Sigmund Freud und das Wissen der Literatur 9783110210811, 9783110200386

This collected volume contains eleven papers dealing with the relationship between Freud’s psychoanalysis and the litera

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German Pages 206 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einführung
Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen?
Wie Freud interpretiert
Lektüre im Labor
Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes
Clavis Scientiae
Unheimliche Doubles
Wandlungen und Symbole des Todestriebs
Fetisch und Narrativität
Zerstörerische Dualitäten
Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann
Von der Abreaktion zur Energieverwandlung
Nachwort
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Sigmund Freud und das Wissen der Literatur
 9783110210811, 9783110200386

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Sigmund Freud und das Wissen der Literatur



spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature Komparatistische Studien / Comparative Studies

Herausgegeben von / Edited by Angelika Corbineau-Hoffmann · Werner Frick

Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn · Peter-Andre´ Alt · Aleida Assmann · Francis Claudon Marcus Deufert · Wolfgang Matzat · Fritz Paul · Terence James Reed Herta Schmid · Simone Winko · Bernhard Zimmermann Theodore Ziolkowski

16

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Sigmund Freud und das Wissen der Literatur Herausgegeben von Peter-Andre´ Alt Thomas Anz

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die redaktionelle Vorarbeit zum Druck dieses Buches wurde von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020038-6 ISSN 1860-210X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Schwarz auf Weiß Textbüro, Marion Malinowski, Tübingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorbemerkung Die komplexen Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Literatur in den Jahrzehnten zwischen 1890 und 1930 sind ein erhellendes Beispiel für die vielfältigen Zusammenhänge von Literatur und Wissen in der Moderne. Im Zentrum der Beiträge zu diesem Buch steht die Frage, welche Bedeutung literarische Fiktion für die psychoanalytische Theoriebildung hatte und wie sich psychoanalytisches Wissen in literarischen Texten neu organisiert und in seinen Funktionen verändert. Verknüpft werden beide Forschungsbereiche durch die ihnen gemeinsame Reflexion über Regeln der Konstruktion von Wissen. Sie legen eine Überprüfung konventionalisierter Grenzziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft nahe. Die Aufsätze gehen auf Vorträge zurück, die im November 2006 auf einer wissenschaftlichen Tagung an der Freien Universität Berlin gehalten wurden. Anlass dafür war Sigmund Freuds 150. Geburtstag. Die Herausgeber danken der Fritz Thyssen Stiftung, dass sie die Tagung und die Vorarbeit zum Druck dieses Buches finanziell gefördert hat, und dem Verlag Walter de Gruyter für die Aufnahme der Veröffentlichung in sein Programm. Gedankt sei vor allem auch denen, die die Tagung und ihre Dokumentation mit ihren Beiträgen, mit ihrer organisatorischen Unterstützung oder mit ihrer Hilfe bei der Redaktionsarbeit ermöglicht haben. Berlin und Marburg im Oktober 2008

Peter-André Alt Thomas Anz

Inhalt Vorbemerkung...................................................................................................... V Peter-André Alt Einführung............................................................................................................. 1

Psychoanalytische Theoriebildung und literarische Fiktion Jochen Hörisch Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen?.................................................................. 17 Gerhard Kurz Wie Freud interpretiert. Hermeneutische Prinzipien in Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘................................................ 31 Yvonne Wübben Lektüre im Labor. Zur literarischen Genese von Freuds Paranoia-Konzept (1896-1906)............................................................ 45 Detlef Kremer Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes.............................................................................. 59 Claudia Liebrand Clavis Scientiae. Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse als Schlüsselroman........................... 73 Sabine Kyora Unheimliche Doubles. Freuds Analyse des Unheimlichen und die Unheimlichkeit der Vampirinnen....................................................... 87

Literarische Transformationen psychoanalytischen Wissens Wolfgang Riedel Wandlungen und Symbole des Todestriebs. Benns Lyrik im Kontext eines metapsychologischen Gedankens............. 101

VIII

Inhalt

Gerhard Neumann Fetisch und Narrativität. Kafkas Bildungsroman Der Verschollene............. 121 Wolfgang Martynkewicz Zerstörerische Dualitäten: Destruktionstrieb, Traum- und Wachbewusstsein in Alfred Kubins Roman Die andere Seite........................................................137 Jacques Le Rider Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann....... 157 Oliver Pfohlmann Von der Abreaktion zur Energieverwandlung. Musils Auseinandersetzung mit den Studien über Hysterie in den Vereinigungen............................................................................................169 Thomas Anz Nachwort............................................................................................................193

Peter-André Alt

Einführung „Your inside is out, your outside is in.“ (Lennon/McCartney: Everybody’s got something to hide except me and my monkey. The White Album, 1968) Der 150. Geburtstag Sigmund Freuds wurde zumal in Wien und Berlin öffentlich gefeiert: Im Wiener Freud-Museum in der Berggasse mit zahlreichen Wechselausstellungen und Vorträgen, im Berliner Jüdischen Museum mit einer großen Jubiläumspräsentation, in der Deutschen Kinemathek am Potsdamer Platz mit der Reihe Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud. Der Österreichische Rundfunk würdigte in einer Serie von zehn Features über das gesamte Jahr Freuds Bedeutung für Wissenschaft und Kultur; mehrere Konferenzen – darunter Kolloquien in Freiburg i.Br. (Februar 2006) und Frankfurt a.M. (November 2006) – hoben die interdisziplinäre Bedeutung seines Werks erneut hervor. Eine auf die Wechselbeziehung zwischen Freuds Lehre und der Literatur seiner Zeit konzentrierte Tagung fand jedoch während des Jubiläumsjahrs nicht statt. Diese Lücke sollte das Symposion zum Thema Freud und das Wissen der Literatur, das am 17./18. November 2006 an der Freien Universität Berlin über die Bühne ging, schließen. Der vorliegende Band dokumentiert die elf Vorträge, die während der zweitägigen Zusammenkunft gehalten wurden. Die Konferenz konzentrierte sich auf zwei Forschungsfelder: auf Modelle der Transformation psychoanalytischen Wissens in literarischen Texten der ‚klassischen Moderne‘ (diese zeitliche Begrenzung schien nötig, um ein Ausufern zu verhindern) und auf die Bedeutung der Literatur für die wissenschaftliche Selbstbegründung und Außendarstellung von Freuds Lehre. Betrachtet man beide Problemkomplexe näher, so erkennt man, dass sie sich nochmals in unterschiedliche Gebiete untergliedern lassen. In literarischen Texten erscheint psychoanalytisches Wissen vorrangig im Zusammenhang einer Transformation der Mythendeutungen Freuds (ÖdipusSage, Totemismus, Moses als Begründer des Monotheismus), als fiktionale Modellierung zentraler Interpretamente und Begriffskonzepte (Neurosenund Trieblehre, Theorie des Unbewussten, Auffassungen von psychischer Zensur, Traumatisierung, Fehlleistungen und Witzproduktion, Konstruk-



Peter-André Alt

tionen von Über-Ich, Es, Todestrieb u.a.) sowie als Reflexion von Freuds Ansichten über Sprachlichkeit und Phantasie; die literarische Darstellung konzentriert sich bevorzugt auf die Schilderung von Krankheitstypen, auf psychische Devianz, Ätiologien der Neurose und die Adaption von Erklärungsmodellen mit primär kulturtheoretischer Tendenz (1). Die Bedeutung der Literatur in der Freud’schen Psychoanalyse manifestiert sich wiederum in deren zahlreichen Rekursen auf literarische Motive, Topoi, Texte und Autoren, im erzählerischen Duktus bei der Präsentation von Fallgeschichten, in den narrativen Strategien der wissenschaftlichen Rhetorik und in der persuasiven Technik der publizistischen Selbstdarstellung, die von der Forschung inzwischen im Rahmen einer „Poetik der Psychoanalyse“ untersucht wird (2) (Lüdemann 1994, Thomé 1998, Rohrwasser 2005). Die Beiträge dieses Bandes bieten durchgehend Untersuchungen jenseits der traditionellen Methodik der Einfluss- und Motivforschung. Nicht wer wann Freud gelesen und auf welche Weise literarisch kommentiert hat, steht hier zur Diskussion. Vorrang hat vielmehr die Auseinandersetzung mit den literarischen Merkmalen psychoanalytischer Wissensvermittlung und den epistemischen Leistungen fiktionaler Darstellungsordnungen. Das Thema der Konferenz lud dazu ein, den Status von wissenschaftlichem Wissen in literarischen Texten und umgekehrt die Funktion von literarischen Techniken und Mustern in wissenschaftlichen Diskursen zu beleuchten – ein Forschungsgebiet, das im letzten Jahrzehnt verstärkt ins Blickfeld der Literaturwissenschaft gerückt ist (vgl. nur Thomé 1993, Vogl 1999, Maillard/ Titzmann 2002, Weigel 2004, Alt 2004, Müller-Tamm 2005). Zu prüfen war in diesem Zusammenhang, inwiefern sich psychoanalytisches Wissen in den Medien und Formen der Literatur neu organisiert und in seinen Funktionen verändert (vgl. Anz 2002 sowie die Beiträge in: Anz 1999). Umgekehrt blieb zu untersuchen, ob die Literarizität von Freuds Schriften eine eigene epistemische Funktion erhält, die über bloße ‚Illustration‘ psychoanalytischen Wissens hinausgeht, und welche ästhetischen Reize für den Diskurs der Psychoanalyse eigentümlich sind (Leistungen der Imagination, Wirkungen von Rätseln und Geheimnissen, Witz und Komik, Hervortreten kathartischer Elemente der Darstellung). Verknüpft werden beide Forschungsbereiche durch die ihnen gemeinsame Reflexion über die Regeln der Konstruktion von Wissen, die in methodischer Hinsicht auch eine kritische Prüfung der konventionalisierten Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft verlangt (vgl. bereits Thomé 1993, Titzmann 1999, Anz 2003). Die Tagung suchte so einen exemplarischen Beitrag zum Problem des Zusammenwirkens von Literatur und Wissenschaft in der Moderne zu leisten. Ein möglicher Knotenpunkt für dieses Zusammenwirken könnte dabei der – in sich höchst spannungsvolle, oft auch fragwürdige – Lebensbegriff sein, auf den sich mit unterschiedlichen Ansprüchen sowohl die naturalistische Autorengeneration als auch die Vertreter des Jungen Wien um

Einführung



1900 und die expressionistische Avantgarde nach 1910 berufen. ‚Leben‘ als soziale und biologische Kategorie, als medizinisches, im engeren Sinne psychisches Zentralaxiom bildet für Freuds Lehre ebenso wie für die Literatur der Moderne den Charakter eines – freilich widerspruchsvollen – Schlüsselbegriffs, der Prozesse der Bedeutungsbildung wie der Sinndekonstruktion gleichermaßen bündelt und sichtbar macht. Freud selbst hat den Terminus zumal in seiner Theorie des ‚ozeanischen Gefühls‘ umspielt, wie ihn 1930 der Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur entwickelt, der, auf skeptischer Basis, den „Kommerz zwischen Lebensphilosophie und Psychoanalyse“ (Riedel 1996, S. 200) durch die Theorie des regressiven Charakters der menschlichen Entgrenzungssehnsucht begründet (Freud 1940, GW Bd. XIV, S. 419506, S. 422 ff.). Freuds Verhältnis zum ‚Wissen der Literatur‘ lässt sich nur dann angemessen beschreiben, wenn man es in seiner doppelten Anlage über die Ebenen der Rezeption und der Produktion erfasst. Aus dieser binären Struktur resultieren wiederum mehrere Untersuchungsfelder, die keine hierarchische, sondern eine horizontal verbundene Struktur bilden. Freuds Lektüren erschließen die Literatur als Medium psychoanalytischer Denkinhalte (1); seine Texte konstituieren sich über die Adap­tion literarischer Genres, Stile und Formen (2); Lesen und Schreiben begründen sich bei Freud aus Wissensmodellen, die literarische und szientifische Reflexion miteinander verknüpfen (3); die Doppelidentität des Literarischen und des Szientifischen bestimmt schließlich auch die Selbstdarstellung der Freud’schen Psychoanalyse (4). Der daraus ableitbare wissenschaftliche Erwartungshorizont der Konferenz wurde im Vorfeld durch die beiden Veranstalter anhand der folgenden vier Zentralgebiete umrissen:

1. Psychoanalytische Wissenstransformation und literarische Modelle Die Psychoanalyse schafft, wie Freud in einem Brief an C.G. Jung vom 30. Juni 1908 selbstsicher verkündet, die Strukturen einer „neuen Mythologie“, in deren Denkgefüge die alten Götter durch die Mächte des ‚Es‘ ersetzt wurden: den Trieb, den Wunsch und das Unbewusste (Freud 1974, S. 180). Noch 1932 nennt Freud seine Theorie der Libido „unsere Mythologie“ und bezeichnet die Triebe als „mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.“ (Freud 1940, GW Bd. XV, S. 101) Die intellektuellen Grundhaltungen der Psychoanalyse offenbaren sich nach diesem Selbstbild in Transformati

Grundlegend dazu Anz 1977, S. 221 ff., Riedel 1996, bes. S. 85 ff., ferner Maillard/Titzmann 2002, S. 14 f.



Peter-André Alt

onsakten; ihr Wille zur Entmystifizierung des Mythos, ihre materialistische Dekonstruktion der Metaphysik, ihre Dezentrierung des idealistischen Subjektbegriffs, ihr zuweilen monokausal operierender Reduktionismus und ihre Neigung zur topischen Kommentierung der eigenen epistemischen Leistung lassen sich als Umgestaltungs- und Reorganisationsversuche beschreiben, die nicht selten zur Verschlingung von Selbstreflexion, Selbstinszenierung und Selbsterforschung führen (Foucault 2001, S. 203, Böhme 2006, S. 498). Es gehört zu den topisch gewordenen Einsichten der Geisteswissenschaften, dass die Psychoanalyse durch ihre Transformationsleistungen die Ordnungen der Bedeutung und der Sprache ebenso revidiert hat wie die Idee des Subjekts und den Gedanken menschlicher Autonomie. Ihren umfassendsten Ausdruck findet die Erosion, die Freuds Lehre herbeiführte, in der Krise der Repräsentation. Nach Freud erfüllen die Zeichen der Rede keine auf Eindeutigkeit zielende Zuschreibungsfunktion, sondern enthüllen eine Mehrsinnigkeit, die aus der Spannung zwischen Bewusstem und Unbewusstem resultiert; unter der Oberfläche der Sprache liegen bisher unbekannte Welten, die sich nicht mehr über die einfache Relationierung von res und signa erfassen lassen. Die Transformationen, die Freuds Lehre auf dem Gebiet des Wissens vom Menschen herbeigeführt hat, nähren den Verdacht, dass die aufgeklärte Vorstellung vom seiner selbst mächtigen Subjekt letzthin nur apotropäischen Charakter besitzt: Sie ist ein Totem, das die Angst vor dem Unbewussten bannen soll. Die psychoanalytische Triebtheorie unterstützt ein weitreichendes Misstrauen gegen den Logozentrismus ebenso wie gegen die Hybris der idealistischen Subjektkonstruktion. Ihr Telos ist jedoch nicht destruktiv, sondern vom Willen zu einem neuen Wissen beherrscht; daher bedeutet Freuds Lehre keine Depotenzierung der alteuropäischen Wissensordnungen, vielmehr eine Umformung ihrer binären Logik im Sinne einer Spiegelung und Verdoppelung. Freuds hermeneutischer Entwurf zielt darauf, die Rückseite der Erscheinungen zu konstruieren, um ihre Identität in einer Differenzstruktur – im Fonds des Unbewussten – reflektieren zu können (vgl. Lacan 1980, S. 52). Die Literatur ist an solchen Interpretationsprozessen direkt beteiligt. Zu verweisen wäre hier auf das Konzept einer psychoanalytischen Katharsis in der frühen Neurosenlehre; auf das Verfahren der talking cure und deren Bezüge zur Tragödie, wie sie etwa Hugo von Hofmannsthal im expliziten Rückgriff auf Freuds Hysteriedeutung herausarbeitet; auf die poetische Produktivität psychoanaly­tischer Mythosinterpretationen; auf den Traum  

Zu einfach ist es, wenn Odo Marquard (1987, S. 226) Freuds Auseinandersetzung mit dem Mythos als „Depotenzierung“ bezeichnet. Vielmehr geht es um eine Aneignung, die den Mythos in den Dienst der Selbstreflexion des psychoanalytischen Projekts stellt. Man denke an die Elektra (1903); vgl. auch den parallel zur Uraufführung verfassten Aufsatz Die Bühne als Traumbild (Hofmannsthal 1979-80, S. 490 ff.).

Einführung



als literarisches Modell mit den berühmten Analogien zwischen Traumarbeit und tropischer Rede; auf die Bedeutung der Fehlleistung und des Witzes als strukturelle Textelemente; auf die verwandten Techniken medizinischer und erzählerischer Anamnese. In sämtlichen dieser Fälle transformiert Freuds Lehre literarische Verfahren im Sinne eines wechselseitigen Determinationsprozesses, der sich im Titel der Tagung spiegelt; die Literatur erscheint als Beispielterrain für die analytische Theorie, wird aber vice versa auch mit neuem psychologischem Wissen aufgeladen. Der Austausch, der zwischen beiden Feldern geschieht, lässt sich mit einem Leitbegriff der Luhmann’schen Systemtheorie als „re-entry“, als Wiedereintritt der Differenz in das Unterschiedene beschreiben (Luhmann 1995, S. 20 ff., Luhmann 1998, S. 44 ff.). In dem Moment, da der literarische Diskurs neues psychoanalytisches Wissen generiert, leistet er eine Differenzierung, die ihrerseits von der diskursiven Ordnung der Psychoanalyse weiterverarbeitet werden kann. Umgekehrt ist es das psychoanalytische Wissen, das die Form eines literarischen Textes zu konstituieren, seinen Gattungscharakter und die Wahl seiner Mittel zu steuern vermag. So wäre Hofmannsthals Tragödienauffassung ohne Freuds Hermeneutik des Traums, Kafkas oder Musils Verständnis novellistischen Erzählens ohne die topisch argumentierende Theorie des Unbewussten, Schnitzlers Sprachreflexion im Zusammenhang des inneren Monologs ohne die Lehre von den Fehlleistungen, Bretons Modell der écriture automatique ohne detaillierte Kenntnis von der Logik der Assoziation kaum denkbar. Poetische Konzepte des Stils oder der Gattung gehorchen hier den Impulsen der Freud’schen Theoriebildung; das psychoanalytische Wissen wandert in den Text ein, indem es selbst literarische Form wird (vgl. Luhmann 1986, S. 10 ff.).

2. Freuds ‚Maps of Reading‘: Funktionen von Literatur im psychoanalytischen Diskurs Der Interpret Freud verhält sich zur Literatur wie der Therapeut zum scheinbar funktionierenden, faktisch aber gestörten Seelenleben: Er erzeugt, 

Vogl (1997) sieht in der Moderne einen Verlust anschaulichen Wissens gekennzeichnet, weil Faktizität durch formale – innersprachliche – Beziehungen ersetzt werde. Zu fragen steht jedoch, ob diese (sachlich ohnehin problematische) Differenzierung hilfreich ist, wenn man die Durchdringung von Literatur und Wissenschaft untersuchen möchte. Hier geht es weniger um den Gegensatz von ‚Anschaulichkeit‘ und ‚Abstraktion‘ als um die Funktionsdominante des jeweiligen Diskurses (Fiktion hier, Epistemologie dort). Das in der Literatur verarbeitete Wissen ist nicht deshalb ‚anschaulicher‘, weil es allegorisch oder parabolisch dargestellt wird; vielmehr gewinnt es seine spezifische Form durch die Fiktion, die es modelliert. Zu den Vorzügen, die in diesem Punkt eine systemtheoretische Analyse der Beziehung von literarischen und nicht-literarischen Diskursen bietet, Plumpe/Werber 1995. – Zur Formierungsleistung der Fiktion generell Iser 1991, S. 18 ff.



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so hat Luhmann bemerkt, durch „‚paradoxe Interventionen‘“ Störfelder, die mit Hilfe einer Provokation von Krisen die irritierbare Masse des vermeintlich Normalen in Bewegung versetzen (Luhmann 1999, S. 92). Freud arbeitet, wie kürzlich Johannes Türk zeigen konnte, als Immunologe, der literarische Texte gleichsam bakteriologisch behandelt, um ihre geheimen Krankheiten und Krankheitsherde – allgemeiner: die in ihnen verborgenen Geheimnisse und Rätsel – zu entdecken (Türk 2006, S. 175). Literatur ist für Freud ein Gegenstand von Experimenten, deren Ziel darin besteht, Oberflächen zu durchstoßen und Tiefenstrukturen freizulegen. Man darf diesen Umgang mit literarischen Texten getrost das Indiz eines produktiven Miss-verständnisses nennen. Freud unterschätzt den Umstand, dass Literatur aus Fiktionen besteht und notorisch lügt; was er für die ‚wahre‘ – ihr selbst verschlossene – Seite der Literatur hält, kann schließlich auch das Resultat raffinierter Fingierungsstrategien und Manöver sein. Zudem vermag Literatur die Fähigkeit zu entwickeln, das eigene Wissen im Medium der Sprache zum Gegenstand zu machen (Foucault 1974, S. 456 ff.); ein solcher Sachverhalt wird von Freud programmatisch unterschätzt. Produktiv an seinem naiven Verhältnis zum Text ist die Tatsache, dass das Unbewusste der Literatur in seinem Verfahren eine epistemische Dimension gewinnt. Nach Freud haust bekanntlich nicht nur die Sprache im Unbewussten, sondern ebenso das Unbewusste in der Sprache. So paradox es klingt: Gerade durch Freuds hermeneutische Naivität verliert die Literatur ihre Unschuld (Alt 2002, S. 330). Nicht zuletzt sensibilisiert der Blick auf Freuds Lektüren für den Umstand, dass seine eigene wissenschaftliche Darstellungstechnik eine Theorie-Erzählung großen Stils ist. Die Vielfalt der literarischen Gattungen, die dieses Verfahren stützen, bleibt bemerkenswert. Freuds Fall-Geschichten offenbaren sich als Familien­romane und detective stories, als Novellen aus dem Schattenreich der Seele, als Text-Übungen im Rahmen einer kathartischen Dramaturgie. Auch vor diesem Hintergrund erweist sich die Doppelfunktion der Literatur als Objekt der therapeutischen Erkenntnis und Formierungsinstanz des psychoanalytischen Dis­kurses. Dass Freuds Texte eine – von ihm selbst nur ungern zugestandene – literarische Qualität besitzen, ist das gleichsam strukturelle Indiz dafür, wie eng Poesie und Psychoanalyse korrespondieren. Die Forschung hat sich bisher jedoch der Frage verschlossen, welcher funktionale Konnex zwischen Gattungswahl und Gegenstand herrscht; aus welchen Gründen Freud in spezifischen Zusammenhängen  

Den Hinweis auf diesen fundamentalen Gesichtspunkt verdanke ich Sibylle Lewitscharoff (Berlin). Das Schreiben ist hier durch das Lesen vermittelt, die Wahl der genera gebunden an Rezeptionserfahrungen; exemplarisch zur Auseinandersetzung mit der Detektiverzählung Rohrwasser 2005, S. 33 ff.

Einführung



das Genre der Detektiverzählung, in anderen Fällen die novellistische oder kathartische Methode der Darstellung adaptiert, muss genauer als bisher untersucht werden. Denn Textgattung und Erkenntnisobjekt stehen in einer Interdependenz­beziehung, die wiederum die wechselseitige Determination von Literatur und psychoanalytischem Wissen beleuchtet.

3. Selbstbilder, literarisch Die Selbstbeschreibung der Freud’schen Psychoanalyse stützt sich auf literarische Topoi, welche die eben hervorgehobene Allianz der Diskurse aus anderem Blickwinkel nochmals hervorheben. Mit unterschiedlichen metaphorischen Wendungen hat Freud seine Trieblehre als Archäologie der Seele, Meeresfahrt in ferne Gestade, Wanderung in die Nacht, neue Schöpfung und Dechiffriermethode charakterisiert. Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) heißt es: „Wer wie ich die bösesten Dämonen, die unvollkommen gebändigt in einer menschlichen Brust wohnen, aufweckt, um sie zu bekämpfen, muß darauf gefaßt sein, daß er in diesem Ringen selbst nicht unbeschädigt bleibe.“ (Freud 1940, GW Bd. V, S. 161-287, S. 272). Die analytische Arbeit, die in die Tiefe führt, zwingt diesem bemerkenswerten Ich-Bild zufolge zur Konfrontation mit den Mächten der Finsternis. Was Freud hier liefert, bietet eine Variation jener romantischen Bergmythologie, die man von Tieck, E.T.A. Hoffmann und Hauff kennt: Die Psychologie ist eine gefährliche Wissenschaft, die zum descensus ins Reich der Schatten nötigt und den Arzt als magischen Künstler erscheinen lässt, welcher sich in die Geheimnisse der Welt verstrickt. Ihre Tätigkeit gehorcht dem Gesetz einer ästhetischen Inszenierung, wie sie die Literatur des 19. Jahrhunderts mit ihren Heterotopien der Tiefe, des Gefängnisses und der Unterwelt vermittelt. Noch Michel Foucault übernimmt die Sprache dieses Selbstbildes, wenn er in Les mots et les choses (1966) formuliert: Indem sie den gleichen Weg nimmt wie die Humanwissenschaften, aber mit in entgegengesetzter Richtung gewendetem Blick, geht die Psychoanalyse auf den Moment zu, der per definitionem für jede theoretische Erkenntnis des Menschen und für jedes kontinuierliche Erfassen in Begriffen der Bedeutung, des Konflikts oder der Funktion unzugänglich ist – wo die Bewußtseinsinhalte sich gliedern oder vielmehr in ihrer Kluft zur Endlichkeit des Menschen verharren. (Foucault 1974, S. 448) 

Sigmund Freud, Studien zur Hysterie (1895), Gesammelte Werke, Bd. I, S. 201 (Archäologie), Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905), Bd. V, S. 173 (Strom, Meerfahrt), Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914), Bd. X, S. 44 (Schöpfung), Die Traumdeutung (1900), Bd. II/III, S. 102 (Dechiffriermethode). Vgl. zur Funktion solcher Topoi bereits Muschg (1975, S. 38f.) und grundsätzlich Schönau (Stuttgart 1968, S. 132ff). Berechtigte Kritik an Schönaus schematischer Trennung von rhetorischer Form und Denkstruktur bei Mahony (1989, S. 21f.).



Peter-André Alt

Der Analytiker ist bei Freud (und Foucault) ein Expediteur, der den Mut besitzt, dem gefährlichen Moment der Einsicht in die repräsentationslogische Inkommensurabilität des Ich zu trotzen. Solche Rollen-Inszenierungen verdecken den rationalistischen Kern und das strenge Kausalitätsdenken der Psychoanalyse, indem sie als Tathandlung ausgeben, was als Beobachtungswissenschaft mit hermeneutischer Supplementierung angelegt war. Paul Ricœur hat zu Recht betont, dass Freuds Lehre das System der topischen Erklärung des menschlichen Seelenlebens mittels der Libidotheorie durch ein ökonomisches Modell auf energetischer Basis ersetzt habe (Ricœur 1974, S. 156 ff.). Das Selbstbild der Psychoanalyse versteckt diesen Substitutionsvorgang, wenn es mit den Darstellungstechniken der Literatur den Moment der kühnen Endeckung, der gefahrvollen Entbergung und riskanten Detektion als zentralen Augenblick der szientifischen Erkenntnis umreißt. Was wissenschaftliche Konstruktion und Setzung ökonomischer Ursache-Wirkungsverhältnisse ist, erscheint in den Metaphern Freuds wie eine abenteuer­liche Entdeckungsfahrt in die Finsternis. Auch so kann sich das Wissen der Literatur auf die Psychoanalyse beziehen: als Spiegelung einer Ästhetik der Selbstverbergung, zu deren Aufdeckung sie uns ihrerseits die methodischen Mittel liefert.

4. Wirkungsgeschichten: Literarische Prozesse mit und gegen Freud Für die Literatur bedeutete die Psychoanalyse zunächst die narzisstische Kränkung, dass, wie Ricœur formulierte, die Produkte der Kultur plötzlich als Äquivalente zur Ökonomie der Libido erschienen (Ricœur 1974, S. 261). „Vor dem Heiligtum, in dem ein Künstler träumt“, so schreibt Karl Kraus 1913, „stehen jetzt schmutzige Stiefel. Die haben sich die Psychologen ausgezogen.“10 Die zurückweisenden Formeln, mit denen zahlreiche Autoren auf die Psychoanalyse reagierten, beziehen sich, wo sie mehr als nur Ausdruck von Ressentiment, Wirkungsneid oder Unkenntnis sind, zumeist auf die Kränkungserfahrung, die der Dekonstruktion eines konventionellen Selbstbildes entsprang.11 Daneben aber hat Freuds Lehre die Literatur dazu 

Die Tatmetaphorik gehört zu den topischen Formen wissenschaftlicher Selbstdarstellung; zur Tätermetaphorik der neuzeitlichen Astronomie (vgl. Blumenberg 1981, Bd. II, S. 338 ff.).  Dennoch bleiben topische Restbestände in Freuds System erhalten, wie etwa die wiederholten Hinweise auf die Raumstruktur des Unbewussten zeigen (Freud 1940, GW Bd. X, S. 273 f., 292 ff., Bd. XI, S. 305); vgl. bereits Bornscheuer 1976, S. 196 ff. 10 Vgl. zu dieser Äußerung und ähnlichen Kommentaren, die unter dem Stichwort „Nachts“ versammelt sind, Kraus 1913, S. 71-74. 11 Die Dämonisierung der Psychoanalyse und deren eigener Umgang mit dem Dämonischen gehorchen dabei demselben Anspruch der depotenzierenden Transformation (vgl. Neiman 2004, S. 464 ff.).

Einführung



inspiriert, jenseits einer einfachen Rezeption psychoanalytischer Theorieelemente die produktive Kraft des Unbewussten gleichsam metapoetisch zu verarbeiten. Der Tagtraum, das Halbschlafbild und das Phantasma erscheinen gerade in den Texten der Zeit zwischen 1910 und 1930 immer wieder als Ressourcen einer imaginären Technik der Realitätssimulation, in deren Formen sich die Mittel der Literatur selbst reflektieren. Die surrealistische écriture automatique, auf ironische Weise verdichtet in Saint-Pol-Roux’ Schild mit der Aufschrift Le poète travaille, das abends an die Tür seines Schlafzimmers im Landhaus von Camaret gehängt wurde, demonstriert das ebenso wie die berühmte Formel „Gedanken an Freud natürlich“, mit der Kafka 1912 die Niederschrift seiner Erzählung Das Urteil kommentierte (Kafka 1994, S. 101). Die „Wechselwirtschaft“ zwischen Ästhetik und Therapeutik, die Odo Marquard für das Signum einer modernetypischen Ausbildung anthropologischen Interesses hielt, ermöglichte allerdings neben der Verklärung zugleich die Dämonisierung Freuds (Marquard 1963, S. 48).12 Formen solcher Dämonisierung vollziehen sich nicht nur im literarischen Diskurs, sondern auch im noch relativ jungen Medium des Films – man denke nur an die fragwürdige Figur des Doktor Mabuse, die in Fritz Langs Kinoadaption, anders als in der literarischen Vorlage von Norbert Jacques, den Part eines hochstaplerisch-größenwahnsinnigen Psychoanalytikers spielt (Jacques 1994, S. 343 ff.). Es war gerade die „strukturale Analogie“ zwischen „Traumarbeit und Kunstarbeit“ (Ricœur 1974, S. 174), die eine von manchen Autoren perhorreszierte Allianz von Literatur und Psychoanalyse stiftete. Verwandtschaften schaffen Nähe und zugleich das Bedürfnis nach Distanz; die literarischen und filmischen Aneignungen der Psychoanalyse schließen schon zu Lebzeiten Freuds folgerichtig beides ein, den Skandal der Profanisierung und die Feier des Mythischen.13 *** Über das Wissen der Literatur lässt sich nach Freud anders reden als vor ihm. Das liegt nicht an der Stringenz seines Literaturverständnisses, sondern an der diskursiven Macht der Psychoanalyse, die literarische Texte der Moderne über Prozesse der Formkonstitution konditioniert. Die Einsicht, dass sich das psychoanalytische Wissen – oft selektiv, partikular oder synkretistisch – auf der Ebene der Form in die Literatur übersetzt, ist evident, 12 Dazu auch Pfohlmann 2006, S. 343 ff. 13 Dass psychoanalytische Theorie und filmisches Erzählen von Beginn an auch eine strukturelle Interdependenz aufweisen, steht gleichwohl außer Frage; die Ambivalenz der Literatur, die Freuds Lehre verdammen und verarbeiten kann, korrespondiert hier der zwiespältigen Freud-Rezeption des Films (vgl. Marinelli 2006, S. 12-39).

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Peter-André Alt

wenn man sich vergegenwärtigt, wie stark die narrativen Strukturen des modernen Romans, die erzählerische Poetik des Raums und die Sprache des Dramas durch Freuds topische Lehre des Unbewussten geprägt wurden. Mit solchen Prägungen verbindet sich auch eine Konstellation der offenen Bedeutungsbildung, die für die methodischen Grundannahmen der Literaturwissenschaft einschneidende Konsequenzen hat. Ein berühmter Passus aus der Traumdeutung lautet: Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus dem Mycelium. (Freud 1940, GW Bd. II/III, S. 530)

Sämtliche Bemühungen, den Zusammenhang von Freuds Wissen und dem Wissen der Literatur zu beschreiben, gleichen der inneren Dynamik des hier umrissenen Vorgangs. Sie gelten einer dichten, aber zugleich unabschließbaren Struktur, in der die Differenzierungsleistungen des psychoanalytischen Wissens ihrerseits neue Verknüpfungsmöglichkeiten anbieten. Was an diesem Punkt geschieht, ist nicht der Vorgang einer beliebigen Supplementierung literarischer Texte durch externes Wissen. Vielmehr spiegelt sich darin der wichtigste Effekt der Freud’schen Hermeneutik, nämlich die Erkenntnis, dass die Sprache einen Raum der Verdoppelung und Vieldeutigkeit schafft, den die Literatur ihrerseits für die Erzeugung von Fiktionen nutzt.14 Mit der Vorstellung der unendlichen Analyse hat Freud ein Paradigma geschaffen, das auch auf die literaturwissenschaftliche Arbeit am Text übertragen werden kann. Wenn die Form der Literatur ihr Wissen ist, dann liegt das psychoanalytische Wissen des Textes in seiner Unabschließbarkeit.15 Einzig diejenige Interpretation, die den Text offenhält, indem sie seine unterschiedlichen Bedeutungen sichtbar macht, hat ihn im psychoanalytischen Sinn verstanden. Wer über Freud und die epistemische Qualität der Literatur spricht, kann das folglich nur im Bewusstsein tun, dass er nicht zu Ende kommen wird. 14 Die Funktion der Verdoppelung wird durch die psychoanalytische Triade von Ich – Es – Über-Ich sichergestellt; seelische Prozesse sind durchgehend in Wiederholungen, Duplikationen oder – als pathologische Variante – Spaltungen sichtbar. Ricœur beschreibt diese Struktur der Verdoppelung zum einen auf der Objektebene (Bewusstes / Unbewusstes), zum anderen auf der Stufe der methodischen Reflexion (Energetik / Hermeneutik). Der Doppelung der Psyche in Bewusstsein und Unbewusstes korrespondiert so das Verhältnis zwischen hermeneutischem Verstehensanspruch und Energeia-Modell des Triebs (vgl. Ricœur 1974, S. 144 ff.). 15 Die Frage, inwiefern ein literarischer Text selbst ‚Wissen‘ besitzen oder lediglich Wissensdiskurse verarbeiten bzw. transformieren kann, ist in der Forschung umstritten. Vgl. Vogl 1997, S. 123: „Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen“; anders dagegen Maillard/ Titzmann (2002, Einleitung, S. 24 ff.), die die Wissensproduktion eines literarischen Textes allein als ‚relational‘ auffassen.

Einführung

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Einführung

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Psychoanalytische Theoriebildung und literarische Fiktion

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Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen? Sigmund Freud Zu Sigmund Freud kam einst ein Mann, der ihm einen seltsamen Traum mitteilte. Sein Es habe – im Traum – Triebansprüche geäußert, das Über-Ich habe sie zu unterdrücken versucht, das Ich habe sie daraufhin sublimiert. / ‚Haben Sie das wirklich geträumt?‘ fragte Freud. ‚Ja‘, entgegnete der Mann. / Freud überlegte einen Moment und sagte dann: ‚Die Erklärung des Traums ist einfach. Ihr Es wird vom Über-Ich unterdrückt und äußert Triebansprüche, die vom Ich...‘ ‚Das ist aber keine Erklärung, das ist mein Traum‘, unterbrach ihn der Mann. / ‚Wenn Sie nicht wollen, daß ich Ihnen Ihre Träume erkläre, brauchen Sie es mir nur zu sagen‘, antwortete Freud schroff und entließ den Mann, den von Stund an ein schrecklicher Minderwertigkeitskomplex befiel. (Gernhard 1995, S. 462 f.)

„Das Wissen der Literatur“ – das ist eine riskante bis provokante Wendung. Denn es ist seit jeher zweifelhaft, ob das Medium der Literatur, der schönen Literatur bzw. der sogenannten Belletristik überhaupt wissenstauglich und seriös ist. Literatur, so das übliche Setting, ist ein Gegenstand, nicht aber ein Medium des Wissens. Literaturwissenschaft heißt Literaturwissenschaft, weil sie etwas über Literatur (Gattungen, Epochen, rhetorische Figuren, lyrische Metren, Lebensdaten von Dichtern, intertextuelle Konstellationen etc.) weiß, nicht aber, weil sie unterstellt, dass Literatur ihrerseits etwas weiß, was Anspruch auf fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit erhebt. Wer wissen wolle, wie man eine Schlacht gewinnt, einen Wagen lenkt oder einen Kranken heilt, sollte sich an Fachleute und einschlägiges Fachwissen halten und nicht Homer lesen – so lautet schon der ebenso brüske wie bündige Bescheid, den Platons Dialog Ion gläubigen Verehrern der schönen Literatur gegeben hatte. Dieser Bescheid hat, machen wir uns nichts vor, bis heute Bestand (vgl. Schlaffer 1990 und Hörisch 2007). Kein Biologe, kein Physiker, kein Chemiker und kein Elektrotechniker wird Werke von Goethe, Kleist, Fontane oder Musil lesen, weil er in ihnen kundiges oder gar innovatorisches Fachwissen über seine jeweilige Disziplin erwartet. Noch 

Der hier vorliegende Text ist in modifizierter Form in das Vorwort dieses Buches eingegangen.

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Robert Gernhardt hat sich in seinem Gedichtzyklus über den Dichter Dorlamm über die Schriftsteller-Spezies lustig gemacht, die keine Hemmungen spürt, noch darüber enthemmt zu reden, worüber sie mangels Kompetenz lieber schweigen sollte. Was ist Elektrizität? Dorlamm, um ein Referat gebeten, hält es gern um dies hier zu vertreten: „Wenn das Ohm sie nicht mehr alle hat, heißt es nicht mehr Ohm, dann heißt es Watt. Jedoch nur, wenn’s gradeliegt, liegt’s quer, heißt es nicht mehr Watt, dann heißt’s Ampere. Heißt Ampere, ja, wenn es liegt, nicht rollt, rollt es nämlich, nennen wir es Volt. Rollt ein Volt nicht mehr und legt sich quer, heißt es wieder – wie gehabt – Ampere. Heißt Ampere, wenn’s sperrig liegt, liegt’s glatt, wird es – na wozu wohl schon? - zum Watt. Wird zum Watt, zur Maßeinheit für Strom, wenn’s nicht alle hat. Sonst heißt es Ohm.“ Dorlamm endet, um sich zu verneigen, doch er neigt sich vor betretnem Schweigen. „Glaubt es nicht“, ruft Dorlamm, „oder glaubt es – mir egal!“ Und geht erhobnen Hauptes. (Gernhardt 2005, S. 121)

Wer sie hier nicht alle hat, ist selbst Leuten, die wenig Wissen über Elektrizität haben, elektrisierend deutlich. Dichter Dorlamms Rede über Elektrizität ist ebenso beschwingt wie von jeder Fachkenntnis ungetrübt (zur Erweiterung meines Wissens hat sie übrigens dennoch beigetragen, spürte ich doch das Bedürfnis, meine über die Jahre und Jahrzehnte verdunkelten Abiturkenntnisse durch einen Blick ins Lexikon aufzuhellen und mich kundig zu machen, was es mit Ohm, Watt, Ampere und Volt wirklich auf sich hat). Aufschlussreich bis abgründig an den gut gereimten Versen ist auch, dass Dichter Dorlamm einen sehr großzügigen Umgang mit dem Glaubens-Begriff pflegt. Offenbar liegt ihm nicht viel daran, in kantischer Tradition analytisch sauber die Grenzen zwischen Glauben, Wissen und Meinen zu vermessen. Stattdessen macht er, dem egal ist, was die Wissenschaft weiß, was der Glauben anderer glaubt und wo die Grenzen zwischen Glauben und Wissen verlaufen, weitere vermessene, sachlich-etymologisch haltlose und in charakterlicher Hinsicht verwerfliche Äußerungen über die Kraft des Meinens. Dorlamm meint Dichter Dorlamm läßt nur äußerst selten Andre Meinungen als seine gelten.

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Meinung, sagt er, kommt nun mal von mein, Deine Meinung kann nicht meine sein. Meine Meinung – ja, das läßt sich hören! Deine Deinung könnte da nur stören. Und ihr andern schweigt! Du meine Güte! Eure Eurung steckt euch an die Hüte! Laßt uns schweigen, Freunde! Senkt das Banner! Dorlamm irrt. Doch formulieren kann er. (ebd., S. 122)

Dieser Schlussvers zielt nun aber auf eine wenn nicht elektrisierende, so doch immerhin aufschlussreiche Wendung der Dinge. Dichter Dorlamm irrt, aber er irrt so richtig gut, denn formulieren kann er. Was er sagt, ist falsch, aber es ist immerhin gut falsch gesagt. Und weil es gut gesagt ist, weil dieses Arrangement von Lettern schöner, ansprechender, überraschender, witziger und in jedem Wortsinne belletristischer ist als z.B. Wissenschaftsprosa, findet Dorlamms dichte und doch auch nicht ganz dichte Dichtung trotz der ihr eigenen Abgründe an Unwissen, Ignoranz und Arroganz Gehör und Aufmerksamkeit. Um es in der weniger schönen, aber präzisen Sprache der Luhmann’schen Systemtheorie zu sagen: der binäre Leitcode der Wissenschaften ist wahr/falsch, der der Künste und der Literatur ist stimmig/nicht-stimmig – was nichts anderes heißt als dies, dass wir z.B. bereit sind, für ein stimmiges Metrum und einen stimmigen Reim wie „glaubt es / Hauptes“ eine sachlich hochheikle These in Kauf zu nehmen, etwa die, dass der soziologische Nenner, der hinter Jahrtausenden schlief, ein paar große Männer (waren), die tief litten. Die Orientierung am ästhetischen Leitcode (man kann lange diskutieren, ob er mit den binären Termen schön/hässlich, stimmig/nicht-stimmig, interessant/langweilig etc. am besten beschrieben wird, und man wird sich wohl bald einigen, dass er stärker historisch variablen Semantiken verpflichtet ist als etwa der juristische Leitcode Recht/Unrecht, der theologische Leitcode immanent/transzendent oder der wissenschaftliche Leitcode wahr/falsch) – die Orientierung am Leitcode des Ästhetischen sorgt für eine bemerkenswerte Funktions-Leistung: sie hält unwahrscheinliche, kontraintuitive, marginale und sachlich z.T. hochgradig zweifelhafte Thesen parat und (im Fall, dass sich diese Thesen in kanonischen Werken finden) dauer-präsent – was Freuds Psychoanalyse listig nutzt. Als „Wissen“ wird man diese Thesen nicht bezeichnen können; sie erfüllen nicht die Minimal-Kriterien, die man billiger Weise an den Begriff „Wissen“ stellt, nämlich dass zutreffende, klar formulierbare, intersubjektiv geteilte, wenn auch ständig modifizier- und erweiterbare Kenntnisse über Sachverhalte vorliegen müssen, wenn von Wissen die Rede sein soll. Schöne Literatur ist nicht das Medium, in dem sich ein so verstandenes Wissen findet. Wir erwarten das auch gar nicht. Man muss

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nicht Käthe Hamburgers und Roman Ingardens Abhandlungen (Hamburger 1980, Ingarden 1972) gelesen haben, um zu wissen, dass Literatur nicht aus sachlich belastbaren und kontrollierbaren Urteilssätzen, sondern allenfalls aus Quasi-Urteilssätzen besteht. Keiner, der auch nur einigermaßen bei Trost ist, würde einen Roman beim Buchhändler unter Protest mit der Mängelrüge zurückgeben, die Marquise habe ihr Haus doch gar nicht, wie vom Schriftsteller behauptet, um fünf, sondern nachweislich und gut bezeugt schon um vier Uhr verlassen. Literarische Sätze sind negationsimmun. Es ist einfach sinnlos, zu negieren, dass Effi Briest jung gestorben ist – selbst und gerade, wenn man Wissen davon hat, dass ihr Pendant in der Sphäre, die man gemeinhin das wirkliche Leben nennt, uralt geworden ist. Die Dichter lügen, wie man seit Hesiod und Platon wissen kann (vgl. Curtius 1969, Kap. 11). Ob sie lügen dürfen, ob und unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, die wahrheitsindifferenten und eigentümlich negationsimmunen Sätze der schrecklich schönen Literatur zuzulassen oder nicht, steht ständig zur Diskussion. Man muss sich diese traditionsreiche und dichte Diskussionslage vergegenwärtigen, wenn man ermessen will, was es bedeutet, dass Freuds Psychoanalyse sich offensiv auf sachlich valide Erkenntnisse beruft, die in der Weltliteratur archiviert seien. Die gängige Kritik an der Psychoanalyse seit ihren Anfängen bestreitet denn auch ihren Anspruch, Wissenschaft zu sein. Die Datenmenge, auf der psychoanalytische Theoriebildung beruht, sei skandalös klein; jeweils nur eine Krankengeschichte vom kleinen Hans, von Dora oder vom Wolfsmann reiche selbst dann, wenn diese Novellen so gut geschrieben seien, dass ihr Autor zu Recht den Goethe-Preis erhalten habe, schlicht nicht hin, um ernsthaft belastbare Theorien von erheblicher Reichweite vorzuschlagen. Freud hat dieses Problem selbstredend gesehen. Und so erschließt sich leicht die Hochschätzung, die er dem Medium der schönen Literatur entgegenbrachte. Diese Hochachtung speist sich nicht (jedenfalls nicht nur) aus bildungsbürgerlichen Traditionen, sie hat vielmehr ihren handfesten Hintersinn. Das Prestige der Werke von Sophokles, Shakespeare und Goethe hat nämlich nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine hohe wissenschaftsdramatische Funktion. Kann man doch leicht einen akademischen und sozialen Außenseiter wie Sigmund Freud, nicht aber ebenso leicht die Werke der ganz großen Weltliteratur kritisieren. Nach einem eindringlichen Wort von Walter Benjamin, das Freud seinerseits vollauf zustimmend zitieren könnte, sind „Zitate in meiner Arbeit [...] wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.“ (Benjamin 1972, S. 138) Gerade autoritative Zitate können wie Wegelagerer wirken, die dem müßigen Flaneur im Reiche des allzu gewissen Wissens die billigen Überzeugungen rauben. Freuds Umgang mit Weltliteratur entspricht dem Wort Benjamins. Werke der Hochliteratur, so Freuds weitreichende These, beweisen zwar nicht,

Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen?

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belegen aber, dass die zentralen und exzentrischen Konzepte der Psychoanalyse mehr Plausibilität haben, als es der Schulweisheit scheinen mag. Bekanntlich sind Freuds zentrale Konzepte – von Ödipus bis Narziss, vom Unheimlichen bis zum Masochismus, vom Unbewussten bis zum Sekundärprozess – erstens literarisch induziert und zweitens literaturbasiert. Zitate aus der schönen, nicht nur der wissenschaftlichen Literatur dienen der Psychoanalyse häufig als funktionale Äquivalente von empirischen Daten. Das gilt nun paradoxer Weise gerade auch in statistischer Hinsicht. Freud hat schlicht Recht: man kann fast alles und natürlich auch die Existenz eines Ödipus-Komplexes in Frage stellen. Wer aber leugnet, dass es ohne InzestMotive und ödipale Konstellationen keine Weltliteratur gäbe, blamiert sich als sekundärer Analphabet. Denn er hat dann noch nie etwas von Isis und Osiris, vom Tantalusgeschlecht, von Sodom und Gomorra, von Ödipus, von Gregorius, von Hamlet, von Mignon, vom Mönch Medardus, von Sigmund und Sieglinde, von Ulrich und Agathe, vom homo faber und vielen anderen weltliterarischen Figuren mehr gehört. Nun bezeichnet der Ödipus-Komplex nicht nur das literaturaffinste, berühmteste und berüchtigtste, sondern auch das abgründigste Lehrstück der Psychoanalyse. Und dies aus einem so schlichten wie weitreichenden Grund. Ödipus ist die Inkarnation eines im striktesten Wortsinne unlogischen und also unwissenschaftlichen Syndroms. Inzest, jedenfalls Inzest mit fatalen und natalen Folgen, ist nicht „nur“ ein psychologisch-soziales, sondern eben auch ein logisches Problem. Wenn nämlich Ödipus und Jokaste ein Kind zeugen, so würde dieses Kind den basalen logischen Satz vom ausgeschlossenen Dritten sprengen. Wäre es doch beides zugleich: Kind und Geschwister des Ödipus, Kind und Enkel der Jokaste. Ähnlich intrikat liegen die Dinge (die Dinge oder „nur“ die Benennung der Dinge? abgründige Frage: handelt es sich um einen Widerspruch nur im Symbolischen oder gar im Realen? Oder handelt es sich um das systematische Nichtentsprechungs- und in entscheidenden Knotungen gar widersprüchliche Verhältnis zwischen Symbolischem und Realem?) – strukturell ebenso heikel liegen die Dinge beim Geschwisterinzest. Mignon ist Tochter und zugleich und in derselben Hinsicht auf dieselben Verwandten Nichte des Harfners und seiner Schwester. Kurzum: die Psychoanalyse hat es nicht nur mit dem Schmutz der Sexualität, sondern auch mit dem Schmutz einer unreinen Vernunft zu tun. Psychoanalyse hat mit Schmutz zu tun. Unter anderem mit dem Schmutz der Sexualität, der Perversionen, der infantilen Fixierungen, der polymorphen Begierden, der Krankheiten, der Symptome, der zum Himmel stinkenden Verfehlungen, der Versprecher und der unanständigen Witze. Psychoanalyse hat, wie Friedrich Kittler schon früh formulierte, mit „Abfall in jedem Wortsinne“ zu tun. Unter anderem mit dem häretischen Abfall von Illusionen, vom rechten Glauben, von erhabenen Rhetoriken

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und eben auch vom Ideal einer reinen Wissenschaft. Wissenschaft zu sein, wissenschaftlichen Standards zu genügen – eben dies ist der Psychoanalyse seit ihren Anfängen und bis heute von Wissenschaftlern, die auf Reinheitsgebote achten, immer erneut abgesprochen wurden. An der Universität, also im Hort der Wissenschaften, hat die Psychoanalyse denn auch keinen festen Platz gefunden. Das schließt nicht aus, dass Freuds Theorien auf das lebhafteste Interesse geradezu kultisch verehrter Wissenschaftler wie Albert Einstein gestoßen sind. Im einigermaßen gelassenen Rückblick auf die nunmehr gut hundertjährige Geschichte des Verhältnisses von Universität und Psychoanalyse und der ebenso lang anhaltenden Diskussion um die wissenschaftliche Qualität der Psychoanalyse fällt auf, dass die Psychoanalyse immer dann Konjunktur hatte, wenn irritierend unreine Begriffe auch in anderen Wissenschafts-Feldern zumindest nicht sofort verworfen wurden. Zeiten und Kontexte, in denen Begriffe wie Relativität und schwarze Löcher, Unvollständigkeit und fuzzy-logic, anarchistische Erkenntnistheorie und negative Theologie, Paradigmenwechsel und Dekonstruktion angesagt waren, waren der Psychoanalyse günstig. Zeiten und Kontexte, die auf Reinheiten, sei’s des Blutes, sei’s der Tradition, sei’s der Kultur, sei’s der Vernunft insistierten, konnten sich über die Psychoanalyse (bestenfalls!) nur erregen. Der erfolgreichste wissenschaftskritische Essay der letzten Zeit trägt einen aussagekräftigen Titel, der keinen Zweifel daran aufkommen lässt, wie sein Verfasser über das Problem denkt, in welchem Verhältnis universitäre Disziplinen zu Schmutz, Abfall und Reinheit stehen sollten: Bullshit. Nun gibt es Texte, die, um eine nicht zuletzt durch Lacans Interpretation berühmt gewordene Wendung Edgar Allen Poes zu bemühen, „a little bit too obvious“ sind. Harry G. Frankfurts Essay Bullshit gehört dazu. Wer wird der Klage widersprechen, dass zu viele zu viel Unsinn und Mist reden und schreiben und dass zu wenige strenge Wahrheits- und AufrichtigkeitsAnforderungen an ihre Aussagen stellen und diesen dann auch genügen? Frankfurts Essay hat so sehr den Charme des Trivialen und Über-Evidenten, dass er selbst zwar nicht Bullshit, wohl aber dem Bullshit entfernt verwandt ist. Die eigentliche und nicht mehr nur banale Schwäche von Frankfurts Essay, der von ein wenig zu plausiblen Affekten vorangetrieben wird, besteht darin, dass er sich von Über-Evidenzen blenden lässt. Und also nicht mehr sieht, dass es heute auf dem intellektuellen, theoretischen, humanwissenschaftlichen und philosophischen Feld nicht nur des Schlechten und Schmutzigen zuviel gibt. Es gibt auch zuviel des Guten. Und eben dies ist das Problem: es gibt eine Überproduktion von handwerklich sicheren, argumentativ stringenten, definitorisch klaren, gebildeten und aufrichtigen Texten. Bullshit zu vermeiden, ist seit dem überwältigenden Siegeszug der analytischen Philosophie der erste und (auch in handfester Karriere-Hin-

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sicht) der den größten Erfolg versprechende Impuls heutiger Theorie- und Thesen-Produktion. Das lernt jedes Erstsemester im Philosophiestudium und auch in anderen humanwissenschaftlichen Disziplinen: so raunend und pseudotiefsinnig wie Heraklit, Parmenides, Nikolaus von Kues, Pascal, Hegel, Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger, Lacan, Adorno und Sloterdijk darfst du nicht schreiben. Wenn du’s doch tust, musst du mit schweren Sanktionen und dem Einwand rechnen, Bullshit zu produzieren. Auch deshalb, also aufgrund des analytischen Reinheitsgebots, gibt es kaum mehr die ganz großen Werke. Wohl aber viele, übermäßig viele einigermaßen gute. Harry G. Frankfurt bleibt in der banalsten Krisen-Rhetorik befangen: es gibt zu viel Bullshit, zuviel Mist, zuviel Schlechtes und zu wenig Gutes. Harmloser kam Kultur- bzw. Wissenschaftskritik lange nicht mehr daher. Sehen wir die Dinge anders, als Frankfurt sie beschreibt, also (Ironie, Ironie!) so, wie sie eigentlich sind: es gibt ein Übermaß an guten und sehr guten (philosophischen, historischen, soziologischen, kunsthistorischen, medienanalytischen etc.) Texten, aber z.B. und u.a. auch Filmen. Das Leben aber bleibt trotz gesteigerter Lebenserwartung allzu kurz, um all das Gute oder auch nur das Vorzügliche zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn ich’s zur Kenntnis nehme, kann ich mit kaum jemandem darüber reden, weil der nächste anderes zur Kenntnis genommen hat, was nicht weniger Aufmerksamkeit verdient. „Reduktion von Überkomplexität“, „neue Unübersichtlichkeit“ und „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ sind aus guten Gründen zu Formeln avanciert, mit deren Hilfe sich die gegenwärtige Diskussionslage klarer ausleuchten lässt als mit Frankfurts Essay. Seien wir großzügig: Auch Frankfurts Essay ist nicht schlecht. Aber es gibt doch deutlich bessere Texte. Freuds Prosa voran. Sie lässt Fragen wie die immerhin zu, ob eine starke Reinheitsfixierung nicht auch eine Deckfigur einer analen bzw. banalen Fixierung sein könne. Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse hat Freud den Fall einer „Hausfrauenpsychose“ (er setzt den Begriff in Anführungszeichen) geschildert: Ohne Verständnis für die regeren Interessen ihrer Kinder, war sie den ganzen Tag mit Reinmachen und Reinhalten der Wohnung, Möbel und Gerätschaften in einem Maße beschäftigt, welches Gebrauch und Genuss derselben fast unmöglich machte. Man kann nicht umhin, diesen Zustand, von dem sich Andeutungen häufig genug bei normalen Hausfreunden finden, den Formen von Wasch- und anderem Reinlichkeitszwang an die Seite zu stellen; doch fehlt es bei solchen Frauen, wie auch bei der Mutter unserer Patientin, völlig an der Krankheitserkenntnis und somit an einem wesentlichen Merkmal der „Zwangsneurose“. (Freud 1971, S. 98 f.)

Mangelnden Mut und mangelnde Aufrichtigkeit wird dem Verfasser solcher Sätze und mangelnde Klarheit wird seinen Texten selbst ein geharnischter Kritiker der Psychoanalyse nicht vorwerfen. Nicht umsonst ist Freud mit dem Goethe-Preis ausgezeichnet worden, und mit besten Gründen ist der Preis für hervorragende Wissenschaftsprosa, den die Darmstädter

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Akademie für Sprache und Literatur vergibt, nach Sigmund Freud benannt. Was Psychoanalyse-Kritiker und -Verächter unter den Apologeten reiner Wissenschaft irritiert, empört und mitunter zur Weißglut bringt, ist offenbar, dass der psychoanalytische Diskurs reine Aussageverhältnisse, also das Vertrauen in verlässliche Entsprechungsverhältnisse zwischen Zeichen und Bezeichnetem systematisch dekonstruiert. Und eben dies liiert sie, ich bin versucht zu sagen: inzestuös eng, mit dem Medium der schönen Literatur. Man kann das leicht an drei zentralen bzw. bei aller Klarheit exzentrischen Freud-Texten illustrieren. Erstens an der 1905 entstandenen Abhandlung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Zu Freuds Lieblingswitzen – er charakterisiert ihn als „kostbare Geschichte“ – gehört dieser: Zwei Juden treffen sich im Eisenbahnwagen einer galizischen Station. „Wohin fahrst du?“ fragt der eine. „Nach Krakau“, ist die Antwort. „Sieh her, was du für Lügner bist“, braust der andere auf. „Wenn du sagst, du fahrst nach Krakau, willst du doch, daß ich glauben soll, du fahrst nach Lemberg. Nun weiß ich aber, daß du wirklich fahrst nach Krakau. Also warum lügst du?“ (Freud 1970a, S. 109)

Das ist Wahnsinn und hat doch Methode. Das ist unrein argumentiert und führt doch oder eben deshalb zu einer reinen Einsicht. Der nämlich, dass es in Sphären, die über triviale Sachfeststellungen hinausgehen, keine reine Wahrheit und Wissenschaft geben kann. Eine Einsicht, die (zweitens) auch der knappe 1910 entstandene Text Über den Gegensinn der Urworte vermittelt, der darüber reflektiert, dass viele gerade unter den semantisch hochaufgeladenen Worten einen Gegensinn in sich bergen: Die lateinischen Worte „altus“ und „sacer“ meinen hoch und tief bzw. heilig und verflucht, das deutsche Wort „Stimme“ ist dem Wort „stumm“ verwandt, das englische „without“ leistet sich den Widersinn, ein mit mit einem ohne zu verbinden. Nicht nur die Traumarbeit zeigt also „die sonderbare Neigung ...., von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Darstellungsmittel Gegensätzliches zum Ausdrucke zu bringen.“ (Freud 1970b, S. 229) Das schreckliche Unbewusste ist so negationsimmun wie die schöne Literatur. Strukturell ähnlich argumentiert drittens Freuds 1925 erschienener ebenso kurzer wie berühmter Text Die Verneinung. Er beginnt so: Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der analytischen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlass zu einigen interessanten Beobachtungen: ‚Sie werden jetzt denken, ich will etwas Beleidigendes sagen, aber ich habe wirklich nicht diese Absicht.‘ Wir verstehen, das ist die Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles durch Projektion. Oder: „Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.“ Wir berichtigen: „Also ist es die Mutter.“ (Freud 1975, S. 373)

Wer so argumentiert wie Freud, muss mit gereizten Einsprüchen aus dem Lager reiner Wissenschaften rechnen. Womit ich bei meiner These bin: Die Psychoanalyse ist gerade auch im Feld der Wissenschaften ein anhaltender Skandal, und das nicht so sehr, weil sie Unreines zur Sprache bringt, sondern weil sie – wie die schöne Literatur! – die Sprache selbst entweder als

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unreines Medium versteht bzw. – so der Vorwurf ihrer intellektuellen Kritiker – verunreinigt. Wenn Freud mit seinen aberwitzigen Thesen zum Witz, zum Gegensinn der Urworte und zur Verneinung Recht hat, so ihr bedenkenswertes Argument, muss sich der psychoanalytische Diskurs in einem Strudel unkontrollierbarer Halt- und Referenzlosigkeiten verlieren. Dann gilt mit dem Bonmot von Karl Kraus, dass die Psychoanalyse die Krankheit ist, als deren Therapie sie sich ausgibt. Psychoanalyse ist nach der berühmten Wendung, die Freud einer Bemerkung seiner frühen Analysandin Anna O. entlehnte, eine „talking cure“. Die Psychoanalyse ist, wie Thomas Macho jüngst herausgestellt hat, die Kunst des richtigen Zu- und Hinhörens (Macho 2006) – eines Hinhörens, mit dem es eine eigentümliche Bewandtnis hat. Hört doch, wer seine gleichschwebende Aufmerksamkeit gerade noch den Versprechern, dem Murmeln, dem Mißverständlichen, dem Verstummen, dem Unge- und Untersagten widmet, das, was nicht gesagt wurde. Das Medium Sprache, dem die Psychoanalyse so sehr vertraut, dass sie schon in ihrem Grundsetting von liegendem Analysand auf dem Sofa und hinter ihm sitzenden Analytiker im Sessel jeden direkten Blickkontakt untersagt, das Heil-Medium Sprache gilt der Psychoanalyse selbst als heilungs-, ja als heilbedürftig und zugleich als unheilbar. Denn es ist wenn nicht a priori, so doch spätestens seit dem Zusammensturz des babylonischen Turmes in jedem Wortsinne pathologisch erkrankt. Notabene: Auch den monotheistischen Gott der Buchreligionen kann man nicht sehen, sondern nur vernehmen. Er ist, so denn das Wort Offenbarung offenbar ein visuelles Geschehen meint, gerade eben kein offenbarer, kein evidenter, wohl aber ein sprechender und näherhin ein interpretationsbedürftig sprechender Gott. Die Psychoanalyse begibt sich genau in dem Maße, in dem sie sich dem pathologischen Medium Sprache verschreibt, in eine riskante Nähe zu den Hell- und Überwachen, die hören und erhören, was andere überhören – und sei es das Schweigen. Wer die Vögelein im Walde schweigen hört und die Ruhe vernimmt, die über allen Gipfeln ist und doch verkündet, dass auch der die Ruhe Hörende bald ruhen wird, wer da sterbend singt „Höre ich nur diese Weise, die so wundervoll und leise, auf sich schwinget, in mich dringet“, wer beunruhigt ist, weil er vernimmt, was andere nicht vernehmen – „Hören Sie denn nichts [...], hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt“ – wer all dies und vieles mehr hört, vernimmt, erhört, wird Probleme mit denen bekommen, die rein gar nichts davon wissen und vernehmen wollen. Kritisch und scharfsinnig illustriert hat die Aporien, auf die sich eine in jedem Wortsinne sprachkritische Psychoanalyse einlässt, der Campus-Roman von Dietrich Schwanitz. Man sollte ihn trotz oder wegen all seiner mitunter schwer erträglichen kolportagehaften und affektgeladenen Momente ernstnehmen. In diesem Roman der unreinen

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Universitätsvernunft findet sich eine Passage, in der ein öffentlich tagender akademischer Untersuchungsausschuss über mögliche schmutzige Verfehlungen von Prof. Hackmann zu befinden hat. Eine Psychoanalytikerin, die auf den schönen Namen Erdmann hört, hat die von Hackmann, so lautet der Vorwurf, vergewaltigte Studentin Babs analysiert und will nun öffentlich ihr Gutachten vortragen. Signifikant diskreditiert hat sie sich dabei, so der Roman, schon deshalb, weil sie auf eine entscheidende Frage mit „nein“ antworten musste: „Sind Sie mit den Forschungen der sprachanalytischen Philosophie vertraut?“ / „Nein.“ / „Das dachte ich mir. Sie haben nämlich gerade erklärt, was der Begriff ‚Traumatisierung‘ bedeutet, aber nicht, ob Ihre Patientin traumatisiert ist.“ Man hörte leichtes Gelächter im Saal. (Schwanitz 1995, S. 348)

Die ihrem Namen zum Trotz schlecht geerdete Psychoanalytikerin setzt dennoch einigermaßen unbeirrt ihren Diskurs fort: Frau Dr. Erdmann lehnte sich nach vorne auf den Tisch und legte die Fingerspitzen zusammen. „In dieser Erklärung sagt die Patientin plötzlich, nicht Professor Hackmann habe sie vergewaltigt, sondern sie ihn. Gleichzeitig lobt sie ihn als großzügig und klug. Das ist eine typische Inversion, die wir bei vielen Traumatisierungen beobachten. Sie dreht also die Verhältnisse um: Sehen Sie, ihr Vater ist früh gestorben. Und die Beziehung zu diesem verlorenen Vater hat sie auf Professor Hackmann übertragen. Nun erlebt ein kleines Kind den Verlust einer geliebten Person oft als Verrat, als eine Art bösartigen Verlassens. Sogar als Strafe für böses Verhalten, wenn etwa ödipale Wünsche und Schuldgefühle mit im Spiel sind. Als nun der Mann, den sie unbewußt an die Stelle ihres Vaters gesetzt hat, sich als Vergewaltiger entpuppt, erlebt sie den Verlust ihres Vaters noch mal in Form einer schrecklichen Bestrafung. Das hält ihre Psyche nicht aus. Sie will es nicht wahrhaben, und durch Identifikation mit dem Aggressor entlastet sie ihn. Nicht er – sie selbst hat die Vergewaltigung begangen. Den Gedanken kann sie besser ertragen als diesen schrecklichen Verlust. Nun hat sie ihren guten Vater wieder. Die Psyche leugnet den Verlust, den sie nicht ertragen kann. Nach der Abfassung der Erklärung hat bei der Patientin eine deutliche Entspannung eingesetzt. Sie hat ohne Medikamente lange geschlafen. Aber die Erklärung selbst ist wahnhaft.“ (ebd., S. 349)

Folgt nach einigem Hin und Her die Zwischenfrage von Herrn Nesselhauf: „Ja, aber Frau Dr. ...“ Der Name war ihm entfallen. ‚Wenn ich mir vorstelle, es wäre genauso gewesen, wie Ihre Patientin es in ihrer Erklärung behauptet, wie hätte sie das dann ausdrücken müssen?“ / Frau Dr. Erdmann blickte verwirrt. / „Können Sie Ihre Frage noch einmal wiederholen?“

Nein, Herr Prof. Nesselhauf darf seine scharfsinnige Frage nicht wiederholen, dafür sorgt schon der Ausschuss-Vorsitzende. Denn die Universität ist, so die bekannte und ja in allzu vielen Hinsichten leicht nachvollziehbare Diagnose des Romans, die Universität ist, da nicht länger Alma mater, sondern Tummelplatz von Frauenbeauftragten und dümmlichen Emanzipationsgewinnlern, ein Ort schmutziger Intrigen, unlauterer Absichten und unreiner Machenschaften geworden. Was ersichtlich eine vulgärfreudianische Deutung ist.

Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen?

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Der Roman von Schwanitz verwickelt sich in diese milde Paradoxie und blendet damit die abgründige Einsicht schnell wieder aus, die er in der zitierten Passage mehr als nur streift und der sich Freud und diejenigen seiner Leser, die keine Angst vor dekonstruktiven Gedanken haben, gestellt haben. Und diese Einsicht lautet: Ja, es ist tatsächlich so, dass die psychoanalytische Dekonstruktion vermeintlich verlässlichen Sprechens die Sache der Sprache trifft. Der Satz, dass es um die Referentialität von Sätzen und Texten heikel bestellt ist, hat seinerseits Referenz. Es ist jenseits trivialer Feststellungen unendlich schwer, schlicht, unmissverständlich und direkt zu sagen, was der Fall ist, etwas bzw. es so zu sagen, wie es ist. So ist es. Wo Es war, soll Ich werden. Wie schwer es ist, zu sagen, was der und was im Fall ist, stellt kein geringerer Text als der heraus, den Freud, ohne dabei sehr originell zu sein, über alles schätzte: Goethes Faust. Freuds Lieblingszitat aus dem Faust trifft nun wiederum genau die sprachkritische, nämlich die systematische Sprach-Krisis-Paradoxie, die die Psychoanalyse so aufmerksam und konzentriert gewahrt wie Ödipus die Sphinx: „Das Beste, was du wissen kannst, / Darfst du den Buben doch nicht sagen.“ (Faust I, v. 1840 f.) Das aber darf und kann er sagen. Was kann man wissen, was darf, was lässt sich sagen, wenn man Gründe für die Annahme hat, die Sphäre des Wiss- und Aussagbaren erheblich erweitert zu haben? Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen? Die konventionelle, deshalb aber nicht schon falsche Antwort auf die Frage lautet bekanntlich in psychoanalytischer Fassung: Die Literatur ist näher dran an Primärprozessen, die Psychoanalyse stärkt hingegen die sekundärprozesshafte Aufarbeitung der Assoziationen, die Literatur bereitstellt. Das lässt sich mit der vorpsychoanalytischen Fassung des Problems nicht ganz korrelieren. Literatur verfügt demnach über ihre spezifischen Reize ja gerade deswegen, weil sie Primärprozesse, die semantisch unterstrukturiert und schon deshalb wissensfern, wenn nicht unbewusst sind, formal überdeterminiert. Die Sekundärprozesse, ohne deren Intervention ins Primärprozessmaterial die Literatur keine schöne und stimmige Literatur wäre, eröffnen nicht etwa, sie verschließen vielmehr das in ihr an- und niedergelegte Wissen. „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.“ Und dieses beste Wissen ist (um es denn doch zu sagen), dass sich das Wissen nicht wissen, das Wollen nicht wollen, das Bewusstsein nicht bewusst machen, die Gründe für Gründe und die Bedeutung von Bedeutung nicht letztoffenbaren lassen – mit einem Wort: dass es reine Vernunft nicht gibt. Vernunft und Bewusstsein sind a priori durch und durch unrein – aber das kann man, wenn man denn Freud liest, wissen, das kann man, wenn man diese Lektüre verweigert, systematisch als Wiederkehr des Verdrängten erfahren. Die Einsicht (und es sind solche Metaperspektiven, die Einsichten von Wissensbeständen trennen) – die Einsicht in unreine Gemengelagen von

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Primär- und Sekundärprozess hat am eindringlichsten wohl ein Schriftsteller ausgesprochen, der einbekannte, Freuds Schriften sehr viel zu verdanken. In seinem Joseph-Roman findet sich eine aufschlussreiche, theorienah formulierte Szene, in der die analytisch wie mantisch hochbegabte Titelfigur von den Mitgefangenen nach dem Geheimnis seiner erfolgreichen Traumdeutung befragt wird: „Du bist ein freundlicher Jüngling und hast auch eine Art, mit deinen hübschen, ja schönen Augen schleierig in eine Weite zu blicken, da du von Träumen sprichst, daß wir beinahe Vertrauen fassen könnten in deine Fähigkeit, uns auszuhelfen. Bei alledem aber ist es doch zweierlei, zu träumen und Träume zu deuten!“ / „Sagt das nicht“, erwiderte er. „Sagt es nicht ohne weiteres! Mit der Träumerei möchte es wohl ein Rundes und Ganzes sein, worin Traum und Deutung zusammengehören und der Träumer und Deuter nur scheinbar zweie und unvertauschbar, in Wirklichkeit aber vertauschbar und geradezu ein und derselbe sind, denn sie machen zusammen ein Ganzes aus. Wer da träumt, der deutet auch, und wer da deuten will, der muß geträumt haben. Ihr habt unter sehr üppigen Umständen überflüssiger Geschäftsteilung gelebt, Herr Fürst des Brotes und Exzellenz Erzschenk, so daß ihr träumtet und die Deutung eurer Hauspropheten Sache sein ließet. Im Grunde aber und von Natur ist jedermann seines Traumes Deuter, und nur aus Eleganz läßt er sich mit der Deutung bedienen. Ich will euch das Geheimnis der Träumerei verraten: die Deutung ist früher als der Traum, und wir träumen schon aus der Deutung.“ (Mann 1983, S. 83)

Ein knapper Hinweis zum Schluss. Wir feiern in diesem Jahr nicht nur den 150. Geburtstag von Sigmund Freud, sondern auch den 100. von Kurt Gödel. Ihm verdankt (ist „Dank“ das rechte Wort, um die Reaktion reiner Wissenschaftler auf Gödels Theorem zu charakterisieren?), ihm verdankt ausgerechnet der härteste Kern der Wissenschaften, die Logik, eine tiefe Kränkung. Denn Gödel konnte beweisen, dass es nicht nur für die Zahlentheorie, sondern für jedes widerspruchsfreie logische System prinzipiell unentscheidbare Aussagen gibt. Aber genau diese These von der Unbeweisbarkeit und Unentscheidbarkeit lässt sich entscheiden und beweisen. Freuds in jedem Sinne sprachkritische Psychoanalyse hat die Humanwissenschaften gödelisiert, bevor sein jüngerer Wiener Mitbürger Gödel die Logik gödelisierte. Das Medium der Literatur verfügt immer schon über diese Unvollständigkeits- und Unreinheits-Einsicht. Aber es weiß genau das nicht. Deshalb braucht Literatur ein Widerlager in der Sphäre des Wissens. Die Psychoanalyse ist eines dieser Widerlager; eine auf- und abgeklärte Literaturwissenschaft, die wüsste, was es mit der literarischen Leitcodierung eigentlich auf sich hat, könnte das zweite Wissens-Widerlager zu den abgründigen Einsichten sein, die schöne Literatur bereithält.

Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen?

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Literatur Benjamin, Walter (1972): Einbahnstraße. In: Gesammelte Schriften Bd. IV/1. Hg. v. Tillmann Rexroth. Frankfurt/M. Curtius, Ernst-Robert (1969): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 7. Aufl. Bern, München. Freud Sigmund (1970a): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: Ders.: Studienausgabe Bd. IV. Frankfurt/M., S. 9-219. Freud Sigmund (1970b): Über den Gegensinn der Urworte. In: Ders.: Studienausgabe Bd. IV. Frankfurt/M., S. 227-234. Freud, Sigmund (1971): Bruchstück einer Hysterie-Analyse. In: Ders.: Studienausgabe Bd. VI. Frankfurt/M., S. 83-186.+ Freud, Sigmund (1975): Die Verneinung. In: Ders.: Studienausgabe Bd. III. Frankfurt/M., S. 371-377. Gernhardt, Robert (1995): Sigmund Freud. In: Robert Gernhardt, F.W. Bernstein und Friedrich Karl Waechter: Die Drei. Frankfurt/M., S. 462-463. Gernhardt, Robert (2005): Gesammelte Gedichte 1954-2004. Frankfurt/M. Hamburger, Käthe (1980): Die Logik der Dichtung. Frankfurt/M., Berlin und Wien. Hörisch, Jochen (2007): Das Wissen der Literatur. München. Ingarden, Roman (1972): Das literarische Kunstwerk. Tübingen. Macho, Thomas (2006): Der Mann im Ohr – Freuds Zukunft: Die Psychoanalyse wird als Kunst des richtigen Zuhörens überleben. In: SZ vom 6./7. Mai, S. 17. Mann, Thomas (1983): Joseph und seine Brüder – Joseph, der Ernährer. Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. Schlaffer, Heinz (1990): Poesie und Wissen. – Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. Schwanitz, Dietrich (1995): Der Campus – Roman. Frankfurt/M.

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Wie Freud interpretiert Hermeneutische Prinzipien in Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘ In diesem Beitrag versuche ich die expliziten und impliziten Prinzipien von Freuds „Deutung“ literarischer Werke am Beispiel seiner 1907 erschienenen Abhandlung Der Wahn und die Träume von W. Jensens ‚Gradiva‘ herauszuarbeiten. In dieser Abhandlung werden, wie Freud im Nachtrag zur zweiten Auflage von 1912 relativierend schreibt, die „Schöpfungen der Dichter“ von der psychoanalytischen Forschung als „Bestätigungen ihrer Funde am unpoetischen, neurotischen Menschen“ herangezogen. Die Forschung seither verlange auch zu wissen, „aus welchem Material an Eindrücken und Erinnerungen der Dichter das Werk gestaltet hat und auf welchen Wegen, durch welche Prozesse dies Material in die Dichtung überführt wurde.“ (Freud 1986, S. 162) Inzwischen hatte Freud seine Studie Der Dichter und das Phantasieren (1908) veröffentlicht. Die Deutung der Novelle Jensens sucht nicht nur eine „Bestätigung“ für die psychoanalytische Theorie, sondern in den Dichtern auch „Vorläufer“ (ebd., S. 121) und wertvolle „Bundesgenossen“ (ebd., S. 90) für die Durchsetzung und Anerkennung seiner Wissenschaft. Der essaynahe Stil der Untersuchung (keine explizite Auseinandersetzung mit der Forschung, Formulierungen wie „Unseren Helden hatten wir verlassen […].“ – „Welche Beschämung für uns, die Leser!“ – „Nun aber ist es Zeit, uns zu fragen […].“) lässt erkennen, dass er diese Abhandlung als ein Werben für und als eine Einführung in seine Wissenschaft beim nichtwissenschaftlichen Publikum verfasste. Als solche Bestätigungen hatte Freud schon in Die Traumdeutung von 1900 (erschienen 1899) König Ödipus und Hamlet angeführt. König Ödipus ist in der Handlung „der Psychoanalyse vergleichbar“ und unterstützt die Erkenntnis, dass „verliebte und feindselige Wünsche“ gegen die Eltern in der Seele der meisten Kinder eine Rolle spielen. Anders wäre die „durchgreifende und allgemeingültige Wirksamkeit“ (Freud 1969, Bd. II, S. 265 f.) des Dramas nicht zu erklären. Auch Hamlet stellt das „Verhältnis des Sohnes zu den Eltern“ dar, diesmal aber 

Zur Bedeutung des Begriffs der Deutung bei Freud vgl. Laplanche/Pontalis 1973, Art. Deutung.

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bleibt die „Wunschphantasie“ des Kindes verdrängt. Hamlet kann die Rache an dem Mann, „der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche zeigt“, aus „Gewissensskrupel“ nicht vollziehen. Freud sieht darin einen Beleg für das „säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit.“ „Ich habe dabei ins Bewusste übersetzt“, schreibt Freud, „was in der Seele des Helden unbewußt bleiben muß“. Es ist für ihn ausgemacht, dass es sich dabei „natürlich“ nur um das „eigene Seelenleben des Dichters“ handeln kann. Der Shakespeare-Biographie von Georg Brandes (1896) hat er die Notiz entnommen, dass das Drama unmittelbar nach dem Tod von Shakespeares Vater, „in der Wiederbelebung“, geschrieben worden sei (vgl. Freud 1969, Bd. II, S. 269 f.). Erwähnt werden in der Traumdeutung noch Werke von Goethe, Kleist, Keller, Grillparzer, Rosegger, Ibsen und Spitteler. Bezugnahmen auf Dichter und ihre Werke finden sich auch in den folgenden Abhandlungen Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) und Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). Mit Wilhelm Jensens Novelle Gradiva. Ein pompejianisches Phantasiestück, erschienen 1903, hatte Freud – offenbar von C.G. Jung angestoßen (vgl. Freud 1986, S. 89) – einen Text gewählt, den er in seiner Abhandlung selbst als eine „psychiatrische Studie“ (ebd., S. 119), ja sogar als eine „völlig korrekte psychiatrische Studie“ (ebd., S. 120) qualifiziert. Die studienhafte, psychiatrische Anlage der Novelle ist Teil einer epochalen literarischen Tendenz, man denke nur an Hauptmanns Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie aus dem märkischen Kiefernforst (1888), Hermann Bahrs Roman Die gute Schule. Seelenstände (1890) und seine Programmschrift Die Überwindung des Naturalismus (1891), an Hofmannsthals Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht (1895) und Reitergeschichte (1898) (vgl. Worbs 1983; Thomé 1993). Der Untertitel Phantasiestück spielt auf die Tradition des romantischen, die Grenzen des Alltäglichen überschreitenden Phantasiestücks an (vgl. z.B. E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callots Manier). Auch in der Wahl der archäologischen Szenerie teilt Jensen eine zeitgenössische literarische Mode. Archäologische Darstellungen, Romane und Erzählungen mit antiken und archäologischen Szenerien (z.B. Ernst Eckstein, Die Claudier, 1881; Wilhelm Walloth, Oktavia, 1885) waren beim Publikum seit Bulwer-Lyttons Bestseller The last days of Pompeii (1834, deutsch 1834) äußerst beliebt. Freud selbst war bekanntlich von der Archäologie fasziniert und sah in der Arbeit des Archäologen, wie z.B. bei Heinrich Schliemann, dessen Selbstbiographie (1892) erschienen war, das Paradigma seiner psychoanalytischen Arbeit (vgl. Schönau 1968, S. 176 ff.). Hier schreibt er, dass es „keine bessere Analogie für die Verdrängung“ gebe, „die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist, und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte.“ (Freud 1986, S. 118)

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Die Grundlage der Analyse ist eine ausführliche Inhaltsangabe, die sukzessive in eine Analyse überführt wird. Der Inhalt kurz zusammengefasst: die Geschichte spiele auf dem Boden von Pompeji und handle von einem jungen Archäologen, der das Interesse für das Leben gegen das an den Resten der Vergangenheit hingegeben und nun auf einem merkwürdigen, aber völlig korrekten Umwege ins Leben zurückgebracht werde. (ebd., S. 92)

Etwas ausführlicher: Der junge, mit einer lebhaften Fantasie begabte Archäologe Norbert Hanold beschäftigt sich mit einem antiken Reliefbild, das ein schreitendes Mädchen darstellt. Er nennt sie Gradiva. In einem Traum sieht er sie als Pompejianerin, die mit Pompeji untergeht. Er reist nach Pompeji. Dort glaubt er Gradiva als rediviva wiederzusehen. Es stellt sich heraus, dass er Zoë Bertgang, seine Kinderliebe, für Gradiva gehalten hat. Sie löst ihn allmählich aus seinen Wahnphantasien. Mit der Aussicht auf eine Hochzeitsreise endet die Novelle. Der Wahn des Helden besteht darin, dass er glaubt, ein Steinbild habe sich ins Leben zurückverwandelt. Die Heilung besteht darin, dass Hanold in der jungen Frau nicht mehr die lebendig gewordene Kunstgestalt, sondern die leibhaftige Zoë Bertgang wahrnimmt. In Freuds Deutung wird Jensens Novelle als eine Art Allegorie der psychoanalytischen Therapie behandelt (Wright 1985, S. 3). Zoë – ihr griechischer Name bedeutet Leben (vgl. Freud 1986, S. 127) – heilt den Wahn des Helden. Wo Hanold nur eine Bedeutung sieht, sieht sie immer mehrere. Als gute Analytikerin übernimmt sie die Gradiva-Rolle und lässt sich auf seine Geschichte ein. Sie handelt für die Macht des Eros. Ohne sie ist Norbert einem Kunstwerk, d.h. dem „Vergangenen und Leblosen“ (ebd., S. 103) verfallen. Anders als im PygmalionMythos, in dessen Aneignung das Kunstwerk oft als Teil einer Wahnfantasie figuriert (z.B. in Eichendorffs Das Marmorbild, in Heines Buch der Lieder und Elementargeister, in Mérimées La Vénus d`Ille; vgl. Seeba 1976), führt hier von der Kunst kein Weg ins Leben. Die Heilung lässt sie hinter sich. Freuds erste psychoanalytische Deutung eines literarischen Werkes datiert von 1898. Mit einem Brief sandte er an den Freund Fließ eine zweiseitige Analyse der Novelle Die Richterin von C.F. Meyer (Freud 1962, S. 220, vgl. Gay 1992, S. 127 ff.). Hier formuliert Freud ziemlich apodiktisch, nicht so vorsichtig wie in den späteren Untersuchungen. „Kein Zweifel“, heißt es, „daß es sich um die poetische Abwehr der Erinnerung an ein Verhältnis mit der Schwester handelt.“ Meyers Novelle ist eine melodramatische Erzählung von Betrug, Mord, Liebe und gerächter Unschuld aus der Zeit Karls des Großen. Ein Bruder und eine Schwester begegnen sich erst, als sie bereits erwachsen sind. Ihre Liebe entwickelt sich zu einem inzestuösen Verlangen. Am Ende wird alles gut: Die beiden sind keine Geschwister. Ihrer Vereinigung steht nichts mehr im Wege. Diese Erzählung deutet Freud als eine allegorische Darstellung des psychischen Dramas des männlichen Kindes: Fantasien von einer Bestra-

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fung der Mutter, einer Rebellion gegen den Vater, Erinnerungen an sexuelle Kinderspiele. Die Novelle ist für ihn „in jedem einzelnen Zug identisch mit einem der Rache- und Entlastungsromane“, die seine männlichen Patienten ausspinnen, um sich zu erhöhen, die Eltern herabzusetzen oder zu erhöhen, Geschwister zu beherrschen, die Inzestschranken zu umgehen. Solche Fantasien nennt Freud „Familienromane“, die alle „Neurotiker“ bilden. Den Begriff des Familienromans hat Freud zum ersten Mal in einem Brief an Fließ 1897 erwähnt (Freud 1962, S. 178). Dem Familienroman der Neurotiker wird Freud eine spezielle Abhandlung 1909 widmen. Dieser Roman wird als eine erfundene, fabulierte, melodramatische Geschichte verstanden, als ein „Wunschtraum“ (ebd., S. 169), der von der Energie des Familiendramas hervorgetrieben wird. Im Ausgang von diesem Begriff des Familienromans hat Marthe Robert eine Theorie des Erzählens entwickelt. Am Ursprung des Erzählens stehen die Träume des Kindes von Liebe und Macht, die Sehnsucht nach dem verlorenen familiären Glück, die Robert als Versuch deutet, den „scandale“ der Geburt zu annullieren (Robert 1972; Robert 1967, S. 83 ff.). Die Technik der Allegorese war Freud aus seiner philologischen Bildung und seiner Beschäftigung mit der Tradition der Traumdeutung vertraut. Die Novelle Meyers wird verstanden als Familienroman, dessen Prätext, das eigentliche familiale Drama, aus seinem Text rekonstruiert wird. Ganz wie in der Tradition der Allegorese werden Elemente des Novellentextes auf Elemente des Prätextes bezogen mit den Formeln „dies ist“ oder „dies bedeutet“, z.B. „die Richterin, die ja die Mutter ist [...]“, „die Angst vor dem Schlag [...] bedeutet Kinderschläge“. Die Rekonstruktion verfährt dabei nach der Unterstellung einer Ähnlichkeit oder Analogie, z.B. „Der Herr Lehrer spielt mit der Person des Alcuin hinein. Der Vater wirkt als Kaiser Karl in seiner dem Kindertreiben fernen Größe“; die „Erbitterung gegen die Mutter macht sie in der Novelle zur Stiefmutter“; die „Rauferei, die in der Kinderliebe nie fehlt, ist auch in der Novelle durch das an die Felsen Schleudern der Schwester dargestellt.“ So wird der Novellentext „in jedem einzelnen Zug“ als „identisch“ mit einem der „Rache- und Entlastungsromane, den meine Hysteriker gegen ihre Mutter dichten“, gedeutet. Bis hierhin orientiert sich Freud an einer Hermeneutik des Textes. Er eröffnet nun noch einen anderen hermeneutischen Weg, insofern er die Deutung auf den Autor Meyer ausweitet. Dabei erklärt er auch, warum der Prätext nicht als Klartext vorliegt, sondern in den Familienroman der Novelle verändert wurde. Als Motiv der Veränderung wird die „Abwehr einer Erinnerung“ bei Meyer geltend gemacht. Freud schätzte Meyer sehr, er kannte offenbar auch dessen depressive, suizidale Neigung, dessen Bindung an Mutter und Schwester. Die kleine Analyse hält beide Optionen offen: eine Analyse des Textes und seiner dynamischen Struktur, die ohne

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Rekurs auf den Autor auskommt, und eine Analyse des Textes als Ausdruck der psychischen Dramen des Autors. Die biographische Methode, wie der Begriff bald heißen wird, war um 1900 en vogue. Betrachtet man hier, in der Traumdeutung und in Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘ das Vorgehen Freuds, dann wird ein methodisches Muster deutlich: Die Elemente des Traumes und des Textes werden dadurch gedeutet, dass ihr Ort in einem Lebenszusammenhang, der sich aus der Energie einer besonderen frühkindlichen Situation entwickelt hat, bestimmt wird. Daher auch die ausführliche Inhaltsangabe von Jensens Novelle. Dabei wird unterstellt, dass der Text nicht der Klartext, sondern eine – erzwungene – Veränderung des Prätextes ist, die sich bestimmter Verfahren bedient. Solche Verfahren, die in der Traumdeutung genauer erläutert werden, sind die Darstellung eines Sachverhaltes durch die Verschiebung auf einen ähnlichen oder analogen, die Darstellung eines Sachverhaltes durch sein Gegenteil, die Verdichtung von Bedeutungen in einem Ausdruck, die Symbolisierung. In der Deutung wird der Text nach diesen Verfahren in den Prätext zurückübersetzt. Es ist hinlänglich untersucht worden, dass Freud nicht nur den Begriff des Romans, sondern auch den des Dramas, der Inszenierung, des Helden aus der Literaturtheorie als Deutungskonzepte übernommen hat. Seit den mit Breuer verfassten Studien über Hysterie (1895) fungiert der Begriff des Textes oder der Schrift, genauer des semantisch „mehrfach determiniert [en], überbestimmt [en]“ (Freud 1940, GW Bd. I, S. 294) Textes, also, traditionell formuliert, des literarischen Textes, als ein zentrales Konzept für die Deutung psychischer Prozesse. In der Traumdeutung werden die Struktur und das Verhältnis von manifestem Trauminhalt und latenten Traumgedanken mit Hilfe der Deutungskonzepte Text, Schrift, Bilderschrift, Schriftsystem analysiert. Die Deutung des Traums ist eine „Entzifferung“, der manifeste Trauminhalt stellt eine „Übersetzung“ der latenten Traumgedanken dar. Die Transformationsmittel der Traumarbeit, die Verdichtungen, Aufspaltungen, Verschiebungen, Übertragungen, Symbolisierungen, Dramatisierungen, die sekundäre Bearbeitung lassen sich unschwer auf tropische bzw. literarische Modelle zurückführen. Der Verdichtung, Übertragung und Symbolisierung liegen Modelle der Überdeterminierung und der Metapher zugrunde, der Verschiebung das Modell der Metonymie. Die sekundäre Bearbeitung zielt z.B. auf eine dem Verdrängungswiderstand konforme Gestaltung (vgl. Todorov 1977, S. 285 ff.). Die Studie Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘ ist ein Musterbeispiel für die methodische Umsicht und Vorsicht, mit der Freud zu Werke geht. Bezeichnend die ständigen Formulierungen wie „Wahrschein

Freud redet hier von Symptomen. Im Kontext wird deutlich, dass er die Struktur des Symptoms als einen Text auffasst (vgl. Haselstein 1991, S. 9).

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lich“, „wohl“, „scheint“, „vielleicht“, „Ich möchte nun zeigen“. Da die Geschichte des Wahns und seiner Heilung mit der Handlung der Novelle zusammenfällt, ist der Skopus der Deutung die ganze Novelle. Die Deutung rekonstruiert die oder übersetzt in die, traditionell formuliert, „eigentliche“ (Ranke) Bedeutung des Textes. Die einzelnen „Methoden“ (Freud 1986, S. 118) der Interpretation werden von hermeneutischen Prinzipien gesteuert. Soweit ich jetzt zu sehen vermag, orientiert sich Freud bei dieser Deutung an sieben zusammenhängenden hermeneutischen Prinzipien: 1. Der Text ist Produkt eines unbewusst dichtenden „Dichters“. 2. Die Bedeutung des Textes übersteigt die Intention des realen Autors. 3. Die Analyse zielt auf den Text, nicht auf den Autor. 4. Der Text ist kohärent deutbar. 5. Die Reden und Handlungen der Figuren sind ein Ausdruck gegenstrebiger Triebe und daher mehrdeutig. 6. Der Text drückt alles aus. 7. Der Text deutet sich selbst.

1. Der Text ist Produkt eines unbewusst produzierenden „Dichters“ Als Skopus fungiert in der Deutung nicht die Psyche des Autors Wilhelm Jensen, sondern die psychischen Konflikte der Hauptfigur Norbert Hanold. Der Name des realen Autors Jensen fällt nur dreimal ganz beiläufig. Er spielt methodisch keine Rolle. Als Autor des Textes fungiert eine anonyme Figur: „der Dichter“ oder „unser Dichter“. Die Formulierung impliziert eine fundamentale hermeneutische Entscheidung: Dieser „Dichter“ ist nicht identisch mit dem realen Autor Jensen. Dieser „Dichter“ ist vielmehr eine Rekonstruktion eines Autorursprungs aus dem Text. Aus dem Text wird sein „Dichter“ erzeugt. Der, wie Freud formuliert, „künstliche Einheitsbegriff“ „der Dichter“ geht auf die romantische Hermeneutik zurück, in der Formulierungen wie „der Dichter“, „der Verfasser“, „der Künstler“ oder „der Genius“ oder „der Geist“ des Schriftstellers und eben nicht Goethe oder Schiller nicht einen empirischen Autor bezeichnen, sondern die Rekonstruktion eines ‚künstlichen‘ Autors aus dem Text (vgl. Kurz 2004, S. 48). Die Formulierung „der Dichter“ bezeichnet hier eine Position in der Systematik der Interpretation, die wissen will, so Friedrich Schlegel, „wie das Ganze konstruiert ist.“ (Schlegel 1958, Bd. 2, S. 131) Ein frappantes Beispiel für diese hermeneutische Strategie liegt in Fried

Zur Interpretation Freuds vgl. z.B. Bernfeld 1932; Robert,1967, S. 221 ff.; Ricoeur 1974; Starobinski 1975, S. 224-240; Wolff 1975, S 414-452; Bartels 1979; Argelander 1981; Birus 1985; Stephan 1989; Schönau 1991; Kofman 1993; Altenhofer 1993; Kettner 1998; Raguse 1998; v. Matt 2001; de Berg 2005, S. 83 ff.

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rich Schlegels Rezension Über Goethes Meister von 1798 vor. Der Name des realen Autors Goethe kommt nur im Titel vor. Dann wird nur noch vom „Künstler“ oder vom „Dichter“ oder vom „Dichtergeist“ geredet. Aus der „Organisation“ des Werks schließt Schlegel eine zwingende Absicht des „Dichters“. Die Formulierung „der Dichter“ hält allerdings auch fest, dass sich der Text, auch wenn er sich vom empirischen Autor löst, sich nicht von einer intentio auctoris, einem Sagen-Wollen löst. Freud fragt z.B., „was der Dichter mit diesem Traum gewollt“ (Freud 1986, S. 131) habe. Zu Anfang unterscheidet Freud zwei Wege der Untersuchung. Der ers­ te wäre „die Vertiefung in einen Spezialfall, in die Traumschöpfungen eines Dichters in einem seiner Werke“. Der zweite Weg bestünde im Zusammentragen und Gegeneinanderhalten all der Beispiele, die sich in den Werken verschiedener Dichter von der Verwendung der Träume finden lassen. Der zweite Weg scheint der bei weitem trefflichere zu sein, vielleicht der einzig berechtigte, denn er befreit uns sofort von den Schädigungen, die mit der Aufnahme des künstlichen Einheitsbegriffs „der Dichter“ verbunden sind. Diese Einheit zerfällt bei der Untersuchung in die so sehr verschiedenwertigen Dichterindividuen, unter denen wir im Einzelnen die tiefsten Kenner des menschlichen Seelenlebens zu verehren gewohnt sind. Dennoch aber werden diese Blätter von einer Untersuchung der ersten Art ausgefüllt sein. (ebd. 1986, S. 92)

Gleichwohl verwendet Freud gerade auf dem ersten Weg den Begriff des Dichters als einen künstlichen Einheitsbegriff. Er zielt nämlich auf einen rekonstruierten „Dichter“. Die Wahl dieses Weges, nämlich der Ausgang von dem „Dichter“, hat vor allem einen strategischen Grund. Der Dichter und sein Werk dienen als bestätigende Gegenprobe der psychoanalytischen Deutung: Wir schöpfen wahrscheinlich aus der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben. Unser Verfahren besteht in der bewußten Beobachtung der abnormen seelischen Vorgänge bei anderen, um deren Gesetze erraten und aussprechen zu können. Der Dichter geht wohl anders vor; er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele, lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten derselben und gestattet ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit bewußter Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich, was wir bei anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Unbewußten folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der Duldung seiner Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert enthalten. Wir entwickeln diese Gesetze durch Analyse aus seinen Dichtungen, wie wir sie aus den Fällen realer Erkrankung herausfinden, aber der Schluß scheint unabweisbar, entweder haben wir beide, der Dichter wie der Arzt, das Unbewußte in gleicher Weise mißverstanden oder wir haben es beide richtig verstanden. (ebd., S. 159 f.)

Hier läge ein Musterfall eines circulus vitiosus vor, würde „der Dichter“ nur als Rekonstruktion des psychoanalytischen Deuters verstanden. Hier

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und an anderen Stellen substantialisiert Freud jedoch insgeheim den „Dichter“ zu einem anthropologischen Typus: Dichter sind keine Alltagsmenschen, ihr Reich ist nicht von dieser Welt (vgl. ebd., S. 90 f.). Sie sind mit einer besonderen, „endopsychischen“ (ebd., S. 128, vgl. ebd., S. 160) Wahrnehmung seelischer Vorgänge begabt. Sie sind egozentrisch und introvertiert. Sie schaffen nicht bewusst, sondern unbewusst oder halbbewusst. Sie überlassen sich „naiver Schaffensfreude“, dem „Drängen der Phantasie“ (ebd., S. 162, Nachtrag zur zweiten Auflage). Sie haben das Privileg eines Wissens ohne zu wissen. Hinter diesem Dichterbild steht die ganze triviale Dichtermythologie und Genieästhetik des 19. Jahrhunderts. In ihr bewegt sich auch Jensen, wenn er auf Anfrage Freuds von einem „plötzlichen Impuls“, von einem „unbewußt“ arbeitenden Trieb, von einem „messerrückenschmalen Grat nachtwandlerischer Möglichkeit“ fabuliert. Das wollte Freud lesen. Die rationale Deutung kann so durch die irrationale, von der Psychoanalyse unbeeinflusste Dichtung bestätigt werden.

2. Die Bedeutung des Textes übersteigt die Intention des realen Autors Dieses Prinzip folgt aus der Konstruktion eines unbewusst dichtenden „Dichters“. Der Figur des „Dichters“, nicht dem realen Autor werden Intentionen (z.B.: „was der Dichter mit diesem Traum gewollt“, ebd., S. 131; „der Dichter scheint andeuten zu wollen“, ebd., S. 132; wir trauen dem Dichter zu, „daß er auch keinen einzelnen Zug müßig und absichtslos in seiner Schilderung aufträgt“, ebd., S. 140) zugeschrieben. Ohnehin steht der „Zugang zu den Quellen im Seelenleben des Dichters“ uns „nicht frei.“ (ebd., S. 120) Wenn nun der reale Autor Jensen die Deutung, es handle sich bei dieser Novelle um eine „psychiatrische Studie“ (ebd., S. 121), um eine „Kranken- und Heilungsgeschichte“ (ebd., S. 120), in Abrede stellt, wie reagiert Freud darauf ? Er rechnete mit der Ablehnung. Sie entwertet nicht die Deutung. Der Autor mag sie in gutem Glauben „verleugnen“, wie Freud bezeichnenderweise schreibt, die Deutung hat jedoch in der Dichtung nichts gefunden, „was nicht in ihr enthalten ist.“ Auf eine Anfrage hat Jensen diese Deutung tatsächlich zuerst „unwirsch“ abgelehnt (ebd.,  

Vgl. auch Freuds Analyse einer Novelle von Stefan Zweig in Dostojewski und die Vatertötung (1928; in: Freud 1969, Bd. 10, S. 284 f.); zu diesem Dichterverständnis in der Schule Freuds vgl. Rank/Sachs 1975. Einen schönen Beleg für diese Trivialmythologie des Dichters liefert eine Umfrage bei Autoren im Archiv für die gesamte Psychologie von 1928, vgl. dazu die ergötzliche Rezension von Erich Kästner mit dem Titel Diarrhoe des Gefühls in Die Kleine Freiheit (Kästner 1998, Bd. II, S. 287-290); vgl. auch Schlaffer 1966.

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S. 159), ihr dann jedoch in einem Brief an Freud „im Ganzen, allem Hauptsächlichen“ (ebd., S. 12) zugestimmt. Dieses Prinzip folgt jedoch nicht nur aus der unbewussten Produktivität des Dichters, sondern ist die hermeneutische Konsequenz daraus, dass in dem, was gesagt wird, immer mehr und anderes gesagt wird, als gesagt werden sollte. Entscheidend ist nicht die Intention des realen Autors, sondern die intentio operis, die der „Dichter“-Konstruktion zugeschrieben wird. Dieses Prinzip der Überlegenheit der Bedeutung des Textes gegenüber der Intention des Autors ist schon in der Hermeneutik der Aufklärung, entschieden dann in der romantischen Hermeneutik vertreten worden (vgl. Kurz 2004, S. 35 ff.). Den Einwand, dabei werde herausgelesen, was zuerst hineingelesen wurde, reflektiert Freud selbst (vgl. Freud 1986, S. 159 f.). Gegen diesen Einwand setzt er eine unabweisbare Konsistenz der Deutung.

3. Die Analyse zielt auf den Text, nicht auf den Autor Anders als die Analyse der Novelle Meyers im Brief an Fließ ortet die Deutung die „Voraussetzungen der Erzählung“ (ebd., S. 154) nicht im Seelenleben des Autors, sondern in der Erzählung selbst, im Seelenleben der Figuren der Erzählung. Für das Seelenleben Jensens interessiert sich Freud in den Briefen, die er an ihn richtete. In einem Vortrag übernahm er die Vermutung C.G. Jungs, Jensen müsse in seiner Kindheit an seiner Schwester gehangen haben (vgl. ebd., S. 15). Das Seelenleben dieser Figuren wird wie das „wirklicher Individuen“ (ebd., S. 119) gedeutet. Die Unterschiede: Bei der Deutung der Träume wirklicher Individuen werden die „Eindrücke, Erinnerungen und freien Einfälle“ des Träumers befragt. In der Deutung einer literarischen Figur wie Hanold muss sich der Interpret mit der „Beziehung auf seine Eindrücke“ zufrieden geben und „ganz schüchtern“ seine eigenen Einfälle „an die Stelle der seinigen“ (ebd., S. 145) setzen. Die Deutung eines „wirklich geträumten Traumes“ geht daher viel weiter und ist ausführlicher, sie muss „jedes einzelne Stück“ des manifesten Trauminhalts durch „unbewußte Gedanken“ (ebd., S. 135) ersetzen. 

Vgl. auch die Bemerkungen zur Novelle Stefan Zweigs: „Das kleine Meisterwerk will angeblich nur dartun, ein wie unverantwortliches Wesen das Weib ist, zu welchen es selbst überraschenden Überschreitungen es durch einen unerwarteten Lebenseindruck gedrängt werden kann. Allein die Novelle sagt weit mehr, stellt ohne solche entschuldigende Tendenz etwas ganz anderes, allgemein Menschliches oder vielmehr Männliches dar, wenn man sie einer analytischen Deutung unterzieht und eine solche Deutung ist so aufdringlich nahegelegt, daß man sie nicht abweisen kann. Es ist bezeichnend für die Natur des künstlerischen Schaffens, daß der mir befreundete Dichter auf Befragen versichern konnte, daß die ihm mitgeteilte Deutung seinem Wissen und seiner Absicht völlig fremd gewesen sei, obwohl in die Erzählung manche Details eingeflochten sind, die geradezu berechnet scheinen, auf die geheime Spur hinzuweisen.“ (Freud 1969, Bd. 10, S. 284)

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4. Der Text ist kohärent deutbar Dass ein literarischer Text kohärent ist, setzt Freud voraus. Er nützt die Analyse, um zu begründen, dass auch Träume und Wahnbildungen entgegen dem Anschein Intentionen und einer kohärenten Logik, „dunkel geahnten Gesetzen“ (ebd., S. 91), gehorchen. Die Deutung der Träume und Wahnhandlungen Hanolds wird in eine konsistente Interpretation der ganzen Erzählung überführt. Über die Bedeutung eines Textelements entscheidet der Kontext, virtuell der ganze Text oder entscheiden wenigstens, aus pragmatischen Gründen, dessen „Hauptzüge“ (ebd., S. 136). Um die Träume deuten zu können, wird zuerst als eine „Vorarbeit“ eine „Zergliederung der ganzen Geschichte“ und eine „Prüfung der seelischen Vorgänge bei den beiden Hauptpersonen“ (ebd., S. 118) vorgenommen. Auch bei der Deutung der Träume realer Personen gilt die Forderung, den ganzen Lebenszusammenhang, auch und gerade die entlegenste Vergangenheit, als Kontext zu setzen (vgl. ebd., S. 118 f.). Im therapeutischen Gespräch wird dieser Lebenszusammenhang auf dem Weg „freier Assoziationen“ aufgespürt. Im literarischen Text muss dafür der Kontext umso intensiver befragt werden. Daher wird unterstellt, dass im Text prinzipiell alles bedeutsam ist. Gerade ein nebensächliches Detail kann die entscheidende Spur enthalten. Der Künstler trägt „keinen einzelnen Zug müßig und absichtslos“ auf (ebd., S. 140). Aus einem „einzigen, aber höchst charakteristischen Detail“, wonach Zoë Hanold durch einen Vergleich mit einem Archäopterix beschimpft, folgert Freud, dass ihr Groll sowohl dem Vater wie dem Geliebten gilt. Der Vogel kann mit der Archäologie – Domäne des Geliebten – und der Zoologie – Domäne des Vaters – verbunden werden (vgl. ebd., S. 112 f.). Die vielen zweideutigen Reden erscheinen nicht als „Zufälligkeiten, sondern als notwendige Abfolge aus den Voraussetzungen der Erzählung.“ (ebd., S. 154) Dieses Prinzip enthält das methodische Potential, auch die Form eines Textes auf ihre Funktion zu befragen. Wie beim Traum wird unterstellt, dass der manifeste „Zusammenhang“ (ebd., S. 137) der Geschichte nur ein oberflächlicher Zusammenhang ist, der einen verborgenen, latenten enthält (vgl. ebd., S. 134 f.). Die Deutung fragt, was in dem, was gesagt wird, eigentlich gesagt wird. Allerdings ist das eigentlich Gesagte nicht einfach eine zweite Bedeutung unterhalb der Oberflächenbedeutung, sondern das, was in und mit der manifesten Bedeutung eigentlich gesagt wird, auch wenn einige Formulierungen Freuds wie auch der Begriff der Übersetzung das Modell zweier separater Sprachen suggerieren (vgl. Altenhofer 1993, S. 112 ff.). Zwei Deutungsschritte lassen sich unterscheiden: die „Übersetzung“ der manifesten in die latente Bedeutung und die „Einfügung in den Zusammenhang des seelischen Geschehens beim Helden“ (Freud 1986, S. 137). Gegen den „scheinbaren Zusammenhang im manifesten Traum“ (ebd.,

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S. 145) wird jedes Element für sich untersucht und im Hinblick auf die psychische Geschichte des Helden abzuleiten versucht. In einem zweiten Schritt werden diese Ergebnisse, verknüpft mit Analysen von Strukturzusammenhängen wie Wiederholungen, Variationen, Verbindungen (vgl. ebd., S. 156), in eine kohärente Deutung eines Wahn- und Heilungsprozesses überführt. Diese beiden Schritte könnten auch mit Begriffen der Hermeneutik Schleiermachers als divinatorische und komparative Schritte bezeichnet werden (vgl. Schleiermacher 1977, S. 169).

5. Die Reden und Handlungen der Figuren sind Ausdruck gegenstrebiger Triebe und daher mehrdeutig An den auffallend vielen doppeldeutigen Formulierungen (vgl. Freud 1986, S. 153 f.) belegt Freud, dass die Reden und Handlungen deswegen mehrdeutig, d.h. zweideutig oder doppeldeutig sind, weil sie einen „Kampf“ (ebd., S. 157) psychischer Gegentriebe darstellen, einen Kampf zwischen einer unbewussten und einer bewussten Stimme, der Stimme eines Triebwunsches und der Stimme des widerständigen Bewusstseins. Dieser Kampf erzeugt eine zweifache „Determinierung“, wie Freud naturwissenschaftlich formuliert, der Reden und Handlungen, in diesem Falle der Hauptfigur. Daher können sie wie Symptome behandelt werden, insofern Symptome aus „Kompromissen zwischen Bewußtem und Unbewußtem“ (ebd., S. 154) hervorgehen. In der Traumdeutung hatte Freud die Begriffe „Überdeterminierung“, „Kompromißbildung“ bzw. „Mischbildung“ und „Symptombildung“ eingeführt und erläutert (vgl. Freud 1969, Bd. II, S. 293 ff., 320 ff., 451 ff., 542 ff.). Wird der Text als Ausdruck der Psyche des realen Autors verstanden, dann wird auch der ganze Text als eine solche Symptombildung verstanden. Die Deutung rekonstruiert ein gegensätzliches Triebleben als Motiv der Handlungen, Träume, Fantasien und Reden. Nach dem Sprachgebrauch wird Deutung vor allem als Deutung von Motiven verstanden. Ich deute die Handlungsweise einer Person, indem ich nach ihren Motiven frage (vgl. Argelander 1981, S. 1003). Daher rührt wohl Freuds Bevorzugung des Begriffs der Deutung.

6. Der Text drückt alles aus Alles wird im Text ausgedrückt. Nichts bleibt verborgen, oder vorsichtiger: Nichts kann nicht aufgedeckt werden. Der Text ist ein Ausdruck des gesamten, bewussten und unbewussten Seelenlebens. Das, was durch den Widerstand des Bewusstseins verdrängt wird, hinterlässt unweigerlich eine „Spur“ (Freud 1986, S. 151). Daher ist der Text nicht nur deutbar, sondern

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auch deutungsbedürftig. Im Namen Gradiva, den Hanold dem Reliefbild gibt, wird eine semantische Spur des Familiennamens von Zoë Bertgang entdeckt, denn beide Namen bedeuten „die im Schreiten Glänzende“ (ebd., S. 116). In der Formulierung „nach dem Leben“ (ebd., S. 127) wird eine Spur des Vornamens Zoë, Leben, aufgedeckt. Insofern kann der Text nach dem Modell der Traumdeutung verfahren, die sich ebenfalls am Prinzip der Ausdrücklichkeit orientiert. Freud knüpft damit nicht nur an seine Traumhermeneutik an, sondern auch an eine Tradition moderner Literatur, deren Poetik man eine Poetik des Verrats nennen könnte. Im Blick auf die zeitgenössische Literatur schrieb der junge Gottfried Keller, dass die Dichter „Verräter“ seien, welche aus der Schule schwatzten (an Freiligrath, 5.2.1847). Die Literatur des europäischen Realismus, die Literatur von z.B. Flaubert, Keller, Fontane, Raabe ist in diesem Sinne eine verräterische Literatur. Diese Metapher des Verrats mit den möglichen semantischen Merkmalen des Absichtlichen und des Unabsichtlichen hat Freud mehrmals aufgenommen. In den Reden und Einfällen seiner Patienten sucht er Bedeutungen aufzuspüren, die sie verbergen wollen, aber in „mannigfaltigster Weise unabsichtlich […] verraten“ (Freud 1940, GW Bd. 4, S. 89). Geradezu priesterlich formuliert er: „Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat.“ (Freud 1940, GW Bd. 5, S. 240) Hier, in der Deutung von Jensens Novelle, redet er von einem „tückischen Verrat“ (Freud 1986, S. 114), insofern in den Fantasien des Helden über das Reliefbild verdrängte Erinnerungen an eine Kinderliebe wiederkehren.

7. Der Text deutet sich selbst Wenn Freud formuliert, er habe sich „Text wie Kommentar“ vom „Dichter“ selbst „besorgen“ (ebd., S. 121) lassen, dann behandelt er die Novelle als eine sich selbst auslegende Erzählung. Die Deutung reproduziert diese Selbstauslegung mittels der psychoanalytischen Fachsprache (vgl. ebd., S. 121). Erst wo diese wissenschaftliche Reformulierung an Grenzen kommt, da der Kontext keinen Aufschluss zu geben scheint, macht er Anleihen an einer externen Theorie, an der Traumtheorie zum Beispiel. Freud schreibt: Dieser Traum erläutert sich nicht von selbst; wir müssen uns entschließen, Anleihen bei der „Traumdeutung“ des Verfassers zu machen und einige der dort gegebenen Regeln zur Auflösung der Träume hier anzuwenden. (ebd., S. 132)

So wie der Deuter eines Textes dessen Selbstauslegung in seiner Sprache reformuliert, interpretiert der Therapeut die z.B. in den „freien Assoziationen“ gelieferte Selbstinterpretation des Patienten (vgl. Raguse 1998). Va-

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lidiert werden diese Anleihen, wenn sie den Traum verständlich machen und in den Zusammenhang der Erzählung konsistent eingefügt werden können. Dass Texte sich selbst interpretieren, war ebenfalls schon ein Prinzip romantischer Hermeneutik, wie z.B. aus Friedrich Schlegels Rezension Über Goethes Meister und August Wilhelm Schlegels Shakespeare-Rezensionen hervorgeht (vgl. Kurz 2004, S. 47 ff.). Der Deuter wiederholt mit seinen Worten, was die Texte als „organisierte und organisierende“ (Friedrich Schlegel) Werke über sich selbst schon sagen. Fasst man diese Prinzipien zusammen und fragt nach dem Verfahren der Deutung Freuds, so liegt die spezifische Differenz der psychoanalytischen Deutung zur literarischen Hermeneutik in der Setzung ihres Kontextes. Als Kontext setzt sie grundsätzlich eine spezifische psychodramatische Struktur, den in diesem Falle die Novelle Jensens selbst schon entfaltet. In diesem Kontext werden die einzelnen Handlungen, Fantasien und Träume auf ihre Funktionen in dieser Struktur befragt. Die Deutung rekonstruiert diesen Kontext und sucht die Handlungen, Fantasien und Träume abduktiv als Ereignisse eines regelhaften Vorgangs zu beschreiben. Dieses Ziel hat Freud ganz naturwissenschaftlich formuliert: Es handelt sich um die Auflösung eines Stücks „vermeintlicher Willkür in Gesetzmäßigkeit“ (Freud 1986, S. 120, vgl. ebd., S. 91). Später hat Freud die psychoanalytische Deutung mit dem Begriff der Konstruktion (Konstruktionen in der Analyse, 1937) erläutert. Danach konstruiert die Deutung ein Modell dieses Kontextes. In der Therapie erweist sich die Triftigkeit dieser Konstruktion in ihrer Annahme durch den Patienten. Im Falle des literarischen Textes erweist sich die Triftigkeit des Modells, wie sonst, in der Konsistenz und Fruchtbarkeit der Deutung des Gesamttextes.

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Yvonne Wübben

Lektüre im Labor Zur literarischen Genese von Freuds Paranoia-Konzept (1896-1906) 1896 schreibt Sigmund Freud an seinen langjährigen Freund Wilhelm Fließ nicht ohne Pathos und in aphoristischer Kürze: „man wird paranoisch über Dinge, die man nicht verträgt“ (Freud 1986, S. 107). Im nüchterneren Tonfall des Analytikers fügt er ergänzend hinzu: „Die Paranoia hat also die Absicht, eine dem Ich unverträgliche Vorstellung dadurch abzuwehren, daß deren Tatbestand in die Außenwelt projiziert wird.“ (Freud 1986, S. 108 f.) Über mögliche Gründe dieser Abwehr sagt der Briefwechsel zunächst nicht viel aus. Erst im Verlauf der nächsten Jahre erhalten die Mechanismen Konturen, erfahren wir, warum und wodurch bestimmte Vorstellungen entstellt, nach außen projiziert und in vermeintliche Tatbestände transformiert werden. Zwei prominente Fälle spielen bei dieser Präzisierung eine Rolle: Der eine begegnet Freud in Wilhelm Jensens 1903 publizierter Novelle Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück und beinhaltet den Wahn eines Archäologen. Der andere ist weitaus berühmter: Es sind die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, verfasst von Paul Daniel Schreber. Obwohl in ihren jeweiligen Repräsentationsweisen und Erzählverfahren voneinander unterschieden, hatten beide Texte eine ähnliche Bedeutung für die Entstehung von Freuds Wahnkonzept, das sich als Anschauungsfeld für das Zusammenspiel von Literatur und Psychoanalyse bzw. psychiatrischer Wissenschaft eignet. Dass die Auseinandersetzung mit literarischen Texten zu den „Konstitutionsbedingungen der Psychoanalyse“ (Marx/Wild 1984, S. 166) zählt, dass Freud Literatur ausgiebig zitiert und auch seine Fallgeschichten literarisch sind, ist unterdessen gut erforscht (Thomé 1998, Forrester 1996). Freud bediente sich fiktionaler Darstellungsordnungen, um das Wissen der Psychoanalyse zu konturieren, repräsentieren und zu vermitteln (Rohrwasser 2005, Marinelli/Mayer 2002); ebenso wurde dieses Wissen in der schö

Thomé (1998) geht in seinem Aufsatz von einem normativen Wissenschaftsbegriff aus. Differenzierter ist Forresters Ansatz, der sich um die Rekonstruktion des Wissenschaftsverständnisses der damaligen Zeit bemüht und den historischen Stellenwert der Fallgeschichte im Prozess der Wissensbildung untersucht.

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nen Literatur durch gezielte Verknüpfung auch widerspruchsvoller Diskurse transformiert (Alt 2004, Anz 2003b). Inwiefern die Aneignung von Literatur aber zur Formierung psychoanalytischer Konzepte beigetragen hat, ob spezifische Aspekte der psychoanalytischen Theoriebildung primär der schönen Literatur entnommen sind, ist bislang weniger gut untersucht. Wie andere Objekte könnten literarische Texte – in einem spezifischen Repräsentationszusammenhang situiert – zu epistemischen Gegenständen werden und das Aufscheinen neuer Theorien bzw. Theorieelemente ermöglichen. Freuds Literaturinterpretationen wären demnach nicht nur Aneignungen auf dem literarischen Feld, die etwa im Dienst der Vermittlung und Popularisierung stünden. Sie hätten zudem eine genuin epistemische Funktion, die es zu präzisieren gilt. Der vorliegende Aufsatz fragt nach der Formierung psychoanalytischen Wissens, indem er den Blick auf den Prozess literarischer Aneignung richtet. Nicht der medizinische Rekurs auf schöne Literatur steht dabei im Vordergrund, sondern das in fiktionalen Darstellungsordnungen enthaltene Potential für psychoanalytische Konzeptentwicklungen.

I. Paranoia im psychiatrischen Diskurs: 1896 Bereits 1896 geht Freud näher auf die Paranoia ein (Freud 1940, GW Bd. I, S. 392-403). Er subsumiert sie unter die so genannten Abwehrneurosen und befasst sich unter anderem mit der Frage, ob Wahn und Hysterie eine ähnliche Entstehungsgeschichte teilten: Seit längerer Zeit schon hege ich die Vermutung, daß auch die Paranoia – oder Gruppen von Fällen, die zur Paranoia gehören – eine Abwehrneurose ist, d.h. daß sie wie Hysterie und Zwangsvorstellungen hervorgeht aus der Verdrängung peinlicher Erinnerungen, und daß ihre Symptome durch den Inhalt des Verdrängten in ihrer Form determiniert werden. (ebd., S. 392)

Der erste Fall gilt einer Patientin, die sich von ihren Nachbarn missachtet, beim Auskleiden beobachtet fühlt und die schließlich unter Halluzinatio 



Eine Systematik der Bezugsweisen legt Anz (2002, 2003a) vor. Vgl. Rheinberger 1992, S. 73-80. Zwar spricht Rheinberger vom epistemischen Ding im Zusammenhang mit Experimentalsystemen und vor dem Hintergrund technologischer Identitätsbedingungen. Fraglich wäre jedoch, ob z.B. auch Gattungen solche Identitätsbedingungen darstellen. Darüber hinaus lasst sich der von Rheinberger verwandte Begriff Repräsentation auf die hier vorliegenden Kontexte anwenden. Damit ist zunächst eine Herstellung gemeint, „in der das Dargestellte überhaupt erst Gestalt annimmt“ (S. 73). Vorliegender Ansatz unterscheidet sich von poetologischen diskurshistorischen (Schäffner 1995, Stingelin 1989) bzw. koevolutionstheoretischen (Hahn u.a. 2002) Studien, die ebenfalls mit dem Zusammenhang von Wahn, Wissenschaft und Literatur befasst sind, dadurch, dass er Wahn als umschriebenes klinisches Konzept begreift und die Differenz von schöner und wissenschaftlicher Literatur jeweils aus dem historischen Kontext zu erfassen versucht bzw. als Effekt von Kanonisierungsprozessen versteht und rückprojiziert.

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nen leidet. Freud untersucht zunächst den Inhalt der Halluzinationen, in denen er – wie bei der Hysterie – „Stücke aus dem Inhalt der verdrängten Kindheitserlebnisse, Symptome der Wiederkehr des Verdrängten“ vermutet (ebd., S. 398). Die Wiederkehr des Verdrängten sowie der sexuelle Charakter des Erlebnisses zählen zu den ätiologischen Hauptkomponenten, aus denen die psychoanalytische Hypothese zur Entstehung der chronischen Paranoia abgeleitet wird. In Halluzinationen sieht Freud Repräsentationen frühkindlicher Erlebnisse, die durch Analogiebildung entstellt wurden. Zwar ist der Begriff ‚Entstellung‘ an Emil Kraepelins Konzept der Erinnerungsfälschung angelehnt (vgl. Meynert 1890, S. 154). Über weite Strecken knüpft Freud jedoch an Theodor Meynerts Wahnbegriff an, wie er mit dessen Klinischen Vorlesungen (ebd., S. 144-146) vorliegt. Freud versteht die Paranoia wie Meynert als Abwehrvorgang (Freud 1940, GW Bd. I, S. 393, Meynert 1890, S. 144) und führt Halluzinationen wie jener auf hypochondrische Sensationen zurück (Freud 1940, GW Bd. I, S. 395, Meynert 1890, S. 146 f.). Auch Freuds differentialdiagnostisches Bemühen, die Paranoia von anderen funktionellen Neurosen wie der Hysterie abzugrenzen, findet sich bereits in Meynerts Vorlesungen (Meynert 1890, S. 188192) vorgezeichnet. Um 1896 orientiert sich Freuds Paranoiakonzept – hinsichtlich Symptomatik, Differentialdiagnose und möglicher Ätiologie – also über weite Strecken an den psychiatrischen Vorgaben seiner Zeit (Hirschmüller 1991, Lebzeltern 1973).

II. Autoerotismus und Libidotheorie: zur Leistung fiktionaler Darstellungsordnungen Blickt man auf die weitere Konzeptentwicklung fallen einige Besonderheiten ins Auge. Bis zur Publikation der Schreberschrift von 1911 wird die Paranoia eher sporadisch erwähnt (Freud 1940, GW Bd. II/III, S. 309, S. 533; Bd. V, S. 154; Bd. VII, S. 999) und nosologisch weiterhin unter die Abwehrneurosen subsumiert. Mit dem Schrebertext liegt dann eine Ätiologie vor, die die Rückführung der Paranoia auf homosexuelle Wunschphantasien und die Kopplung von Wahn- und Libidotheorie beinhaltet. Jetzt stellt Freud erstmals einen Zusammenhang zwischen Narzissmus, Autoerotismus und mangelhafter Objektliebe her (Freud 1940, GW Bd. VIII, S. 309). Betrachtet man die bis dahin relativ marginale Behandlung der Paranoia, ist diese Neuerung durchaus bemerkenswert. In den zuvor publizierten Schriften finden sich indes keine vergleichbar detaillierten Überlegungen zur sexuellen Ätiologie der Paranoia. Der Zusammenhang von Sexualentwicklung und Psychoneurose (Freud 1940, GW Bd. V, S. 65) wird vorwiegend anhand der Hysterie erläutert, von einer autoerotischen Fixierung der Libido

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berichten die Fallgeschichten zur Paranoia nicht. Wie kommt es also zu dieser Neubestimmung? Wieso wird der libidotheoretische Aspekt der Paranoia 1906/7 greifbar, zu einer Zeit, als sich Freud nicht nur mit Schrebers Denkwürdigkeiten, sondern auch mit Jensens Novelle Gradiva befasst? Die Novelle wurde Freud höchstwahrscheinlich durch den Analytiker Wilhelm Stekel zugespielt. Stekel trat der Psychoanalytischen Vereinigung früh bei und nahm regelmäßig an den so genannten Mittwochstreffen teil (Nunberg, Federn 1976). Er hatte sich um 1906 ausführlich mit Dichterträumen befasst und dürfte in diesem Zusammenhang auf den damals noch lebenden Autor Jensen aufmerksam geworden sein (Stekel 1912, S. 16). 1907, wenige Jahre nach dem Erscheinen der Novelle, äußert sich auch Freud zu Jensen. Er widmet dem Dichter einen Aufsatz, der auf dem Feld der psychopathologischen Literaturinterpretation Neuland erschließt. Zwar ist der medizinische Zugriff auf schöne Literatur zu dieser Zeit keine Besonderheit. Das zeigen unter anderem die Schriften des Psychiaters Otto Klinke über E.T.A. Hoffmann (Klinke 1908, S. 107). Anders als E.T.A. Hoffmann war Jensen bis dato jedoch ein eher unbeschriebenes Blatt. Weder waren seine literarischen Figuren einer psychopathologischen Analyse unterzogen worden, noch hatten Psychiater und Ärzte Jensen als Künstler entdeckt, der psychiatrische Krankengeschichten angemessen darstellen konnte. Wenn Freud dessen „Phantasiestück“ eine „korrekte psychiatrische Studie“ (Freud 1940, GW Bd. VII, S. 69) und das „prächtige Beispiel einer Handlung unter der Herrschaft des Wahnes“ (ebd., S. 71) nennt, greift er damit zwar auf bestehende Tendenzen zurück, erprobt sie jedoch an einem bislang unbearbeiteten Gegenstand. An Jensens „Studie“ lobt Freud die gelungene Darstellung der wahnhaften Innenwelt sowie der „persönlichen Verfassung, die einem solchen Wahn den Ursprung geben kann“ (ebd., S. 72). Freuds Gradiva-Aufsatz rekapituliert diese Darstellung en detail und wirft ein Licht auf seine eigne Wahnauffassung. Mit dem Gradiva-Aufsatz scheint Freund zunächst an seine frühe Paranoia-Schrift anzuknüpfen. Hanolds Wahn nehme, so heißt es, von einem verdrängten erotischen Kindheitseindruck seinen Ausgang. Der Kindheitseindruck beziehe sich auf Zoe Bertgang, die, so legt es auch der literarische Text nah, eine Jugendfreundin Hanolds war. Mit ihr habe der Archäologe schon zu Kinderzeiten eine freundschaftliche und, wie Freud suggeriert, auch erotische Beziehung unterhalten. Die fortschreitende Sexualentwicklung habe eine Verdrängung erotischer Wünsche bewirkt. Sie resultierte in einer „dauernden Abwendung vom Weib“ (ebd.) und der libidinösen Aufwertung des Ichs, die sich nach Freud besonders in Hanolds wissenschaftlicher Tätigkeit artikuliere. 

Bei der Phobie des kleinen Hans geht es zwar um die Homosexualität, aber nicht um die Paranoia

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Durch die Ansicht des antiken Virgo-Reliefs, das Hanold auf einer Studienreise entdeckt hatte, werde die verdrängte Erinnerung aktiviert. In verstellter Form, als Gradiva, dringe Zoe wieder in Hanolds Bewusstsein ein, wodurch weitere Abwehrmechanismen in Gang gesetzt würden und die Abspaltung des erotischen Wunsches sowie die Projektion des Zoe-Gradiva-Eindrucks nach Außen erfolgten. Dieses Wahnverständnis, das nun auch ein libidinöses Geschehen – d.h. die Entwicklung der libidinösen Objektbesetzung bzw. deren Störung – umfasst, wird nicht nur an einem literarischen Text erläutert, sondern 1906 auch theoretisch profiliert und auf einen klinischen Fall übertragen. Zusammen mit einem Exemplar des Gradiva-Aufsatzes ergeht in diesem Jahr eine Skizze an den befreundeten Psychiater Carl Gustav Jung, die den Titel Einige theoretische Gesichtspunkte zur Paranoia trägt (Briefwechsel 1974, S. 41-44). Ähnlich wie im Gradiva-Aufsatz deutet Freud die paranoische Wahnvorstellung dort als Transformation eines inneren Eindrucks in eine äußere Wahrnehmung. Er erläutert den Vorgang am Beispiel einer Frau, die unter der Wahnvorstellung leide, man unterstelle ihr den „Wunsch nach Verkehr mit Mann“ (ebd., S. 41). Bei der Paranoia, heißt es weiter, werde dem „Objekt die Libido entzogen“ (ebd., S. 42) und: Bei dem Kompensationsverhältnis zwischen Objektbesetzung und Ichbesetzung wird es wahrscheinlich, daß die dem Objekt entzogene Besetzung ins Ich zurückgekehrt, d.h. autoerotisch geworden ist. (ebd., S. 42 f.)

An dieser Wahntheorie ist nun nicht etwa der beschriebene Mechanismus der paranoischen Projektionsbildung neu. Neu ist die Verbindung von Wahninhalt und Libido, d.h. die Zusammenführung der Paranoiaauffassung mit einer Theorie der objektsbezogenen und autoerotischen Triebentwicklung, wie sie mit den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) vorlag (Freud 1940, GW Bd. V S. 73-131). Wie kam es zu einer derartigen Konturierung des Wahnkonzeptes bzw. zur Formulierung einer Theorie, die zuvor nicht greifbar war? Und hat möglicherweise die schöne Literatur, d.h. Freuds Lektüre des literarischen Textes zu diesen Entwicklungen beigetragen? Zwar nimmt Freud im Gradiva-Aufsatz nur sporadisch auf die Paranoia Bezug und grenzt sie dort vom literarischen Wahn ab. Dass Jensens Gradiva trotzdem zur Kopplung von Wahn- und Libidotheorie beigetragen haben könnte, indizieren zahlreiche Marginalien, die sich in Freuds Handexemplar befinden und die sich als Lektürespuren deuten lassen (Freud 1995, S. 129-216). Sie liefern Hinweise auf eine psychoanalytische Lektüre der Novelle. 

Über den genauen Stand der 1907 vorliegenden Libidotheorie würde ein Ausgabenvergleich der Drei Abhandlungen Auskunft geben können. Der Absatz „Die Libidotheorie“ wurde 1915 eingefügt. Die für den vorliegenden Aufsatz relevanten Überlegungen zum Autoerotismus und dem Rückzug der Triebe ins Ich liegen bereits 1905 vor.

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Wie in den Fallgeschichten zur Hysterie steht diese Lektüre zunächst im Zeichen einer Suche. Gesucht wird nach verdrängten Erinnerungen, die eine Deutungsmatrix für das aktuelle Wahngeschehen liefern könnten. Die Marginalien signalisieren, dass Freud drei Textstellen als potentielle Hinweise auf derartige Wahnquellen ermittelte. An den drei Textstellen notiert er die Marginalie „Quelle“. In der ersten Textpassage, die mit „Quelle“ versehen wird, kommentiert Zoe fast beiläufig ihre Kinderfreundschaft zu Hanold: Ich weiß nicht mehr, ob ich früher, als wir täglich freundschaftlich miteinander herumliefen, gelegentlich uns zur Abwechslung auch knufften und pufften, anders ausgesehen habe. (Freud 1995, S. 208)

Die Marginalie „Quelle“ findet sich ferner neben dem Namen Bertgang, der nach Freud auf die römische Virgo verweise. Er indiziere einen Zusammenhang zwischen beiden Figuren, eine Ähnlichkeit in der Erscheinung, die zum psychologischen Grund für Hanolds Interesse an der Virgo erklärt wird. Als „Quelle“ wird zuletzt der Kanarienvogel bezeichnet, der sich in Zoes Besitz befindet, der ebenfalls auf sie verweist und leitmotivisch wiederkehrt. Die Marginalien finden sich somit just an jenen Stellen, die für Freud einen Bezug zwischen dem verdrängten Objekt und dem gegenwärtigen Wahninhalt nahe legen. Diese Identifizierung bildet die Matrix für weitere Kohärenzbildungen aus. Freud liest die Novelle nun als Geschichte einer „sexuellen Versöhnung“ (Freud 1995, S. 187), d.h. als Rückkehr der Libido zum Objekt. Befindet sich der Protagonist zu Beginn der Novelle im Zustand der Verdrängung, so führt deren Bewusstwerdung zu ihrer Aufhebung und dazu, dass die Libido am Ende zu den Objekten zurückfindet. Diese Lesart wird durch verschiedene Oppositionsbildungen gestützt, von denen Freuds Marginalien ebenfalls Zeugnis liefern. Dazu zählen der wahrgenommene Kontrast von Leben (Zoe) und Tod (Altertum) sowie von Sexualität und Entsagung. Zoe ist nicht nur Repräsentantin des Lebens. Hanolds Interesse an ihrer Lebendigkeit deutet Freud biologisch. Er führt sie auf dessen Sexualtrieb zurück, wie die Marginalie „sexuelles Intr.“ zeigt (Freud 1995, S. 134). Diese Lektürespuren deuten darauf hin, dass die Novelle einen entscheidenden Beitrag zur Konturierung des Wahnkonzeptes geliefert haben konnte. Die literarische Darstellungsordnung – die novellistische Ereignisabfolge sowie die leitmotivische Struktur des Textes – ermöglichten jedenfalls Bezugnahmen und Kohärenzbildungen, die Hanolds Wahn als Resultat einer gescheiterten libidinösen Objektbesetzung deutbar machten und die sich in anderen Texten so nicht finden. In der psychoanalytisch 

Halluzinationen sind nach Freud schließlich Repräsentationen innerer Objekte, denen durch Verdrängungsmechanismen Libido entzogen wurde und die unter Abzug der Libido wie äußere Wahrnehmungen erscheinen (Briefwechsel 1974, S 42).

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präformierten Lektüre eines literarischen Textes würde entsprechend eine Lücke geschlossen und die 1896 bereits in Ansätzen vorliegende Ätiologie der Paranoia ergänzt. Erst die Auseinandersetzung mit diesem literarischen Text führt damit zur Konturierung bislang nicht vorhandener libidotheoretischer Elemente. In der schönen Literatur taucht also ein Aspekt des Wahns auf, der zuvor nicht greifbar war. Eine literarische Figur bzw. eine Geschichte fungiert hier nicht als Exempel, um bereits gesichertes Wissen zu vermitteln. An der Figur Hanold wird der Abzug der Libido vom Objekt und seine Rückführung ins Ich nicht verdeutlicht. Vielmehr geht er – so macht es die Chronologie deutlich – aus der Lektüre hervor. Blickt man auf diese Zusammenhänge, ließe sich folgende Zwischenbilanz ziehen. Die Funktion der Literatur bestünde für Freud, wie Marinelli/Mayer (1992, S. 8) gezeigt haben, nicht nur darin, die populäre Deutungskultur der Psychoanalyse zu befördern. Freud stellt den Kontakt mit den „wertvollen Bundesgenossen“ nicht nur in der Hoffnung her, ihre Äußerungen publikumswirksam zu machen und so die Popularisierung der Psychoanalyse zu befördern. Die schöne Literatur dient demnach auch der Extrapolierung neuer Theorien bzw. der Konturierung und Modifikation erst in Ansätzen vorhandener Konzepte. Hieran schließen sich zwei weitere Fragen an. Erstens: Was unterscheidet Freuds Lektüre von einer spezifisch literarischen Lesart, die Figuren nicht behandelt wie reale Personen (Titzmann 1991) und die intertextuelle Verweise, das Spiel mit Vorlagen und Gattungstraditionen in den Blick nimmt? Zweitens: Sind es ausschließlich oder vor allem fiktionale Darstellungsordnungen, die die Formierung eines derartigen Wahnkonzeptes ermöglichten? Blickt man auf den literarischen Traditionsbezug, gehört die Verwechslung einer Statue (oder eines Gipsabdruckes) mit einer lebendigen Person zum Pygmalion-Stoffkreis. Sie ist ein verbreitetes Motiv von Johann Wolfgang von Goethe über Friedrich Schiller bis zu E.T.A. Hoffmann. Jensens Text ist von zahlreichen intertextuellen Verweisen auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann geprägt. Diese Verweise entgehen Freud allerdings und damit Jensens Transformation einer phantastischen Erzählhandlung in eine realistische, die ja an sich schon bemerkenswert ist. Im Gegensatz zur phantastischen Literatur, deren Besonderheiten nach Todorov in der Gleichgewichtung psychologischer und wunderbarer Deutungsalternativen und somit in der Erzeugung einer Unentschlossenheit beim Leser bestehen (Todorov 1992), legt die realistische Novelle eine eindeutige, hier eine psychologische Lesart nah. Freud sind solche Umschreibungen durchaus vertraut. Am Rand von Jensens Novelle notiert er: „Leser im Wahn erhalten“ (Freud 1995, S. 163). Dennoch blendet er die dezidiert literarische Verfahrensweise aus, wenn er den Text als Versöhnungsgeschichte der Libido mit ihren Objekten liest.

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Damit sitzt er letztlich einer literarischen Tradition auf, deren Konventionalität in der Transformation jener phantastischen Motive besteht. Die bewusste realistische Adaptation phantastischer Erzählkonventionen will die Psychoanalyse also nicht als literarische fassen. Auch der literarische Charakter des Textes geht damit verloren und wird den psychoanalytischen Interessen untergeordnet. Dass Jensen ein literarischer Autor ist, der sich in diesem literarischen Diskurs platziert, entgeht Freud gleichermaßen. Das Potential fiktionaler Darstellungsordnungen lässt sich hingegen am Vergleich von Jensens Text mit verbreiteten klinischen Kranken- und Fallgeschichten ermessen. Blickt man auf psychiatrische Fallgeschichten der Zeit, z.B. auf diejenigen, die Jung in seinen wissenschaftlichen Aufsätzen auszugsweise publizierte, fallen zahlreiche Unterschiede ins Auge. Anders als Jensens Gradiva stellen diese Fallgeschichten Träume und Wahndichtungen selten in vergleichbar eindeutiger Weise zu einem früheren Sexualobjekt oder einem verdrängten Kindheitserlebnis in Bezug. Das Identitätsschema Gradiva/Zoe, weitere Reihungen, symbolische Verdichtung und Metonymisierungen scheinen um 1900 vor allem der Literatur vorbehalten zu sein. Sie sind literarische Verfahren, die zu Gattungsmerkmalen der phantastischen Literatur zählen und sich in medizinischen Schriften kaum finden. Erst die narrative Struktur eines literarischen Textes ermöglicht somit, einen Konnex zwischen Traum bzw. den Wahnerlebnissen, der Kindheitserinnerung und der durch sie gesteuerten Handlungsweise herzustellen. Krankengeschichten stellen diese Zusammenhänge nicht her. Halluzinationen werden dort nicht als Analoga verdrängter mentaler Repräsentationen verstanden. Anders als literarische Texte bedienen sich Jungs Kranken- und Fallgeschichten, soweit publiziert und greifbar, kaum literarischer Mittel. Sie enthalten in der Regel keine erlebte Rede, auch keine introspektiven Berichte. Die Darstellung innerpsychischer Objekte wie Wahngedanken erfolgt meist durch deren Wiedergabe in zitierter, wörtlicher Rede. Die klinischen Krankengeschichten konzentrierten sich damit auf erfassbare und beobachtbare psychopathologische Symptome (erzählte Wahngedanken), die als objektive Tatsachen präsentiert werden. Die Repräsentationsstrategien der Krankengeschichten sind auf die Erzeugung einer 



Das ist auch daran abzulesen, dass sich Freud über einige Unwahrscheinlichkeiten moniert und sie gegen die Qualität des Textes anführt. Z.B. beklagt er die Ähnlichkeit zwischen Gradiva Zoe. Sie lässt sich jedoch auf die Orientierung an der Vorlage zurückzurühren, d.h. auf die leitmotivische Verwendung von Doppelgängern als Elementen phantastischen Erzählens, die nun psychologisch gedeutet werden. Schließlich lässt es Jensens Text offen, ob die Ähnlichkeit ein Wahrnehmungseffekt des Protagonisten oder Wirklichkeit ist. Bezeichnenderweise wählt Freud einen Autor, der von der Literaturwissenschaft seiner Zeit kaum behandelt wurde. Die erste literarwissenschaftliche Abhandlung zu Jensen stammt offenbar von Mittenzwey 1914, eine weitere veröffentlichte 1933 Peter Bongs (vgl. Urban/ Cremerius 1973, S. 17).

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spezifischen Form von Objektivität und Evidez ausgerichtet. Sie folgen jenen normativen Vorgaben, die zur Ausbildung einer eigenen faktualen Gattung geführt haben (Jacyna 1994). Die Darstellung eines inneren Prozesses bleibt hingegen Jensens Gradiva vorbehalten.

III. Inkompatibilität der Skripte: Was passiert, wenn die literarische Paranoia im Züricher Klinikalltag ankommt Hat die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text die Verbindung von Wahn- und Libidoentwicklung ermöglicht, bleibt fraglich, ob und wie sich dieses Konzept im klinischen Alltag bewähren konnte. Durch den Kontakt mit Jung und die gemeinsamen Forschungsinteressen eröffnete sich für Freud eine Möglichkeit, seine Wahntheorie mit einem Anstaltspsychiater zu diskutieren und ihre Anwendbarkeit in der Klinik zu erproben. Der Briefwechsel zwischen Jung und Freud zeugt von eben diesem Versuch. Er dokumentiert zudem, mit welchen Schwierigkeiten die Implementierung eines literarischen Wahnkonzeptes in den psychiatrischen Alltag verbunden sein konnte. Zunächst bot die kantonale Heilanstalt Burghölzli günstige Vorraussetzungen für ein solches Unternehmen. In Eugen Bleulers Klinik fielen Freuds Ideen auf fruchtbaren Boden. Zahlreiche Mitarbeiter, allen voran C.G. Jung waren der Psychoanalyse gegenüber aufgeschlossen. In seinen Assoziationsstudien hatte sich Jung auf Freuds Traumdeutungen berufen (Jung 1971, S. 3). Seine Experimente befassten sich mit zeitlichen Abläufen und mit den Inhalten bestimmter Wahnvorstellungen. Zudem war Burghölzli Universitätsklinik und kantonale Heilanstalt zugleich. Sie verfügte über Forschungseinrichtungen und die Möglichkeit, klinische Patientenbeobachtungen über längere Zeiträume zu erheben. Programmatisch stand dabei das Verständnis der Symptome im Vordergrund. Die Umsetzung der methodischen und therapeutischen Vorgaben war um 1905 allerdings mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet und stellte Anforderungen an die standardisierte Erfassung von Krankheitskomplexen. Nicht immer war klar, nach welchen Symptomen gesucht, was beobachtet und wie Symptomkomplexe zu Krankheitsentitäten zusammengefasst werden konnten (Engstroem 2003, S. 121-146). Im Streit um die Paranoia wurden diese methodischen, terminologischen und nosologischen Schwierigkeiten besonders deutlich. Seit 1906 diskutierten Jung und Freud darüber, ob die Paranoia mit der Dementia Praecox von Emil Kraepelin gleichzusetzen sei. Inmitten dieser Klärungsversuche trifft Freuds Gradiva-Aufsatz bei Jung ein. Vieles spricht dafür, dass dieser ihn zunächst als Therapieanweisung las, als Hinweis, wie eine psychoanalytische Heilung aussehen könnte. Denn in gewisser Hinsicht verkörpert Zoe

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eine ideale Therapeutin, die einen Wahnkranken heilt, indem sie sich dessen Wahnsystem aneignet und die tiefenpsychologische Entstehungsgeschichte aufgedeckt. Wie die literarische Vorbildfigur dürfte auch Jung versucht haben, die Paranoia zu erfassen und zu therapieren. Freuds Überlegungen zur sexuellen Ätiologie des Wahns begegnet er jedenfalls mit Aufgeschlossenheit und Interesse. Jung zeigt sich durchaus bemüht, bei seinen Patienten einen Zusammenhang zwischen der Sexualentwicklung, einem Kindheitserlebnis und dem aktuellem Wahngeschehen nachzuweisen. In einem Brief an Freud schildert er einen Fall, der Anzeichen eines solchen Zusammenhangs vermuten lässt. Er berichtet über einen 34-jährigen Mann, welcher wegen Erregungszuständen, Größen- und Verfolgungswahn und Halluzinationen eingewiesen wurde: Ein Paranoiafall (Paranoide Dementia praecox): ca. 10. Jahr: Patient wird von einem älteren Jungen zur mutuellen Onanie verführt. ca. 16. Jahr: Verliebt sich in einen Backfisch, der einen Kopf (kurzgeschoren) wie ein Junge hat (namens Berty Z.). […] Vor drei Jahren hat sich das Wahnbild verändert. Damals lernte Patient bei einer Anstaltsfestlichkeit ein Mädchen mit einem Schütteltick des Kopfes kennen. Sie hatte kurzgeschorene Haare (Briefwechsel 1975, S. 64)

Die kurzen Haare des Mädchens sollen auf den möglichen frühpubertären Ursprung der späteren Wahnideen (auf das homoerotische Schlüsselerlebnis) verweisen. Wie in Freuds Gradiva-Deutung stehen sie metonymisch für das eigentlich begehrte Sexualobjekt, das durch Verstellungen unkenntlich geworden ist.10 Jung scheint die Zulässigkeit einer derartigen Deutung jedoch überdenkenswert, weshalb er sich fragend an den „Herrn Professor“ wendet. Freud sieht Jungs Fall als Bestätigung seiner Wahntheorie, und hält den Zusammenhang zwischen dem homosexuellen Adoleszenzerlebnis und der Erkrankung für plausibel, ohne Jung davon jedoch nachhaltig überzeugen zu können. Ein näherer Blick auf den Briefwechsel macht Jungs wachsende Vorbehalte gegenüber der sexuell-libidinösen Wahngenese deutlich. Zunächst entzünden sich die Differenzen an diagnostischen Fragen, genauer an der Unterscheidbarkeit von Paranoia und Hysterie. Dann greifen sie auf die Frage nach der libidinösen Genese über und weiten sich schließlich zum Streitfall über die infantile Sexualtheorie aus. Sieht man von diesen Positionsgefechten und ihren strategischen Hintergründen ab, bleibt die Frage, inwiefern die Gründe für den Dissens in den jeweils angewandten Erfassungsmethoden und Aufzeichnungsverfahren liegen könnten. Anders als Freuds Patienten standen den Insassen in 10 Im Gegensatz zum Gradiva-Aufsatz stehen hier, wie im Fall Schreber, das homoerotische Begehren und die Verbindung von Homosexualität und Paranoia im Vordergrund.

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Burghölzli nämlich keine Skripte zur Verfügung, die ihnen erlaubten, den frühkindlichen Wurzeln ihres innerpsychischen Erleben nachzuspüren und es mit ihrem Handeln in Bezug zu setzen. Die in Burghölzli verfügbaren klinischen Erhebungsbögen und die dort angefertigten Krankengeschichten enthielten keine Rubriken zur Erfassung einer derartigen Wahngenese, wie der kursorische Blick auf den von Jung kolportierten Fall bereits indizierte. Die Wechsel von geträumter und erlebter Innenwelt, die Andeutung und Einbettung unbewusster Inhalte in ein Ziel gerichtetes Handlungsgeschehen, die allmähliche Substitution des Wahns durch die Bewusstwerdung eines verdrängten Inhaltes, setzt eine zeitliche Logik und ein narratives Gefüge voraus, für das die klinischen Erfassungsinstrumente keine Vorlagen lieferten. Die Implementierung des Wahnkonzeptes hätte also eine Reorganisation dieser Instrumente und Fragetechniken erfordert. Zudem fand Jung im klinischen Alltag kaum Zeit, eine ausführlichere Anamnese, geschweige denn eine Psychoanalyse durchzuführen. Offen klagt er über seine „donnervolle Poliklinik“ (Freud/Jung 1974, S. 67) und bedauert, dass ihm eine systematische Erforschung der Dementia Praecox bzw. Paranoia kaum möglich sei. Ferner sei die „Analyse bei Ungebildeten […] eine harte Sache“. Bei ihnen „scheint mir das Haupthindernis die furchtbar grobe Übertragung zu sein“ (ebd., S. 67). Die Anwendung psychoanalytischer Verfahren blieb in Burghölzli damit auf die Selbst- und Kollegenanalyse beschränkt, die er im Briefwechsel mit Freud lernt (Marinelli/Mayer 2002). Entsprechend enthusiastisch reagiert Jung, als ihm erstmals ein scheinbar geeigneter Patient zugeführt wird. 1908 trifft der Grazer Psychiater Otto Gross in Burghölzli ein. Selbst psychiatrischer Assistenzarzt und Theoretiker der Dementia Sejunctiva, wie er sein Vorläuferkonzept der Schizophrenie nannte, wurde er nach Burghölzli zunächst zur Kokain-Entziehungskur überwiesen. Jung meinte jedoch, bei Gross eine Zwangsneurose diagnostizieren zu können und beginnt eine psychoanalytische Behandlung, von der er Freud sogleich enthusiastisch berichtet: Ich schreibe jetzt nur kurz, weil ich jetzt Groß bei mir habe, der mich eine unglaubliche Zeit kostet. Es scheint im wesentlichen Zwangsneurose zu sein. Der nächtliche Lichtzwang ist schon weg. Wir sind jetzt an den infantilen Identifikationssperrungen speziell homosexueller Natur. Ich bin gespannt, wie weit es gelingt. (Freud/Jung 1974, S. 167 f.)

Die Analyse erweist sich allerdings als Misserfolg; Jungs Version der Episode vermittelt davon einen lebhaften Eindruck: Vorgestern ist Groß in einem unbewachten Moment aus dem Hausgarten über die Mauer entflohen und wird zweifellos bald wieder in München auftauchen […]. Er lebt jetzt im Wahne, ich hätte ihn gesund gemacht, und hat mir bereits aus der Vogelfreiheit einen von Dank überströmenden Brief geschrieben. Er ahnt in seiner Ekstase nicht, wie die von ihm nie gesehene Realität sich an ihm rächen wird. (ebd., S. 173)

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Nach der Flucht von Gross wird die Diagnose Zwangsneurose korrigiert. Jung spricht jetzt nicht mehr von einem Zwang, sondern von einer Dementia Praecox, die er an dieser Stelle mit Freuds Paranoia gleichzusetzen scheint. Die nachträgliche Korrektur bietet Jung Gelegenheit, eine mögliche Schuld für das Scheitern der Therapie zurückzuweisen. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war auch Freud skeptisch, ob sich die paranoide Demenz erfolgreich therapieren ließe. Jung, der sich gern als Gross’ „Zwillingsbruder minus Dementia Praecox“ bezeichnet hat, schließt sich diesen Zweifeln an: „Die Hysterie“, heißt es nun, „ist Pompeji und Rom, die Dementia praecox nur Pompeji“ (ebd., S. 173). In diesem Vergleich, der nochmals auf Jensens Gradiva anspielt, drückt sich nicht nur Skepsis aus, ob aus den bruchstückhaften Kindheitserinnerungen von Paranoikern neue Städte erwachsen, ob Wahnkranke im Sinne Freuds zu therapieren wären. Rom steht für eine gelungene Heilung, die nach Jung bei der Hysterie, nicht aber bei der Dementia Praecox möglich ist. Die Therapierbarkeit kristallisiert sich zum entscheidenden Kontroverspunkt heraus. Gross’ fehlgeschlagener Behandlung besiegelt Jungs Versuche, die Paranoia psychoanalytisch zu erfassen und Freuds Konzept in den Klinikalltag zu integrieren. Gross’ Flucht hatte somit eine nahezu symbolische Bedeutung, auch wenn diese erst nachträglich formuliert und als solche gedeutet wird. Dass sich Freuds Wahnkonzept in Burghölzli nicht hat durchsetzen können, scheint jedoch nicht nur auf dessen literarische Genese zurückzuführen zu sein, wie man zunächst vermuten könnte. Anders als für Jung spielt die schöne Literatur für Freud, der kaum einen Fall von akuter Paranoia länger behandelt haben dürfte (Freud 1940, GW Bd. VIII S. 240), zwar eine wichtigere Rolle. Sie bot ihm die Möglichkeit, Krankheitsbilder zu extrapolieren und Zusammenhänge herzustellen, die sich aus klinischen Einzelfällen nicht rekonstruieren ließen. Letztlich haben sich jedoch die Inkompatibilität der Skripte, die Zeitökonomie und andere Faktoren als hinderlich für die Implementierung von Freuds Wahntheorie erwiesen. Jung verfügte über eine Anzahl an geeigneten Patienten. Ihm fehlte es aber offenbar an Zeit und Gelegenheit, ein psychoanalytisches Skript zu entwickeln und in den Klinikalltag zu integrieren. Blickt man auf die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft, lässt sich an dieser Stelle folgende Bilanz ziehen. Die Literatur hat für Freuds Paranoia eine epistemische Funktion, insofern sie einen Gegenstand, d.h. ein neues Wahnkonzept bzw. eine neue Wahntheorie aufscheinen lässt. Ihre „begriffstheoretische Präzisierung“ kann als wissenschaftliche Aufgabe verstanden werden (Anz 2003c, S. 192). Der Erfolg einer solchen Präzisierung hängt wiederum nicht nur von wissenschaftsimmanenten Faktoren ab, sondern, wie sich am Beispiel der Paranoia verdeutlichen ließ, von klinischen Praktiken, der verfügbaren Zeit, dem Patientenkollektiv,

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etablierten Kommunikations- und Repräsentationsstrategien, Erfassungsbögen und Erzählkonventionen.

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Yvonne Wübben

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Detlef Kremer

Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes I. Die Rhetorik des Unheimlichen Freud hat seinen verschiedenen Einlassungen auf ästhetische Gegenstände das Bekenntnis seiner Laienschaft auf diesem Gebiet vorangestellt. Dass er diese Bescheidenheitsgeste unter der Hand zumeist in eine Art Machtspruch zugunsten der Psychoanalyse verkehrt und den Künstler als „Bundesgenossen“ (Freud 1940, GW Bd. VII, S. 33) doch eher als eine Art Diener der großen Sache Psychoanalyse behandelt, sei hier schon einmal voraus geschickt. Ich folge Freud in seiner Geste der Bescheidenheit in umgekehrter Richtung und stelle unumwunden mein vorrangiges literaturwissenschaftliches Interesse heraus. Allerdings sollte meine Laienschaft in Fragen der Psychoanalyse nicht in eine vorschnelle Verabschiedung derselben aus dem Bereich des Ästhetischen führen. Vielmehr geht es mir um eine Überprüfung der Funktion psychoanalytischer Metaphern oder Motive im Rahmen eines psychosemiotisch inspirierten Modells der Wiederholungslektüre. Und wäre es nur das an der Psychoanalyse, was Jean Starobinski als „vagierende Aufmerksamkeit“ (Starobinski 1973, S. 103) und Thomas Anz als Aufmerksamkeit für „Irritationen, die von einzelnen Textdetails ausgehen“ (Anz 2002, S. 135), bezeichnet haben, so stünde die Bedeutung der Psychoanalyse für die Literaturwissenschaft außer Frage. 



Als Beispiel vgl. etwa Der Moses des Michelangelo in Freud 1940, GW Bd. X, S 172: „Ich schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie. Ich habe oft bemerkt, daß mich der Inhalt eines Kunstwerkes stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften, auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für viele Mittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich das richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um mir eine nachsichtige Beurteilung meines Versuches zu sichern.“ (Freuds Texte werden unter der Bandangabe nach dieser Ausgabe direkt im Text zitiert.) Die Formulierung findet sich zu Beginn der Studie über Wilhelm Jensens Gradiva und steht in folgendem Kontext: „Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.“ Dass dieses Lob nicht ganz uneingeschränkt stehen bleibt, zeigt der mit einem Ausrufungszeichen versehene Folgesatz: „Wäre diese Parteinahme der Dichter für die sinnvolle Natur der Träume nur unzweideutiger!“

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Detlef Kremer

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist Freuds berühmter Aufsatz über Das Unheimliche, in dessen Zentrum bekanntlich eine ausführliche Inhaltsangabe und psychoanalytische Interpretation von E.T.A. Hoffmanns nicht weniger berühmten Erzählung Der Sandmann stehen. In einem zweiten Durchgang möchte ich die Widerstände von Hoffmanns Text als einem – im emphatischen Sinn Friedrich Schlegels – „unverständlichen“ Text aufzeigen, der in seiner poetologischen Struktur entscheidende Sperren gegenüber diskursiven Übersetzungen oder Reduktionen enthält (vgl. Schlegel 1958, Bd. II, S. 363-372). In einem dritten Ausgriff schließlich sollen Perspektiven einer psychosemiotischen Lektüre entworfen werden, die psychoanalytische Metaphern als Spielsteine in einem komplexen Entzifferungsprozess führt. Freud leitet seinen Artikel ein, indem er mit einer gewissen Beiläufigkeit das Desinteresse des Psychoanalytikers gegenüber ästhetischen Fragen betont, um dann aber einen nicht näher erläuterten Zwang ins Feld zu führen, der rhetorisch als Zufälligkeit ausgeflaggt wird: Hie und da trifft es sich doch, daß er sich für ein bestimmtes Gebiet der Ästhetik interessieren muß, und dann ist dies gewöhnlich ein abseits liegendes, von der ästhetischen Fachliteratur vernachlässigtes. (Freud 1940, GW Bd. XII, S. 229)

Wo die „ästhetische Fachliteratur“ versagt hat, kann immerhin die „ärztlich-psychologische Literatur“ (ebd., S. 230) einen Vorgänger aufweisen: ein kleiner Artikel von Ernst Jentsch, Zur Psychologie des Unheimlichen, aus dem Jahr 1906. Von dessen Zentrierung des Unheimlichen um eine „intellektuelle Unsicherheit“ (ebd., S. 231) setzt Freud sich auffällig scharf ab. In einer rhetorischen Geste der Überlegenheit und Überbietung setzt er das Ergebnis seiner Ausführungen bereits an den Anfang: „Ich will gleich verraten“, dass „das Unheimliche […] jene Art des Schreckhaften“ ist, „welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“ (ebd., S. 231) Um der Semantik des Unheimlichen dichter auf die Spur zu kommen, deutet er den etymologischen Königsweg an, der im Mittelpunkt des ersten von drei Abschnitten steht. Vorher aber muss er noch die entscheidende Lücke bei Jentsch aufdecken, die seine raumgreifende etymologische Exkursion legitimiert. Dessen Beschränkung auf „intellektuelle Unsicherheit“ wird losgelöst vom Angsterfüllten und Bedrohlichen und damit zur Überbietung freigegeben. Mit einer weiteren Überlegenheitsformel („Wir haben es leicht zu urteilen, daß …“) wird die Gleichung „unheimlich = nicht vertraut“ (ebd., S. 231) als unzureichend zurückgewiesen. Freud verfolgt das implizite Interesse, das Gegensatzpaar ‚heimlich – unheimlich‘ 

Vgl. Freud 1940, GW Bd. XII, S. 229: „Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen, auch dann nicht, wenn man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt.“

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auf das psychoanalytische Haus/Heim der Seele zu beziehen, um zu beweisen, dass unheimlich dasjenige ist, was einmal heimisch war, dann aber von außerhalb des ‚eigenen Hauses‘ auf einen eindringt. Denn mit der Unterscheidung, unheimlich ist das, was nicht vertraut, nicht heimisch ist, gibt Freud sich nicht zufrieden. Indem er aber stillschweigend das Präfix „un“ durch „nicht mehr“ ersetzt, bereitet er den entscheidenden rhetorischen Schachzug vor, um das Unheimliche an die Verdrängungskonzeption anzukoppeln. Der Ausflug in fremdsprachliche Wörterbücher wird nach wenigen Zeilen abgebrochen: Weder ‚suspectus‘ noch ‚xeros‘, weder ‚gloomy‘ noch ‚sinistre‘ ergeben stützende Belege: „Kehren wir darum zur deutschen Sprache zurück.“ (ebd., S. 232) Das tut Freud dann ausgiebig anhand von Daniel Sanders Wörterbuch von 1860. Neben den zahllosen Verwendungsweisen von ‚heimlich‘ führt er auch einige wenige zu ‚unheimlich‘ auf, die jedoch mehrheitlich den semantischen Raum von ‚graulich‘ und ‚gespenstisch‘ öffnen. Einen einzigen Beleg isoliert Freud aus der Stellensammlung und baut darauf seine weitere Argumentation auf: „Unh. nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen … bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ (ebd., S. 235) Die Stelle entstammt Schellings Philosophie der Mythologie (1842), wo gegen Ende des Textes, im Zusammenhang antiker Mysterienkulte, das Orientalische als das Unheimliche des Griechischen behauptet wird. Diesen Zusammenhang nimmt Freud nicht zur Kenntnis, und er übergeht Sanders Zurückweisung dieser Etymologie, ohne näher darauf einzugehen oder es gar zu begründen. 





Julia Kristeva wandelt die Freud’sche Konzeption des Unheimlichen leicht ab, indem sie die Konfrontation mit dem – letztlich eigenen – Fremden in den Mittelpunkt rückt: „Angesichts des Fremden, den ich ablehne und mit dem ich mich identifiziere, beides zugleich, lösen sich meine fest gefügten Grenzen auf, meine Konturen zerfließen, Erinnerungen an Erlebnisse, in denen man mich fallengelassen hat, überfluten mich, ich verliere die Haltung. Ich fühle mich ‚verloren‘, ‚konfus‘. Die Varianten des Unheimlichen, der beunruhigenden Fremdheit sind vielfältig: alle wiederholen meine Schwierigkeit, mich im Verhältnis zum anderen zu situieren“ (Kristeva 1990, S. 203). Im Zusammenhang lautet die Stelle: „Gerade darum hat Griechenland einen Homer, weil es Mysterien hat, d.h. weil es ihm gelungen ist, jenes Princip der Vergangenheit, das in den orientalischen Systemen noch herrschend und äußerlich war, völlig zu besiegen und ins Innere, d.h. ins Geheimniß, ins Mysterium (aus dem es ja ursprünglich hervorgetreten war) zurückzusetzen. Der reine Himmel, der über den homerischen Gedichten schwebt, konnte sich erst über Griechenland ausspannen, nachdem die dunkle und verdunkelnde Gewalt jenes unheimlichen Princips (unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist) – jener Aether, der über Homeros Welt sich wölbt, konnte erst sich ausspannen, nachdem die Gewalt jenes unheimlichen Princips, das in den früheren Religionen herrschte, in dem Mysterium niedergeschlagen war […].“ (Schelling 1985, Bd. VI, S. 661). Vgl. zur Etymologie von ‚unheimlich‘ auch Masschelein 2005, die darauf hinweist, dass die ursprüngliche Bedeutung von ‚unheimlich‘ als ‚nicht vertraut‘ zunehmend von ‚grauenhaft‘ überlagert wurde (vgl. Masschelein 2005, S. 243).

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Im zweiten Abschnitt will Freud seinen Exkurs in die Etymologie durch Einzeluntersuchungen und Beispiele ergänzen. Er setzt wiederum bei Jentsch an, indem er dessen zentrales Beispiel, Verunsicherung und Verwirrung darüber, ob eine Figur lebendig oder tot sei, die Indifferenz von Automat und belebtem Körper, als unzureichend zurückweist. Bei Jentsch heißt es: Unter allen psychischen Unsicherheiten, die zur Entstehungsursache des Gefühls des Unheimlichen werden können, ist es ganz besonders eine, die eine ziemlich regelmässige, kräftige und sehr allgemeine Wirkung zu entfalten im Stande ist, nämlich der Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei, und zwar auch dann, wenn dieser Zweifel sich nur undeutlich im Bewusstsein bemerklich macht. (Jentsch 1906, S. 197)

Gegen Ende des ersten Teils seines Aufsatzes aus der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift konkretisiert Jentsch: Bekannt ist der unangenehme Eindruck, der bei manchen Menschen durch den Besuch von Wachsfigurencabinetten, Panopticis und Panoramen leicht entsteht. Es ist namentlich im Halbdunkel oft schwer, eine lebensgrosse Wachs- oder ähnliche Figur von einer Person zu unterscheiden. (ebd., S. 198)

Im zweiten Teil seines Aufsatzes wird Jentsch im Hinblick auf Hoffmann deutlicher, indem er die unheimliche Wirkung seiner Erzählungen darauf zurückführt, dass Hoffmann den Leser im Ungewissen darüber lässt, ob er in einer bestimmten Figur eine Person oder etwa einen Automaten vor sich habe, und zwar so, dass diese Unsicherheit nicht direct in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit tritt, damit er nicht veranlasst werde, die Sache sofort zu untersuchen und klarzustellen. (ebd., S. 203)

Da Jentsch seine These der Verunsicherung vor allem aus Erzählungen Hoffmanns zieht, liegt es nahe, dass Freud ebenfalls einen Umweg über Hoffmann geht, vor allem den Text vom Sandmann. Bevor er eine mehrseitige Nacherzählung der Handlung einfügt, stellt er, in Absetzung von Jentsch, klar, dass das Motiv der belebt scheinenden Puppe nicht das einzige unheimliche Motiv sei, ja nicht einmal das wichtigste. Er beschließt seine Inhaltsrekonstruktion mit einer rhetorischen Erledigung der UnsicherheitsThese à la Jentsch: „Es besteht wohl kein Zweifel“, so Freud, „wir wissen jetzt“, „es [ist] ja klar“, so Freud weiter, dass das Unheimliche sich auf die Angst bezieht, seiner Augen beraubt, das heißt kastriert zu werden: „Eine ‚intellektuelle Unsicherheit‘ kommt hier nicht mehr in Frage“ (Freud 1940, GW Bd. XII, S. 242). Dagegen steht die psychoanalytische „Zurückführung der Augenangst auf die Kastrationsangst“ (ebd., S. 243). Auf den hier angefügten, aber in eine Fußnote verlegten Anspruch, die „ursprüngliche Anordnung“ des Textes zu bestimmen, gehe ich später ein. 

Zum Komplex des Unheimlichen bei Freud vgl. auch Obermeit 1980; Weber 1981; Pietzcker 1984; Falkenberg 2005.

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Freud nimmt dann einen überraschenden Umweg über Hoffmanns Elixiere des Teufels, um die Motive des Doppelgängers und der Wiederholung in die Diskussion des Unheimlichen einzubeziehen. Er scheint allerdings mit seinen Beispielen nicht sonderlich zufrieden zu sein: nicht nur, dass er Hoffmann vorwirft, „zu viel Gleichartiges gehäuft“ (ebd., S. 246) zu haben, was dem Verständnis schade. Ohne Begründung verlässt er den eingeschlagenen Weg wieder („Nun, denke ich aber, ist es Zeit, uns von diesen immerhin schwierig zu beurteilenden Verhältnissen abzuwenden“, um „die endgültige Entscheidung über die Geltung unserer Annahme“ zu erhalten; ebd., S. 251). Indem er „Reste animistischer Seelentätigkeit“ für Wirkungen des Unheimlichen heranzieht und über eine Immunisierungsgeste, die Psychoanalyse sei, weil sie die verdrängten Reste zur Sprache bringt, ihren Gegnern selbst unheimlich geworden, endet der zweite Abschnitt mit einer Bestimmung des Unheimlichen, die, genau besehen, bedenklich nahe an die Ausführungen Jentschs zurückführt: „daß es nämlich oft und leicht unheimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird“ (ebd., S. 258). Genau auf die daraus resultierende Verunsicherung hatte ja Jentsch die Wirkung des Unheimlichen bezogen. Zu Beginn des dritten Abschnitts räumt Freud überraschender Weise den zentralen Vorbehalt gegenüber seiner These ein, dass nämlich nicht alles Wiederkehrende, ehemals Heimliche unheimlich wirkt. „Auch wollen wir“ – so führt er scheinbar ausgleichend fort – „es nicht verschweigen, daß sich fast zu jedem Beispiel, welches unseren Satz erweisen sollte, ein analoges finden läßt, das ihm widerspricht.“ (ebd., S. 259) Mit der Frage, ob nicht die „intellektuelle Unsicherheit“ doch stärker für das Unheimliche in Anschlag gebracht werden müsste, scheint er dann zu resignieren: „So müssen wir wohl bereit sein anzunehmen, daß für das Auftreten des unheimlichen Gefühls noch andere als die von uns vorangestellten stofflichen Bedingungen maßgebend sind.“ (ebd., S. 261) Und er könne sich eigentlich zufrieden geben, da das psychoanalytische Interesse am Unheimlichen erledigt sei: „der Rest erfordere wahrscheinlich eine ästhetische Untersuchung.“ (ebd., S. 261) Dieser Neigung gibt er jedoch entschieden nicht nach und will seine These retten, indem er zwischen real erfahrenen Gefühlen des Unheimlichen und fiktiven Bearbeitungen desselben scharf unterscheidet. Der Wegfall der Realitätsprüfung in der Literatur sei der entscheidende Differenzpunkt. Das gesperrt gedruckte Ergebnis, „daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete“ (ebd., S. 264), und umgekehrt, ist dann ja wesentlich weniger aufregend 

Vgl. Freud 1940, GW Bd. XII, S. 263: „Beim Unheimlichen aus infantilen Komplexen kommt die Frage der materiellen Realität gar nicht Betracht, die psychische Realität tritt an deren Stelle. Es handelt sich um wirkliche Verdrängung eines Inhalts und um die Wiederkehr des Verdrängten, nicht um die Aufhebung des Glaubens an die Realität dieses Inhalts.“

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als einige der vorangehenden Überlegungen. Vor allem müsste Freud sich die Frage stellen, warum er selbst den Umweg über fiktive Beispiele gewählt hat. Gegenüber den Dichtern bleibt letztlich „ein Gefühl der Unbefriedigung, eine Art von Groll über die versuchte Täuschung“ (ebd., S. 266), die in das merkwürdige Eingeständnis mündet: Wir sind auf dieses Gebiet der Forschung ohne rechte Absicht geführt worden, indem wir der Versuchung nachgaben, den Widerspruch gewisser Beispiele gegen unsere Ableitung des Unheimlichen aufzuklären. (ebd., S. 267)

II. Kastration oder verschobene Identitäten Im Zentrum von Freuds Lektüre des Sandmann steht die Behauptung einer verdrängten, sich aber traumatisch äußernden Kastrationsangst des männlichen Helden Nathanael. Hierzu entfaltet Freud einen – so der Titel eines Aufsatzes – Familienroman des Neurotikers (Freud VII, S. 227-231). Der doppelten Vaterfigur, der eigentliche Vater und der Advokat Coppelius, entspricht die Verdoppelung des Helden mit der Puppe Olimpia. Gerade im letzten Punkt verfährt Freuds Lektüre äußerst genau. Denn die verborgene narzisstische Identität von Nathanael und Olimpia legt der Text durch zwei exponierte Stellen nahe. Die erste Handlungsfolge spitzt sich zu, als Coppelius beim alchemistischen Experimentieren Nathanaels Augen bedroht und ihn als Automaten behandelt, indem er an seinen Extremitäten manipuliert. Dieser Moment markiert die phantastische Geburt der Puppe Olimpia aus dem Schrecken, der von dem versuchten symbolischen Augenraub herrührt. Der verborgene Kreis zwischen Olimpia und Nathanael schließt sich, als der Konstrukteur Spalanzani, im Streit mit dem zu Coppola verschobenen Coppelius, die herausgerissenen Augen des Automaten als diejenigen Nathanaels zu erkennen gibt: „die Augen – die Augen dir gestohlen“ (Hoffmann 1988, Bd. III, S. 45). Es scheint, als hätten seine symbolisch entwendeten Augen bereits in der Kindheit sein feminines Spiegelbild Olimpia erzeugt, deren Ende er selbst nur mit dem Tod bezahlen kann. Freud hat seinen – wie er sagt – „Beweis für die Identität von Olimpia und Nathaniel“ in eine Fußnote verschoben: Olimpia ist sozusagen ein von Nathaniel losgelöster Komplex, der ihm als Person entgegentritt; die Beherrschung durch diesen Komplex findet in der unsinnigen zwanghaften Liebe zur Olimpia ihren Ausdruck. Wir haben das Recht, diese Liebe eine narzißtische zu heißen. (Freud 1940, GW Bd. XII, S. 244 f.)

In psychoanalytischer Perspektive wird hier eine Eindeutigkeit evoziert, die in semiotischer Hinsicht keineswegs besteht. Nur „sozusagen“ kann man 

Warum Freud durchgängig darauf besteht, Hoffmanns Studenten Nathanael mit einem ‚i‘ zu schreiben, wird sein Geheimnis bleiben.

Freuds Aufsatz Das Unheimliche

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die Identität von Olimpia und Nathanael festschreiben, in semiotischer Hinsicht stellt sich die Beziehung beider Figuren ungleich komplizierter dar. Das gilt gleichermaßen auch für die von Freud so genannten Väterfiguren, die distinkte Kunstfiguren sind und dennoch merkwürdig miteinander zusammenhängen. Freud hat eine Konfiguration von gutem und bösem Vater behauptet. Einen Hinweis für diese Lesart findet er darin, dass Coppelius das Augenlicht Nathanaels bedroht, ihn also – in psychoanalytischer Übersetzung – kastrieren will, was nur die sofortige Intervention des guten Vaters verhindert. Der – so Freud – „Todeswunsch gegen den bösen Vater“ (ebd., S. 244) verschiebt sich dann nach den Regeln psychoanalytischer Übersetzung zum Tod des ‚guten‘ Vaters, der dem ‚bösen‘ Vater zugerechnet werden kann, damit – so müsste eigentlich die unbewusste Kalkulation aussehen – der Sohn endlich den Weg frei hat zur Mutter oder wenigstens zu Clara, seiner ‚reinen mütterlichen Geliebten‘. Der Sohn tut aber das Gegenteil, er verfällt seiner narzisstischen Imagination der ‚anderen‘, der dunklen Frau. Er verliert sich in den Abgründen der Automate Olimpia. Freuds Analyse bleibt solange plausibel, wie sie den Text nicht voreilig stillstellt. Letztlich läuft sie aber auf eine Reduktion des Textes hinaus. Das von Freud in der folgenden und folgenschweren Aussage gewählte Verb gibt die Richtung vor: „Wir würden es also wagen, das Unheimliche des Sandmanns auf die Angst des kindlichen Kastrationskomplexes zurückzuführen.“ (ebd., S. 245) Auch die modale Wendung und der Konjunktiv ändern nichts: Hoffmanns komplexer Text steht stramm, wenn der Kastrationskomplex zum Appell ruft. Wenn sich das Unheimliche des Sandmann über eine unbewusste Wirksamkeit der Kastrationsangst äußert, dann müsste das Vergnügen der Lektüre seinerseits über eine lustvolle und gleichzeitig schreckhafte Aktivierung des Kastrationskomplexes laufen. Eine solche Behauptung ist ebenso unbeweisbar wie unwiderlegbar. Ihre Zurückweisung würde sich von psychoanalytischer Seite unter Umständen dem Vorwurf erneuter oder weitergehender Verdrängung aussetzen. Ihr größtes Manko besteht allerdings in einer mangelhaften Fähigkeit zur Differenzierung. Ob König Oidipus oder Hamlet, ob der Sandmann oder Die Elixiere des Teufels, die über Jahrhunderte entfaltete Traditionsbildung besteht nicht in ihrer literarischen Spezifik, sondern, so Freud ausdrücklich, in der Persistenz der ödipalen Struktur.10 10 In diesem Sinn verteidigen Walter Schönau und Joachim Pfeiffer eine psychoanalytische Literaturwissenschaft gegen die „Kritik am Schematismus und an der Uniformität psychoanalytischer Interpretation“: „Die oft geäußerte Kritik am Schematismus und an der Uniformität psychoanalytischer Interpretation hat nur dann eine Berechtigung, wenn relevante Deutungsaspekte vernachlässigt werden, wenn etwa nur die ödipalen Phantasien herausgearbeitet werden und die oft darunter verborgenen präödipalen oder narzißtischen Vorstellungen übersehen werden und wenn der Unterschied zwischen therapeutischem und literarischem Diskurs nicht gebührend beachtet wird. Sonst ist der vermeintliche Schematismus nichts anderes als

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In der Traumdeutung heißt es über die Wirkungsmacht des Sophokleischen Dramas: Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Oidipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. (Freud 1940, GW Bd. II/III, S. 269)

Und genau in diesem recht unspezifischen Sinn ist Lektüre Wunscherfüllung unter Umgehung oder Aktivierung der Kastrationsangst, ganz gleich, ob Gegenstand der Lektüre der König Oidipus oder Der Sandmann ist. Am Ende seines kurzen Beitrags Der Dichter und das Phantasieren hat Freud die rein formal-ästhetische Lust als „Verlockungsprämie“ und „Vorlust“ bezeichnet und gegen die eigentliche, exklusiv psychologisch qualifizierbare Lust ausgespielt: Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust. Ich bin der Meinung, daß alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher Vorlust trägt, und daß der eigentliche Genuß des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig bei, daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen. (Freud 1940, GW Bd. VII, 223)11

Gegenüber der Freud’schen „Verlockungsprämie“ sind bereits des öfteren Vorbehalte angemeldet worden, die im wesentlichen eine Kritik an der dienenden Funktion des ästhetischen Textes betreffen.12 Ich kann das hier der Ausdruck einer gewissen Uniformität der Motivationen und des prototypischen Charakters vieler Phantasien, die sie allerdings erst für die Leser/innen relevant macht. Dann ist der beanstandete Schematismus nicht ein Defizit der Methode, sondern eine Eigenschaft des Gegenstandes.“ (Schönau/Pfeiffer 2003, S. 103 f.) 11 Vgl. Starobinski 1973, S. 98: „Es scheint, daß Freud diese Theorie von Kunst als einer kompensatorischen Befriedigung und fast als einer Notlösung nie aufgegeben hat.“ 12 Vgl. Altenhofer 1982, S. 231: „Freuds Vorlust-Konzeption ist, auch unter den Prämissen seiner eigenen Theorie betrachtet, in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend. Zum einen ist sie völlig leer im Hinblick auf die zentrale Frage, unter welchen Bedingungen ‚formale, d. h. ästhetische‘ Lust überhaupt möglich wird (Form und Sprache zu libidinösen Objekten werden können). Zum anderen bleibt unklar, wie der vermitteltere, von den realen Objekten entferntere Typus der Lust, nämlich der ästhetische, zum Wegbereiter der ‚größeren‘, tieferen Quellen entstammenden Lust werden und weshalb er offenbar nur in dieser Vehikelfunktion seine Existenzberechtigung finden kann. Schließlich muß die Frage gestellt werden, ob die Identifizierung der Vorlust mit der ästhetischen Lust nicht alle Kunstformen ignoriert, deren Telos nicht in der ‚Darstellung‘, sondern in der Arbeit am sprachlichen Material selbst

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übergehen, möchte aber, gewissermaßen als psychosemiotische Korrektur mit dem Anspruch größerer Differenzierung hinsichtlich verschiedener literarischer Texte, die bescheidene Frage stellen, ob der bis in unsere Gegenwart reichende Reiz und das Lektürevergnügen des Sandmann nicht in erster Linie mit seiner semiotischen Komplexität und Dichte sowie seiner unaufhebbaren Prozessstruktur und gleitenden Signifikation zu erklären wäre, in der sich die Identitäten ständig verschieben?13 Dass Hoffmanns Text gleichwohl ein erotisches Begehren thematisiert, liegt auf der Hand, ob aber die Lust der Lektüre vollständig mit dem Bereich des Sexuellen verknüpft ist, das sei immerhin bezweifelt. Es lag in Freuds Interesse, die Puppe Olimpia aus dem Zentrum zu rücken und dieses mit dem phantasmatischen Sandmann und dem symbolischen Augenraub zu besetzen. Ich möchte diese Bewegung ein Stück weit umkehren. Die Unheimlichkeit der Sandmänner bereitet nämlich die Unheimlichkeit Olimpias vor, die mit einem Frauentyp assoziiert ist, der wesentlich unheimlich ist. Als solcher steht er der „heimlichen“, d.h. „häuslichen“ und mütterlichen Frau gegenüber. Der weibliche Automat ist das unheimliche Gegenbild der Mutter und der Geliebten Clara. Erst in dieser Richtung erhält meines Erachtens Freuds Rede vom Unheimlichen als Verdrängung ihren vollen Sinn: Olimpia erscheint dann als Phantom eines verdrängten Bildes der verlockenden, dunklen Frau. Beim ersten Anblick der Olimpia wird dem Helden „ganz unheimlich“ (Hoffmann 1988, Bd. III, S. 25) und vor ihren seltsam starren Augen schleicht er sich verängstigt fort. Sie wird zum eigentlichen „Fantom“ (ebd., S. 23) von Nathanaels Ich, an ihr erweist sich seine Fähigkeit zur phantastischen Projektion, sie ist ganz Spieliegt, das heißt die gesamte hermetische und einen großen Teil der modernen Literatur. Freuds Vorlust-Begriff ist an eine Auffassung der künstlerischen Form gebunden, die eine klare Unterscheidbarkeit von Darstellung und Dargestelltem voraussetzt und damit schon zu Freuds Zeiten obsolet war. Er ist psychoanalytisch unbefriedigend, weil er keine Differenzierung der nach Epoche, Genre, Stillage, Autorpersönlichkeit variierenden affektiven Besetzung formaler und sprachlicher Elemente des literarischen Textes zuläßt.“ – Freuds Zurückhaltung, bisweilen Aversion gegenüber moderner Kunst ist kein Geheimnis. Er selbst hat sie wiederholt bekannt. Und in der Forschung ist sie häufig thematisiert worden, indem Freuds ‚Klassizismus‘ in einen Zusammenhang mit seiner Option auf den „geistigen Gehalt“ (Gombrich 1967, S. 512) gestellt wurde. Wenn Ernst Gombrich in einem Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel Freuds Ästhetik den Formaspekt hervorhebt, dann ergibt das nur scheinbar einen Widerspruch. Denn sein Formbegriff hat weniger die Form des Kunstwerks als die Form der unbewussten Phantasietätigkeit, am Beispiel des Witzes, im Blick. Mit einer Anspielung auf McLuhans – inzwischen zum geflügelten Wort avancierten – Diktum: ‚The Medium is the Message‘ stellt Gombrich klar: „Nur jene unbewußte Ideen, die der Realität der formalen Strukturen angepaßt werden können, werden mitteilbar. Und ihre Bedeutung für andere ergibt sich schließlich mehr aus der formalen Struktur als aus dem Gedanken. Das Zeichensystem bestimmt die Sendung.“ (Gombrich 1967, S. 521) 13 Vgl. Frank 1978, S. 352: „Es gibt im Sandmann ganze Bündel von metonymischen Beziehungen, was der Erzählung ihre einzigartige Atmosphäre von Dichte und Unentrinnbarkeit verleiht“. Vgl. auch Kremer 1993, S. 143-209.

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gelbild seiner erotischen Wünsche, die narzisstische schon aus dem Umstand sind, dass sie, Olimpia, im Gegensatz zu Clara, nicht widerspricht. Freud legt den Akzent seiner Analyse demgegenüber auf die Bedrohung, die von den Sandmännern ausgeht. Die Unheimlichkeit der Olimpia setzt er mit der Begründung herab, dass Hoffmann ins Mittel der Ironie und Satire verfallen sei, was, so Freud, der Wirkung des Unheimlichen abträglich sei.14 Er übersieht, dass der Gestus ironischer Distanzierung keineswegs auf die Olimpia-Episoden beschränkt ist. Bei aller Unheimlichkeit geht ein leicht ironischer Zug durch die gesamte Erzählung. Dieser setzt bereits mit den austauschbaren Erzählstrategien des Ich-Erzählers zu Beginn des Textes ein und pflanzt sich in einer durchgängigen Kontrastierung des bedrohlichen Grundtons mit ironischen Versatzstücken fort. Hoffmann verhindert damit auf der Ebene der Stillage eine Einlinigkeit, die schon sein zentrales Thema der Perspektivität der Wahrnehmung dementiert. Gerade auch der Augenblick des höchsten Grauens, der symbolische Augenraub an Nathanael, ist von Ironie durchzogen. Hoffmann durchbricht die unheimliche Atmosphäre des alchemistisch-esoterischen Werkelns, wenn Coppelius den kindlichen Schrecken unterläuft: „Mag denn der Junge die Augen behalten und sein Pensum flennen in der Welt; aber nun wollen wir doch den Mechanismus der Hände und der Füße recht observieren.“ (ebd., S. 17) Freud hat den ironischen Gestus der Erzählung vom Sandmann unterschätzt. Hinzu kommt, dass seine Analyse einige Lücken aufweist. Seine Unterscheidung vom guten und bösen Vater hat ein nicht zu übersehendes „Loch“: Die verschobene Identität der bösen Väter ist über ihre Homonymität abgesichert. Wie ist es aber um die Kontinuität des guten Vaters bestellt? Professor Spalanzani ist als solcher höchst unterbestimmt. Die mechanischen Ambitionen des ‚bösen‘ Vaters Coppelius zitiert er ebenso wie Coppola. Sie beide stehen in einer ähnlich ambivalenten Identitätsbeziehung wie Coppelius und der ‚gute‘ Vater, nur ist diese über die Opposition ‚Gut – Böse‘ nicht angemessen beschrieben. Spalanzani ist, um im Bilde zu bleiben, ebenso eine Variation auf den Vater wie auf Coppelius; sein ‚seltsames‘ Lächeln ordnet ihn zudem eher dem ‚bösen‘ Coppola zu, und wie er muss er nach dem misslungenen Experiment verschwinden. Vor allem ist es Spalanzani, der Nathanael die ausgerissenen Augen vor die Brust wirft und damit sein tödliches Schicksal einleitet. Dem ‚guten‘ Vater hätte er anschließend, in einem ersten Schub von Wahnsinn, auch kaum nach dem Leben getrachtet, wenn er doch dazu den ‚bösen‘ Vater projiziert hätte. Die griffige Differenz von gut und böse darf einen wesentlichen Aspekt nicht unterschlagen: Zwischen dem ‚bösen‘ und dem ‚guten‘ Vaterbild bestehen 14 Vgl. Freud 1940, GW Bd. XII, S. 238: „Es kommt dieser Wirkung auch nicht zustatten, daß die Olimpia-Episode vom Dichter selbst eine leise Wendung ins Satirische erfährt und von ihm zum Spott auf die Liebesüberschätzung von seiten des jungen Mannes genutzt wird.“

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vielfältige Überschneidungen, die ganz besonders im Widerschein des alchemistischen Verwandlungs-Feuers sichtbar werden. Auch diese Überschneidung nimmt Nathanael mit Schrecken war: Ach Gott! – wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herabbückte, da sah er ganz anders aus. Ein gräßlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. (ebd., S. 17)

Dass die Figuren gerade im Schein der Alchemie in metamorphotische Bewegung geraten, kann nicht verwundern, dient sie doch, wie andernorts die Kabbala, als selbstreferenter Spiegel des literarischen Textes, der zumal in Gestalt des unverständlichen, auf Wiederholungslektüre ausgelegten Textes jeder Lektüre Widerstände entgegenbringt, zumal einer reduktiven Lektüre. Hoffmann hat eine frühe Darstellung der Dr. Jekyll & Mr. Hyde-Phantasie Robert Louis Stevensons im Sinn gehabt, gleichzeitig aber Vorkehrungen getroffen, die eine einsinnige, psychoanalytisch einfach aufzulösenden Werwolf-Metapher verhindert. Die Opposition ‚Jekyll – Hyde‘ funktioniert semiotisch viel einfacher als das Figurenkarussell, mit dem Hoffmann die Grenzen zwischen Vater, Coppelius, Coppola und Spalanzani, zwischen Nathanael, Clara und Olimpia öffnet. Mittels weniger Details rückt Hoffmann sie eng zusammen, ohne sie jedoch zu identifizieren. Freuds Fazit seiner Sandmann-Analyse bedient sich der Vereindeutigung im Sinne der Tätersuche des Detektivromans: „Der Schluß der Erzählung macht es ja klar, daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist.“ (Freud 1940, GW Bd. XII, S. 242) Ja, aber erstens könnte man zu dieser Vereindeutigung bereits weit vor dem Ende der Erzählung geneigt sein, und zweitens ist der Satz genau so richtig, dass Coppola und Coppelius zwei verschiedene Figuren sind, die nur bisweilen identische Züge annehmen.

III. Übersetzung und Reduktion Nicht zufällig finden sich Ausführungen Freuds zu literarischen Texten bereits in der epochalen Traumdeutung von 1900. Und das hat seinen Grund vor allem darin, dass er literarische Texte, hier vor allem König Oidipus und Hamlet, in eine gewisse Analogie zu demjenigen Zeichenensemble rückt, das er ‚manifesten Trauminhalt‘ nennt. Die Rekonstruktion der latenten Traumgedanken stellt er dann ähnlich wie die Analyse eines literarischen Textes als Übersetzung eines unverständlichen in einen verständlichen Text dar. Zwar stellt Freud wiederholt klar, dass er diese analytische Übersetzung nicht im Sinne einer „Chiffriermethode“ (Freud 1940, GW Bd. II/ III, S. 102) verstanden wissen will, nach der unverständliche Signifikanten über ein Nachschlagen in einer Art emblematischen Traumbuch einsinnig

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in verständliche übertragen werden könnten. Er betont demgegenüber die grundsätzlich individuelle Zeichenlogik des Trauminhalts und vor allem den Stellenwert des je konkreten Zeichenzusammenhangs, also des Kontextes der Bilder bzw. Signifikanten des manifesten Traums. Mit der Konfrontation von Bild und Schriftzeichen sei immerhin kurz daran erinnert, dass die Sichtung und Sicherung des so genannten Trauminhalts bereits auf einer Übersetzung und sogar einem Medienwechsel beruhen. Trotz Freuds Zurückweisung der einsinnigen „Chiffriermethode“ hält er sowohl in der Traumanalyse wie in der psychoanalytischen Lektüre von literarischen Texten am Modell der Übersetzung fest (vgl. Kremer 2005, S. 115-118). Und Übersetzung meint eine Operation der Decodierung: Zunächst unverständliche Texte werden in verständliche übertragen. Bezogen auf den Sandmann: Ein unverständlicher Komplex von Perspektive, Blick und Augenverlust wird durch Übersetzung in Kastrationsangst verständlich, ein verwirrendes Spiel von verschobenen Figurenidentitäten, Coppelius und Coppola, Vater, Mutter, Clara und Olimpia, wird als Ödipuskomplex entwirrt und lesbar gemacht. Ich habe oben bereits kritisch auf das etwas eingeschränkte Arsenal an Bezugsgrößen verwiesen, das Freud zur Hand steht, wenn es darum geht, literarische Texte zu enträtseln oder, drastischer gesagt, auf psychoanalytische Größen zu reduzieren. Diese Problemlage erweist sich angesichts einer Literatur als besonders gravierend, die Unverständlichkeit zu ihrem ureigensten poetologischen Programm gemacht hat. Für dieses, exponiert auf der Jahrhundertschwelle 1800 von Friedrich Schlegel formulierte Programm ist kennzeichnend, dass Unverständlichkeit und Verständlichkeit nicht in einer Beziehung des wechselseitigen Ausschlusses stehen. Sie bilden vielmehr ein relationales Verhältnis, das wesentlich durch eine Unterbrechung von Referenz, d.h. durch Selbstreferenz induziert ist. Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit, Schlussstück und mithin gewissermaßen Testament des frühromantischen Athenäum-Projekts, skizziert Konturen eines Textes, dessen semiotisches und rhetorisches Potenzial so komplex ist, dass er erstens nicht auf den Begriff zu bringen ist und dessen Verständnis zweitens nur in einer unendlichen Annäherung, d.h. nie in Gänze gelingen kann. Tragende Funktionen weist er darin einem ausgeprägten allegorischen Anspielungsreichtum und einer intertextuellen Praxis zu, die über einer Verknappung und gleichzeitigen Multiplikation des Diskurses wacht, dergestalt dass jede Lektüre notwendig den entscheidenden Schritt zu spät kommt. Der im Sinne Schlegels unverständliche Text – und es dürfte klar sein, dass ein Großteil der von der germanistischen Literaturwissenschaft kanonisierten Texte der Romantik unter dieses Prädikat fallen – ist auf Wiederholungslektüre ausgelegt, und das heißt u.a.: Er beinhaltet Vorkehrungen, die eine reduktive Stillstellung des Textes wenn nicht verhindern können, dann immerhin dergestalt ins Leere laufen lassen, dass sie letztlich hoffnungslos unterkomplex bleibt.

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In den Fragmenten Zur Philologie aus dem Jahr 1797 operiert Schlegel wiederholt mit einem Begriff des „cyklischen“ bzw. „unendlich potenzirten Lesen[s]“ (Schlegel 1958, Bd. XVI, S. 67 und S. 39). Und an gleicher Stelle skizziert er bereits die Grundzüge dessen, was sehr viel später bei Roland Barthes „Wiederholungslektüre“ heißen wird: „Das künstliche Lesen besteht darin, daß man mit andern ließt, nämlich auch das Lesen andrer zu lesen sucht.“ (ebd., S. 309) Barthes nimmt diese Vorlage knapp 200 Jahre später in seiner Balzac-Lektüre S/Z auf, wenn er angesichts des ‚unverständlichen‘ Textes – er nennt ihn auch den „schreibbaren“ (Barthes 1987, S. 8) Text – warnt: „[W]er es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen“ (Barthes 1987, S. 20; vgl. auch Kremer 2004, S. 81-105). Und dann erscheinen in der Nacht der psychoanalytischen Textlektüre alle Katzen in einem ödipalen Grau. Von einer ähnlichen Position aus hat Derrida der „herkömmlichen Psychoanalyse der Literatur“ vorgehalten, „seit je den literarischen Signifikanten“ (Derrida 1974, S. 277) ausgeklammert zu haben. Bereits das einschränkende Epitheton „herkömmlich“ deutet aber an, dass die Psychoanalyse damit nicht verabschiedet ist, denn, so Derrida weiter, wir bewegen uns nach wie vor „in einem bestimmten Netz von Bedeutungen, die von der Psychoanalyse mitgeprägt wurden“ (ebd.). Darüber hinaus wäre es ja auch verwegen, die Geltung zentraler psychogener Motive in der Literatur zu leugnen, zumal derjenigen der Romantik, der ja nicht zu Unrecht ein „protopsychoanalytischer“ (vgl. Böhme 1981, S. 136) Status zuerkannt wurde. Ob – um nur einige zu nennen – Hoffmanns Sandmann oder Nußknacker und Mausekönig, ob Arnims Isabella von Ägypten oder Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl: Sie alle sind inzestuös, ödipal, narzisstisch oder wie immer durch psychogene Traumata tingiert. Eine psychosemiotische Lektüre ist jedoch gehalten, die psychoanalytischen Motive (Kastration, Phallus, Ödipus etc.) als Spuren in einem komplexen Zeichenspiel zu handhaben, die in sich selbst gebrochen sind, von anderen Spuren und Schichten und einer medialen und skripturalen Selbstreflexion überlagert werden. Und diese kann nur gelingen, wenn sie sich in einer rekursiven Geste öffnet, sich selbst als wiederholte Lektüre in Bewegung hält und eher auf Multiplikation als auf Verknappung setzt. Das Unheimliche des Sandmann auf den „kindlichen Kastrationskomplex zurückzuführen“, wie Freud dies tut, greift in literaturwissenschaftlicher Perspektive jedenfalls zu kurz.

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Clavis Scientiae Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse als Schlüsselroman Unter den großen Fallstudien Sigmund Freuds, der Dora-Analyse, der Geschichte des „kleinen Hans“, der des „Rattenmannes“, dem Schreber-Fall und der Fallgeschichte des „Wolfsmannes“, ist der „Fall Dora“, der übertitelt ist Bruchstück einer Hysterie-Analyse die älteste. In einer ersten Version schrieb Freud die Studie im Januar 1901, nachdem er Dora, die eigentlich Ida Bauer hieß, drei Monate lang analysiert hatte. Von ihm publiziert wurde der Text erst vier Jahre später 1905, vier Jahre vor den Veröffentlichungen zum „kleinen Hans“ und zum „Rattenmann“, sechs Jahre vor dem Schreber-Fall und 13 Jahre vor der Studie zum „Wolfsmann“. (vgl. Freud 1989a, S. 93, Fußnote 1) Das Bruchstück einer Hysterie-Analyse ist die einzige dieser großen Freud’schen Studien, die sich mit einer Patientin beschäftigt – und es ist zweifellos die Fallstudie, welche die meisten Sekundärstudien provoziert hat. Seit den siebziger Jahren fungierte der Fall Dora als Probier- und Wetzstein für feministische Revisionen der orthodoxen Psychoanalyse; es liegt überdies eine Fülle von Studien vor – die Literatur zum Bruchstück einer Hysterie-Analyse ist fast unüberschaubar –, die Freuds Text etwa im Hinblick auf die Theoriegeschichte der Psychoanalyse, im Hinblick auf die Behandlungstechnik, die Hysterie-Diskussion oder auch in Bezug auf seine textuelle Verfasstheit thematisieren. Etabliert doch Freud mit dieser Fallgeschichte ein literarisches Genre, dessen multiperspektivischer analytischer Zugriff den literarischen Techniken der Avantgarde, der Klassischen Moderne parallelisiert werden kann – aufgrund der Verabschiedung traditionell linearer Narrative und einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Steven Marcus vergleicht Freuds Bruchstück mit dem Blick auf formale Innovationen und Techniken multidimensionaler Repräsentation mit Erzählungen und Romanen von Jorge Luis Borges und Vladimir Nabokov und zeigt, wie der ‚unreliable narrator‘, den Freud (re)präsentiert, zum Protagonisten der Studie wird, die so ambig und heterogen angelegt sei wie die Literatur des 

Als weitere Titel seien genannt: Rieff 1959; Bernheimer/Kahane 1990; Cohen 1986; Decker 1991; Kanzer/Glenn 1980; King 1995; Küchenhoff 1999; Lehman 1995; McCaffrey 1984; Moi 1981; Weissberg 2002.

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‚modernism‘, zu der Freud, der eher ‚novelist‘ als ‚analyst‘ sei, in Beziehung gesetzt werden müsse. Im Folgenden soll eine Fragestellung fokussiert werden, die an die von Marcus (aber auch beispielsweise von Neil Hertz in Dora’s Secrets, Freud’s Techniques) aufgebrachten Fragen nach der textuellen Verfasstheit des Bruchstücks anschließt und sie spezifiziert. Thematisiert wird einer der Genreverweise unter den vielen Genreverweisen des Bruchstücks einer Hysterie-Analyse: der Genreverweis auf den Schlüsselroman. Dieser wird isoliert in den Blick genommen, auch wenn davon auszugehen ist, dass die irisierende Strahlkraft von Freuds erster großer Fallstudie auch damit zu tun hat, dass sie Negotiationen verschiedener Genres präsentiert, ja, dass das Bruchstück eine ungewöhnliche Fülle von Genres ins Spiel bringt, zu denen es sich effektvoll in Beziehung setzt. Diese verschiedenen Genres operieren mit je verschiedenen, sich durchaus auch widersprechenden Lektüreanweisungen – und verwickeln den Leser in ein prekäres Lektürespiel. Nun ist die ‚Multigenerativität‘ des Freud’schen Textes, seine GenreHybridiät, nichts, was als ungewöhnlich anzusehen wäre. Wir haben es bei Genres prinzipiell nicht mit ‚Urtypen‘ zu tun, die uns ‚rein‘ entgegentreten: Vielmehr ist einerseits die konstitutive Historizität von Genres und andererseits ihre konstitutive Hybridität zu konstatieren. Genres wandeln sich in und mit der Zeit, figurieren nicht als transhistorische Größen. Insofern lassen sich Aussagen über Genres prinzipiell nicht en général statuieren, in den Blick kommen muss stets der spezifische historische Ort und die spezifische Ausgestaltung eines Genre-Texts. Genre-Konventionen sind mithin sehr viel ‚fluider‘ als häufig angenommen. Mit Steve Neale lässt sich konstatieren: „[T]he repertoire of generic conventions [...] is always in play rather than simply being re-played.“ Jeder Text bezieht sich auf Genre-Konventionen, die sich selbst in einem vielfach vermittelten kulturellen Prozess herausgebildet haben, schreibt sie aber gleichzeitig um, modifiziert und konstruiert sie. Das Genre (von dem oft angenommen wird, dass es dem ihm zugerechneten Text vorgängig ist), ist also immer ein Effekt jener Texte, in denen es zur Darstellung kommt. In Texten konkretisieren sich also Genres, und die Texte gestalten, modifizieren diese. Das Verhältnis von Einzeltext und Genre ist mithin durchaus kompliziert. Kompliziert auch deshalb, weil die Texte, die Genres gestalten, nie mit den Konventionen eines einzelnen Genres operieren, sondern immer mit einem (kleineren oder größeren) Bündel von Mustern diverser Genres.  

Vgl. Marcus 1993, S. 46-59. Titel, die sich generell mit der ‚literarischen‘ Seite der Freud’schen Texte befassen, sind: Ginzburg 1980; Lydenberg 1997; Mahoney 1982; Muschg 1975; Schönau 1968; van het Reve 1994. Neale 2000, S. 219 (Hervorhebungen durch Neale). Neales Befund zielt auf Filmgenres, trifft aber generell auf Genres zu, auch auf literarische.

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Nicht das Genre geht also der Genre-Hybridisierung voraus; ‚vorgängig‘ ist vielmehr die Genre-Hybride – und die Fixierung einzelner Genres setzt eine simplifizierende Lektüre einer Konstellation voraus, die immer schon die Einzelgenres transgrediert. Wenn aber auch die ‚Multigenerativität‘, die Genre-Hybridität des Freud’schen Textes, des Bruchstücks einer Hysterie-Analyse, nichts eigentlich Ungewöhnliches ist, heißt das nicht, dass genrespezifisch nichts Bemerkenswertes an der Studie sei. Was besonders, was bemerkenswert ist, ist die Offensivität, mit der sich die Studie als Genre-Amalgam präsentiert. Angeführt seien nur einige der Genrezuschreibungen, die der Text dezidiert verhandelt: Fallgeschichte (Kranken- und Behandlungsgeschichte), Fragment (Bruchstück), Novelle, Roman, Fantasiestück, Detective Story, Courtroom Drama, Appendix (Anhang eines vorangegangenen Buches: der Traumdeutung), Schlüsselroman. Manche dieser Genrezuschreibungen werden emphatisch vorgenommen. So reklamiert der Text beispielsweise das Etikett „Krankenund Behandlungsgeschichte“, das Label ‚Fallgeschichte‘ für sich; er kokettiert mit der Nähe zwischen Arzt und Detektiv, zwischen psychoanalytischer Studie und Detective Story und ist obsessiv mit seinem Status als Fragment befasst. Andere Genres scheinen nur ins Spiel gebracht zu werden, um dezidiert durchgestrichen und verworfen zu werden – wie das des Schlüsselromans, auf das im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt sei. Ausgerechnet zu dieser Rezeption des Bruchstücks als Schlüsselroman äußert sich Freud in seinem Vorwort wenig freundlich: Ich weiß, daß es – in dieser Stadt wenigstens – viele Ärzte gibt, die – ekelhaft genug – eine solche Krankengeschichte nicht als einen Beitrag zur Psychopathologie der Neurose, sondern als einen zu ihrer Belustigung bestimmten Schlüsselroman lesen wollen. Dieser Gattung von Lesern gebe ich die Versicherung, daß alle meine etwa später mitzuteilenden Krankengeschichten durch ähnliche Garantien des Geheimnisses vor ihrem Scharfsinn behütet sein werden, obwohl meine Verfügung über mein Material durch diesen Vorsatz eine ganz außerordentliche Einschränkung erfahren muß. (Freud 1989a, S. 88 f.)

Nun operiert Freud, wenn er etwa die Identität seiner Patientin Ida Bauer mit dem Decknamen Dora verschleiert – und andere Couvrierungen und Verschiebungen vornimmt –, dezidiert mit Verschlüsselung, mit Chiffrierung. Er setzt also auf die Schlüsselroman-Strategie, welche die folgende ist: Eine ‚wirkliche‘, eine ‚faktische‘ Konstellation wird permutiert und transponiert – und das auf eine Weise, dass der Text auf sein Chiffriert-Sein und die Mög 

Vgl. zu dem Verhältnis von Genre und Text Liebrand/Steiner 2004. Das Fragment kann in diesem Zusammenhang als Genre, wie es etwa die Frühromantik popularisiert hat, begriffen werden. Auf seinen Fragmentstatus verweist das Bruchstück durch eben diesen Titel. Zum frühromantischen Konzept des Fragments und seiner Ästhetik vgl. Fromm 2000.

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lichkeit der Dechiffrierung verweist. Wie passgenau Freud mit dem Prinzip der Verschlüsselung operiert, ist ja auch etwa daran abzulesen, dass die Dechiffrierung Dora = Ida Bauer gelang. Freud arbeitet offensichtlich mit ähnlichen oder denselben Techniken wie die Verfasser von Schlüsselromanen: Er gibt beispielsweise vorkommenden Personen andere Namen, sorgt aber zugleich dafür, dass sich Hinweise finden, welche reale Referenzfigur gemeint sein könnte. Leser also, die „eine solche Krankengeschichte [...] als einen zu ihrer Belustigung bestimmten Schlüsselroman lesen wollen“ (ebd., S. 88), sind mithin gerade Rezipienten, die das ‚Prinzip Schlüssel‘ verstanden haben – und deshalb das Spiel des Autors mitspielen. Fallgeschichte und Schlüsselroman teilen ihren Grad an Referentialisierung, ihren sehr dezidierten Rekurs auf ‚Wirklichkeit‘; einen Rekurs, den sie ausstellen, den sie in einem zweiten Schritt aber – aus Dezenzgründen – verhüllen. Ein Lektüreverhalten nun, das seine – nach Schlüsselromanvorgaben chiffrierte – Fallgeschichte als roman à clef auffasst, nennt Freud freilich „ekelhaft genug“. (ebd., S. 88) Von Ekel aber ist im Bruchstück einer HysterieAnalyse bekanntlich nicht nur im gerade zitierten Vorwort, sondern auch bei der Rekonstruktion von Doras Krankengeschichte die Rede. Die vierzehnjährige Dora wird vom Freund ihres Vaters, Herrn K., in seinen „Geschäftsladen“ bestellt, in dem er sich allein aufhält. Er preßte [...] plötzlich das Mädchen an sich und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Das war wohl die Situation, um bei einem 14jährigen unberührten Mädchen eine deutliche Empfindung sexueller Erregtheit hervorzurufen. Dora empfand aber in diesem Moment einen heftigen Ekel, riß sich los und eilte an dem Manne vorbei zur Treppe und von dort zum Haustor. (ebd., S. 105)

Am Beispiel dieser Reaktion nun führt Freud die ‚Überdeterminiertheit‘ der Empfindung Ekel vor; er klassifiziert Doras Reaktion als nicht normal, als hysterisch, argumentiert mit einer krankhaften Affektverkehrung: Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterika halten, ob sie nun somatische Symptome zu erzeugen fähig sei oder nicht. [...] Der Fall unserer Patientin Dora ist durch die Hervorhebung der Affektverkehrung noch nicht genügend charakterisiert; man muß außerdem sagen, hier hat eine Verschiebung der Empfindung stattgefunden. Anstatt der Genitalsensation, die bei einem gesunden Mädchen unter solchen Umständen gewiß nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr die Unlustempfindung ein, welche dem Schleimhauttrakt des Einganges in den Verdauungskanal zugehört, der Ekel. (ebd., S. 106, Hervorhebung im Original)

Doras Ekel – so Freuds Analyse – ist ein Wechsel für das spontane, verschobene und verkehrte Gefühl der Lust; er referiert gewissermaßen auf sein Gegenteil: die Begierde. Wenden wir diese Argumentationsfigur auf die Schlüsselroman-Invektive des Vorworts an, lesen wir Freud mit und 

Zu den Strategien des Schlüsselromans vgl. auch Rösch 2004.

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gegen Freud, dann wäre auch der Ekel, den die Instanz äußert, die die Übereinkunft (erzähltheoretisch nicht ganz ‚up to date‘) mit Freud bezeichnet, eine Affektverkehrung, würde dieser Ekel die Lust verdecken und die Lust couvrieren, mit der der Autor seinen Roman-à-clef-Lesern gegenübertritt, die das Spiel, das er mit ihnen spielt, begriffen haben. Transkribiert werden müsste die Passage dann folgendermaßen: „Wenigstens“, oder genauer: „Gott sei dank! gibt es in Wien viele Ärzte, denen die Lektüre des Dora-Falls als Schlüsselroman Lust macht, Vergnügen bereitet.“ (vgl. Pagga 2003, S. 9) Diese mit Freud gegen Freud vorgenommene Umschrift rückt auch, was folgt, in ein opakes Licht – Freuds den Schlüsselromanlesern gegebene Versicherung, daß alle meine etwa später mitzuteilenden Krankengeschichten durch ähnliche Garantien des Geheimnisses vor ihrem Scharfsinn behütet sein werden, obwohl meine Verfügung über mein Material durch diesen Vorsatz eine ganz außerordentliche Einschränkung erfahren muß. (Freud 1905, S. 89)

Wie der Ekel sein Gegenteil meint, die Begierde, meint hier die Garantie, die Geheimnisse zu behüten, ihr Gegenteil: die Versicherung, die Geheimnisse preiszugeben. So wie wir wissen, wer sich hinter Dora verbirgt, wissen wir, um wen es sich etwa – es sei nur ein Beispiel herausgegriffen – beim „Wolfsmann“ handelt. Überdies ist die Ankündigung Freuds, er werde in Bezug auf die DoraFallgeschichte wie auf alle „etwa später mitzuteilenden Krankengeschichten“ die „Garantien des Geheimnisses“ vor dem Leserscharfsinn bewahren, schon insofern ein paradoxes Unterfangen, als die Freud’schen Fallgeschichten, ihre Konstruktion, ihre Rekonstruktion ein Unternehmen darstellt, das an Scharfsinn und an sophistication schwerlich übertroffen werden kann. Immer wieder führt Freud aus, dass es seine Strategie sei, „aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ‚refuse‘ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erfahren“ (Freud 1980a, S. 207). Nicht nur Scharfsinn, geradezu ein Übermaß an Scharfsinn zeichnet psychoanalytische Argumentationen aus (vgl. Börnchen 2007, S. 222-225). Freud formuliert: Gegen die Psychoanalyse erhebt sich […] der Vorwurf, daß sie einfache Verhältnisse in spitzfindiger Weise kompliziert, Geheimnisse und Probleme dort sieht, wo sie nicht existieren, und daß sie dies bewerkstelligt, indem sie kleine und nebensächliche Züge, wie man sie überall finden kann, übermäßig betont und zu Trägern der weitgehendsten und fremdartigsten Schlüsse erhebt. Vergeblich würden wir dagegen geltend machen, daß durch diese Abweisung so viele schlagende Analogien aufgehoben und feine Zusammenhänge zerrissen werden, die wir in diesem Falle aufzeigen können. Die Gegner werden sagen, diese Analogien und Zusammenhänge bestehen eben nicht, sondern werden von uns mit überflüssigem Scharfsinn in den Fall hineingetragen. (Freud 1923, S. 298 f.)

Wenn dieser Lobredner der Finessen und des Scharfsinns, der dezidiert darauf angewiesen ist, dass der Scharfsinn seiner Leser ausreicht, seinen

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Deutungskapriolen, die an sophistication ihresgleichen suchen, zu folgen, verspricht, spezielle Geheimnisse dem Scharfsinn dieser Leser vorzuenthalten, führt das geradewegs in die Aporie: Wenige Autoren sind auf Leser, die sich auf Scharfsinn einlassen und selbst scharfsinnig sind, auf Leser, die Geheimnisse als zu lösende Rätsel betrachten, so angewiesen wie Freud. Zudem gilt das, was der Diskursbegründer Freud im Bruchstück einer Hysterie-Analyse über den Gegenstand, von dem er handelt, den Geheimnissen der zu analysierenden Patienten konstatiert, auch in Bezug auf die Geheimnisse, die er selbst zu bewahren sucht. Im Bruchstück formuliert Freud: Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken, nicht durch den Zwang der Hypnose, sondern aus dem, was sie sagen und zeigen, ans Licht zu bringen, hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. (Freud 1905, S. 147 f.)

Wie sehr Freud selbst aus allen Poren der Verrat dringt, wie genau sich das, was Freud in Bezug auf seine Patientinnen und Patienten beobachtet, auch bei ihm finden lässt, könnte an Dutzenden Beispielen gezeigt werden. Angeführt sei (nur) ein Beispiel, das nicht ohne Charme ist. Den Text hindurch predigt Freud die Notwendigkeit, „sexuelle Beziehungen mit aller Freimütigkeit [zu] erörter[n], die Organe und Funktionen des Geschlechtslebens bei ihren richtigen Namen“ (ebd., S. 89) zu nennen. Geradezu gebetsmühlenartig kehrt er immer wieder zu diesem Sujet zurück: Man kann mit Mädchen und Frauen von allen sexuellen Dingen sprechen, ohne ihnen zu schaden und ohne sich in Verdacht zu bringen, wenn man erstens eine gewisse Art, es zu tun, annimmt, und zweitens, wenn man bei ihnen die Überzeugung erwecken kann, daß es unvermeidlich ist. Unter denselben Bedingungen erlaubt sich ja auch der Gynäkologe, sie allen möglichen Entblößungen zu unterziehen. Die beste Art, von den Dingen zu reden, ist die trockene und direkte; sie ist gleichzeitig von der Lüsternheit, mit welcher die nämlichen Themata in der „Gesellschaft“ behandelt werden und an die Mädchen wie Frauen sehr wohl gewöhnt sind, am weitesten entfernt. Ich gebe Organen wie Vorgängen ihre technischen Namen und teile dieselben mit, wo sie – die Namen – etwa unbekannt sind. „J’appelle un chat un chat.“ (ebd., S. 123, Hervorhebung im Original)

Jane Gallop hat darauf hingewiesen, wie unfreiwillig komisch diese Argumentation ist: Derjenige, der sich in Positur stellt, das Licht der sexuellen Aufklärung zu verbreiten – der nicht blumig und verstellt, sondern frank und frei von sexuellen Vorgängen sprechen will, der jeden Schatten von Zweideutigkeit und Lüsternheit vermeiden will, wechselt ins Französische und ins Metaphorische: chat, chatte ist eine vulgäre französische Bezeichnung für das weibliche Genitale. (vgl. Gallop 1990, S. 209) Nun rekurriert der Scharfsinn der Leser, in diesem Falle der Leserin Jane Gallop, die detektivische Anstrengung, mit der der Autor überführt wird, dezidiert auf das von Freud ausgesprochene Axiom. Dem Analytiker

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nachzuweisen, dass auch er sich verrät, wie sorgfältig er seine Geheimnisse (und die diese Geheimnisse öffnenden Schlüssel) auch zu verstecken versucht, ist ein genauso vergnügliches, zur ‚Belustigung‘ geeignetes Unterfangen, wie das Unternehmen, das mit auktorialer Gewalt installierte Verbot, den Text als Schlüsselroman zu lesen, zu verkehren: das Verbot als Gebot zu verstehen. Die Option, die Fallgeschichte als Schlüsselroman zu lesen, ist eine, auf die der Leser nicht einmal selbst kommen muss, sie wird ihm auf dem Silbertablett serviert – und er wäre weder scharfsinnig noch neugierig, mithin ohnehin überhaupt ungeeignet für die Lektüre des Bruchstücks, wenn er sich nicht an dieser Option versuchen würde. Die Intensität des Affektes, mit der Freud gegen die Leser wettert, die in ihrer Lektüre ein ‚falsches‘ Genre realisieren, den Schlüsselroman, ist vergleichbar mit der Intensität, mit der er sich dagegen verwahrt, seine Darstellung beute sexuell Anrüchiges aus. Es scheint fast so zu sein, dass der Schlüsselroman von Freud als Schlüssellochroman rekonzeptualisiert wird – ein voyeuristisches, quasi pornographisches Genre. Direkt nach der Attacke gegen die Roman-à-clef-Leser baut Freud an der Verteidigungsbastion, auf die er sich immer wieder zurückziehen wird (wie auch im bereits zitierten Falle „j’appelle un chat un chat“) und erklärt: Ich nehme einfach die Rechte des Gynäkologen – oder vielmehr sehr viel bescheidenere als diese – für mich in Anspruch und erkläre es als ein Anzeichen einer perversen und fremdartigen Lüsternheit, wenn jemand vermuten sollte, solche Gespräche seien ein gutes Mittel zur Aufreizung oder zur Befriedigung sexueller Gelüste. (Freud 1905, S  89)

Freud behauptet also, dass für ihn die Gespräche mit Dora kein gutes Mittel zur Befriedigung von Gelüsten, die auf das Sexuelle gerichtet sind, seien – und schilt (das ist sicher auch als Zugeständnis an den Viktorianismus seiner zeitgenössischen Leser aufzufassen) diejenigen, die solches vermuten, als pervers. Schon der erste Satz des Vorworts, in dem Freud in Aussicht stellt, dass er seine „in den Jahren 1895 und 1896 aufgestellten Behauptungen über die [stets sexuelle, C.L.] Pathogenese hysterischer Symptome“ (ebd., S. 87) mit Hilfe des Dora-Falls „erhärten“ wolle, versichert uns aber des Gegenteils: diese Fallgeschichte ist für Freud so wertvoll, weil sie dezidiert ein sexuelles Gelüst, ich transkribiere: ein Gelüst, das auf Sexualität gerichtet ist, befriedigt. Das Gelüst nämlich, die – ausschließlich – sexuelle Ätiologie der Neurosen aufzuzeigen. Und Freud sagt es nicht nur im ersten Satz seines Textes, er sagt es wieder und wieder – im Nachwort resümiert er noch einmal: Es lag mir auch daran [,] zu zeigen, daß die Sexualität nicht bloß als einmal auftretender deus ex machina irgendwo in das Getriebe der für die Hysterie charakteristischen Vorgänge eingreift, sondern daß sie die Triebkraft für jedes einzelne Symptom und für jede einzelne Äußerung eines Symptoms abgibt. Die Krankheitserscheinungen sind, geradezu gesagt, die Sexualbetätigung der Kranken. (ebd., S. 179, Hervorhebungen im Original)

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Jedes einzelne Symptom also, ja jede einzelne Äußerung eines Symptoms ist sexuell motiviert, dem Analytiker ist deshalb aufgegeben, jede einzelne Symptomäußerung als sexuell zu dechiffrieren. Wie die Krankheitserscheinungen gewissermaßen die Sexualbetätigung des Kranken sind, so sind die Dechiffrierbemühungen, die Heilungsversuche die Sexualbetätigung des Analytikers. Wie lustvoll es für den Analytiker Freud ist, ein Feuerwerk an sexuellen Interpretationen abzuschießen, sich einem Deutungsfuror zu überlassen, der allen von der Patientin erzählten Geschichten, allen Details einen sexuellen Haupt- oder zumindest Nebensinn entbirgt, macht schon die oberflächliche Lektüre des Bruchstücks einer Hysterie-Analyse deutlich. Freud ist mit Lust an der analytischen Arbeit; er ist berauscht davon, wie passgenau der Fall Dora in seine Hysterie-Theorie einzuordnen ist; er konstruiert den Fall Dora so, dass er exakt wie der Puzzle-Stein modelliert ist, den er in sein psychoanalytisches Theoriegebäude einpassen will. Wie eng wissenschaftliche, auch psychoanalytische Studien auf Sexuelles, auf Sexualforschung bezogen sind, hat Freud in seiner LeonardoStudie 1910 dann explizit ausgeführt. In Bezug auf den Ausnahmeforscher und -künstler der Renaissance konstatiert Freud in seiner Studie Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci: „Die Kühnheit und Unabhängigkeit seiner späteren wissenschaftlichen Forschung setzt die vom Vater ungehemmte infantile Sexualforschung voraus und setzt sie unter Abwendung vom Sexuellen fort.“ (Freud 1980b, S. 145) Leonardo wird auf eine Weise zum Stand-In für Freud, was letzterer zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf seinem Terrain in Angriff nimmt, macht ihm Leonardo zu Beginn der Neuzeit vor: Er glich [...] einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen. Er wagte es, den kühnen Satz auszusprechen, der doch die Rechtfertigung jeder freien Forschung enthält: Wer im Streit der Meinungen sich auf die Autorität beruft, der arbeitet mit seinem Gedächtnis, anstatt mit seinem Verstand. So wurde der erste moderne Naturforscher, und eine Fülle von Erkenntnissen und Ahnungen belohnte seinen Mut, seit den Zeiten der Griechen als der erste, nur auf Beobachtung und eigenes Urteil gestützt, an die Geheimnisse der Natur zu rühren. (ebd., S. 145, Hervorhebung im Original)

Freud sieht im Begehren, im Trieb zu wissen eine sublimierte Form der frühkindlichen Sexualforschung. Am Beispiel Leonardos zeigt er, wie dieser die frühkindliche Sexualforschung sublimiert, unter Änderung des Triebzieles die Triebenergie bewahrt. Ähnlich wäre der Wissenstrieb, dem sich Freud hingibt, zu beschreiben – wobei darüber gestritten werden kann, ob sein 

Die Änderung, die Umbesetzung des Triebzieles bleibt – so argumentiert Freud – bei Leonardo allerdings durchsichtig für das Sexuelle. Die Natur wird Leonardo zur Metapher für den Körper der Mutter. Die Obsession da Vincis für das Fliegen liest Freud als Metapher für das Interesse am Geschlechtsakt (vgl. Freud 1980b, S. 145-149).

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Projekt, die sexuelle Ätiologie aller Neurosen zu beweisen, das ursprüngliche Triebziel dezidiert verändert oder nicht doch weitestgehend beibehält. Im Zusammenhang der zitierten Absichtserklärung im Nachwort, es sei ihm darum gegangen, „zu zeigen, daß die Sexualität nicht bloß als einmal auftretender deus ex machina irgendwo in das Getriebe der für die Hysterie charakteristischen Vorgänge eingreift, sondern daß sie die Triebkraft für jedes einzelne Symptom und für jede einzelne Äußerung eines Symptoms abgibt“ und dass die Krankheitserscheinungen „die Sexualbetätigung der Kranken“ (Freud 1905, S. 179) seien, weist Freud auf das generelle Problem jeder Fallgeschichte hin: Ein einzelner Fall wird niemals imstande sein, einen so allgemeinen Satz [dass die Krankheitserscheinungen die „Sexualbetätigung der Kranken“ seien, C.L.] zu erweisen, aber ich kann es nur immer wieder von neuem wiederholen, weil ich es niemals anders finde, daß die Sexualität der Schlüssel zum Problem der Psychoneurosen wie der Neurosen überhaupt ist. Wer ihn verschmäht, wird niemals aufzuschließen imstande sein. (ebd., S. 179)

Wenn aber die „Sexualität der Schlüssel zum Problem der Psychoneurosen wie der Neurosen überhaupt ist“, dann ist das Bruchstück einer Hysterie-Analyse ein Text, der von diesem Schlüssel, der von Sexualität, handelt – überdies ist es ein Text, der (wie Freud behauptet: aus Gründen der Dezenz) mit Gestaltungsmitteln der Fiktionalität, mit romanhaften Strategien umgeht. Als habe er sich bei Goethe die Technik abgeschaut („Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter“, heißt es im ersten Satz der Wahlverwandtschaften; Goethe 2006, S. 271), referiert Freud auf „[u]nsere Patientin, der ich fortan ihren Namen Dora geben will“ (Freud 1989a, S. 99). Das Bruchstück einer Hysterie-Analyse handelt vom Schlüssel Sexualität – und es operiert mit den Inszenierungen des Fiktionalen, als sei es ein Roman: ein Schlüsselroman. Und das Bruchstück – das Konzept des Schlüsselromans, wie es sich in der Fallgeschichte darstellt, ist dezidiert überdeterminiert – lässt sich auch deshalb als roman à clef konzeptualisieren, weil Freud umständlich auf den Clavis verweist, mit dem sich der Leser zunächst zu beschäftigen hat, bevor es für ihn Sinn macht, das Bruchstück einer Hysterie-Analyse zu lesen – die Fallgeschichte, die des Schlüssels, des Clavis, bedarf und die deshalb eine Schlüsselgeschichte, ein Schlüsselroman, ist. Freud führt aus: Ich habe nicht ohne gute Gründe im Jahre 1900 eine mühselige und tief eindringende Studie über den Traum meinen beabsichtigten Publikationen zur Psychologie der Neurosen vorausgeschickt, allerdings auch aus deren Aufnahme ersehen können, ein wie unzureichendes Verständnis derzeit noch die Fachgenossen solchen Bemühungen entgegenbringen. In diesem Falle war auch der Einwand nicht stichhaltig, daß meine Aufstellungen wegen Zurückhaltung des Materials eine auf Nachprüfung gegründete Überzeugung nicht gewinnen lassen, denn seine eigenen Träume kann jedermann zur analytischen Untersuchung heranziehen, und die Technik der Traumdeutung ist nach den von mir gegebenen Anweisungen und Beispielen leicht zu

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erlernen. Ich muß heute wie damals behaupten, daß die Vertiefung in die Probleme des Traumes eine unerläßliche Vorbedingung für das Verständnis der psychischen Vorgänge bei der Hysterie und den anderen Psychoneurosen ist und daß niemand Aussicht hat, auf diesem Gebiete auch nur einige Schritte weit vorzudringen, der sich jene vorbereitende Arbeit ersparen will. Da also diese Krankengeschichte die Kenntnis der Traumdeutung voraussetzt, wird ihre Lektüre für jedermann höchst unbefriedigend ausfallen, bei dem solche Voraussetzung nicht zutrifft. (ebd., S. 90)

Die Traumdeutung ist also der Clavis für die Fallgeschichte Dora, die dieses Traumdeutungsschlüssels bedarf, um verständlich zu sein, und die deshalb eine Schlüsselgeschichte, ein Schlüsselroman, ist – einerseits. Andererseits desavouiert die Fallgeschichte Dora das ‚Prinzip Schlüssel‘. Dem in die Regeln der Traumdeutung nicht eingeweihten Leser verspricht Freud Frustration: Er wird nur Befremden anstatt der gesuchten Aufklärung in ihr finden und gewiß geneigt sein, die Ursache dieses Befremdens auf den für phantastisch erklärten Autor zu projizieren. In Wirklichkeit haftet solches Befremden an den Erscheinungen der Neurose selbst; es wird dort nur durch unsere ärztliche Gewöhnung verdeckt und kommt beim Erklärungsversuch wieder zum Vorschein. Gänzlich zu bannen wäre es ja nur, wenn es gelänge, die Neurose restlos von Momenten, die uns bereits bekannt geworden sind, abzuleiten. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß wir im Gegenteil aus dem Studium der Neurose den Antrieb empfangen werden, sehr vieles Neue anzunehmen, was dann allmählich Gegenstand sicherer Erkenntnis werden kann. Das Neue hat aber immer Befremden und Widerstand erregt. (ebd., S. 90 f.)

Der nicht mit dem Schlüssel Traumdeutung ausgestattete Leser wird auf die Bruchstück-Lektüre also mit Befremden reagieren, [z]ugleich wird aber betont, dass die „Erscheinung der Neurose selbst“, um deren Aufklärung es in der Fallgeschichte ja geht, immer Befremden hervorrufe. Dieses Befremden sei normalerweise durch die „ärztliche Gewöhnung verdeckt“ und komme gerade „beim Erklärungsversuch wieder zum Vorschein“. ‚Befremden‘ wird sogar zur Grundbedingung jeder neuen Entdeckung erklärt: ‚Das Neue hat [...] immer Befremden [...] erregt.‘ / Der ‚Erklärungsversuch‘, mithin die ‚Aufklärung‘ der Neurose führt also zu einem Gefühl des Befremdens beziehungsweise bringt dieses Gefühl erst hervor. Liest man also die Fallgeschichte, findet man in jedem Fall ‚Befremden‘: entweder weil man sie nicht versteht (weil man kein eingeweihter Leser ist) – oder weil man sie versteht (weil sie einem Aufklärung verschafft). Zunächst werden ‚Befremden‘ und ‚Aufklärung‘ als Gegensatzpaar etabliert, dann wird Befremden zur notwendigen Bedingung von Aufklärung erklärt und so der Gegensatz eingeebnet. Gemäß der Freud’schen Argumentation muss man den Autor also in jedem Fall für ‚phantastisch‘ erklären – und damit auch die von ihm erzählte Geschichte. (Pagga 2003, S. 7)

Der Clavis Traumdeutung schließt die Fallgeschichte vielleicht auf, aber Befremden nicht aus. Wir haben es mit einem eigenartigen Schlüssel zu tun, auf den wir verwiesen werden; die Kenntnis der „mühselige[n] und tief eindringende[n] Studie über den Traum“ (Freud 1905, S. 90) verspricht Aufklärung und Befremden gleichermaßen: Das ‚Prinzip Schlüssel‘ wird in

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ein prekäres Zwielicht gerückt – auch wenn der Fall ganz ‚glatt‘ aufgeht. In einem Brief an Fließ schreibt Freud am 14.10.1900: [I]ch selbst schreibe den Traum [die Abhandlung Über den Traum, 1901] ohne rechten Genuß und werde Professor auf dem Wege der Zerstreutheit, während ich Material für die Alltagspsychologie sammle. Die Zeit war belebt, hat auch wieder einen neuen und für die vorhandene Sammlung von Dietrichen glatt aufgehenden Fall eines 18jährigen Mädchens gebracht. (Freud 1986, S. 469; zitiert nach King 1995, S. 235)

Freud hat also nicht nur Schlüssel zur Verfügung, sondern sogar Dietriche, die eigentlich ja Einbrecher benutzen, welche sich unrechtmäßig Zugang verschaffen, welche Türen aufschließen, deren Öffnung durch sie nicht vorgesehen ist. Der Schlüsselroman rekurriert also auch auf einen sehr speziellen ‚Schlüssel‘ – der Schlüsselroman ist auch ein Dietrich-, ein Einbrecherroman. Das Bruchstück hindurch geht es Freud nicht nur metaphorisch darum, Geheimnisse aufzuschließen, die Türen zu bislang Verborgenem zu öffnen; ganz literaliter spielen Schlüssel, deren symbolische (Be-)Deutung Freud stets schnell bei der Hand hat, eine Rolle. Im Zusammenhang mit ihrem zweiten Traum erzählt Dora ein häusliches Ereignis, das Freud wie folgt zusammenfasst: Gestern abends nach der Gesellschaft bat sie der Vater, ihm den Cognac zu holen; er schlafe nicht, wenn er nicht vorher Cognac getrunken. Sie verlangte den Schlüssel zum Speisekasten von der Mutter, aber die war in ein Gespräch verwickelt und gab ihr keine Antwort, bis sie mit der ungeduldigen Übertreibung herausfuhr: Jetzt habe ich dich schon hundertmal gefragt, wo der Schlüssel ist. [...] Wo ist der Schlüssel? Scheint mir das männliche Gegenstück zur Frage: Wo ist die Schachtel? [...] Es sind also Fragen – nach den Genitalien. (Freud 1989a, S. 164 f., Hervorhebungen im Original)

Auch im Gespräch über ihren ersten Traum teilt Dora Freud einen Tagesrest mit, in dem es um ein Schlüsselproblem geht. Dora ist bei der Familie K. zu Besuch und erwacht nach einem nachmittäglichen Schlaf auf dem Sofa. Herr K., ein Freund ihres Vaters, der ihr nachstellt, steht vor ihr. Dora führt aus: Ich stellte ihn zur Rede, was er hier zu suchen habe. Er gab zur Antwort, er lasse sich nicht abhalten, in sein Schlafzimmer zu gehen, wann er wolle; übrigens habe er etwas holen wollen. Dadurch vorsichtig gemacht, habe ich Frau K. gefragt, ob denn kein Schlüssel zum Schlafzimmer existiert, und habe mich am nächsten Morgen (am zweiten Tag) zur Toilette eingeschlossen. Als ich mich dann nachmittags einschließen wollte, um mich wieder aufs Sofa zu legen, fehlte der Schlüssel. Ich bin überzeugt, Herr K. hatte ihn beseitigt. (ebd., S. 138)



Der Schlüsselroman fungiert als sexueller Roman, als Roman über „the king member indeed“ – „das liebe Glied selbst“, wie es im ersten bürgerlichen pornographischen Roman Memoirs of a Woman of Pleasure [Fanny Hill] heißt (engl.: Cleland 1991, S. 133; dt.: Cleland 1974, S. 163).

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Freud äußert sich zum Thema vom Verschließen oder Nichtverschließen des Zimmers an dieser Bruchstück-Stelle in einer Fußnote. Dort liest man: Ich vermute [...], daß dies Element wegen seiner symbolischen Bedeutung von ihr ergriffen wurde. „Zimmer“ im Traum wollen recht häufig „Frauenzimmer“ vertreten, und ob ein Frauenzimmer „offen“ oder „verschlossen“ ist, kann natürlich nicht gleichgültig sein. Auch welcher „Schlüssel“ in diesem Fall öffnet, ist wohlbekannt. (ebd., S. 138, Fußnote 2, Hervorhebung im Original)

Dass Freud, dessen Enträtselungsspiel strikt der Vorgabe folgt, einen sexuellen Neben- oder Hauptsinn von Doras Äußerungen zu entdecken, diese Ersetzungen vornimmt, die auf die in der Traumdeutung gefundenen Entsprechungen ‚Schlüssel = männliches Genitale, Zimmer = weibliches Genitale‘ rekurrieren, kann nicht wirklich verwundern. Seine Rekonstruktion der Vorgeschichte von Doras hysterischer Erkrankung geht davon aus, dass Herr K., der den Teenager mit Umarmungen und Liebesgeständnissen belästigt, Dora ganz ernsthaft heiraten wolle; Dora selbst wünsche sich das, auch wenn sie diesen Wunsch verdränge. Herr K. – so Freud – hätte sich scheiden lassen und Dora heiraten können; dies wäre „für alle Teile die einzig mögliche Lösung gewesen“ (ebd., S. 174). Eine Lösung offenbar, die nach Freuds Einschätzung als nicht pathologisch, als die Hysterie heilend anzusehen wäre. Solange Dora sich freilich bemühe, in einem phallischen Ermächtigungsversuch selbst den Schlüssel für ihr Zimmer zu ergattern, solange habe sie nicht verstanden, wie ein gesundes, ‚normales‘, ein nichthysterisches Geschlechterspiel ablaufen müsse. In einem solchen sei die männliche, Herrn K.s Position, phallische Schlüsselgewalt innezuhaben, mit dem Schlüssel-Penis in ihr Frauenzimmer einzudringen – und die weibliche, Doras Position, ein solches Eindringen nicht zu verhindern durch den Versuch, selbst in den Besitz des Phallus, des Schlüssels zu gelangen, da dieser doch den Männern allein zustehe. Auf diese Freud’sche Geschlechterstereotypisierung reagierte Dora auf ihre eigene Weise. Die Protagonistin der Fallgeschichte, der Freud den Schlüssel für die Heilung ihrer Hysterie zur Verfügung stellen will, indem er ihr klarzumachen versucht, dass sie auf den Besitz derjenigen Schlüssel, über die Herr K. und andere Männer verfügten, zu verzichten habe, nahm von Freud „auf die liebenswürdigste Weise mit warmen Wünschen zum Jahreswechsel Abschied – und kam nicht wieder“ (ebd., S. 174). Freud daran gehindert, ihren Fall zum Exemplum zu machen für „die Sexualität [...] [als] Schlüssel zum Problem der Psychoneurosen“ (ebd., S. 179), hat dieser freundliche Protest freilich nicht.

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Sabine Kyora

Unheimliche Doubles Freuds Analyse des Unheimlichen und die Unheimlichkeit der Vampirinnen

„Sometimes I feel like an undercover Sigmund Freud.“ John Cale

Der folgende Aufsatz wird versuchen, die Freud’sche Psychoanalyse vor allem als eine Lektürepraxis zu verstehen, die strukturelle Analogien sichtbar machen kann. Ausgehend von Freuds Lektüre des Sandmanns wird eine Strukturanalogie zwischen seiner Analyse des Unheimlichen und der Inszenierung von Vampirinnen in der phantastischen Literatur vorgeschlagen, die auch dann noch möglich ist, wenn die Texte oder Filme bereits die Freud’sche Lektürepraxis integriert haben. Die Psychoanalyse vertritt eine Vorstellung vom Subjekt, die dieses als für sich selbst undurchsichtig beschreibt. Gleichzeitig beansprucht sie für sich, dass sie das Subjekt lesen kann – nicht durchschauen, denn das Unbewusste bleibt opak auch für den psychoanalytischen Beobachter. Symptome und Traumerzählung sind für den Psychoanalytiker aber lesbar, weil er eine Methode zur Decodierung besitzt. In der Therapie wird dann das Subjekt in die Lektüre seiner selbst eingeführt. Darüber hinaus entwickelt Freud bei seinen Lektüren von literarischen Texten eine Art des Lesens, die einen anderen Weg geht. Anstatt das Innere des Subjekts – im Symptom und in der Traumerzählung – sichtbar werden zu lassen, lässt er in der äußeren Realität die Projektionen des Inneren erkennbar werden. Der Sandmann in E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung wird zum Bild des bösen Vaters und zur Personifizierung von Nathanaels Kastrationsangst (Freud 1986, Bd. IV, S. 255 f.). Nathanael selbst erkennt seine Projektion bei der Wahrnehmung dieser Figur nicht wieder, er reagiert deswegen mit Angst auf die unheimliche Gestalt und der Leser mit dem Gefühl des Unheimlichen. In seinem Aufsatz über das Unheimliche lehrt Freud den Leser, wie Figuren und Geschehnisse als Äußeres des Inneren zu verstehen sind. Gleichzeitig führt er diese auf Familienstrukturen zurück, weil er sie als Angst besetzte Verkörperung des „Heims“ und des „Heimlichen“ im Unheimlichen

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deutet. Denn das Unheimliche entsteht seiner Meinung nach als Wiederkehr des vorher „Heimlichen“ bzw. „Heimischen“ unter negativen Vorzeichen, die durch die Verdrängung verursacht werden (ebd., S. 267). Das heißt aber, dass die jeweilige unheimliche Figur ein Double einer „heimischen“ oder „heimlichen“ ist und das Unheimliche insgesamt die Verdopplung des Heimischen. Diese Struktur scheint mir durchaus zutreffend Strukturen von unheimlichen Texten zu beschreiben, deswegen will ich im Folgenden Freuds Lektürepraxis auf das Motiv der Vampirin bei E.T.A. Hoffmann, Bram Stoker, Francis Ford Coppola und Elfriede Jelinek beziehen.

I. „Die Wut der Hyäne“. Die Vampirin bei Hoffmann Weibliche Vampire tauchen wie ihre männlichen Gegenparts um 1800 erstmals häufiger in der Literatur auf. In Goethes Ballade Die Braut von Korinth von 1797 saugt eine untote Braut ihrem noch lebenden Bräutigam das Blut aus, während in E.T.A. Hoffmanns Text aus der Novellensammlung Die Serapionsbrüder, der als Ausgangspunkt meiner Überlegungen dienen soll, die Gräfin Aurelie das Fleisch von Leichen zu sich nimmt. Hoffmann stellt seine Erzählung im Rahmengespräch der Serapionsbrüder in die Tradition der Vampirgeschichten und damit natürlich auch in die der Schauerliteratur. Damit befinden wir uns aber auch im Bereich des Freud’schen Unheimlichen. In Hoffmanns Erzählung kulminiert die Handlung in der Aufdeckung der Leichenschändung durch den Ehemann der Gräfin, der sie daraufhin mit ihren Taten konfrontiert: Als nun aber beide, der Graf und die Gräfin sich allein zu Tische gesetzt, und diese, da das gekochte Fleisch aufgetragen, mit dem Zeichen des tiefsten Abscheus aus dem Zimmer wollte, da trat die Wahrheit dessen, was er in der Nacht geschaut, gräßlich vor die Seele des Grafen. In wildem Grimm sprang er auf, und rief mit fürchterlicher Stimme: „Verfluchte Ausgeburt der Hölle, ich kenne deinen Abscheu vor des Menschen Speise, aus den Gräbern zerrst du deine Ätzung, teuflisches Weib!“ Doch so wie der Graf diese Worte ausstieß, stürzte die Gräfin laut heulend auf ihn zu, und biß ihn mit der Wut der Hyäne in die Brust. Der Graf schleuderte die Rasende von sich zur Erde nieder, und sie gab den Geist auf unter grauenhaften Verzuckungen. – Der Graf verfiel in Wahnsinn. (Hoffmann 2001, S. 1133 f.)

Wie in der Erzählung vom Sandmann zeichnet Hoffmann hier Figuren, die psychische und körperliche Symptome zeigen, deren Ursprung aber nicht geklärt wird. Die Gräfin isst anscheinend nichts mehr, wird immer teilnahmsloser und schleicht sich nachts aus dem Schloss. Diese Symptome werden von ihrem Mann, als er sie bemerkt, als Krankheit interpretiert, denn er reagiert darauf, indem er einen Arzt kommen lässt. Dieser wiede

Zur Literaturgeschichte des Vampirs s. Ruthner 2005, Brittnacher 1994.

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rum liest den Zustand der Gräfin als Ausdruck einer möglichen Schwangerschaft, also als körperlich verursacht. Als er erzählt, dass eine schwangere Frau ein „solch unwiderstehliches Gelüste nach dem Fleisch ihres Mannes“ hatte, dass sie ihn „grausam zerfleischte“ (ebd., S. 1131), fällt die Gräfin in Ohnmacht und wird daraufhin vom Erzähler als „nervenschwach“ bezeichnet, also als psychisch krank. Neben diesen pathologischen Einordnungen ihres Verhaltens werden die Symptome der Gräfin auch mit der Beziehung zu ihrer Mutter in Zusammenhang gebracht, die ihr eine Art Fluch vererbt hat, der mit dem Moment der Geburt zusammenhängt. Der Fluch wird aber nicht mit erzählt, so dass der Leser und der Ehemann nicht erfahren, ob er die Ursache von Aurelies merkwürdigem Verhalten ist. Diese Lücke in der Erzählung unterscheidet Hoffmanns Texte von Romanen in der Tradition der Schauerliteratur, da diese ihre unheimlichen Rätsel meist lückenlos aufklären. Zwischen dem Sandmann und der Erzählung aus den Serapionsbrüdern fallen nun eine ganze Reihe struktureller Analogien auf. So ist die Situation von Aurelie durchaus mit der Nathanaels vergleichbar: Beide verbindet ein Trauma, das mit einem Elternteil verbunden ist, eine Liebesbeziehung, die aufgrund ihrer Symptome scheitert, schließlich ein rätselhaftes, auch psychisch als pathologisch lesbares Verhalten, das im Tod endet, dem ein aggressiver Akt gegen die Verlobte bzw. den Ehemann vorausgeht. Überträgt man nun Freuds Lektüre auf die Konstellation in der Erzählung aus den Serapionsbrüdern, läge die Ursache von Aurelies Verhalten darin, dass sie von der ‚bösen Mutter‘ mit der ‚Kastration‘ bedroht wird und ihre Ängste wie bei Nathanael in Aggression umschlagen. Aurelies Mutter droht ihr dafür Rache an, dass sie sie unter Schmerzen gebären musste, und entspricht dadurch dem Phantasma der bösen Mutter: „Du bist mein Unglück, verworfenes heilloses Geschöpf, aber mitten in deinem geträumten Glück trifft dich die Rache, wenn mich ein schneller Tod dahin gerafft. In dem Starrkrampf, den deine Geburt mich kostet, hat die List des Satans“ – hier stockte Aurelie […]. (ebd., S. 1129 f.)

Der Starrkrampf, den die Mutter das erste Mal bei Aurelies Geburt erleidet, erweist sich als bleibendes Symptom, das sie auch später immer wieder befällt. Die „Kastrationsdrohung“ für Aurelie hängt also mit Geburt und Schwangerschaft zusammen – der Arzt hält sie zunächst für schwanger – und wird von der Mutter als Rache an die Tochter weitergegeben. Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang zur weiblichen Reproduktionsfähigkeit zu sehen, die durch die Mutter bedroht ist. Die Mutter Aurelies, die eigentlich zum Heimischen gehört, wird also zum Unheimlichen – zur unheimlichen Figur auch für den männlichen Protagonisten, von dessen Mutter interessanter Weise überhaupt nicht die 

S. dazu auch Arnold-de Simine 2005.

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Rede ist. Aurelie wird wiederum vom Gegenbild zum Double ihrer Mutter, weil sie unheimliche Symptome zeigt, die sie selbst mit ihrer Mutter und der Arzt generell mit Schwangerschaft in Verbindung bringt. Damit erscheint auch sie, die der Graf dazu auserkoren hat, eine gute Mutter seiner Kinder zu werden, als böse Mutter: „‚Verfluchte Ausgeburt der Hölle, ich kenne deinen Abscheu vor des Menschen Speise, aus den Gräbern zerrst du deine Ätzung, teuflisches Weib!‘“ Den Akt der Einverleibung von totem und rohem Menschenfleisch kann man durchaus als die Einverleibung der toten Mutter lesen, die auf eben jenem Friedhof begraben liegt, wo der Graf seine Frau bei der Leichenschändung beobachtet. Die Einverleibung führt wiederum zur Übernahme der bösen, teuflischen Eigenschaften der Mutter. Die gegessene Leiche und die tote böse Mutter entsprächen sich dann. Gleichzeitig kann man auch Tod und Einverleibung als Verdopplung und Negativ zur Geburt und dem Nähren von Kindern sehen. Auffällig in Hoffmanns Erzählung ist auch im Gegensatz zum Sandmann die Nebenrolle der Väter: Der Vater des Grafen ist gestorben, hat aber zu Lebzeiten immer vor Aurelies Mutter gewarnt, Aurelies Vater ist bereits in ihrer Kindheit gestorben, einer der Liebhaber ihrer Mutter hat sie sogar sexuell bedrängt, ohne dass ihre Mutter eingegriffen hätte, aber auch dieser ist längst hinter Schloss und Gitter. Der Vater des Grafen, der als guter Vater bezeichnet werden kann, wird substituiert durch den Grafen selbst, der als Erbe seinen Besitz übernommen hat. Die Wahl Aurelies als Ehefrau geschieht aus dieser Position der männlichen Stärke heraus, die durch die eigene Nachfolge des Vaters unterstützt wird. Aurelies Angriff auf ihren Ehemann erscheint dann auch als vampiristischer Akt, der das konventionelle Geschlechterverhältnis umkehrt, ihr Ehemann kann seine überlegene Position nicht länger aufrecht erhalten. Liest man den Text mit Freud kann man ihn durchaus als parallele Geschichte zum Sandmann, aber eben bezogen auf eine weibliche Protagonistin, verstehen. An die Stelle der Angst vor dem Verlust des Phallus wäre die Angst vor der Verlust der Gebärfähigkeit getreten, der böse Vater ist hier durch die böse Mutter ersetzt, die aber gleichzeitig auch die reale Mutter ist. Aurelie erscheint als Double ihrer Mutter und damit für ihren Mann, aber auch für den Arzt unheimlich So wird sie von der dem Heimischen angehörigen (schwangeren) Ehefrau zur sich den Tod einverleibenden, teuflischen „Hyäne“. Die Verdopplung der Imago der Mutter wird dagegen nicht durch zwei getrennte Figuren dargestellt – Freud liest Coppola ja als Verkörperung des bösen Vaters, während der reale Vater die Rolle des guten übernimmt –, sondern angedeutet durch zwei unterschiedliche Zustände der Figur: Im Starrkrampf, in dem die Mutter der Gräfin auch psychisch abwesend ist, zeigt sich der „Fluch“ und ihre ‚Nachtseite‘, während sie im wachen Zustand im Schloss des Grafen ein normgerechtes, konventionelles Verhalten an den Tag legt.

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II. „Eine unheimliche Veränderung“. Vampirinnen bei Bram Stoker und Francis Ford Coppola Als Text, der zeitgleich mit Freuds ersten Schriften entstanden ist, soll nun Bram Stokers Roman Dracula (1897) betrachtet werden. Coppolas Verfilmung des Romans Bram Stoker’s Dracula (1993) zeigt nicht nur die Freud’sche Lektüre der Vampirin, sondern macht auch Stokers Nähe zum Freud’schen Subjekt deutlich. Auch in Stokers Roman setzt sich die Inszenierung des Unheimlichen durch Doubles fort, Stoker baut darüber hinaus die psychische Spaltung der weiblichen Figuren, die sich bei Hoffmann in der Figur der Mutter andeutet, aus. In Stokers Roman sind beide weiblichen Hauptfiguren vom Vampirismus affiziert, allerdings mit unterschiedlichem Ausgang. Während Lucy Dracula zum Opfer fällt und als Vampirin getötet wird, schafft es Mina, sich aus dem Bann Draculas mit Hilfe der den Vampir jagenden männlichen Figuren zu befreien. Mina und Lucy bilden ebenfalls eine Konstellation, in der die eine das Double der anderen ist, und sind darüber hinaus als ambivalentes Bild der Mutter lesbar. Lucy zeichnet sich dabei als die „sinnlichere“ der beiden aus und genau das führt dazu, dass der Vampir den Weg zu ihr findet. Sowohl Mina wie Lucy sind zu Beginn des Romans verlobt, aber während Lucy nur ungern aus ihren drei Verehrern einen auswählt, weil das heißt, dass sie auf die anderen beiden verzichten muss, sieht sich Mina ausschließlich als Gefährtin Jonathans, dem sie außerdem erst als Pflegerin bei seiner Krankheit, dann als Gehilfin bei der Jagd nach dem Vampir zur Seite steht. Sie verhält sich zunächst mütterlich, dann eher schwesterlich, auf jeden Fall aber den gesellschaftlichen Konventionen gemäß. Der Roman endet schließlich damit, dass sie ihr erstes Kind bekommen hat, sie erscheint also als die gute Mutter. Dagegen ist Lucy nicht nur sexuell interessiert, sondern auch von Anfang an in zwei Bewusstseinszustände gespalten, in den Wachzustand und den somnambulen Zustand, in dem sie nachts ihr Schlafzimmer verlässt und dem Vampir begegnet. Diese getrennten Bewusstseinszustände zeigen sich auch, als sie stirbt und sich dabei in einen Vampir verwandelt. Zunächst verhält sie sich ihrem Verlobten gegenüber so, wie es von einer unschuldigen Braut erwartet wird, im Schlaf stellte sich unmerklich die seltsame Veränderung ein, die ich in der Nacht bereits beobachtet hatte. Ihr Atem ging keuchend, der Mund öffnete sich und das blasse, zurückgezogene Zahnfleisch ließ ihre Zähne länger und schärfer wirken denn je. Sie öffnete in schlafwandlerischer, unbestimmter, unbewusster Weise die Augen, die nun stumpf und zugleich hart waren, und sagte mit wollüstiger Stimme, wie ich sie noch nie von ihren Lippen gehört hatte: „Arthur! Ach, Liebster, ich bin so froh, daß du gekommen bist! Küß mich!“ (Stoker 1994, S. 209) 

Auf diese Struktur der Doubles macht auch Laurence A. Rickels (1999, S. 44) aufmerksam.

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Das Unheimliche für die Männer, die sie beobachten, ist hier die Differenz zwischen dem Wachbewusstsein und dem Trancezustand. Zwar ist auch Lucys zur Schau gestellte „Wollust“ angstauslösend, weil sie eine verbotene Form weiblicher Sexualität darstellt und Lucy zur ‚bösen Mutter‘ macht, gleichzeitig lässt Lucy aber auch erkennen, dass im Inneren einer Person etwas sein könnte, was dieser selbst entgeht. In ihrem Trance-Zustand weist sie langsam auch die körperlichen Merkmale eines Vampirs auf, die als Ausdruck ihrer Fremdheit, aber auch ihrer „Wollust“ erscheinen. Ihre Begierde ist nicht nur für sie selbst fremd, sondern wird auch von den Männern, die sie beobachten – wie im letzten Zitat erkennbar –, als ihr nicht zugehörig verstanden. Die Verbindung von Vampirismus und weiblicher Sexualität wird hier ebenso erkennbar wie die Entdeckung eines Unbewussten, in dem triebhafte Wünsche zu verorten sind, das hier aber mit dem der unschuldigen Lucy eigentlich fremden Vampirdasein gleichgesetzt wird. Wie bei Hoffmann werden Lucys Symptome zunächst als Ausdruck einer Krankheit verstanden: Ein Arzt, Dr. Sewald, wird gerufen und, als dieser nicht mehr weiter weiß, ein zweiter, Professor van Helsing, der sich auch mit Krankheiten auskennt, die wie Lucys zunehmende Schwäche scheinbar keine reale Ursache haben. Auch die Veränderung ihres Wesens gehört dann zu den Symptomen ihrer Krankheit, wird also nicht als Aufdeckung von bisher nicht bekannten Teilen ihrer Persönlichkeit verstanden, sondern als Ausdruck einer fremden Macht, der Krankheit, die substituierbar wird durch die „Infektion“ mit dem Vampirismus, als van Helsing Lucys Tod aufklärt. Nachdem Lucy zur Vampirin geworden ist, beobachten sie ihr Verlobter und die beiden Ärzte. Dr. Sewald berichtet: Das Gesicht konnten wir nicht sehen, denn es war, wie wir nun erkannten, über ein blondes Kind gebeugt. Einen Augenblick hielt sie inne, und es ertönte ein leiser, spitzer Schrei, wie ein Kind ihn im Schlaf ausstößt oder ein Hund, der vor dem Kaminfeuer liegt und träumt. […] Mein Herz wurde kalt wie Eis, und ich hörte Arthur stöhnen, als wir Lucy Westenra erkannten. Es war Lucy Westenra, und doch, wie hatte sie sich verändert. Aus dem Liebreiz war diamantharte, herzlose Grausamkeit geworden, und aus der Reinheit wollüstige Begierde. (ebd., S. 273)

Die Symptomatik des Vampirismus ist bei Stoker deutlicher als bei Hoffmann: Lucy beißt Kinder und saugt deren Blut aus. Dass sie Kinder bevorzugt, weist wie bei Hoffmann auf den Zusammenhang von weiblicher Reproduktionsfähigkeit und ihren Symptomen. Wie bei Hoffmann stirbt auch bei Stoker zunächst die Mutter – hier an einer Herzkrankheit –, bevor die Tochter zum Vampir wird. Da Lucy zu diesem Zeitpunkt schon verlobt ist und demnächst heiraten soll, befindet auch sie sich in einer Situation, in der sie bald selbst zur Mutter werden kann. Die Haltung, in der die Männer sie zunächst beobachten, ähnelt denn auch einer mütterlichen, fürsorglichen. In ihrer psychischen Eigenart hat sich die Figur aber verändert: Aus der liebreizenden und unschuldigen Lucy, aus der in der Ehe eine gute Mutter

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hätte werden können, ist eine ‚grausame‘ und ‚wollüstige‘ Vampirin geworden, die das Kind als Verkörperung der ‚bösen Mutter‘ beißt. Die Verwandlung durch den Biss Draculas verlegt einen Teil dessen, was sich bei Hoffmann nur in den Handlungen der Figur zeigt, in Lucys Psyche. Darüber hinaus sind sowohl bei Hoffmann wie bei Stoker die Figuren, die die Vampirin wahrnehmen, männlich, so dass man von einem männlichen Blick sprechen kann, der auf das Verhalten und die psychischen Veränderungen der Vampirin geworfen wird. Einerseits erscheint sie dadurch als böse Mutter, aber auch als Double von Mina, die zum Schluss zur guten Mutter wird. Andererseits ist sie in ihrer Gespaltenheit bereits als Freud’sches Subjekt erkennbar. Sie kann sich selbst nicht durchschauen und produziert Symptome, die nur mit dem männlichen, ärztlichen Blick lesbar sind. Anders als in der Freud’schen Therapie lehren die Männer sie nicht, sich selbst zu lesen, sondern lassen sie über den Zusammenhang der Symptome mit ihrem Trance-Zustand im Unklaren. Die Unheimlichkeit dessen, was im Trance-Zustand auftaucht, liegt auf zwei Ebenen: Ein dem Subjekt unbewusster Zustand kann möglicherweise in seine Zeichenproduktion eingreifen und sie verändern – Lucys Stimme wird zum Ausdruck ihrer Wollust und ihrer Verführungskraft –, und das, was spricht, ist nicht beziehbar, auf die Person, die man kennt. Die Unlesbarkeit von Lucys Sprechen führt dann dazu, dass es als Ausdruck von Krankheit und Vampirismus verstanden wird, beides Erklärungen, die aus der Vergangenheit kommen und der Situation der Moderne, über die im Roman ausführlich gesprochen wird, deswegen nicht angemessen sind, weil sie erkennbar ältere Muster für die Gespaltenheit der Person aufnehmen. Nur die weiblichen Figuren haben in Stokers Roman die Fähigkeit zu einem anderen Bewusstseinszustand, unter dem sie aber auch leiden, weil er sie mit dem Vampir in Kontakt bringt: Mina kann mit Dracula telepathisch kommunizieren, stellt diese Fähigkeit allerdings in den Dienst der Vampirjäger und lässt sich von van Helsing hypnotisieren, um ihm die Geheimnisse Draculas verraten zu können. Im Gegensatz zu Lucy ist Mina für van Helsing aber ein reines Medium, sie ist lesbar und kann Botschaften korrekt übermitteln. Trotzdem kann man bei beiden weiblichen Figuren eine Nähe zu den Bewusstseinszuständen in der Hysterie sehen, wie sie in der fast gleichzeitigen Veröffentlichung von Freud und Breuer beschrieben werden. In den Studien über Hysterie wird eine ähnliche Gespaltenheit der weiblichen Psyche diagnostiziert. Vor allem die Darstellung Lucys ähnelt dem von Breuer und Freud geschilderten Bewusstseinszustand der „condition seconde“, auch die Produktion von Zeichen und Symptomen, die zunächst 

Freud/Breuer 1970, S. 17; sogar die Nähe zwischen Hypnose und Hysterie, die Breuer und Freud konstatieren und die sie zu dem Satz veranlasst: „Grundlage und Bedingung der Hysterie ist die Existenz von hypnoiden Zuständen“ (ebd., S. 14), ist durch das Double LucyMina verkörpert.

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einmal unlesbar sind, ist in beiden Fällen zu finden. Schließlich kann man auch von einem „ungezogenen“ Verhalten, wie Anna O. sagt, sprechen, das den Verstoß gegen gesellschaftliche Normen für angemessenes weibliches Benehmen zeigt (ebd., S. 22). Auch in den Studien über Hysterie steht dem ärztlichen Blick die weibliche Symptomatik gegenüber, die schließlich als Ausdruck verbotener Wünsche des Subjekts entschlüsselt wird. Vor diesem letzten Schritt schreckt der Roman von Stoker zurück, weil das hieße, Lucys ‚Wollust‘ und ‚Grausamkeit‘ als Teil ihrer eigenen Wünsche zu verstehen und nicht als Ausdruck der Infizierung durch etwas ihrem eigentlichen Wesen Fremdes. Stattdessen etabliert er am Ende, wenn alles Unheimliche überwunden ist, mit Mina wieder das Gegenbild der guten Mutter mit dem Kind, einem Sohn, auf dem Schoß. In der Verarbeitung des Vampirmotivs nach Freud wird genau dieser Schritt vollzogenen: Der Vampirismus korrespondiert mit den verborgenen, ‚heimlichen‘ Wünschen des Subjekts. In Coppolas Verfilmung von Stokers Roman wird die Trennung in Bewusstes und Unbewusstes als Grundlage für die Inszenierung von Lucy benutzt. Und in Jelineks Drama Krankheit oder moderne Frauen gibt es keine heimlichen Wünsche mehr – nur die männlichen Figuren haben immer noch Angst vor den nicht durchschaubaren Frauen. Coppola setzt den Zusammenhang von Lucys sexuellen Wünschen mit ihrer Beziehung zum Vampir mehr als eindeutig ins Bild. Die in der oben zitierten Szene dargestellte Änderung des Atems und das Öffnen des Mundes werden als eine Art einseitiger Geschlechtsakt inszeniert. Dieses Verständnis der Bilder wird dem Zuschauer so vermittelt, dass dieser die Bilder gut lesen kann, besonders deswegen, weil auch bei ihm eine grobe Kenntnis des Freud’schen Konzepts vorausgesetzt werden kann. Die Zeitgenossen, also die Figuren im Film, agieren allerdings in den Mustern, die der Roman vorgibt, das heißt, sie lesen Lucys Verhalten als äußere Bedrohung und erkennen nicht, dass der „Feind“ auch in Lucys Unbewusstem lauert, sie in ihrer „condition seconde“ dem Vampir entgegen kommt. Lucy und Mina sind auch bei Coppola zunächst als gegensätzliche, aber sich entsprechende Charaktere gezeichnet, der große Unterschied zu Stoker ist aber die Liebesgeschichte zwischen Dracula und Mina, die die Reihe der Doubles insofern fortführt, als Mina als Reinkarnation von Draculas im 16. Jahrhundert durch Selbstmord gestorbenen Braut erscheint. So ist Mina nicht nur Opfer, sondern auch Geliebte des Vampirs, während Lucys eine sexuelle Beziehung zu ihm hat, die nur deswegen als ‚heimliche‘ gezeigt wird, weil Coppola die Handlung unverändert im London der Jahrhundertwende spielen lässt und sich auch an die gesellschaftlichen Konventionen der englischen Gesellschaft dieser Zeit hält (vgl. Meyer 2003). Unheimlich wirkt die Reaktion Lucys auf Dracula, obwohl die Nähe zum Geschlechtsverkehr erkennbar ist, weil die körperliche Inszenierung in die-

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ser Nachahmung des Orgasmus extrem theatralisch inszeniert wird. Das heißt hier wird etwas „Heimisches“ und im Kontext der Zeit auch „Heimliches“ als Schauspiel inszeniert, dessen übersteigerte Form es verfremdet und unheimlich werden lässt. Vor allem die extreme Biegung des Körpers lässt ihn als einen der hysterischen Körper auf den Fotografien Charcots erscheinen. Auch bei Coppola verkörpern die Frauen sozusagen das viktorianische Unbewusste, während die Männer genau dieses Unbewusste nicht erkennen können, weil sie im Viktorianismus mit seinen Verhaltensnormen befangen sind. Während sie versuchen, den Feind außen zu besiegen – ihn zu kolonisieren, auch die Parallelen des Kampfes der Vampirjäger zum Kolonialismus werden bei Coppola offen gelegt –, spielt sich der tatsächliche Kampf im Inneren zwischen triebhaften (weiblichen) Wünschen und sie verbietenden gesellschaftlichen Normen ab. Die Erlösung des Vampirs zum Schluss durch Mina, die gleichzeitig seinen körperlichen Zerfall herbeiführt, bedeutet dann einerseits, dass die Bedrohung von außen zwar verschwunden ist, gleichzeitig aber offen bleibt, in wieweit die Integration Minas in die Normen der viktorianischen Gesellschaft noch möglich ist.

III. „Ihr Damen. Immer eitel.“ Die Vampirin bei Jelinek Stokers Inszenierung von Spaltung und Verdopplung spielt auch in Elfriede Jelineks deutlich die Freud’sche Lektüre integrierendem Stück Krankheit oder Moderne Frauen eine Rolle. In der Vorbemerkung zu ihrem 1987 uraufgeführtem Stück dankt sie ausdrücklich auch Bram Stoker. Bei Jelinek gibt es allerdings keinen männlichen Vampir, stattdessen beißt eine lesbische Vampirin mit Namen Emily Carmilla, eine bei der sechsten Geburt gestorbene Ehefrau und Mutter, die daraufhin ebenfalls zur Vampirin wird. Während Carmilla ihr Dasein hauptsächlich als Krankheit beschreibt, sieht Emily sich als Schriftstellerin. Beide Namen verweisen intertextuell auf andere Texte: Carmilla heißt auch die lesbische Vampirin in Joseph Le Fanus gleichnamigem Vampirroman, Emily spielt auf Emily Brontë an, von der Emily auch ein Gedicht als eigenes zitiert. Die beiden männlichen Figuren sind Arzt bzw. Steuerberater von Beruf. Das Stück beginnt zunächst mit der Darstellung von konventionellen Paarbeziehungen: Der Steuerberater Benno Hundekoffer und Carmilla sind verheiratet, Emily und der Zahnund Frauenarzt Heathcliff, benannt nach einer der Hauptfiguren in Brontës einzigem Roman, sind verlobt. Diese Paare lösen sich dann durch Carmillas Tod auf; es entsteht ein weibliches und ein männliches Paar. Damit nimmt Jelinek die Struktur von Stokers Roman, aber auch von anderen Vampirgeschichten auf, die weibliche Doubles – wie Mina und Lucy – und den männlichen Blick, auch er häufig doppelt als der von Partner und Arzt, gegenein-

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anderstellen. Der Zusammenhang zwischen Vampirismus und Krankheit bleibt auch bei Jelinek erhalten: Der Zahn- und Frauenarzt Heathcliff sieht Frauen vor allem als Objekte seiner Behandlung, er ist Carmillas Frauenarzt und kümmert sich um Emilys Vampirzähne. Im weiblichen Paar zeigen sich ähnliche Antagonismen wie bei Lucy und Mina, Emily ist wie Mina eher die Intellektuelle, während Carmilla ihre hausfraulichen Tätigkeiten auch als Vampirin beibehält. Im Gegensatz zu Stokers Darstellung der Gespaltenheit Lucys haben Jelineks Figuren keine Tiefe, aus der irgendetwas ihnen oder den sie beobachtenden Männern Fremdes auftaucht. Carmilla ändert sich auch nicht durch ihren Status als Vampir, wird also nicht sexuell aktiver oder „triebhafter“, auch ihr Bewusstsein bleibt dasselbe wie vor ihrem Tod. Eine einzige Ausnahme von dieser Konstanz gibt es jedoch: Jelinek greift das Motiv der bösen Mutter wieder auf. Als Vampirin saugt Carmilla ihre Kinder aus. So entsteht noch ein neues Double, dadurch dass Carmilla vor ihrem Tod das verkörpert, was man konventionell unter einer guten Mutter versteht, nach ihrem Tod aber die böse Mutter. Jelinek zitiert hier Elemente von Lucys Geschichte, verschärft die gegensätzlichen Aspekte der Figur aber noch, weil Carmilla tatsächlich Mutter ist, während Lucy nur potentiell zu einer werden könnte. Die Inszenierung Emilys weist insofern Parallelen zu Stoker auf, als Minas Tätigkeit als „Sekretärin“ der Vampirjäger Emilys Beruf als Schriftstellerin entspricht, gleichzeitig ist Emily aber auch Krankenschwester und eine Art Sprechstundenhilfe bei Heathcliff. So verkörpert sie ebenfalls klischeehaft weibliche Rollen. Dass die Frauen als Vampirinnen zwei Seiten einer Medaille bleiben und ihre Differenzen nur oberflächlicher Natur sind, zeigt sich am Ende von Jelineks Stück, als sie zu einem Geschöpf zusammenwachsen. Alle Spaltungen und Verdopplungen laufen letztendlich darauf hinaus, dass die beiden weiblichen Figuren von der patriarchalen Kultur aus nicht unterscheidbar sind, da sie alles verkörpern, was aus ihr ausgeschlossen ist. HEIDKLIFF: Ihr Damen. Immer eitel. Selbst die kleinsten schauen schon andauernd in den Spiegel. Porzellan zerspringt. Bleib mir gut. EMILY: In einem Spiegel sehe ich gar nichts. HEIDKLIFF: Ach ja. Stimmt. Was seid ihr doch für unheimliche Gesellen. Wir lebendigen atmenden Menschen stehen im schönsten Gegensatz zu euch. (Jelinek 1992, S. 227)

Heidkliff verbindet Weiblichkeit, Vampirismus und Unheimlichkeit miteinander, dagegen stellt er den „lebendigen, atmenden Menschen“, der offensichtlich ein männlicher ist. Emily geht für ihn in diesen allgemeinen Typologien auf, sie ist typisch „Dame“ und als Vampirin genauso ein Exemplar ihrer Art. Sie existiert überhaupt nicht in der Einzahl, sondern nur im Plural „ihr“. Durch diese Grenzziehung sind die weiblichen Figuren letztlich nur ein Wesen, weil sie zu den anderen oder dem anderen gehören. Die Funk-

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tion des Unheimlichen, das, was einmal heimisch oder heimlich war, als fremdes zurückzubringen, übernehmen die Frauen, indem sie eine Art von kulturellem Nichtheimischsein vorführen. Auch ihre Selbstdarstellung entspricht dem ihnen zugeschriebenen Anderssein. Während Lucy und Mina bei Stoker und Coppola ein Unbewusstes verkörperten, das für sie selbst nicht lesbar ist, wissen Carmilla und Emily also um ihre Verfasstheit. Auf Carmillas Hinweis hin, dass sie als Vampirinnen nicht „von den Menschen und ihren Gaststätten abhängig“ sind, entgegnet Emily: Wir sind nicht abgängig. Wir sind die Untoten, Carmilla! Merk dir das endlich! Wir können uns nicht kräftig offenbaren. Unsere Existenz ist auf ärgerliche Weise stillos. Wir sind nur Pseudotote. Wir sind die Schlimmsten. […] Wir sind nicht Tod, nicht Leben! Uns kann man nicht so einfach auferwecken. (ebd., S. 230)

Während Carmilla versucht, das Vampirdasein auch als eine freie Existenz zu beschreiben, weil sie von menschlichen Konventionen nicht mehr abhängig sind, bestreitet Emily diesen Gewinn. Sie akzentuiert vor allem den Zwischenstatus zwischen Tod und Leben, der durch den Mangel an einer echten Eigenschaft gekennzeichnet ist: Sie sind nur „Pseudotote“, aber eben auch nur scheinbar lebendig. Bei Bram Stoker und Coppola erscheinen Lucy und die Vampirinnen in Draculas Schloss als sexuell freizügige Wesen, Jelinek zeigt dagegen den Vampirismus nicht als Ausleben bisher verbotener Möglichkeiten, sondern als Fortsetzung von Konventionen und Beschränkungen. Im Gegensatz zu den Texten vor Jelinek kann Emily sich selbst lesen, sie braucht also den ärztlichen Blick nicht, der ihre Symptome deutet, das übernimmt sie selbst. Für sie ist das unheimliche Dasein, das Heathkliff ihr zugeschrieben hat, dadurch definiert, dass sie sich selbst ebenso wie Camilla als nirgendwo heimisch charakterisiert, weder im Tod noch im Leben. Nur ist das, was im allgemeinen als „heimisch“ gilt, nämlich die Familie, hier alles andere als das: Carmilla wird von ihrem Mann als „Ware“ bezeichnet, sie hat vor allem die Aufgabe weitere Kinder zu gebären. Und das „Heimliche“, die Sexualität, findet als Reproduktion der Gattung entweder in der Öffentlichkeit statt – alle Figuren sind bei Carmillas Geburtswehen auf der Bühne versammelt – oder gar nicht mehr wie zwischen Emily und Heathcliff. Wenn Heathcliff Emily als unheimlich bezeichnet, sagt das nichts über sie oder die Strategie des Textes, der Unheimlichkeit produzieren will, sondern nur noch etwas über Heathcliffs partriarchale Wertungen und Ängste, es ist Teil der Ideologie des Ausschlusses von Weiblichkeit. Die Vampirinnen und ihre männlichen Beobachter sind also durchaus mit den Freud’schen Strukturanalogien beschreibbar, auch Doubles und ihre Varianten sind in den Texten und im Film deutlich zu erkennen, selbst dann noch wenn die Freud’sche Psychoanalyse bereits bekannt ist. Die Implementierung des Unbewussten findet dabei parallel zu Freud statt, bleibt aber auch bei Coppola noch die vorherrschende Deutung für das Vampir-

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motiv. Jelineks Stück zeigt dagegen ausgehend von denselben Strukturen der Verdopplung die Austreibung des Unheimlichen aus der Inszenierungsweise, während es als Teil der ideologisch besetzten Ausgrenzungsstrategie des Weiblichen erhalten bleibt.

Literatur Arnold-de Simine, Silke (2005): Wiedergängerische Texte. Die intertextuelle Vernetzung des Vampirmotivs des Vampirmotivs in E.T.A. Hoffmanns Vampirismus-Geschichte. In: Julia Bertschik/ Christa Agnes Tuczay (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen, S. 129-145. Brittnacher, Hans Richard (1994): Ästhetik des Horrors. Frankfurt/M. Freud, Sigmund u. Josef Breuer (1970): Studien über Hysterie. Frankfurt/M. Freud, Sigmund (1986): Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe Bd. IV. Frankfurt/M., S. 241-274. Hoffmann, E.T.A. (2001): Die Serapionsbrüder. Frankfurt/M. Jelinek, Elfriede (1992): Krankheit oder moderne Frauen. In: Dies.: Theaterstücke. Reinbek b. Hamburg, S. 191-265. Meyer, Michael (2003): Die Erotik der Macht und die Macht der Erotik: Bram Stokers und Francis Ford Coppolas Dracula. In: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.): Der erotische Film. Zur medialen Codierung von Ästhetik, Sexualität und Gewalt. Würzburg, S. 131-151. Rickels, Laurence A. (1999): The Vampire Lectures. Minneapolis. Ruthner, Clemens (2005): Untote Verzahnungen. Prolegomena zu einer Literaturgeschichte des Vampirismus. In: Julia Bertschik/Christa Agnes Tuczay (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen, S. 11-41. Stoker, Bram (1994): Dracula. Köln.

Literarische Transformationen psychoanalytischen Wissens

Wolfgang Riedel

Wandlungen und Symbole des Todestriebs Benns Lyrik im Kontext eines metapsychologischen Gedankens Das mit diesem Titel angezeigte Thema kann im Rahmen eines Tagungsbeitrags nicht erschöpfend behandelt werden. Ich will daher nur versuchen, eine Spur zu legen; vielleicht lohnt es sich, einmal die Hinweise weiterzuverfolgen. Der mich im Blick auf das Tagungsthema ursprünglich lenkende Gedanke war – nicht sehr originell, aber empirisch belastbar –, dass das Wissen der Wissenschaften im Prozess seiner Aneignung durch die Literatur nicht einfach bleibt, was es ist, sondern in einer Weise modifiziert, transformiert oder auch invertiert wird, wie dies von den Wissenschaften ihrerseits nicht vorhergesehen oder gar kontrolliert werden kann. Der literarische Diskurs der Moderne ist gegenüber der Ordnung des Wissens relativ (wenn auch nicht völlig) autonom gestellt. Er muss – darin ist er nicht autonom – mit ihr interagieren, sich ihr stellen; aber wie er das tut, kann diese ihm nicht vorschreiben. Ungebunden durch Fachnormen, Schulgrenzen, herrschende Paradigmen, kann die literarische Wissenschaftsrezeption das Gesamtarchiv der Erkenntnisse und Theorien nach Belieben durchstreifen und auf die Bestände dieser ‚Bibliothek von Babel‘ ganz ihrem Eigensinn folgend – eklektisch, synkretistisch, subjektiv – zugreifen. Auch die Hypothesen und Befunde der Psychoanalyse erfahren daher in ihrer (in der klassischen Moderne bekanntlich weit verbreiteten) literarischen Rezeption Drehungen und Wendungen, die den Vorstellungen des doch auch sehr auf Orthodoxie bedachten Begründers dieser neuen Gestalt anthropologischen Wissens keineswegs entsprechen müssen. Gerade an Benns extensiver und zugleich eigenwilliger, ‚wilder‘ Lektüre- und Aneignungspraxis, in der sich vieles mit vielem, auch Heterogenstes, mischt, lässt sich das gut belegen. Während der Arbeit schob sich jedoch ein zweiter Gedanke nach vorne, nämlich die – Wittgensteins Begriff passt hier sehr gut – ‚Familienähnlichkeit‘ zeitgleicher Vorstellungen und Konzepte (hier Benns und Freuds), eine Verwandtschaft, die nicht allein dadurch zustande kommt, dass der eine (Benn) die Ideen des anderen (Freuds) rezipiert, sondern dadurch, dass beide an einer gemeinsamen intellektuellen Vorstellungswelt (zum Beispiel der evolutionsbiologischen) partizipieren und also auch unabhängig vonei-

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nander durch ähnliche Fragen zu verwandten (auch spekulativen) Antworten bewegt werden. Beide Aspekte, Rezeption und Partizipation, überlagern sich in der Frage ‚Benn und die Psychoanalyse‘, und es bedürfte einmal einer einlässlichen Studie, die sich dieses Komplexes annähme. Davon ist dieser Beitrag weit entfernt; er besteht aus vier, noch wenig systematischen Schritten: 1. Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären, 2. Nach rückwärts geht der geheimnisvolle Weg, 3. Sentimentalische Dichtung nach 1900, 4. Durchgriff des Anorganischen. Das erste Kapitel ruft für unseren Zweck einige bekannte Gedichte in Erinnerung, das zweite stellt sie in einen wissens- und reflexionsgeschichtlichen Kontext, das dritte deutet mit wenigen Strichen eine poetikgeschichtliche Perspektive an, das vierte besteht vorderhand nur aus einer Spekulation. Doch wie gesagt, soll mit diesen Überlegungen eine Fragestellung erst angeregt und nicht schon zu abschließender Klärung gebracht werden. Aus diesem Grund sehe ich von quellenphilologischen Fragen im engeren Sinne zunächst einmal ab, interpretiere auch die Gedichte nicht (sie sprechen in diesem Kontext für sich), sondern konzentriere mich ganz auf eine modellgeschichtliche Perspektivierung der Denkmöglichkeiten, in denen Benn sich bewegt.

1. Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären Regressionslyrik lautet ein geläufiges Stichwort, um die Dichtung des frühen Benn, des Benn der zehner und zwanziger Jahre zu kennzeichnen; er suche „Regressionstendenzen mithilfe des Worts“ zu realisieren, so schreibt er 

Der Beitrag kommt in der überarbeiteten und erweiterten Version zum Abdruck, die ich wenige Wochen nach der Berliner Tagung im Dezember 2006 an der Universität Würzburg unter dem Titel Im Schatten des Todestriebs vorgetragen habe (ergänzt um die Fußnoten; der offene Vortragsduktus ist beibehalten). Er stützt sich in zentralen Punkten auf eine vor kurzem veröffentlichte, ausführlichere Abhandlung zu Benn (Riedel 2005), führt deren Ansatz aber in einer bestimmten Richtung weiter. – Zu den oben nur angedeuteten Überlegungen zur literarischen Wissenschaftsrezeption in der Moderne vgl. näherhin: Riedel 2004, S. 361 ff.; der Ausdruck ‚Familienähnlichkeit‘ nach Wittgenstein 1958, § 67. Zumal die literarische Freud- und Darwinrezeption der ‚klassischen Moderne‘ wird derzeit neu und intensiv untersucht. Als germanistische Pionierschriften dieser jüngeren Forschung sehe ich Anz 1999 und Sprengel 1998. – Der gerade für Benn (aber ebenso für andere große Autoren der Zeit) typische Rezeptionssynkretismus ist seit Wellershoff 1958 bekannt und wird von der jüngeren Forschung in immer neuen Details aufgezeigt (siehe nur Hof 1997, Kirchdörfer-Boßmann 2003, Wübben 2006, sowie weitere Beiträge zu den in Fn. 2 genannten Sammelbänden). Neu und erfreulich ist allerdings der gegenüber der älteren Benn-Forschung ebenso sachangemessenere wie philologisch fruchtbarere Impetus, Benn als Essayisten ernst zu nehmen und ihn aus der Ecke des vermeintlich wissenschaftsfeindlichen, von obskuren Quellen zehrenden, letztlich unseriösen Dilettanten herauszuholen (nach der grundlegenden Studie von Miller 1990 ist dies aktuell vor allem das Verdienst der – leider nur verstreut und gleichsam kapitelweise publizierten – Forschungen Marcus Hahns).

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1927 in Epilog und lyrisches Ich (Benn 1980, Bd. 2, S. 274). Ich gebe gleich ein bekanntes Beispiel dafür, das Doppelgedicht Gesänge aus dem Jahr 1913: Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären: Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Leben und Tod, Befruchten und Gebären Glitte aus unseren stummen Säften hervor. Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel: Vom Wind geformtes und nach unten schwer. Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel Wäre zu weit und litte schon zu sehr. – […] Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume. Die Sterne schneeballblütengroß und schwer. Die Panther springen lautlos durch die Bäume. Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer. – (Benn 1980, Bd. 1, S. 47)

„Das Meer“ – ‚thalassale Regression‘! Sie reicht hinter den individualpsychologischen Regressionswunsch nach Rückkehr in den Mutterschoß weit zurück in die Tiefe der Evolutionsgeschichte, ins Vor-Vormenschliche, ja Vortierisch-Vegetabile: „Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel / Wäre zu weit und litte schon zu sehr“. Woran? Benn-typisch am Bewusstsein natürlich (selbst an dem eines Insekts), aber hier auch bereits überhaupt an der Vitalspannung, in der Lebendiges sich erhält. Unverkennbar ist das Gedicht daher zugleich erotisch und letal konnotiert (Moor/Schoß). Beides spielt der Benn dieser Jahre gern ineinander, immer wieder im Motiv des erotischen Petit mort, des, wie es in den Rönne-Novellen einmal heißt, „Entsank fleischlich sein Ich“ (ebd., Bd. 2, S. 46). Besonders gut kommen diese Ambivalenz und ihre doppelt schmelzende, lyäische, ichauflösende Tendenz zum Ausdruck in dem ebenfalls sehr bekannten Gedicht Karyatide von 1916: Entrücke dich dem Stein! Zerbirst Die Höhle, die dich knechtet! Rausche Doch in die Flur, verhöhne die Gesimse – –: (ebd., Bd. 1, S. 81) 

 

In der Einschätzung und – vor allem (siehe unten Kap. 2) – historischen Perspektivierung der Benn’schen Lyrik sah ich mich früh belehrt und grundlegend orientiert durch die Arbeiten Bruno Hillebrands (Zur Lyrik Gottfried Benns, in: Benn 1980, Bd. 1, S. 639-668; vgl. Hillebrand 1986, S. 97-138). Heutiges Wiederlesen dieser Essays befestigt dieses Bild nur. – Die Benn-Forschung hat mit dem 50. Todestag des Autors einen noch vor wenigen Jahren so nicht vorstellbaren Schwung aufgenommen. Allein aus der im Gedenkjahr 2006 erschienenen Literatur hervorzuheben: Büssgen 2006, Dyck 2006, Hahn 2006, Lethen 2006, Wübben 2006; ertragreich auch die aktuellen Sammelwerke: Text + Kritik 44 (2006), Delabar/Kocher 2007, Martínez 2007, Reents 2007. Dazu ausführlicher: Riedel 2005, S. 180-190. Gleich „dionysische“ (‚Dionysos Lyaios‘); zu diesem gut erforschten Komplex Brode 1972/73.

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Die so angesprochene Gesimsfigur ist zu lesen als Allegorie des hochgeschlossenen, versteinerten Charakters, gewissermaßen des Ich in Uniform (Benn war 1916, im Ersten Weltkrieg, als Militärarzt in Brüssel stationiert). Aus diesem Ichpanzer soll die ‚Regressionstendenz mithilfe des Worts‘ erlösen. Das Gedicht artikuliert solche Entgrenzung als appellative Wunscherfüllung. Auch hier, wie gesagt, ist im Drang des erotisch-dissipativen Phantasierens („Venus“, „der Hüften Liebestor“) die Todesallusion nicht zu überhören. Schon das hier besonders deutliche (aber für all diese Texte des früheren Benn charakteristische) Umlegen der poetischen Raumachse aus der Vertikalen ins Horizontale weist in diese bei Benn grundsätzlich ambivalente oder ‚Doppelrichtung‘: „Bespei die Säulensucht“, „Breite dich hin. Zerblühe dich. O blute / Dein weiches Bett aus großen Wunden hin“ (ebd., S. 81). Wer von Regression spricht, zumal im Blick auf das frühe 20. Jahrhundert, denkt an Freud. Erst durch die Psychoanalyse wird aus diesem Wort ein Begriff, und zwar ein Begriff mit deutlich negativem, pathologischem Unterton. Die Vernunftliebhaber unter den Freudlesern, die nicht zu den Verächtern der Psychoanalyse gehören, knüpfen mit Vorliebe hier an und halten sich an den berühmten Satz aus den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Neue Folge, 1933), der, allen Regressionstendenzen gleichsam apotropäisch entgegengestellt, zu Bewusstheit, aufrechtem Gang und Ermannung aufruft: „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud 1989, Bd. 1, S. 516). Der Erforscher des Unbewussten spricht in diesem Satz als der Aufklärer, als der er sich immer verstand. Als dieser steigt er, ein übertragener Höhlenforscher, hinab in die Dunkelzonen des Es, der Sexualität, des Organischen, aber eben mit dem Licht der Aufklärung in der Hand und natürlich – um an Ende wieder aufzusteigen! An passender Stelle, am Schluss der Einleitung von Das Unbehagen in der Kultur (1930), in der er sich mit dem ihm von Romain Rolland zugespielten Begriff des „ozeanischen Gefühls“ auseinandersetzt, zitiert er denn auch wie mit Erleichterung Schillers Ballade Der Taucher, nämlich den Satz, den der Jüngling nach seinem ersten Tauchgang, wieder heroben aus der unheimlichen Tiefe, ausruft: „Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht“ (Freud 1989, Bd. 9, S. 205). Wie bekannt, stürzt sich der Taucher ja danach noch ein zweites Mal hinab – und bleibt dann unten. Dies, von Freud nicht explizit erwähnt, steht gleichwohl im Hintergrund seines Zitats. Liest man diesen Schiller’schen Tauchgang als vollsinniges Bild für das psychologische Motiv der Regression, so hat man sogleich Freuds Einstellung dazu: Der Wunsch nach Ich-Auflösung, nach Auf- und Untergehen in   

Der Ausdruck Doppelrichtung (für den psychoanalytischen Begriff der Ambivalenz) nach Andreas-Salomé 1921. Zum Ambivalenzbegriff selbst: Laplanche/Pontalis 1972, S. 55-58. In dieser Hinsicht einmal prägend gewesen: Habermas 1968, S. 262-300. Zum Kontext dieser Freud-Stelle: Riedel 1996, S. 82-103, Ozeaniker und Antiozeaniker. Zur Theorie der Lebensmystik (Andreas-Salomé, Joël, Barth, Freud). – Die Schiller-Ballade selbst: Schiller 2004, Bd. 1, S. 368-373.

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einem großen Ganzen, also das von ihm mit Rolland so benannte „ozeanische Gefühl“, ist ihm prekär, unheimlich (ebd., S. 197 ff.). Und unheimlich daran ist ihm nichts anderes als das heimliche Ziel dieses Wunsches: der Tod. Das Ich soll nicht untergehen im Es, im Unbewussten, im Nicht-Ich überhaupt. Darum halte es sich fern von solchem Wünschen. Dies entspricht natürlich ganz und gar dem therapeutischen Ethos der Psychoanalyse, die ja heilen will und psychische Gesundheit, also halbwegs stabile Ichstärke generieren beziehungsweise wiederherstellen möchte. Das lyrische Ich der zitierten Benn-Gedichte indes begehrt anderes. Es will die Grenzen, die in der Therapie mühsam befestigt werden, gerade durchbrechen und dreht dazu die Freud’sche Formel um: Wo Ich ist, soll Es werden. Noch einmal mit Epilog und lyrisches Ich: „Jedes Es das ist der Untergang, die Verwehbarkeit des Ich“ (Benn 1980, Bd. 2, S. 274). Oder poetischer, Benns fiktives Alter ego Rönne, in Ithaka (1914): „O so möchte ich wieder werden: Wiese, Sand, blumendurchwachsen, eine weite Flur. In lauen und kühlen Welle trägt einem die Erde alles zu. Keine Stirne mehr. Man wird gelebt“ (Benn 1980, Bd. 4, S. 26). Eine klare Umwertung und Umkehrung der Freud’schen (therapeutischen) Einstellung der Regression gegenüber liegt hier also vor. Wo kommt das her, womit hängt diese Umbesetzung des Motivs zusammen? Gewiss mit den genuinen poetischen, ‚sentimentalischen‘ Intentionen Benns (siehe unten Kapitel 2). Vielleicht auch, der mögliche Bezug wäre einmal zu prüfen, mit einem berühmten Buch des 19. Jahrhunderts, Jules Michelets La mer (1861). Diese nachgerade schwärmerische Naturgeschichte und Idealisierung des Meeres als des mütterlichen Paradieses alles darin Lebenden war der deutschen Jahrhundertwende nicht unbekannt; Rilke etwa, den durchaus ähnliche Themen wie Benn bewegten, war sie ein Begriff. Wichtig ist aber vor allem, dass Benn hier generell zwei entwicklungsgeschichtliche Modelle überblendet, das ontogenetische, wie es in der Psychoanalyse, und das phylogenetische, wie es in der Evolutionslehre jeweils paradigmatische Gestalt gewann, also das Freud’sche ‚Vom Es zum Ich‘ mit dem Darwin’schen ‚Vom Tier zum Menschen‘. Schon mit dieser Kombination ist gegenüber der orthodoxen Lesart des Regressionsphänomens ein gewisser Freiheitsgrad gewonnen. Doch kommen die Anregungen dazu auch aus der Psychoanalyse selbst, jedenfalls spätestens in den zwanziger Jahren. Ein Gedicht von 1927, welches dieses Motiv geradezu programmatisch thematisiert, gibt dazu einen beredten Hinweis. Es stammt aus den Gesammelten Gedichten von 1927, in denen die genannten Themen noch einmal anklingen (aus Fernen, 

Vgl. zu Michelets Meerbuch die deutsche Neuausgabe von Rolf Wintermeyer (Michelet 1987) sowie sein Nachwort dazu (ebd., S. 315-337). – Rilke bekundete in einem Brief an Lou Andreas-Salomé vom 13. Mai 1904 sein Interesse an „Michelet’s naturhistorischen Studien“ (Rilke/Andreas-Salomé 1989, S. 165 f.). Rilke und die Psychoanalyse: Riedel 1996, S. 270-292.

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aus Reichen; Orphische Zellen; Osterinsel; Trunkene Flut), wenn auch bereits im Ton resignativer Beherrschtheit, wenn man so will, der ‚klassischen Dämpfung‘, und trägt den fast schon plakativen Titel Regressiv: Ach, nicht in dir, nicht in Gestalten der Liebe, in des Kindes Blut, in keinem Wort, in keinem Walten ist etwas, wo dein Dunkel ruht. Götter und Tiere – alles Faxen. Schöpfer und Schieber, ich und du – Bruch, Katafalk, von Muscheln wachsen die Augen zu. nur manchmal dämmert’s: in Gerüchen vom Strand, Korallenkolorit, in Spaltungen, in Niederbrüchen hebst du der Nacht das schwere Lid: am Horizont die Schleierfähre, stygische Blüten, Schlaf und Mohn, die Träne wühlt sich in die Meere – dir: thalassale Regression. (Benn 1980, Bd. 1, S. 203)

2. Nach rückwärts geht der geheimnisvolle Weg Weit entfernt, eine genuine, scheinbar so typische Wortschöpfung Benns zu sein, montiert die markante Schlussformel dem Gedicht nichts geringeres ein als den Schlüsselbegriff eines des wichtigsten und „kühnsten“ (Freud 1940, GW Bd. XVI, S. 268) psychoanalytischen Bücher der zwanziger Jahre, den Begriff der „thalassalen Regression“ aus Sándor Ferenczis Versuch einer Genitaltheorie (1924). Dazu, was es mit diesem Buch auf sich hat, nur kurz: Der interessanteste Punkt (der auch Freud nachhaltig fasziniert hat) ist die – siehe Benn! – Engführung von Psychoanalyse (als Theorie in der zeitlichen Dimension der Ontogenese, der individuellen Entwicklungsgeschichte) und Evolutionsbiologie (als Theorie in der zeitlichen Dimension der Phylogenese, der Gattungs- und Naturgeschichte). Und genau mit dieser Erweiterung der Psycho- in die von ihm so genannte „Bioanalyse“10 

Ferenczi 1982, S. 357-362; vgl. auch ebd., S. 363-369: Material zum „thalassalen Regressionszug“. Ausführlicher dazu: Riedel 2005, S. 186 ff. Soweit ich übersehen kann, war die FerencziAllusion im Schlussvers von Regressiv der Bennforschung bis dato gänzlich unbekannt (erstmals dazu: Riedel 1996, S. 289). – Zur Biographie Ferenczis (1873-1933): Mühlheimer 1992, S. 9699; zu seiner Lehre: Dahmer 1976, bes. S. 187-191; vgl. auch den bereits zitierten Nachruf Freuds (Freud 1940, GW Bd. XVI, S. 267-269). 10 „Bioanalyse, die analytische [= psychoanalytische] Wissenschaft vom Leben“ (Ferenczi 1982, S. 398)

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verleiht Ferenczi dem Regressionsbegriff eine gleichsam neutralere Valenz. Denn hinter dem Wunsch eines Menschen nach Rückkehr in den Mutterschoß erkennt er nicht so sehr ein individualgeschichtliches Trauma (etwa das von seinem Freund und Kollegen Otto Rank gleichzeitig beschriebene „Geburtstrauma“)11, sondern ein ungleich älteres, der menschlichen Gattungsgeschichte vorausliegendes, in der ‚Tiefenzeit‘ der Evolution angesiedeltes anonymes Trauma: den Landgang der Seetiere, die durch ökologische Drift bedingte Nötigung bestimmter Spezies, das Meer verlassen und sich außerhalb der großen, mütterlichen Nährlauge – Michelet lässt grüßen! – erhalten zu müssen (Ferenczi 1982, S. 357 ff.). Dieser Verlust, so Ferenczi, wird nun in der Evolutionsgeschichte bewältigt durch Kompensation. Die Säugetiere, und so auch der spät aufkommende Mensch, kompensieren das verlorene äußere Meer durch somatische Introjektion: ins weibliche Geschlecht, das heißt durch ein inneres Individual- und Miniaturmeer im Uterus („das Fruchtwasser ein in den Leib der Mutter gleichsam ‚introjiziertes‘ Meer“; ebd., S. 366). Der Regressionswunsch ist dergestalt, durch seine naturgeschichtliche Totalisierung, von jeder individualpathologischen Note zunächst einmal befreit. Vielmehr stellt sich für Ferenczi der Evolutionsprozess als solcher als ein in sich zutiefst ambivalentes Geschehen dar, oder anders gesagt, er folgt einer ‚Doppelrichtung‘: Indem die Evolution in der Zeit fortschreitet und sich von ihren Anfängen entfernt, bildet sie zugleich Organe aus, in denen sie, über die Zeit- und Entwicklungsdifferenz hinweg, eben diese Anfangszustände konserviert und kompensiert. Das verlorene Meer erhält sich im Organismus der Landtiere und generiert progressiv in der Zeit die regressive „Wiederherstellung der See-Existenz im feuchten, nahrungsreichen Körperinneren der Mutter“ (ebd., S. 364). Keine Progression, so könnte man gleichsam systematisch zuspitzen, ohne Regression!12 Hinter dieser zugegeben ziemlich spekulativen Theorie steht freilich letztlich doch kein anderer als wiederum Freud selbst, nämlich dessen berühmte Abhandlung Jenseits des Lustprinzips aus dem Jahr 1920. Denn was liegt „jenseits“ des Lustprinzips? Der „Wiederholungszwang“!13 Gemeint 11 Vgl. Rank 1998; dazu Janus 2000, S. 57-71. 12 Oder mit der zwar etwas anders gemeinten (und wie immer leicht banalisierenden) Kürzestformel eines bekannten Kompensationstheoretikers unserer Tage: „Zukunft braucht Herkunft“ (Marquard 2003). 13 Jenseits des Lustprinzips (Freud 1989, Bd. 3, S. 213-272) ist, wie bekannt, eine Theorie des Wiederholungszwangs (ebd., ab S. 228). Freud hatte den Ausdruck 1919 in Das Unheimliche geprägt (ebd., Bd. 4, S. 261), um die Bindung der Triebe „nach rückwärts“ (ebd., Bd. 3, S. 251), gleichgültig ob dort Lust oder Unlust war, zu bezeichnen; zu diesem und anderen in diesem Kontext neu geschaffenen Begriffen Freuds: Laplanche/Pontalis 1972, bes. S. 494503 (Todestriebe) und S. 627-631 (Wiederholungszwang). – Jenseits des Lustprinzips gehört zur theoretischen Abteilung des Freud’schen Werks, den so genannten „metapsychologischen“ Schriften. Als Metapsychologe (nicht nur, aber vor allem) fällt Freud in die Geschichte der

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ist der Zwang, eben auch die Unlust, den Schmerz, die Scham, das Trauma usw. zu wiederholen, sie nicht loswerden zu können, sondern darauf ‚fixiert‘ zu bleiben, ein aus der psychopathologischen Klinik in bestürzender Fülle bekanntes Phänomen, welches aber für eine reine Psychologie des Lustprinzips unbegreiflich und paradox bleibt. Aus diesem rätselhaften Faktum der Rekursion auf Nichterstrebenswertes leitet Freud die Vermutung ab, dass die Triebe als solche, intrinsisch, „nach rückwärts“ (Freud 1989, Bd. 3, S. 251), also grundsätzlich auf Vergangenes bezogen sind, gleichgültig, ob dieses lust- oder unlustbesetzt sei. Er spricht daher vom „konservativen Charakter“ der Triebe (ebd., S. 246 ff.), aller Triebe wohlgemerkt. Die berühmte, im Text kursiv gesetzte Triebdefinition dieser Schrift lautet: „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung [=‚Wiederholung‘] eines früheren Zustandes“ (ebd., S. 246). Alle organischen Triebe sind mithin als „auf Regression […] gerichtet“ zu begreifen (ebd., S. 247). Doch wo in der Vergangenheit endet dieses ihr Rückwärtsstreben? Hier öffnet Freud den individualpsychologischen Rahmen und weitet seinerseits die Perspektive bereits ins Phylogenetisch-Naturgeschichtliche aus, sehr wohl wissend, dass er sich hier auf „spekulatives“, die „letzten Dinge“ (ebd., S. 268) berührendes Terrain begibt.14 Denn da nun in dieser Gesamt‚Philosophischen [und philosophisch-medizinischen] Anthropologie‘ nach 1900. Zusammen mit in etwa zeitgleichen Autoren wie Semi Meyer (Probleme der Entwicklung des Geistes, 1913; dazu jetzt Hahn 2006, S. 287 ff.), Max Scheler (Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos, 1928), Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928), Viktor von Weizsäcker (Der Gestaltkreis, 1940) oder Arnold Gehlen (Der Mensch, 1940), um nur die bekanntesten zu nennen, bildet er daher innerhalb des deutschsprachigen Denkens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine in ihrer Theoriearchitektur wie in ihren Erträgen hochprofilierte, in ihrem Zusammenhang aber noch gar nicht richtig wahrgenommene Diskursformation aus, die man bezeichnen könnte als ‚philosophisches (dieses Attribut in einem Sinne genommen, das die spekulative Energie des Deutschen Idealismus um 1800 nicht verleugnet) Denken des Menschen (d.h. eines Naturwesens mit Bewusstsein) nach Darwin‘ (woraus sich die dem entwicklungsgeschichtlichen Paradigma inhärente Hauptaufgabe ergibt, die alte anthropologische Leitdifferenz von Tier und Mensch nun historisch-genetisch begreifen, d.h. vermitteln zu müssen). In genau diesen epochalen Diskurs gehören auch literarische Autoren wie Benn, Döblin (s.u.), Rilke, Musil, Thomas Mann u.a. Die Geschichte der Philosophischen Anthropologie bis ca. 1940 in einem solchen transdisziplinären und umfassenden (d.h. nicht nur in konventionellster Manier auf die Philosophen im akademischen Sinne Scheler, Plessner und Gehlen beschränkten) Zuschnitt muss noch geschrieben werden. Vielleicht wird hier das seit längerem angekündigte Buch von Joachim Fischer (inzwischen erschienen: 2008) aufhelfen; nur punktuell ergiebig ist: Bröckling u.a. 2004. 14 „Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Spekulation“ (Freud 1989, Bd. 3, S. 234): naturphilosophische Spekulation (nicht, wie man in der philologischen Literatur gelegentlich lesen kann, naturwissenschaftliche!). – Es war das Verdienst Odo Marquards, die ideengeschichtliche Verbindungslinie zwischen Freud und der romantischen Naturphilosophie (Schelling) – und damit indirekt zur alteuropäischen (neuplatonischen) Tradition – in theoretisch-systematischer Hinsicht ans Licht gestellt zu haben (Marquard 1987, zuvor schon Marquard 1973). Die seit Sloterdijk 1985 wieder stärker ins Bewusstsein getretene Verbindung zur romantischen Medizin (Mesmer) wurde ja schon früh gesehen (Zweig 2003; vgl. vor allem Schott 1988).

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perspektive „das Leblose früher da [war] als das Lebendige“, muss das retrograde Bezogen- und Gefesseltsein der Triebe bis hier hinein gedacht werden; erst im „Anorganischen“ macht ihr Regressionszug halt (ebd., S. 248). Konsequenterweise bezeichnet Freud diesen ‚konservativen‘ Zug der Triebnatur wenige Seiten später summarisch als „Todestrieb“ (ebd., S. 253 ff.) und setzt ihn als schlechthin fundamental für alles biologische Dasein an: Da „wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod“ (ebd., S. 248).15 Freud weiß sehr wohl, wie nahe er damit Schopenhauer gekommen ist (ebd., S. 259). „Vitae opus mors“ – das Werk des Lebens ist der Tod.16 Doch darauf will ich nicht hinaus, sondern auf den Bezug zu Ferenczi, das heißt auf die Theorie der (wie ich es oben mit Andreas-Salomés Ausdruck genannt habe) ‚Doppelrichtung‘ des biologisch-organischen Triebstrebens. Indem Freud mit der Einführung von Wiederholungszwang, Triebkonservatismus und Todestrieb den Monismus des Lustprinzips aufbricht, geht ihm die spekulative Kraft des Gedankens der Polarität oder, wie man auch 15 Freud tendiert in dieser Schrift generell dazu, den konservativen Pol des Trieblebens als den grundlegenderen, umfänglicheren anzusetzen. Er geht daher in seiner Depotenzierung des „Lustprinzips“ sehr weit. Nicht nur, dass mit ihm allein die Natur der Triebe nicht mehr hinreichend begriffen werden kann, scheint es jetzt im Gegenteil „geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen“ (Freud 1989, Bd. 3, S. 271). Wo es das „allgemeinste Streben alles Lebenden“ ist, „zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren“ (ebd., S. 270), kann alle Lustsuche nur ein Umweg dahin sein (und jede Lustfindung mit Glück ein Ritardando). Tatsächlich ist Freuds Problem hier aber auch nicht das Phänomen der Lust- und Sexualtriebe, sondern das Phänomen der Endlichkeit. Um dessen ‚Ratio‘, also den Grund, warum „alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt“ (ebd., S. 269), zu erhellen, begibt er sich „jenseits“ des Lustprinzips. – In seiner Weiterführung dieses Ansatzes, in Das Ich und das Es von 1923 (ebd., S. 273-330), unterstreicht Freud den grundlegend konservativen Zug aller Triebe noch einmal nachdrücklich: „Beide Triebe [Lebens- und Todestrieb] benehmen sich […] im strengsten Sinne konservativ, indem sie die Wiederherstellung eines durch die Entstehung des Lebens gestörten Zustandes [i.e. des anorganischen Zustandes] anstreben. Die Entstehung des Lebens wäre also die Ursache des Weiterlebens und gleichzeitig auch des Strebens nach dem Tode, das Leben selbst ein Kampf und Kompromiss zwischen diesen beiden Strebungen“ (ebd., S. 307). – Auch Benn spekuliert (wohl im Anschluss an Edgar Dacqué) in diesen zwanziger Jahren über die „innere Ursache“ des Todes von Individuen und Arten und gelangt zu einer Art Todestrieb-Vorstellung: „Das Leben will sich erhalten, aber das Leben will auch untergehen“ (Urgesicht, Benn 1980, Bd. 2, S. 114; vgl. Miller 1990, S. 154 ff.). 16 Schopenhauer 1976, Bd. 1, S. 751 (Die Welt als Wille und Vorstellung, II/46): „Vitae nomen quidem est vita, opus autem mors“; nach Heraklit, Fragm. B 48 (Gemelli Marciano 2007, Nr. 33). – Freud selbst zitiert hier eine andere Stelle, aus dem Schluß der Transzendenten Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen von 1851: „[…] können wir uns nicht verhehlen: daß wir unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen sind, für den ja der Tod ‚das eigentliche Resultat und insofern der Zweck des Lebens‘ ist“ (Freud 1989, Bd. 3, S. 259; vgl. Schopenhauer 1976, Bd. 4, Parerga und Paralipomena I, S. 272).

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sagen könnte, der ‚gegenstrebigen Fügung‘ auf.17 Mit Todestrieb auf der einen Seite und „Sexual- oder Lebenstrieb“ auf der anderen bildet er jetzt ein „dualistisches“ oder „Polaritäts“-Schema nicht nur des menschlichen, sondern des biologischen Trieblebens überhaupt aus (ebd., S. 261 ff.). In der „Annahme dieser beiden von Uranfang mit einander ringenden Triebe“ erkennt er gleichsam den Ansatz zu einer jeden möglichen und das heißt auch für ihn: darwinistischen (ebd., S. 256) Naturphilosophie, einen Weg, „das Rätsel des Lebens […] zu lösen“ (ebd., S. 269). Und eben damit, mit dieser Annahme einer elementaren Triebpolarität oder Triebverschränkung, ist denn auch der Grundgedanke jener ‚Doppelrichtung‘ der Zeitachse formuliert, der das organische und damit auch das menschliche Dasein unterliegt, ein Gedanke, der dann, wir sahen es, von Ferenczi evolutionsgeschichtlich ausgezogen werden wird. Die Progression in der Zeit ist von der ihr innewohnenden, gegenläufigen Regressionstendenz nicht zu trennen, Vorwärts und Rückwärts sind auf der temporaler Achse ebenso ineinander verschränkt wie in biologisch-systematischer Hinsicht die Lebens- und Todestriebe (die ja, wie gesagt, das organische Dasein in ‚gegenstrebiger Fügung‘ zugleich in die Zukunft und in die Vergangenheit ziehen).18

3. Sentimentalische Dichtung nach 1900 Man kann Jenseits des Lustprinzips Freuds metapsychologische ‚Anerkennung der Regression‘ nennen. Nicht überraschend also, dass wir mit den Überlegungen dieser Schrift wieder in die unmittelbare Nähe Benns gelangt sind. 17 Letzteres wiederum nach Heraklit (Fragm. B 51; Gemelli Marciano 2007, Nr. 28); Freud selbst verwendet den Ausdruck nicht. 18 Spätestens hier wird für Freud selbst manifest, was sich in diesen zwanziger Jahren auch an Schülern wie Ferenczi oder Andreas-Salomé zeigt, dass die psychoanalytische Theoriebildung jener Zeit dahin tendiert, zu einer Anthropologie der Ambivalenz oder, in der Sprache der Tradition, der ‚coincidentia oppositorum‘ zu werden. Ambivalenz der Triebe, Ambivalenz der Zeit, Ambivalenz der Sprache (Über den Gegensinn der Urworte, 1910, Freud 1989, Bd 4, S. 227-234; Die Verneinung, 1925, Freud 1989, Bd. 3, S. 371-377) – allenthalben geht Freud hier die ‚Einheit der Gegensätze‘ auf. Vielleicht am Leitfaden der frühen Intuition, dass „das ‚Nein‘ für den Traum [und überhaupt das Unbewusste] nicht zu existieren“ scheint (Die Traumdeutung, 1900, Freud 1989, Bd. 2, S. 316), entwickelt er die Einsicht oder besser Vermutung, dass Verneinung, also Differenz, ein Sekundäres ist, welches Indifferenz (zeitlich und systematisch) voraussetzt (vgl. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1916/17, Freud 1989, Bd. 1, S. 185 f.). Ich möchte nicht soweit gehen, in diesen Ansätzen eine späte Variante des alteuropäischen ‚Denkens des Einen‘ zu sehen, schon gar nicht der Freud’schen Intention nach. Immerhin aber bleibt bemerkenswert, dass der spekulative Geist, selbst unter positivistischen Randbedingungen, stets ähnliche Wege zu gehen scheint (vgl. ansatzweise zu diesem Zusammenhang, auch im Blick auf das in Fn. 14-16 Gesagte: Riedel 2006, S. 110-116, Kap 2, bes. S 115 f.).

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Immerhin werden in dem wichtigen Essay Zur Problematik des Dichterischen, in dem dieser 1930 die Prinzipien seiner Dichtung der zehner und zwanziger Jahre reflektiert und anthropologisch begründet (Benn 1980, Bd. 3, S. 83-96), der poetische Impuls und die dichterische Produktion explizit mit dem Freud’schen Begriff des „Wiederholungszwangs“ (ebd., S. 96) gefasst. Womit hier nichts anderes gemeint ist, als dass die Dichtung – wie das Triebstreben in Jenseits des Lustprinzips – immer nach „rückwärts“ „greift“, dass also per se und prinzipiell jede „Gestaltung – Rückgestaltung“ ist (ebd., S. 93). Man hat, am nachdrücklichsten Bruno Hillebrand und zuletzt Antje Büssgen19, nicht zuletzt aufgrund jener gleichsam ‚elegischen‘ Bindung an das in der Zeit Entschwundene und Vergangene, ans Einst und Vorbei, Gottfried Benn unter die ‚sentimentalischen Dichter‘ (im Sinne Schillers) gereiht und ihn als den letzten dieser mit Schiller selbst und Hölderlin beginnenden Tradition gesehen. Tatsächlich erinnert der Impuls der Retention und Rückwendung, der imaginären Wieder-Holung und Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen direkt an eine Poetologie des ‚Andenkens‘, wie etwa Hölderlin sie im direkten Anschluss an Schiller formuliert hatte. Der „Dichter in dürftiger Zeit“, in der Zeit des ‚Mangels‘, der Abwesenheit des schon einmal Dagewesenen, erinnert (wieder-holt) das Entschwundene, hält es imaginär und in Versen präsent und entspinnt aus diesem rückwärtsgewandten Andenken (zum Beispiel an die götterdurchseelte Natur der antiken Kulturen) zugleich – Doppelrichtung unseres Zugs durch die Zeit! – das Ziel seiner auf die Zukunft gerichteten Wünsche und Utopien, sein Ideal des „kommenden Gottes“.20 Ohne Erinnern kein Wünschen und Hoffen – auch hier sind Retention und Protention unlösbar verschränkt. Und ebenso schon in Schillers Blick in die Natur, auf die Phänomene reflexionsloser Naivität in Kindern, Tieren und Pflanzen in den ersten, kulturtheoretischen Abschnitten von Über naive und sentimentalische Dichtung: „Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen“ (Schiller 2004, Bd. 5, S. 695). Freilich konnte er, der mit dem Konzept der „sentimentalischen Dichtung“ der Moderne eines ihrer wirkungsmächtigsten poetologischen Paradigmen schenkte, nicht ahnen, in welche Richtungen dieses Modell sich in der Folgezeit auswachsen sollte. „Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur“ (ebd., S. 712) 19 Vgl. Hillebrand in Benn 1980, Bd. 1, S. 633 ff., sowie Hillebrand 1986, S. 119 ff.; differenziert zu Benn und Schiller jetzt Büssgen 2006. 20 Hölderlin 1998, Bd. 1, S. 372-383, Brot und Wein (1. und 2. Fassung, ca. 1802); vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, 1795/96 (Schiller 2004, Bd. 5, S 694-780), oder, sowohl im Blick auf Hölderlin wie auch auf Benn (Der späte Mensch, 1922, Benn 1980, Bd. 1, S. 13 f.), Die Götter Griechenlandes, 1788/1800 (Schiller 2004, Bd. 1, S. 163-173). – Die folgenden Schiller-Reminiszenzen müssen im gegebenen Rahmen knapper ausfallen als tunlich; vgl. die differenziertere Darstellung bei Riedel 1989, S. 51-95.

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– gewiss, doch was Schiller sich hier unter ‚Natur‘ und ‚konservativem‘ Bezug der Poesie auf sie vorstellte, blieb es auf dem Weg ins 20. Jahrhundert nicht. Benns sentimentalische Dichtung ist Dichtung unter darwinistischen Bedingungen, und diese bewirken, dass die Idee der historischen Ferne und Tiefe, in welche das poetische Empfinden sich zurücksehnt, nicht in der Antike, das heißt in der (so noch für Schiller) Frühzeit der menschlichen Gattungsgeschichte haltmachen kann, sondern hinter diese weit hinausgreift und (nicht anders als bei Freud und Ferenczi) hinabsteigen muss in den ‚tiefen Brunnen‘ der erdgeschichtlichen Vergangenheit, in die – erst im 19. Jahrhundert, dann aber explosiv sich eröffnende – „Tiefenzeit“21 der vor- und vorvormenschlichen Biogenese („O dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären / ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“ usw.). Und das Ideal seliger „Naivität“ (beim Menschen selbst) ist nun nicht mehr repräsentiert in der Idee der „Kindheit“ wie noch bei Schiller (ebd., S. 702 ff.), sondern in der Idee der pränatalen Existenz im Mutterleib. Es liegt, mit anderen Worten, in der Logik des Modells des ‚sentimentalischen Dichtung‘, ja des Habitus der ‚sentimentalischen Empfindung‘ selbst, dass sie nach Darwins Einsenkung der Menschheitsgeschichte in die Naturgeschichte (und der damit verbundenen Berechnung unseres Vergangenheitshorizontes nach paläontologischen Größenordnungen) diese – wissenschaftsgeschichtlich ja erst soeben aufgekommenen und insofern allerneuesten – Stadien des evolutionsgeschichtlich Allerältesten, die prähominiden, ja vortierischen Stadien des natürlichen Lebens, von dem wir ein Teil sind, in den Projektionsraum des poetischen ‚Andenkens‘ einzuschließen sucht: „Sieben Millionen Jahre vor meiner Geburt / war ich eine Schwertlilie“ (Holz 1984, S. 59). Zugespitzt: Wer jetzt ‚Zurück zur Natur‘ sagt, muss ‚Zurück zu unsren Ururahnen‘ sagen. Im Horizont des sentimentalischen Sehnens liegt daher unter darwinistischen Denkbedingungen die Utopie der Erlösung des Menschen nicht nur von zivilisationsbedingter, also kulturgeschichtlich erhöhter Reflexionsspannung (den modernen ‚Entzweiungen‘ und ‚Zerrissenheiten‘), sondern von der evolutionär, also naturgeschichtlich erreichten ‚Sonderstellung des Menschen‘ als solcher.22 In Benns poetischem ‚Rückgriff‘ auf das, was dem Menschen phylogenetisch vorausliegt, wird daher dieser Gattungscharakter (Benns bekannte Formel dafür ist das „Gehirn“, die Großhirn-„Rinde“, als Träger der Kognition, Symbolbildung, Sprache usw.) ‚nach rückwärts‘ transzendiert und aufgehoben. Vom Ich zum Es, vom Menschen zum Tier (und dahinter) geht nun 21 Hier immer nach Gould 1990. 22 In der Sprache der Philosophischen Anthropologie der Zeit könnte man auch mit Plessner sagen: von der „exzentrischen Positionalität“ (vgl. oben Fn. 12; Riedel 2005, S. 180 ff.; grundlegend zu diesem Begriff: Fischer 2000).

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die sentimentalische Bahn.23 Oder noch einmal mit Rönne aus Ithaka, der in genau diesem Sinne ein ‚Rousseauist nach Darwin‘ ist (Benn 1980, Bd. 4, S. 25): „das Gehirn ist ein Irrweg“ (nämlich der Evolutionsweg vom Einzeller zum Homo sapiens sapiens). Sobald also, dies meine These, die zwischen Rousseau und deutscher Romantik begründete poetische Natursehnsucht der Moderne in Kontakt mit den entwicklungsgeschichtlichen Naturvorstellungen des 19. Jahrhunderts kommt, muss es die Utopie einer Umkehrung oder Revision des Evolutionsprozesses hervorbringen. Und damit steht sie ebenso schlagartig wie unausweichlich (und ohne dass dies erst durch ‚Schwarze Romantik‘ oder ‚Décadence‘-Müdigkeiten induziert sein muss)24 im Schatten des Todestriebs. Der ‚sentimentalische‘ Impuls der modernen Dichtung stößt darin auf einen bis dato unerhellten Glutkern seines Wollens.

4. Durchgriff des Anorganischen In den dreißiger Jahren, und nach seiner NS-Verirrung, verabschiedet sich Benn vom Programm der „Regressionstendenzen vermittels des Worts“. Gegen die wilde Dynamik der Entgrenzung, Ichauflösung und thalassalen Verflüssigung des principium individuationis („Breite dich hin, Zerblühe dich, O blute“) stellt er nun seine Ästhetik der geschlossenen Form, die Poetik des „statischen Gedichts“ (Unter dem Titel Statische Gedichte erschienen bekanntlich 1948 seine gesammelten Gedichte aus dem ‚inneren Exil‘ im Dritten Reich).25 Benn bevorzugt nun strenge metrische und strophische Formen, traditionsbewusst (‚klassisch-klassizistisch‘) gefügt; das tat er, wir sahen es, auch schon vorher, doch nun wird es Programm. Schon mein erstes Beispiel, Wer allein ist (1936), mag dies belegen (fünf- und vierhebige Trochäen in vierzeiligen Strophen, mit Kreuzreim und Wechsel von weiblicher und männlicher Kadenz). Die Rede ist in diesem Gedicht vom Künstler, vom Dichter: 23 Ausführlicher dazu: Riedel 2005, S. 190-200. – Wenn man, wie ich hier, von Literatur und (siehe Fn. 13) Philosophie nach Darwin spricht, so wird man dabei, zumal im Blick auf Benn, durchaus im Hinterkopf behalten müssen, wie umstritten Darwin nach 1900 war bzw. wie viele miteinander konkurrierende Spielarten des Evolutionismus es damals gab (dazu jetzt bündig Hahn 2007; zuvor auch schon Miller 1990). Indes spielen diese notwendigen wissenschaftsgeschichtlichen Differenzierungen bei den hier vorgetragenen Überlegungen keine Rolle. Denn hier geht es nur um das all jenen Theorievarianten Gemeinsame, um das entwicklungsgeschichtliche Apriori, die naturgeschichtliche Historisierung des Menschen als forschungsleitendes, wissensorganisierendes ‚Narrativ‘, das eben auch die poetischen Konstruktionen von Sein und Zeit grundlegend verändert. 24 Die bekannte „Rückneigungs“-Topik bei Thomas Mann, im Zauberberg (1924), sehe ich etwas anders motiviert und ausgestaltet. Gleichwohl hängt sie, natürlich nicht zuletzt über Manns (gut erforschte) Freudrezeption, mit dem hier aufgerissenen Ideenkomplex eng zusammen. 25 Immer noch grundlegend dazu: Steinhagen 1969.

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Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, immer steht er in der Bilder Flut, ihrer Zeugung, ihrer Keimnis, selbst die Schatten tragen ihre Glut. Trächtig ist er jeder Schichtung denkerisch erfüllt und aufgespart, mächtig ist er der Vernichtung allem Menschlichen, das nährt und paart. Ohne Rührung sieht er, wie die Erde eine andre ward, als ihm begann, nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde: formstill sieht ihn die Vollendung an. (Benn 1980, Bd. 1, S. 277)

Abwendung vom Leben, von den Lebenstrieben, von der Dynamik des Organischen – so lautet nun die Losung. An die Stelle dissipativer Ekstasen tritt die strikte Konzentration auf das aus dem Kreislauf von „Zeugung“ und „Vernichtung“ herausgetretene, für sich selbst und auf Dauer gestellte ‚statische‘ Kunstwerk, auf die „formstille Vollendung“. Motiv und dazugehöriger Ton kehren in diesen Gedichten der dreißiger und vierziger Jahre immer wieder. Ein zweites Beispiel dafür ist, ähnlich streng gefügt (noch lakonischer durch dreihebige trochäisch-daktylische Verse) und ebenfalls aus dem Jahr 1936, Leben – niederer Wahn: Leben – niederer Wahn! Traum für Knaben und Knechte, doch du von altem Geschlechte, Rasse am Ende der Bahn, was erwartest du hier? immer noch eine Berauschung, eine Stundenvertauschung von Welt und dir? Suchst du noch Frau und Mann? ward dir nicht alles bereitet, Glauben und wie es entgleitet und die Zerstörung dann? Form nur ist Glaube und Tat, die erst von Händen berührten, doch dann den Händen entführten Statuen bergen die Saat. (ebd., S. 278)

Worauf es uns in diesem Fragekontext ankommt, liegt auch hier offen zutage: Stillstellung der Lebensdynamik, Verwandlung der poetischen Bewegungs-, Expansions- und Regressionsmotorik in Figuren der Dauer: Stein und „Statue“, fixierte „Form“. Die ins Horizontale entgrenzte und fluidal gelöste Karyatide von 1916 wird jetzt gleichsam re-petrifiziert, wiederauf-

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gerichtet und erneut zur festen Gestalt geschlossen. Die Poetik zu diesen ‚statischen‘ Texten findet man unter anderem in dem Aufsatz Dorische Welt von 1934 (Benn 1980, Bd. 3, S. 283-309). Der griechische Tempel, seine axiale Symmetrie, der Wiederholungsrhythmus der Säulenreihe – das sind nun die ästhetischen Paradigmen. Doch muss man dies nicht sogleich oder womöglich ausschließlich mit dem depravierten Klassizismus Albert Speers kurzschließen und damit als ‚unrein‘, ja verwerflich zu den Akten des politisch und ästhetisch Unkorrekten sperren. Hier gibt es noch andere, aufschlussreichere Bezüge. Besonders denkwürdig ist in diesem Zusammenhang ein, obwohl von einem prominenten Autor, wenig bekanntes Buch aus dieser Zeit, Unser Dasein von Alfred Döblin – erschienen 1933 und daher, weil alsbald verboten, um seine Wirkung gebracht. Es ist dies ein naturphilosophisch-anthropologischer Versuch; man könnte es mit Blick auf die philosophische Lage um 1930 (siehe oben Fn. 12) eine ‚Philosophische Anthropologie aus Dichterhand‘ nennen (sein Titel spielt vielleicht mit Heideggers Daseinsbegriff aus Sein und Zeit von 1927). Es stützt sich teils auf neuere naturwissenschaftliche, teils auf unorthodoxe bis esoterische Quellen, teils auf die damalige „theoretische Biologie“ (Uexkülls System/ Umwelt-Modell scheint zitiert und verwendet), teils auf die philosophische Tradition (Subjektphilosophie), stellt also ein geradezu exemplarisches Beispiel des eingangs genannten Rezeptionssynkretismus dar und steht dergestalt nicht nur von der Sache, sondern auch, wenn man so will, von der ‚Denkform‘ her dem Benn’schen Modus der Wissen(schaft)saneignung sehr nahe.26 Es verbindet unbefangenes Spekulieren (über „unser Dasein“) mit populärwissenschaftlicher Didaxe, essayistische mit poetischen Formen und ist insgesamt das Buch eines höchst eigenwilligen ‚Selbstdenkers‘, halb begnadet, halb versponnen, aber doch so, dass es einem in manchen Passagen echte Lichter aufzustecken vermag In politischer Hinsicht ist Döblin 1933 zweifellos ein gänzlicher Antipode Benns, in philosophisch-anthropologischer aber, das zeigt dieses Buch, nicht unbedingt, und in ästhetischer noch weniger. Unser Dasein formuliert in seinem Fünften Buch, „Von der Kunst“, auch eine Ästhetik (Döblin 1964, S. 239-263). Kunst und Schönheit sind nach Döblin in naturphilosophischer Hinsicht (und nur dies ziehe ich hier heraus) zu verstehen als der „Durchgriff des Anorganischen in die Welt des Organischen“ (ebd., S. 123), der „nichtmenschlichen […] Welt auf menschliche Erzeugnisse“ (ebd., S. 242 f.); „Kunst will Einsenkung in die anorganische Welt“ (ebd., S. 245, 258); in ihr „schwingt der tiefere Baß, der zuverlässige anorganische Durchgriff. Da werden andere Dinge in uns angesprochen als der Nervmuskelmensch“ (ebd., S. 244). Die Paradigmen für diesen Gedanken sind auch 26 Zu Döblins Quellen jetzt mit neuen Ergebnissen: Keil 2005; zum genannten Jakob von Uexküll (Theoretische Biologie, 1920, 2. Aufl. 1928, ND Frankfurt/M. 1973) hier S. 82 ff.

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hier Rhythmus, Muster, Symmetrie, die Figuren der Wiederholung (in der Sprache: Reim, Vers und Strophe, Anapher, Assonanz usw.) sowie, vor allem, die geometrische Ordnung des Kristalls (überhaupt stellt das Kristalline ein Schlüsselmotiv der Naturphilosophie von Unser Dasein dar; ebd., S. 112 ff.).27 Es drängt sich also geradezu auf, Benns statische Gedichte als – freilich unabhängig davon entstandene – poetische Exempel und zeitgleiche Belege für Döblins ästhetische Intuition der ‚Kristallisation‘ zu lesen. In ihrer formstillen Vollendung und als gleichsam sprachgewordene Statuen bezeugen sie unmittelbar den in Unser Dasein postulierten „Durchgriff des Anorganischen“ auf die Sphäre der menschlichen Kunst. Diese ‚Familienähnlichkeiten‘ sind an sich schon der Aufmerksamkeit des Literatur- und Ideengeschichtlers der ‚klassischen Moderne‘ mehr als wert. Was im vorliegenden Fragezusammenhang daran jedoch am meisten interessieren muss, ist, dass wir hier in noch einmal neuer Wendung unser spekulativ-naturphilosophisches Leitmotiv der ‚Doppelrichtung‘ des Evolutionsgeschehens und damit der Zeitachse des menschlichen Daseins wiederfinden: Indem die naturgeschichtliche Entwicklung in der Zeit progrediert und die Sphäre des Menschen hervorbringt, bringt sie in dieser zeitlich späteren Sphäre zugleich Organe hervor, die, was vorher war, festhalten, kompensatorisch bewahren.28 Ein solches Organ ist für Döblin die Kunst. Sie war es, wie wir sahen, auch für den früheren Benn (bis 1930). Doch auch für den späteren, so würde ich jetzt extrapolieren wollen, bleibt sie es. Jedenfalls lassen sich Döblins Idee vom „Durchgriff des Anorganischen“ und Benns Poetik des Statisch-Statuarischen, um den hier skizzierten Denkraum einmal vorläufig zu schließen, mühelos zurückspiegeln auf Freud, auf Jenseits des Lustprinzips, und auf die darin formulierte Todestrieblehre. Alle Triebe, wir erinnern uns, sind dieser späten Metapsychologie zufolge wesentlich ‚konservativ‘, alle suchen den ‚Weg zurück zum Anorganischen‘. 27 Zu diesem Motiv und seinem Kontext um 1920/30 die wegweisenden Recherchen bei Keil 2005, S. 107-129, über die Kristall-, Zahlen- und Harmonielehre des „neo-pythagoreischen“ Klangphilosophen Hans Kayser (1891-1964). Für Döblin wichtig (auch im Hinblick auf ein weiteres seiner natur- und „daseins“-philosophischen Zentralmotive, die „Resonanz“: Döblin 1964, S. 168-177 u.ö.) war vor allem Kaysers (heute seltener) Folio-Band Orpheus. Vom Klang der Welt. Morphologische Fragmente einer allgemeinen Harmonik (Köln 1924). Ferner kannte Döblin nach Keil wahrscheinlich auch Ernst Haeckels Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben (Leipzig 1917); hinter Haeckel und Kayser stehen die Forschungen des Physikers Otto Lehmann, Die scheinbar lebenden Kristalle (Esslingen 1907) und Flüssige Kristalle. Myelinformen und Muskelkraft (München 1920), die dieser auch durchs Kino popularisiert hatte (Flüssige Kristalle und ihr scheinbares Leben. Forschungsergebnisse dargestellt in einem Kinofilm, 1921). 28 Bei diesen Formulierungen (siehe auch oben S. 107) springt nicht nur etwa die Nähe zur späteren (allerdings nicht primär psychoanalytisch inspirierten) Kompensationsphilosophie Joachim Ritters ins Auge, sondern auch das vielleicht zentrale Verbindungsglied zwischen Freud und der ‚Philosophischen Anthropologie‘ (siehe Fn. 13). Zur Schlüsselstellung des Kompensationsbegriffs im anthropologischen Denken des 20. Jahrhunderts vgl. Marquard 2000.

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Denkwürdig genug also, die Kunst bei Döblin29 und Benn just im Banne desselben ‚seltsamen Attraktors‘ stehen und also in jenem doch einigermaßen abgründigen (anthropologischen, nicht politischen) Sinne „konservativ“ gepolt zu sehen. Nimmt man dies alles zusammen, so ergibt sich eine durchaus neue Perspektive auf die Entwicklung der Benn’schen Lyrik. Auf den ersten Blick scheint es ja doch so zu sein, dass die Poesie und Poetik der statischen Gedichte die der thalassalen Regression glatt aufgibt und ins Gegenteil kehrt – nach dem Schema: damals Dispersion, Verflüssigung und „Vergang“ (Benn 1980, Bd. 1, S. 198) – jetzt Sammlung, Festigung und steinerne Dauer. Vor dem angedeuteten Hintergrund aber wird sichtbar, dass auch die statische Dichtung in sich jener ‚Doppelrichtung‘ unterliegt und dass sie, wegen eben dieser Ambivalenz, keine schlichte (Hegels ‚schlechte‘) Negation der thalassalen darstellen kann. Denn nicht anders als die, um noch einmal ein älteres Metaphernpaar einzuführen, ‚diastolische‛ Poesie der Entgrenzung „greift“ auch die ‚systolische‛ der Kristallisation/Konzentration immer „nach rückwärts“. Die Figuren der Dauer, die sie in mögliche Zukünfte hineinhält, entnimmt sie der tiefsten Vergangenheit, sie verdankt sie, mit Döblin gesagt, dem „Durchgriff des Anorganischen“ respektive, mit Freud, dem „Wiederholungszwang“. Zur abschließenden These pointiert: Keineswegs also befreit sich die Benn’sche Lyrik im Übergang zu den statischen Gedichten aus dem Bann des ‚poetischen Regressionszugs‘ (s. Fn. 22). Vielmehr verschiebt sie nur dessen Fluchtpunkt – nach hinten, also nur noch einmal (dies aber beträchtlich) „nach rückwärts“, nämlich metapsychologisch gesprochen: vom thalassalen Referenzpol Ferenczis zum anorganischen Freuds. Hier mögen sich weitere, noch spekulativere Fragen anschließen, nach dem Verhältnis von Kunst und Todestrieb überhaupt und anderen ‚letzten Dingen‘ mehr. Ich breche daher ab und schließe stattdessen mit einem Gemeinplatz, aus Rilkes erster Duineser Elegie: „das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“. Gemeinplätze inspirieren nicht mehr, wohl wahr; doch vielleicht lässt sich nach den vorangegangenen Seiten anderes bei diesem Zitat denken als bisher.

29 Im Motiv des Anorganischen ist auch bei Döblin der Tod und sein Verhältnis zum Organischen thematisiert; vgl. Keil 2005, S. 107 f. – Döblins Denken (und Dichten) jener Jahre weist eine ähnliche Nähe zu Freuds Metapsychologie auf wie bei Benn und ist ein weiteres Beispiel nicht nur für Psychoanalyserezeption, sondern auch für die genannte ‚Familienähnlichkeit‘ des anthropologischen Denkens der unterschiedlichsten Autoren in dieser Zeit. Zu Döblin und Freud, vor allem in Hinblick auf das uns hier interessierende Regressionsmotiv und seine naturphilosophischen Implikationen, grundlegend Maaß 1997. Auch Unser Dasein weist Spuren der Freud-Rezeption auf (Keil 2005, S. 64 f.); mögliche Bezüge auf Jenseits des Lustprinzips wären noch zu prüfen.

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Gerhard Neumann

Fetisch und Narrativität Kafkas Bildungsroman Der Verschollene

„Keine andere ans Pathologische streifende Variation des Sexualtriebes hat so viel Anspruch auf unser Interessse wie diese durch die Sonderbarkeit der durch sie veranlaßten Erscheinungenen.“ Sigmund Freud über den Fetischismus „Der Dichter ist der Erfinder der Symptome a priori.“ Friedrich von Hardenberg

I Vielleicht ist das wichtigste Instrument, das Sigmund Freud dem Literaturwissenschaftler in die Hand gegeben hat, ein neuer Zeichenbegriff. Es ist der Begriff eines gespaltenen, eines ambigen Zeichens, das seine deutlichste Ausprägung möglicherweise in Freuds – freilich nicht systematisch entwickelter – Theorie des Fetischs erfahren hat. Um diese Zusammenhänge zu exponieren, möchte ich in meinen Überlegungen mit der Erläuterung dieser uns in Umrissen gegebenen FetischTheorie Freuds beginnen. Diese soll also in ihrer Eigenart zunächst bedacht werden. In einem zweiten Schritt möchte ich dann mein literaturwissenschaftliches Interesse an dieser Theorie der ambigen Zeichen artikulieren und ihre Wirksamkeit in literarischen Texten erproben; als die Frage nämlich, ob sich mit Hilfe von Freuds Zeichenkonzept ein besseres Verständnis literarischer Texte erzielen lässt; solcher Texte vor allem, die der Herstellung von Individualität in der Moderne dienen – und zwar aus dem spezifischen Gesichtspunkt entfremdeter und entfremdender Objektbeziehungen. Als Beispiel soll mir dabei Franz Kafkas Novelle Der Heizer und ihre Funktion als Anfangskapitel eines Bildungsromans – oder doch seiner ‚modernen‘ Schwundstufe – dienen; also des Romanfragments Der Verschollene, so weit  

Natürlich findet sich diese Zeichentheorie auch in Freuds bedeutendstem literaturbezogenen Aufsatz, der Abhandlung Das Unheimliche. Vgl. hierzu Neumann 2001. Diesen Gedanken entwickelt Böhme 2006.

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Gerhard Neumann

es in Kafkas Schreibprozess gediehen ist. In einem dritten Überlegungszusammenhang werde ich dann schließlich die erweiterte Frage stellen, ob sich aus dem Fetischcharakter des Erzählens von Individualität kraft der Objektbeziehungen Folgerungen für die Ambiguität, oder Ambivalenz überhaupt, von narrativen Strukturen ziehen lassen: also dasjenige, was ich im Folgenden ‚Metanarrative‘ nennen möchte. Zunächst also ein paar Beobachtungen zu Sigmund Freuds Bemühungen um eine für sein psychoanalytisches Konzept spezifische Zeichentheorie. Im 23. Kapitel seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, das „Die Wege der Symptombildung“ beschreibt, wendet sich Freud der theoretischen Frage nach den ‚Zeichen‘ der Krankheit zu, die er als ‚Symptome‘ bezeichnet; wobei er, zeichentheoretisch konsequent, zunächst davon ausgeht, dass „Ergründung der Symptome für gleichbedeutend mit dem Verständnis der Krankheit“ aufzufassen sei (Freud 1969, Bd. I, S. 350). Symptome, so Freud, treten aus dem Kernkonflikt der Libidobefriedigung, als dem Konflikt zwischen Unbefriedigtheit und Drang nach Befriedigung, hervor: Sie sind a priori ambig. So kann denn Freud aus dem Bewusstsein dieses Konflikts in der Libido-Befriedigung seine Auffassung folgendermaßen resümieren. Aus diesem Konflikt, schreibt Freud, entsteht denn das Symptom als vielfach entstellter Abkömmling der unbewußten libidinösen Wunscherfüllung, eine kunstvoll ausgewählte Zweideutigkeit mit zwei einander voll widersprechenden Bedeutungen. (ebd., S. 352)

In diesem Spiel der Ambiguität der Symptome laufen, so Freud weiter, die gleichen Prozesse ab wie bei der Traumbildung: also Prozesse der Verdichtung und der Verschiebung des Sinns. Es sei dieser spezifische Doppelsinn, der sich bei der Konstruktion des Symptoms ergebe: und zwar „durch extreme Verschiebung“, die sich „auf eine kleine Einzelheit des ganzen libidinösen Komplexes eingeschränkt“ erweist (ebd., S. 357 f.). Wobei, wie Freud ausführt, davon auszugehen ist, dass die „Symptome [...] bald die Darstellung von Erlebnissen, die wirklich stattgefunden haben und denen man einen Einfluß auf die Fixierung der Libido zuschreiben darf, und bald [aber] die Darstellung von Phantasien“ sind (ebd., S. 358). So gesehen könne man nicht umhin, so Freud weiter, „Phantasie und Wirklichkeit gleichzustellen“ (ebd., S. 359); denn es gehe ja gerade um diese Doppeldeutigkeit als Merkmal dessen, was ‚Realität‘, was psychische Realität ist: der unaufhebbare Konflikt zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Ausgelöst sei diese Ambiguität durch ein Trauma, das in der Kindheitsgeschichte des Betroffenen seinen Ursprung hat. Freud nennt drei solcher traumatischer Urszenen: die heimliche Beobachtung des elterlichen Sexualverkehrs; die Verführung des Kindes durch eine erwachsene Person; und zuletzt die aus 

Eine umfängliche Interpretation des Verschollenen biete ich in meinem Aufsatz Ritual und Theater (Neumann 1997).

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der Familiensituation erwachsende väterliche Kastrationsandrohung an das ‚Knäblein‘ in Verbindung mit dessen Wahrnehmung des weiblichen (mütterlichen) Genitals (ebd., S. 359 f.). Alle drei Szenarien setzen ambige Symptome im Erlebenden frei; das letztgenannte Szenario nun aber, die Kastrationsandrohung – und dies ist für den vorliegenden Zusammenhang von zentraler Bedeutung – führe, so Freud, zur Ausbildung des besonderen Zeichenkörpers ‚Fetisch‘. Die eigentliche Urszene, die, im Sinne Freuds, am Anfang der Fetischbildung steht, ist aber dann, wie man weiß, die folgende: Wenn ich nun mitteile, der Fetisch ist ein Penisersatz, so werde ich gewiß Enttäuschung hervorrufen. Ich beeile mich darum hinzuzufügen, nicht der Ersatz eines beliebigen, sondern eines bestimmten, ganz besonderen Penis, der in frühen Kinderjahren eine große Bedeutung hat, aber später verloren geht. [...] Um es klarer zu sagen, der Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es – wir wissen warum – nicht verzichten will. (Freud 1969, Bd III, S. 383f.)

Und Freud erzählt die imaginäre Geschichte von der Kastrationsandrohung noch ein Stückchen weiter: Der Hergang war also der, daß der Knabe sich geweigert hat, die Tatsache seiner Wahrnehmung, daß das Weib keinen Penis besitzt, zur Kenntnis zu nehmen. Nein, das kann nicht wahr sein, denn wenn das Weib kastriert ist, ist sein eigener Penisbesitz bedroht, und dagegen sträubt sich das Stück Narzißmus, mit dem die Natur vorsorglich gerade dieses Organ ausgestattet hat. Eine ähnliche Panik wird vielleicht der Erwachsene später erleben, wenn der Schrei ausgegeben wird, Thron und Altar sind in Gefahr, und sie wird zu ähnlich unlogischen Konsequenzen führen. (ebd., S. 384)

Es ist also der Kastrations-Schock, als das eigentliche Krisenerlebnis der kindlichen Sozialisation, von dem hier die Rede ist. Dieser Schock erzwingt eine ambige Kontamination, die paradoxe Zusammenzwingung von Anerkennung und Verleugnung von Wahrnehmungen, die ihrerseits zur Bildung des Fetischs, als eigentlicher Form der Deckerinnerung, führt; des Fetischs als eines Ersatzobjekts – freilich mit ganz spezifischem schillerndem Zeichen-Charakter. Die hier erzählte Handlung, nämlich der performative Akt der Fetischbildung und Fetischnutzung, „vereinigt“, so die Auffassung Freuds in diesem Zusammenhang, „die beiden miteinander unverträglichen Behauptungen: das Weib hat seinen Penis behalten und der Vater hat das Weib kastriert.“ Dies bedeutet aber: Die Fetischbildung führt zu konkurrierenden, einander ausschließenden Narrationen. Aus dieser Freud’schen Beobachtung der Fetischbildung lässt sich nun aber eine weitergehende Einsicht ableiten. Offenbar wird der Fetischismus zu einem zentralen Konzept der Analyse des 

So die Formulierung von J.-B. Pontalis (1972, S. 31).

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modernen Subjekts und seiner Stellung in der Kultur überhaupt; und zwar durch die besondere Art der durch ihn repräsentierten Objektbeziehung. Der Fetischist idealisiert zwar gleichsam ein Element des Objekts, wie jeder Symbolproduzent; aber er tut dies so, dass der fetischisierte Teil nicht für ein Ganzes steht, auf das er verweist, sondern dieses Ganze selbst zu sein tyrannisch – und gegen alle Wahrnehmung – behauptet. Damit funktioniert aber der Fetisch nicht, wie man behauptet hat, als pars pro toto, also rhetorisch gesprochen, als Synekdoche, sondern, im Sinne Alfred Binets, als ein fundamental paradoxes Zeichen, das auf seiner materiellen Präsenz insistiert und dabei zugleich die ‚Sperre‘ der Symbolisierung, der Abstraktion oder Generalisierung ‚ausstellt‘, also ‚vorzeigt‘ (Böhme 2006, S. 384), und daraus eine Sequenz von Meta-Narrationen ableitet. Was dabei geschieht ist die Markierung einer Erzählung, die sich nicht erzählen lässt, als befremdliches Objekt. So gesehen kann man den Fetisch nicht, wie oft geschehen, auf eine rhetorische Figur reduzieren, denn er besteht – gerade durch seine Auratisierung – auf ‚Realpräsenz‘. Er stellt ein ambiges Zeichen eigener Art dar, das den Konflikt zwischen Materialität und Idealität nicht zu organisieren, nicht zu versöhnen vermag. Der Fetisch gibt also, nach Freud, zugleich etwas zu sehen und etwas nicht zu sehen: den Fuß und das kastrierte Genital, das Trauma, das ihn hervorbringt, und dessen Abwehr zugleich (ebd., S. 402). Die das Subjektgefühl bedrohende Vorstellung, dass es niemals mehr eine phallische Identität geben wird, wird also durch den Fetisch intermittierend verdrängt. Das ist die Botschaft eben jenes „Kastrationsschreckens“, von dem Freud wiederholt spricht (Freud 1969, Bd. III, S. 385; 393). Die Reaktion des Subjekts auf dieses Szenario ist aber dann dasjenige, was Freud die „Ichspaltung im Abwehrvorgang“ nennt (ebd., S. 389-394). Diese auf Ich-Spaltung beruhende Kompromissform enthält – so könnte man sagen – zwei einander rigoros ausschließende Zuschreibungen: die Kastration und den weiblichen Phallus, das Grauen und die Selbstvergewisserung, den Zerfall und die Stabilisierung des Ich-Gefühls. Was stattfindet, ist eine nicht arretierbare Oszillation zwischen beiden komplementären wie kontrastiven Seiten; es bildet sich eine Struktur der Unentscheidbarkeit, des Innehaltens zwischen dem Unvereinbaren heraus. Man kann es die Struktur eines ambigen Zeichens nennen (Böhme 2006, S 402). Sarah Kofman hat dies einmal ebenso zutreffend wie prägnant ausgedrückt: Der Fetisch sei das Zugleich zweier sich ausschließender Bestimmungen, deren prekäre Balancierung einen Schutz vor der Psychose darstellt (Kofman 1985, S. 86-89). Freud selbst hat die Struktur des Zeichens ‚Fetisch‘, wie er es versteht, gelegentlich als die Bildung einer Deckerinnerung zu erklären gesucht; als ‚Erzählen einer Geschichte, die sich als Gegenstand ausgibt oder maskiert‘, 

Dies ist die These von Böhme 2006.

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wie man mit einer für unsere Argumentation aufschließenden Formel des Psychiaters Robert J. Stoller sagen könnte: „A fetish is a story masquerading as an object“ (Stoller 1985, S. 155). Auf diese glückliche Formulierung wird im Zusammenhang des Bezugs zwischen Fetisch und Narrativität bei Kafka und seinem ‚Bildungsroman‘ Der Verschollene wieder zurückzukommen sein. So gesehen ist der Fetisch ein Zeichen, das auf seine symbolisierende Kraft Verzicht tut und gleichwohl seine ‚sinnlose‘ materiale Existenz bedeutungsvoll auratisiert. Es war J.-B. Pontalis in seinem wegweisenden Aufsatz über die Struktur des Fetischs, der das zutreffend formuliert hat. Der Fetisch, als Deckerinnerung verstanden, gelte, so schreibt Pontalis, „als unbedeutender und zugleich kostbarer, geistig oder gestisch manipulierbarer Zeuge, hinter dem sich für immer verbirgt und bewahrt, was nicht verloren gehen darf.“ (Pontalis 1972, S. 13) Vor diesem Hintergrund könnte man behaupten, dass Freuds kulturtheoretisches Interesse am Fetisch weit über das Phänomen des ‚ambigen Zeichens‘ im psychologischen Feld, das der Fetisch zunächst einmal darstellt, hinausgeht. Und zwar scheint dieses Interesse sich in drei Richtungen auszuwirken: Es handelt sich zum einen um den Blick auf die kulturelle Funktion des Kastrationskomplexes sowie die symbolische Wirksamkeit des Geschlechter-Unterschiedes; und zwar bei der Herstellung von Individualität aus der Objektbeziehung heraus – vor allem der Liebesobjektbeziehung, und den damit verbundenen ‚Liebes-Bedingungen‘, wie Freud sich gelegentlich ausdrückt (Federn/Winterberger 1992, S. 12). Es geht Freud des weiteren um die Analyse einer anderen Art des Glaubens, der auf der Verleugnung gründet; und zwar im Hinblick auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit und ihrer Objekte. Und es geht ihm schließlich um die Herausarbeitung einer Struktur des Ich in seinem Verhältnis zur Realität; also der Ich-Spaltung, verstanden als die Reibung zweier entgegengesetzter psychischer Haltungen, die nebeneinander, ohne dialektische oder komplementäre Beziehung untereinander, bestehen. Alle drei Interessenrichtungen – die auf Sexualität, auf Wahrnehmung und auf Identität bezogene – erwachsen aus der Einsicht in die ambige Zeichenstruktur des Fetischs, die mit keiner anderen Zeichenkonstruktion vergleichbar ist. Meine Auffassung von dem von Freud, nach dem Vorgang Alfred Binets und anderer, entdeckten und beschriebenen zwiespältigen Zeichen, das er in der ambigen Struktur des Fetischs verwirklicht sieht, geht mithin über die Gleichung ‚Fetisch – weiblicher Phallus‘ hinaus. Ich erkenne darin vielmehr ein Grundmuster moderner Welt- und Selbst-Erfahrung; eine Modellierung des unüberwindlichen Konflikts zwischen Objekt und Narration. Freud selbst hat ja darauf bestanden, dass es beim Fetisch um ein Kulturmuster weiträumiger Art geht. Ich zitiere seine berühmte Äußerung über den fetischisierten Gegenstand als „Ersatz für das Sexualobjekt“:

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„Dieser Ersatz wird nicht mit Unrecht mit dem Fetisch verglichen, in dem der Wilde seinen Gott verkörpert sieht.“ (Freud 1969, Bd. V, S. 63) Freud greift hier einen Gedanken auf, den Charles de Brosses in seinem Buch Du culte des dieux fétiches ou parallèles de l’ancienne Religion de l’Egypte avec la religion actuelle de Nigritie (1760/88) schon einmal gut zwei Jahrhunderte zuvor aufgebracht hatte. Die Kategorie des ‚gespaltenen Zeichens‘ ist also, wie Freud weiß und schon Binet vor ihm hervorgehoben hat, aus der Ethnologie in die Psychoanalyse gewandert und erweist sich als Instrument der Kulturdiagnose, als Mittel der Beschreibung des spezifisch modernen Verhältnisses zwischen dem Subjekt und seiner Identitätsgewinnung aus der Objekt-Beziehung und aus dem Blick auf das Objekt. Wie die Etymologie des Wortes ‚Fetisch‘ – port. feitiço: Zaubermittel, künstlich Zurechtgemachtes, lat. factitius – ausweist, diente der im Feld des portugiesischen Kolonialismus auftauchende Begriff zur Markierung der Grenzstelle zwischen dem Eigenen und dem Fremden bei der Wahrnehmung exotischer Kulturen. Von hier wird der Begriff später, wie es Freud tut, auf die ‚gespaltene‘ Wahrnehmung des anderen als des fremden Geschlechts übertragen. Das Problem der Wahrnehmung zwischen Kulturen wird so auf das Problem der Wahrnehmung zwischen den Geschlechtern projiziert. Der Fetisch gerät mithin zur Modellierung jenes Zeichens, das auf der oszillierenden Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden sich bildet. Oder noch genauer gesagt: Der Fetisch ist die strukturelle Antwort auf die Frage ‚Wie erzählt man das Unerzählbare der Erfahrung des Fremden‘; eines Fremden, das das Eigene ist; des Anderen, das das Sexuelle ist; des Anderen, welches das exotische Kulturelle darstellt. Charakteristisches Merkmal des so verstandenen ambigen Zeichens ist – in der Freud’schen Terminologie – die Überkreuzung von Verleugnung und Anerkennung des Wahrgenommenen. Im Akt dieser Überkreuzung vollzieht sich die Konstruktion von Wahrnehmung, die zu keiner Abbildung mehr wird, sondern als die Aufmerksamkeit auf den Riss zwischen dem Eigenen und dem Fremden ins Bewusstsein tritt, der sich im Zeichen selbst auftut; den das Zeichen selbst ‚ausstellt‘ oder, mit anderen Worten, ‚in Szene setzt‘: ‚masquerading as an object‘, wie Robert J. Stoller sich ausdrückt. Es geht mithin um ein aporetisches Grundmuster, in dem Unvereinbares miteinander verwunden wird: das Vertrauen in die Wahrnehmung mit dem Misstrauen gegenüber dem Gewussten; umgekehrt aber auch das Vertrauen in das Gewusste mit dem Misstrauen gegenüber dem Wahrgenommenen. Das Paradox, das hier in den Blick kommt, hat zuletzt strukturelle Bedeutung. Es besagt, dass Wahrnehmung von Wirklichkeit notwendig auf der Inszenierung jener gespaltenen Zeichen beruht, in denen der Bruch zwischen 

Vgl. dazu die Ausführungen von Böhme 2006, S. 199 ff.

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dem Eigenen und dem Fremden – dem sexuell und dem kulturell Fremden – als eigentliches Problem des Mediums der Wahrnehmung eklatant wird. „Der Fetischismus“, sagt denn auch der Ethnologe Jean Pouillon, wäre demnach der unverstandene Kultus, den man annimmt oder herabsetzt. Genauer, der Fetischismus als Theorie ist der fremde Kultus, den man verdammt, indem man ihn zu erklären behauptet; als Praxis ist er der fremde Kultus, den man zu dem seinen macht, ohne ihn zu verstehen. Kurz, der Fetisch ist stets ein Anderer und der Fetischismus das Inintelligible, das Nicht-Denkbare. (Pontalis 1972, S. 201)

Und Pouillon fügt hinzu, in dem Fetisch sei „das zu sehen, was man nicht wirklich zu denken vermag. [...] was immer er sein mag, wo immer man ihm begegnet, er ist eine Grenze“ (ebd., S. 215). So gesehen wäre der Fetisch, als ein Medium von Befremdungserfahrung, zu einem Terminus der Selbstbeschreibung viel eher der europäischen Gesellschaften als der außereuropäischer Kulturen geworden. Hat man sich dieses ambigen Zeichenbegriffs versichert, so wird man gewahr, dass die Sozialisation des modernen Subjekts genau durch den Umgang mit solchen ambivalenten Zeichen markiert ist: und zwar Zeichen, die ihre Gespaltenheit nicht in Symbolik oder gar symbolische Systeme überführen, sondern sie als solche unaufgelöst ausstellen, und das Subjekt selbst, als gespaltenes, selbstentfremdetes, ‚verdinglichtes‘ zurücklassen; im Ausnahmezustand sozusagen, der weder in der symbolischen Ordnung noch außerhalb dieser seinen Platz findet.

II In einem zweiten Ansatz möchte ich nun versuchen, mithilfe des eben bei Freud gewonnenen Instruments des ambigen Zeichens eine von Franz Kafka erzählte Geschichte, nämlich die Heizer-Novelle und ihre Funktion im Roman Der Verschollene, genauer zu verstehen; ein Roman, der die Geschichte eines entfremdeten Ich zu hören gibt; eine Geschichte, die von der Begegnung mit dem Fremden als der Sexualität des anderen Geschlechts einerseits und von der Begegnung mit dem Anderen, das eine fremde Kultur, nämlich diejenige ‚Amerikas‘, darstellt, andererseits berichtet; eine Erzählung zugleich, die ein Objekt, den Koffer Karl Roßmanns nämlich, in den Mittelpunkt stellt, einen Gegenstand, welcher sich seinerseits für eine Geschichte ausgibt, die, wegen ihrer traumatisierenden Umstände, nicht erzählt werden kann; ein Romanfragment schließlich, das noch einmal die 

Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf Agambens Version, gewonnen im Spannungsfeld zwischen ‚nacktem Leben‘ und ‚Gesetz‘, die er in Auseinandersetzung mit Gedanken Carl Schmitts und Walter Benjamins entwickelt (Agamben 2004).

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Lebensgeschichte eines ‚modernen‘ Subjekts bieten will, deren Erzählung an ein Objekt und seinen ambigen Zeichencharakter gebunden wird. Ich meine also die Geschichte von Karl Roßmann, der mit nichts als seinem Koffer und einer ihm anhängenden peinvollen Verführungs-Geschichte auf einem Auswandererschiff in den Hafen von New York einfährt – um in einer anderen, einer fremden Kultur seinen ihm eigenen Identitätsweg zu finden. Dieser Anfang des Romans, der, freilich nur auf den ersten Blick, ein herkömmlich exemplarisches Roman-Narrativ verspricht, lautet aber so: Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte. (Kafka 1983, S. 7)

Worum es bei Karl Roßmanns Geschichte geht, ist der ‚riskanteste Augenblick‘ in einer Lebenskarriere (vgl. Neumann 1992), nämlich der Eintritt in eine fremde Welt und ihre kulturellen Gesetze. Es ist Karls Onkel Jakob, der dieses Gesetz des ‚first contact‘, des ‚first encounter‘ als Initialerfahrung von Welt, im Roman formuliert. Die „ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar“ (Kafka 1983, S. 56), sagt er, das Befremdungsgeschehen erläuternd, zu seinem Neffen. Was aber Karl in die Neue Welt mitbringt, ist zweierlei: erstens eine ihm angetane Verführungs-Geschichte, also ein sexuelles Trauma, wenn man es so nennen will; und zweitens einen Koffer, den alten Militärkoffer seines Vaters, den Familienkoffer, in dem seine Habseligkeiten – ein Festtagsanzug, eine Veroneser Salami und Photographien seiner Eltern – untergebracht sind. Auch ein Regenschirm, als Reiseutensil, gehört dazu. Ganz offenbar haben die traumatische Geschichte der Verführung durch das Dienstmädchen einerseits, der Koffer, der die Objekte eines begonnenen und jäh abgebrochenen Lebens enthält, andererseits etwas miteinander zu tun. Aber diese Beziehung zwischen Objekt und Narration kommt nirgends zur Sprache und bleibt im höchsten Grade ambig. Gleichwohl lebt der ganze Roman aus dieser Spaltung, er entwickelt sich aus der ‚Ausstellung‘, der Exponierung dieser unüberbrückbaren Differenz. Beide zusammen, der Koffer und das ihm anhängende Narrativ, bilden die Struktur eines dissoziierten Zeichens, wie der (schon genannte) Robert J. Stoller es formuliert hatte: Ein Fetisch ist eine Geschichte, die sich als Gegenstand maskiert (Stoller 1985, S. 155). Kafkas Roman stellt diese Spaltung des Zeichens, das Abbreviatur und Ursprungspunkt eines Lebensbegehrens sein will, geradezu exemplarisch aus: als Zeichen einer traumatischen – ebenso unerzählbaren wie befremdlich verdinglichten – Urszene, aus der eine doppelte Karriere in der Neuen Welt herauswachsen soll: eine sexuelle Karriere, also eine Liebesgeschichte zum einen; eine Berufskarriere,

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eine Erfolgs- und selfmade-man-Geschichte zum anderen. So ist es eine im gespaltenen Zeichen mitenthaltene Initial-Szene, anerkannt und verleugnet zugleich, die weiteres Leben-Erzählen generieren soll. Ich möchte diesen beiden Aspekten, die die Lebensgeschichte Karl Roßmanns zu steuern unternehmen, der Frage nach dem Koffer und derjenigen nach dem Erzählen der initialen Verführungs-Szene, ein wenig genauer nachgehen. Die These lautet, dass sich durch die Einführung eines Fetisch-Objekts in die Bildungsgeschichte seines Helden in Kafkas Roman Meta-Narrative entwickeln, die paradoxerweise von der Unmöglichkeit erzählen, eine Lebensgeschichte zur Sprache zu bringen. Zunächst wende ich mich also der Frage nach dem Status und der Funktion des Koffers in Kafkas Verschollenem zu. Karl hatte während seiner Überfahrt im Zwischendeck des Schiffes seinen Koffer eifersüchtig bewacht – bedroht durch das Lauern eines Slowacken, der nachts versuchte, den Koffer mit einer langen Stange zu sich hinüberzuziehen (Kafka 1983, S. 16). Und umgekehrt: Als Karl nach der Ankunft in New York plötzlich merkt, dass er seinen Schirm in der Kabine vergessen hat, überlässt er die Aufsicht über den doch viel wertvolleren Koffer leichtfertig einem Fremden und geht zurück in das Labyrinth des Schiffsinneren. Warum hatte er sich den ihm teuren Koffer – so fragt er sich denn auch gleich darauf selbst – nur „so leicht [...] wegnehmen lassen“ (ebd.)? Es ist diese Ambivalenz von Preisgeben und Behaltenwollen, die Karls Verhältnis zu seinem Koffer von Anfang an prägt. Einerseits enthält er für Karl das einzig Vertraute des zurückgelassenen Lebens – die Photographien der Eltern sind Karl der kostbarste Besitz, den er, auf dem Weg nach Ramses, gegen den Inhalt des ganzen Koffers einzutauschen bereit ist. Die Photographie „war mir wichtiger, als alles was ich sonst im Koffer habe“, wird er den beiden Landstreichern Robinson und Delamarche beim Verlust erklären (ebd., S. 167). Andererseits aber drängt es Karl offenbar, den Koffer loszuwerden – er lässt ihn an Deck und verliert sich, auf der Suche nach dem vergessenen Regenschirm, im Labyrinth des Schiffsbauchs. Der New Yorker Onkel nimmt Karl Roßmann dann ohne den verlorengeglaubten Koffer in sein Haus auf und stattet ihn mit neuen Dingen aus: Kleidung, Schreibtisch, Klavier, Literatur – er lässt Karl zum Beispiel ein Gedicht über eine Feuersbrunst auswendig lernen. Als der Onkel ihn aber bald darauf wieder verstößt, bringt ein Abgesandter des Onkels, Herr Green, Karl den Koffer zurück. Die Requisiten seiner Vergangenheit stellen sich, wenn auch reichlich durcheinandergewirbelt, wieder vollständig bei ihm ein: „Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder“, heißt es da (ebd., S. 124). Auf diese Weise aufs neue exiliert, macht sich Karl auf den Weg nach Ramses. Dieses Spiel von Anerkennung und Verleugnung der Ursprungs-Geschichte, die der Koffer erzählen will, wiederholt sich im Roman dann im-

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mer wieder. In einer Absteige, in der er den beiden Strolchen Delamarche und Robinson begegnet, scheint ihm der wiedergewonnene Koffer so kostbar, dass er sich vornimmt, ihn „keiner Gefahr mehr auszusetzen“ (ebd., S. 129). Hier ist es, wo er seinen Koffer „untersuchen“ will, „um einmal einen Überblick über seine Sachen zu bekommen, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte und von denen sicher das Wertvollste schon verloren gegangen sein dürfte“ (ebd., S. 129). Der Koffer, mit seinen in immer anderer Zusammenstellung sich präsentierenden Requisiten, wird nun abermals zum Organon von Karls Lebensverstehen und Selbsterfahrung. Als er ihn aufmacht, ist er entsetzt darüber, wie alles „wild durcheinander hineingestopft“ ist. Wie viele Stunden, so denkt er bei sich, hatte er auf der Überfahrt damit verbracht, ihn zu ordnen und wieder zu ordnen (ebd., S. 129) – und jetzt zeigte sich ihm nur das gänzliche Chaos der ihm zugehörigen Objekte. Immer noch aber, so heißt es im Text, fehlte „nicht das geringste“ (ebd., S. 131). Wäsche, Pass, Geld, Uhr, Veroneser Salami, die ihren Geruch allen Sachen mitgeteilt hatte – Kafkas Madeleine, wenn man so will: Alles ist noch vorhanden. Aber auch Taschenbibel, Briefpapier und eben die Photographien der Eltern haben sich wieder eingestellt. Selbst seine verlorengeglaubte Mütze erkennt er, als sie plötzlich in den Koffer fällt, wieder: „in ihrer alten Umgebung“! (ebd., S. 131) Aber dieses rhythmische Erscheinen und Verschwinden, Sich-Versammeln und Sich-Zerstreuen der Elemente des Koffers geht noch weiter. Als Robinson und Delamarche mit Karl unter einem Baum rasten, verlässt er sie für einen Augenblick, um im nahegelegenen Hotel Occidental etwas zum Essen zu holen. Als er zurückkehrt, ist sein Koffer aufgebrochen – die Gegenstände sind verstreut, die Photographie der Eltern fehlt. Es kommt zur Krise und zum Streit, in dem er sich von den beiden Vagabunden trennt und, von Anfang an protegiert von der Oberköchin, sogleich als Liftboy im Hotel Occidental unterkommt: „Sein Koffer“, heißt es, „war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen“ (ebd., S. 177). Als es dann, dank der Indiskretion Robinsons, auch im Hotel Occidental zum Bruch kommt, wird Karls Koffer von Therese gepackt und ihm nachgetragen – sie war, heißt es da, der „Überzeugung, daß in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheim halten mußte“ (ebd., S. 251). Hier nun erst verliert sich die Spur des Koffers im Roman. Er hatte Karl Roßmann als Fetisch seiner sich mehr und mehr entfremdenden Identität begleitet, hatte die wechselnden Beziehungen in der sich erweiternden Fremde um Karl markiert und war nun verschwunden, als Karl sich anschickt, zum Verschollenen in der Weite Amerikas zu werden: Unter einem Pseudonym ins Theater von Oklahama aufgenommen, macht er sich auf die Fahrt in den Westen Amerikas und verschwindet aus dem erzählten Geschehen. Der Koffer, der Karl auf seinem Weg begleitet, ist das ambivalente Zeichen seiner Herkunft, seiner familialen Initialszene, die er als ‚Gegenstand‘,

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der sich als eine ‚Geschichte‘ ausgibt, bald willig, bald unwillig bei sich trägt; und der den Widerspruch zwischen Anerkennung und Leugnung dieser Herkunfts-Szene, der heilen Familienwelt und ihres unheimlichen Kerns, maskiert und zugleich ‚ausstellt‘. Es ist die Struktur dieses Fetischs, die von der Selbstentfremdung Karls spricht – ihres Anfangs, den sie in der Heimat nimmt, ihres Endes dann beim Sich-Verlieren Karls in der Fremde des amerikanischen Westens.

III Nun, in einem dritten Schritt, möchte ich auf die Erzählakte und ihre Komplikationen in Kafkas Heizer, die sich an Karls Koffer binden, zu sprechen kommen. Es ist die Szene der Verführung Karls durch die Köchin Johanna Brummer, die Karl verdrängt und nicht erzählen will, welche das ganze Erzählgefüge steuert – nicht nur des ersten Kapitels, sondern des ganzen Romans. Die Szene ist nach dem mythischen Dispositiv des biblischen Sündenfalls modelliert und bietet den Anlass zu einem – im Freud’schen Sinne – klassischen Trauma, nämlich der sexuellen Verführung eines Kindes durch eine erwachsene Person; und sie unterliegt Verdrängungsakten. Diese Verdrängungstendenz ist aber auf ambige Weise wiederum an den Koffer geknüpft. Das wird deutlich, als Karl beim Verlassen des Schiffs zwei Fehlleistungen unterlaufen: Da ist einmal das Vergessen des Schirms im Schiffsbauch; da ist zum anderen das Zurücklassen des Koffers an Deck in der Obhut des zweifelhaften Reisegenossen Butterbaum und das hierauf folgende Sich-Verweilen und Sich-Vergessen Karls in der Kajüte des Heizers. Von dieser problematischen Last seiner Herkunft befreit, begegnet Karl, auf der Suche nach dem Schirm, eben dem Heizer – und damit einer ersten Herausforderung, seine verdrängte Verführungsgeschichte zu erzählen. „Warum haben Sie denn [nach Amerika] fahren müssen?“, fragt der Heizer Karl. Dieser aber wehrt ab, weigert sich, seine Geschichte zu erzählen. Im Text heißt es: „‚Ach was!‘, sagte Karl und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg.“ (ebd., S. 12) Worauf der Heizer antwortet: „Es wird schon einen Grund gehabt haben“ und der Erzähler hinzufügt: „[...] und man wußte nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder abwehren wolle.“ (ebd.) Damit gibt der Heizer eine Leseanweisung für das Erzählen insgesamt, das im Roman praktiziert wird: als das immer wiederkehrende Alternieren von Fordern und Abwehren von Erzählung, von Anerkennen und Verleugnen dessen, was sich ereignet – um das Freud’sche Begriffspaar in Erinnerung zu rufen. Schon in der Kapitänskajüte wiederholt sich dieses Spiel. Statt seine Geschichte zu erzählen, legt Karl seinen Pass vor – wobei der Oberkassier diesen mit zwei Fingern „beiseite schnippt“ (ebd., S. 22), genau

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wie Karl seine Verführungsgeschichte beiseitegeschnippt hatte. Statt seiner eigenen Geschichte erzählt nun aber Karl die Leidensgeschichte des Heizers, teils um diesem zu helfen, teils aber auch, um seine eigene Geschichte dadurch zu verdecken. In der nächsten Szene – die Kajüten-Episode ist ja ein kleines Drama – tritt dann der Herr mit dem Bambusstöckchen, der sich später als Karls amerikanischer Onkel Jakob zu erkennen geben wird, in den Vordergrund. Es kommt zur Wiedererkennungsszene zwischen Onkel und Neffe und der Onkel schickt sich an, Karls verdrängte Verführungs-Geschichte, die die Köchin Johanna Brummer ihm in einem Karl vorausgeschickten Brief mitgeteilt hatte, der ganzen in der Kajüte versammelten Runde zu erzählen. „[...] ich will nicht daß er es allen erzählt“ (ebd., S. 39), sagt Karl da zu sich selbst. Was freilich den Onkel nicht hindert, eben dies zu tun. In dieser peinvollen Situation beginnt eine Sequenz ‚erlebter Rede‘ Karls, also eine Art Murmeln des Unbewussten, wo es heißt: Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen [...] weinend kam er endlich [nach der Verführung durch die Köchin] in sein Bett. Das war alles gewesen und doch verstand es der Onkel, daraus eine große Geschichte zu machen. (ebd., S. 41 ff.)

Die ‚große Geschichte‘ des Onkels fungiert, so könnte man in der Sprache Sigmund Freuds sagen, als ‚Deckerzählung‘, die über den petit récit Karls, das Unerklärliche und nicht zu Veröffentlichende der traumatischen Verführungsszene, gestülpt wird. Was hier zur Szene wird, ist die in Anerkennung und Verleugnung hoffnungslos verwickelte Geschichte des Traumas, das von dem Fetisch, der das Lebensbegehren und das Familienpaket in sich geborgen enthält, nämlich dem ‚alten Militär‘-Koffer des Vaters, abgespalten wird. Es ist ein undurchschaubares Geflecht von sich wiederholenden Erzählungen des Erzählens und deren immer neu konstatiertes Versagen. Denn in Ab- und Anwesenheit des Koffers geschieht ja Folgendes: Karl verdrängt seine Geschichte und ‚wirft sie mit der Hand fort‘. Die Geschichte überholt ihn aber bei seiner Überfahrt – in Gestalt des Briefes der besorgten Köchin an den Onkel. Der Onkel vermerkt sich den Text des Briefes in sein kleines Notizbuch (ebd., S. 30), gewissermaßen dessen Quintessenz, benutzt diesen Text als Identitäts-Test und erzählt ihn zu einer ‚großen Geschichte‘ um. Gleichzeitig erzählt Karls dumpfes Bewusstsein diese Verführungsgeschichte als ‚erlebte Rede‘ murmelnd vor sich hin. So

Es war der hohe literarische Rang dieser Szene, den Robert Musil in seiner frühen Rezension wohl als erster erkannte. „Und dann“, schreibt er in der Literarischen Chronik 1914, „steht inmitten von all dem eine Stelle, wo berichtet wird, wie eine angejahrte Magd unbeholfen verlegen einen kleinen Jungen verführt; ganz kurz, aber von einer solchen Macht in wenigen Strichen, daß der bis dahin vielleicht bloß sanfte Erzähler als sehr bewußter Künstler erscheint, der sich zu kleinen und geringen Empfindungen beugt.“ (Musil 1960, S. 688)

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dann erzählt (und fingiert) Karl die Lebensgeschichte des Heizers als DeckErzählung seiner eigenen, verdrängten, die dadurch unerzählt bleibt. Und man erinnert sich, dass er solche Deck-Erzählungen und -Rollenspiele in seinen im Roman folgenden Begegnungen mit dem ‚fremden Geschlecht‘, mit Klara, Therese und Brunelda, weiterinszenieren wird. Was aus dem ambigen Zeichen des Koffers – also des Fetischs, der eine Geschichte als Gegenstand ausstellt – herausgetrieben wird, ist ein Spiel der Narrationen und Metanarrationen, die an einer ‚erlebten‘ Geschichte (der Verführung) arbeiten, welche als verdrängte und abgewehrte, geschriebene, wiedererzählte, verschwiegene und übersetzte im Erzähltext wiederkehrt – und zwar im nie endenden Spiel von Anerkennung und Verleugnung. Man könnte auch von einem sehr weit getriebenen Spiel des stellvertretenden, das Unaussprechliche ‚deckenden‘ Erzählens in der Novelle sprechen. Die Köchin erzählt stellvertretend die Geschichte Karls. Dieser erzählt stellvertretend die Leidensgeschichte des Heizers. Der Onkel erzählt stellvertretend die Geschichte Karls. Es sind Überholungen und Überlagerungen, die zugleich übersetzen, korrigieren, verfälschen, verschieben, verdrängen, vergrößern und verkleinern – aber den Nukleus der traumatisierten Urszene, die zu dem allen Anlass gibt, nicht treffen; ihr ihre kryptische Existenz (als erlebte Rede) lassen müssen. Es sei der Vorschlag gemacht, diese komplexe Verflechtung verschiedener Autoritätsfelder des Erzählens als ein Spiel mit metanarrativen Strategien zu kennzeichnen. Wenn Metasprache jene ‚zweite‘ Sprache ist, die über eine erste Sprache spricht, wäre das Metanarrativ jenes zweite Erzählen, das sich über ein ‚erstes‘ Erzählen legt. Metanarrative, wie sie hier in Szene gesetzt werden, sind Offenbarungen des Fetisch-Charakters der erlebten Geschichte, die sich als unerzählbar, weil traumatisiert, erwiesen hat und im Gegenstand, im ‚Ding‘ – nämlich dem Koffer des Familienromans und Lebensbegehrens – eingeschlossen ist. Man könnte auch von einer Krypta sprechen, in der sie nistet. So wäre zuletzt der Schluss möglich, dass Erzählen für Kafka die Inszenierung eines gespaltenen Zeichens ist – einer Erzählung, die, traumatisiert, sich als Gegenstand ausgibt. Erzählen wäre in diesem Fall das Ausstellen des Risses zwischen Objekt und Narration, der, nach und nach, in einer beinahe unabschließbaren Sequenz von Metanarrativen zum Verschwinden gebracht wird. Mit anderen Worten: Es wäre die einzig noch mögliche Form eines Bildungsromans, die hier geschrieben wird, seine gerade noch erzählbare Schwundstufe gewissermaßen. Im Eingedenken der Struktur, die Sigmund Freuds Fetisch-Begriff, als Realisierung eines ambigen Zeichens, nahe legt, könnte man also behaupten, dass Kafkas Erzählen aus der aporetischen Situation eines Gegenstandes, der sich als Geschichte ausgibt, und einer Geschichte, die sich als Gegenstand maskiert, noch einmal ein Modell entwickelt, das es erlauben soll, den Roman von Individualität und Eigentümlichkeit – im Spannungsfeld ihrer

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Verdinglichung – zu verfassen: als Erzählen des Lebensbegehrens aus einer Urszene heraus, die definitiv nur als traumatisierte gedacht werden kann. Dies führt dazu, dass Narrationen unablässig wiederholt und fortgesetzt von Metanarrativen überwuchert werden. Repetierendes, korrigierendes und stellvertretendes Erzählen werden mehr und mehr zu einem Geflecht von Erzählakten, Erzählwiederholungen und deren vergeblicher Wechselkritik – ohne dass dabei die Autorität eines souveränen Erzählens eingriffe oder gar eine Hierarchie der Beglaubigungen herstellte. Der Fetisch, als ambiges Zeichen, generiert das unablässig sich übersteigende Erzählen des verdinglichten Subjekts: in der Darstellung des unüberbrückbaren Risses zwischen Objekt und Narration.

IV Was mich zu meinen hier vorliegenden Überlegungen angetrieben hat, war die Frage nach der Ambiguität jenes Zeichenbegriffs, den Freud am Beispiel des Fetischs entwickelt. Was mich aber des weiteren beschäftigte, war die zweite Frage, ob dieser besondere Begriff des ambigen Zeichens einen Beitrag zum Verständnis des Funktionierens der modernen Kultur liefert; sowie zu der Einsicht in die Funktion der Literatur, die diese Kultur abbildet, und in Akten des Erzählens, in Erzählungen von Lebensgeschichten wiederzugeben sucht. Es war Freud selbst und in seiner Nachfolge zum Beispiel J.-B. Pontalis, die die Signatur dieser Moderne in der Entfremdung des Selbst gesehen haben, und zwar begründet durch den Prozess der Beziehungen dieses Selbst zu den ‚Dingen‘. In seinem Vortrag Zur Genese des Fetischismus, der in einer Mitschrift überliefert ist (vgl. Federn/Winterberger 1992), hat Freud diese Ver-Dinglichung durch das Wortspiel von pathologischen und normalen ‚Liebesbe-ding-ungen‘ kenntlich gemacht.10 Pontalis sieht die „Grundstruktur des ‚Seelischen‘“ (Pontalis 1972, S. 13) geprägt durch die „Beziehung zu Objekten, die uns ‚entfremden‘“ (ebd., S. 17). Freuds Theorie des Fetischismus arbeitet also an diesem Prozess der Entfremdung, der durch ObjektBezug bestimmt ist. Aus ihm geht das „psychische Trauma“ (Freud 1969, Bd. III, S. 391) hervor, das, im Fall des Fetischismus, durch den Kastrations-Schock ausgelöst wird. Die Ich-Bildung entwickelt sich, aus diesem Szenario heraus, als Ding-Beziehung, die in hohem Grade ambivalent ist 

Zum von der Forschung vielfach behandelten Thema des Traumas und seiner Funktion in Kultur und Erzählkultur vgl. Bronfen/Erdle/Weigel 1999 und Mülder-Bach 2000. 10 Federn/Winterberger 1992, S 12. Bezüglich des Rätselhaften des Fetischs heißt es da, es seien „Rem[iniszenzen] von ehemals vielleicht normalen Liebesaffekten“, die nun ins „Hysterische“ umschlügen: „Es hat“, so kann man mit Freud hinzufügen, also einen guten Sinn, von den „Liebesbedingungen“ der Betroffenen zu sprechen.

Fetisch und Narativität

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und fortgesetzt zu ambigen Zeichen gerinnt, deren Wirkung sich als „Einriß im Ich“ (ebd., S. 391) und als „Ichspaltung“ (ebd., S. 392) zu erkennen gibt. Im Vortrag Zur Genese des Fetischismus beschreibt Freud die Konstruktion dieses ambigen, das Ich zerreißenden oder spaltenden Zeichens mit dem Satz, der Kleiderfetischist habe „sein Interesse von den Dingen weg auf die Worte gewendet, die ja gewissermaßen die Kleider der Begriffe sind [...]“ (Federn/Winterberger 1992, S. 13). Das heißt aber: Das ambige Zeichen des Fetischs resultiert aus dieser Spaltung zwischen Ding und Sprechen, zwischen Objekt und Narration. Es ist der Riss zwischen Ding-Präsenz einerseits und Absenz stiftendem Erzählen einer Geschichte andererseits, um die es eigentlich – und in ganz besonderer Weise bei Franz Kafkas HeizerGeschichte und dem Roman Der Verschollene – geht. Der Fetisch, so könnte man sagen, gibt sich für eine Geschichte aus und prätendiert zugleich durch seine Dingqualität, dass diese Geschichte nicht erzählt werden kann. Kafkas Roman Der Verschollene erscheint mir nun – wenn man ihn im Licht dieser Freud’schen Konzeption des ambigen Zeichens als Signatur der Moderne liest – als Paradigma solcher ‚entfremdenden‘ Welterfahrung: Entfremdung durch die Begegnung mit dem anderen Geschlecht; Entfremdung durch die Begegnung mit der anderen Kultur; ‚Verschollenheit‘ in der Welt. ‚Welt‘, in diesem Sinne, ist nicht mehr direkt erlebbar und direkt erzählbar. Ausdruck dieses gespaltenen Lebensgefühls ist das ambige Zeichen des Fetischs, der, in unaufhebbarem Konflikt, teils Verdrängung und teils Idealisierung ist. Dies offenbart sich in der Spaltung zwischen ‚Ding‘ (dem Familienkoffer) und ‚Worten‘ (der unerzählbaren sexuellen Verführungsgeschichte als Verführungstrauma). Das Ding des Koffers – der die Photos des geronnenen Familienromans enthält – stellt sich als Deck-Element gewissermaßen vor die Erzählung, die ihrerseits zu dem eigentlich zu Erzählenden nicht vordringt. Man könnte also sagen: Die Liebesbedingungen (wie Freud formuliert), als Prozesse der Verdinglichung, erzwingen Serien von Metanarrativen, weil ein direktes Erzählen der traumatisierten Geschichte nicht möglich ist. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Freud und der Literatur könnte man also mit Novalis behaupten: Der Dichter ist der Erfinder der Symptome a priori. Wenn der Phil[osoph] im gew[issen] Sinn gleichsam der chymische Analytiker im mathem[atischen] Sinn ist – so ist der Dichter der Oryktognostische11 Analyst im mathem[atischen] Sinn – der das Unbekannte aus dem Bekannten findet. (Novalis 1968, S. 351)

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Oryktognostik: Gesteinskunde, Mineralogie

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Literatur Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand. (Homo sacer II,1). Frankfurt/M. Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg. Bronfen, Elisabeth/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.) (1999): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln. Federn, Ernst und Gerhard Winterberger (Hg.) (1992): Aus dem Kreis um Sigmund Freud. Zu den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (1902). Frankfurt/M., S. 10-22. Freud, Sigmund (1969-1975): Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt/M. Kafka, Franz (1983): Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Der Verschollene. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/M. Kofman, Sarah (1985): The Enigma of Woman. Woman in Freud’s Writings. Ithaca/London. Mülder-Bach, Inka (Hg.) (2000): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien. Musil, Robert (1960): Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg. v. Adolf Frisé. München. Neumann, Gerhard (1992): Der Zauber des Anfangs und das „Zögern vor der Geburt“. Kafkas Poetologie des „riskantesten Augenblicks“. In: Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas „Der Proceß“. Würzburg, S. 121-142. Neumann, Gerhard (1997): Ritual und Theater. Franz Kafkas Bildungsroman „Der Verschollene“. In: Philippe Wellnitz (Hg.): Franz Kafka. Der Verschollene. Le Disparu/ L’Amérique – Écritures d’un nouveau monde? Strasbourg, S. 51-78. Neumann, Gerhard (2001): E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann. In: Meisterwerke der Literatur. Von Homer bis Musil. hg. v. Reinhard Brand. Leipzig, S. 185-226. Novalis (1968): Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II. Hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Darmstadt. Pontalis, J.-B. (Hg.) (1972): Objekte des Fetischismus. Frankfurt/M. Stoller, Rober J. (1985): Observing the Erotic Imagination. New Haven.

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Zerstörerische Dualitäten Destruktionstrieb, Traum- und Wachbewusstsein in Alfred Kubins Roman Die andere Seite Kubins Verhältnis zur Psychoanalyse ist komplex. Nach eigenen Aussagen hat der Zeichner und Schriftsteller erst einige Zeit nach Abschluss seines 1909 erschienenen phantastischen Romans Die andere Seite die Schriften Freuds zur Kenntnis genommen. Am 27. 9. 1911 schreibt er an Fritz von Herzmanovsky-Orlando und empfiehlt ihm Die Traumdeutung von Sigmund Freud, die Kubin offenbar gerade selbst las. Eine Woche später berichtet er seinem Freund Herzmanovsky: „Ich lese jetzt noch immer die Sachen von Prof. Sigmund Freud, jüdisch scharfgeistige Psychologie, sehr interessant über infantile Sexualität und Traumanalysen.“ (Herzmanovsky-Orlando 1983, S. 70) Ein weiteres Werk Freuds ist also offenbar dazugekommen: Die infantile Sexualität aus den 1905 erschienenen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In dem zitierten Brief macht Kubin beiläufig auf den Status seiner Forschungen aufmerksam: Nach der Lektüre Freuds, schreibt er, „nehme ich wieder meinen geliebten ETA Hoffmann vor, – der weiß wirklich Eminentes, Sympathisches“. Und er fügt hinzu: „Die Märchen, Träume, Visionen müssen die Wissenschaften erklären, das Wissen muss die Märchen bestätigen.“ (ebd.) Wissen und Literatur sind für Kubin zwei getrennte Sphären, die sich zwar gegenseitig inspirieren und befruchten können, grundsätzlich aber auf einer ganz unterschiedlichen Ebene liegen. Das wird auch deutlich in seinen Aussagen über die Psychoanalyse. Am 25.11.1914 schreibt er wiederum an Herzmanovsky-Orlando: „Freuds Entdeckungen sind mir äußerst wertvolles Material, originell und fruchtbar. – Ins Heiligtum führen sie aber nicht, wie niemals Gelehrtenarbeit“ (ebd., S. 90). Einen Monat später spricht er in einem neuerlichen Brief von der „fabelhaften“ Entdeckung Freuds, die aber „im materiellen stecken bleibt, stecken bleiben muss, weil alle rationelle Wissenschaftlichkeit niemals mehr als Bausteine liefern kann. Zum ‚Geheimnis‘ selbst kann man so nicht vordringen.“ (ebd., S. 98) Wissen – und die Psychoanalyse macht da keine Ausnahme – hat für Kubin also einen klar nachgeordneten Rang und ist für den Literaten und bildenden Künstler in erster Linie ein Fundus, ein Steinbruch, aus dem er geeignete Stücke herausbrechen und in das eigene Werk integrieren kann.

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Kubin hat als Schriftsteller und Zeichner auf zahlreiche Wissensbestände zurückgegriffen, neben der Psychologie und Psychoanalyse ist hier vor allem die Philosophie zu nennen, die im Vorfeld und bei der Niederschrift des Romans Die andere Seite eine bedeutende Rolle spielt. Ungefähr um 1900 setzt sich Kubin zunächst mit Schopenhauer auseinander. Anfang 1904 entdeckt er die Philosophie der Erlösung (1876) von Philipp Mainländer, der den Schopenhauerschen Pessimismus radikalisiert und von einem Willen zur Selbstvernichtung spricht. Dieser Wille, den er als „furchtbare blinde Energie“ (Mainländer 1996, S. 635) beschreibt, führt gesellschaftlich zu Destruktion und Entropie. 1906 folgt die Lektüre von Julius Bahnsens Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt (1880-82). In seiner als Realdialektik bekannt gewordenen Philosophie beschreibt Bahnsen die unaufhebbare Selbstentzweiung, die im Individuum, aber auch in der Gesellschaft existiert und in einem dauernden Zwiespalt, einer Dualität entgegengesetzter Willensrichtungen zum Ausdruck kommt. Gibt es für Mainländer noch eine Erlösung, so kennt Bahnsen keinen Ausweg mehr, die dualen Kräfte, Leben und Tod, stehen in einer permanenten Pendelbewegung. Im unmittelbaren Vorfeld der Anderen Seite – 1907/08 – lernt Kubin die von Richard von Garbe dargestellte indische Sâmkhya-Philosophie kennen, die alles Bestehende auf zwei Weltprinzipien zurückführt, einerseits die Urnatur, ein materielles Prinzip, das aktiv und in ständiger Bewegung ist, andererseits ein rein geistiges Prinzip, das passiv, beseelt und mit Bewusstsein ausgestattet ist. Kubin hat sich vor der Niederschrift Der anderen Seite auch mit den Anfängen der dynamischen Psychiatrie beschäftigt, insbesondere mit dem Mesmerismus. Auslöser war die Lektüre der Erzählung von Edgar Allan Poe Die Tatsachen im Falle Valdemar, die Kubin im Sommer 1908 illustriert hat. Im Stil eines wissenschaftlichen Artikels, einer Fallgeschichte, hat Poe das Experiment einer Mesmerisierung beschrieben, mit der der Patient in einem Trancezustand, einem magnetischen Schlaf gehalten wird. Für das von Kubin im Roman geschilderte Traumreich spielen Mesmers Ideen von einem vernetzenden Fluidum und die hypnotischen Phänomene leibseelischer Entgrenzung eine wichtige Rolle. Kubin hatte zunächst für den Roman den Titel Im Traumreich vorgesehen. Der Traum und seine Beziehung zum Wachbewusstsein sind auch das eigentliche Interesse Kubins, das weit über das spezielle Interesse an der Freud’schen Traumdeutung und der Psychoanalyse hinausging. Schon früh wurde Kubins Zeichenkunst mit dem Begriff „Traum-Bildnerei“ belegt. Ferdinand Avenarius hat 1903 in einer Besprechung des ersten Kubinschen Mappen-Werks, der sogenannten Hans-von-Weber-Mappe, von einem „Spezialisten des Traums“ gesprochen und gefragt: „Gibt es denn überhaupt eine andere Form des Visionären für die Kunst als den Traum?“ (Avenarius 1977, S. 38) Avenarius gab Kubin damit das Stichwort zur Ausrichtung und Interpretation seines Werks, das er dankbar aufgriff

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und in den folgenden Jahren fruchtbar machte. Für den Künstler Kubin war der Traum eine Ressource, die Überschreitungen ermöglichte; der Traum gehorcht nicht den Proportionsgesetzen der Erfahrungswelt; im Traum kommt das Fragmentierte, Losgelöste, Verrätselte und grotesk Entstellte zum Ausdruck, das Kubin zum Markenzeichen seiner Kunst machte. Er stützte sich dabei auf eine ganze Reihe von Vorläufern: Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel d. J., Francisco de Goya, Félicien Rops, Odilon Redon, vor allem aber auch auf Max Klinger. In Aus meinem Leben berichtet Kubin, dass er um 1900 mit den Bildern von Klinger in Kontakt kam und sofort überwältigt war. Als er im Kupferstichkabinett den Zyklus über den Fund eines Handschuhs sah, überkam ihn „ein ganzer Sturz von Visionen“ (Kubin 1974, S. 26). In der Paraphrase über den Fund eines Handschuhs von 1878 setzt Klinger eigene Traumerlebnisse um. „Jahrzehnte vor dem Erscheinen der Traumdeutung“ habe Klinger mit diesem Zyklus, so Dieter Gleisberg, „ein singuläres Schlüsselwerk geschaffen“, in dem sich „Wunschphantasien, Angstpsychosen und erotische Symbole [...] zu surrealen Traumbildern“ (Gleisberg 1992, S. 18) vereinigen. „Noch vor den Blättern gelobte ich mir, mein Leben dem Schaffen solcher Dinge zu weihen“, schreibt Kubin (Kubin 1974, S. 25). Der Traum wird zum Ausgangspunkt und Paradigma einer neuen Wirklichkeitssicht. Nach den Gesetzen des Traums werden die körperlichen Ganzheiten von Kubin auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. In eigentümlicher Verdichtung entstehen deformierte, verfremdete und entstellte Körper, die keiner wirklichen Welt mehr anzugehören scheinen. Im Jahr 1911 – also zum Zeitpunkt seiner ersten oder erneuten Lektüre der Traumdeutung (lassen wir das zunächst offen) – machte Kubin zur Umsetzung des Traumerlebens in Bilder verschiedene Experimente. An Ludwig Klages schreibt er am 16. September 1911: „Mein Sommer war einigermaßen ertragreich – ich versuchte unmittelbar erlebte Traumbilder direct zu zeichnen.“ (Bishop 1999, S. 59) Die Forschung hat vielfach angenommen, dass Kubins Beschäftigung mit dem Traum erst mit und nach Erscheinen der Anderen Seite einsetzt. Zweifellos hat er um diese Zeit seine Studien intensiviert, aber die Faszination und Auseinandersetzung mit dem Traumerleben und dem Wachbewusstsein setzt weitaus früher ein. Jene Experimente, die er Ludwig Klages schildert, wurden inspiriert von Friedrich Huch, der 1904 einen ersten Band mit Traumnotizen und Traumprotokollen veröffentlichte. Die mitgeteilten Träume, so versichert Huch, seien „unter Vermeidung schmückender oder erklärender Redewendungen [...] sachgetreu“ (Huch 1925, S. 187) aufgezeichnet. Kubin hat den zweiten Band der Träume (Neue Träume) von Huch illustriert. In der Vorbemerkung schreibt er von Gesprächen, die er in früheren Jahren mit Friedrich Huch geführt habe. Noch ein anderes ‚Traumbuch‘ spielt im Vorfeld der Anderen Seite eine nicht zu unterschätzende Rolle: Gerard de Nervals Aurelia. Kubin lernt das

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Buch 1906/07 kennen, also ungefähr zwei Jahre vor Erscheinen der Anderen Seite. Die Begeisterung über dieses Werk war in Zwickledt so groß, dass das Ehepaar Kubin eine Gemeinschaftsarbeit in Angriff nahm. Für eine deutsche Ausgabe, die 1910 erschien, fertigte Alfred Kubin Illustrationen an und seine Frau Hedwig Kubin übersetzte den Text. Die Lektüre Nervals war für die Konzeption und den Handlungsrahmen der Anderen Seite eine Initialzündung. Nerval schildert in nuce alles das, was im Traumreich Kubins in sehr viel längeren Einstellungen gezeigt wird. Eine ganz entscheidende Rolle spielt für ihn der außer Kontrolle geratene Traum, das „Hineinwachsen des Traums in das wirkliche Leben“ (Nerval 1996, S. 16). Nerval sucht, ebenso wie Kubin, nach den geheimen Beziehungen zwischen der inneren Welt der Seele und der äußeren Existenz. Und beide schicken ihre Protagonisten auf eine Unterweltfahrt, um ein Terrain zu erkunden, „wo“, so Kubin, „die Ränder von Bewusstseinsgegensätzen sich gleichsam berühren.“ (Kubin 1921, S. 172) Die in Aurelia beschriebene Reise in die Unterwelt der eigenen Seele beginnt mit dem Satz: „Der Traum ist ein zweites Leben.“ (Nerval 1996, S. 9) Kubin hat diesen Satz in Über mein Traumerleben aufgegriffen und variiert (Kubin 1973b, S. 7). In einem biographischen Rückblick von 1917 schreibt er: „Nächtliche wie auch sogenannte Tag- oder Wachträume waren für mich seit Jahren eine reiche Mine“ des künstlerischen Schaffens. (Kubin 1974, S. 44) Irgendwann – er gibt keine genaue Datierung an – habe er damit begonnen, den Traum „förmlich methodisch“ zu studieren: Ich las alte und auch ganz moderne Theorien darüber. Beobachten des eigenen Traumerlebens war aber für mich, der ich das Bild suchte, schließlich das Fruchtbarste. Die Erinnerungsfetzen – mehr ist es ja nicht –, die uns vom Traum überhaupt bleiben, scheinen nur dem Oberflächlichen unlogisch, die grandiose Macht und Schönheit dieses Reiches wird ihm entgehen. (ebd., S. 45)

Das Zitat offenbart eine bemerkenswerte Mischung: Kubin sieht im Traum – und da trifft er sich durchaus mit dem Denken Freuds – ein strukturiertes seelisches Gebilde, das nur bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck des Absurden und Unlogischen macht. Im Weiteren spricht er sogar von „Traumgesetzen“, die der Trauminhalt zunächst nicht zu erkennen gebe, erst aus „verschiedenen Einzeltraummotiven“ könne man die Gesetze erschließen (ebd.). Wenn er aber von der „grandiosen Macht und Schönheit dieses Reiches“ spricht, zeigt sich noch ein anderer Einfluss, der Kubins Auffassungen vom Traum wesentlich geprägt hat: Ludwig Klages. In seiner 1913 veröffentlichten Abhandlung Vom Traumbewusstsein, die Kubin in 

Die Empfehlung kam von Kubins Freund und Schwager Oscar A. H. Schmitz. Während seines Paris-Aufenthalts im Jahre 1906 hatte Schmitz das Buch von Nerval entdeckt und wenig später an Kubin übermittelt: „Das erste mystische Buch, das mich wirklich packt“, schrieb er in sein Tagebuch (Schmitz 2006, S 220).

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den Vorarbeiten schon seit Jahren kannte, wendet sich Klages gegen die „Traumdeuter der Gegenwart“ (Klages 1956, S. 169), die meinen, man könne Träume in Begriffe überführen und wiedergeben. Das „unlogische“, wie es Kubin nennt, gehört für Klages zum Charakter des Traums als einer anderen Wirklichkeit. Klages geht davon aus, dass Traum und Wachbewusstsein wesentlich voneinander abweichen (vgl. ebd., S. 148), darum sei der Traum auch nicht „aus Prämissen des Wachbewusstseins“ (ebd., S. 151) zu verstehen, er ist etwas „Ursprüngliches“ (ebd., S. 152), das nicht beeinflusst und gestaltet werden kann, sondern dem Subjekt widerfährt. Klages spricht von zwei Wirklichkeiten [...], von der die eine, nämlich die traumhafte, durch die gewohnte des Wachens nur bisweilen hindurchblicke, dann aber auch von ihren Gesetzen sogleich das Fundament erschüttere, indem sie uns um die Sicherheit des Gegensatzes von Subjekt und Objekt bringe (ebd., S. 161).

Diese Auffassung des Traums, als eine von der Wachwirklichkeit entgrenzte Sphäre, in der das Ich entmächtigt wird und jeden Halt verliert, war für Kubin schon bei der Komposition der Anderen Seite eine entscheidende Voraussetzung. Konstitutiv für den Roman ist der Kontrast zwischen Traumund Wachbewusstsein. Der Übergang aus dem Wachzustand in den Traum ist ein Wechsel des Schauplatzes, bei dem sich alle Verbindlichkeiten und Orientierungsmaßstäbe auflösen, sämtliche Gegenstände in verschobener, grotesk überzeichneter Perspektive erscheinen und das Ich seine Standhaftigkeit verliert. Die Andere Seite ist ein hoch verdichteter, synkretistischer Text. Der Versuch, die verschiedenen Einflüsse sauber herauszupräparieren, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Besonders prekär gestaltet sich die Sache im Fall der Psychoanalyse, denn zahlreiche Termini, Figuren und Konstrukte treten ja nicht erst mit Freud in die Geistesgeschichte ein: Ob es sich nun um das Unbewusste, um das Es, um den Destruktions- und Todestrieb oder aber um die Phänomene der Traumarbeit und der sexuellen Symbolisierung handelt, immer gab es mächtige Vorläufer, die den Figuren und Begriffen schon ein gewisses Verständnis unterlegt hatten, ein Verständnis, das bekanntlich bereits im literarischen Diskurs des 19. Jahrhunderts von Bedeutung war. Geht man von den kruden Fakten aus, dann hat Kubin in seiner Bibliothek die Freud’sche Traumdeutung in der 3., vermehrten Auflage von 1911 und die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905 besessen. Nun ist das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein bestimmter Werke in der Bibliothek Kubins allein noch kein hinreichendes Indiz, um den Zeitpunkt und die Beschäftigung mit psychoanalytischer Literatur abzuschätzen. Kubin hat sehr viele Werke und Ideen vermittelt durch den persönlichen Kontakt kennen gelernt. Häufig haben Freunde und Bekannte Bücher und Manuskripte an ihn weitergereicht. Als er 1906 mit seiner Frau von München in das abgeschiedene, oberösterreichische Zwickledt bei Wernstein am Inn zog,

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war er auf solche persönlichen Zulieferungen in immer stärkerem Maße angewiesen. Wolfskehl stellte ihm Artikel zur Verfügung, Ludwig Klages überließ ihm leihweise Aufsätze und der Freund und Schwager Oscar A. H. Schmitz brachte bei seinen regelmäßigen Besuchen in Zwickledt gleich stoßweise Literatur und Ideen aus der ‚großen Welt‘ mit. Wie die Tagebücher des Schriftstellers Schmitz zeigen, war er es auch, der Kubin mit der Psychoanalyse bekannt machte. Schmitz diskutierte bereits 1906 mit seinem Freund Franz Hessel in Paris über die Traumdeutung. Am 6. Dezember 1907 traf er Freud zum ersten Mal persönlich: Im Kunstsalon von Hugo Heller in Wien hörte er seinen Vortrag Der Dichter und das Phantasieren. Bereits eine Woche später, am 13. Dezember, hat er einen Termin in der Berggasse. Von dem Aufenthalt in Wien und dem Treffen mit Sigmund Freud berichtet er anschließend Kubin (vgl. Schmitz 2007, S. 98 ff.). Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass Schmitz einen Kontakt Kubins mit dem Buch- und Kunsthändler Hugo Heller vermittelt, der bekanntlich zahlreiche Freud’sche Schriften verlegte und zu den ersten Mitgliedern der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft gehörte. Der psychoanalytische Einfluss auf Kubin in den Jahren vor Abfassung des Romans war vielfältig und kann hier nur ansatzweise beschrieben werden. Ob in dieser Zeit eine direkte Lektüre psychoanalytischer Schriften stattfand, ist nicht eindeutig nachzuweisen. Viele Indizien sprechen aber dafür, dass Kubin von der Psychoanalyse nicht nur gesprächsweise erfahren hat. Die psychoanalytische Zunft ist schon relativ schnell auf Kubin und sein Werk aufmerksam geworden. Der Freud-Schüler Hanns Sachs hat 1912 im ersten Band der Imago eine umfangreiche Besprechung des Romans veröffentlicht. Die Rezension von Sachs ist eine von vielen Literaturrezensionen, die in dieser Zeit in der Imago veröffentlicht wurden. Bei den Dichtern suchten die Analytiker unterstützendes Material für die eigenen Thesen. Die von Kubin betonten Rangunterschiede zwischen Wissen und Literatur haben auch für die Psychoanalyse einige Bedeutung, nur sieht man natürlich in der Zunft die Hierarchie genau umgekehrt. Aus der Perspektive der Analytiker sind Dichter der verlängerte Arm ihres eigenen Projekts. Das hat Freud in seiner Gradiva-Analyse deutlich gemacht und auch in seinen Anmerkungen über E.T.A. Hoffmanns Sandmann. Otto Rank – gewissermaßen der Verbindungsmann zwischen dem analytischen Projekt und der Literatur- und Geisteswissenschaft – hat die Grenzen und Möglichkeiten dichterischer Erkenntnis in einem Begriff zusammengefasst: „Intuitive Psychoanalyse“ (Rank 1912, S. 204). Schon weit vor Freud habe es, so stellt Rank fest, „intuitive Analyse“ gegeben, auch ohne eine direkte Kenntnisnahme der psychoanalytischen Literatur. Dem Dichter spricht er die besondere Begabung zu, „auf seine Weise und mit seinen Mitteln zu ähnlichen Ergebnissen“ (ebd., S. 208) zu kommen wie der Analytiker. Diese „Übereinstimmung mit der „dichterischen Intuition“ ist, so Rank, dem Analytiker

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als „beweiskräftige Stütze wertvoll“ und er greift sie „immer gerne mit dem Gefühle der Befriedigung und Genugtuung“ auf (ebd., S. 204). Diese Einsicht wird denn aber im weiteren Verlauf seiner Darstellung entschieden auf die Plätze verwiesen: Die „intuitive Einsicht“ habe „ganz andere Formen und engere Grenzen als die bewußte Erkenntnis“. Der Dichter „ahnt“ allenfalls oder er „errät“ gewisse Beziehungen (ebd., S. 208). So sieht es auch Sachs in seiner Würdigung des Kubin’schen Romans: Gleich eingangs verweist er auf den Unterschied zwischen einer intuitiven Erfassung und der von der Psychoanalyse angestrebten wissenschaftlich begründeten Erkenntnis. Sachs trägt in seiner Besprechung zahlreiche psychoanalytische Termini und Figuren an den Roman heran, er deutet ihn vor allem aus der Perspektive eines Vaterkonflikts und ödipaler Ängste, die er mit Kubin selbst in Verbindung verbringt. Das alles ist – zumindest aus heutiger Sicht – nicht sehr aufregend. Allenfalls bliebe noch zu erwähnen, dass Kubin mit der Rezension gar nicht so unglücklich war. An seinen Freund Herzmanovsky-Orlando schreibt er, dass dem „gelehrten Manne“ zwar „das faktisch Wesentliche ungreifbar bleibt“, ansonsten aber würden hier doch „gewiss eine Fülle interessanter Einzelheiten zur Genesis des Werks“ gegeben. (Herzmanovsky-Orlando 1983, S. 98) Die „Genesis“ aber, die Sachs in seiner Besprechung ausbreitet, hatte ihn Kubin selbst souffliert. Ein Jahr vor Veröffentlichung der Rezension erschien der erste Teil des autobiographischen Textes Aus meinem Leben (Kubin 1974, S. 744), in dem Kubin in quasi psychoanalytischen Mustern seine Kindheit und Entwicklung erzählt: Angefangen von einer übermächtigen Vaterfaszination, über die unverhüllt zärtlichen Neigungen zur frühverstorbenen Mutter bis hin zum sexuellen Missbrauch in der frühen Pubertät – Kubin bietet eine Fallgeschichte, die jedem Analytiker mit Vorfreude erfüllt. Die Schilderung ist so angelegt, dass sie einem Höhepunkt zustrebt, sie kulminiert in einer hochneurotischen Szene, der Niederschrift des Romans im November/Dezember 1908, den Kubin als eruptiven Ausbruch verdrängter seelischer Konflikte deutet. Eigentlich hätte er eine „Zeichnung anfangen“ wollen, aber es ging absolut nicht: Ich war innerlich ganz und gar mit Arbeitsdrang gefüllt. Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so dass bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman Die andere Seite geschrieben war. (Kubin 1974, S. 40-41)

Sachs spricht vom „Zwang eines übermächtigen Affekts“ (Sachs 1912, S. 198), der das Schreibenmüssen befördert habe, er greift auf, was Kubin schon vorinszeniert hat. Auch der Roman selbst steckt voller Signalwörter wie „Trieb“, „Komplex“ (Kubin 1998, S. 123), „Lust und Unlust“ (ebd., S. 18), „Sinnesorgane“ (ebd., S. 12), „Hysterie“, „Zwangsvorstellung“, „Melancholie“ (ebd., S. 157), „Neurasthenie“, „Hysterie“ (ebd., S. 54), „Nerven-

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reize“ (ebd., S. 48), „Pathologische Verstärkung“ (ebd., S. 193), „Suggestion“ (ebd., S. 60), „Symbol“ (ebd., S. 216), „Wunsch“ (ebd., S. 124) – alle diese Begriffe2 finden sich auch im Register der Freud’schen Traumdeutung, Sachs musste sie gar nicht mehr ins psychoanalytische Vokabular übersetzen. Und da der Autor im Hauptberuf Zeichner war, liefert er dem Analytiker gleich noch eindeutige bildliche Vorlagen, die er in den Roman montiert hat:

Sachs schreibt: Die „Illustration des Künstlers zeigt den phallischen Charakter“ gewisser Örtlichkeiten in dem Roman „so unzweideutig, dass es wohl genügt, sie ohne weiteren Kommentar wiederzugeben.“ (Sachs 1912, S. 203) Im Lichte dieses Zusammenhangs scheint es jedoch fraglich, ob man hier noch von „intuitiver Psychoanalyse“ sprechen kann. Sachs selbst hat die ästhetische Inszenierung durchaus gesehen und ins Kalkül gezogen, er räumt dem Werk Kubins eine Sonderstellung ein. Grundsätzlich, sagt er, müsse man von einem Kunstwerk fordern, dass es sinnvoll geordnet und harmonisch sei, während der Inhalt eines Traums „monoton, unmotiviert und verworren sein darf.“ (ebd., S. 197) Im Falle Kubins sei das Kunstwerk, durch die „ästhetische Fassade“, so gestaltet, dass es „einen traumähnlichen Eindruck hervorruft“ (ebd.). Er spricht von einem „Mischgebilde zwischen Traum und Kunst“ (ebd.). Sachs hat damit eine ganz wichtige Einsicht formuliert. Und ich möchte nun dieses „Mischgebilde“ anhand des Romans ein wenig aufhellen. 



Auf die konstitutive Beziehung des Romans zu den psychischen Phänomenen und Krankheitssymptomen der Zeit hat schon Ernst Jünger aufmerksam gemacht: “Wie alle Leistungen dieser Art ist er [der Roman] einem geistigen Boden entwachsen, der als ungewöhnlich, ja als krankhaft bezeichnet werden kann. Der Psychiater würde hier reiche Ausbeute finden – Zwangsvorstellungen, Sehstörungen, Halluzinationen, Wachträume, Hysterie, Ängste, Chaos, Desorientierungen, Absencen, regelrechte epileptische Anfälle“ (Jünger 1978, S. 24). Die in diesem Beitrag zitierten Abbildungen sind Kubin 1918 entnommen.

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Kubins Roman handelt von einem fiktiven Traumreich in Zentralasien und dessem apokalyptischen Untergang. Der Erzähler, ein Zeichner, wird von seinem ehemaligen Schulfreund Patera, der das Traumreich errichtet hat und nun sein geheimnisvoller Herrscher ist, eingeladen. In der Hauptstadt Perle wird er konfrontiert mit einer fremden und zugleich vertrauten Welt, die irgendwo zwischen Traum und Realität zu pendeln scheint. Immer wieder trifft er im Traumreich, in dem eine permanente Dämmerung herrscht und in dem es keine Farben und keine klaren Unterscheidungen gibt, auf bekannte oder ihm bekannt erscheinende Dinge, die sich im weiteren Verlauf merkwürdig entgrenzen und verformen, alte Gebäude, die aus Europa stammen, eine Mühle, eine Molkerei, Bohemecafés, Kneipen und Bordelle, ein Verwaltungsgebäude. So merkwürdig das Ambiente ist, so merkwürdig sind seine Bewohner, die Träumer. Sie sind seltsam kostümiert, gänzlich aus der Zeit gefallen, die Herren in geschweiften Zylindern, farbigen Leibröcken und Kragenmänteln; die Damen mit altmodischen Frisuren, Häubchen und Umschlagtüchern. Allesamt Sonderlinge, die mit den Pathologien der Zeit behaftet sind. Wie geschaffen für das Traumreich waren „Menschen von übertrieben feiner Empfindlichkeit“ [...] mit „fixen Ideen, wie Sammelwut, Lesefieber, Spielteufel, Hyperreligiosität und all die tausend Formen, welche die feinere Neurasthenie ausmachen [...]. Bei den Frauen zeigte sich die Hysterische als häufigste Erscheinung.“ (Kubin 1998, S. 54) Der „Gesichtspunkt des Abnormen oder einseitig Entwickelten“ (ebd.) stand bei den Träumern im Vordergrund. Diese zugespitzte und verfremdete Wirklichkeit des Lebens versinkt im Laufe der Handlung immer tiefer in den Abgrund eines Traums, der jeden Halt verliert und aus dem es – auch nach dem Aufwachen – kein Entkommen gibt. Alle Handlungen und Ereignisse scheinen von einem rätselhaften Sog, einer „unbeweglichen Bewegung“ erfasst zu sein, an dessen Ende die Selbstzerstörung, das „Ausgelöschtwerden“ steht. Der 

Klaus Heinrich hat den Sog als „unbewegliche Bewegung“ beschrieben, die „ins Leere“ geht und den „offenen Aspekt des Todes“, des „Ausgelöschtwerdens“ zum Ziel hat. Heinrich weist in diesem Zusammenhang unter anderem auf den Sog aus Gespenstergeschichten hin, insbesondere auf die klassische Beschreibung des Sogs durch Edgar Allan Poe in Der Sturz in den Malstrom (A Descent into the Maelström): „Der vom Maelström Erfasste sieht sich an den Innenwänden eines Trichters schweben, der, obschon in rasender Bewegung, stillzustehen scheint. Die mahlende Bewegung des Wasserschlundes hat alle Geräusche verstummen gemacht, mit ihnen die Angst. Unfähig, sich zu rühren, treibt er in sich verengenden Spiralen der Tiefe zu. Grauen und Lockung fließen in eins.“ (Heinrich 1982, S. 137) Im Vorfeld der Anderen Seite hat Kubin diese Geschichte Poes für den 1910 erschienenen Erzählband Das Feuerpferd und andere Novellen illustriert. Die Erzählung vom Maelström ist für Kubin das Modell für die Beschreibung einer grauenhaften Mechanik des Untergangs gewesen (vgl. dazu auch Linda Simonis 2002, S. 26 ff.). Anders aber als Poe, dessen Held sich Distanz zum Sog verschaffen kann, gibt es für Kubin kein Entkommen. Ja, im Grunde führt gerade das Entkommen noch tiefer in den Sog hinein.

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Untergang des Traumstaates kündigt sich mit dem Erscheinen des reichen Amerikaners Herkules Bell an, der dem despotisch regierenden Magnetiseur Patera die Macht streitig machen und Demokratie einführen will. Die Stabilität des Traumreichs gerät nun zusehends aus dem Lot. Symptome des Zusammenbruchs, der zerstörerischen Aggression werden allenthalben sichtbar. Das Triebhafte bricht hervor, es kommt zu Orgien, zum Massenselbstmord und zu Gewaltexzessen. Die Tiere nehmen überhand, Moder und Schimmel breiten sich aus, die Materie zerbröckelt, die Bauten fallen zusammen: Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschkadavern. In diesem, in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, konnten sich nicht mehr verständigen, sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. (ebd., S. 230)

Am Ende der Untergangsszenerie steht das Bild der beiden Herrscherfiguren, die im Kampf als Doppelwesen erscheinen und sich schließlich auflösen, der Kopf Pateras zerfällt und der „über alle Möglichkeit große Phallus“ Bells verschwindet in den unterirdischen Gängen des Traumreichs. Der Erzähler überlebt und geht in eine Heilanstalt: „Mein Traumvermögen war augenscheinlich erkrankt“, heißt es im Epilog. „Träume wollten meinen Geist überwuchern. Ich verlor in ihnen meine Identität [...]. Diese Träume waren Abgründe, denen ich mich willenlos preisgegeben sah.“ (ebd., S. 250) Die Geschehnisse im Traumreich könnten auf der fingierten Wirklichkeitsebene des Textes – darauf weisen die letzten Sätze hin – vom Ich-Erzähler geträumt sein. Wir hätten es dann mit einem verunglückten, verselbständigten Traum zu tun. Liest man aufmerksam den Anfang des Romans, dann gibt uns der Erzähler dafür auch einen wichtigen Fingerzeig: Er sagt dort, sein Bestreben sei es gewesen, die Vorkommnisse „wahrheitsgetreu“ zu schildern, es sei ihm jedoch „etwas Eigentümliches passiert“. Während er die Erlebnisse gewissenhaft niederschreiben wollte, wären ihm „unmerklich“ Schilderungen von Szenen unterlaufen, „denen ich unmöglich beigewohnt und die ich von keinem Menschen erfahren haben kann.“ (ebd., S. 9) Er spricht von „seltsamen Phänomenen der Einbildungskraft“, von einer „rätselhaften Hellsichtigkeit“, für die wohl nur unsere „geistvollen Seelenforscher“ eine Erklärung hätten. (ebd.) Es handelt sich um ein Phänomen, das in der phantastischen Literatur, aber auch in der Psychoanalyse immer wieder vorkommt, das der fremden Rede, die unser bewusstes Ich nicht kontrollieren kann. Freud hat dieses Phänomen in der 1904 erschienenen Abhandlung Psychopathologie des Alltagslebens untersucht, beim Sprechen setzt sich nicht nur der Nebengedanke 

Zum Phänomen der fremden Rede vgl. Schmitz-Emans 2005, S. 229 ff.

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teilweise durch, sondern es kommt oft gerade „das Gegenteil dessen“ zur Sprache, was wir beabsichtigt haben (Freud 1994, S. 54). Für den Roman sind zwei Ebenen relevant, die uns aus der Psychoanalyse wohl vertraut sind: der manifeste Trauminhalt, das also, was der Erzähler als Schilderung seiner Erlebnisse bezeichnet, und die latenten Traumgedanken, also die fremde Rede, die sich in den Bericht einmischt und Erlebnisse zur Sprache bringt, von denen der Erzähler unbeabsichtigt berichtet. Beide Ebenen lassen sich im Roman zunächst noch gut unterscheiden. Im Laufe der Handlung tritt dann aber das ein, was Freud als Anteil der Verdichtungsarbeit beschrieben hat, die unbewussten Elemente schaffen aufgrund bestimmter Ähnlichkeiten „Misch- oder Kompromissbildungen“ (Freud 1972, S. 53). Am Ende fließen immer mehr latente Traumgedanken in die Schilderung ein, der Traum vertieft sich, das Ich verliert jegliche Kontrolle. Kubin geht es um die Wirklichkeitsform der Traumerscheinung, insbesondere aber um die Übergänge aus dem Wachleben in den nächtlichen Zustand des Traums. Damit berührt er das Programm der Traumdeutung. Freud hat sich nicht nur immer wieder für die Schnittstellen und Übergänge vom Seelenleben des Wachens zum Traum interessiert, sondern im Kapitel über „Die Traumarbeit“ jenes Phänomen aufgegriffen, dass den Kubin’schen Erzähler in die Heilanstalt bringt: Träume, die in das „wache Denken“ übergreifen. (ebd., S. 328) Freud zufolge gibt es einen doppelten Mechanismus: Einerseits setzen sich die Wachgedanken im Traum fort, wo sie eine spezifische Umwandlung und Anpassung erfahren; auf der anderen Seite greifen die Traumgedanken in das Wachleben ein. Diese Durchlässigkeit hat auch Kubin interessiert: Er fragt sich nach der Bedeutung des Träumens für das Wachleben und nach der Art der Abhängig der beiden Sphären. So spürt er in der Anderen Seite immer wieder den Umbildungen nach, die das Wachleben erfahren muss, um als traumhaft erlebt zu werden. An einer Stelle fragt sich der Ich-Erzähler: „Schlief ich vielleicht? – Wachte ich? – War ich tot? Von ferne hörte ich ein paar leerklingende Rufe, wie helle gebrochene Akkorde.“ (Kubin 1998, S. 236) Der Erzähler läuft durch eine Winterlandschaft, ein Gebirgsdorf taucht auf, mit Steinen belegte Holzdächer, gebückte Gestalten –: „Auf einmal erkannte ich alles; – es war der Flecken, in dem ich meine Kindheit verlebt habe. [...] Ich wunderte mich nicht, dass die meisten Menschen da unten längst gestorben waren.“ (ebd.) Er versucht die Menschen zu erreichen, aber er kann „kein Glied rühren“, ist völlig bewegungsunfähig. Der Traum – das zeigt Kubin an vielen Beispielen – wirkt als Entmächtigung des Ichs. Der Körper und die Bewegung, Wille und Denken, aber auch Wahrnehmung und Erinnerung verlieren an Bedeutung und lösen sich in ihren festen Grenzen auf. Raum und Zeit sind keine wirksamen Relationen mehr; Früher und Jetzt liegen unmittelbar nebeneinander. Im Traumstaat herrschen

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andere Gesetzte, hier waren, heißt es an einer Stelle, „Einbildungen einfach Realitäten“ (ebd., S. 62). Je mehr das Ich darum in den Traum hineingerät, um so mehr verliert es an Halt und Standfestigkeit, es büßt sukzessive alle Orientierungsmaßstäbe des Wachlebens ein. Um den Kontrollverlust zu beschreiben, benutzt Kubin das Prinzip der Verschiebung, der Entstellung und Entrückung. Das Reale wird zur alptraumhaften Schreckensvision entstellt, die den Untergang und das Ausgelöschtwerden ankündigt. Der Ich-Erzähler besichtigt die menschenleere Molkerei: Rasch durchschritt ich eine ganze Flucht schlecht erleuchteter Räume. Das Gebäude war ziemlich tief in die Erde eingelassen, das bisschen Licht zwängte sich hoch oben durch kleine vergitterte Fenster. Auf langen Holzgestellen standen viele flache, runde Gefäße, in den Winkeln befanden sich hölzerne Kübel. Alle waren bis an den Rand mit Milch gefüllt. Ein Gewölbe diente lediglich zur Aufbewahrung verschiedener Werkzeuge. Da hingen die Wände voll von Blechgeschirren, hölzernen Platten, Brettchen. Ich suchte eilig den Hof; anstatt aber einen Ausgang dorthin zu finden, traf ich jetzt nur noch finstere Kammern, in denen große Kessel über erloschenen Feuerstätten hingen. Ein scharfer Geruch von Käsen beizte meine Nase. Da lagen sie, stanken und tropften, regelmäßige Reihen in allen Größen – ein unappetitliches halbdunkles Gelass, schmal und lang, die verschimmelten Wände voll von Spinnenweben. Hier konnte es nicht sein – ich lief wieder zurück. (ebd., S. 90 f)

Von Angst gepackt versucht er zu entkommen, aber er kann sich nur mühsam von der Stelle bewegen. An der gewölbten Decke sieht er einen schweren Haken: Man konnte kaum noch sehen, der schlüpfrige Boden schien sich etwas zu senken. Auf einmal stolperte ich über ein paar glitschige Stufen und stand nun gänzlich im Dunkeln. Tiefe Nacht und eisige Kellerluft – oben hörte ich irgendwo eine Tür zufallen! (ebd., S. 91)

Kurz darauf hört er von fern ein „taktmäßiges Dröhnen wie ein Galopp“ (ebd.), das näher kommt, aber er kann nicht fliehen, kommt nicht von der Stelle, schließlich kann er sich gar nicht mehr bewegen und ist der Ohnmacht nah: „Hilflos hielt ich meine Hände der anstürmenden Gefahr entgegen. [...] Da tobte es auch schon heran [...] ein weißes, abgemagertes Pferd“ (ebd., S. 92). Die große Mähre war fast verhungert und schleuderte mit verzweifelter Kraft ihre riesigen Hufe. Den knochigen Schädel weit vorgestreckt, die Ohren rückwärts angelegt, so jagte dieses Tier an mir vorüber. Sein trübes, glanzloses Auge traf mich – es war blind. (ebd.)

Die akustische Dimension des Schreckens schlägt auf dem Höhepunkt der Szene in eine optische Dimension um. Das abgemagerte, skelettartige Pferd – ein im zeichnerischen Werk Kubins immer wieder aufgegriffenes 

Zur Interpretation dieser Szene vgl. auch Simonis 2002, S 256 f.

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Motiv – wird zum unheimlichen Todesboten. Eine besondere Rolle spielen bei der traumhaften Schreckensvision die Augen. Auf die Symbolik der Augen ist Freud in der Traumdeutung (vgl. Freud 1972, S. 353 und S. 389), vor allem dann aber in seiner Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Sandmann in Das Unheimliche (1919) eingegangen. Freud führt die Augenangst auf die Kastrationsangst zurück (vgl. Freud 1993, S. 150 ff.). Hinter der Angst, das Augenlicht zu verlieren, zu erblinden, stehe in Traum, Phantasie und Mythos immer das starke und dunkle Gefühl einer Drohung, die sich auf das Geschlechtsglied bezieht. In diesem Sinn symbolisiere die Blendung bzw. das schreckenerregende blinde Auge, das auch in der Selbstblendung des Ödipus eine Rolle spielt, „nur eine Ermäßigung für die Strafe der Kastration“ (ebd., S. 150). In Kubins Roman sind die blinden Augen, die todbringenden Blicke, von besonderer Bedeutung. Nicht von ungefähr besitzt Patera glanzlose, blinde Augen, die eine hypnotisierende Macht haben: Ich fuhr erschrocken zusammen, im nächsten Moment starrte ich in die glanzlosen Augen – ich war im Bann. Seine Augen glichen zwei leeren Spiegeln, welche die Unendlichkeit auffingen. Mir kam der Gedanke, dass Patera gar nicht lebe – wenn Tote schauen könnten, das wären ihre Blicke. (Kubin 1998, S. 190)

Die Herrscherfigur Patera, eine Art Zombie, der von den Ureinwohnern, den Blauäugigen, zum Leben erweckt wurde, symbolisiert, wie das mysteriöse Pferd und das ganze Traumreich, Tod, Untergang, Vernichtung oder – mit Freud gesprochen – Kastrationsangst. Der Erzähler droht immer wieder in ein Totenreich abzugleiten und den Halt zu verlieren. Wie im

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Kellergewölbe der Molkerei treibt alles auf einen Zustand der äußersten Bedrohung und höchsten Gefahr hin, auf die der Ich-Erzähler nur passiv reagieren kann, im Moment des Schreckens gibt es für ihn keinen Widerstand und keine Selbstbehauptung. Mit Freud könnte man sagen, die Angstentwicklung führt zur Unterdrückung des Unbewussten und zum plötzlichen Erwachen (vgl. Freud 1972, S. 552 ff.). Der Protagonist sieht Licht und das rettende Ufer einer ihm vertrauten Wirklichkeit: „Eine Stiege tauchte auf – noch ein Licht –. Dann hörte ich Menschen und betrat einen bekannten Raum. – Ich befand mich im Kaffeehause.“ (ebd., S. 92) Eine andere Szene ist zunächst nach dem Muster eines Verlegenheitstraums gestaltet, im Verlauf des Traums wird aber eine Reihe von Sexualängsten sichtbar. Der Protagonist findet sich nur mit einem Schlafrock, einem Nachthemd und Pantoffeln bekleidet in einem verrufenen Viertel wieder: Umgeben von „schmutzigen Spelunken und Lasterhöhlen“ (ebd., S. 100) machte er große Schritte. Plötzlich taucht ein „geschminkter Bursche“ auf, „faßte einen Zipfel meines Schlafrockes und riss ihn herunter“ (ebd.). Der Erzähler setzt sich zur Wehr, läuft weg: Da tritt ihm „ein aufgedunsenes, riesenhaftes Weib“ entgegen, die ihm sein Hemd herunterreißt: „Jetzt wußte ich auch, es ging ans Leben.“ (ebd.) Er spürt eine große Kraft in sich, gleichzeitig aber das Gefühl einer Hemmung, nicht von der Stelle kommen zu können: „der Boden wurde immer glitschiger, ich mußte aufpassen, nicht auszugleiten.“ (ebd.) Eine Meute wirft mit Flaschen und Messern nach ihm. Er schreit: „Hilfe, Polizei!“ Aber niemand hört ihn: „Mit aufgerissenem Munde, nackt und verzweifelt, flog ich förmlich dahin“ (ebd.). Doch er kommt aus dem Viertel nicht heraus, er landet in einem Bordell, das er anfangs als ganz normales Haus identifiziert. Die Empfangsdame weist ihm Zimmer Nummer fünf zu: „mit der Hand meine Blöße deckend [...] öffnete ich die bezeichnete Tür. Verdammt, da waren schon zwei drin, auch splitternackt!“ (ebd., S. 101) Er schlägt die Tür zu und hört die Meute hinter sich. Wieder hat er das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen: „meine blutenden Füße schienen mir wie Zentnergewichte.“ (ebd.) Freud sieht in solchen Hemmungen den Ausdruck eines „Willenskonflikts“ (Freud 1972, S. 333), der in Verlegenheits- und Exhibitionsträumen „das Nein“ darstellt. „Nach der unbewussten Absicht soll die Exhibition fortgesetzt, nach der Forderung der Zensur unterbrochen werden.“ (ebd., S. 251) Dieses Wollen ist mit Angst verbunden, die, Freud zufolge, einem „libidinösen Impuls“ entstammt, „der vom Unbewussten ausgeht und vom Vorbewussten gehemmt wird.“ (ebd. S. 334) Die Angst im Traum hätte immer mit „dunklen [...] sexuellen Gelüsten“ zu tun, die „in dem visuellen Inhalt des Traums“ zum Ausdruck kommt. In der inszenierten Traumszene ist dieser Inhalt unschwer zu erkennen: der sexuelle Angriff des „geschminkten Burschen“ auf den Erzähler, das „riesenhafte Weib“ und die

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Flucht, die ins Bordell führt. Auch hier folgt im Höhepunkt der Angstentwicklung ein Schnitt und ein neues Bild, das wir mit dem Erwachen gleichsetzen können: „Stille und Nacht ringsum – hier sank ich zusammen“ (Kubin 1998, S. 101). Zeigt Kubin in solchen Szenen, wie die Wachwirklichkeit in eine Traumwirklichkeit umgebildet wird, so gibt es im Roman einen Traum, in dem die Bedingungen von Raum und Zeit gänzlich aufgehoben erscheinen. Es ist ein „Traum im Traum“ (Brandstetter 1980, S. 258), ein hochverdichteter Traum, der mit allen Mechanismen der Traumarbeit und Symbollehre spielt. Das Ich ist hier selbst nicht mehr agierend, es ist völlig entkräftet und nimmt passiv die Ereignisse wahr, die wie eine Bilderflut auf den Träumer eindringen und die er nur noch registrieren kann. „Durch die eminente Dynamik der wie mit dem Zeitraffer aufgenommenen Vorgänge gewinnt dieser Traum“, so Gabriele Brandstetter, „den Charakter eines Extraktes gegenüber der Rahmensituation des Lebens im Traumstaat und ist so eine Vorwegnahme des rasenden Tempos seines endgültigen Zusammenbruchs.“ (ebd., S. 258 f.) In diesem Traum kommen merkwürdig verformte und hybride Wesen vor: Ein Mann hat das Aussehen einer weißen Wurst, „er saß auf einem entlaubten Baum und fing aus der Luft Fische. Er hing sie dann an den Zweigen auf und im Nu waren sie gedörrt.“ (Kubin 1998, S. 139) Von einem anderen Mann heißt es, „er hatte zwei lange senkrechte Reihen von Brustwarzen“, auf denen er „die schönsten Harmonikastücke“ spielte. „Dann wuchs ihm ein ungeheurer Bart, in dessen Gestrüpp er verschwand.“ (ebd.) Die verformten und verfremdeten Personen werden in einer Naheinstellung fixiert und lösen sich dann auf, verschwinden oder verwandeln sich in ein surreales Gebilde: Hinten am Flusse saß der Müller – mir wurde unbehaglich –, er studierte ein gewaltiges Zeitungsblatt. Nachdem er es gelesen und gefressen hatte, dampfte Rauch aus seinen Ohren, er wurde kupfrig, stand auf und hielt sich seinen Hängebauch mit beiden Händen, während er das Ufer auf- und niederstürmte. Dabei blickte er wild um sich und stieß schrille Pfiffe aus. Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblasste, sein Leib wurde licht und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleine Eisenbahnzüge herumsausen; sie schienen sich fangen zu wollen, blitzschnell wurde eine Darmschlinge nach der andern durchfahren.“ (ebd. S. 139 f.)

Plötzlich steht der Träumer in einem Garten und aus dem feuchten Boden sprießen dichtgedrängt Riesenspargel, die ihn bedrohen und festsetzen. Der ganze Traum ist durchsetzt mit Sexualsymbolik: Türme, Uhren, Schlangen, Zimmer, Äpfel bis hin zu einer „kolossalen Muschel“, die sich nur „schwerfällig“ öffnen lässt: „in ihrem Inneren zitterten gelatineartige Massen – – – – – – – – ich erwachte.“ (ebd., S. 140) Mühelos lässt sich in diesem inszenierten Traumerleben das gesamte sexualsymbolische Arse-

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nal der Psychoanalyse wiederfinden. Doch bei aller Nähe zum psychoanalytischen Diskurs, der sich hier geradezu aufdrängt, kann sich Kubin durchaus auch auf eine andere Diskussion beziehen, die schon weit vor Freud einsetzt. Neben den Träumen und Trauminszenierungen sind die erzählerischen Mechanismen, die Stilmitteln von Bedeutung, die sich der Verdichtungsarbeit zuordnen lassen. Eines der Hauptarbeitsmittel der Traumverdichtung ist bekanntlich das Herstellen von „Sammel- und Mischpersonen“ (Freud 1972, S. 295). Die von Kubin geschilderten Figuren verkörpern die Züge zweier oder mehrerer Personen, sie repräsentieren Vertrautheit und Fremdheit, Nähe und Entzug. Selbst die Frau des Erzählers, die ins Traumreich mitreisen darf, ist schon bald nicht mehr eindeutig als die ‚eigene Frau‘ zu erkennen, „etwas Fremdartiges“ (Kubin 1998, S. 118) macht sich bemerkbar, das nicht einzuordnen ist. Mit dem Eintritt ins Traumreich unterliegen die Menschen einem Verwandlungs- und Verdichtungsprozess, bestimmte Züge weisen Ähnlichkeiten auf, andere scheinen eindeutig anderen Personen anzugehören. Der geheimnisvolle Herrscher Patera verkörpert eine ganz eigene Kategorie. Patera tritt nicht nur in den unterschiedlichsten Maskierungen auf, er ist eine multiple Persönlichkeit. Sein Aussehen, sein Alter, sein Geschlecht – alles unterliegt einem ständigen Wechsel, einer nicht fassbaren Metamorphose: „Blitzschnell glich dieses Antlitz nacheinander einem Jüngling – einer Frau – einem Kind – und einem Greis. Es wurde fett und hager, [...] war im nächsten Augenblick hochmütig gebläht, dehnte, streckte sich [...]“ (ebd., S. 110). Die menschlichen Züge verwandeln sich schließlich in unterschiedliche Tiergesichter. Auf dieser Wandlungsfähigkeit, der Unfixierbarkeit, die sich auch im leeren Blick äußert, beruht die Macht Pateras. Er ist, wie es an einer Stelle heißt, überall. Eine „Sammelperson“, könnte man mit Freud (1972, S. 294) sagen, die in ganz besonderer Weise ein Kennzeichen des Traums repräsentiert, die Ort- und Zeitlosigkeit. Die Auflösung des Individuellen, des bewussten Ichs, ist in der Anderen Seite eines der tragenden Handlungsmotive: Mit Erschrecken stellt der Erzähler nach einiger Zeit im Traumreich fest, dass sein Ich sich vervielfacht: In einem Satz, der auf Ernst Mach anspielt, heißt es: Ich fand etwas „Fremdes in meinem Inneren [...], dass mein Ich aus unzähligen ‚Ichs‘ zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem andern auf der Lauer stand.“ (Kubin 1998, S. 137) Von diesen Prozessen sind im Traumreich nur 



Über das Wesen des Symbols, insbesondere aber über die sexuelle Symbolisierung gab es heftige Debatten in der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft, die sich vor allem an den Beiträgen von Wilhelm Stekel entzündeten. Freud sah sich schließlich dazu veranlasst, in der dritten Auflage der Traumdeutung von 1911 die Bedeutung der sexuellen Symbolisierung im Traum einer Revision zu unterziehen (vgl. Freud 1972, S. 25). Vgl. die auch von Freud und seinen Schülern zitierten Arbeiten von Rudolf Kleinpaul, unter anderem: Die Rätsel der Sprache (1890).

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die sogenannten Blauäugigen ausgenommen, ein Urvolk, in dem es kollektive Riten und Gebräuche gibt, aber kein ausdifferenziertes Ich, und die deshalb in Harmonie und Gleichgewicht leben. Die „Unrettbarkeit des Ichs“ (Ernst Mach) ist für den Untergang des Traumreichs geradezu programmatisch. Der Glaube an die eigene Singularität und Einzigartigkeit wird systematisch in Frage gestellt und erschüttert. Nicht von ungefähr tauchen zu Beginn der Apokalypse Doppelgänger auf, die in Aussehen, Haltung und Kleidung die Kopien ihrer Vorbilder sind: Es war lächerlich, aber es liefen sozusagen zwei Alfred Blumenstiche, zwei Brendels, mehrere Lampenborgens herum. – Man stürzte ins Café, um einen guten Bekannten, den man länger nicht gesehen, zu begrüßen. Fremdes Erstaunen – es war nicht der Richtige. (ebd., S. 149)

Das Individuum wird im Traumreich zu einer diffusen, kaum mehr zurechenbaren Größe. Angesichts dieser Verhältnisse resümiert der Erzähler: „Am Ende dieser Entwicklungen hat der Mensch als Einzelwesen aufgehört.“ (ebd., S. 138) Dies entspricht der im Roman explizierten Verdichtungsarbeit. Im Epilog heißt es, dass in den tieferen Traumschichten das Ich immer mehr schwindet und kollektive Traumschichten sichtbar werden. Zunächst sei das Traumerleben noch mit den Ahnen verknüpft, „deren seelische Erschütterungen“, so nimmt der Erzähler an, „sich vielleicht organisch geprägt und vererbt haben“ (ebd., S. 250). Dann würden sich immer weitere Räume und Schichten öffnen, bis hin zu „Tierexistenzen“ und „im bloßen bewussten Hindämmern in Urelementen“ (ebd.). In diesen kollektiven Formen löse sich alles Individuelle auf. 1912 hat Freud in Totem und Tabu die Kollektivität des Unbewussten etwas beiläufig erwähnt. Sehr viel früher hat C.G. Jung in seiner Schrift: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen, die 1909, also zeitgleich mit der Anderen Seite erschien, solche im Unbewussten vorhandene Präexistenzen betont, die nicht auf persönlichem Erleben beruhen und dem weder Verdrängtes noch unterschwellig Wahrgenommenes und Gedachtes zugrunde liegt, er prägte dafür später den Begriff des „kollektiven Unbewussten“. Im Traumreich Kubins zeigt sich durchgängig die Machtlosigkeit des bewussten Ichs: „Kein menschliches Wesen“, heißt es an einer Stelle, „konnte sich dem elementaren Trieb entziehen“ (ebd., S. 197). Das bewusste Ich, Verstand und Wille, sind dem Trieb hilflos ausgeliefert. Als die Frau des Erzählers stirbt, schläft er am Abend nach der Beerdigung mit Melitta Lampenbogen, der Femme fatale des Traumreichs. Die Trauer wird vom übermächtigen Trieb entzaubert. Kubin gestaltet diese Szene wiederum nach dem Modell der fremden Rede, die plötzlich aus dem Erzähler spricht und sich nicht mehr kontrollieren lässt. Sehr bestimmt artikuliert er seine geheimen Wünsche und gerät dabei innerlich in Panik: Was sich jetzt ereignete, wird mir niemals vollständig erklärbar werden. – Ich hatte in den letzten Tagen die furchtbarsten Erschütterungen durchgemacht. [...] Fast im

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gleichen Moment spürte ich, wie sich dumpfe, unermessliche Kräfte in mir regten. Das ging alles irgendwo im Tiefen vor sich, an der Oberfläche meines Bewußtseins war ich empört über mich selbst. (ebd., S. 123)

Das bewusste Ich versucht aus der Situation herauszukommen, aber sein Unbewusstes übernimmt die Regie und redet unkontrollierbar aus ihm: „‚Was würden Sie sagen, wenn ich so frech wäre und Sie bäte, Ihr Haar zu öffnen?‘ ‚Heute, am Begräbnistage Ihrer Frau?‘“ (ebd., S. 124) Eine „Gewalt“, sagt der Erzähler, hätte über ihn entschieden, eine Gewalt, gegen die die „leichten“ Einsprüche des Ichs nichts ausrichten könnten. (ebd., S. 125) Der Mensch als ein vom Trieb bestimmtes, vom Trieb gesteuertes Wesen. Kubin hat auch in seinen Zeichnungen dieses Thema immer wieder aufgegriffen und das Triebhafte ins Animalische gerückt. Sexualität, Tod und Zerstörung hängen für ihn unmittelbar zusammen. Die unbezähmbaren Triebe, der Sinnenrausch und die Lebensgier sind die Sprengkraft, die sich gegen das Ich wendet und es – wie es am Ende heißt – zu „überwuchern“ droht. Deutlich geworden ist, dass Kubin den Traum und bestimmte Mechanismen der Traumarbeit als literarisches Modell benutzt hat. Geht man mit einem einseitig ‚freudianisch‘ geprägten Blick an den Roman heran, könnte man ihn geradezu als Illustration psychoanalytischer Theorie lesen, doch würde man dabei einer doppelten Verdrängung aufsitzen: einmal bezogen auf Freud, der viele der hier aufgeführten Mechanismen – Traum- und Wachleben, sexuelle Symbolisierung, Ort- und Zeitlosigkeit im Traum – in der Literatur seiner Zeit schon vorfand; dann aber auch bezogen auf Kubin, der eine ganz eigene Traumforschung betrieb, die zwar in der Zeit um 1909 mit dem in der Traumdeutung entwickelten Programm einige Schnittpunkte aufweist, sich in den späteren Jahren aber immer entschiedener davon absetzt. Das hing natürlich auch mit einem ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteresse zusammen. Kubin ging es vornehmlich um den Traum als Quelle der Inspiration und der künstlerischen Arbeit. Gegenüber den Möglichkeiten der Traumdeutung und - analyse war er zunehmend skeptisch eingestellt, er sah darin eine Reduktion, die der Komplexität des Traums nicht gerecht wird. Wachleben und Traum sind für Kubin durch einen „bodenlosen Abgrund“ getrennt: Zwischen diesen Reichen unseres Seelenlebens muss der Quell alles Geschehens sein. Ein ungeheures Rätselwesen äußert sich hier schöpferisch. Seine ewigen Tiefen zerreißen und zersprühen im Oberflächenglanz. Beim Traum packt uns die verblüffende Wandlungsfähigkeit, verbunden mit dem üppigsten Reichtum aller erdenklichen Empfindungs- und Gefühlsüberraschungen. (Kubin, 1973a, S. 172)

Zerstörerische Dualitäten

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Wolfgang Martynkewicz

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Jacques Le Rider

Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann Ein Hauptanliegen von Der Mann Moses und die monotheistische Religion war die Analyse des europäischen Antisemitismus, den Freud in der Kontinuität des antiken und mittelalterlichen Antijudaismus sah. Eine der tiefsten Wurzeln des Judenhasses sei darin zu finden, meinte Freud, dass die Juden ihre Identität und Unterscheidung von den anderen Kulturen des Mittelmeers auf die Erfindung des Monotheismus gegründet hätten. Das sei der Sinn ihrer Auserwähltheit. Doch sei dieser Prioritätsanspruch in der Erfindung des Monotheismus für die anderen, nichtjüdischen monotheistischen Religionen unerträglich geworden. Diese Urszene des hebräischen Prioritätsanspruchs sei der Ursprung der symbolischen Rivalität um den Titel als eigentliche und einzig wahre Erfinder des Monotheismus und um die Auserwähltheit gewesen. Auch die modernen Antisemiten wollten die jüdische Auserwähltheit nicht anerkennen. Der Nationalismus, zumal in der alldeutschen Variante, sei als „Auserwähltheitsdelirium“ zu interpretieren und als Versuch, die Juden als auserwähltes Volk zu überbieten. Nicht zuletzt aus diesem Grund sei der zeitgenössische Nationalismus meistens antisemitisch angelegt. Um diese tödliche Rivalität zu dekonstruieren, setzt Freud seine im Stadium des Mann Moses vollends zur Kultur-Analyse erweiterte psychoanalytische Methode ein und baut dabei ein provokatives, paradoxales und anfechtbares Geschichtsbild. Er vertritt als Liebhaber-Historiker geschichtswissenschaftliche Thesen, die kein Historiker in dieser Weise gelten lassen möchte und die nur als Hintergrund für seine argumentative Strategie ihre Rechtfertigung finden. Als Arzt der Kultur versucht Freud die antisemitische Krankheit der europäischen Zivilisation zu behandeln, indem er zu beweisen unternimmt, dass die Hebräer nicht die ersten und nicht die einzigen „Erfinder des Monotheismus“ gewesen seien, da ein anderer Monotheismus, der Sonnenkult von Ekhnaton in Heliopolis, zuvor bestanden habe. Der entscheidende Beitrag der Juden zum allgemeinen Kulturprozess sei das Bildverbot, mit dem Moses bei Freud über Echnaton hinausgegangen sei (Assmann 2006, S. 193). In diesem Fortschritt sieht Freud den kulturhistorisch bedeutsamen Unterschied zwischen dem ägyptischen Monotheismus Echnatons und dem mosaischen Monotheismus. Freud schreibt:

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Jaques Le Rider

Unter den Vorschriften der Mosesreligion findet sich eine, die bedeutungsvoller ist, als man zunächst erkennt. Es ist das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, also den Zwang, einen Gott zu verehren, den man nicht sehen kann. […] Es bedeutete eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, strenggenommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen. (Freud 1950, S. 220)

Durch das Bildverbot und den damit verbundenen Triebverzicht führte der mosaische Monotheismus zur Verwerfung des magischen Denkens und zur Betonung der ethischen Forderung. Umgekehrt wurde Idolatrie mit Gesetzlosigkeit, Unzucht mit Gewalt in Verbindung gebracht. Dieser „Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“ galt nunmehr als das entscheidende Merkmal der Auserwähltheit, als der Kern der jüdischen Identität. Wiederum formierte sich der Antijudaismus als eine Reaktionsbildung auf den Fortschritt in der Geistigkeit. Darin haben sich sogar, so paradox es klingt, zu Anfang die Juden als die ersten Antisemiten erwiesen, als sie Moses erschlugen, weil sie seine unsinnliche, abstrakte Religion nicht ertrugen. […] Die monotheistische Religion ist sich des Widerstands bewusst, den sie provoziert. Es gibt Zeiten, in denen der Fortschritt in der Geistigkeit lebensgefährlich ist. (Assmann 2006, S. 195)

Freud hat sein Projekt in einem Brief an Lou Andreas-Salomé vom 6. Januar 1935 erläutert: „Der Jude ist eine Schöpfung des Mannes Moses. Wer war dieser Moses und was hat er gewirkt? Das wurde in einer Art von historischem Roman beantwortet.“ Moses wurde, das ist Freuds Vorstellung, in einem Volksaufstand erschlagen. Im Lande Midian nahmen die Hebräer den Kult des primitiven Vulkangottes Jahve an. Später verschmolz die Tradition den Mosesgott mit Jahve. Die Religionen verdanken ihre zwingende Macht der Wiederkehr des Verdrängten, es sind Wiedererinnerungen von uralten, verschollenen, höchst effektvollen Vorgängen der Menschheitsgeschichte. Ich habe es schon in Totem und Tabu gesagt, fasse es jetzt in die Formel: Was die Religion stark macht, ist nicht ihre reale, sondern ihre historische Wahrheit. (Freud/Andreas-Salomé 1966, S. 224)

Indem Freud den mosaischen Monotheismus als den im Kulturprozess entscheidenden Schritt zur Ethik und zur wissenschaftlichen Rationalität aufwertet, nimmt er zwei bedeutende Revisionen der eigenen Theorie von der Religion vor. Nie zuvor hatte Freud so klar behauptet, dass das Christentum gegenüber dem mosaischen Gesetz eine Regression im Sinne einer Lockerung des ethischen und wissenschaftlichen Imperativs gebildet habe. Zweitens wird Freuds konventionelles Bekenntnis zu den neuhumanistischen Bildungswerten der Goethe- und Humboldt-Zeit erheblich relativiert. „Kant ist der Moses unserer Nation“, schrieb Friedrich Hölderlin (2007, S. 346) an seinen Bruder am 1. Januar 1799. Gerade diese Tradition des europäischen Humanismus und Rationalismus, die das klassische Griechenland als den Ursprung und das Ziel der Modernen verehrte, zeigt in den dreißiger Jahren

Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann

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ihre Zerbrechlichkeit, ja ihre Ohnmacht angesichts der allseitig wütenden Todestriebe. Freuds Der Mann Moses vertritt ganz andere Kulturwerte als Die Traumdeutung von 1899/1900. Der Pentateuch, die fünf Bücher Mosis im Alten Testament, werden nun in der kulturellen Hierarchie Freuds über Ödipus rex und die attische Tragödie gestellt. Allerdings kehrt die griechische Philosophie im Augenblick, in dem Freud an ihr verzweifelt, insgeheim wieder. Denn der Platonismus ist einer der Subtexte des Mann Moses, wie Jan Assmann (2003, S. 137) in Die mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus gezeigt hat. Übrigens entdeckt man im Mann Moses die letzte Formulierung des Ödipuskomples. Auf die jüdische Tradition wird das Schema von Totem und Tabu aus dem Jahre 1912/1913 angewendet. Die höchsten Kulturwerte seien, schrieb Freud in Totem und Tabu, das Endergebnis einer Genealogie, die mit dem Vatermord durch die Urhorde der revoltierenden Söhne begonnen habe. Dieses Schema wird im Mann Moses weiterentwickelt: Die „Urhorde“ der gegen das sinaitische Gesetz revoltierenden Hebräer habe den Vatermord an Moses verübt. Im Laufe eines langsamen Prozesses von Trauer- und Erinnerungsarbeit sei der tyrannische Urvater in eine Identifikationsfigur des strengen, guten Vaters und die vatermörderische Aggressivität in den die Ethik und die wissenschaftliche Rationalität ermöglichenden Triebverzicht umgewandelt worden. Die Religion, wenigstens im Falle des mosaischen Gesetzes, erscheint nicht mehr als ein Hindernis für die Aufklärung, sondern als deren Vorschule. In der Nachfolge Spinozas interpretiert Freud die Bibel als jüdischer Herätiker. In der Traumdeutung war Joseph als Pharaos Traumdeuter und als Ernährer der Juden in der ägyptischen Diaspora die Identifikationsfigur des assimilierten Wiener Juden Sigmund Freud. Im Mann Moses beginnt die Geschichte der Kultur mit Moses: Es wird ein Weg „von Moses zu Joseph“ (Birnbaum 1998) rekonstruiert, in dessen Verlauf die von Moses begründete jüdische Identität sich innerhalb der Nationen entfaltet, an die sich die Juden assimiliert haben. Im Vortrag Freud und die Zukunft von 1936, der Festrede bei der Feier zum achtzigsten Geburtstag Freuds, hat Thomas Mann den prägenden Einfluss der Psychoanalyse auf den vierteiligen Romanzyklus Joseph und seine Brüder hervorgehoben. Ausgerechnet im Jahre 1936 erschien der dritte Band der biblischen Tetralogie, Joseph in Ägypten. „Der gelebte Mythus ist die epische Idee meines Romans“, sagt Thomas Mann, und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan habe, mein heimliches Verhältnis zur analytischen Sphäre sozusagen in sein akutes Stadium getreten ist. Das mythische 

Eine neue, überzeugende Interpretation von Freuds Der Mann Moses findet man in Rey-Flaud 2006.

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Interesse ist der Psychoanalyse genau so eingeboren, wie allem Dichtertum das psychologische Interesse eingeboren ist. (Mann 1968a, S. 224)

„Wo Es war, soll Ich werden“, die berühmte Formel des Freud’schen Humanismus wird im „Vorspiel: Höllenfahrt“ abgewandelt. Das „Es“ wäre hier die mythische Urzeit und Zeitlosigkeit, in der die Ahnen Josephs noch lebten, – das Dasein als ein „In-Spuren-Gehen“, als ein „Leben als Nachfolge“ vorgegebener, mythischer Muster. Das moderne Persönlichkeitsverständnis, das Joseph vertritt, ist dagegen die Behauptung des autonomen Ich. Diesen Schritt hatten Abraham und Jaakob noch nicht vollzogen, deren Welt war noch eine mythische Welt, aber ihr Gottes-Gedanke war die Grundlage, auf der Josephs Ich-Werdung erst möglich wurde. Der Gott Abrahams und Jaakobs ist kein immanent „Göttliches“ mehr, das sich in vielen mythischen Göttern zeigt, sondern eine einzige, „Ich-sagende“ Person. Sie waren Zwei, ein Ich und ein Du, das ebenfalls ‚Ich‘ sagte und zum anderen ‚Du‘. […] Das war bemerkenswert: durch Abraham und seinen Bund war etwas in die Welt gekommen, was zuvor nicht darin gewesen war und was die Völker nicht kannten: die verfluchte Möglichkeit des Bundesbruches, des Abfalles von Gott. (Mann 1974a, S. 431 f.)

Hatte sich Joseph bis dahin in der genuin jüdischen Tradition gesehen, so identifiziert er sich nach seinem Sturz in den Brunnen, seinem Wiederauferstehen und seiner Verschiebung nach Ägypten mit den sterbenden und wiederauferstehenden Gottheiten Jammuz, Adonis und Osiris. Als Ökonom und Verwalter, der zum „Ernährer“ wird, identifiziert er sich auch mit dem Schreibergott Thot. Im „Vorspiel: Höllenfahrt“ heißt es: Joseph war der Schreibkunst besonders lebhaft zugetan [und] vervollkommnete sich früh […] sowohl in babylonischer wie in phönizischer und chetitischen Schriftart. Er hegte geradezu eine Vorliebe und Schwäche für den Gott und Abgott […], den ägyptischen Thot von Schmun, den Briefschreiber der Götter und Schutzherrn der Wissenschaft. (ebd., S. 26 f.)

Viel später, im vierten Band der Roman-Tetralogie, in Joseph, der Ernährer, sagt der Pharao zu Joseph: „ich sehe, dass du dich auf die Künste des Thot verstehst und ein Schreiber bist.“ (Mann 1974b, S 1424) Was mit Joseph in Ägypten geschieht, ist ein Beispiel von Akkulturation ohne selbstverleugnende Assimilation. Im Gastland verdankt Joseph seine „mythische Popularität“ seinem Talent des Witzes. Dieser Witz wird definiert als die Eigenschaft des „gewandten Geschäftsträgers zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen“. Dies schlankbehende, lustige versöhnende Mittlertum hatte in Josephs Gastland, dem Land der Schwarzen Erde, noch gar keinen rechten Ausdruck in einer Gottesperson gefunden. Thot, der Schreiber und Totenführer, Erfinder vieler Gewandheiten, kam der Gestalt am nächsten. (ebd., S. 1758)

Was Thomas Mann beschreibt, ist die gelungene Synthese der Kulturen, der hebräischen, der Joseph treu bleibt, und der ägyptischen, die ihn mit gro-

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ßer Toleranz empfängt, anerkennt und zu Ehren und Ämtern bringt. Der letzte Teil seines Romanzyklus, so erklärt Thomas Mann in einem Vortrag von 1942, sei ganz unter amerikanischem Himmel entstanden und zwar größtenteils unter dem heiteren, dem ägyptischen Himmel Kaliforniens. Sein Joseph, erst einmal Minister des Pharao geworden, verhält sich wie ein kapitalistischer Verwalter amerikanischen Typs, der protestantischen Ethik nahe, die Max Weber analysierte. Auch Weber fasste wie Freud das Judentum als einen entscheidenden Schritt der Menschheit in Richtung der modernen Rationalisierung auf. Übrigens war Freud selbst während der Arbeit an seinem Mann Moses geneigt, Ägypten, die Heimat des Moses und seines „aufgeklärten“ Monotheismus, mit England gleichzusetzen. Wenige Tage vor seiner Abreise nach London schrieb er am 12. Mai 1938: Ich vergleiche mich manchmal mit dem alten Jakob, den seine Kinder auch im hohen Alter mitgenommen haben, wie uns Th. Mann in seinem nächsten Roman schildern wird. Hoffentlich folgt nicht darauf wie dereinst ein Auszug aus Ägypten. Es ist Zeit, daß Ahasver irgendwo zur Ruhe kommt. (Freud 1968, S 459)

Diese Zeilen Sigmund Freuds rufen uns in Erinnerung, welch enge Kontakte in dieser Periode zwischen Freud und Thomas Mann bestanden. Der Einfluss, den die Psychoanalyse auf Joseph und seine Brüder wie auch auf die 1943 entstandene Moses-Novelle Das Gesetz ausgeübt hat, wird häufig erwähnt. Dabei aber verkennt man oft den umgekehrten Einfluss, jenen von Thomas Mann auf Freud. Freud hatte mit der Arbeit am Mann Moses im Jahre 1934 begonnen und konnte dabei die ersten beiden Bände der JosephTetralogie zur Kenntnis nehmen. Thomas Mann besuchte Freud in Grinzing am 14. Juni 1936. Den dritten Teil des Joseph-Romans, Joseph in Ägypten (1936), hat Freud noch vor der Veröffentlichung der ersten beiden Teile seines späteren Mann Moses 1937 in der Zeitschrift Imago rezipiert. Die Ähnlichkeit des im vierten Band von Thomas Manns Tetralogie geschilderten Ägypten und jenem, in dem Freud seinen Moses ansiedelt, springen ins Auge. Beide wählten dieselbe Periode als Rahmen für ihre jeweiligen „historischen Romane“, nämlich die Regierungszeiten Amenhoteps III. und IV. in der 18. Dynastie gegen Ende des 14. Jahrhunderts v. Chr. Freud situiert seinen „historischen Roman“ in der Zeit Echnatons, wie Thomas Mann. Bei Freud steht Echnaton nicht Joseph, sondern Moses gegenüber, der nach biblischer Chronologie vierhundert Jahre nach Joseph auftritt, und Echnaton ist auch nicht der Belehrende und Nehmende wie bei Thomas Mann, sondern der Lehrende und Gebende. Vor allem ist Freuds Moses ein Ägypter, der zu den Hebräern kommt und ihnen den Monotheismus bringt, während Manns Joseph ein Hebräer ist, der nach Ägypten kommt mit der Lehre von dem neuen, von Abraham hervorgebrachten Gott. (Assmann 2006, S. 192)

Dieses Spiel beider Autoren mit historischen Daten stützt sich auf die gleichen Quellen und geschichtswissenschaftlichen Studien. Die Entdeckung

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der Tontafeln von Amarna im Jahr 1888 hatte die Kenntnisse über die Regierungszeiten von Amenhotep III. und IV. entscheidend bereichert. In Keilschrift enthielten die Tontafeln Berichte der Provinzverwalter Syriens und Kanaans sowie mehrerer asiatischer Vasallen des Pharaos. Einer der mächtigsten Verwalter von Amenhotep IV. war Janhamu, der das Amt eines Vizekönigs von Palästina innehatte und im Nildelta residierte. 1903 hatte der Archäologe Hugo Winckler die Hypothese aufgestellt, man dürfe in Janhamu den biblischen Joseph erkennen. Freud und Mann stützten sich beide auf die Arbeiten von Adolf Erman. Auch Erman hatte eine Verbindung zwischen Janhamu und Joseph hergestellt, eine Annahme, der Thomas Mann folgte, nicht aber Freud. Mit der Behauptung, Moses sei ein Ägypter, entzieht sich Freud dem Schema einer Definition der jüdischen Identität durch die Abstammung. Die Identität wird bei ihm zu einer Sache der subjektiven Identifikation und der persönlichen Entscheidung im Zeichen der wissenschaftlichen Methode und der Ethik. In der Traumdeutung hatte er versucht, sich vom schmerzhaften Bilde eines gedemütigten Vaters zu befreien, und die Möglichkeit eines persönlichen Weges der jüdischen Identität behauptet, der weder zur Assimilation an die judenfeindliche Wiener Kultur noch zum Zionismus führte. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion verabschiedet Freud alle konventionellen Definitionen des Judeseins. Im Mann Moses „erwählt Moses sein Volk, doch das Volk tötet ihn. Dadurch setzt es ihn als Vater ein; die Söhne erwählen ihren Vater. Der Vater hat sie erwählt. Ihrerseits treffen sie die Wahl, die Söhne eines solchen Vaters zu sein.“ (Freud 1950, S. 206 f.) Freuds Provokation findet bei Thomas Mann keine Entsprechung. Bei Freud ist Moses ein Ägypter, der unter den Hebräern die gescheiterte Reformation des Echnaton mit anderen Mitteln fortführt, durchsetzt und durch das Bildverbot radikalisiert. Bei Thomas Mann ist Joseph ein Hebräer, der nach Ägypten gekommen ist und dort die Lehre Abrahams verbreitet. Wenn man beide „historische Romane“ vergleicht, so erscheint Freuds Der Mann Moses, trotz aller Ansprüche auf geschichtswissenschaftliche Tauglichkeit, viel fiktionaler, ja erfundener als Manns Joseph-Roman, der sich begnügt, die Erzählung des Alten Testaments zwischen den Zeilen zu ergänzen. Jan Assmanns Moses der Ägypter (1998) zeigt, welcher Logik und welchem Zweck die Freud’schen Fiktion folgte und diente. Die These von der ägyptischen Abstammung Moses’ wurde, betonte Assmann, seit der Geschichte Ägyptens von Manetho, die Freud übrigens en passant erwähnt, von Autoren,  

Allerdings hat Thomas Mann Hugo Wincklers Abraham als Babylonier, Joseph als Ägypter von 1903 wahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen. Vgl. Hamburger 1981, S. 178, Anm. 17. Freud verwendete Ermans Buch Die ägyptische Religion, Berlin 1905; Thomas Mann benützte in der von Hermann Ranke durchgesehenen Tübinger Neuauflage von 1923 Ermans Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum.

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die den Juden und dem Judentum feindlich gesinnt waren, immer wieder aufgeworfen. Doch wurde diese These im 17. und 18. Jahrhundert im Lichte eines universalistischen und rationalistischen Ideals neu gedeutet. Den modernen Rationalisten ging es darum, wie Assmann zeigte, die Vorstellung von einem Bruch zwischen der falschen und der wahren Religion, zwischen dem ägyptischen Polytheismus und dem mosaischen Monotheismus – doch auch zwischen Christen und Heiden, Katholiken und Protestanten, Christen und Juden – zu überwinden, um den Geist der Toleranz walten zu lassen. In dieser Perspektive sei es der Monotheismus, der die Alterität des Polytheismus hervorgerufen habe, indem er die Formen der Vereinbarkeit und Übersetzbarkeit der Religionen abgeschafft habe. Die polytheistischen religiösen Systeme hätten nach den Prinzipien der Übertragung, Bearbeitung und Integration verfahren. „Wahre“ und „falsche“ Kulte hätte es für sie nicht gegeben. Das mosaische Gesetz hätte hingegen die anderen Religionen zu Götzendiensten herabgesetzt. Auf diese Weise hätte es das Unverständnis und die Gegnerschaft der anderen Völker hervorgerufen. Nach Jan Assmanns Ansichten in diesem Buch aus dem Jahre 1998 nahm Freud die Fackel von John Toland und Gotthold Ephraim Lessing, von Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Schiller auf. Aus Moses einen Ägypter und aus Ägypten die Wiege des Monotheismus zu machen, sei darauf hinausgelaufen, die grundlegende Differenz zu bestreiten und die Vorstellung zurückzuweisen, nach der Israel im Besitz der Wahrheit gewesen sei, während Ägypten nur die Lüge dargestellt habe. Moses als Ägypter sei die Zurücknahme der „ägyptophoben“ Lesart des Exodus, eine Figur der Ägyptophilie, der Vermittlung zwischen beiden Kulturen. Freud berief sich ausdrücklich auf Goethes Israel in der Wüste. Von Goethe übernahm er die schonungslose Darstellung von Moses’ charakterlichen Defiziten: die mitunter blutige Gewalt, das autoritäre Wesen, den schlechten Organisationssinn, die strategischen Fehler als Kriegsherr, die Schwierigkeit, sich in der Sprache der Hebräer verständlich zu machen. Diese Fehler machten es wahrscheinlich, meinte Goethe, dass Moses von Josua ermordet wurde. Freud war hocherfreut, seine eigene Intuition bei Goethe bestätigt zu finden. Denn, so Lacan in seinem Seminar über L’éthique de la psychanalyse: Alles beruht für Freud auf der Unterscheidung zwischen Moses, dem Ägypter, und Moses, dem Midianiter. […] Moses der Ägypter ist der große Mann, der Gesetzgeber und auch der Staatsmann, der Rationalist. […] Der andere Moses ist mit seinen göttlichen Offenbarungen der Obskurantist. (Lacan 1986, S. 203-205, übers. v. Vf.)

Alle Fehler, die Goethe Moses zuschrieb, lasten bei Freud auf dem midianitischen Moses. An diesem Ur-Moses, dem Midianiter, sei in der Wüste der Vatermord durch die hebräische Urhorde verübt, führt Freud aus, und erst am Schlusse eines langwierigen Erinnerungs- und Läuterungsprozesses entstand der sinaitische Moses, der eigentliche jüdische Moses.

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Thomas Mann deutet die Echnaton-Episode anders als Freud: für den Romancier kann sie als eine aufgeklärte Periode der Toleranz und der kosmopolitischen Weltläufigkeit interpretiert werden, während welcher die Begegnung von ägyptischem und hebräischem Monotheismus möglich wurde. Bei Freud ist die Reformationszeit Echnatons viel eher eine finstere Periode des Religionskrieges in Ägypten: Mit der Ausrottung der Gegenkults von Heliopolis und mit der heimlichen Flucht des Echnaton-Priesters Moses hätte diese bewegte Periode geendet, in der sich die polytheistische Volksreligion und die monotheistische „List der Vernunft“ Echnatons blutig gegenübergestanden hätten. Wenn es wahrscheinlich ist, dass Freud von Thomas Manns ersten drei Bänden des Joseph-Roman in der Zeit der Niederschrift des Teils Moses, ein Ägypter, der zuerst 1937 in Imago erschien, beeindruckt wurde, so steht es außer Zweifel, dass Thomas Manns vierter Band, Joseph, der Ernährer (1943), die Spuren der Rezeption von Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) trägt. In der Folge seiner Joseph-Tetralogie kam Thomas Mann seinem verehrten, verstorbenen Freund Sigmund Freud noch näher, als er die Erzählung Das Gesetz konzipierte, die man als eine Abwandlung und wohl auch als eine Abschwächung von Freuds provokativen Thesen interpretieren kann. Für Thomas Mann ist Moses das Kind der Liebe zwischen einer ägyptischen Prinzessin und einem hebräischen Diener. Der erste Satz der Erzählung liefert den alles in allem recht einfachen Schlüssel zur Figur des Moses: „Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüderliche, Gebot und Verbot.“ (Mann 1960, S. 808) Moses wird als gewaltsamer (er hat mit eigenen Händen einen ägyptischen Wächter getötet) und sinnlicher Mensch dargestellt, der zum Gegenteil strebt: zur Reinheit, Heiligkeit, Geistigkeit. In der Erzählung verdankt Moses seine Vorstellung vom unsichtbaren Gott dem midianitischen Jahwekult. Der Romancier macht Moses zu einem Helden, dessen Genialität, aber auch Unstetigkeit sich aus der Vermischung zweier Kulturen erklären: ganz wie bei den Ästheten Gustav von Aschenbach in Der Tod in Venedig und Tonio Kröger in der gleichnamigen Erzählung. Auch die homosexuelle Neigung Moses’ zu Josua wird von Thomas Mann angedeutet. In Die Entstehung des Doktor Faustus schreibt er: Wahrscheinlich unter dem unbewußten Einfluss von Heine’s Moses-Bild gab ich meinem Helden die Züge – nicht etwa von Michelangelo’s Moses, sondern von Michelangelo selbst, um ihn als mühevollen, im widerspenstigen menschlichen Rohstoff schwer und unter entmutigenden Niederlagen arbeitenden Künstler zu kennzeichnen. (Mann 1968, Bd, 3, S. 95)

In einer Anmerkung des zweiten Teils von Der Mann Moses und die monotheistische Religion erwähnt Freud das Gedicht „Das neue Israelitische Hospital zu Hamburg“, in dem Heine angeblich mit sarkastischer Ironie das mosaische

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Erbe als „die aus dem Niltal mitgeschleppte Plage, den altägyptisch ungesunden Glauben“ bezeichnet. Hier war Freud etwas voreilig, als er meinte, Heine hätte seine These von Moses, dem Ägypter antizipiert. In Ludwig Börne antwortet Heine ablehnend auf die Frage nach dem ägyptischen Wesen Moses’. Für ihn ist Moses vielmehr derjenige, der die nicht aufzuhebende Differenz zwischen Juden und Christen begründet hat. Schon in ihren frühesten Anfängen, wie wir im Pentateuch bemerken, bekunden die Juden ihre Vorneigung für das Abstrakte, und ihre ganze Religion ist nichts als ein Akt der Dialektik, wodurch Materie und Geist getrennt, und das Absolute nur in der alleinigen Form des Geistes anerkannt wird. […] Moses gab dem Geiste gleichsam materielle Bollwerke, gegen den realen Andrang der Nachbarvölker. (Heine 1997, S. 40 f.)

Im Sinne Heinrich Heines geht es Thomas Mann in der Erzählung Das Gesetz nicht darum, den Gegensatz zwischen Ägypten und Israel geringer zu machen, sondern als abgrundtief darzustellen. Aus dieser Sicht sind Thomas Manns und Sigmund Freuds „historische Romane“ weit von einander getrennt: In der Darstellung Freuds entsteht die Unterscheidung zwischen Polytheismus und Monotheismus innerhalb Ägyptens, und zwar zwischen der herkömmlichen Religion und dem reformierten Kult von Heliopolis, nicht erst zwischen der ägyptischen Kultur und dem mosaischen Gesetz. Gerade in diesem Punkt konnten die in Moses, der Ägypter aufgestellten Thesen Jan Assmanns Einwände erwecken. Trifft es wirklich zu, dass Freud sich bemüht habe, die Differenz zwischen dem ägyptischen Polytheismus und dem hebräischen Monotheismus zu überwinden? Lässt sich die Gegenreligion Echnatons in die ägyptische Tradition einfügen? Ganz gewiss nicht: Dieser Zeitabschnitt wurde in der kollektiven Erinnerung der Ägypter radikal getilgt und verdrängt. In der „Erzählung“ Freuds beschränkt sich der Kulturtransfer von der ägyptischen Weisheit zu den Hebräern auf das besondere Schicksal eines ägyptischen Freimaurerpriesters, der nach der Niederwerfung des reformierten Kults von Heliopolis als Verfolgter innerhalb einer ethnischen Minderheit, den Hebräern, untertauchte und etwas später unternahm, dem gescheiterten Projekt Echnatons an der Hebräern eine zweite Chance zu geben. Übrigens hat Jan Assmann 2002 die Thesen seines Moses, der Ägypter revidiert, indem er nun den mosaischen Fortschritt in der Geistigkeit durch das Bildverbot, das die Hebräer von der ägyptischen Bildreligion unterscheiden sollte, vielmehr als die Überwindung des Gegensatzes zwischen ägyptischem Polytheismus und jüdischem Monotheismus betonte (Assmann 2002, vgl. auch Assmann 2003). Ein letztes Wort über Michelangelos Moses. Bei Thomas Mann wird die finstere Genealogie der Kultur (der Ethik und der Wissenschaft), die nach Freud mit dem Vatermord an Moses in der Wüste begann, zur einer Genealogie des Künstlers, der wie Goethes Prometheus die Menschen wie ein Bildhauer aus dem rohen Element der Triebhaftigkeit und Naturver-

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bundenheit herausformt. So kann man die Anspielung auf Michelangelos Moses in der Entstehung des Doktor Faustus verstehen, wobei die verdeckte Anspielung auf Freuds Studie zu dem Moses des Michelangelo aus dem Jahre 1914 nicht überhört werden sollte. Dort sah Freud den biblischen „Helden“ Moses noch durch das Kunstwerk Michelangelos, dessen Genie der jüdischen Tradition eine Art Korrektur auferlegt hatte, indem er sie zu einer humanistischen und allgemeingültigen Tradition erhoben hatte. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion lässt Freud die ästhetische Verklärung Moses’ durch Michelangelo hinter sich und beschwört die karge und erhabene Welt der Hebräer in der Wüste. In diesem letzten vollendeten Buch gelingt Freud der Durchbruch zur kulturanalytischen „großen Erzählung“. In der Joseph-Tetralogie erzielt Thomas Mann eine anspruchvolle Erweiterung der epischen Fiktion hin zur Gattung des kulturwissenschaftlichen Romans. Wesentlich ist, dass sich beide Werke, das kulturanalytische und das kulturwissenschaftliche, auf dem gemeinsamen Boden der Erzählung einer Identitätsstiftung entfalten. In einer Zeit, in der die christlich geprägte Kultur im Zweiten Weltkrieg zugrunde ging und in der die neu-humanistische Tradition der Bildung im Zeichen der klassischen Antike-Überlieferung einen Bruch durchmachte, wollten beide Autoren dem Volke Josephs und Moses’ ein Monument errichten.

Literatur Assmann, Jan (1998): Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München. Assmann, Jan (2002): Der Fortschritt in der Geistigkeit. Freuds Konstruktion des Judentums. In: Psyche 56, H. 2, S. 154-171. Assmann, Jan (2003): Die mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus. München. Assmann, Jan (2006): Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen München. Birnbaum, Pierre (1998): Exile, Assimilation, and Identity: From Moses to Joseph. In: Essays in Honour of Yosef Hayim Yerushalmi. Hg. v. E. Carlebach, J.M. Efron, D.N. Myers, Hanover, London, S. 249-270. Erman, Adolf (1905): Die ägyptische Religion. Berlin. Erman, Adolf (1923): Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum. Tübingen. Freud, Sigmund (1950): Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Ders.:Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud. Bd. XVI. London, Frankfurt/M. (GW; Reprint 1999), S. 101-246. Freud, Sigmund und Lou Andreas-Salomé (1966): Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt/M. Freud, Sigmund (1968): Briefe 1837-1939. Hg. v. Ernst u. Lucie Freud. 2. erweiterte Aufl. Frankfurt/M. Hamburger, Käte (1981): Thomas Manns biblisches Werk. Der Joseph-Roman. Die MosesErzählung. Das Gesetz. München. Heine, Heinrich (1997): Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In: Heinrich Heine. Sämtliche Werke. Hg. v. Klaus Briegleb. 2. Aufl. Bd. 4. München, S. 7-148.

Joseph und Moses als Ägypter: Sigmund Freud und Thomas Mann

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Oliver Pfohlmann

Von der Abreaktion zur Energieverwandlung Musils Auseinandersetzung mit den Studien über Hysterie in den Vereinigungen I In der Neuen Folge seiner Vorlesungen behauptete Freud: Die Kunst ist fast immer harmlos und wohltätig, sie will nichts anderes sein als Illusion. Außer bei wenigen Personen, die, wie man sagt, von der Kunst besessen sind, wagt sie keine Übergriffe ins Reich der Realität. (Freud 1940, GW Bd. XV, S. 173)

Mit dieser einer traditionell-bürgerlichen Ästhetik verpflichteten Kunstauffassung bot der Analytiker Vertretern der Literarischen Moderne wenig Anschlussmöglichkeiten. Für Freuds Landsmann Robert Musil, fraglos einer dieser „Besessenen“, war die Zeit einer Literatur, die der „milden Narkose“ (Freud 1940, GW Bd. IX, S. 439), der harmlos-wohltätigen Befriedigung diente, längst abgelaufen. Er wollte sie zu einem Instrument umfunktionieren, das vitalistisch-ethischen Intentionen diente. In dem „Morallaboratorium“ (Musil 1978, S. 1351) Dichtung sollte ein neuer Mensch, der Möglichkeitsmensch nicht nur gesucht, sondern sogar erzeugt werden. In dem um 1920 entstandenen Essayfragment Der Dichter und diese Zeit heißt es: Die Hauptsache ist, daß Kunst nichts Ästhetisches ist, als wäre das ein gesondertes Reich, sondern daß sie eine Form zu leben ist, eine menschliche Betätigung, Wachsen. / Ich glaube, daß Kunst in der Entwicklung ihr Recht verlieren wird, wenn sie nicht so ist. (ebd., S. 1351)

Eine entscheidende Rolle bei Musils Neubestimmung der Literatur spielte gerade die Psychoanalyse. Spätestens mit ihrem Auftauchen war für ihn das Verhältnis von Literatur und Psychologie problematisch geworden. Als ob sie sich der alten Antworten immer neu versichern müssten, umkreisen Musils poetologische Reflexionen bis ins Genfer Exil immer wieder die Frage nach der Beziehung von Literatur und Psychologie. So auch in einem 1935 entstandenen, Fragment gebliebenen Rückblick auf sein Schaffen. Zwar sei,  

Der Beitrag stützt sich zum Teil auf Forschungsergebnisse meiner Dissertation, vgl. Pfohlmann 2003, S. 327-363. Vgl. nur das um 1920 entstandene Essayfragment Psychologie und Literatur, Musil 1978, S. 1345-1347.

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heißt es dort, die Unterscheidung selbst einfach, da die Literatur Erkenntnisse der Wissenschaften lediglich benutze. Die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, habe die Literatur dagegen nicht – auch wenn sich, so Musil wörtlich, „Forscher auf Dichter berufen, als sollten ihnen diese das Material oder eine fertige Vorstufe liefern.“ (ebd., S. 967) Weniger leicht zu lösen sei jedoch ihre Verflechtung in der literarischen Praxis. Sei doch eine Literatur, die mehr als bloßes Spiel der Einbildungskraft sein wolle, abhängig vom jeweiligen Forschungsstand. Als Beispiel führt Musil die Psychoanalyse an: Als ich begann, fing sie [die Psychoanalyse] erst an, auf Laienkreise überzugreifen; heute [1935] ist sie kaum wegzudenken. […] Ich will dahingestellt sein lassen, wie groß ihr Wahrheitsgehalt ist […], aber ich will annehmen, er sei groß: was folgt daraus für die Dichtung? Mußten wir nun ihre Symbole, Formeln, Ansichten u. abkürzenden Zusammenfassungen benutzen? Mit einem Wort, mußten wir, wo wir analysieren, psychoanalysieren? (ebd., S. 968)

Überraschenderweise beantwortet Musil diese Frage zunächst nicht theoretisch. Statt dessen erinnert er an ein Frühwerk, dessen Aufnahme bei Publikum und Kritik der Autor zeitlebens als Niederlage empfand: „Ich habe die Antwort mit Anstrengung zu suchen begonnen, als ich mein zweites Buch schrieb, die 2 Novellen Vereinigungen“ (ebd., S. 969). Die Forschung griff diesen Hinweis dankbar auf. Bereits 1974 konnte Karl Corino die Relevanz vor allem der Studien über Hysterie Breuers und Freuds für Musils Erzählband belegen, der zwischen 1908 und 1910 entstanden ist. In den erhalten gebliebenen Vorstufen, begleitenden theoretischen Reflexionen des Autors und der Druckfassung wies Corino Kryptozitate nach, etwa aus den Freud’schen Fallgeschichten übernommene Metaphern, Vornamen von Patientinnen sowie genuin Freud’sche Motive, vor allem das der verdrängten Erinnerung. Bezeichnenderweise wurde dabei Musils Adaption psychoanalytischen Wissens selbst psychoanalysiert: In der Abfolge der verschiedenen Fassungen der zweiten der beiden Erzählungen, Die Versuchung der stillen Veronika, er  



Der Dichter, schreibt Freud in seiner Gradiva-Studie, „war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie.“ (Freud 1940, GW Bd. VII, S. 70) So wird aus dem „Fremdkörper“ (des nicht abreagierten Erlebnisses) bei Breuer und Freud (Freud 1940, GW Bd. I, S. 85) ein „fremder Körper“ bei Musil (1978, S. 210). Freud schildert den Fall einer Mathilde H.; in der Vorstufe zur Versuchung der stillen Veronika mit dem Titel Der Schutzengel bzw. Der Dämon heißt Musils Protagonistin noch Mathilde Emminger (vgl. Corino 1974, S. 76). Zeitweilig war für Veronika auch der Name Cäcilie geplant (vgl. ebd., S. 87 ff.). – Freud schreibt in den Studien über Hysterie von dem Fall einer Cäcilie M., „die ich meinen schwersten und lehrreichsten Fall von Hysterie nennen darf“ (Freud 1940, GW Bd. I, S. 245), der sich jedoch (vermutlich aus Diskretionsgründen) einer Wiedergabe entzog. Freuds Cäcilie „hatte eine Zeit, in welcher sich ihr jeder Gedanke in eine Halluzination umsetzte“ (ebd., S. 251), d.h. in Bilder, ein Hinweis, der für Musil von einigem Anregungswert gewesen sein dürfte. Ich komme darauf zurück.

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kannte Corino eine zunehmende „Verleugnung der Freudianischen Basis“ (Corino 1974, S. 412) und deutete sie als eine „verzweifelte Abwehrschlacht“ (ebd., S. 242) des poeta doctus gegen die übermächtige neue Theorie, als ästhetisch misslungenen Versuch der Überbietung Freuds. Die psychoanalytisch orientierte Musil-Forschung ist ihm in dieser pathologisierenden Einschätzung grosso modo gefolgt. Sie hat sie sogar, wie etwa Johannes Cremerius in seinem ebenso wirkmächtigen wie fatalen Aufsatz, auf die folgende Psychoanalyse-Rezeption Musils ausgedehnt. Einige Interpreten attestierten dem Autor immerhin, mit seiner metaphernwütigen, extrem polysemantischen Prosa in den Vereinigungen trotz oder gerade wegen seiner Verdrängung der Freudianischen Basis Einsichten postfreudianischer Analytiker antizipiert zu haben. Der Dichter erscheint in diesen Deutungen also mal als Patient auf der Couch, mal als ‚wertvoller Bundesgenosse‘. Deutungen nach dem, mit Michael Rutschky gesprochen, Therapieoder Kooperationsmodell sind freilich kaum imstande, das poetologische Profil von Musils ambitioniertem literarischen Programm zu rekonstruieren, das mit den Vereinigungen realisiert werden sollte und das in der Tat maßgeblich in der Auseinandersetzung mit den Fallgeschichten der zeitgenössischen Medizin entstand. Neben denen Breuers und Freuds sind hier noch die Krankengeschichten des Berliner Psychologen Konstantin Oesterreich zu nennen, wie Musil ein Schüler von Carl Stumpf, dessen Arbeiten über Fälle von „Psychasthenie“ eher der frühen Gestaltpsychologie zuzurechnen sind.10 Musils, wie er selbst schrieb, „2 ½ jähriges verzweifeltes Arbeiten“ (Musil 1978, S. 969) an den beiden Erzählungen war nichts weniger als ein literaturgeschichtlich wohl einzigartiger Versuch zur Neubestimmung der Funktion von Literatur angesichts der neuen Wissenschaften vom Menschen. Für Musil drohten diese mit ihrer dramatisch gewachsenen Explikationskraft bei der Erklärung psychischer Prozesse die zur Jahrhundertwende noch gefeierte „psychologische“, jedenfalls pathophile moderne Literatur überflüssig zu machen.

II Bekanntlich wollte Musil zunächst, Anfang 1908 durch eine Einladung seines Mentors Franz Blei zur Mitarbeit an der Zeitschrift Hyperion angeregt 

Vgl. Cremerius 1979. Zu Cremerius’ Thesen und ihren Folgen in der Musil-Forschung vgl. Pfohlmann 2003, S. 297-304.  Vgl. Kyora 1992, S. 179 ff.  Vgl. Rutschky 1981, S. 19 u. 66, sowie Pfohlmann 2003, S. 94-97. 10 Zu Musils Oesterreich-Rezeption vgl. Bonacchi 1998, S. 93 ff. Zu dem heute weitgehend vergessenen Psychologen und Philosophen Konstantin Oesterreich selbst vgl. Wolfes 2001.

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(vgl. Corino 2003, S. 365 ff.), mit leichter Hand realistische Erzählungen „ungefähr in der Art des Maupassant“ (ebd., S. 956) schreiben. Den Gegensatz zwischen dieser (mit der Vorstufe Das verzauberte Haus zunächst zumindest partiell realisierten) Absicht und dem Resultat der Vereinigungen hielt der Autor später selbst für unverständlich: Er [der Gegensatz zwischen Absicht und Ausführung; O.P.] ist ungefähr ebenso groß wie der zwischen dem Vorsatz, schnell eine kleine Geschichte zu schreiben, u. dem Ergebnis, daß ich an 2 Novellen 2½ Jahre, u man kann sagen: beinahe Tag und Nacht, gearbeitet habe. Ich habe mich seelisch beinahe für sie zugrunde gerichtet, denn es streift an Monomanie, solche Energien an eine schließlich doch wenig fruchtbare Aufgabe zu wenden (denn eine Novelle läßt sich intensivieren, aber quantitativ ist ihr Ertrag gering), und ich habe das immer gewußt, aber ich wollte nicht ablassen. Hier liegt also entweder eine persönliche Narretei vor oder eine Episode von mehr als persönlicher Wichtigkeit. (ebd., S. 957)

Provoziert wurde die poetologische Krise, in die Musil während der Arbeit an den Erzählungen (also zwischen 1908 und 1910) geriet, durch die Lektüre psychoanalytischer und psychiatrischer Fallgeschichten. Deutlich wird dies an zwei aufschlussreichen Dokumenten aus dem Nachlass, dem unbetitelten Text mit der Nachlass-Signatur A 88 (Musil 2005, IV/3/118) sowie dem Essayfragment Typus einer Erzählung (Musil 1978, S. 1311). A 88 legt nahe, dass der Dichter die Arbeit angesichts der Überlegenheit einer psychologisch-wissenschaftlichen Darstellung dieses Stoffes gegenüber einer dichterischen zunächst abbrechen wollte: Nüchtern betrachtet wäre es [gemeint ist der Stoff der Erzählung Die Versuchung der stillen Veronika; O.P.] eigentlich der Bericht über einen nahezu pathologischen Fall, an der Grenze derer, die die Psychiater [...] mit dem Namen Psychasthenie bezeichnet haben [...]. Es scheint mir nun selbstverständlich, das Geschäft solches Berichts [!] auch wirklich den Psychiatern und wissenschaftlichen Psychologen zu überlassen; ich bin kein Freund des psychologischen Romans, [...] wir haben keine Tatsachen sondern den Gefühlswert von Tatsachen zu geben. (Musil 2005, IV/3/118).

Was es mit dem ‚Gefühlswert‘ der Tatsachen auf sich hat, der anstelle der Tatsachen selbst vom Dichter (und nicht vom Wissenschaftler) gegeben werden soll, erfährt man aus dem Fragment Typus einer Erzählung. Darin unterscheidet Musil im Anschluss an die noch ausgesprochen konventionell erzählte Vorstufe zur Versuchung der stillen Veronika mit dem Titel Der Dämon vier Typen möglicher literarischer Darstellungsweisen.11 Musils Eingeständnis, dass der Stoff seiner Erzählung letztlich der einer Freud’schen 11 Corino erkennt im Titel Dämon zurecht einen Beleg für Musils Psychoanalyse-Rezeption (vgl. Corino 1974, S. 128 f.), hatte doch schon Josef Breuer die Parallele zwischen der modernen Hysterie und der Besessenheit durch Dämonen im Mittelalter gezogen: „Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte.“ (Freud/Breuer 1970, S. 203)

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Fallgeschichte sein könnte, stellt dabei das Ausgangsproblem dar: „Beispiel ‚Dämon‘; das Mädchen dort hat ein erotisches Jugendtrauma erlitten, durch das viel später alle diese Einbildungszustände akut werden.“ (Musil 1978, S. 1311) Gemeint ist Veronikas verlorene und, wie es im Text heißt, „wie ein fremder Körper“ (ebd., S. 210) in ihr liegende Erinnerung an ein beinahe in einem sodomitischen Akt gipfelndes Einheitserlebnis mit einem Bernhardiner, die „mit einemmal, über viele Jahre hinweg, wieder da war, unvorbereitet, heiß und lebendig“ (ebd., S. 204). Die Anklänge an die Studien über Hysterie sind unübersehbar, Breuer und Freud hatten die „eingeklemmte“ Erinnerung als „Fremdkörper“ (Freud 1940, GW Bd. I, S. 85) bezeichnet. In ihrer Vorläufigen Mitteilung schreiben die Ärzte: Erst „wenn man die Kranken in der Hypnose befragt, stellen sich diese Erinnerungen mit der unverminderten Lebhaftigkeit frischer Geschehnisse ein.“ (Ebd., S. 88) Welche Möglichkeiten gibt es nun, fragt Musil in dem Nachlassfragment Typus einer Erzählung, diese Krankengeschichte literarisch darzustellen? Der Typus 1 entspricht der Darstellungsweise der ‚Psychiater oder wissenschaftlichen Psychologen‘: Aus psychologischen Gesetzmäßigkeiten wird der Einzelfall aufgebaut, causal sein Zustandekommen gezeigt. / Vorteil: Das Feste, Kühle solcher Darstellungsweise. (Als Unterbau stets zu empfehlen.)“ (Musil 1978, S. 1311) Typus 2 bis 4 weichen nun immer stärker von Typus 1 ab: Die Darstellungsabsicht verlagert sich von der kausal erzählten Fallgeschichte zunehmend zum Erfassen, wie Musil schreibt, ‚unbekannter Komplexionen bekannter Gesetze‘, ‚neuer Gefühle‘, ‚unbekannter Emotionen‘ (vgl. ebd.) – d.h. zur Schilderung und ‚Fühlbar-Machung‘ eines wertvollen Erlebnisses, dem schon zitierten ‚Gefühlswert von Tatsachen‘. Typus 4 – den Musil in den Vereinigungen realisiert hat – weicht am stärksten von einer bloß kausalen Darstellung der Fallgeschichte ab, jedoch nicht vom Kausalzusammenhang selbst: „Man zeigt nur einen emotionalen, einen Stimmungsablauf, unter dem gerade noch hinreichend u. von selbst sich der Schein eines causalen Gefüges bildet.“ (ebd., vgl. auch S. 1318) Der von der Wissenschaft entdeckte Kausalzusammenhang bleibt also als „Fundament“ der Literatur erhalten, wohl als eine Art (Selbst-)Schutz vor bloßem Fantasiespiel oder haltloser Spekulation. Problematisch erscheinen daher Deutungen, wonach Musil mit seinen Erzählungen primär die Entwicklung einer alternativen psychologischen oder philosophischen Theorie durchs Sprachrohr der Dichtung intendierte (vgl. Corino 2003, S. 392). Die textimplizite Anthropologie der Vereinigungen unterscheidet sich zwar punktuell von der Freuds wie auch von der Oesterreichs12 – wichtiger 12 Eine präzise und für jede künftige Deutung der Erzählungen hoffentlich grundlegende Rekonstruktion dieser Musilschen Anthropologie liefert Lönker 2002. Mein Verständnis der Musilschen Erzählungen ist Lönkers Deutung zu großem Dank verpflichtet.

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als eine mögliche Kritik an der Theoriebildung einzelner zeitgenössischer Psychologen war Musil m.E. jedoch die Neubestimmung der Funktion der Dichtung. In einem für die Poetik der Vereinigungen aufschlussreichen Brief an Franz Blei vom Juli 1911 schreibt der Dichter: Die Tendenz dieser Kunst verzichtet auf das Wissenschaftliche der Begründung des Geschehens, ich habe mit Bewußtsein alles real Psychologische in den Untergrund gedrängt (ich würde es im Format des Romans allerdings stärker benutzen) [...]. (Musil 1981, Bd. 1, S. 84)13

Das Wissen der modernen Psychologie und Psychoanalyse soll demnach dienender ‚Untergrund‘, ‚Unterbau‘ von Musils Dichtung sein. An anderer Stelle spricht der Autor von der Psychologie als „Wagen“ für die literarischen Reisen oder gar Expeditionen, die einer nach-freudianischen Dichtung möglich und aufgetragen seien (vgl. Musil 1978, S. 997 u. S. 1192). Nun sind die Vereinigungen, wie es in einem weiteren Nachlassfragment heißt, von einem „Ekel am Erzählen“ (Musil 1978, S. 1315) geformt. Dieser Ekel ist auch für Musils späteres Werk kennzeichnend, und von ihm wird auch der Mann ohne Eigenschaften, dem das „primitiv Epische abhanden gekommen“ (Musil 1978b, S. 650) ist, heimgesucht. Die im Folgenden zu plausibilisierende These lautet, dass dieser Ekel ein Reflex gerade auf die Lektüre der novellenähnlichen Fallgeschichten Sigmund Freuds um die Jahre 1907/1908 ist. Deren ästhetische Qualitäten haben den Dichter offenkundig beeindruckt. Es gebe, schreibt Musil in dem um 1920 entstandenen Essayfragment Psychologie und Literatur, psychologische Arbeiten, die wie Dichtungen sind. Es sind Beschreibungen pathologischer Seelenabläufe, die von einer wunderbaren Eindringlichkeit u. so stark gleichnishaft (für den ‚normalen‘ Leser) sind, daß der Zusatz von Deutung, der große Dichtungen aus ihnen machen würde, kaum entbehrt wird. (Musil 1978, S. 1347)

Gerade weil es aber seit Freud solche Darstellungen von Krankengeschichten gab, in denen die Mittel traditioneller Narration und moderne Wissenschaft zu ‚wunderbarer Eindringlichkeit‘ und ‚Gleichnishaftigkeit‘ verschmolzen, erachtete Musil konventionelles Erzählen, das nur einen ‚Zusatz von Deutung‘ mit sich führt, als unzulänglich, um in der Moderne der Dichtung noch ihr Existenzrecht zu sichern.14 13 ‚Mit Bewußtsein in den Untergrund gedrängt‘ – Musil scheint die Fehldeutungen seiner psychoanalytischen Interpreten vorausgesehen zu haben. Für den Lacanisten Peter Henninger beispielsweise sind Musils poetologisch-theoretischen Reflexionen wenig mehr als „sekundäre Bearbeitung“ (vgl. Henninger 1981, S. 98 f., sowie zu den Vereinigungen Henninger 1980); aus jedem Textbefund spricht den Analytiker das Unbewusste des Dichters an und im Weiteren die von Lacan verkündete Wahrheit. Eine Forschungsposition, mit der man es immerhin bis zum Präsidenten der Internationalen Robert Musil-Gesellschaft bringen konnte. 14 Vgl. dazu auch das Essayfragment Die Kunst des Erzählens, in dem sich Musil von allen tradierten bürgerlichen Literaturvorstellungen (Kunst als Harmonie, Spiel, Erholung ...) abgrenzt und die bisherige Erzählkunst als ‚Ammenberuf‘ charakterisiert (Musil 2005, IV/3/149).

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Wie die vier genannten Erzähltypen bereits deutlich machen, strebte Musil als Ausweg eine Inversion des üblichen Verhältnisses an: Anstelle des traditionellen Erzählens am Faden der Kausalität mit einem mehr oder weniger großen ‚Zusatz von Deutung‘ sollte jetzt ein gewebeartiger ‚emotionaler Stimmungsablauf‘ aus möglichst reiner ‚Bedeutung‘ gegeben werden. In der Replik auf seine Kritiker mit dem Titel Über Robert Musil’s Bücher aus dem Jahr 1913 schreibt der Dichter: Gewöhnlich erzählt man in Handlungen und die Bedeutungen liegen neblig am Horizont. Oder sie liegen klar, dann waren sie schon mehr als halb bekannt. Kann man da nicht versuchen, ungeduldig einmal mehr den sachlichen Zusammenhang der Gefühle und Gedanken, um die es sich handelt, auszubreiten [= der Kausalzusammenhang; O.P.], und nur das, was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt, durch jenen vibrierenden Dunst fremder Leiber anzudeuten, der über einer Handlung lagert [= der Gefühlswert der Tatsachen; O.P.]? Ich meine, man hat damit bloß das Verhältnis einer technischen Mischung verkehrt und man müßte das ansehen wie ein Ingenieur. (Ebd., S. 998, vgl. Musil 1981, Bd. 1, S. 84)15

Die Schilderung von (kausaler) Handlung dient nach Musil in der Literatur nur als ein ‚Vorwand‘ für den Transport bzw. die Erzeugung wertvoller Bedeutungen.16 Diese Einsicht depotenzierte das Stoffliche zu einem notwendigen Übel. Jetzt, nach dem Aufkommen der Wissenschaften vom Menschen, die psychische Kausalzusammenhänge aufgrund ihrer leistungsfähigeren Terminologie effizienter und korrekter darstellen konnten, konnte oder gar musste das Stoffliche auf ein Minimum reduziert werden, um Platz für ein Maximum an (Be-)Deutung zu gewinnen, sollte die Literatur nicht ihre Existenzberechtigung verlieren.17 Oder in Musils Worten: Es ging darum, endlich „das Erzählen vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren“ (Musil 1978, S. 999). Die Depotenzierung (nicht Ablehnung!18) des Kausalzusammenhangs in der Literatur bei Musil hängt aufs engste zusammen mit der von Nietzsche, Ernst Mach und anderen gefor-

15 Zum Gegensatz zwischen dem ‚Faden‘ der Epik und der ‚unendlich verwobenen Fläche‘ vgl. Musil 1978b, S. 650. 16 „Der Causalzusammenhang erweist sich auch in der Kunst nur als der Vorwand, Schritt um Schritt dieses Zusammengehänge mitführerischer Werte auszubreiten.“ (Musil 1978, S. 1320) 17 „Statt ein wertvolles Erlebnis od. einen wertv. Menschen aus bloß geeigneten Elementen aufzubaun, kann man auch die umgekehrte Einstellung haben, ein beliebiges, bloß geeignetes Erlebnis aus wertvollen Elementen aufzubaun. Aus einem Ma [Maximum; O.P.] solcher. / Nicht aus den gerade hinreichenden Gründen der Kausalität, sondern aus Motiven. Es geschieht nichts durch Zufall, sondern jeder Gedanke, der ja auch ein psychologisches Ereignis ist, ist doch in erster Linie eine sachliche Notwendigkeit.“ (Musil 1978, S. 1322) 18 „Im allgemeinen ist die Causalität – mag sie auch die untergeordnete Rolle einer bloßen Vermittlung des Wesentlichen haben – durchaus nicht zu vernachlässigen und enthält sogar Komponenten des Wesentlichen selbst.“ (ebd., S. 1320)

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derten Ablösung des Kausalitäts- durch den Funktionsbegriff.19 In Musils poetologischen Reflexionen findet sich die mit der Abkehr vom Kausalzusammenhang eng verknüpfte Rede von der Ablösung des ‚begriffsarmen‘ durch den neuen ‚begriffsstarken‘ Menschen (vgl. Musil 1978, S. 997 u. S. 1324). Auch wenn der Name Freud in diesem Zusammenhang nicht genannt wird, scheint es mir offensichtlich, dass sich hinter diesen Begriffen ein Hauptstück von Musils ästhetischem Vormarsch weg von der, der bisherigen Literatur gefährlich nahegekommenen Psychoanalyse verbirgt (ebd., S. 1333). Irgendwann mag ja vielleicht das Erzählen einfach eines starken begriffsarmen Menschen reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen gewesen sein, unter deren Erinnerung sein Gedächtnis sich noch krümmte, Zauber des Aussprechens, Wiederholens, Besprechens und dadurch Entkräftens. Aber seit dem Beginn des Romans halten wir nun schon bei einem Begriff des Erzählens, der daher kommt. Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht, die allgemein und in Begriffen nicht [d.h. nicht in der Fachsprache der Wissenschaft; O.P.], sondern nur im Flimmern des Einzelfalls [d.h. in der Dichtung; O.P.] – vielleicht: die nicht mit dem vollen rationalen und bürgerlich geschäftsfähigen Menschen, sondern mit weniger konsolidierten, aber darüber hinausragenden Teilen zu erfassen sind. (Musil 1978, S. 997)

Kooperation und Konkurrenz zwischen Psychoanalyse und Literatur werden auf engstem Raum sichtbar: Gemeinsam ist ihnen die Betonung der Relevanz unbewusster Seelenanteile gegenüber der bürgerlichen Vorstellung eines autonomen Subjekts. Der begriffsarme Mensch jedoch gibt sich der psychische Erleichterung gewährenden Reproduktion des Erlebnisses am Faden der Kausalität hin. Der für Musil nur als Autor und Leser mögliche begriffsstarke Mensch dagegen verwendet die Schilderung der Realität 19 „Längst hat man die Ursachenforschung in der Wissenschaft aufgegeben oder wenigstens stark zurückgedrängt und durch eine funktionale Betrachtungsweise der Zusammenhänge ersetzt. Die Suche nach der Ursache gehört dem Hausgebrauch an, wo die Verliebtheit der Köchin die Ursache davon ist, daß die Suppe versalzen wurde.“ (Musil 1978b, S. 1438). Zu Machs Polemik gegen den Begriff der Kausalität und seinen Ersatz durch den Funktionsbegriff vgl. Musil 1980, S. 66 ff. Heute wird die Forderung nach einer Ablösung des Kausalitäts- durch den Funktionsbegriff vor allem von der Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz erhoben. Zu Luhmanns Äquivalenzfunktionalismus, für den – in Umkehrung der üblichen Sichtweise – Kausalität ein Spezialfall der Funktionalität ist, und die deutlichen Parallelen zu Mach und Musil vgl. z.B. Scholz 1982, S. 248-252. Der Grund für diese Parallelen dürfte darin liegen, dass alle drei (Mach, Musil und Luhmann) ihren Auffassungen den mathematischen Funktionsbegriff zugrunde legen. Die entscheidenden Merkmale sind Umkehrbarkeit der Beziehungen sowie Vergleichbarkeit des an sich Unvergleichbaren als Ausgangspunkt eines ‚Möglichkeitssinns‘ wie auch der Musil`schen Gleichnissprache. Betrachtet man Musils dichterische Entwicklung, fällt auf, dass der Törleß mit seiner genetisch-psychologischen Erklärung der Verwirrungen des Protagonisten (vgl. Musil 1981, Bd. 1, S. 234) gegenüber den Vereinigungen noch relativ kausal erzählt ist.

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als Mittel zum Erleben emotionaler und intellektueller Offenbarungen, die im ‚Flimmern‘ singulärer Sprachwelten zuteil werden sollen.20

III Nimmt man nun die Studien über Hysterie als Kontrastfolie hinzu, gewinnt Musils Unterscheidung an überraschender Transparenz: Bei Breuer und Freud dient die talking cure der Patientinnen, ihr (in Musils Worten) ‚reaktives Nocheinmalbetasten‘ der traumatisierenden Vergangenheit, dem erleichternden ‚Entkräften‘. Die von der verdrängten Erinnerung blockierte psychische Energie wird durch die „kathartische Kur“ (Freud 1940, GW Bd. I, S. 312), d.h. durch das Wort ‚abreagiert‘, die Gesundheit ist wiederhergestellt. In „der Sprache“, heißt es in der „Vorläufigen Mitteilung“, „findet der Mensch ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso ‚abreagiert‘ werden kann.“ (ebd., S. 87) Auf die Nähe der Analyse zur psychohygienischen Funktion der katholischen Beichte wird bereits hierin hingewiesen (vgl. ebd.); es ist kein Zufall, dass in der Versuchung der stillen Veronika Veronikas Gesprächspartner Johannes ein entlaufener Kandidat fürs Priesteramt ist. Freud propagierte die therapeutische Verwendung der Sprache zur Abreaktion krankheitsverursachender Erinnerungen mittels Erzählens im Rekurs auf die aristotelische Tragödienfunktion, die Katharsis.21 Dabei folgte der Analytiker der Neuübersetzung der Poetik durch Jacob Bernays. Dieser Gräzist hatte 1857 die aristotelische Katharsis nicht mehr wie Lessing moralisch als Reinigung oder Veredelung der Leidenschaften und Affekte zu Tugenden gedeutet, sondern medizinisch als ihre „erleichternde Entladung“ (Bernays 1857, S. 148). Auf das offensichtliche Vorbild dieser Neuübersetzung, nämliche die Funktionsweise des männlichen Sexualorgans, weist 1897 der Wiener Ästhetikprofessor Alfred Freiherr von Berger in seiner Abhandlung Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles augenzwinkernd hin und versäumt dabei nicht, lobend auf die nur ein Jahr zuvor erschienenen Studien über Hysterie hinzuweisen (vgl. Berger 1897, S. 76 u. 81). Von diesem seelenhygienischen Prinzip der „erleichternden Entladung“ nun grenzt sich Musils Neubestimmung der Literatur ab: Nach ihrer Indienstnahme durch die Medizin soll und kann das Erzählen in der Dichtung nicht mehr einer bloßen Abreaktion aufgestauter Affekte dienen. Bei dieser Neubestimmung dürfte der theoretische Kopf der Wiener Moderne, Hermann Bahr, eine stimulierende Rolle gespielt haben. Bahr hatte sich bereits 20 Zu Musils Kritik am Mimesis-Konzept, dem verbreiteten Bedürfnis nach Imitation und Wiederholung und einer bloß reproduktiven Kunst vgl. Willemsen 1984, S. 20 f., 51 ff. 21 Zum Katharsis-Begriff vgl. Zelle 2000.

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seit 1901 in seinen Tage- und Skizzenbüchern mit der kulturgeschichtlichen Dimension des Katharsis-Prinzips und der Bedeutung der ‚kathartischen Cur‘ Breuers und Freuds beschäftigt.22 Sein für die Popularisierung der Psychoanalyse unter den Literaten bedeutsamer Essay Dialog vom Tragischen wurde von Musil vermutlich bereits 1903 als Vorabdruck in der viel gelesenen Neuen Rundschau, spätestens aber 1904 als Buchpublikation zur Kenntnis genommen, wie Musils Tagebuchheft 4 belegt; der dort notierte Terminus ‚Abreaktion‘ ist der früheste Nachweis für Musils Freud-Rezeption (Musil 1983, Bd. I, S. 37 f.). In diesem Dialog identifiziert Hermann Bahr zunächst die neue kathartische Kur der Wiener Mediziner mit der Funktion der Tragödie im antiken Griechenland, genauer: Die Funktion der antiken Tragödie, aufgestaute und verdrängte Affektenergien im Dienste der Kultur zu entladen, übernimmt in der modernen Gesellschaft die Medizin. Wie Bahr seine Figur des ‚Meisters‘ erklären lässt, betrifft dies freilich nur das Durchschnittsindividuum, das auch heute noch seine Triebe verdränge und von der Hysterie bedroht sei. Für die gebildeten, sich gerne mit allen möglichen Perversionen oder sadomasochistischen Spielchen die Zeit vertreibenden Intellektuellen – „Jeder dritte ist ein Flagellant.“ (Bahr 1904, S. 41) – gelte dies längst nicht mehr, eventuell aufgestaute Affekte würden „mit der wunderbaren Schamlosigkeit des Freien […] abgeredet […]; wir hätten die Tragödie in täglichen Diskussionen“ (ebd., S. 49), erklärt der ‚Meister‘, und der heutige Leser verbessert: in Talk-Shows. Bahr zufolge haben für den modernen Menschen, den von Nietzsche begrüßten Freigeist, Katharsis und Tragödie längst ihren Sinn verloren: Und von uns rede ich, von solchen Menschen, welche jene bösen tragischen Triebe gar nicht mehr mitbekommen haben, sondern dafür schon die helleren Neigungen, die in der Region der schönen Sitte allmählich aufgeblüht sind, und frage nun: Was soll uns also das Tragische noch? In uns ist nichts mehr zum ‚Abreagieren‘ da, es kann uns mit seinem Tumult erloschener Begierden, die wir nur noch vom Hörensagen kennen, bloß langweilig oder lächerlich sein, wir brauchen es nicht mehr – wir haben jetzt ein ganz anderes Bedürfnis. (ebd., S. 30 f.)

Auf Nietzsches Verkündigung des Über-Menschen rekurrierend, sieht es Bahrs ‚Meister‘ als Aufgabe einer modernen Kunst, Vor-Bilder dieses neuen Menschen zu kreieren. Man kommt nicht umhin, hier Michael Worbs Hinweis zu wiederholen, wonach die vermeintlich triebfreien Freigeister nur noch zehn Jahre vom Ersten Weltkrieg trennten (vgl. Worbs 1988, S. 325). Musils literarisches Programm folgt dem „Mann von Übermorgen“, Bahr also, indem es an die Stelle der Abreaktion aufgestauter Affekte das Prinzip der Energieerhaltung bzw. lebenssteigernden Energieverwandlung setzt. 22 Vgl. die Dokumentation von Hermann Bahrs Psychoanalyse-Rezeption in Anz/Pfohlmann 2006, S. 61-100, hier S. 70-78.

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Nicht zufällig vergleicht er in demselben Essay, in dem er den begriffsstarken vom begriffsarmen Menschen unterscheidet, das Unverständnis, auf das seine Vereinigungen bei der Kritik stießen, mit der Ignoranz, gegen die einst Robert Mayer ankämpfen musste.23 Dieser 1878 verstorbene Arzt und Physiker avancierte erst posthum zum „Galilei des 19. Jahrhunderts“ (Dühring 1880) und zur Gallionsfigur energetischen Denkens. Das von Mayer entdeckte Gesetz der Energieerhaltung, der spätere erste Hauptsatz der Thermodynamik, gilt bis heute als ein Eckpfeiler der modernen Physik. Mayers Energiesatz besagt, dass die elementare Kraft im Universum, die Energie, nur ihrer Qualität nach veränderlich sei, d.h. ihre Zustände ändern könne, etwa von Wärme in Bewegung, ihre Quantität aber erhalten bleibe. Dadurch, dass Mayer eine Möglichkeit fand, diese Umwandlungsverhältnisse mittels des „mechanischen Wärmeäquivalents“ quantifizierbar zu machen, konnten erstmals alle Naturprozesse miteinander verglichen werden.24 Mayers Entdeckung behauptete praktisch eine funktionelle Gleichheit zwischen Mensch und Maschine: „Lebewesen und Maschinen funktionierten nach demselben Prinzip. Tier und Dampfmaschine waren beide verschiedene Ausdrucksformen der großen Kraftumwandlungsmaschine ‚Natur‘“ (Neswald 2006, S. 141). Im „Zeitalter der Nervosität“, wie Joachim Radkau die Zeit um 1900 apostrophiert, infizierte der physikalische Energiebegriff praktisch sämtliche wissenschaftlichen und kulturellen Diskurse (vgl. Radkau 2000, S. 250–265). Zusammen mit dem kurze Zeit danach entdeckten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Satz von der unweigerlich zunehmenden Entropie in geschlossenen Systemen, der großen Angstfantasie der Epoche, erfuhr Mayers Energielehre verschiedenste, nicht zuletzt vitalistische und monistische Interpretationen. So schwärmte Nietzsche am 16. April 1881 in einem Brief an Peter Gast von der „Harmonie der Sphären“, die er bei der Lektüre von Mayers Beiträgen zur Dynamik des Himmels höre (Nietzsche 1986, Bd. 6, S. 84). Mayers Entdeckung einer Auslösekausalität im Bereich des Organischen nach dem Prinzip „Kleine Ursachen – große Wirkung“ adaptierte Nietzsche für seine Vorstellungen von Lebenssteigerung und Willen zur Macht, Mayers Energieerhaltungssatz in der Konzeption der Ewigen Wiederkehr (vgl. Abel 1998). Vom energetischen Denken geprägt ist freilich auch und gerade die Hysterielehre Breuers und Freuds. Bekannt ist der Stimulus von Hermann von 23 „Auch Robert Mayers Abhandlung über die Energie war den Fachgenossen ausgeklügelt und inhaltslos erschienen.“ (Musil 1978, S. 999) Vgl. auch das um 1920 entstandene Prosafragment Der Sommeraufenthalt. Zwei Genies, in dem neben einem als ‚Genie‘ bezeichneten ‚Robert Maier‘ ein ‚Psychoanalyst‘ auftritt (ebd., S. 766 f.). Der Physiker findet sich in Musils Essays noch an anderen Stellen (vgl. ebd., S. 878 u. 1034). 24 Vgl. Neswald 2006, S. 133-142. Zur Bedeutung physikalischer Sätze für die Literatur vgl. Metzner 1979.

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Helmholtz’ Schrift Über die Erhaltung der Kraft (1847) für die Wiener Mediziner.25 Der Energieerhaltungssatz findet sich etwa in der Vorstellung einer Konversion psychischer Energie in somatische Symptome. Kennzeichnend für das Denken schon des frühen Freud ist dabei das Konstanzprinzip, wonach der psychische Apparat bestrebt sei, Erregungsquantitäten auf möglichst niedrigem Niveau zu halten. Erregung werde als Unlust, ihr Abbau dagegen als Lust erfahren.26 Musil war zu sehr Nietzscheaner, um dieser Vorstellung von Lust und Unlust, zumal im Hinblick auf die Literatur, zustimmen zu können. Am 13. August 1910, also mitten in der Schaffenskrise während der Arbeit an den Vereinigungen, notiert er im Tagebuch: „Worauf es mir ankommt, ist die leidenschaftliche Energie des Gedankens.“ (Musil 1983, Bd. I, S. 214)27 Dass Musil mit dem Wissen der Thermodynamik bestens vertraut war, darf als sicher gelten, erinnert sei an sein Studium des Maschinenbaus, der Experimentalpsychologie mit Nebenfach Physik und an seine Dissertation über Ernst Mach, zu dessen Hauptwerken die Principien der Wärmelehre gehören. Gerade in jüngerer Zeit sind zur Bedeutung von Thermodynamik und moderner Physik im Mann ohne Eigenschaften umfangreiche Studien erschienen (vgl. Kassung 2001 u. Kümmel 2001). Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei vor allem auf den zweiten Hauptsatz, den Satz von der Entropie; wenig Beachtung schenkte man dagegen Robert Mayers Gesetz von der Energieerhaltung. Für Musil muss dieser Außenseiter seiner Zunft jedoch einiges 25 Vgl. Laplance/Pontalis, S. 131-134 (Stichwort: Energie, freie – gebundene). 26 Vgl. ebd., S. 160-168 (Stichwort: Konstanzprinzip). 27 Musils Eintreten für eine energieverwandelnde Kunst ist auch zu sehen in Zusammenhang mit den konkurrierenden Lusttheorien der Moderne (vgl. dazu Anz 1998, S. 61-68). Musils Auffassung weist Ähnlichkeiten zu den Absorptions-, Trance- und Flow-Theorien auf, die auf das mystische Erleben einer Vereinigung von Subjekt und Objekt abzielen. Kennzeichen dieser Form von Lust ist es gerade, dass sie sich nicht in einem Zielzustand erschöpft: „Mit hoher Funktionslust begleitete Tätigkeiten werden hingegen oft rastlos bis zur Grenze der Erschöpfung weitergeführt. Sie sind nicht durch einen genußvollen Endzustand begrenzt, sondern durch die Erschöpfbarkeit der Kräfte.“ (ebd., S. 60 f.) – Der Unterschied zwischen erleichternder Abreaktion und Energieerhaltung lässt freilich auch an den Unterschied zwischen dem männlichen und weiblichen Sexualerleben denken: Henningers Beobachtung, dass Musil in die Vereinigungen die Strukturen weiblichen sexuellen Erlebens eingeschrieben hat (vgl. Henninger 1980, S. 136 ff.), scheint mir hier ihre Begründung zu finden. In Musils Tagebuchheft 34 findet sich dazu folgende, vermutlich 1931 entstandene, im Zeichen des gesuchten ‚anderen Zustands‘ stehende Beobachtung: „Der Unterschied männl. u weibl. Sex. geht in der Hauptsache auf die Abreaktion durch ejaculatio zurück, die der Frau [...] fehlt. Schon bei Coit. interr., gar bei Samenstrangunterbindung od. manueller Drosselung wird für den Mann ein ähnl. Zustand geschaffen. Auf das Maximum der Erregung folgt nicht plötzlicher Spannungsabfall, sondern die gestaute Lust sinkt wieder in den Körper zurück und verteilt sich [...] in ihm. Die Lippen wie geschwollen, die Lider heiß, das Geschlecht ermüdet, aber empfindlich und wiederholungsbereit. Der psychische Zustand warm, wollüstig, zerstreut, dem andern anhänglich und durch sofortiges Ansprechen auf Reizung ihm gewissermaßen ausgeliefert. Das ist aber die weibliche Reaktionsweise.“ (Musil 1983, Bd. I, S. 843) Inwieweit sich Musil mit tantrischen Praktiken beschäftigt hat, ist unbekannt.

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Identifikationspotenzial besessen haben, nicht nur aufgrund der Namensähnlichkeit. Mayer musste sein Leben lang um Anerkennung kämpfen; die Ignoranz seiner Umwelt ließ den Naturwissenschaftler sich aus dem Fenster stürzen, nach seiner Genesung wurde er zeitweilig wahnsinnig.28 Der von dem Chemiker und Chefpropagandisten der zeitgenössischen Energetik Wilhelm Ostwald 1911, also im Jahr des Erscheinens der Vereinigungen, aufgestellte „energetische Imperativ“: „Vergeude keine Energie, nutze sie!“ könnte auch als Motto über Musils Werk stehen.29 Der von Musil angestrebte neue, begriffsstarke Mensch braucht kein erleichterndes Nocheinmalbetasten seiner Erlebnisse mittels Sprache mehr. Er nutzt die Sprache, um die destruktive Energie psychischer Erkrankungen in eine lebenssteigernde, bewusstseinserweiternde Kraft zu transformieren, in das Erleben ekstatischer Augenblicke und ‚anderer Zustände‘.30 In dem unmittelbar nach Abschluss der Vereinigungen entstandenen Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst spricht Musil von der ‚energieverwandelnden Wirkung‘ der Dichtung (vgl. Musil 1978, S. 982). Sie ist es, die dazu führt, dass die Schilderung von Krankhaftem oder Bösem selbst nicht mehr krankhaft oder böse ist, aber als Vehikel benutzt werden kann zur „Erweiterung des Registers von innerlich noch Möglichem“ (ebd., S. 981) – und zwar beim Autor wie beim Rezipienten. Zweck eines Kunstwerks sei die Assimilation der in ihm enthaltenen „seelischen Kraftstoffe“ in der Rezeption (ebd., S. 1000). Die Darstellung eines besonderen ‚Erlebnisses‘ in der Kunst, heißt es auch 1925 in dem zentralen Essay Ansätze zu neuer Ästhetik, habe die Aufgabe „einer Kraftquelle, deren Inhalt von ihr fortfließt.“ (ebd., S. 1152) Die durch „perverse“ Erotik, Krankheit und Verbrechen freigesetzten emotionalen, kognitiven und ethischen Erregungen dienen Musils Protagonisten ebenso als Energiequelle für lebens- und erkenntnissteigernde Erleuchtungen, wie dies parallel dazu auch mit dem diese erzählten Vorgänge miterlebenden Leser geschehen soll. Dass das Energieprinzip zum Verständnis seiner Figuren relevant ist, hat Musil ausgerechnet in einem Essayfragment über die Psychoanalyse herausgestellt: ich habe mir durch viele Jahre als Dichter sagen lassen müssen, daß meine Figuren abnormal seien, weil ich den Grundsatz der moral. Energieverwandlung ihnen als Sittengesetz gab. (Kein Kritiker hat es bemerkt!). (ebd., S. 1401)31 28 Vgl. die zeitgenössische Skizze von Mayers Leben in Ostwald 1908, S. 34-42. 29 Zu Ostwalds energetischem Imperativ vgl. Neswald 2006, S. 384 ff. 30 Musils vitalistische Vorstellungen einer positiven Funktion von Krankheit, Schmerz usw. verweisen auf seine Nietzsche- und Novalis-Rezeption: Vgl. z.B. Nietzsche 1994, Bd. 2, S. 185 f.; Novalis 1999, S. 628. Zur pathophilen Ästhetik der Moderne vgl. Anz 1989. 31 Dieses Zitat weist auf die Nähe des Energieerhaltungssatzes zum Sublimationskonzept Freuds hin. In Das Interesse an der Psychoanalyse (1913) heißt es: „Unsere besten Tugenden sind als Reaktionsbildungen und Sublimierungen auf dem Boden der bösesten Anlagen erwachsen. Die Erziehung sollte sich vorsorglich hüten, diese kostbaren Kraftquellen zu verschütten und sich darauf beschränken, die Prozesse zu befördern, durch welche diese

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Diesem ‚Sittengesetz‘ folgt schon der Zögling Törleß, dem erst das in seinem Unbewussten zirkulierende ödipale und präödipale Begehren den Treibsatz für neomystische Erlebnisse bereitstellt. Die, wie es im Mann ohne Eigenschaften heißt, „Überzeugung der Heiligen (und der Ärzte und Ingenieure) [...], daß auch in den moralischen Abfällen unausgenützte himmlische Heizkraft stecke“ (Musil 1978b, S. 331), die der Erzähler gegen den Idealismus Diotimas ins Feld führt, bestimmt Musils Denken ebenso wie das seines Protagonisten Ulrich.32

IV Im Fall der Vereinigungen lässt sich das Prinzip der moralischen Energieverwandlung auf produktions-, werk- und rezeptionsästhetischer Ebene aufzeigen: Zunächst zu den produktionsästhetischen bzw. biographischen Hintergründen:33 Zu ihnen gehört neben der skizzierten Auseinandersetzung mit Freuds Fallgeschichten die Tatsache, dass Musil mit den Erzählungen pikante und für den Autor wenig erfreuliche Details aus der Biografie seiner späteren Frau Martha in ‚himmlische Heizkraft‘ verwandelte. Hinter der Versuchung der stillen Veronika steht die aufgeheizte Situation der jungen Martha Heimann zwischen ihren Cousins, den Brüdern Fritz und Edmund Alexander, Vorbilder für Johannes und Demeter in der Erzählung, hinter der Vollendung der Liebe gar ein spontaner Seitensprung Marthas mit einem früheren Verehrer, dem sie eigentlich zugunsten Musils absagen wollte. Damit gab Martha dem notorisch eifersüchtigen Dichter eine Aufgabe, die er ganz im Sinne des energetischen Imperativs löste. Der Musil-Biograf Karl Corino zitiert einen Ratschlag Maurice Maeterlincks, dem der Dichter gefolgt sei: „Weise ist, wem ein Betrug oder Verrat, der ihn heimsucht, nur Energien auf gute Wege geleitet werden.“ (Freud 1940, GW Bd. VIII, S. 420) Die Denkfigur der Sublimierung, einer Entstehung von Wertvollem aus Geringem, geht auf Nietzsche zurück, nach dem „die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind“. (Nietzsche 1994, Bd. I, S. 447) Vgl. dazu auch Kaufmann 1988, S. 245-298. 32 Dass das Prinzip der Energieverwandlung zum Verständnis des ‚anderen Zustandes‘ bedeutsam und quasi eine Bedingung für sein Eintreten ist, unterstreicht ein Jugenderlebnis Ulrichs: „Die vergessene, überaus wichtige Geschichte mit der Gattin eines Majors“ (Musil 1978b, S. 120-126). Ulrich flieht vor der Möglichkeit einer Realisierung seines Begehrens, d.h. einer Abreaktion seiner Triebenergie, auf eine ferne Insel und ergeht sich in Fernliebe und Naturmystik. „Es dauerte nicht lange, da war sie [die Majorsgattin; O.P.] ganz zum unpersönlichen Kraftzentrum, zum versenkten Dynamo seiner Erleuchtungsanlage geworden“ (ebd., S. 126). Zu den biografischen Hintergründen dieser Geschichte, dem sogenannten „Valerie-Erlebnis“ des jungen Musil, vgl. Corino 2003, S. 154 ff. 33 Vgl. zu den biografischen Hintergründen ebd., Kap. 12 u. 13. Zur Biografie der jungen Martha Heimann vgl. auch Mauthner 2004.

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dazu dient, seine Weisheit nochmehr zu läutern. Weise ist, wem selbst das Böse den Scheiterhaufen der Liebe nähren muss.“ (Zit. n. Corino 2003, S. 385) Zur werkästhetischen Ebene: Beiden Protagonistinnen wird das in ihnen befindliche Abseitige oder Pathologische nicht nur zur Ursache von Symptomen wie denen der Depersonalisation oder der Entfremdung von der Wahrnehmungswelt, wie sie Musil nach dem Vorbild von Konstantin Oesterreichs Psychasthenikern schildert (vgl. Lönker 2002, S. 134-164). Sondern ebenso zum ‚seelischen Kraftstoff‘ für andere Zustände, quasi-mystische Einheitserlebnisse, imaginäre Vereinigungen mit ihren Liebhabern. Am Beispiel von Veronika: Der Text legt nahe, dass sie das Jugenderlebnis mit dem sexuell erregten Hund aufgrund des Schocks verdrängte, den ihr die Konfrontation mit der für Gewalt und Überwältigung stehenden phallischen Sexualität bereitete: […] nur der Hund stand jetzt neben ihr und sah sie an. Und da bemerkte sie mit einemmal, daß sich lautlos etwas Spitzes, Rotes, lustweh Gekrümmtes aus seinem meerschaumgelben Vlies hervorgeschoben hatte, und in dem Augenblick, wo sie sich jetzt aufrichten wollte, spürte sie die lauwarme, zuckende Berührung seiner Zunge in ihrem Gesicht. Und da war sie so eigentümlich gelähmt gewesen, wie … wie wenn sie selbst auch ein Tier wäre, und trotz der abscheulichen Angst, die sie empfand, duckte sich etwas ganz heiß in ihr zusammen, als ob jetzt und jetzt … wie Vogelschreien und Flügelflattern in einer Hecke, bis es still wird und weich im Laut wie von Federn, die übereinandergleiten … / Und das war dies von damals, gerade dieses sonderbar heiße Erschrecken war es, an dem sie jetzt plötzlich alles wiedererkannte. Denn man weiß nicht, woran man es fühlt, aber sie spürte, daß sie jetzt, nach Jahren, in genau der gleichen Weise erschrocken war wie damals. (Musil 1978, S. 205 f.)

Bis zur Wiedererinnerung 13 oder 14 Jahre später führt sie ein, wie es im Text heißt, „freudlos[es]“ (Musil 1978, S. 207) Leben, das von Symptomen der Psychasthenie geprägt ist, einer Entfremdung von sich, ihrem Körper und der Welt. Die Gespräche mit dem weichen, sensiblen Johannes führen nun dazu, dass Veronika verschiedene, mit dem Trauma zusammenhängende Erlebnisse erinnert und erzählt (etwa der Veronika lähmende Anblick eines Hahns, der teilnahmslos ein Huhn begattet, während der virile Demeter neben ihr steht).34 Dieser Prozess scheint zunächst noch Breuers und Freuds Therapiekonzept von einer „schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials“ (Freud 1940, GW Bd. I, S. 201) zu entsprechen und verweist auf die Existenz eines „pathogenen Kern[s]“ (ebd., S. 292). Dieses ur34

Vgl. Musil 1978, S. 197 sowie S. 208: „Und damals [seit der Heimkehr von Johannes; O.P.] geschah es auch, daß ihr alle andern Erinnerungen einzufallen begannen bis auf die eine. Sie kamen alle und sie [Veronika] wußte nicht warum und fühlte nur an irgend etwas, daß eine noch fehlte und daß es nur diese eine war, um deretwillen alle andern kamen.“

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sprüngliche traumatische Erlebnis, der ‚Fremdkörper‘ (Breuer/Freud) bwz. ‚fremde Körper‘ (Musil), wird nun im Abschiedsgespräch mit Johannes wiedererinnert (vgl. Musil 1978, S. 209) – „und es begann das, was nur mehr für sie war.“ (ebd., S. 204) Denn im Unterschied zu Freuds ‚kaminkehrenden‘ Hysterikerinnen erzählt Veronika dieses Erlebnis mit dem Hund ihrem Gegenüber nicht und reagiert folglich auch keine Affektenergien ab. Dass diese Energien aufgerufen werden, dafür steht die bereits zitierte Beschreibung „unvorbereitet, heiß und lebendig“ (ebd., S. 204). Für die These der Energieverwandlung spricht, dass unmittelbar nach der Wiedererinnerung bereits der ersehnte Prozess der imaginären Vereinigung einsetzt (vgl. ebd., S. 210 f.), der dann in der übernächsten Nacht kulminiert. Neben dem mutmaßlichen Selbstmord von Johannes sind die mit der Wiedererinnerung an das traumatisierende Erlebnis freigesetzten Energien somit eine Bedingung dafür, dass Veronika ihre Utopie eines göttlichen Zustandes der reinen Hingabe (jenseits der Geschlechterdifferenz und der phallischen Sexualität) vorübergehend erreicht: „ihr Denken konnte in dieser Nacht die Vorstellung einer gebirgsluftungeheuren Gesundheit erreichen, voll einer Leichtigkeit des Verfügens über ihre Gefühle.“ (ebd., S. 217) Weil sie mit ihren Gefühlsenergien anders umgehen, nämlich „nicht-appetithaft“, wie es später im Mann ohne Eigenschaften heißen wird35, werden Veronika und Claudine für den Leser zu Vorbildern des neuen „inneren“ Menschen (vgl. ebd., S. 1029).36 35 Vgl. Musil 1978b, S. 1236. Im letzten vollendeten Kapitel des Romans, „Atemzüge eines Sommertages“, unterscheidet Ulrich im Rahmen seiner Gefühlstheorie einen appetithaften und einen nicht-appetithaften Umgang mit Emotionen: „‚Ich werde also die beiden Arten des leidenschaftlichen Seins einfach nach einem bekannten Beispiel die appetithafte und eben dann auch, als deren Gegenteil, die nicht-appetithafte nennen, mag es sich unschön anhören, oder nicht. Denn in jedem Menschen ist ein Hunger und verhält sich wie ein reißendes Tier; und ist kein Hunger, sondern etwas, das frei von Gier und Sattheit, zärtlich wie eine Traube in der Herbstsonne reift. Ja, sogar in jedem seiner Gefühle ist das eine wie das andere. […] An jedem Gefühl lassen sich diese zwei Seiten unterscheiden‘ fuhr er fort. Aber merkwürdigerweise sprach er dann nur von dem, was er unter der appetitiven verstand. Sie drängt zum Handeln, zur Bewegung, zum Genuß; durch ihre Wirkung verwandelt sich das Gefühl in ein Werk, oder auch in eine Idee und Überzeugung, oder in eine Enttäuschung. Das alles sind Formen seiner Entspannung, können aber auch solche der Umspannung und Neukräftigung sein. Denn auf diese Art verändert sich das Gefühl, nutzt sich ab, verläuft sich in seinem Erfolg und findet darin ein Ende; oder es verkapselt sich darin und verwandelt seine lebendige Kraft nun in seine aufgespeicherte, die ihm die lebendige später, und gelegentlich oft mit Zinseszins, wieder zurückgibt.“ (Ebd.) Der zur Erreichung des anderen Zustands notwendige nicht-appetithafte Umgang mit Emotionen beruht also auf dem Prinzip der Energieverwandlung – und erhellt, warum Ulrich vor der Verlockung des Inzests zurückschreckt. 36 Vgl. dazu auch die für die Figurenkonzeption der Vereinigungen grundlegende und offenbar im Anschluss an die Lektüre der Psychasthenie-Studien Konstantin Oesterreichs formulierten Überlegungen Bemerkungen über Apperceptor udgl. (Musil 1983, Bd. II, S. 927-934). Darin heißt es: „Wenn wir gedemütigt werden und sagen Demut ist eine Tugend, so passen wir uns der Außenwelt an, wenn wir aber Demut als den Sinn der Welt erleben, alles in Demut

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Die Frage nach der rezeptionsästhetischen Dimension führt zum Schluss meines Beitrags. Die Abwertung des Kausalen, Stofflichen in Musils Erzählungen geht einher mit einer umfassenden Emotionalisierung des Textes. Für sein erklärtes Ziel, mit seinen Vereinigungen die „Seele“ des Lesers „tiefer [zu] furchen, als daß nicht nach wenigen Tagen alles wieder glatt wäre“ (ebd., S. 1321), entwickelte Musil das Konzept der Motivation.37 Motivation ist der Gegenbegriff zur Kausalität, gerade sie war für den Dichter lebenslang die differentia specifica zwischen psychologischer Wissenschaft und psychologischer Dichtung: „Kausalität sucht die Regel durch die Regelmäßigkeit, konstatiert das, was sich immer gebunden findet; Motivation macht das Motiv verstehen, indem sie den Impuls zu ähnlichem Handeln, Fühlen oder Denken auslöst.“ (ebd., S. 1052) Durch kontinuierliche Motivation, durch ununterbrochene Mit- oder Einfühlung des Lesers in das Erleben der Protagonistinnen, sollte die Assimilation der ‚seelischen Kraftstoffe‘ gewährleistet werden. Die Affinitäten zu den damals populären Vorstellungen von Wilhelm Dilthey (Erklären vs. Verstehen) und Theodor Lipps ist deutlich. Vor allem die wissenschaftstheoretischen, psychologischen und ästhetischen Konzeptionen des Münchner Psychologieprofessors Theodor Lipps, um 1900 eine Koryphäe der jungen, sich als eigenständige Wissenschaft erst konstituierenden Disziplin38, haben offenkundig auf den Psychologiestudenten und Nachwuchsautor Musil Eindruck gemacht.39 Nach Lipps wird das Bewusstseinsleben des individuellen Ich als Motivationszusammenhang psychischer Akte vom Ich unmittelbar erlebt; der Psychologie als „erklärender“ Wissenschaft sei dieses Geschehen in seiner unmittelbaren Tätigkeit prinzipiell unzugänglich: [Das] unmittelbare Bedingt-, Bestimmtsein usw. [des Ich-Erlebnisses; O.P.] [hat] mit kausalen Beziehungen ganz und gar nichts gemein. Beide Begriffe gehören völlig verschiedenen Welten an; ja sie bezeichnen in der Gesamtwelt unserer Begriffe äußerste Gegensätze. Kausale Beziehungen gibt es nur für den Verstand. Sie sind von ihm erschlossen, und sie gehören der von uns unabhängigen Außenwelt an. Jenes Icherlebnis dagegen gehört dem unmittelbar erlebten Ich an. Und es hätte keinen Sinn dasselbe erschließen zu wollen, da sein Dasein eben in seinem Erlebtwerden besteht. Beide Begriffe, der Kausalität einerseits, des Bedingtseins, des Hervorgesüß gefärbt erleben, so passen wir die Welt uns an. […] aber nur dann, wenn asthenische Emotionen […] sthenisch wirken – wie auf Künstler, sonst sind sie einfach Depravierung, Verdrängtwerden“ (ebd., S. 931). Der sthenische Umgang mit asthenischen Emotionen entspricht genau dem Prinzip der Energieverwandlung. 37 Vgl. zu Musils Motivationsbegriff v.a. Musil 1978, S. 972, 1052, 1319 ff., Musil 1978b, S. 1914-1920 sowie Musil 1981, Bd. 1, S. 82-88, zur Abgrenzung von der Psychologie vgl. Musil 1983, Bd. 1, S. 521. Vgl. dazu auch Mae 1988 sowie Willemsen 1984, S. 201 ff. 38 Zu Lipps’ Rolle im Konstitutionsprozess der Psychologie vgl. Schmidt 1995. 39 Theodor Lipps’ Leitfaden der Psychologie (1903) lernte Musil im Sommersemester 1905 im Rahmen von theoretischen Übungen kennen, die von seinem Doktorvater Carl Stumpf geleitetet wurden. Vgl. Bonacchi 1992, S. 17 f.

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hens, der Abhängigkeit, andererseits, verhalten sich zu einander, wie die erkannte Realität der Dinge einerseits, und die unmittelbare Bewußtseinswirklichkeit andererseits. [...] Wir bezeichnen dieselben [die unmittelbar erlebten Beziehungen im Ich; O.P.] schließlich mit [...] Motivation. Dieser ‚Motivation‘ steht dann, als damit völlig unvergleichlich, die ‚Kausation‘ gegenüber. Die kausalen Beziehungen stellen den Zusammenhang der erkannten dinglich realen Welt dar; die Motivationsbeziehungen bezeichnen den unmittelbar erlebten Zusammenhang des Bewußtseinserlebens. [...] Die Motivation bezeichnet sozusagen die lebendigen ‚Gelenke‘ zwischen den Teilen oder Absätzen der inneren Tätigkeit. (Lipps 1909, S. 42 f.)40

Der Psychologie sei nur möglich, nachträglich einen solchen Kausalzusammenhang zu konstruieren, um auf diese Weise psychische Phänomene erklärbar zu machen. [Es] ist die Aufgabe der Psychologie, als einer erklärenden Disziplin, einen Kausalzusammenhang des ‚Realen‘ denkend herzustellen, als ‚Substruktion‘ oder ‚Unterbau‘ für die Begreiflichmachung der in der Erfahrung gegebenen Bewußtseinserlebnisse der individuellen Iche, d. h. es ist ihre Aufgabe, einen Kausalzusammenhang des Realen herzustellen, und in ihn in gesetzmäßiger Weise die Bewußtseinserlebnisse einzufügen, und so auch zwischen diesen, durch jenen Zusammenhang des Realen hindurch, eine kausale Beziehung zu stiften. (Lipps 1909, S. 43 f.)41

Jenseits dieses konstruierten Kausalzusammenhangs der erklärenden Wissenschaft gibt es für Lipps jedoch noch die „Einfühlung“. Sie ermöglicht es z.B. in sozialen Beziehungen, aber auch im Bereich der Ästhetik, trotz der Abgeschlossenheit der jeweiligen Bewusstseinserlebnisse Kenntnis von anderen „Ichen“ zu erhalten.42 Das ganz auf die Empathie des Lesers zielende Motivationskonzept Musils – aus dem sich später der prominentere Gegensatz ratioïdes Gebiet (des Wissenschaftlers) / nicht-ratioïdes Gebiet (des Dichters) entwickelte43 – ist das beste Beispiel für die um 1900 viru40 Übrigens ist auch die für die Vereinigungen wichtige Metapher der „Linie“ – die für das kontinuierlich fortschreitende Bewusstsein bzw. Leben steht: „Doch dann fühlte sie [Claudine] ihr Dasein nur wie eine knirschende Linie, die sie eingrub, um sich in dem wirren Schweigen zu hören […]“ (Musil 1978, S. 165); vgl. dazu auch im Törleß die Rede Beinebergs an den auf einem Balken balancieren müssenden Basini (ebd., S. 120 f.) – von Theodor Lipps mitinspiriert: „Das Ich, so sahen wir, ist in jedem Momente der einfache Mittelpunkt des Bewußtseinslebens. Dieser Punkt aber dehnt sich dann im Fortgange des Bewußtseinslebens zur Linie; doch so, daß alle Punkte, indem sie gedacht werden, zugleich als mit dem Endpunkte, dem gegenwärtigen oder jetzt erlebten Ich, identisch erlebt werden. Diese Linie ist die fortgehende Tätigkeit.“ (Lipps 1909, S. 42) 41 Wörtliche Anklänge an diese Passage finden sich in dem Brief Musils an den Kritiker Paul Wiegler vom 21. Dezember 1906. Darin unterscheidet der Dichter im Anschluss an das Erscheinen seines Erstlings Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und die von Alfred Kerr in seiner Rezension im Tag (21.12.1906) als Lob gemeinte Bezeichnung „Psychologe“ erstmalig seine Literatur von der wissenschaftlichen Psychologie: „Ein zweites ist, daß ich nicht Psychologie in allen ihren Finessen geben will. […] Ich will nicht begreiflich [!] sondern fühlbar machen. Das ist glaube ich im Keim der Unterschied zwischen psychologischer Wissenschaft u. psychologischer Kunst.“ (Musil 1981, Bd. 1, S. 24) 42 Zur Einfühlung als „Erkenntnisquelle” vgl. Lipps 1909, S. 222-236. 43 Vgl. Musils Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918); in: Musil 1978, S. 1025-1030.

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lente Konzipierung von „Erkenntnistheorie als Erlebnis- und Einfühlungstheorie“ (vgl. Anz 2004). Das wichtigste formal-ästhetische Mittel Musils für die Motivierung ist das Bild bzw. der Vergleich.44 Der Vergleich spielt auch in den Studien über Hysterie eine wichtige Rolle: Freud, der über das metaphorische Fundament der Psychoanalyse zeitlebens beunruhigt war, hat den Vergleich als Instrument zum Erkenntnisgewinn verwendet.45 Der Analytiker folgte dabei der von Ernst Mach propagierten epistemologischen Funktion von Vergleichen in der Forschung; für Mach war der Vergleich das „innere Lebenselement der Wissenschaft“ (Mach 1910, S. 269). In den sich von den Studien über Hysterie ästhetisch absetzenden Vereinigungen bleibt diese epistemologische Funktion zwar erhalten, wird aber von einer anderen Funktion überlagert, nämlich der Erzeugung einer dynamischen, Autor, Figur und Leser vereinigenden Bewegung von Bedeutung zu Bedeutung. Damit machte Musil auch die von der zeitgenössischen Psychologie in Dienst genommene Metapher für die Dichtung wieder neu produktiv. Das Zurückdrängen des Stofflichen führt zum Vortreten des Bildlichen, wie Musil am 15. Juli 1911 dem auf die Vereinigungen verständnislos reagierenden Kritiker Paul Scheffer schreibt: [Das] Bild ist nicht Ornament, sondern Bedeutungsträger [...]. Es ist nicht sekundär, Zierrat u. bloß ergänzender Beitrag zu dem, was erzählt wird, sondern ein primärer, integrierender u. ganz wesentlicher Bestandteil dessen selbst. Die Bilder gehören zum Knochenbau des Buchs, nicht zu seiner Oberfläche, sie sind Bedeutungsträger [...]. Der Vorgang, der sonst .. in einer Reflexion od. in einem Geschehen zuhause ist, wird hiebei in einer exakten Verkürzung in ein Bild gedrängt. [...] Und nicht der erzählte Mensch sieht sich in solchen Bildern zu, sondern er ist in diesen Bildern [...]. (Musil 1981, Bd. 1, S. 86 f.)

Nach der für die Sprache dieser Erzählungen noch immer grundlegenden Studie Jürgen Schröders kommt es in der Syntax der Vereinigungen zu einer Inversion im Verhältnis von Konstanten, also den Sinnträgern des Satzes, und Variablen, also den eigentlich sekundären, abhängigen Wortarten (Vergleichspartikel wie „wie“, „als ob“ usw.). Durch diese Umkehrung wird der Satz „aus einem statischen Aussage- und Ergebnischarakter in einen beweglichen Funktionscharakter zurück[genommen]. Die jeweilige ‚Rechenoperation‘ wird entscheidender als das ‚Ergebnis‘.“ (Schröder 1982, S. 389) 44 Vgl. dazu die jüngst erschienene Habilitationsschrift von Sabine Schneider (2006) sowie zu den zeitgeschichtlichen Kontexten den Sammelband Pfotenhauer/Riedel/Schneider 2005. 45 Im resümierenden Teil IV der Studien über Hysterie schreibt Freud: „Ich bediene mich hier einer Reihe von Gleichnissen, die alle nur eine recht begrenzte Ähnlichkeit mit meinem Thema haben und die sich auch untereinander nicht vertragen. Ich weiß dies, und bin nicht in Gefahr, deren Wert zu überschätzen, aber mich leitet die Absicht, ein höchst kompliziertes und noch niemals dargestelltes Denkobjekt von verschiedenen Seiten her zu veranschaulichen, und darum erbitte ich mir die Freiheit, auch noch auf den folgenden Seiten in solcher nicht einwandfreien Weise mit Vergleichen zu schalten.“ (Freud 1940, GW Bd. I., S. 295).

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Das innere Erleben der Protagonistinnen Claudine und Veronika wird, aufgehängt an in weiten Abständen errichteten Pfeilern der Kausalität, d.h. der äußeren Handlung, als sich Schritt für Schritt wandelnde, kontinuierlich von Gefühlserkenntnis zu Denkerschütterung zu Gefühlserkenntnis fortschreitend präsentiert. Nacherlebbar, nachfühlbar können diese emotionalen Prozesse nur werden, wenn zwischen Rezipient und Figur genauso eine imaginäre Vereinigung stattfindet, wie sie von den Protagonistinnen exemplarisch vorexerziert werden. Mehr noch als es Erzähltechniken wie erlebte Rede oder innerer Monolog vermögen, schaffen es diese Bilderketten, die fiktive Psyche der Figur und die des Lesers in einem Dritten, eben dem Medium der Bilder, eins werden zu lassen.46 Zumindest die des intendierten Lesers, muss man sagen – für den realen gestaltet sich die Lektüre dieser Erzählungen nicht selten zum strapaziösen Drahtseilakt, bei dem er stets dann erleichtert Atem holt, wenn er einen dieser seltenen Pfeiler der äußeren Handlung erreicht. Ob die Vereinigungen glücken oder nicht, hängt heute genauso wie damals von der Bereitschaft des Lesers ab, sich ganz auf diese Poetik „reine[r] Aktualität und Erregung“ (Musil 1978, S. 1154) einzulassen. Dabei ist man freilich in guter Gesellschaft: Bekanntlich ertrug selbst Musil bei der Re-Lektüre seiner Erzählungen „keine großen Stücke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich jederzeit“ (ebd., S. 969).

Literatur Abel, Günter (1998): Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage. Berlin, New York. Anz, Thomas (1989): Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart. Anz, Thomas (1998): Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München. Anz, Thomas (2004): Erkenntnistheorie als Erlebnis- und Einfühlungstheorie in Wissenschaft, Philosophie und Ästhetik um 1900. Hinweise zu einem vernachlässigtem Phänomen. In: Christine Maillard (Hg.): Littérature et théorie de la connaissance 18901935/Literatur und Erkenntnistheorie 1890-1935. Strasbourg, S. 161-166 Anz, Thomas/Oliver Pfohlmann (2006) (Hg.): Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Band 1: Einleitung und Wiener Moderne. Marburg an der Lahn. 46 Eine Frage an die Systemtheoretiker der Luhmann-Schule: Könnte es sein, dass in der (idealen) empathischen Rezeption dieser Bildersprache nicht doch so etwas stattfindet wie eine – von der Theorie Luhmanns eigentlich ausgeschlossene – Vereinigung von psychischem und kommunikativem System, die mehr wäre als die von der Theorie behauptete strukturelle Kopplung qua Sprache? Vgl. zu diesem Problem allgemein Fuchs 1993 u. Jahraus 2003. Dass es Musil in den Vereinigungen im Anschluss an Lipps auch um den Versuch einer Überwindung der Bewusstseinsgrenze – in seinen Worten: „der rettungslosen Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen“ (Musil 1978, S. 1026) – ging, dafür gibt es noch andere Hinweise. So verweist z.B. der Name Veronika auf vera ikon, das in der Christus-Ikonologie „wahre Bild“ Christi und somit auf die Kongruenz von Bild und Abgebildetem bzw. die Vereinigung von Signifikat und Signifikant. Vgl. dazu Böhme 1990, S. 210 f.

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Nachwort Am Anfang vom Ende dieses Buches eine kleine Warnung: vor dem Beginn, vor dem Titel und seinen Tücken. Er behauptet ein „Wissen der Literatur“. Kann Literatur etwas wissen? Im wörtlichen Sinn sicher nicht. Autoren können mit ihr Wissen präsentieren, strukturieren, fixieren, vermitteln oder reproduzieren, und Leser können durch sie ihr Wissen bestätigen oder verändern. Aber sie selbst weiß nichts. So wenig, wie sie etwas beabsichtigen oder fühlen kann. Wissen können nur jene menschlichen Subjekte etwas, die mit ihr umgehen. Literatur zum wissenden Subjekt zu machen ist eine metonymische Verkürzung. Sie ist praktisch, kann aber Unterschiedliches bedeuten, zum Beispiel: ‚das Wissen, das die in einer bestimmten Kultur sozialisierten Autoren mit ihren literarischen Texten Lesern vermitteln‘; oder: ‚das Wissen besonders begabter Individuen, das durch literarische Ausdrucksmöglichkeiten auf besondere Weise strukturiert wird‘. Bildliche und abgekürzte Redeweisen sind auch in der Wissenschaft selbstverständlich legitim, aber man sollte sich bewusst zu werden versuchen, was sie sinnvoll meinen oder wofür sie gut sein können, was sie erhellen oder vielleicht auch verbergen und wofür sie symptomatisch sind. Der Begriff ‚Wissen‘ ist in der Wissenssoziologie schon lange etabliert, in der Literaturwissenschaft erfreut er sich seit ihrer kulturwissenschaftlichen Wende in den 1990er-Jahren zunehmender Beliebtheit. Er ersetzt oder ergänzt hier vielfach den Begriff ‚Diskurs‘, mit dem er in soziologischer Tradition die Tendenz teilt, von den Subjekten, deren Kommunikation der Macht von Diskursordnungen unterworfen ist, zu abstrahieren. Im Unterschied zu ‚Diskurs‘ oder zur Rede von der ‚Kultur als Text‘, meint ‚Wissen‘ allerdings etwas Mentales, verweist auf Vorstellungen, die in Köpfen von Menschen gespeichert sind und von ihnen für wahr oder richtig gehalten werden. Im Unterschied zu ‚Wissen‘ verweist ‚Diskurs‘ wiederum darauf, dass sich das Wissen anderer kaum beobachten und analysieren lässt, wenn es nicht verbalisiert, also in Form von Texten zugänglich ist. Wie attraktiv, zugleich jedoch diskussions- und präzisierungsbedürftig der Begriff ‚Wissen‘ ist, zeigt sich an etlichen Veröffentlichungen, die nach der in diesem Band dokumentierten Tagung erschienen sind. Jochen Hörisch, einer der Teilnehmer, publizierte wenig später eine Aufsatzsammlung unter dem Titel Das Wissen der Literatur. Unlängst erschien eine Dissertation

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von Galina Hristeva über Georg Groddeck mit dem Untertitel Präsentationsformen psychoanalytischen Wissens. 2007 attackierte in der Zeitschrift für Germanistik Tilmann Köppe unter dem Titel Vom Wissen in Literatur literaturwissenschaftliche Verwendungsweisen des Wissensbegriffs, die den Mahnungen zur Vorsicht in diesem Nachwort nahestehen: „Texte sind keine Personen, sie können daher nichts wissen.“ (Köppe 2007, S. 402) Der Aufsatz initiierte in der Zeitschrift eine heftige Debatte. Auf sie geht bereits eine 2008 erschienene Monographie ein, die ganz dem Begriff ‚Wissen‘ gewidmet ist: Ralf Klausnitzers Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Das „Studienbuch“ kanonisiert den Wissensbegriff zum Bestandteil literaturwissenschaftlicher Lehre, ist der bislang umfassendste Beitrag zu seiner Verwendung und hat auch die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Literatur im Blick. Von Köppes Einwänden zeigt sich Klausnitzer scheinbar unbeeindruckt, wenn er sein erstes Kapitel mit dem Satz eröffnet: „Literarische Texte wissen etwas – und zwar nicht wenig.“ (Klausnitzer 2008, S. 1) Köppes Argumentation mündet freilich nicht in ein Plädoyer zur konsequenten Unterlassung solcher Formulierungen, sondern akzeptiert eine bewusstere Verwendung: „Ist der Begriff des Wissens hinreichend genau bestimmt und sind die genannten Konsequenzen einmal durchschaut, so spricht womöglich nicht viel dagegen, zur Rede von ‚Wissen in Literatur‘ zurückzukehren.“ (Köppe 2007, S. 410) So lässt sich trotz oder gerade wegen solcher Selbstwarnungen an unserer Titelformulierung „Wissen der Literatur“ festhalten. Weitere Einwände können sie nicht delegitimieren, sondern den reflektierten Gebrauch fördern. Köppes primär sprach- und sprechaktanalytisch argumentierende Bedenken lassen sich nämlich mühelos durch andersartige Argumente ergänzen, unter anderem durch die einer psychoanalytisch belehrten Literaturwissenschaft. Eine Herausforderung für text-, kontext-, diskurs- oder mittlerweile auch wissensfixierte Philologien war und ist die Psychoanalyse insofern, als sie literarische Texte in der Regel in einen Bezug zu den realen Subjekten stellt, die sie schreiben oder lesen. Dass Freud nicht der Literatur, sondern den „Dichtern“ ein für die Psychoanalyse wichtiges Wissen zuschreibt, ist symptomatisch. „Wertvolle Bundesgenossen“ nennt er sie in seiner Gradiva-Analyse, denn „sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt.“ Der Beitrag von Detlef Kremer in diesem Band, der am Beispiel von Freuds Aufsatz über Das Unheimliche auf etliche Unzulänglichkeiten seiner Literaturinterpretationen hinweist, zitiert dieses von Literaturwissenschaftlern gerne zitierte Lob der Dichter (auf S. 59), bemerkt aber, dass Freud dieses Lob nicht ganz uneingeschränkt formuliert. Denn er fügt ihm den Satz hinzu: „Wäre diese Parteinahme der Dichter für die sinnvolle Natur der Träume nur unzweideutiger!“ (zit. ebd.) Einschränkungen solcher Art fin-

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den sich, was die Qualität des Wissens von Dichtern angeht, bei Freud und seinen Schülern wiederholt. Das Wissen der Dichter wie das der Psychoanalytiker heben sie zwar positiv von der „Schulweisheit“ ab, markieren jedoch auch da noch einmal einen Rangunterschied, indem sie das Wissen der Dichter wiederholt als intuitiv oder auch unbewusst bezeichnen. In Freuds frühen Anmerkungen zu Hamlet steht der dafür bezeichnende Satz: „Ich denke nicht an Shakespeares bewußte Absicht, sondern glaube lieber, daß eine reale Begebenheit den Dichter zur Darstellung reizte, in dem das Unbewußte in ihm das Unbewußte im Helden verstand.“ (Freud 1962, S. 194) Freuds berühmter Brief zu Arthur Schnitzlers 60. Geburtstag, in dem er den Dichter als eine Art Doppelgänger seiner selbst beschreibt, formuliert diese Einschätzung noch deutlicher: „So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Weise an anderen Menschen aufgedeckt habe.“ (Freud 1955, S. 97) Otto Rank bescheinigte den Autoren literarischer Text wiederholt die Fähigkeit zu einer „intuitiven Psychoanalyse“, betonte jedoch zugleich, dass diese „engere Grenzen als die bewußte Erkenntnis“ der wissenschaftlichen Psychoanalyse hat. (zit. nach Martynkewicz, S. 142 f.) In der Perspektive Freuds und seiner Schüler dient das psychologische Wissen, das Autoren in ihre Texte eingeschrieben haben, der wissenschaftlichen Psychologie als Anregung zur Bildung von Hypothesen, deren Geltungsprüfung Aufgabe kontrollierter Beobachtung und begrifflich-theoretischer Präzisierung bleibt, oder als willkommene Bestätigung für Erkenntnisse, die von der Psychoanalyse auf zuverlässigere Art gewonnen wurden. Die Dichter fungieren demnach, wie Kremer anmerkt, im psychoanalytischen Selbstverständnis eher als Diener denn als gleichwertige „Bundesgenossen“. Allerdings konnte die psychoanalytische Praxis der Literaturinterpretation, so ein Ergebnis des Beitrags von Yvonne Wübben, die Theoriebildung durchaus modifizieren. W. Jensens Gradiva habe Freud nicht nur zur Illustration oder Bestätigung seiner psychoanalytischen Theorie gedient, sondern zuvor noch nicht vorhandene libidotheoretische Elemente konturiert. In der schönen Literatur habe Freud einen vorher noch unbegriffenen Aspekt des Wahns entdeckt. Jacques Le Rider wiederum verweist im Blick auf die Beziehung zwischen Freud und Thomas Mann auf einen Fall dialogischer Bundesgenossenschaft, in dem ein Psychoanalytiker und ein Schriftsteller sich gegenseitig inspiriert haben. Was Manns JosephRoman der Psychoanalyse verdankt, wusste man bereits, aber noch nicht, dass Freuds späte Schrift über den Mann Moses, die er in seinem ersten Entwurf einen „historischen Roman“ nannte, ihrerseits deutliche Spuren seiner Lektüre von Manns Roman erkennen lässt. Der Begriff ‚Wissen‘ hat normative und evaluative Implikationen. Er enthält eine Auszeichnung, mit der Dichter und Psychoanalytiker ihre gegenseitige Wertschätzung bekunden und um die sie zugleich konkurrieren.

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Mit verschiedenen Strategien der Annäherung, Abgrenzung und Selbstbehauptung positionieren sie sich in der Auseinandersetzung um das Prädikat ‚Wissen‘ im intellektuellen Kräftefeld ihrer Zeit. Wolfgang Martynkewicz zeigt dies in dem Aufsatz über Alfred Kubins Wahrnehmungen der Psychoanalyse und über die Affinitäten seines Romans Die andere Seite zu psychoanalytischen Denkformen. Bei aller Hochschätzung der Psychoanalyse suchte Kubin in literarischen Texten eine andere, ihm höherrangig erscheinende Art des Wissens. Nach der Lektüre Freuds, schreibt er, habe er sich seinen geliebten E.T.A. Hoffmann vorgenommen, und „der weiß wirklich Eminentes, Sympathisches“ (zit. nach Martynkewicz, S. 137). Wie der Beitrag von Oliver Pfohlmann darlegt, war die Beziehung zwischen Literatur und wissenschaftlicher Psychologie für Robert Musil ein geradezu existenzielles Problem der Selbstbehauptung als Schriftsteller. Er versuchte es zu lösen, indem er der Wissenschaft und der Literatur unterschiedliche Aufgaben zuerkannte und den literarischen Anspruch auf Wissensvermittlung zurückwies. Eine „finster drohende und lockende Nachbarmacht“ sei die Psychoanalyse für den Dichter, befand Musil (1978, S. 1404; vgl. Pfohlmann 2003). Doch Dichtung, so notierte er, „ist etwas anderes als Psychologie, so wie eben Dichtung etwas anderes als Wissenschaft ist [...]. Die Unterscheidung selbst ist einfach: Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis. / Aber: Dichtung benutzt Wissen u. Erkenntnis“ (Musil 1978, S. 967). An die Stelle der Wissensvermittlung setzen Musils ästhetische Reflexionen und literarische Praktiken ein Konzept, das der Literatur die Funktion der Vermittlung von Emotionen und der Stimulation von psychischen Energien zuschreibt. Der Dichter habe dabei „keine Tatsachen sondern den Gefühlswert von Tatsachen zu geben“, erklärte er (zit. nach Pfohlmann, S. 41). Literaturwissenschaft zeigt sich, wo sie die Beziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft untersucht und den Begriff ‚Wissen‘ verwendet, in solche Abgrenzungs- und Konkurrenzspiele involviert. Ein möglicher und von ihr mitunter beabsichtigter Effekt der Rede vom „Wissen in Literatur“ oder „Wissen der Literatur“ ist, wie in den jüngsten Debatten um den Begriff mehrfach bemerkt wurde (Köppe 2007, S. 408 f.; Jannidis 2008, S. 374), ihren Gegenstand und damit auch sich selbst an der Dignität des Prädikats ‚Wissen‘ partizipieren zu lassen. Es geht dabei auch um Positionierungen im Feld der Wissenschaften, deren Anspruch auf und an Wissen in der Regel mit dem Prädikat ‚Wissenschaftlichkeit‘ spezifiziert wird. Zur Geschichte der Psychoanalyse gehört es, dass ihr die Wissenschaftlichkeit vielfach abgesprochen wurde, auch von der Literaturwissenschaft, und dass ihr dabei allenfalls zugestanden wurde, was die Psychoanalyse ihrerseits der Literatur konzedierte, nämlich ein intuitives Wissen, ein, wie Jochen Hörisch es in seinem Beitrag nennt, „unreines Wissen“. Dieses erscheint allerdings dann durchaus gerechtfertigt, wenn man mit Hörisch die Einsicht

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teilt, dass es die reine Vernunft nicht gibt, dass „Vernunft und Bewusstsein […] apriori durch und durch unrein“ sind (S. 27) und dass Psychoanalyse wie Literatur etwas davon wissen. Da Psychoanalytiker gerne literarische Texte interpretieren, sind sie nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Literaturwissenschaft eine lockende und drohende Nachbarmacht. Ihr gegenüber positionieren sich einige Beiträge in diesem Band auf unterschiedliche Weise: Gerhard Kurz rekonstruiert die hermeneutische Praxis der Psychoanalyse und deren vielfach nicht explizierte Prämissen am Beispiel von Freuds Gradiva-Analyse. Mit den Erfahrungen und dem Wissen eines literaturwissenschaftlichen Hermeneutikers macht er dabei in gewisser Weise intuitive und vorbewusste Bestandteile psychoanalytischer Textinterpretationen bewusst, geht also mit einem psychoanalytischen Text ähnlich um wie dieser mit einem literarischen. Detlef Kremers Auseinandersetzung mit Freuds Sandmann-Interpretation akzentuiert deren reduktionistische Tendenzen aus dekonstruktivistisch geschulten Perspektiven. Geradezu wütend geht Claudia Liebrand mit Freud um, indem sie seine Analyse des Falls Dora im Bruchstück einer Hysterie-Analyse just als ein Exemplar jenes literarischen Genres analysiert, von dem sich Freud ausdrücklich distanziert und das er als „ekelhaft“ disqualifiziert: als Schlüsselroman – mit Merkmalen gar eines voyeuristischen, quasi pornographischen „Schlüssellochromans“ (S. 79). Liebrand bedient sich dabei allerdings selbst psychoanalytischer Techniken der scharfsinnigen Enthüllung von Verborgenem, liest „Freud mit und gegen Freud“ (S. 76 f.). Andere Beiträge verstehen sich eher als Erprobungen und Weiterentwicklungen psychoanalytischer Instrumentarien. Sabine Kyora überträgt Deutungsmuster aus Freuds Sandmann-Analyse auf die Interpretation weiblicher Vampir-Figuren bei E.T.A. Hoffmann, Bram Stoker, Francis Ford Coppola und Elfriede Jelinek. Und Gerhard Neumann sieht in Freuds Begriff eines gespaltenen, ambigen Zeichens, den er im Rahmen seiner Theorie des Fetischs konzipiert hat, das vielleicht „wichtigste Instrument“, das der Analytiker „dem Literaturwissenschaftler an die Hand gegeben hat“ (S. 121), und zwar vornehmlich für das Verständnis solcher Texte, die wie Kafkas Romanfragment Der Verschollene Geschichten über die Sozialisation des Subjekts in der Moderne erzählen, eines Subjekts, das mit derart ambivalenten Zeichen ständig konfrontiert ist und sich dabei selbst als gespalten wahrnimmt. Von der Positionierung gegenüber psychoanalytischen Umgangsformen mit Literatur kann sich die Literaturwissenschaft allerdings fernhalten, wenn sie die Psychoanalyse als ein historisches Phänomen neben vielen zeitgleichen anderen Phänomenen untersucht – wie in diesem Band am ausgeprägtesten Wolfgang Riedel. Sein Beitrag verweist im historischen Vergleich zwischen Dichtungskonzepten des frühen und späten Gottfried Benn, der Evolutionsbiologie und Freuds Theorie des Todestriebes auf ei-

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nige „Familienähnlichkeiten“, auf Homologien in den Vorstellungen über die Entwicklungsgeschichte individueller Subjekte, der Gattungsgeschichte und der Naturgeschichte und in den mit ihnen verbundenen Regressionswünschen. So wie die Literatur hat sich die Literaturwissenschaft, wenn auch sehr viel später und zurückhaltender, psychoanalytisches Wissen angeeignet und geht mit ihm ganz unterschiedlich um. Und wie bei der Verwendung des Begriffs ‚Wissen‘ weiß sie nicht immer genau, was sie dabei tut, aber der Grad an Bewusstheit hat in den letzten Jahren sichtbar zugenommen. Die elf Aufsätze in diesem Band sind Beispiele für recht deutlich unterscheidbare Möglichkeiten, auf Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Literatur einzugehen. Entstanden im Zusammenhang mit Erinnerungen an Sigmund Freuds 150. Geburtstag, erscheinen sie vor seinem 70. Todestag.

Literatur Freud, Sigmund (1955): Briefe an Arthur Schnitzler. In: Neue Rundschau 66, S. 95-106. Freud, Sigmund (1962): Aus den Anfängen der Psychoanalyse, Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. Frankfurt/M. Hörisch, Jochen (2007): Das Wissen der Literatur. München. Hristeva, Galina (2008): Georg Groddeck. Präsentationsformen psychoanalytischen Wissens. Würzburg. Jannidis, Fotis (2008): Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik NF 18, S. 373-377. Klausnitzer, Ralf (2008): Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin. Köppe, Tilmann (2007): Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik NF 17, S. 398-410. Musil, Robert (1978): Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg. Pfohlmann, Oliver (2003): ‚Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‘? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München.