnahmen manifestieren; nicht nur psychologische und methodische Kompetenzen, sondern Erzieher-Tugenden (die freilich nicht ganz ohne Fähigkeiten wie Empathie auskommen); nicht nur die abprüfbare Kenntnis gesellschaftlich akzeptierter Normen und moralphilosophischer Theorien, sondern Vernunft, die sich in praktischem Wissen und in der Klugheit seines Tuns und Lassens, auch in unvorhergesehenen Situationen, niederschlägt. Wenn aber zum guten Erzieher erst der gute Charakter qualifiziert, der – wie Giesecke selbst betont – durch Ausbildung nicht erworben wird, dann kann der Lehramtskandidat durch Ausbildung nur zum Ausbilder, nicht aber zum Erzieher werden. Erziehung ist nicht in erster Linie eine Frage der Kompetenz. Kann man sich mit diesem Befund abfinden und dem Lehrer dennoch eine Zuständigkeit zuschreiben, die ihm die Gesellschaft offenbar zumutet: Mitverantwortung für die (ethische) Erziehung der Schüler?29 − Erziehungswissen›Freund‹ oder ›Partner‹ machen will. – Von einer eindeutigen Überlegenheit des Elternhauses über die Schule in Angelegenheiten der Erziehung geht Pestalozzi auS. 1799 schreibt er mit Blick auf seinen Aufenthalt in Stans, »daß die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müsse[n] nachgeahmt werden, und daß die letztere nur durch die Nachahmung der Erstern für das Menschengeschlecht einen Werth hat« (1996, S. 66). 29 Ich habe nicht den Eindruck, daß sich die Erziehungswissenschaft mit Fragen dieser Art intensiv beschäftigt. Eher den, daß der pädagogische Fuchs die schwer zugänglichen Trauben der Charakterbildung (des Lehrers, aber auch der Schüler) für allzu sauer (sprich:
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schaftler und Bildungspolitiker stellt dieser Befund vor eine Wahl. Ich skizziere einige Alternativen: 1) Sie erkennen zwar an, daß der Lehrer, wie jeder andere, unumgänglich – for better or worse – auch ethisch sozialisierend wirkt; doch schreiben sie seine Erziehungsaufgabe klein oder reduzieren seine Verantwortung ganz auf die Vermittlung von Kompetenzen durch Unterricht (eine unpopuläre, aber dadurch noch nicht widerlegte Konzeption). 2) Sie versuchen nachzuweisen (oder vertreten wenigstens ausdrücklich die von mir bezweifelte Auffassung), daß der Lehrer selbst charakterlich nicht besonders qualifiziert sein muß, um ethisch zu erziehen. 3) Sie erinnern sich an ältere Modelle der Lehrerbildung und suchen nach Wegen, charakterbildende Elemente in die Berufsvorbereitung von Lehrern zu integrieren.30 4) Sie plädieren für ein Verfahren der Einstellung, bei dem auch charakterliche Qualitäten des Bewerbers ins Gewicht fallen (ein in vielen Hinsichten fragwürdiges Plädoyer für Gesinnungsprüfung). 5) Sie bekennen sich zu einer Hoffnung, an der man im Hinblick auf elterliche Erzieher ohnehin nicht vorbeikommt: daß nämlich Lehrer – ebenso wie Eltern – in der Regel bereits durch eigenes Erzogen-Sein, Sozialisierung, Lebenserfahrung und reflektierte Selbsterziehung charakterlich hinreichend dazu qualifiziert sind, andere zu erziehen; so daß die Schule fast immer eine erwünschte Ergänzung der familialen Erziehung bedeuten wird. Im übrigen bedarf es natürlich in jedem Fall der Hoffnung, daß ethisch unqualifizierte Lehrer nicht allzu viel Schaden anrichten. Die Qual der hier angedeuteten Wahl bleibt dem Erziehungswissenschaftler, der meine handlungsphilosophische Analyse des Erziehens akzeptiert, nicht erspart. Ist er empirisch ambitioniert, wird er der fünften Möglichkeit am wenig-
sekundär) erklärt. Auch läßt man wohl die unumgängliche Frage nach der Objektivität vermittelbarer ethischer Maßstäbe gern auf sich beruhen. Ein Übriges tut die (scheinbar besonders wissenschaftliche) Forderung, ein Begriff wie Qualifikation zum Erzieher müsse operationalisierbar, die Qualifikation also nachprüfbar sein. Hier droht eine ernste Gefahr: Oberflächlich gesehen, geht es bei dieser Beschränkung des Instrumentariums empirischer Erkenntnis bloß um methodologische Fragen. Tatsächlich aber legt man natürlich durch solche Methoden-Selektion den Ausschnitt pädagogischer Wirklichkeit fest, in dem etwas überhaupt zum Gegenstand der Erziehungswissenschaft werden darf. 30 Hierfür plädiert etwa Rekus (1993, S. 54). Nach seiner Auffassung »wird heute auch die Lehrerausbildung danach trachten müssen, Rationalität und Moralität wieder durch geeignete Lehr- und Lernformen zu verbinden, die im Zuge einer übertriebenen fachwissenschaftlichen Vereinseitigung der Lehramtsstudiengänge zumindest vernachlässigt worden sind. [...] Und auch die regelmäßig und kontinuierlich zu erfolgende Lehrerfortbildung wird sich darum bemühen müssen, dass sich Rationalität und Moralität zu einem entsprechenden Lehrerethos verbinden, das dazu führt, dass der funktionale Aspekt von Schule und Unterricht durch pädagogische Prinzipien relativiert wird«. – Zum Problem der Lehrerbildung vgl. auch das Gespräch mit Hildegard Hamm-Brücher in Müller 1995, insbes. S. 51f.
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sten zuneigen. Indessen spricht einiges für die hier suggerierte Hoffnung. Nicht zuletzt die Tatsache, daß der Lehrerberuf im allgemeinen unter Gesichtspunkten der Vergütung, der Freizeit, der Bequemlichkeit usw. nicht so attraktiv ist, daß viele ihn wählen würden, ohne das Wohl der Schüler zu ihrem leitenden Anliegen zu machen und sich Freude an ihrem Fortschritt zu erhoffen – beides immerhin Indizien für Erzieher-Tugenden. Wenn das richtig ist, sorgen nicht Lehrerseminare oder Eduard Sprangers ›Erziehung des Erziehers‹ oder Auslese durch Gesinnungsprüfung und noch weniger die Vermittlung ›moralischer Kompetenz‹ dafür, daß Lehrer als Erzieher geeignet sind. Eher darf man auf ethisch orientierte Anstöße im Sinne von (3) hoffen. Vor allem aber dürfte sich schon bei der Berufswahl die Aussicht auf Umstände, die den beruflichen Alltag des Lehrers faktisch prägen, selegierend auswirken. Diese Sicht der Situation ist keineswegs zynisch, sondern lediglich realistisch. Sie ist weder beruhigend noch theoretisch befriedigend. Man kann sich jedoch der Wahl zwischen ihr und den angedeuteten Alternativen nicht dadurch entziehen, daß man sich mit Giesecke auf die moderne Arbeitsteilung beruft. Giesecke sieht einen Fortschritt darin, daß auch für den professionellen Erzieher »die Trennung von Beruf und übrigem Leben gilt; aus dem Verhalten innerhalb des Berufes dürfen demnach keine Schlüsse gezogen und Erwartungen abgeleitet werden für das Leben außerhalb und umgekehrt« (1999, S. 268). Sollten jedoch – in Übereinstimmung mit meiner Analyse – Schlüsse von der allgemeinen charakterlichen Qualität des Lehrers auf seine Qualifikation zum Erzieher berechtigt sein, so liefe das Verbot der Folgerung hier auf Unterdrückung der Wahrheit und Anstiftung zur Nativität hinaus – oder, bestenfalls, auf augenzwinkernde Taktik und political correctness: jeder weiß um den Zusammenhang, aber wo kämen wir hin, wenn wir ihn beim Namen nennen und ernstnehmen wollten? Es sieht in der Tat so aus, als könne man den Lehrer auf seinen Beruf fast ausschließlich durch fachliche, didaktische und psychologische Ausbildung vorbereiten. Jedenfalls können sich institutionelle Prüfungen seiner Eignung nur auf den Bereich der entsprechenden Kompetenzen beziehen. Aber damit ist die Frage, ob und wodurch ein Lehrer geeignet ist, über den Unterricht hinaus – bzw. im Kontext des Unterrichtens – seine Schüler zu erziehen, nicht erledigt, geschweige denn beantwortet. Die Tatsache, daß es kein anerkanntes Verfahren gibt, die Qualifikation des Lehrers zum Erzieher zu fördern und zu prüfen, beweist nicht, daß hier kein Problem besteht. e) Pluralismus: Freilich würde sich das Problem erledigen, wenn sich die ›Erziehungs‹aufgabe des Lehrers gar nicht auf die Bildung des Charakters bezöge. Vielleicht ist das Gieseckes Auffassung: »Werden z. B. im Unterricht normative Aspekte des persönlichen oder politischen Lebens angesprochen, entfällt der Vorsprung des Lehrers, weil im Alltagsleben diesseits der Legalität die Normen freigegeben und der jeweils persönlichen Vereinbarung überlassen
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worden sind, – ein Resultat der Durchsetzung des Pluralismus; was tatsächlich der Option unterliegt, kann kein Lehrer mehr verbindlich machen« (1999, S. 256). Von der hier angesprochenen Freigabe war ich bisher nicht informiert. Auf welche und wessen Verordnung bezieht sich der Autor? Und darf der Lehrer z. B. Tierquälerei nur so weit verurteilen, wie auch das Gesetz dies tut? (Mit wem übrigens hat der Schüler alles weitere in dieser Angelegenheit ›vereinbart‹?) Darf der Geschichtslehrer Hitlers antisemitische Propaganda nicht als Hetzreden bezeichnen? Und darf ein Zyniker – leider gibt es solche gelegentlich auch unter den Lehrern, sie werden eben durch Prüfungen nicht ausgesiebt – darf er also dem Schulanfänger erklären: Gewalt gegen unliebsame Zeitgenossen wird dir nicht mehr erlaubt sein, sobald du das strafmündige Alter erreicht hast; was du vorher tust, ist freigegeben und, wenn auch nicht ohne Risiko, eine Sache deiner Option? Oder darf er ihm diese Wahrheit etwa deshalb nicht enthüllen, weil sein Fachwissen von der ›Kindlichkeit des Kindes‹ impliziert, daß sich Gewaltbereitschaft, einmal entwickelt, auch mit Erreichen des strafmündigen Alters nicht so leicht abstellen läßt? Um dem tatsächlichen Verhältnis zwischen der Verantwortung des Lehrers und den ›normativen Aspekten des persönlichen oder politischen Lebens‹ näherzukommen, möchte ich fünf denkbare Positionen zu diesem Thema prüfen. 1) ›In der Frage, wie man handeln soll, gibt es keine Wahrheit. Also darf der Lehrer keine Norm des Handelns als verbindlich hinstellen.‹ – Gibt es keine ethische Wahrheit, so gibt es nichts, was der Lehrer nicht tun oder lassen, und nichts, was er nicht lehren dürfte. Freilich steht er unter Gesetzen; und mit dem Eintritt in sein Dienstverhältnis hat er sich – explizit oder implizit – verpflichtet, auch seine Schüler nicht zu gesetzwidrigem Verhalten zu ermuntern. Aber was bedeutet so ein Versprechen, so eine ›Verpflichtung‹ unter dem Vorzeichen ethischer Beliebigkeit? Nichts anderes als das Risiko, sich durch Zuwiderhandlung Sanktionen auszusetzen. An eine ethische Grenze stößt das Verhalten des Lehrers also weder diesseits noch jenseits der Legalität. Und daß es ›diesseits der Legalität‹ an keine Grenze der Legalität stößt, ist eine Tautologie. 2) ›Nur Fragen der Gerechtigkeit lassen eine objektive Antwort zu. Also darf der Lehrer keine sonstige Norm des Handelns als verbindlich hinstellen.‹ – Zu dieser Position will ich zunächst bemerken, daß sie die Autorität des Lehrers in praktischen Fragen nicht einfach mittels der Grenzen der Legalität begrenzt. Denn die Gerechtigkeit erlaubt oder fordert manchmal – in vielen Staaten sogar oft – was das Gesetz verbietet; und das Gesetz gibt so manches frei, was der Gerechtigkeit widerstreitet. Also ist es legitim, wenn der Lehrer etwas ›verbindlich macht‹, was das Gesetz nicht vorschreibt (und vielleicht sogar, wenn er die Befolgung einzelner Gesetze für unerlaubt erklärt). Dann liefert jedenfalls nicht die Legalität das Kriterium dafür, was der Lehrer für erlaubt oder unerlaubt erklären darf. – Nach welchem anderen Kriterium aber soll dann gelten, daß er für Normen der Gerechtigkeit, nicht aber für die Erfordernisse anderer Tugenden zuständig ist? Auf diese Frage hat die dritte Position eine Antwort.
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3) ›Verbindlich – und daher auch verbindlich lehrbar – ist nur, was als verbindlich vereinbart 31 ist.‹ – Diese Position läßt sich im Sinne verschiedener Vertragstheorien der Gerechtigkeit auslegen. Mit ihnen allen teilt sie u. a. folgenden Defekt: Die Norm, daß Vereinbarung (bzw. eine bestimmte Vereinbarung) bindet, kann ihre eigene Verbindlichkeit nicht einer Vereinbarung (bzw. dieser Vereinbarung) verdanken. Der Lehrer findet also in einer ›Vereinbarung moralischer Normen‹ – falls es so etwas geben sollte – keinen Grund, diese Normen zu vertreten oder andere nicht zu vertreten. 4) ›Es mag zwar ethische Wahrheit geben; sie ist aber zumindest nicht leicht zu entdecken. Außerdem werden in einer pluralistischen Gesellschaft – auch z. B. innerhalb einer Schulklasse – unterschiedliche Normensysteme akzeptiert. Der Lehrer soll sich daher am Gesetz orientieren, das für alle Mitglieder dieser Gesellschaft gilt.‹ – Was kann ›soll‹ hier heißen? Wenn es nicht lediglich die Gesetzeslage widerspiegelt (vgl. (1)), signalisiert es eine ethische bzw. moralische Normierung des Lehrerverhaltens, über die sich die Betroffenen einig sind, oder jedenfalls eine Art Vereinbarung, der sie stillschweigend zustimmen. In beiden Fällen bleibt Spielraum für die Frage, ob den beteiligten Normensystemen nicht darüber hinaus ein beachtlicher gemeinsamer Bestand an ethischen Maßstäben gemeinsam ist und daher vom Lehrer vertreten werden kann (vgl. (5)). Die vierte Position geht dieser Frage nicht nach und verzichtet folgerichtig darauf, dem Lehrer überhaupt ein erzieherisches Mandat im engeren Sinne zuzugestehen. 5) ›Pluralismus schließt Übereinstimmung in zentralen ethischen Fragen nicht aus. Der Lehrer sollte angesichts des Schwundes an elterlicher Einflußnahme autorisiert sein, allgemein akzeptierte Antworten auf solche Fragen als Elemente praktischer Vernunft zu präsentieren und zu repräsentieren.‹ – Diese Position scheint nicht nur zeitgemäß, sondern auch vernünftig und konsistent zu sein. Sie muß noch nicht einmal leugnen, daß es ethische Wahrheit gibt. Wohl aber geht sie Kompromisse ein: erstens zwischen ›konsequentem Pluralismus‹ und Annahme eines gemeinsamen Ethos, zweitens zwischen Erziehungsauftrag der Schule und Zurücknahme dieses Auftrags. Der erste dieser Kompromisse ist unvermeidlich, da konsequenter Pluralismus ausgeschlossen ist. Man kommt nicht umhin, unter den konkurrierenden Normensystemen bzw. Normen-Behauptungen eine Grenze zwischen den ›pluralistisch akzeptablen‹ und den ›inakzeptablen‹ zu ziehen (eine Grenzziehung übrigens, die ihrerseits bereits auf einen ethischen Maßstab angewiesen ist). So ist z. B. in unserer Gesellschaft das Plädoyer für die Zulassung von Euthanasie auf dem Weg, mit der gegenteiligen Auffassung konkurrieren zu dürfen. Von der 31 Das Wort spielt hier nicht auf die »jeweils persönliche Vereinbarung« im Giesecke-Zitat an. – Woran Giesecke bei diesem Ausdruck denkt, ist übrigens nicht klar. Vielleicht an gruppenspezifische Normen? Auch auf deren ›Begründung‹ durch Vereinbarung würde, nebenbei bemerkt, die Kritik an der Vertragstheorie zutreffen, die ich in diesem Absatz skizziere.
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Auffassung, Folter sei gelegentlich erlaubt, gilt das nicht. Ablehnung der Folter gehört nur besonders deutlich zu dem Bestand an Normen, die in unserer Gesellschaft auch ein pluralistisch konzipierter Lehrer zu vertreten hätte. – Ein ›gemeinsamer Normenbestand‹ dieser Art wird innerhalb der pluralistischen Gesellschaft durch die Grenzziehung, von der ich hier spreche, konstituiert – nicht viel anders, als in der traditionalen Gesellschaft das gemeinsame Ethos eine latente Abgrenzung gegen abweichende Normen-Auffassungen impliziert. Einen zweiten Kompromiß nimmt Position (5) in Kauf, insofern sie den ausdrücklichen Erziehungsauftrag des Lehrers inhaltlich einschränkt. Denn wenn es überhaupt so etwas wie einen guten Charakter gibt, gehört zu dessen Bildung natürlich auch in einer pluralistischen Gesellschaft mehr als die Vermittlung nur des geteilten, ›pluralistisch akzeptablen‹ Normenbestandes, von dem der vorangehende Absatz spricht. Nun repräsentiert aber auch ein Lehrer unausdrücklich und spontan unweigerlich weitere Normen – Normen, an denen er sich faktisch orientiert. Und in einer traditionalen Gesellschaft konnte er auch in dieser Hinsicht – vor allem in seiner Vorbild-Funktion – selbstverständlich als Erzieher gelten: als jemand, der durch sein Handeln insgesamt erzieht. Unter dem Vorzeichen von Position (5) jedoch ergeben sich hier Probleme. Soll man den Lehrer einzig im Bereich der geteilten Normen als Erzieher betrachten, seinen sonstigen ethischen Einfluß hingegen, den er auch ohne ausdrückliche Stellungnahme unvermeidlich ausübt, lediglich als (willkommene oder unwillkommene) Komponente des Sozialisationsprozesses einstufen? Das wäre eine konsequente, zugleich aber künstliche Unterscheidung. Oder soll man sagen: ›Er ist auch in der (unausdrücklichen) Repräsentation von nicht allgemein akzeptierten Normen Erzieher – und zwar, soweit diese Normen die richtigen sind, ein guter Erzieher; das aber können eben nur die erkennen, die ebenfalls diese Normen bejahen‹? Hinter diesen begrifflichen Fragen stehen selbstverständlich reale praktische Probleme, die der Pluralismus mit sich bringt. Man denke etwa an die Gleichbehandlung der Geschlechter, an Vegetarismus, an mehr oder weniger öffentliche religiöse Symbole oder auch an die unausdrückliche Bewertung von Selbstbewußtsein und Durchsetzungsbereitschaft. Eltern mit unterschiedlichen ethischen Auffassungen werden in diesen und vielen anderen Punkten die schulische Vermittlung unterschiedlicher Motivationsstrukturen erhoffen. Können hier etwa nur Privatschulen Abhilfe schaffen? Oder ein ›ethisch differenziertes‹ Schulsystem – nach Art der Konfessionsschulen, aber öffentlich? Oder eben Verzicht auf den erzieherischen Anspruch des Lehrers – wodurch dessen ethischer Einfluß freilich nicht beseitigt wäre?
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18.3
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Professionalisierung der Erziehung wirft mehr Probleme auf, als sie löst
Die hier angestellten Überlegungen zeigen, daß ›Professionalisierung der Erziehung‹ nicht eigentlich gesteigerte Qualifizierung des Erziehers bedeutet. Sie steigert nicht etwa B’s Eignung, zu A’s Charakterbildung beizutragen. Sie steigert vielmehr B’s Kompetenz als Psychologe, als Organisator, als Ausbilder usw. Im Bereich der (ethischen) Erziehung dagegen setzt sie den eher einschränkenden, erschwerenden Rahmen einer Berufstätigkeit an die Stelle jener gewachsenen Bedingungen, unter denen, überspitzt formuliert, B’s ganzes Leben das Medium von A’s Erziehung ausmacht. Anders gesagt: Professionalisierung der Erziehung wirft mehr Probleme auf, als sie löst. Das heißt freilich nicht, sie löse keine Probleme; und erst recht nicht, sie sei vermeidbar. Insbesondere wäre, soweit ich sehe, nichts damit gewonnen, wenn die Schule den Anspruch, zu erziehen, aufgäbe. Denn durch ihre herausragende Position im Leben des Heranwachsenden üben Lehrer auf jeden Fall tendenziell eine starke sozialisierende Wirkung auf ihre Schüler aus. Unter diesen Umständen würde die Streichung ihres Erziehungsanspruchs vor allem zweierlei bedeuten: Verzicht darauf, den einzelnen Lehrer für seinen faktischen Einfluß auch im Sinne erzieherischer Zuständigkeit verantwortlich zu machen; und Verzicht darauf, ihn nach Möglichkeit darauf vorzubereiten (vgl. 18.2 (d3)), dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Weder den einen noch den anderen Verzicht wird man ernsthaft wünschen. Wünschenswert wäre hingegen die Einsicht, daß die erzieherische Aufgabe des Lehrers (wie auch anderer professioneller Pädagogen) eben dadurch, daß sie unter Bedingungen der Professionalität steht, Probleme aufwirft, die sich im Kontext nicht-professioneller Erziehung nicht stellen. (In diesem Kontext stellen sich freilich andere Probleme!) Die Erwartung, daß die Schule Erziehungsaufgaben übernimmt, steht in einem Verhältnis der Spannung zu Professionalität und Professionalisierungsforderungen. Professionalität im pädagogischen Beruf ist ihrer Natur nach eher geeignet, den erzieherischen Wert der kommunikativen Präsenz zu schmälern als ihn zu steigern. Ihre Probleme sind nämlich nicht rein begrifflicher Natur. So konnte z. B. Abschnitt 18.2 (a) zwar dartun, daß Bezahlung nicht im Widerspruch zu der Motivationsstruktur steht, die einen guten Erzieher kennzeichnet. Insoweit jedoch diese erwünschte Struktur im ›real existierenden‹ Lehrer nur unvollkommen verwirklicht ist, kann trotzdem die Gesinnung des professionellen Erziehers durch das Motiv der Vergütung (wie auch durch andere äußerliche Motive) kompromittiert werden. Ein anderes Beispiel liefert die Zeit-Struktur des Erziehens (Kapitel 4). Sie macht aus der Begrenzung kommunikativer Präsenz auf Schichten und Dienstzeiten durchaus ein Problem der Gerechtigkeit dem Heranwachsenden gegenüber. Auf jeden Fall kommt zeitliche Begrenzung nur in Frage, wo die Verantwortlichkeit des professionellen Erziehers ebenfalls begrenzt ist, wo es also außer ihm einen hauptverantwortlichen Erzieher gibt. Ein anderes
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
allgemein bekanntes Alltagsproblem ergibt sich aus der Tatsache, daß ErzieherTugenden Beziehungstugenden sind: Der Erzieher kann sich einer großen Gruppe weniger ausgiebig widmen und vor allem weniger persönlich zuwenden als einer geringen Zahl von Heranwachsenden; schon dieser Umstand wird häufig die Qualität der Erziehung beeinträchtigen.
18.4
Die Professionalisierungsforderung mißachtet den praktischen Charakter der Erziehung
Es ist Sache der Erziehungswissenschaft, die unter 18.1–3 angedeuteten theoretischen und praktischen Probleme beim Namen zu nennen, deutlicher zu artikulieren und schließlich Wege zu erkunden, auf denen die Berufsvorbereitung professioneller Pädagogen – und diese selbst – den Problemen begegnen können. Sache der Philosophie ist es lediglich, begriffliche Hintergründe auszuleuchten, um zum besseren Verständnis der Probleme beizutragen. Das habe ich in diesem Buch zu tun versucht, indem ich eine teleologische Analyse des Handelns auf den Begriff der Erziehung bezogen habe. Dabei war eine differenzierte Verortung der Erziehung im Spannungsfeld von Produktion und Praxis das leitende Anliegen. Die zentrale These war: Obwohl ihrem telos, ihrer Funktion nach poiesis, ist Erziehung unter dem Gesichtspunkt des eingesetzten Mediums Handeln, also praxis. Professionalität ist nun die Gestalt, in der Erziehung sich am deutlichsten – ich erinnere an die Stichworte Vergütung, Auftrag, fachliche Kompetenz, Überprüfbarkeit – als Produktion, als poiesis präsentiert. Ich werde deshalb meine Ausführungen damit beschließen, daß ich deren Relevanz für das Thema Professionalität in der Erziehung zusammenfasse. a) Professionalität in der Pädagogik ist eine Gegebenheit. Diese Gegebenheit wirft, wenn meine Analysen korrekt sind, Probleme auf: Wenn nicht erzieherische Absicht den Erzieher ausmacht – was macht den professionellen Erzieher zum Erzieher? Abgesehen vom Handeln im Kontext kommunikativer Präsenz: seine Zuständigkeit. Und zuständig ist er aufgrund eines Auftrags. Wie aber kann er – in der erziehungskonstitutiven ethischen Qualität seines Tuns und Lassens – an Weisungen gebunden sein? Wie kann er sich für gutes Handeln bezahlen lassen? Wie verträgt sich seine umfassende Verantwortung mit FünfTage-Woche und Acht-Stunden-Tag? Ist Erziehen, als Handeln verstanden, überhaupt eine isolierbare Berufstätigkeit? Mit derartigen Fragen befassen sich heutige Erziehungswissenschaftler kaum. Aus nachvollziehbaren Gründen betrachten sie Professionalität in der Pädagogik nicht so sehr als Gegebenheit, sondern als Desiderat. Man empfiehlt und fordert Professionalisierung. b) Diese Forderung verdankt sich zum Teil der Verwechslung zwischen poietischen und praktischen Komponenten insbesondere im Beruf des Lehrers. Als
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Ausbilder benötigt der Lehrer Qualifikation durch Techniken und andere Kompetenzen. Als Erzieher im engeren Sinn jedoch bedarf er in erster Linie charakterlicher Qualitäten; nur unter ihrer Voraussetzung und im Kontext klugen Handelns haben auch lehr- und prüfbare psychologische Kenntnisse und pädagogisch geschickte Vorgehensweisen erzieherischen Wert. c) Der Ausbilder betätigt sich als Lebenshelfer, insoweit, was er tut, letzten Endes dem Gedeihen des Gegenübers zugute kommen soll. Im Hinblick auf dieses übergeordnete Ziel benötigt der Lehrer auch als Ausbilder, nicht erst als Erzieher, charakterliche Qualitäten – wie der Rechtsanwalt oder der Arzt.32 Dennoch ist Ausbildung reine poiesis: das gute Handeln des Ausbilders ist nicht ihr Medium, sondern lediglich eine Bedingung dafür, daß diese Ausbildung Lebenshilfe darstellt. Ihr Medium ist die Betätigung fachlicher und didaktischer Kompetenzen, die dazu beiträgt, im Schüler Wissen und Kompetenz hervorzubringen. Erziehung hingegen ist eine besondere Art von Lebenshilfe: Gutes Handeln des Erziehers ist nicht lediglich eine Bedingung, sondern das Medium guter Erziehung. Ohne guten Charakter kann der professionelle Erzieher seinen Beruf nicht gut ausüben. d) Wer von der Schule erwartet, daß sie Erziehungsaufgaben übernimmt, muß die Konsequenzen bedenken und akzeptieren, die sich aus der praktischen, nicht produkt-orientierten Finalität der Erziehung ergeben. Zum Beispiel: 1) Da Maßstäbe der Erziehung Maßstäbe des Handelns sind, lassen sie – anders als Maßstäbe der Produktion – keine inhaltlichen Vorgaben durch einen Auftraggeber zu. 2) Falls Professionalität, wie etwa Giesecke behauptet, ausschließlich auf Fach- und Methodenkenntnis beruht, kann sie nicht als Qualifikation zum guten Handeln und insoweit auch nicht als Qualifikation zum guten Erziehen gelten. 3) Der Lehrer hat mit folgendem Dilemma zu rechnen: Einerseits wird er mindestens implizit – durch sein Handeln – auf Fragen nach ethischen Maßstäben und nach dem Sinn des Lebens antworten (vgl. 6.2 (a) und 16.7 (c)). Andererseits kann seine Antwort mit der des hauptverantwortlichen Erziehers – im allgemeinen: der Eltern – kollidieren. 4) Nicht Ausbildung – die poietische Vermittlung abprüfbarer poietischer Kompetenzen – qualifiziert den Lehrer zum Erzieher, sondern der Erwerb eines guten Charakters durch Erzogen-Werden und Selbsterziehung. e) Bevor man die Frage beantwortet, ob oder wie sich denn die erzieherische, also praktische Qualifikation eines Menschen überhaupt nachprüfen lasse, ist festzuhalten, daß er sie benötigt, um ein guter Erzieher zu sein. 32 Zudem bedarf ein Ausbilder meist auch insoweit charakterlicher Qualitäten, als er der Motivation des Lernenden aufhelfen soll. Um zum Erwerb von Kompetenz und Wissen zu motivieren, muß ein Lehrer z. B. im großen und ganzen mit Ernst und Freude bei der Sache sein; um nicht zu entmutigen, muß er den Schülern das nötige Wollen und Können zutrauen; etc.
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Teil IV − Varianten ethischer Einwirkung
Freilich stellt sich die Frage, wie man vermitteln oder nachprüfen kann, was sich nicht vorführen läßt. Und tatsächlich liegt es in der Natur des Handelns – einer praxis, deren Qualität eine Qualität des Wollens ist – nicht in derselben Weise vorführbar zu sein wie eine poiesis – deren Qualität von der Qualität des Könnens und vom Wollen, aber allenfalls indirekt von der Qualität des Wollens abhängt. Imitiere ich etwa eine Handschrift (vgl. 5.7), so sind Natur und Qualität dieser poiesis indifferent gegenüber der Frage, was ich damit will – ob ich z. B. imitiere, um das Imitieren vorzuführen. Dagegen kann man eine derartige Frage auf das mit dem Imitieren gegebene Handeln gar nicht beziehen. Denn Natur und Qualität meines Handelns beruhen auf meinem Wollen; könnte man ›mit dem Handeln etwas wollen‹, z. B. es vorführen, müßte ebendiese Zwecksetzung zugleich für das vorgeführte Handeln konstitutiv sein.33 Die Pädagogik steht also vor einem ernsten Problem: ›Wie läßt sich die charakterliche Eignung eines Lehrers als Erzieher einigermaßen sicherstellen?‹ Daß dieses Problem nicht lösbar scheint, ist kein guter Grund, es zu leugnen. f) In den Kategorien von Kapitel 15 formulierend, könnte man sagen: Der Lehrer ist zugleich Produzent und Reproduzent. Als guter Ausbilder qualifiziert er andere durch die poiesis des Unterrichtens dazu, eine andere Art von poiesis zu beherrschen.34 Als guter Erzieher qualifiziert er sie durch die praxis seines Handelns dazu, dieselbe Art von praxis tatsächlich zu realisieren. Es ist kein Zufall, daß Erziehung ihrer Natur nach reproduktiv ist. Als Erzieher vermittelt man tendenziell, was man selbst ist und wie man selbst lebt; nicht: was man kann oder was man sich aus- und dem Gegenüber zugedacht hat. Eine Qualifikation zum Erzieher im Sinne von Kompetenz und Technik kann es daher nicht geben. Wie es auch die ›Kunst des Lebens‹ im Sinne einer Technik nicht gibt. Eine Technik kann dem Produzieren, nicht aber dem Leben Qualität verleihen. Sie ist immer nur geeignet, Produktions- und schließlich Lebens-Mittel bereitzustellen. Daher trägt der Erzieher als solcher nicht dazu bei, daß Heranwachsende die 33 Man kann gutes Handeln nicht vorführen, um entsprechend beurteilt zu werden – genauso wenig, wie man es vorführen kann, um ein Vorbild abzugeben (13.2). Jedes Vorführen trägt in das vorgeführte Tun einen Beweggrund ein – das Motiv der Vorführung. Dieser Beweggrund aber würde im Fall des Handelns den Charakter dessen, was angeblich vorgeführt wird, modifizieren. Dagegen tangiert ein solcher Beweggrund eine vorzuführende poiesis nicht, da er lediglich dieser poiesis – ihr selbst, nicht aber ihrem telos – eine zusätzliche Finalität verleiht (vgl. 7.2). Mein für andere wahrnehmbarer Anspruch, mein Handeln vorzuführen, wäre selber einer der Faktoren, die bei der ethischen Beurteilung des ›vorgeführten Handelns‹ zu berücksichtigen wären. Die Idee der Vorführung guten Handelns birgt insofern einen regressus in infinitum in sich. 34 Nur bei der Ausbildung zum Ausbilder ist, per accidens sozusagen, die vermittelnde poiesis von derselben Art wie die vermittelte. – Übrigens behandle ich in diesem Absatz die Vermittlung von Kenntnissen ausschließlich als Vermittlung poietisch orientierter Kompetenzen. Selbstverständlich können solche Kenntnisse auch den Charakter der Bildung haben (8.2 (d)).
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›Kunst des Lebens‹, soziale Kompetenz oder sonstiges Können erwerben, sondern – wenn alles gutgeht – dazu, daß sie Motivationsstrukturen begreifen, bejahen, ausbilden und praktizieren, deren Realisierung zum menschlichen Gedeihen gehört. Um das zu tun, benötigt er nicht professionelle Kompetenz, sondern Vernunft und Charakter – erzieherische Klugheit freilich und Erzieher-Tugenden eingeschlossen. Erziehung im engeren Sinne ist Erziehung dazu, in Übereinstimmung mit bestimmten Motivationsstrukturen (und nur mit ihnen) zu wollen. Hält man dagegen das Erziehungsziel für eine Sache nicht des Wollens, sondern des Könnens, nicht des Ethos, sondern der Kompetenz, so impliziert man eine subjektivistische Auffassung des guten Lebens. Das gute Leben hinge im wesentlichen von der Erfüllung der eigenen Wünsche ab – welcher Art die auch seien; und Erziehung hätte dementsprechend nur die Fähigkeit zu vermitteln, diese Wunscherfüllung selbst direkt und indirekt sicherzustellen. Unter diesem Vorzeichen würde Erziehung wirklich eine Kunst des Lebens vermitteln; und Moral wäre tatsächlich auf soziale Kompetenz reduziert: auf die Fähigkeit, bei Bedarf geschickte Zugeständnisse zu machen, mit denen man anderen taktisch entgegenkommt oder Hindernisse aus dem Weg räumt, die sich der Durchsetzung eigener Wünsche in den Weg stellen mögen. Konsequenzen dieser Art sind unvermeidlich, sobald man die Qualifikation des Lehrers zum Erzieher in eine Kompetenz verlegt, den Schülern bestimmte Kompetenzen beizubringen. Um ein guter Ausbilder zu sein, benötigt man fachliche und didaktische Qualitäten. Tugenden können einem unter Umständen indirekt helfen, ein gutes Produkt wahrscheinlicher zu machen. Im übrigen aber kann durchaus ein schlechter Mensch einen guten Unterricht geben. Daß hingegen ein schlechter Mensch gut erzieht, läßt sich auch durch Professionalisierung nicht erreichen. Denn was Erziehung produziert, produziert sie durch Handeln.
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Analytisches Inhaltsverzeichnis
Teil I – Erziehung als Thema der Handlungsphilosophie . . . . . . . . . . . 1 1.1
Anliegen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für die Analyse der Erziehung eignet sich eine Handlungsphilosophie, die sich an den Kategorien poiesis und praxis orientiert . . . . . 1.2 Lebenshilfe ist im Normalfall als poiesis eine Sache der Kompetenz, als praxis eine Sache des Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Medium der Erziehung ist praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 In neueren Erziehungskonzeptionen spiegelt sich poietisches Denken als Grundzug der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Diese Studie widmet sich (I) dem Zusammenhang von Handlungsund Erziehungsphilosophie, (II) der Finalisierung von poiesis durch praxis, (III) dem umgekehrten Verhältnis und (IV) Varianten erzieherischer Einwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3 3.1
Was Erziehung impliziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung impliziert nicht nur kausale, sondern auch finale Strukturen sowie entsprechende Bewertbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung antwortet auf begrenzende Bedürfnisse und Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erziehungsverhältnis ist wesentlich asymmetrisch . . . . . . . . . . . Zur Asymmetrie des Erziehungsverhältnisses gehören Rechte und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung unterscheidet sich von anderen Formen der Lebenshilfe, der Einwirkung des Erziehers und der Sozialisation . . . . . . . . . . . . . Die vorgenommenen Unterscheidungen sind analytisch zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorbehalte und Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Diskussion der Erziehung müssen vom alltäglichen Erziehungsbegriff ausgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 ›Zeitgemäße‹ Erziehungsvorstellungen beruhen häufig auf einer inadäquaten Bewertung von Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Erziehungswissenschaftlicher Intentionalismus mißversteht den Unterschied zwischen Erziehung und Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Erziehung ist nur legitim, wenn objektive ethische Maßstäbe existieren und gelehrt werden dürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 11 12 15 17 19
24 25 26 28 31 33 35 41 44 45 52 56 58
422
Analytisches Inhaltsverzeichnis
4 Komponenten der Erziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Erziehung hat nicht die Zeit-Struktur von Handlung oder Tätigkeit 4.2 Erziehung ist kein Kontinuum von Handlungen und Unterlassungen 4.3 Die Kontinuität der Erziehung ist nicht die Kontinuität spezifischer Aufmerksamkeit oder Einsatzbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Läßt sich Erziehung durch die erzieherische Absicht kennzeichnen? 4.5 Erzieherische Bedeutsamkeit ist von erzieherischer Absicht unabhängig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Erzieherische Intention ist für Erziehung nicht konstitutiv . . . . . . . . 4.7 Auch unbeabsichtigte Aspekte des Erzieher-Verhaltens sind, sofern charakterbedingt, für die Erziehung konstitutiv . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Erzieherische Zuständigkeit konstituiert die Kontinuität der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 77 80
5 5.1
96
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
Zweierlei Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teleologische Begriffe menschlichen Tuns fallen unter die Kategorien von poiesis oder praxis – je nach Art der konstitutiven Finalität des Tuns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung läßt sich weder allein als praxis noch allein als poiesis verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff der Erziehung gehört die Vorstellung eines von Absichten unabhängigen formalen Erziehungsziels . . . . . . . . . . . . . . Teleologische Begriffe bestimmen die Natur der jeweiligen Sache mittels deren inhärenter Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komponenten der Erziehung sind nur unter Bezug auf ein materiales Erziehungsziel bestimmbar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung läßt sich primär erfolgsbezogen und sekundär durch Bewertung des Erzieher-Handelns bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweierlei Bewertung der Erziehung ist möglich, weil sich ein und dasselbe Tun nach unterschiedlichen Finalitäten kategorisieren läßt
82 83 83 85 87 92
97 101 103 108 112 115 119
Teil II – Praxis als Sinn von Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Gut handeln und gut leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die praxis-Form Handeln ist durch den Gesichtspunkt der ethischen Bewertbarkeit bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . praxis-Formen können das Leben eines Menschen total, partiell und dominant bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für ein gutes Leben im Sinne menschlichen Gedeihens ist das ethisch gute Leben konstitutiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus pädagogischer Perspektive ist die Tugendethik utilitaristischen und deontologischen Deutungen der Moral überlegen . . . . . . . . . . . Den Kern jeder Tugend bildet eine Motivationsstruktur . . . . . . . . . . Tugenden begrenzen einander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124 125 128 134 139 145 151
Analytisches Inhaltsverzeichnis
423
6.7
Praktische Rationalität und guter Charakter integrieren Interessen des Subjekts und Belange der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.8 Die Qualität des Handelns hängt nicht an der Absicht, gut zu handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6.9 Das telos des Handelns kann dessen ›Hintergrundmotiv‹ bilden . . . 161 7 7.1
Praktische Funktionen von Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Als ›Lebens-‹ oder ›Produktionsmittel‹ verleiht das telos einer poiesis dieser eine mittelbar-praktische Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Eine poiesis kann eine praxis konstituieren und auf diese Weise unmittelbar-praktisch finalisiert sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Eine poietisch konstituierte praxis wird durch Mißlingen der poiesis nicht disqualifiziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Im Erzieher-Leben erhält die poiesis des Erziehens eine nicht-instrumentelle, unmittelbar-praktische Finalität . . . . . . . . . . . .
164
8 8.1
Erziehen – wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach dem Erziehungsziel stellt sich aus erzieherischer, begriffsanalytischer und erziehungstheoretischer Perspektive . . . . . . Als Erziehungsziele kommen Alternativen zum selbständigen guten Charakter kaum in Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Erziehung läßt sich als Teil der Charakterbildung auffassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Unterschied zur Charakterbildung dient Ausbildung ambivalenter und rein instrumenteller Qualifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trotz unterschiedlicher Finalitäten hängen Ausbildung und Erziehung, auch begrifflich, eng zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für die Festlegung des Erziehungsbegriffs auf Charakterbildung sprechen gute Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
Erziehen – für wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gute Charakter weist eine poietisch-instrumentelle Finalität auf Eine praktisch-instrumentelle Funktion hat der gute Charakter für das eigene gute Handeln ebenso wie für menschliches Gedeihen im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Dürfen Wünsche und Interessen des Erziehers das Erziehungsziel instrumentalisieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Die verschiedenen Finalitäten des guten Charakters konvergieren . .
197 198
8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 9 9.1 9.2
165 168 172 173
177 181 185 188 192 196
200 204 209
Teil III – Produktive praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 10 Grenzen des technischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 10.1 Erziehung ist eine in verschiedenen Hinsichten untypische poiesis . 216 10.2 Erziehung läßt sich nicht deterministisch und daher auch nicht als technisches Vorgehen verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
424
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10.3 Das ›Material‹ der Erziehung wird nicht ihres telos wegen gewählt 226 10.4 Erzieherische Verantwortung wird nicht durch vorgegebene Umstände begrenzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 10.5 Die Verantwortlichkeit des Erziehers ist unbegrenzt und unbestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 11 Das Kind als Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Erziehung kann sich ihrem Begriff nach nicht im bloßen Arrangieren wirksamer Umstände vollziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Motivationsstrukturen lernt man nicht aus Verhaltensfolgen allein . 11.3 Weder der empirische noch ein ›kontrafaktisch unterstellter‹ Wille des Heranwachsenden ist Maßstab der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Ehrfurcht vor dem Wollen des Heranwachsenden zeigt der Erzieher vornehmlich, indem er sich an der Ziel-Verfassung dieses Wollens orientiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Das Kind hat Anspruch auf eine Gegenwart, die Selbstzweck ist . . 11.6 Ist Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung eine paradoxe Aufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Durch ›learning by doing‹ entstehen eigenständige Motivationsstrukturen emergent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8 Das Paradox der Erziehung spiegelt eine allgemeinere Spannung zwischen Kausalität und Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.9 Der Erzieher ist mehr als ›Geburtshelfer‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
236 237 240 244
250 253 256 258 260 264
12 Charakterbildung durch Handeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Kann Erziehung poietisch finalisierte praxis sein? . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Die Konstitution der Erziehung durch Handeln folgt nicht aus ihrem indeterministischen Charakter allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Erziehung ist nicht die einzig denkbare, wohl aber die einzige ihrer Finalität nach eindeutige Weise, einen Charakter zu bilden . . . . . . . 12.4 Die erziehungskonstitutive praxis läßt sich nicht als Bemühen kennzeichnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Die praktisch-poietisch ambivalente Teleologie des Erziehungsbegriffs hat lebensweltliche Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 266
13 Ethische Qualität und kommunikative Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Der Charakter des Erziehers wirkt durch erlebbare Manifestation poietisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Motivationsstrukturen des Erziehers wirken durch absichtslose Vorbildhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Die Motivationsstrukturen des Erziehers wirken durch Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Erzieherische Einwirkung ist Umsetzung von Beziehungstugenden . 13.5 Zu den Erzieher-Tugenden gehören insbesondere Verantwortungsbewußtsein, Liebe und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
292
270 273 281 285
293 295 298 300 301
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13.6 Ihrer erzieherischen Finalität nach unterscheiden sich ErzieherTugenden sowohl von anderen Tugenden des Erziehers als auch von Erziehungs‹techniken‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 13.7 Die Möglichkeit erzieherischen Handelns beruht auf kommunikativer Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 13.8 Kommunikative Präsenz hat unterscheidbare erzieherische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 14 14.1 14.2 14.3
Praktische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klugheit läßt sich nicht am Vorbild lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Transfer lehrbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inwiefern verlangt erzieherische Vernunft Orientierung an der charakterlichen Entwicklung des Heranwachsenden? . . . . . . . . . . . . 14.4 Erzieherische Maßnahmen sind nicht ethisch neutral bewertbar . . .
314 315 318 320 322
Teil IV – Varianten ethischer Einwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 15 Ethische Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Der Charakter des einzelnen reproduziert sich in seinem eigenen Leben durch Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Der Erzieher reproduziert tendenziell den eigenen Charakter im Heranwachsenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Erziehung ist ein Medium ethischer Reproduktion des menschlichen Kollektivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Bezeichnet ›ethische Reproduktion‹ ein bedenkliches Modell? . . . . 16 Stadien der Reifung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Was ist ethische Reifung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Was bedeuten die verschiedenen Aspekte ethischer Reifung für die Etappen der Erziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit läßt sich nicht isoliert identifizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4 In einer ersten Etappe der Erziehung läßt sich das Kind zu modifiziertem Verhalten konditionieren, nicht motivieren . . . . . . . . 16.5 Die zweite Erziehungsetappe ist durch ›äußerliche‹ Beweggründe gekennzeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6 Die dritte Etappe der Erziehung entfaltet ethisch bewertbare Motivationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.7 Die vierte Etappe der Erziehung ermöglicht Distanz zum Erworbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
332 333 334 335 338 343 345 352 354 356 360 364 370
Charakterliche Selbständigkeit – Von der Erziehung zur Selbsterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 17.1 Charakterliche Selbständigkeit setzt objektive ethische Vorgaben voraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
426
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17.2 Ethische Reifung ist Zuwachs an Selbststeuerung . . . . . . . . . . . . . . . 380 17.3 Wann endet Erziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 17.4 Selbsterziehung ist nicht Erziehung, sondern absichtsvolle Selbstgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 18 Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1 Gängige Erwartungen an Lehrer verraten eine inadäquate Vorstellung von Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Erzieherische Wirksamkeit wird durch Professionalität eher behindert als gefördert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3 Professionalisierung der Erziehung wirft mehr Probleme auf, als sie löst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4 Die Professionalisierungsforderung mißachtet den praktischen Charakter der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
392 392 396 409 410
Personenregister
Ackrill, John L. 98f., 415 Adams, Robert 143, 415 Allen, Richard T. 378, 415 Anscombe, Gertrude Elizabeth M. 12, 33, 35, 55, 67, 69, 72, 83, 257, 262, 361, 415, 418 Aristoteles 9, 13f., 16f., 78, 97 ff., 101, 104, 112, 119, 126–130, 133, 136, 138, 145f., 151, 153f., 159, 164f., 171, 217, 222f., 259, 275, 294, 300f., 333f., 338, 354, 356, 363, 388, 395, 415, 417 Augustinus 190 Benner, Dietrich 27, 38, 190f., 415, 418 Bennett, Jonathan 13, 415 Beutler, Kurt 59f., 74f., 415f., 419 Bloth, Peter C. 58, 415 Böhm, Winfried 58, 415 Brezinka, Wolfgang 15, 40, 46, 49, 56f., 77, 81, 84, 88, 91, 113, 225, 415 Broadie, Sarah 138, 415 (→ Waterlow, Sarah) Brumlik, Micha 14, 17, 37, 126, 248, 254, 416 Buck, Günther 14, 126, 416 Carr, David 138, 416 Charles, David 98, 119, 416 Davidson, Donald 12, 14, 416 Dewey, John 338, 416 Eckert, Roland
320, 416
Foot, Philippa 67, 111, 135, 138, 144, 149, 180f., 416, 420 Fuller, Thomas 236 Gängler, Hans 15, 416 Geach, Peter 177 Gehlen, Arnold 136f., 416
Geißler, Erich E. 84, 416 Giesecke, Hermann 23, 40, 47f., 238, 244, 252, 255, 327, 394 ff., 400–403, 405, 407, 411, 416 Goethe, Johann W. von 314 Groothoff, Hans-Hermann 17, 416 Guardini, Romano 21, 416 Habermas, Jürgen 14, 416 Halstead, J. Mark 416 Han, Yung-Yae 416 Hare, Richard M. 64 ff., 69, 416 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 20, 416 Hentig, Hartmut von 238, 393, 416 Herbart, Johann Friedrich 27, 297, 393, 416 Hume, David 124 Hurrelmann, Klaus 338, 416 Hursthouse, Rosalind 138, 143f., 416, 420 Inwagen, Peter van
257, 417
Jesus von Nazareth 177 Johannes Paul II 20 (→ Woitila, Karol) Jonas, Hans 417 Kaiser, Arnim 378f., 417 Kaiser, Ruth 378f., 417 Kant, Immanuel 17, 19, 142f., 147, 158, 160, 195, 199, 235, 303, 349, 374, 377f., 417 Kaulbach, Friedrich 21, 417 Kenny, Anthony 98, 417 Klafki, Wolfgang 58, 417 Kohlberg, Lawrence 51, 354 ff., 417 Kranz, Walther 205, 417 Krappmann, Lothar 319f., 417 Krieck, Ernst 50, 52, 57, 417 Kungfutse 25 Langewand, Alfred
14, 126, 417
428
Personenindex
Lehmann, Thomas 54, 419 Lenzen, Dieter 415 ff., 419f. Lewis, Clive S. 417 Litt, Theodor 20, 23, 87, 216, 228, 253, 332, 342, 417 Lukesch, Helmut 417 Mackie, Gerry 417 McLaughlin, Terence H. 416 Miller, Alice 32, 417 Mollenhauer, Klaus 415 ff., 419f. Müller, Anselm W. 21f., 37f., 55, 69, 73f., 98, 110, 112, 119, 126, 135, 137f., 144f., 149f., 153, 155, 167, 173, 181, 183f., 190f., 204, 220, 229, 231, 243, 248, 251, 299, 333, 343, 354, 357 ff., 361, 363, 366, 370 ff., 379, 384, 404, 416 ff. Natorp, Paul 27, 257, 418 Nietzsche, Friedrich 138, 197 Oelkers, Jürgen 14, 28, 45, 53f., 58, 77, 234f., 245, 248, 392, 415, 418 Oswald, Hans 253, 419 Pascal, Blaise 168–171, 419 Penner, Terry 98, 419 Pestalozzi, Johann Heinrich 174, 337, 403, 419 Peuckert, Rüdiger 58, 419 Peukert, Helmut 27, 190f., 415 Potts, Timothy C. 419 Priebe, Longin 338, 416, 419 Quine, Willard V. O.
16, 419
Redner, Harry 21, 419 Reichwein, Roland 55f., 419 Reinhold, Gerd 58, 419 Rekus, Jürgen 265, 393, 404, 419
Rombach, Heinrich 416, 419f. Rousseau, Jean-Jacques 80, 181, 238f., 242 ff., 308, 365, 392, 395, 401, 419 Satir, Anne 21, 419 Schäfer, Karl Hermann 53, 419 Schaller, Klaus 53, 419 Scherr, Albert 58, 419 Schiller, Friedrich 96 Schleiermacher, Friedrich 17, 71, 190, 248, 254f., 296, 419 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 338, 419 Schröder, Hartwig 58, 419 Schwenk, Bernhard 39, 46f., 52, 419 Severino, Emanuele 11 Skinner, Burrhus F. 419 Staden, Heinrich von 16, 419 Steutel, Jan 138, 416 Taschner, Frank 181, 419 Taylor, Charles 73, 420 Taylor, Christopher C. W. 420 Terhart, Ewald 40, 393, 420 Thomas von Aquin 190 Thompson, Michael 111, 135, 336, 339, 420 Titze, Hartmut 23, 56, 338, 420 Turnbull, Colin M. 42, 420 Vath, Reingard
338, 420
Wallroth, Martin 191, 312, 346, 350, 353 ff., 366, 387, 391, 420 Waterlow, Sarah 420 (→ Broadie, Sarah) Williams, Bernard O. 137, 420 Winter, Stefan 21, 420 Wittgenstein, Ludwig 44, 47, 55, 73f., 76, 94, 319, 343, 357, 372, 420 Woitila, Karol 20, 420 (→ Johannes Paul II.)