»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung: Rezeption - Reflexion - Produktion 9783839432686

This volume shows a less well-known side of Hannah Arendt's work: her engagement with poetry.

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German Pages 416 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Bibliographische Abkürzungen
Rechtschreibung
Dank
Vorwort
Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung
1. Regelmäßige Rezeption von deutschsprachigen Dichtern
Einleitung: Dichtung als lebenslange Begleiterin Arendts
1.1 Johann Wolfgang von Goethe
1.2 Friedrich Hölderlin
1.3 Heinrich Heine
1.4 Franz Kafka
1.5 Rainer Maria Rilke
1.6 Bertolt Brecht
Zusammenfassung: Transzendenz, Ethik und Liebe als Kriterien
2. Dichterische Kontakte mit deutschsprachigen Schriftstellern
Einleitung: Traditionsbruch als Ausgangspunkt der literarischen Moderne
2.1 Ernst Grumach
2.2 Martin Heidegger
2.3 Günther Stern
2.4 Heinrich Blücher
2.5 Robert Gilbert
2.6 Hermann Broch
2.7 Hilde Domin
2.8 Ingeborg Bachmann
Zusammenfassung: Ludwig Greves Gedicht »Hannah Arendt«
Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung
1. Zwei sich ergänzende Sprachmodelle
Einleitung: Deutsche Sprache als Hauptwohnsitz und Unübersetzbarkeit von Lyrik
1.1 Sprache als Kommunikation
1.1.1 Verbindung zwischen Sprache und Handlung
1.1.2 Mitteilbarkeit durch Sprache des Gemeinsinns
1.1.3 Beispiele für kommunikative Darstellung: Rousset und Kogon
1.2 Sprache als Metapher
1.2.1 Verbindung zwischen Sprache und Denken
1.2.2 Ausdruck des Unsichtbaren durch die Metapher
1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin
Zusammenfassung: Zwei sich ergänzende Wahrheitsbegriffe
2. Zeitliche Dimension der Dichtung
Einleitung: Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger
2.1 Narration als Erzeugnis der Unvergänglichkeit
2.1.1 Anlass der Dichtung: Ereignis und Geschichte
2.1.2 Perspektive: Der Erzähler
2.1.3 Ziel der Dichtung: Unvergänglichkeit
2.1.4 Wirkung der Dichtung: Sinnsetzen
2.2 Dichtung als Resultat des nichtzeitlichen Pfades des Denkens
2.2.1 Anlass des kreativen Prozesses: Passionen und Staunen
2.2.2 Kreativer Akt: Denken und Sinnen im Bereich der Zeitlosigkeit
2.2.3 Thematik der Dichtung: Erinnerung im Andenken
2.2.4 Thematik der Dichtung: Zeitlosigkeit der Gedankenlyrik
Zusammenfassung: Theorie der Narration und Theorie der Kreation
Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung
1. Lyrik als Andenken
Einleitung: Emigration, Tod – das Erleiden durch Poesie schmälern
1.1 Die Emigrationsgedichte
1.1.1 »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet«
1.1.2 »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind«
1.1.3 »Dies war der Abschied«
1.1.4 »Flüsse ohne Brücke«
1.2 Die Nekrologe
1.2.1 »W.B.«
1.2.2 »H.B.« / »Überleben«
1.2.3 »B’s Grab«
1.2.4 »Erich Neumanns Tod«
Zusammenfassung: Andenken durch Lyrik
2. Gedankenlyrik
Einleitung: Das Staunen über Denken, Dichtung und Zeit
2.1 Zu Denken und Dichten
2.1.1 »Herr der Nächte« / »Tag in Tagen«
2.1.2 »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt«
2.1.3 »Und keine Kunde«
2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht«
2.2 Zu Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit
2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit«
2.2.2 »Park am Hudson«
2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur«
2.2.4 »Ach, wie die Zeit sich eilt«
Zusammenfassung: Gedanken in der Poesie
Nachwort
Bibliographie
1. Archive (alphabetische Ordnung)
2. Werke von Hannah Arendt (chronologische Ordnung)
3. Zusätzlich benutzte literarische Werke
4. Sekundärliteratur (thematische, darin alphabetische Ordnung)
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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung: Rezeption - Reflexion - Produktion
 9783839432686

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Anne Bertheau »Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

Lettre

Anne Bertheau (Dr. phil.), geb. 1971, verfasste ihre Doktorarbeit zu Hannah Arendt und Dichtung an der Universität Paris IV, Sorbonne. Sie forscht zu Hannah Arendt sowie zu dem Revoltebegriff bei Albert Camus (Postdoc-Stipendium DAAD, Maison des Sciences de l’Homme).

Anne Bertheau

»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Rezeption – Reflexion – Produktion

Die vorliegende Arbeit ist die Kurzfassung einer Dissertation, die 2010 an der Universität Paris IV, Sorbonne, auf Französisch präsentiert und öffentlich verteidigt wurde. Für transcript wurde die deutsche Fassung überarbeitet und die neudazugekommene Sekundärliteratur aufgenommen. Der Stand ist Dezember 2015. Die Gedichte von Hannah Arendt mit freundlicher Genehmigung vom Piper-Verlag, 2015.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Photo: Hannah Arendt 1927, Gedicht Hannah Arendts: Ich lieb die Erde... 1954. © Hannah Arendt Blücher Literary Trust Korrektorat: Jan Wenke Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3268-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3268-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Bibliographische Abkürzungen | 11 Rechtschreibung | 11 Dank | 13

Vorwort  | 15

E rster T eil R ezeption – A rendts enges V erhältnis zur D ichtung 1.Regelmäßige Rezeption von deutschsprachigen Dichtern  | 45 Einleitung: Dichtung als lebenslange Begleiterin Arendts | 45 1.1 Johann Wolfgang von Goethe | 47 1.2 Friedrich Hölderlin | 52 1.3 Heinrich Heine | 56 1.4 Franz Kafka | 59 1.5 Rainer Maria Rilke | 65 1.6 Bertolt Brecht | 71 Zusammenfassung: Transzendenz, Ethik und Liebe als Kriterien | 82 2.Dichterische Kontakte mit deutschsprachigen Schriftstellern  | 87 Einleitung: Traditionsbruch als Ausgangspunkt der literarischen Moderne | 87 2.1 Ernst Grumach | 89 2.2 Martin Heidegger | 92 2.3 Günther Stern | 100 2.4 Heinrich Blücher | 103 2.5 Robert Gilbert | 107 2.6 Hermann Broch | 111 2.7 Hilde Domin | 121 2.8 Ingeborg Bachmann | 126 Zusammenfassung: Ludwig Greves Gedicht »Hannah Arendt« | 129

Z weiter T eil R eflexion – A rendts theoretische Ü berlegungen zur D ichtung 1.Zwei sich ergänzende Sprachmodelle  | 133 Einleitung: Deutsche Sprache als Hauptwohnsitz und Unübersetzbarkeit von Lyrik | 133 1.1 Sprache als Kommunikation | 143 1.1.1 Verbindung zwischen Sprache und Handlung | 143 1.1.2 Mitteilbarkeit durch Sprache des Gemeinsinns | 151 1.1.3 Beispiele für kommunikative Darstellung: Rousset und Kogon | 156 1.2 Sprache als Metapher | 163 1.2.1 Verbindung zwischen Sprache und Denken | 163 1.2.2 Ausdruck des Unsichtbaren durch die Metapher | 172 1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin | 181 Zusammenfassung: Zwei sich ergänzende Wahrheitsbegriffe | 197

2.Zeitliche Dimension der Dichtung  | 199 Einleitung: Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger | 199 2.1 Narration als Erzeugnis der Unvergänglichkeit | 208 2.1.1 Anlass der Dichtung: Ereignis und Geschichte | 209 2.1.2 Perspektive: Der Erzähler | 212 2.1.3 Ziel der Dichtung: Unvergänglichkeit | 221 2.1.4 Wirkung der Dichtung: Sinnsetzen | 227 2.2 Dichtung als Resultat des nichtzeitlichen Pfades des Denkens | 237 2.2.1 Anlass des kreativen Prozesses: Passionen und Staunen | 237 2.2.2 Kreativer Akt: Denken und Sinnen im Bereich der Zeitlosigkeit  | 243 2.2.3 Thematik der Dichtung: Erinnerung im Andenken | 251 2.2.4 Thematik der Dichtung: Zeitlosigkeit der Gedankenlyrik | 258 Zusammenfassung: Theorie der Narration und Theorie der Kreation | 264

D ritter T eil P roduk tion – A rendts eigene D ichtung 1.Lyrik als Andenken  | 275 Einleitung: Emigration, Tod – das Erleiden durch Poesie schmälern | 275 1.1 Die Emigrationsgedichte | 278 1.1.1 »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet« | 278 1.1.2 »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind« | 282 1.1.3 »Dies war der Abschied« | 286 1.1.4 »Flüsse ohne Brücke« | 290

1.2 Die Nekrologe | 295 1.2.1 »W.B.« | 295 1.2.2 »H.B.« / »Überleben« | 303 1.2.3 »B’s Grab« | 308 1.2.4 »Erich Neumanns Tod« | 314 Zusammenfassung: Andenken durch Lyrik | 316

2.Gedankenlyrik  | 321 Einleitung: Das Staunen über Denken, Dichtung und Zeit | 321 2.1 Zu Denken und Dichten | 323 2.1.1 »Herr der Nächte« / »Tag in Tagen« | 323 2.1.2 »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt« | 330 2.1.3 »Und keine Kunde« | 335 2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht« | 340 2.2 Zu Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit | 344 2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit« | 344 2.2.2 »Park am Hudson« | 354 2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur« | 360 2.2.4 »Ach, wie die Zeit sich eilt« | 372 Zusammenfassung: Gedanken in der Poesie | 377 Nachwort  | 379 Bibliographie  | 383 1.Archive (alphabetische Ordnung) | 383 2.Werke von Hannah Arendt (chronologische Ordnung) | 386 3.Zusätzlich benutzte literarische Werke | 393 4.Sekundärliteratur (thematische, darin alphabetische Ordnung) | 395

B ibliogr aphische A bkürzungen • LOC: Library of Congress, Washington: Hannah Arendt Papers. • DLA: Deutsches Literaturarchiv, Marbach: Teilarchiv A: Arendt, Hannah. • Bard-Bibliothek: Am Bard College, Annandale-on-Hudson, befindet sich die Hannah Arendt / Heinrich Blücher-Library. Es handelt sich um deren Privatbibliothek. • Gedichte: Arendt, Hannah: »Ich selbst, auch ich tanze.« Die Gedichte, München, Piper, 2015. Um Arendts geistige Entwicklung zu verfolgen, wurden in den Fußnoten immer die Jahre angegeben, in denen sie ihre Werke veröffentlichte. Da in ihrem Denktagebuch und in ihren Briefwechseln die genauen Daten ohnehin angegeben sind, wurde auf die Veröffentlichungszeit dieser Bände nicht eingegangen.

R echtschreibung Arendts persönliche Rechtschreibung wurde übernommen  – etwa ihre Angewohnheit, grundsätzlich ss statt ß zu schreiben. Ansonsten folgt die Arbeit den Kriterien der Rechtschreibreform. Weiterhin wurden Arendts Unterstreichungen und Hervorhebungen textgetreu übernommen.

© Photo und Manuskript Hannah Arendts bei Hannah Arendt Bluecher Literary Trust © Gedichte bei Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015

D ank Ich möchte den Nachlassverwaltern Hannah Arendts, Jerome Kohn, Lotte Köhler und Elisabeth Young-Bruehl (beide in memoriam) danken, die so freundlich waren, mir Gespräche zu gewähren; sowie den Arendt-Spezialisten Wolfgang Heuer und Irmela von der Lühe, Arendt-Spezialisten, die in ihren Veranstaltungen auf die Thematik »Arendt und die Künste« aufmerksam gemacht haben. Mein Dank gilt auch allen Verantwortlichen der verschiedenen Archive. Ich bin der »Association pour le développement des études germaniques en France« sehr zu Dank verpflichtet, die mir das Reisestipendium Pierre Grappin hat zukommen lassen, mit welchem ich meine Recherchen finanzieren konnte. Außerdem möchte ich mich bei den beiden Professoren bedanken, die mich mit viel Geduld unterstützt haben  – M.  le  Professeur Merlio, unter dessen Aufsicht ich den DEA (Projektbeschreibung der Dissertation) geschrieben habe, und vor allem meinem Doktorvater M.  le  Professeur Colombat, in memoriam. Ursula Ludz sei schließlich besonderer Dank ausgesprochen, da sie mir wertvolle Ratschläge für die deutsche Fassung der Dissertation gegeben hat.

Vorwort

»Das Mädchen aus der Fremde In einem Thal bey armen Hirten Erschien mit jedem jungen Jahr, Sobald die ersten Lerchen schwirrten, Ein Mädchen, schön und wunderbar. Sie war nicht in dem Thal gebohren, Man wußte nicht, woher sie kam, Und schnell war ihre Spur verloren, Sobald das Mädchen Abschied nahm. Beseligend war ihre Nähe Und alle Herzen wurden weit, Doch eine Würde, eine Höhe Entfernte die Vertraulichkeit. Sie brachte Blumen mit und Früchte, Gereift auf einer andern Flur, In einem andern Sonnenlichte, In einer glücklichern Natur. Und theilte jedem eine Gabe, Dem Früchte, jenem Blumen aus, Der Jüngling und der Greis am Stabe, Ein jeder ging beschenkt nach Haus.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Willkommen waren alle Gäste, Doch nahte sich ein liebend Paar, Dem reichte sie der Gaben beste, Der Blumen allerschönste dar.«1

Schillers Gedicht Das Mädchen aus der Fremde entstand im Sommer 1796. Es gibt verschiedene Deutungen, wer das Mädchen aus der Fremde gewesen sei. Die häufigste Annahme interpretiert das Mädchen als Personifikation der Dichtkunst oder der dichterischen Phantasie: Schiller setzte das Gedicht programmatisch an den Anfang sowohl des ersten Teils seiner Gedichtsammlung wie auch der geplanten Prachtausgabe seiner Gedichte.2 Hannah Arendts engste Vertraute: der Jugendfreund Erwin Loewenson, ihr Ehemann Heinrich Blücher, ihr ehemaliger Liebhaber Martin Heidegger und ihr Freund und Mentor Karl Jaspers, bezogen das Gedicht auf Hannah Arendt selbst – die Rätselhaftigkeit und Offenheit des Gedichts entsprechen verschiedenen Aspekten in ihrem Leben und ihrem Werk. Eine Referenz als »Mädchen aus der Fremde« findet sich 1927 in einer Korrespondenz mit Loewenson. Für Hannah Arendt bedingen sich Freude an der Welt und Distanz zur Welt gegenseitig. Ihre Selbstdefinition als Fremde resultiert aus dieser Haltung: »Sie haben Recht, dass die Welt und alles, was mich interessiert, mich letztlich nie trifft. Eben deshalb, weil ich in ihr nur eine Fremde bin – wenn Sie wollen, der letzte Grad von Empfänglichkeit. Aber die Welt ist mir keine Stufe – ich lebe ganz in ihr – als Freude und es gibt für mich keine Sphäre, der ich nicht verhaftet bin.«3 Sie bezeichnet sich selbst als ausgesprochen melancholisch: »Vergiss nicht bitte, nicht ganz, meine Traurigkeit. Man vergisst mich, glaube ich, leicht, wenn man meine Traurigkeit vergisst.«4 Danach findet man einen Bezug auf das »Mädchen aus der Fremde« in Hannah Arendts Briefwechsel mit Martin Heidegger. Zu Beginn der 1950er Jahre definiert sich Hannah Arendt gegenüber Heidegger als Emigrantin: »Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun einmal bin, das Mädchen aus der Fremde.«5 Heidegger setzt diese Selbstdefinition Arendts in Poesie um: Die Heimat ist nun die Dichtung. Er schickt ihr ein Konvolut von Gedichten zu. Eines trägt den Titel des Schiller’schen Gedichts:

1 | Schiller, Friedrich: Das Mädchen aus der Fremde. In: Schiller, Friedrich: Werke, Nationalausgabe, Bd. 1, Weimar, 1943, S. 273. 2 | Vgl. Kommentar von Georg Kersscheidt und Norbert Oellers. In: Schiller, Friedrich: Werke, Nationalausgabe, Bd. 2, Weimar, 1991, S. 303 f. 3 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Arendt an Loewenson, Erwin, Baden-Baden, 8.6.1927, Blatt 76954. 4 | Ebenda, Arendt an Loewenson, Erwin, Königsberg, 10.10.1927, Blatt 76955 / 2. 5 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 48: Arendt an Heidegger, Wiesbaden, 9.2.1950, S. 76.

Vor wor t »Das Mädchen aus der Fremde Die Fremde, die Dir selber fremd, sie ist: Gebirg der Wonne, Meer des Leids, die Wüste des Verlangens, Frühlicht einer Ankunft. Fremde: Heimat jenes einen Blicks, Der Welt beginnt. Beginn ist Opfer. Opfer ist der Herd der Treue, die noch alle Brände Asche überglimmt und – Zündet: Glut der Milde, Schein der Stille. Fremdlingin der Fremde, Du – Wohne im Beginn.« 6 

Der Terminus der »Fremdlingin« ist eine Anspielung Heideggers auf Trakl. »Die Welt beginnt« ist möglicherweise ein erster Hinweis auf Arendts Natalitätskonzept, welches sie ein paar Jahre später in der Vita Activa ausarbeiten sollte. Es ist möglich, dass Arendts und Heideggers intensive Gespräche während ihrer Wiederbegegnung nach zwanzig Jahren zur Inspiration für bestimmte Gedanken in der Vita Activa wurden – Arendts Gegenentwurf zu Heideggers Philosophie.7 Heinrich Blücher definiert Hannah Arendts Heimat in der Dichtung, indem er direkt auf ihre eigene dichterische Tätigkeit eingeht. Als Arendt 1952 erneut Europa besuchte, berichtet sie ihm in einem Brief von einer beglückenden Rei6 | Ebenda, Brief 50: Heidegger an Arendt: 5 Gedichte, S. 80. 7 | Vgl. Liliane Weissberg, die auch in Arendts Briefwechsel mit Martin Heidegger Arendts Selbstdefinition als »Mädchen aus der Fremde« und Heideggers Gedicht zu diesem Thema zitiert: Sie erkennt allerdings in Heideggers Gedicht keine Definition der Dichtung als Heimat (»Doch diese Interpretation der Dichtung würde sie ihrer Bodenständigkeit berauben.«), sondern anhand Heideggers Ausführungen zu Hölderlin, dass der Mensch – Zitat Heidegger – »sich im Fremden für das Eigene bereit und stark« machen solle. Das würde auf einen nationalistischen Hintergrund hinweisen, gegen den sich Arendt immer zur Wehr setzte. | Weissberg, Liliane: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin. In: Hölderlin in der Moderne (Hg. Vollhardt, Friedrich), Berlin, 2014, S. 120-121. (Vgl. damit übereinstimmend Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, erster Teil, 2.2, S. 92.)

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

se nach Chartres, als sie die auf blühende Natur genoss. Beigefügt findet sich ein von ihr selbstgeschriebenes Gedicht, Erde dichtet Feld an Feld, das wiederum eine Hymne auf den Beginn ist, der mit dem Frühling ansetzt: »Menschen gehen unverloren – / Erde, Himmel, Licht und Wald – / jeden Frühling neu geboren / in dem Spiel der herrlichsten Gewalt.« 8 Blücher antwortet mit einigen Änderungsvorschlägen und apostrophiert sie als »Mädchen aus der Fremde«, wobei diese Anspielung nun auf Arendt als Dichterin zu verstehen ist: »Ich grüße die gelahrte Frau, Du wirst sie tüchtig schwitzen machen und dabei doch das kleine Mädchen aus der Fremde bleiben, das mit nichtpassendem Hut mir immer wieder ins Zimmer tritt.«9 In diesem Sinne ist dichterische Sprache Heimat, die sich auch in der Liebe zu den Menschen und in diesem Fall noch konkreter zu Blücher äußert, mit dem sie ihre Gedichte teilt. Dieser existentielle Ansatz der Liebe zur Welt, unabhängig davon, welcher Nation der Mensch angehört, tritt sehr schön in einem Gedicht Arendts zutage, das sie 1954 verfasste, als sie die Vita Activa entwickelte, die das aktive Leben des Arbeitens, Herstellens und Handelns analysiert. Das Buch sollte zuerst den Titel Amor Mundi tragen. Geplant war ein vierter Teil über die Liebe, den Arendt schließlich aufgab.10 Das Gedicht Ich lieb die Erde zeigt nun das existentielle Dasein des Einzelnen auf der Erde als Ort des Fremden. Arendts Auffassung des Menschen in seiner allgemeinsten Definition als Gebürtlichem entspricht dem des »Mädchens aus der Fremde«, beide stehen zu Beginn. Diese Erde als Fremde wird dennoch geliebt, da sie das Fundament des gemeinsamen Ortes aller Menschen bildet, mit denen man wie über ein Netz verbunden ist – wobei es immer das Wunder der Überraschung gibt, des Nichtvorhersehbaren und des Spontanen: »Ich lieb die Erde so wie auf der Reise den fremden Ort, und anders nicht. So spinnt das Leben mich an seinem Faden leise ins nie gekannte Muster fort. Bis plötzlich, wie der Abschied auf der Reise, die grosse Stille in den Rahmen bricht.«11

8 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, 1.5.1952, S. 258. | Vgl. Arendt, Hannah: Fahrt durch Frankreich. In: Gedichte, S. 56. 9 | Ebenda, Blücher an Arendt, New York, 10.5.1952, S. 264. 10 | Vgl. Denktagebuch: Heft 9: April 1952, Eintrag 3, S. 203. 11 | Arendt, Hannah: Ich lieb die Erde. In: Gedichte, S. 66.

Vor wor t

Acht Jahre später musste Hannah Arendt die bittere Erfahrung machen, dass sie während der Kontroverse um ihre Darstellung Eichmanns öffentlich diffamiert wurde. In diesem Zusammenhang findet sich eine dritte Stelle in einem Brief ihres ehemaligen Lehrers und guten Freunds Karl Jaspers, der den Titel des Schiller’schen Gedichts auf sie anwendet: »›Das Mädchen aus der Fremde‹: Du erlebst es in einem neuen Stil, nicht einfach, nicht zufällig. Gut, dass Heinrich bei Dir steht  – und noch ein große Reihe von Freunden.«12 Hier nun wird aus der Fremde ein negativer Begriff der Entfremdung und Einsamkeit. Der Einzelne wird Opfer von Hass und Böswilligkeit, wobei Jaspers dennoch Arendts Erfahrung der Liebe – zu Heinrich Blücher – betont, ihre Zweisamkeit. In diesem Sinne wird das Gedicht von Schiller zu einem mehrdeutigen Symbol für Hannah Arendt selbst: die Emigrantin, die sich nicht national definieren lassen will; deren Heimat die deutsche Sprache und Dichtung ist  – sie schrieb selbst Gedichte und wurde zur Inspiration für weitere Lyriker; welche die Erde und Welt in kritischer Liebe betrachtet; die jedoch auch Entfremdung und Einsamkeit erleben muss. In Arendts Nachlass befindet sich eine Mappe mit Gedichten, die sie geschrieben und gesammelt hat. Elisabeth Young-Bruehl, ehemalige Studentin Arendts und ihre erste Biographin, berichtet, wie die Papiere in Arendts Wohnung geordnet waren, bevor sie in die Library of Congress gegeben und archiviert wurden. Es gab eine Mappe, die mit »Andenken« beschriftet war und in der Arendts Mutter Martha Aufzeichnungen über Arendt als Kind, Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, Pässe usw. auf bewahrt waren sowie zwei Sammlungen von Gedichten Arendts: »Hannah Arendt trug während ihrer Exiljahre Abschriften von Gedichten aus den Jahren 1923-1926 – insgesamt einundzwanzig – bei sich, die sie schließlich in diese Mappe mit Andenken steckte. Sie fertigte maschinenschriftliche Kopien an und legte sie zu den Gedichten, die sie in den vierziger und frühen fünfziger Jahren in New York geschrieben hatte. Zusammen mit den Gedichten bewahrte sie eine Abschrift ihres einzigen autobiographischen Textes – Die Schatten – auf, den sie nach ihrem ersten Studienjahr im Alter von neunzehn geschrieben hatte.«13 Young-Bruehl hat als erste einige dieser Texte in ihrer Biographie Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit14 veröffentlicht und dabei besonders den biographischen Bezug betont. Die Poeme als Erlebnislyrik zu interpretieren ist für das erste frühe Konvolut aus den 1920er Jahren naheliegend. Doch die Poesie die in den vierziger und fünfziger Jahren in New York und auf Reisen entstanden sind, geht über Erlebnis- und Empfindungslyrik hinaus. Von 1942 bis 1954 hat Hannah Arendt wiederum 21 Gedichte aus ihren Notizheften ausgewählt und maschinenschriftlich kopiert, also gesammelt. Von 1954 bis 1961 verfasste sie weiterhin Ge12 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 337: Jaspers an Arendt, Basel, 22.10.1963, S. 561. 13 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 23 f. 14 | Ebenda, S. 23.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

dankenlyrik die verstreut zwischen Gedanken in ihrem Denktagebuch zu finden sind, von denen es jedoch keine maschinenschriftliche Sammlung mehr gibt. Das Denktagebuch ist kein gewöhnliches Tagebuch, sondern – wie zurecht von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann betitelt – ein Buch mit Aufzeichnungen, in denen sie verschiedene Denkgegenstände analysiert. Die einzigen Aufzeichnungen über Arendts Seelenleben sind diese Gedichte in denen sie ihre Empfindungen gleich auf einen höheren, ästhetischen Abstraktionsgrad hebt. 1961 bricht der lyrische Faden ab. Die Folgen ihres Buches über den Eichmann-Prozess, die Diffamationen dürften zu einer inneren Verhärtung geführt haben, so dass sie die poetische Sprache nicht mehr benutzten konnte und wollte. Wenn man Arendts Texte in der Vita Activa und anderen Essays zur Narration betrachtet, in denen sie hymnisch die erlösende Kraft des Erzählens beschreibt, so erscheinen ihre Gedichte wie die Blüten an einem Baum und die Theorie wie dessen Wurzeln. Das Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, die Bedeutung der Dichtung in Hannah Arendts essayistischen und philosophischen Texten herauszuarbeiten und diese im Anschluss in Beziehung zu ihren Gedichten zu setzen. Im ersten Teil wird Arendts Werdegang als Rezipientin von Dichtung zusammengefasst – das bezieht sich sowohl auf ihre regelmäßigen Lektüren und Zitate von Lyrikern wie auch auf ihre Kontakte zu Dichtern und ihre poetischen Korrespondenzen. Im theoretischen zweiten Teil geht es darum, Arendts Äußerungen über Dichtung und über Sprache zu sammeln. Sie hat keine festgefügte Ästhetik, keine Poetologie verfasst. Es handelt sich meistens um Anlassarbeiten wie den Benjamin-Brecht-Band oder um Beobachtungen, die sie in ihr philosophisches Werke integriert, wie etwa die Vita Activa, in der die Kunst unter dem Oberbegriff des Herstellens erscheint, und in Vom Leben des Geistes, in welchem die Metapher und das Unsagbare unter dem Oberbegriff des Denkens erläutert werden.15 Im dritten Teil über die Produktion von Lyrik stellt sich die Frage, inwiefern Arendts eigene dichterische Tätigkeit zu ihre poetologischen Schlüssen geführt haben mag, wie Dichtung entsteht und was Dichtung kann – wie auch umgekehrt ihre Gedanken zur Lyrik ihre eigene Dichtung beeinflusst haben mögen. Die Beobachtungen Paul Ricœurs zur reflexiven Hermeneutik spiegeln die Methode der vorliegenden Arbeit wider. Ihm geht es nicht um eine willkürliche Einfühlung in den Autor, sondern darum, den Text zu verstehen und durch einen Wechsel von Erklären  – naturwissenschaftlicher Ansatz  – und Interpretieren  – geisteswissenschaftlicher Ansatz  – Sinngehalte herauszuarbeiten: »Wenn man hingegen die strukturale Analyse für eine Etappe – und eine notwendige Etappe – zwischen einer naiven und einer kritischen Interpretation, einer Interpretation an der Oberfläche und einer in der Tiefe hält, dann scheint es möglich, die 15 | Hannah Arendt ist keine Literaturwissenschaftlerin. Sie ist Lyrikliebhaberin und hat selbst Gedichte geschrieben. Sie bewegt sich zwischen den Disziplinen und ermöglicht einen ganz eigenen, originalen Zugang zu dem, was Dichtung ist und was sie kann. Ihre Bemerkungen zur Dichtung sind gleichzeitig unprätentiös wie authentisch. | 

Vor wor t

Erklärung und die Interpretation wieder in einem einzigen hermeneutischen Bogen einzugliedern und die entgegengesetzten Haltungen der Erklärung und des Verstehens in eine umfassende Konzeption der Lektüre als Wiederaufnahme des Sinns zu integrieren.«16 Nach Ricœur ist die Intention oder die Absicht des Textes nicht in erster Linie die angebliche Intention des Autors, das vom Schriftsteller Erlebte, in das man sich versetzen könnte.Von Bedeutung ist der Akt des Textes, der vom Autor ausgeht, in der Schwebe bleibt und dann vom Leser zu Ende geführt wird: »Die Aneignung verliert dann in dem Maß etwas von ihrer Willkür, in dem sie genau von dem wiederaufgenommen wird, was im Text am Werk, an der Arbeit, in der Arbeit ist, das heißt, bei der Geburt des Sinnes wirkt. Das Sagen des Hermeneutikers ist ein erneutes Sagen, welches das Sagen des Textes reaktiviert.«17 Das Gedankensystem eines anderen Denkers auf Arendts offenes »Denken ohne Geländer« zu stülpen, erscheint der Verfasserin der vorliegenden Arbeit verfehlt. Somit wird methodisch Arendts Anspruch selbst als Richtlinie genommen: Ihre eigenen Aussagen zur Dichtung werden in Beziehung zu ihrer lyrischen Produktion gesetzt. Hannah Arendt selbst, die sich selten über ihre Methode geäußert hat, meinte lapidar, dass sie verstehen wolle. Ihre Herangehensweise ist eine sprachliche, politische und philosophische Untersuchung von Phänomenen. Indem sie grenzüberschreitend, interdisziplinär arbeitete, war sie fähig, sich der Realität genauestens anzunähern. Ihr noch heute währender großer Erfolg hängt mit dieser Methode zusammen. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird die Bedeutung der Dichtung anhand der von Arendt geschätzten Autoren zusammengefasst. Die Grundlage dafür sind wiederholte Zitate in ihren Werken. Ihre Briefwechsel mit Dichtern, die unter anderem auch poetisch sind, geben zusätzlich Aufschluss: Vor allen Dingen besteht dieser Austausch mit Männern, die in ihrem Leben eine Rolle spielten (Grumach, Heidegger, Anders, Blücher), aber auch mit Dichtern wie Broch, Bachmann, Domin. Obwohl Hannah Arendt im Kontakt mit englisch- oder amerikanischsprachigen Lyrikern wie Auden, Jarrell und Lowell stand, bleibt die Untersuchung auf ihr Interesse für deutschsprachige Lyrik begrenzt. Nur in Übersetzungsfragen wird auf diese Autoren eingegangen. Im zweiten Teil wird Hannah Arendts Verhältnis zur Sprache analysiert. Die Bedeutung der Metapher wurde bisher schon in der Sekundärliteratur betont. Die metaphorische Sprache ist als einzige fähig, das Unsichtbare darzustellen, seien es Emotionen oder metaphysische Spekulationen. Weiterhin gibt es einen zweiten Themenaspekt der Sprache als Vernunft, auf Kommunikation basierend, auf dem diskursiven Denken. Auch diese Sprache ist wesentlich, denn sie vermittelt ethische Richtlinien. Es gibt bei Arendt nichts Unsagbares, auch das Grauen 16 | Ricœur, Paul: Was ist ein Text? In: Ricœur, Paul: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg, 2005, S. 103. 17 | Ebenda, S. 108.

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muss dargestellt und erinnert werden, damit es sich nicht wiederholt. Schließlich geht es um die zeitliche Dimension der Dichtung. Dichtung nimmt in Hannah Arendts Wahrnehmung eine Sonderstellung ein, weil sie erstens mit dem Denken am engsten verwandt ist – Denken und Dichten finden in einem zeitlosen Raum statt – und weil sie zweitens Dauerhaftigkeit und Sinn erzeugt. So erlöst Dichtung im kreativen Prozess wie auch im hergestellten Produkt. Im dritten Teil werden von den insgesamt etwa einundsiebzig Gedichten und vier Parabeln, die sie verfasst hat, sechzehn Gedichte nach folgenden Kriterien ausgewählt: Maßgeblich ist die literarische Qualität wie auch der inhaltliche Bezug zu Arendts eigenen theoretischen Äußerungen über Dichtung, die in den ersten beiden Teilen erschlossen wurden. Nach Arendt entsteht Dichtung aus Erinnerung und Andenken – es gibt in ihrer Lyrik einen Zyklus Emigrationsgedichte sowie mehrere Gedichte, die den Tod von Freunden verarbeiten –, aber Lyrik entsteht auch aus Passionen und Staunen über die Welt oder die Fähigkeit des Menschen, zu denken oder die Zeit zu erleben – eine ganze Reihe ihrer Gedichte thematisieren das Dichten und Denken sowie die Zeit. Das Verfahren ist induktiv – zuerst erfolgen Einzelanalysen, das Gedicht steht jeweils für sich –, dann erst wird es deduktiv in Bezug zu Arendts theoretischen Überlegungen zur Dichtung gesetzt, um Übereinstimmungen zu finden. Auf die nicht einzeln besprochenen Gedichte wird im Verlauf des Textes, wenn es sich thematisch ergibt, in Querverweisen hingewiesen. Der frühe Zyklus von 1923 bis 1926 wird bewusst nicht besprochen, da es sich zumeist um Biographisches handelt, der spätere Zyklus von 1942 bis 1961 dagegen ist in seiner Vielfalt der Themen und dem Abstraktionsgrad, der auf Allgemeines hinweist, völlig eigenständig. Lyrik ist Literatur, und Literatur ist Fiktion, das heißt, es findet eine Verallgemeinerung statt, die über das Persönliche hinausgeht, so dass ein Leser daran teilnehmen und sich vielleicht sogar damit identifizieren kann. Der mögliche persönliche und biographische Hintergrund wird durch die Verdichtung aufgehoben. Besonders in ihrer späten Lyrik entwickelt Arendt einen eigenen Ton, der stark von gedanklichen Bildern geprägt ist. In der Form ist sie vielseitig – es erscheinen nicht nur konventionelle Vierzeiler, sondern auch Gedichte mit virtuosen Formen etwa in griechischem Versmaß. Arendt hat die Gedichte nicht veröffentlicht, aber sie hat sie überarbeitet, korrigiert, ausgewählt, maschinenschriftliche Kopien davon erstellt und gesammelt. Bereits Elisabeth Young-Bruehl weist darauf hin, dass drei Denker für Hannah Arendt eine große Rolle spielen: »Heidegger, Benjamin und Broch waren ›poetische Denker‹, Männer, die Arendt wegen ihrer Liebe zur Sprache schätzte. Jeder von ihnen war auf seine eigene Weise ›so altmodisch, als sei er aus dem neunzehnten in das zwanzigste Jahrhundert wie an die Küste eines fremden Landes verschlagen.‹ (wie sie über Benjamin schrieb).«18 In Arendts Einschätzung von 18 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 16 f.

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Dichtung spielen diese drei Denker, besonders Heidegger, eine große Rolle. Mit Heideggers Denken beschäftigte sie sich kontinuierlich. Das bedeutet wiederum nicht, dass Arendt mit seinen philosophischen Analysen übereinstimmte. Inwiefern sich beide in ihrer Definition der Dichtung als Andenken einig sind und inwiefern sie etwa in ihrem Konzept der Zeit divergieren, wird im Lauf der Arbeit aufgezeigt. Ausgangspunkt wird hier Arendts Heidegger-Rezeption sein – in ihrem Essay Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt und in Vom Leben des Geistes sowie noch expliziter in ihren Notizen im Denktagebuch und in ihren Annotationen zu den poetologischen Werken Heideggers, schließlich auch in ihrer eigenen Lyrik. Für Arendt bedeutete Sprache aber auch Kommunikation. Arendt war ebenso Jaspers-Schülerin. Der ethische Gehalt, der auf politisches Denken verweist, zeigt eine weitere Abgrenzung zu Heidegger. In der vorliegenden Arbeit wird Elisabeth Young-Bruehls maßgebliche Biographie als Referenz genommen: Young-Bruehl war selbst eine Studentin Arendts und verfasste ihre Biographie früh genug, um viele Zeitzeugen, die Hannah Arendt kannten, zu interviewen. Weiterhin fokussierte sie sich darauf, wie das Leben in das Werk Eingang findet, ohne sich oberflächlichen Spekulationen hinzugeben. Arendts Verhältnis zur Dichtung ist erst in den letzten zehn Jahren in den Vordergrund gerückt, nachdem bereits Elisabeth Young-Bruehl Anfang der 1980erJahre darauf hingewiesen hatte. Kristeva hebt Ender der 1990er- Jahre unter anderem den Schwerpunkt der Narration in ihrer Monographie Le génie féminin. Hannah Arendt19 hervor; zwei Jahre später sollte sie mit Hannah Arendt. Life is a narrative eine englischsprachige Kurzfassung zu dieser Thematik veröffentlichen.20 Zwei wesentliche Veranstaltungen, die thematisch um Arendt und die Kunst im Allgemeinen kreisten, sollen hier erwähnt werden. Im Mai 2005 fand erstens in Berlin eine Tagung über Hannah Arendt und die Künste statt, die Wolfgang Heuer und Irmela von der Lühe zu verdanken war. Daraus ging die Publikation Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste hervor.21 Einige Artikel des Tagungsbandes beleuchten Arendts Verhältnis zur Dichtung, aber auch zur Bildenden Kunst, zum Denken und Urteilen oder zur Politik. Die Texte, die Arendt und die Dichtung betreffen, behandeln meistens ihre Beziehung zu Dichtern. Auf sie wird in der vorliegenden Arbeit verwiesen werden. Weiterhin enstand ein Text-

19 | Vgl. Kristeva, Julia: Le génie féminin. Hannah Arendt, Bd. 1, Paris, 1999. 20 | Vgl. Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Life is a narrative. Toronto, Buffalo, London, 2001. 21 | Vgl. Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / v on der Lühe, Irmela), Göttingen, 2007. | Über Hannah Arendt und die Künste hat inzwischen Bérénice Levet einen langen Essay geschrieben, der in der folgenden Arbeit mit aufgenommen wird: Levet, Bérénice: Le musée imaginaire d’Hannah Arendt. Parcours littéraire, pictural et musical de l’œuvre, Paris, 2011.

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und-Kritik-Heft,22 wiederum unter der Redaktion von Wolfgang Heuer, gemeinsam mit Thomas Wild. Wild verfasste seine Dissertation über Hannah Arendts Rezeption durch deutschsprachige Autoren der 1960er-Jahre und gab den Uwe Johnson / Hannah Arendt-Briefwechsel heraus. Auch der Band 166 / 167 von Text und Kritik über Hannah Arendt enthält interessante Artikel über Arendts Verhältnis zur Dichtung. Es handelt sich weitgehend um die selben Autoren wie in dem Band Dichterisch denken: Helgard Mahrdt, Marie Luise Knott, Barbara Hahn, Thomas Wild, Ingeborg Nordmann, Wolfgang Heuer, die Leiterin des Hannah Arendt Archivs in Oldenburg, Antonia Grunenberg, die Arendt-Herausgeberin im PiperVerlag, Ursula Ludz, den Nachlassverwalter Jerome Kohn und Arendts Biographin Elisabeth Young-Bruehl. Dazu kommt Sigrid Weigel, die aufschlussreiche Artikel verfasst hat. Zweitens war 2007 im Literaturhaus Berlin eine Ausstellung zu sehen, die sich ausschließlich dem Thema »Arendt und die Dichtung« gewidmet hat und von Barbara Hahn und Marie Luise Knott gestaltet und organisiert worden war. Der Katalog Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit23 beleuchtet unter der Überschrift »Überliefern, Antworten, Korrespondieren, Lesen, Zitieren und Widmen« Arendts Verhältnis zu deutschen, französischen und englischsprachigen Dichtern. Die beiden Autorinnen haben eine profunde Archivarbeit geleistet. Besonders Barbara Hahns schmale, sehr literarische Studie mit dem Titel Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen und Bücher 24 ist im Zusammenhang dieser Arbeit hervorzuheben . In dem Kapitel Gedanken. Gedichte geht sie auch auf zwei Poeme Arendts ein. Hahns Analysen werden an den betreffenden Stellen aufgenommen. Auch Thomas Schestags Die unbewältigte Sprache. Hannah Arendts Theorie der Dichtung 25 ist zu betonen. Darin befasst er sich in essayistischer Form mit Arendts theoretischen Äußerungen zur Dichtung, ohne jedoch auf Arendts eigene Dichtung einzugehen. Die vorliegende Arbeit grenzt sich von den bereits veröffentlichten Werken ab, da sie nicht nur Arendts Beziehung zu Dichtern, wie in den meisten Artikeln, und nicht nur ihre theoretischen Äußerungen über Dichtung, wie Thomas Schestag, wiedergibt, sondern auch Arendts eigene Gedichte behandelt und Bezüge zu ihrem Werk herstellt. Alle drei Gebiete – Rezeption, Reflexion und Produktion – werden behandelt.

22 | Vgl. Hannah Arendt In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd.  166  /  167, München, 2005. 23 | Vgl. Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Artikel von Knott, Marie Luise /  H ahn, Barbara), Berlin, 2007. 24 | Vgl. Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher, Berlin, 2005. 25 | Vgl. Schestag, Thomas: Die unbewältigte Sprache. Hannah Arendts Theorie der Dichtung, Basel, Weil am Rhein, 2006.

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Im Oktober 2015 veröffentlichte Karin Biro Hannah Arendts Gedichte auf deutsch und mit Übersetzungen auf französisch (François Mathieu) unter dem Titel Heureux celui qui n’a pas de patrie. Poèmes de pensée beim Verlag Payot. Im November 2015 erschienen Hannah Arendts gesammelte Gedichte unter dem Titel Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte beim Verlag Piper. Irmela von der Lühes ausführlicher Essay gibt einen umfassenden Überblick über Arendts Verhältnis zur Dichtung. Durch die beiden Veröffentlichungen werden zusätzliche Lesarten ihres Werks ermöglicht. Wenn nicht die Weltgeschichte dazwischengekommen wäre und Arendt sich nicht gezwungen gesehen hätte, sich vor allen Dingen politisch zu engagieren, kann man darüber spekulieren, dass sie sich vermehrt der Philosophie und der Dichtung zugewandt hätte: Nach eigenen Aussagen entsprach »eine kontemplative Lebensweise« mehr ihrem Naturell. So schreibt sie am Ende ihres Lebens, als sie 1975 den Sonning-Preis erhielt, dass ihre Wahl des Studiengangs Philosophie bedeutete, nicht im Lichte der Öffentlichkeit zu wirken: »Zumindest war meine Entscheidung, Philosophie zu studieren, seinerzeit etwas durchaus Gewöhnliches, wenn auch vielleicht nicht unbedingt für die große Masse. Diese Hinwendung zum ›bios theoretikos‹, zu einer kontemplativen Lebensweise implizierte bereits, auch wenn ich es nicht gewusst haben mag, eine Absage an die Öffentlichkeit.«26 Die Umstände zwangen Arendt, diese Haltung aufzugeben. Es ging um Verantwortung für die Welt, um öffentliche Anteilnahme, um den Versuch, etwas zu bewirken. Arendts Aussage über Lessing gilt auch für sie selbst: »Seine Haltung zur Welt war weder positiv noch negativ, sondern radikal kritisch und, was die Öffentlichkeit anlangte, durchaus revolutionär; aber sie blieb der Welt verpflichtet, verließ ihren Boden niemals und übersteigerte nichts in die Schwärmerei einer Utopie.«27 Im Folgenden soll nun Young-Bruehls Bericht über Arendts Herkunft und Werdegang im Zeichen der Dichtung genutzt werden.28 Hannah Arendts Eltern, Paul und Martha Arendt, waren nach Young-Bruehl »gebildeter, weitgereister und politisch erheblich linksgerichteter als ihre Eltern«.29 Beide schlossen sich den Sozialisten an, als die sozialistische Partei in Deutschland noch verboten war. Paul Arendt war eine Art Privatgelehrter, und Hannah sollte in seiner Bibliothek bereits die griechischen und lateinischen Klas26 | Arendt, Hannah: Die Sonning-Preisrede. Kopenhagen 1975. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 /  167, München, 2005, S. 7. 27 | Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten (1959). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 11-42, hier S. 13. 28 | Elisabeth Young-Bruehl hat nicht nur die erste, sondern auch die Standardbiographie verfasst, die in der kritischen Literatur häufig ungenannt bleibt, wie sie selbst bemerkte. Sie wird in der vorliegenden Arbeit zitiert. | Gespräch mit Elisabeth Young-Bruehl 17.12.2004. 29 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 43.

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siker finden, die sie »später mit Begeisterung las. Martha war, wie die meisten Frauen ihrer Schicht und Generation, in der Heimat ausgebildet und dann ins Ausland geschickt worden – in Paris studierte sie drei Jahre lang Französisch und Musik.«30 Martha Arendt weckte bei ihrer Tochter das Interesse für Literatur, Musik und Politik: »In Königsberg gab es literarische Zirkel, Kammermusikgruppen und politische Organisationen, in denen die Frauen vorherrschten. Unter Martha Arendts Freunden galt die Devise, dass Töchter für Berufslauf bahnen erzogen und ausgebildet werden sollten, die ehemals nur den Söhnen offenstanden.«31 Neben diesem feministischen Aspekt spielte Goethes Bildungsideal eine große Rolle: »Dieses Ideal war nicht jüdisch, es war deutsch, und es war die Frucht einer für alle Deutschen obligatorischen Lektüre: die gesammelten Werke Goethes, des deutschen Mentors in Sachen Bildung, der bewussten Gestaltung von Körper, Geist und Seele.«32 Die Kinder sollten zu einer Bildungselite herangezogen werden, nach der Losung »Selbstbeherrschung, Triebsublimierung, Verzicht und Verantwortung für andere.«33 Martha Arendt führte Tagebuch über die Entwicklung ihrer Tochter Hannah. Wenn Martha Arendt Klavier spielte, sang Hannah gerne mit und hatte auch Freude am Vorlesen und Erzählen. Bereits als sie ein Jahr alt war, entwickelte sie eine große Liebe zur Musik: »Gehör ist entschieden vorhanden, denn sie liebt es sehr am Klavier zu sitzen und zuzuhören. Dabei singt sie mit hohem Stimmchen mit.«34 Arendts Musikalität bezog sich jedoch weniger auf den Gesang, sondern beruhte auf Kriterien wie Rhythmus, was auf eine lyrische Begabung hinweist: »Sie kennt eine Menge Texte, erkennt auch stets das Lied, wenn man es pfeift. Sie hat auch Rhythmus, ist aber unfähig, den Ton zu artikulieren.«35 Ein Blick in Martha Arendts Heft über das Heranwachsen ihrer Tochter zeigt das frühe Interesse des Kindes an Büchern: »Es ist z. B. Ortssinn, Gedächtnis und scharfe Beobachtung da. Vor allem aber glühendes Interesse für Buchstaben und Bücher. So liest sie ohne Anleitung mit vier Jahren alles.«36 Die Verbindung von Musikalität und Sprache bereits in der Kindheit beschreibt Arendt in ihrem Essay über Robert Gilbert: »Wir entdecken in der Kinderzeit, wenn wir Glück hatten, das Poetische, das im Grunde jeglicher Dichtung liegt. Aus jener gar nicht so seligen, aber immerhin noch vorschulpflichtigen Zeit haben wir je nach Herkunft Verschiedenes gerettet, auf jeden Fall noch die Abzählverse, ›Eene meene ming mang, / Oogen 30 | Ebenda, S. 43 f. 31 | Ebenda, S. 45 f. 32 | Ebenda, S. 47. 33 | Ebenda, S. 47. 34 | Ebenda, S. 51. 35 | Ebenda, S. 51. 36 | LOC: Familiy Papers, 1898-1975, nd. In: Addition II, 1906-1975. Box 94 / F older: Notebook kept by Martha Arendt Beerwald, Hannah’s mother, writing her daughters development as a child, 1906-1918: Eintrag 19.2.1911.

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Fleesch und Beene / […] / Ose pose packe dich, / eia weia weg!‹, wenn man wie in diesem Fall aus Berlin war (in Königsberg, wo es auch sehr schön war, ging der Singsang von der Kinderszene etwas anders).37 Gleich danach gab es das Lied aus den höheren Regionen: ›Dunkel war’s, der Mond schien helle, / Schnee lag auf der grünen Flur, / als ein Wagen blitzeschnelle / langsam um die Ecke fuhr.‹ Kurz darauf, als die Phantasie sich schon von Grimmschen Märchen nährte, die man hier auch als ›Grimmige Märchen‹ wiederfindet, folgte vielleicht das eine oder andere Wunder aus Des Knaben Wunderhorn oder auch für so manche Die beiden Grenadiere.«38 Für Arendt dient »das Poetische der Kinderzeit als Urquell der Dichtung«39, und diese Poesie hat für ihre späteres Leben Bestand: »Unausrottbar ist das Poetische, solange es noch das Wundern gibt, das wir in der Kindheit gelernt haben.40 Diese Freude an Poesie und am Geschichtenerzählen hatte ihren Ursprung in den Spaziergängen, die sie mit ihrem Großvater Max Arendt unternahm. Young-Bruehl berichtet: »Hannah Arendts Großvater, Max Arendt, war ein phantasievoller Geschichtenerzähler, und er machte ein Ritual daraus, sonntags morgens Geschichten erzählend mit ihr durch den Park in der Nähe seines Wohnhauses zu laufen, wohin sie oft am Wochenende kam […] Er trug Kindergedichte vor, erzählte Märchen. ›Am Sonntag früh‹, erinnerte sich Martha Arendt, ›macht der Opi dann mit ihr und Meyerchen, dem Hund, einen schönen Spaziergang durch die Glacis, die sie Glasis nennt, und dieses bleibt ihr noch lange, als der Schwiegervater tot ist, als etwas Wunderschönes im Gedächtnis.«41 Bücher und Geschichten wurden so bedeutsam für das Kind Hannah, dass sie das Bedürfnis entwickelte, selbst zu erzählen und zu gestalten. Als sie ein Marionettentheater geschenkt bekam, inszenierte sie kurze Stücke: »Sie stürzte sich eifrig in ein kompliziertes Drama, aber […] vertiefte sich so stark in ihre Aufführung, ging so sehr darin auf, dass sie nicht weitermachen konnte und, ganz in Tränen aufgelöst, abbrechen musste. Es war nicht ihre Geschichte, sondern die Aufführung, die sie überwältigte.«42 In ihrer Jugend bildete Hannah Arendt das Zentrum einer Gruppe von jüdischen Akademikerkindern, zu denen Ernst Grumach und Anne Mendelssohn, 37 | Wie der Kindervers in Königsberg lautet kann man aus ihrem Nachlass entnehmen. Bei den Unterlagen zu Robert Gilbert hatte sie auf dem Abdruck einer ersten Kritik The streets of Berlin über Gilbert von 1946 handschriftlich gekritzelt: »Eeene meene minke tinke / faderrole, volke, tolke / wiggel, waggel weg.« In: LOC: General Correspondence 19381976, nd. In: Box. 11 / F older: Gilbert, Robert, 1946-1975, nd., 06577. 38 | Arendt, Hannah: Robert Gilbert (1972). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten, München, 1989, S. 284-191, hier S. 284. 39 | Ebenda, S. 285. 40 | Ebenda, S. 289. 41 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 54. 42 | Ebenda, S. 55.

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Arendts engste Freundin, gehörten. Die Letztere berichtete Elisabeth Young-Bruehl, dass Arendt »alles gelesen habe«: »Dieses ›alles‹ umfasste Philosophie, Dichtung, besonders Goethe, viele, viele deutsche und französische Romane der Romantik und die modernen Romane, die von den Schulbehörden als für die jungen Leute ungeeignet angesehen wurden, darunter auch die Thomas Manns. Das ausgezeichnete Gedächtnis, das Martha Arendt bei ihrer Tochter beobachtet hatte, wurde zur Hauptstütze ihres schulischen Erfolgs und ihrer eigenen Freude am Denken. Mit zwölf hatte sie angefangen, sich eine Reihe von dichterischen Werken einzuprägen. Damals war ihre Mutter verblüfft: ›Kennt alles auswendig.‹«43 Mit siebzehn, als Arendt sich als Externe auf das Abitur vorbereitete, schrieb sie ihre ersten eigenen Gedichte. Von 1923 bis 1926 sind 21 Gedichte erhalten. Die meisten entstanden während ihres Studiums. Heidegger erhielt Abschriften von manchen Gedichten wie von dem einzigen autobiographischen Text Arendts, Die Schatten. Im Herbst 1924, als Hannah Arendt bei Heidegger zu studieren begann, war sie vor allem von der Radikalität seiner Philosophie beeindruckt, die Young-Bruehl als »eine apolitische Revolution« bezeichnet. Heidegger, damals gerade 35 Jahre alt, entwickelte zu diesem Zeitpunkt Sein und Zeit und integrierte manche Gedanken davon in seine Kurse. Young-Bruehl stützt sich auf das bekannte Zitat Arendts aus ihrem Essay über Heidegger von 1969: »Der heimliche König also im Reich des Denkens, das, durchaus von dieser Welt, doch so in ihr verborgen ist, dass man nie genau wissen kann, ob es überhaupt existiert.«44 Bereits hier klingt Arendts zwiespältiges Verhältnis zu Heideggers Ontologie an: Faszination wie auch pragmatische Kritik. Elisabeth Young-Bruehl schätzt Arendts philosophische Position während der 1920er-Jahre – zwischen Materialismus, Empirismus, Psychologismus, Positivismus und den verschiedenen Neukantianismen der Badener und Marburger Schule – folgendermaßen ein: »Sie lehnte sowohl die epigonalen Metaphysiker als auch diejenigen ab, die der Philosophie zugunsten eines vagen und nebulösen Irrationalismus den Rücken kehrten, und so ging sie den Weg der Rebellen, die an der traditionellen Identität der Philosophie zweifelten.«45 Diesen Weg der Rebellen hatte sie bereits beschritten, als sie während ihrer Schulzeit in Berlin Romano Guardini gehört hatte und von Kierkegaard begeistert gewesen war und sich dabei weniger an der traditionellen Theologie als am christlichen Existentialismus orientiert hatte. Marburg schließlich bot ihr die Denkströmung, die ihr am meisten zusagte. Sie entdeckte »die ›modernste und interessanteste‹ philosophische Richtung, Edmund Husserls Phänomenologie, und den vollkommenen Lehrer, Husserls Protegé Martin Heidegger:«46 »Der Ruf, den Husserl durch die abstrakte Universitätsatmosphäre, durch die vielen Räume 43 | Ebenda, S. 72. 44 | Ebenda, S. 86. 45 | Ebenda, S. 87. 46 | Ebenda, S. 88.

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sandte, in denen man über großen Systemen brütete, war ein Aufruf zur stillen Revolution: ›Zurück zu den Sachen selbst!‹ Dies bedeutete, dass man alle beunruhigenden spekulativen Fragen über den Ursprung, das historische Schicksal und selbst die Realität der Dinge dieser Welt beiseite schieben oder ›ausklammern‹ konnte, solange man die Auffassung der Dinge im Bewusstsein streng wissenschaftlich untersuchte.«47 In Sein und Zeit benutzt Heidegger die phänomenologische Methode. Sein Schwerpunkt liegt allerdings auf der Ontologie – einer Art uneingestandener Metaphysik: »Im ersten Teil seines Werks von 1927, das seinen Ruf unter den Philosophen begründete, Sein und Zeit, stellte Heidegger dieses Projekt vor, indem er die Phänomene, die ›Sachen selbst‹ skizzierte, von denen er meinte, sie würden zutage treten, wenn man nur die Geschichte der Ontologie vom philosophischen Unterholz befreite. Für Heidegger stand Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ am Ende einer langen Geschichte der ›Seinsvergessenheit‹, und sie lieferte ihm die Möglichkeit für seine Form der Erinnerung, eine transzendentale Untersuchung der Urgründe des Seins.«48 Heidegger vereinte in seiner Philosophie bzw. seinem philosophischen Wirken drei Elemente, die Arendt faszinierten: zuerst Husserls phänomenologischen Ansatz zu den Dingen selbst, die sich im Alltag äußern. Dann Heideggers Vorstellung des Daseins (die Existenz), die Analyse des Mans (die Gesellschaft), der Phänomene der Angst und der Sorge. Gerade diese Empfindungen beherrschten sie gerade zu diesem Zeitpunkt besonders, wie man aus ihren frühen Gedichten und in dem autobiographischen Schatten-Text entnehmen kann. Wer hier wen beeinflusste – Heidegger Arendt oder Arendts Texte Heidegger in seiner Entwicklung von Sein und Zeit – bleibt offen: Es muss wohl eine Art Interaktion stattgefunden haben. Young-Bruehl berichtet, dass Heidegger zwanzig Jahre später Arendt gestand, »dass sie die Inspiration für seine Arbeit in diesen Jahren, der Impuls für sein ›leidenschaftliches Denken‹ gewesen sei«.49 Und schließlich war Arendt davon fasziniert, Heidegger beim Denken selbst zu beobachten: eine Leidenschaft, die nicht auf Ergebnisse zielte, sondern Selbstzweck war. Elisabeth Young-Bruehl zitiert in diesem Zusammenhang Arendts Heidegger-Essay von 1969: »Ich sagte, man folgte dem Gerücht, um das Denken zu lernen, und was man nun erfuhr, war, dass Denken als reine Tätigkeit, und das heißt weder vom Wissensdurst noch vom Erkenntnisdrang getrieben, zu einer Leidenschaft werden kann, die alle anderen Fähigkeiten und Gaben nicht so sehr beherrscht als ordnet und durchherrscht. Wir sind so an die alten Entgegensetzungen von Vernunft und Leidenschaft, von Geist und Leben gewöhnt, dass uns die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins werden, einigermaßen befremdet.«50 Heideggers Denken war nach Hannah Arendt zutiefst poetisch und führte spä47 | Ebenda, S. 89. 48 | Ebenda, S. 90. 49 | Ebenda, S. 92. 50 | Ebenda, S. 91.

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ter zu ihrer eigenwilligen Interpretation seiner Ontologie als dichterisches Denken: Das Sein eröffnet sich durch lyrische Sprache. Wie unglücklich tatsächlich ihre Liebesgeschichte mit Heidegger gewesen sein muss, kann man aus ihren eigenen poetischen Texten der Frühzeit (1923-1926) herauslesen. Diese Gedichte spiegeln tatsächliches Erleben wider, wohingegen Heideggers Philosophie – wohl von ihr inspiriert – nicht mitmenschlich ist, sondern philosophisch dieses Erleben des anderen ausschöpft. Hier sei auf Hannah Arendts Haltung zur Religion verwiesen. Arendts Eltern waren nicht religiös, aber sie schickten ihre Tochter regelmäßig zu Gottesdiensten in die Synagoge. Sie unterhielten gute Beziehungen zu einem, bei dem Hannah ab dem siebten Jahr Religionsunterricht erhielt. Young-Bruehl zitiert ein Interview, das Arendt im Alter mit Eglal Errera führte. Als Hannah verkündete, dass sie nicht mehr an Gott glaube, antwortete der Rabbi Vogelstein: »Und wer verlangt das von dir?«51 Die jüdische Identität definierte sich also weniger aus dem religiösen Glauben heraus als aus dem Geburtsrecht. Als Hannah Arendt später ein Semester lang an der Universität in Berlin studierte, wählte sie neben Griechisch und Latein christliche Theologie bei Romano Guardini. Der christliche Existentialismus, der von diesem bedeutendsten Vertreter gelehrt wurde, zog sie an: »In Guardinis Vorlesung war sie mit dem dänischen Philosophen und Theologen Kierkegaard bekannt geworden und von dessen Werk so fasziniert, dass sie beschlossen hatte, im Hauptfach Theologie zu belegen. Sie blieb jedoch kritisch gegenüber jeder Form dogmatischer Theologie.«52 Mit sechzehn las sie Kants Kritik der reinen Vernunft und entdeckte Karl Jaspers Psychologie der Weltanschauungen. Ihre Promotion einige Jahre später bei Jaspers über den Liebesbegriff bei Augustin fiel wieder in das Gebiet der existentialistischen Philosophie und war kein Beitrag zur Theologie.53 Arendt selbst kann nur als Agnostikerin definiert werden, eine Transzendenz ist nicht nachweisbar, aber auch nicht unmöglich. Aber wie Young-Bruehl anhand der Vita Activa feststellt, interessierte sich Arendt für das Phänomen, das erscheint, und nicht für eine angenommene Realität, die hinter den Phänomenen liegt: eine verborgene Natur oder ein unsichtbares Wesen. Ihre Distanz zu Heideggers Ontologie ist damit klar abgesteckt. Heidegger sagte zwar der Theologie und Metaphysik ab, ersetzte diese jedoch durch das Sein. Das bedeutet wiederum nicht, dass Arendt als Atheistin bezeichnet werden könnte: »Wie sie später in der Vita Activa schrieb, meinte sie, dass so etwas wie ›menschliche Natur‹ oder menschliches Wesen nur von Gott erkannt werden könne; dass Menschen, die in der Lage sind, das Wesen von Dingen außerhalb ihrer selbst zu erkennen, nicht ›über ihren Schatten springen können, um ihr eigenes Wesen zu erkennen.‹«54 Die Verantwortung für die Realität und die 51 | Ebenda, S. 44. 52 | Ebenda, S. 76. 53 | Ebenda, S. 125. 54 | Ebenda, S. 357.

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gemeinsame Welt bedeutet, sich nicht auf Gott zu berufen oder ein Sein walten zu lassen. Sowohl in Arendts frühen wie in ihren späteren Gedichten wird Gott als Abwesendes dargestellt. Als Hannah Arendts Liebesgeschichte mit Heidegger eine unglückliche Wendung nahm, ging sie nach Freiburg, um ein Semester bei Husserl zu studieren, und schließlich nach Heidelberg, um bei Jaspers zu promovieren: »In Jaspers begegnete sie einem Mann, dessen menschliches Format sie bewunderte«, und sie hatte das Glück, wie bei Heidegger, zu einer Zeit bei ihm zu studieren, als er sein Hauptwerk, die drei Bände Philosophie, verfasste.55 Im Unterschied zu Heidegger ging es Jaspers nicht um das einsame Denken, sondern um Kommunikation mit anderen. Er analysierte Denkweisen, die verschiedenen Arten von Denkprozessen. Diese diskursive Vorgehensweise beruht auf dem Kriterium der Vernunft. So kann man in Arendts geistiger Entwicklung ein Spannungsfeld ausmachen, das sowohl das leidenschaftliche Denken Heideggers wie auch das vernünftige Denken Jaspers miteinschließt. In diese Phase der Heidelberger Zeit fällt auch Arendts Freundschaft mit literarisch begabten Freunden: mit Erwin Loewenson, dem Essayisten und Schriftsteller der Expressionistenschule sowie späteren Heym-Herausgeber, mit dem sie bis ans Ende ihres Lebens gut befreundet bleiben sollte;56 mit Benno von Wiese, der sich in den 1950er-Jahren zum Großgermanisten in der Bundesrepublik entwickeln sollte und mit dem sie distanzierten Kontakt pflegte, da seine Verwicklung ins Dritte Reich zu groß war.57 Sie hörte in Heidelberg weiterhin Vorlesungen bei Friedrich Gundolf, der zum George-Kreis gehörte, und war mit dem späteren Romanisten Hugo Friedrich befreundet.58 Den anwachsenden Antisemitismus in Deutschland verarbeitete Hannah Arendt zuerst in semiliterarischer Form in ihrer Rahel Varnhagen-Monographie, die als Habilitation geplant war, bevor sie sich schließlich ganz praktischer und politischer Tätigkeit widmete. Als in den frühen dreißiger Jahren Heideggers Entscheidung für den Nationalsozialismus bekannt wurde, kappte Arendt ihre Beziehung zu ihm. Siebzehn Jahre lang hatte sie keinen Kontakt mehr mit ihm: »Aber als sie ihn nach dem Krieg wiedersah, konnte sie ihm wegen seiner poetischen Sprache vieles vergeben.«59 Nun war es Heidegger, der ihr viele Gedichte zusandte. Auch Arendt verfasste Anfang der 1950er-Jahre Lyrik und einige ihrer Gedichte befassten sich mit dieser zweiten Wiederbegegnung mit Heidegger. Sie schickte ihm ihre Texte jedoch nicht zu. In ihren Gedichten weist sie Heideggers spätere 55 | Ebenda, S. 108. 56 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Erwin Loewenson. 57 | Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 16 / F older: Wiese, Benno von, 1953-1973, nd. 58 | Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 10 / F older: Fran-Fru miscellaneous, 1946-1975, nd., Friedrich, Hugo, 1953. 59 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfürt  /  M ain, 1996, S. 118.

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Philosophie der Seinsgeschichte zurück, die mit ihrer Fokussierung auf den Tod dem Natalitätskonzept Arendts entgegensteht. Ihre Absage an ein Konzept der Geschichte, in der sich ein Absolutes enthüllt (wie bei Hegel), oder an eine Geschichtlichkeit, in der sich das Sein enthüllt (wie bei Heidegger), bildet das Fundament ihres eigenen Werks, der Vita Activa. Dennoch verdankt Hannah Arendt Heidegger für dieses eigene Werk viel. Sie unternimmt eine phänomenologische Untersuchung des Alltagslebens, die sich an dem frühen Heidegger der Phase aus Sein und Zeit anlehnt – nur dass ihre Untersuchung politisch orientiert ist: »Aber aus der Sicht Hannah Arendts erfordert eine neue Politikwissenschaft vor allem eine Erforschung des Handelns, den Beginn von etwas Neuem, das unvorhersehbar ist und deshalb nicht vom Menschen hergestellt oder vom Sein erschaffen werden kann.«60 Zur gleichen Zeit, Anfang der 1950er- Jahre, suchte Hannah Arendt in Europa auch Karl Jaspers auf. Bei ihm sollte sie die Eigenschaften finden, die sie bei Heidegger vermisste. Als sie eine Laudatio auf Jaspers hielt, lobte sie diesen Denker für alles, was Heidegger nicht war: »moralisches Vorbild, Kosmopolit, Schulbeispiel des öffentlichen Philosophen«.61 Während ihrer drei Europareisen 1949, 1952 und 1956 versuchte sie, Jaspers und Heidegger zu versöhnen, doch das gelang nicht. Am Ende ihres Lebens soll Arendt mit dem Gedanken gespielt haben, eine systematische Kritik an Heideggers Werk zu verfassen, doch dazu kam es schließlich nicht mehr.62 Während der sechzehn Jahre zwischen 1926 und 1942, als Hannah Arendt keine poetischen Texte mehr schrieb, stand für sie politisches und praktisches Engagement im Vordergrund. Kurt Blumenfeld spielte dabei eine entscheidende Rolle, mit dem Arendt seit ihrer Studienzeit in Heidelberg in engem Kontakt stand: Er war es, »der ihr Gefühl für ihre jüdische Identität ansprach und förderte und sie in die Erneuerung des jüdischen Bewusstseins einführte, welche die Zionisten vollzogen hatten«.63 Ein Vortrag Blumenfelds in Heidelberg, den er als Hauptsprecher der deutschen Zionistenorganistion hielt, brach das Eis zwischen ihm und der ganz jungen Hannah Arendt. Sie war mit ihrem guten Freund Hans Jonas hingegangen, und wie Elisabeth Young-Bruehl berichtet, war es danach sehr ausgelassen zugegangen: »Der Vortrag bekehrte Arendt nicht zum Zionismus, aber zu Kurt Blumenfeld. Sie und Jonas luden Blumenfeld nach seiner Rede zum Abendessen ein, und als sie aßen, kräftig tranken und dann durch die Straßen Heidelbergs zu dem schönen Philosophenweg schlenderten, der sich über die Hügel gegenüber der Stadt zieht, verhielt sie sich sowohl kokett als auch töchterlich. Blumenfeld und Arendt sangen – Arm in Arm – Lieder, rezitierten Gedichte und lachten ungestüm – während Jonas hinterhertrottete.«64 60 | Ebenda, S. 445. 61 | Ebenda, S. 417. 62 | Ebenda, S. 625. 63 | Ebenda, S. 119. 64 | Ebenda, S. 120.

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Etwas später sollte Hannah Arendt Günther Stern heiraten, der aus einer jüdisch-assimilierten Familie der Mittelschicht stammte und eine ähnliche philosophische Ausbildung genossen hatte wie sie. Auch Günther Stern schrieb Gedichte, die er ihr zu lesen gab. Aber von ihren eigenen dichterischen Versuchen wusste er nichts. Gemeinsam arbeiteten sie an einem Artikel über Rilkes Duineser Elegien. Er arbeitete, als sein Habilitationsgesuch nicht angenommen wurde, als Feuilletonjournalist beim Berliner Börsen-Curier unter Herbert Ihering: Dort nahm er das Pseudonym Günther Anders an und durchlief im Folgenden eine lange journalistische und literarische Karriere. Günther Anders floh mehrere Tage vor dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 von Berlin nach Paris. Er war mit Bertolt Brecht befreundet, dessen Adressheft von der Gestapo beschlagnahmt worden war. Arendt blieb und stellte sich auf Widerstand ein: Sie verband sich noch enger mit den Zionisten und stellte ihre Wohnung als Durchgangsstation für fliehende Feinde des Hitler-Regimes, meist Kommunisten, zur Verfügung; sie sammelte antisemitische Hetzartikel, um das Ausland auf die Vorgänge aufmerksam zu machen. Arendt definierte sich selbst zu diesem Zeitpunkt gegenüber Jaspers nicht als Deutsche, sondern als Jüdin; geblieben war nur die Sprache: »Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das kann und muss ich einstehen.«65 Nachdem Arendt selbst verhaftet und wieder freigelassen worden war, flüchtete sie gemeinsam mit ihrer Mutter über Prag nach Paris, wo sie Anders wiedertraf. Young-Bruehl zitiert in diesem Zusammenhang Arendts Interview mit Günter Gaus, um ihre Haltung während dieser Jahre wiederzugeben: »Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das habe ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben.«66 Diese Kritik betraf Akademiker wie Benno von Wiese und Heidegger  – in Paris sollte sie sich dennoch mit Intellektuellen anfreunden, wie Walter Benjamin, oder lieben lernen, wie Heinrich Blücher: »Sie fand eine Peergruppe, zu der Künstler und Arbeiter, Juden und Nichtjuden, Aktivisten und Parias gehörten; ihre Sprache war deutsch, aber sie dachten kosmopolitisch. Mit dieser Gruppe, der auch ihr zweiter Mann, Heinrich Blücher, angehörte, diskutierte Hannah Arendt, wie aus der Weltkrise, die sie kommen sahen, eine jüdische Politik hervorgehen konnte.«67 Aus der eher apolitischen Arendt wurde nun eine sich in verschiedenen Zionistenorganisationen engagierende junge Frau: Da sie als Jüdin verfolgt wurde, trat sie umso leidenschaftlicher für das Judentum ein: »Ich 65 | Ebenda, S. 161. 66 | Ebenda, S. 167. 67 | Ebenda, S. 173.

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gelangte zu der Erkenntnis, die ich damals immer wieder in einem Satz ausgedrückt habe, darauf besinne ich mich: ›Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.‹ Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so.«68 Während der Jahre in Frankreich arbeitete Hannah Arendt ohne Arbeitserlaubnis zunächst für Agriculture et Artisanat, dann für die Jugend-Aliah, eine Organisation, die jüdische Kinder auf ein Leben in Palästina vorbereitete und Rechtshilfe für Antifaschisten anbot. 1935 begleitete sie eine Gruppe jüdischer Kinder nach Palästina und 1936 nahm sie in Genf an der Gründung des Jüdischen Weltkongresses teil. Von 1938 bis 1939 war sie für die Jewish Agency tätig. Heinrich Blücher lernte sie 1936 kennen – von Günther Anders hatte sie sich bereits 1932 entfremdet. Er emigrierte bereits 1936 in die USA. Heinrich Blücher stammt aus proletarischem Milieu und hatte sich zum Lehrer ausbilden lassen, doch das Studium aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht beenden können. Im November 1918 trat er der KPD bei und nahm am Spartakusaufstand teil; 1928 trat er der KPO bei, die sich gegen den stalinistischen Kurs wandte. Als Nichtjude war er Mitglied einer zionistischen Jugendgruppe. Er emigrierte Anfang der 1930er Jahre nach Frankreich und distanzierte sich dort von den doktrinär gewordenen Marxisten. Hannah Arendt verliebte sich nach einer Phase des Zögerns in ihn: »Sieh, Liebster, ich habe immer gewusst – schon als Gör –, dass ich wirklich nur existieren kann in der Liebe. Und hatte gerade darum solche Angst, dass ich einfach verloren gehen könnte. Und nahm mir meine Unabhängigkeit. […] Und als ich Dich dann traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr. […] Immer noch erscheint es mir unglaubhaft, dass ich beides habe kriegen können, die ›große Liebe‹ und die Identität mit der eigenen Person. Und habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiß aber nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.«69 Arendt ließ sich von Heinrich Blücher politisieren: »Mit Blücher als Lehrer wurde ihre vorangegangene Lektüre von Marx, Lenin und Trotzki noch um ein Gefühl für die ›revolutionäre Praxis‹ bereichert.« 70 In ihren eigenen Worten hatte er sie »politisch denken und historisch sehen gelernt«.71 Blücher war Autodidakt und sein Interesse vielfältig: Literatur, Kunst und Film regten ihn gleichermaßen an. Über ihn lernte Hannah Arendt den Liedertexter Robert Gilbert kennen, der in den 1920er-Jahren in Berlin für zahlreiche Filme die Verse verfasst hatte. Blücher schrieb unter anderem auch zahlreiche Filmrezensionen für kleinere Zeitungen. Nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich im September 1939 wurden die Emigranten von der französischen Regierung in Lagern versammelt: Blücher und Benjamin wurden in Villemalard interniert. Als Blücher am Ende des Jahres freikam, heira68 | Ebenda, S. 169. 69 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Genf, 18.9.1937, S. 83. 70 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 187. 71 | Ebenda, S. 187.

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tete er Hannah Arendt. Im Mai 1940 wurde Arendt im südfranzösischen Lager Gurs interniert. Sie konnte sich befreien und traf durch einen glücklichen Zufall Heinrich Blücher in Montauban wieder. Die Stadt bildete eine Ausnahme in Frankreich, da der sozialistische Bürgermeister seine Opposition gegen das Vichy-Regime ausdrücken wollte, indem er Flüchtlinge aus allen Lagern aufnahm. Im Oktober stieß Arendts Mutter zu ihnen. In Marseille trafen sie Walter Benjamin wieder, der Arendt sein Manuskript Über den Begriff der Geschichte anvertraute. Sein Fluchtversuch missglückte. Benjamin beging Selbstmord in Port Bou, an der Grenze zu Spanien. Hannah Arendt kamen beim Beschaffen der Visa ihre jüdischen Kontakte zugute, und aus Amerika setzte sich Günther Stern für sie ein. Arendt und Blücher konnten nach Lissabon reisen und von da weiter mit dem Schiff nach Amerika. Arendts Mutter folgte einige Monate später. Diese Jahre waren prägend für Hannah Arendt: Die Gedichte, die sie ab 1942 in New York verfasste, sind, ohne alle Larmoyanz, von großer Tristesse geprägt. Sie verarbeiten, verdichten die Jahre der Emigration. Der äußere Anlass, wieder die dichterische Sprache zu verwenden, erfolgte nach der schockierenden Nachricht über die Endlösung der Nationalsozialisten, über die Konzentrationslager. Sie dachte an verstorbene Freunde – das erste Gedicht handelt von Walter Benjamins tragischem Tod –, dann folgen Erinnerungen an die Flucht und den Verlust, aber es kommt auch ihre Liebe zu Heinrich Blücher zur Sprache. Politisch engagierte sich Arendt weiterhin intensiv, sei es in der Kolumne der deutsch-jüdischen Zeitschrift Auf bau, in der sie sich unter anderem für eine jüdische Armee einsetzte, sei es in der Mitarbeit für die Jewish Cultural Reconstruction zur Rettung der jüdischen Kulturgüter. In der Dichtung allerdings erkannte sie, wohl auch durch ihre eigene dichterische Tätigkeit, eine private Möglichkeit, ihre Empfindungen zu verarbeiten. An einer Stelle in ihrem Standardwerk über totalitäre Strukturen, an dem sie zu dieser Zeit intensiv arbeitete, stellte sie fest, »dass nur die Dichter, die unbeirrt von allen Theorien für die ›Kinder der Welt‹ sprechen, dem wirklichen Lauf der Welt unfehlbar verhaftet sind.« 72 Und 1946 wurde sie auf ein prägendes Vorkommnis in der Sowjetunion aufmerksam, eine öffentliche Lesung des Dichters Leonid Pasternak: »Er las aus seinen Gedichten, und es geschah, dass ihm beim Lesen eines alten Gedichtes das Blatt aus der Hand glitt: ›Da begann eine Stimme im Saal aus dem Gedächtnis das Gedicht weiterzusprechen. Von mehreren Ecken des Saales stiegen andere Stimmen auf. Und im Chor endete die Rezitation des unterbrochenen Gedichtes.‹ Dies ist die einzige Anekdote, die mir bekannt ist, die dafür spricht, dass auch in Russland selbst die totalitäre Herrschaft noch nicht gesiegt hat, und sie ist von einer eindeutigen und unbezweifel-

72 | Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München 2001, S. 325.

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baren Größe.« 73 Die Wahrheit liegt bei den Dichtern und nicht in Theorien, und durch Dichtung können sich Menschen auch in totalitären Systemen ohne allen Zwang vereinen. In ihrem Denktagebuch, im Notizbuch, das auf das Heft mit den ersten Gedichten folgte, schreibt sie ganz explizit einige Jahre später: »Den Dichtern wird vorgeworfen, dass sie lügen. Und das ist auch ganz berechtigt. Nur von ihnen erwarten wir Wahrheit (nicht von den Philosophen, von denen erwarten wir Gedachtes).« 74 Die Realitätsbezogenheit der Dichtung äußert sich auch in einem gemeinsamen Projekt Arendts und Blüchers: Nach den ersten Jahren in den USA bereiteten sie 1948 einen Sammelband über die Vereinigten Staaten vor, der nur aus Zitaten von Dichtern bestehen sollte. Blücher recherchierte in Bibliotheken: »Die Reisenden haben einen Wust von Narreteien geschrieben, die Dichter sind viel weiser und mit dem Wesentlichen befasst.« 75 Das Projekt zerschlug sich, aber diese Herangehensweise an ein Land ist der Wirklichkeit verhaftet. Ab 1946 als Hannah Arendt für den Verlag Schocken Books in New York als Lektorin zu arbeiten begann, lernte sie eine Vielzahl von Dichtern und Romanautoren kennen. So freundete sie sich mit den Lyrikern Randall Jarrell76 und Robert Lowell77 an. Vor allen Dingen Jarrell führte sie in die amerikanische Dichtung ein: »Nachdem Jarrell New York verließ, besuchte er die Blüchers ab und zu und führte Hannah Arendt in die modernen englischsprachigen Dichter ein, die dann zu ihren Lieblingsdichtern wurden – Auden, Emily Dickinson und Yeats.« 78 Sie lernte weiterhin Hermann Broch79 kennen und schätzen. Mehrere Essays Arendts befassen sich mit Brochs Werk. Sie freundete sich mit dem Verlegerehepaar Kurt und Helen Wolff80 an, die den wichtigsten Emigranten-Verlag Pantheon Books leiteten. 73 | Arendt, Hannah: Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus (1958). In: Arendt, Hannah: In der Gegenwart (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 73-126, hier S. 98. 74 | Denktagebuch: Heft 19: Februar 1954, Eintrag 35, S. 469. 75 | Blücher-Briefwechsel: Blücher an Arendt, New York, 16.7.1948, S. 154. 76 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 12 / F older: Jarrell, Randall, 1947-1967, nd. 77 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 13 / F older: Lowell, Robert, 1960-1974, nd., und Houghton Library, Harvard University: Nachlass Lowell, Robert, bMS Am 1905 (35-37): Correspondence 1961-1969. 78 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 274. 79 | Vgl. Broch-Briefwechsel. 80 | Vgl. zu Kurt und Helen Wolff: | LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 17 / F older: Wo miscellaneous 1953-1968, nd. Wolff, Kurt. | LOC: Publishers Correspondence, 1944-1975, nd. In: Box 30 /  F older: Helen and Kurt Wolff Books, Folder 3, 19661975, nd. | Beinecke Library, Yale University: Helen and Kurt Wolff Papers, Series I, Correspondence, General Correspondence, Arendt, Hannah, 1957-1975, nd. In: YCGL Mss 16 (Box 1 Folders 30-34).

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Die engste Bindung aus dieser Zeit, die bis an ihr Lebensende dauern sollte, war schließlich die Freundschaft mit der amerikanischen Roman-Autorin Mary McCarthy.81 Und sie kam in Kontakt mit dem bekannten amerikanischen Kritiker Alfred Kazin.82 So war sie eingebunden in einen Zirkel von Schriftstellern, Lyrikern, Kritikern und Herausgebern, welche die Welt undogmatisch, aber engagiert wahrnahmen. Als Hannah Arendt in den 1950er-Jahren für ihr Totalitarismus-Buch weltweit anerkannt wurde und sie sich als Professorin etablieren konnte, als sie in New York einen Kreis von guten Freunden um sich scharte und an der Vita Activa schrieb, ändert sich auch der Ton in ihren eigenen Gedichten, scheint Lebensfreude auf, die allerdings unsentimental auch komplexe Verhältnisse widerspiegelt. Origins war eine mächtige Absage an jede Versöhnung mit einer Welt, in der das unfassliche, unverzeihliche Böse – das radikal Böse – existiert. Arendts Arbeit an der Vita Activa in den frühen fünfziger Jahren war eine Fortsetzung der Anstöße, jetzt allerdings auf einer breiteren und eher philosophischen Ebene. Arendt wandte sich einer praktischen Philosophie zu, die sowohl Ethik als auch Politik umgreift, in der man ein handlungsleitendes Wissen und nicht ein reines Wissen anstrebt. Elisabeth Young-Bruehl analysiert: »Hannah Arendt schlug den Weg zu einer wirklich radikalen Kritik erst ein, als sie das Gegenteil der Negation erkennen konnte – erst als die Welt und nicht die Theorie ihre positiven Elemente zeigte. Die ungarische Revolution von 1956 weckte in ihr die Hoffnung, dass der verlorene Schatz der revolutionären Tradition für die Zukunft gehoben werden konnte.«83 In der Vita Activa schrieb sie über die Möglichkeit des Handelns und des Neuanfangs. Politisch plante sie einen Band Über die Revolution, und sie verfasste für die zweite Auflage von Origins ein Nachwort über das Rätesystem. »Aber die tiefste Saite in Arendts Haltung gegenüber der Welt wurde zum Klingen gebracht, als sie einen Maßstab der Versöhnung fand. […] Als ihre Ehe neue Festigkeit gewann und die Not ihrer Kindheit – ihr Mangel an Vertrauen –, sich linderte, als sie sich endlich heimisch fühlte, wollte Hannah Arendt über ihren amor mundi, ihre Liebe zur Welt schreiben.« 84 Diese Liebe zur Welt klingt in den späten Gedichten an; der melancholische Grundton jedoch besteht weiterhin fort. In den 1960er Jahren, nachdem sich Hannah Arendt einen Namen als politische Theoretikerin auch in Europa gemacht hatte, lernte sie bedeutende deutschsprachige Autoren kennen, die sich wiederholt auf ihre Analysen beriefen: Uwe 81 | Vgl. McCarthy-Briefwechsel. 82 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 12 / F older: Kazin, Alfred, 1948-1974. Und Public Library, New York: Berg Collection: Alfred Kazin Papers, Correspondence 1947-1971. 83 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 366. 84 | Ebenda, S. 366.

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Johnson,85 Max Frisch, Rolf Hochhuth86, Hans Magnus Enzensberger87, Ingeborg Bachmann88 und Hilde Domin.89 Die starke Persönlichkeit Arendts und ihre Anschauungen, die sie prägnant und knapp zu formulieren wusste, hinterließ bei einigen dieser Autoren wie auch bei ihren amerikanischen Freunden einen tiefen Eindruck. So wurde sie in verschiedenen Werken fiktionalisiert dargestellt – von Uwe Johnson als Gräfin Seydlitz in den Jahrestagen und von Randall Jarrell in Pictures of an Institution, von Hochhuth wurde sie in seinem Stück Der Befehlsnotstand und von McCarthy in Birds of America zitiert. Den Lyriker Wystan H. Auden90 lernte sie erst spät in ihrem Leben kennen und schätzen; nach Blüchers Tod machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie jedoch mit Gewissensbissen ablehnte, da sie seine Einsamkeit kannte. Ihr letztes Gedicht verfasste Hannah Arendt im Januar 1961. Es beschreibt eine Jugenderinnerung: Sie läuft einem geliebten Menschen zu. Danach reißt der lyrische Faden ab. Im April 1961 war Hannah Arendt als Berichterstatterin beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zugegen. Ihr Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen löste die bekannte Kontroverse aus, die sie vermutlich in ihrer Böswilligkeit sprachlos gemacht haben muss: Das Erscheinen des Buches wurde in Israel verhindert, an Universitäten wurde gegen sie gehetzt, die Medien gaben ihre Aussagen verdreht wieder, eine Aufforderung, gegen sie zu predigen, wurde an alle Rabbiner New Yorks geschickt. Nur wenige, darunter Mary McCarthy und Karl Jaspers, verteidigten sie. Nun setzte sich Arendt mit der menschlichen Denk- und Urteilsfähigkeit auseinander, um dieses Erlebnis zu verarbeiten. In Vom Leben des Geistes stellt sie neben ihrer wichtigsten Analyse zur Urteilsfähigkeit unter anderem den Raum des Denkens als zeitlos dar und die Form des Denkens als Sprache, die metaphorisch sein kann. Sie 85 | Vgl. Johnson-Briefwechsel. 86 | Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box12 /  F older: Hochhuth, Rolf, 1964-1973, nd. | Irmela von der Lühe stellt an den Beginn ihres Essays zu Arendts Gedichten Rolf Hochhuths Feststellung, dass er von Hannah Arendts »dichterischer Kraft« geprochen und hinzugefügt habe, »sie war durch und durch Literatin.«, Lühe, Irmela von der: Über Hannah Arendts Gedichte. In: Gedichte, S. 87. Von der Lühe zitiert nach: Thomas Wild: Kreative Konstellationen – Hannah Arendt und die deutsche Literatur der Gegenwart. Ein Überblick und eine Wirkungsgeschichte am Beispiel Rolf Hochhuths. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 168. 87 | Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 10 /  F older: E miscellaneous 1963-1975, Enzensberger, Hans Magnus. 88 | Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 9 / F older: Bac-Barr miscellaneous, 1955-1971, Bachmann, Ingeborg. 89 | Vgl. Domin-Briefwechsel. 90 | Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 8 / F older: Auden, Wystan Hugh, 1960-1975, nd. und Public Library, New York: Berg Collection: Nachlass Auden, Wystan Hugh.

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setzte sich also theoretisch damit auseinander, was sie selbst über zwanzig Jahre lang praktizierte: Dichtung. Diese Mischung aus Melancholie und Vitalität, die Hannah Arendts poetische Texte kennzeichnen, ist nicht allein den Zeitumständen geschuldet, sondern macht einen Teil ihrer Persönlichkeit aus. Bereits als Kind im Alter von acht Jahren erlebte sie den Tod ihres Großvaters in einer Trauer, die nicht lebensabgewandt war. Ihre Mutter berichtete, ohne wohl ganz den Mechanismus des Selbstschutzes des Kindes zu begreifen: »Krankheit und Tod des sehr geliebten Opas. […] Der Tod berührt sie merkwürdig wenig. Sie interessiert sich sehr für die schönen Blumen, die vielen Menschen und die Beerdigung. Den Zug sieht sie vom Fenster aber an und ist sehr stolz, dass so viele Menschen ihrem Opi folgen. Sie spricht in der darauffolgenden Zeit wenig von diesem von ihr geliebten Großvater und Spielgefährten, so dass ich oft nicht weiß, ob sie überhaupt noch an ihn denkt. Bis sie mir gelegentlich erklärt, man müsse an traurige Dinge so wenig wie möglich denken, es hat doch keinen Sinn traurig zu werden. Und das ist so sehr bezeichnend für ihre ganze Lebensfreude, immer zufrieden und glücklich. […] Nun denkt sie auch wieder an ihren Opa, spricht von ihm lieb und mit warmem Ton.«91 Auch den Tod des Vaters einige Monate später nimmt sie bereits als Kind vorrangig mit einem Gefühl von Verantwortung auf, die sie nun gegenüber ihrer Mutter zu tragen hat: »Denke daran Mutti«, tröstet sie sie, »dass das noch vielen Frauen passiert.«92 Hannah Arendt lernte schließlich, ihre Schwermut durch politisches Engagement zu überwinden. Als junge Frau definierte sie sich gegenüber Heidegger in ihrem Schatten-Text als zutiefst melancholisch. In ihrer Monographie über Rahel Varnhagen, die einige Jahre später entstanden ist, gibt sie eine allgemeine Definition der Melancholie, die sich daraus erklärt, dass der Mensch immer wieder an die absoluten Grenzen von Leben und Tod stößt, aus der »Allgemeinheit der Schwermut, die keinen Anlass braucht, weil sie aus jedem unvermutet steigen kann, weil sie zutiefst der Tatsache verhaftet ist, dass wir uns nicht selbst das Leben gegeben und es nicht frei gewählt haben.«93 Zwanzig Jahre später, nachdem sie Emigration, Verlust, Grauen und Tod erleben musste, versuchte Arendt, sich eine Haltung zu bewahren, die trotz Traurigkeit eine Liebe zur Welt beibehält. Elisabeth Young-Bruehl betont in einer Passage diese Mischung aus Trauer und Lebenswillen: »In Hannah Arendt kamen gegensätzliche Strömungen zusammen, was ihr Denken sowohl bereicherte als auch aufwühlte. In einem Brief, den sie 1947 an Kurt Blumenfeld schrieb, konnte sie zum Beispiel sagen, ›dabei bin ich ganz fröhlich, weil man ja nie etwas gegen seine 91 | LOC: Family Papers, 1898-1975, nd. In: Addition II, 1906-1975, Box 94 / F older: Notebook kept by Martha Arendt Beerwald, Hannah’s mother, writing her daughter’s development as a child, 1906-1918. 92 | Ebenda. 93 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2002, S. 84.

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eigene Vitalität tun kann. Und so wie Gott die Welt geschaffen hat, gefällt sie mir halt ausnehmend gut.‹ Das empfand sie, obwohl sie mit einem Buch über die ›Region des brutal Tatsächlichen‹ kämpfte, das mit totalitären Mitteln in diese Welt eingeführt wird und ›diese neueste Fabrikationsart‹ des Todes mit sich bringt. Aber kaum hatte sie sich als fröhlich bezeichnet, da zeigte sie auch schon ihre andere Seite: ›Kurz ich habe meine Art von Melancholie, aus der ich nur durch Nachdenken mich rausgrappeln kann.‹ Hannah Arendt kämpfte darum, sich eine Haltung zu bewahren, die sie amor mundi nannte, Liebe zur Welt.«94 Arendt schrieb trotz und wegen der Gräuel Bücher, die Erhellung bringen sollten, und sie schrieb trotz und wegen der Gräuel Gedichte, um sich die Liebe zur Welt zu erhalten. Zu diesem »amor mundi« gehören Kriterien, die sie bewusst in ihrem Austausch mit Karl Jaspers äußert: • Ganz gegenwärtig sein – so bittet sie Jaspers, einen Satz aus seiner Philologischen Logik als Motto für ihr Totalitarismusbuch zitieren zu dürfen: »Weder dem Vergangenen anheimfallen, noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an ganz gegenwärtig zu sein.«95 • Standhaftigkeit und ernste Antriebe beibehalten  – so bezeichnet Jaspers Arendts Charakter: »Denn Sie gehören zu den Menschen, die ich zu den großen Glücksfällen rechne. Was für ein Leben haben Sie geführt! Es ist Ihnen geschenkt und von Ihnen erworben in einer Standhaftigkeit, die des Unheils, dieses meist aufreibenden von außen kommenden Entsetzens, Herr wurde, und in einer wunderbaren Kraft nobler Antriebe, […] verwandelte in Sinnmomente.«96 • Der Wirklichkeit die Treue zu halten  – so definiert Arendt Wahrheitsliebe: »Dass man im Guten wie im Bösen dem Wirklichen die Treue halten muss, darauf läuft doch alle Wahrheitsliebe heraus und alle Dankbarkeit, dass man überhaupt geboren wurde.«97 Jaspers schließlich fasst diese Fähigkeiten, wie die Mischung aus Trauer und dennoch Freude am Leben, die nicht Kritiklosigkeit bedeutet, am schönsten zusammen: »Der kaum sichtbare Schatten von Trauer auf Deiner so lebendigen, weltzugewandten, die Welt bejahenden und sich des Daseins freuenden Erscheinung kam mir wieder zu Bewusstsein. Damit auch Deine Sicht in den Gang der Dinge: im Grunde so furchtbar pessimistisch – und doch überstrahlt von der Größe

94 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 21. 95 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 103: Arendt an Jaspers, Manomet, Mass., 11.7.1950, S. 129. 96 | Ebenda, Brief 198: Jaspers an Arendt, Basel, 13.10.1956, S. 337. 97 | Ebenda, Brief 378: Arendt an Jaspers, Palenville, 11.6.1965, S. 637.

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des Menschen, die Dein Maßstab ist, und dessen Wirklichkeit in Jahrtausenden beschwingt.«98 Eine Anekdote am Ende ihres Lebens fasst Hannah Arendts Liebe zur Welt wie auch die für sie elementare Bedeutung der Dichtung zusammen. Im März 1962 erlitt sie in New York einen schweren Autounfall. Bei Bewusstsein wurde sie ins Krankenhaus gefahren: »Ich probierte meine Glieder aus, und stellte fest, dass ich nicht gelähmt war und mit beiden Augen sehen konnte; dann probierte ich mein Gedächtnis aus – sehr sorgfältig, ein Jahrzehnt nach dem anderen, Poesie, Griechisch und Deutsch und Englisch, dann Telefonnummern. Alles in Ordnung. Das Wichtige war, dass ich einen flüchtigen Augenblick lang das Gefühl hatte, ich hätte es selbst in der Hand, zu entscheiden, ob ich leben oder sterben wolle. Und obwohl ich nicht dachte, dass der Tod etwas Schreckliches sei, habe ich doch auch gedacht, dass das Leben ganz schön sei und ich mich lieber dafür entscheide.«99 Hannah Arendts Gedichte sollen in der vorliegenden Arbeit nicht als Beichte oder als »Bruchstücke einer großen Konfession« gelesen werden, wie Goethe dies für sein eigenes Werk beanspruchte. Dieses Herangehensweise ist nach Arendts eigener Aussage für keinen anderen Dichter außer für Goethe möglich: Goethes Geschichte wurde zur Geschichte der deutschen Literatur.100 Und wie Arendt zu Recht kritisiert, sind biographische Kategorisierungen ansonsten eine »moderne Indiskretion.« Ihre eigenen Gedichte aus den späteren Jahren bilden einen zusätzlichen Ausdruck ihres öffentlichen Werks, dem Bedeutung zugemessen werden kann. Eine erstaunliche Kontinuität wird sichtbar, wenn sie einen Gedanken nach Jahrzehnten wieder aufnimmt, fortführt, weiterentwickelt und ausbaut. So schrieb sie 1972, am Ende ihres Lebens, an einen Freund über die Einheit ihres Geisteslebens: »Manchmal denke ich, dass wir alle in unserem Leben nur einen einzigen wirklichen Gedanken haben, und alles, was wir tun, Ausarbeitungen und Variationen eines Themas sind.«101

98 | Ebenda, Brief 652: Jaspers an Arendt, Basel, 10.12.1965, S. 652. 99 | McCarthy-Briefwechsel: Arendt an McCarthy, New York, 4.4.1962, S. 204. 100 | Vgl. Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2002, S. 18. | Arendt zitiert nach Goethe: »Als ich achtzehn war, war Deutschland auch erst achtzehn.« 101 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 450.

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Erster Teil Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

1. R egelmäßige Rezeption von deutschsprachigen Dichtern

»Das Interpretieren, das Zitieren – doch nur, um Zeugen zu haben, auch Freunde.« H annah A rendt  /  D enktagebuch1

E inleitung : D ichtung als lebensl ange B egleiterin A rendts Sigrid Weigel stellt in ihrem Essay über Hannah Arendts Denktagebuch zutreffend fest, dass es dieser nicht um Bildungszitate gehe, sondern um »Beglaubigungen der eigenen Wahrnehmung durch die Sprache anderer Autoren«.2 Nicht nur Arendts Denktagebuch enthält Zitate von Schriftstellern und Lyrikern, sondern auch ihre späteren philosophischen und politischen Werke. Im Folgenden wird allerdings nur auf Lyriker eingegangen, da Arendts Verhältnis zur Poesie behandelt wird. Welche Gedichte und welche Lyriker rezipierte Hannah Arendt im Laufe ihres Lebens regelmäßig? Welchen formalen und inhaltlichen Kriterien maß sie Bedeutung zu? Insgesamt wird aus mehreren Quellen geschöpft: ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen, ihren Tagebucheinträgen und ihren Briefwechseln. Anhand der Lyrikzitate in ihren Werken kann man erkennen, welche Lyriker und welche Gedichte ihr wirklich wichtig waren. Hier muss unterschieden werden zwischen den Gedichten, die sie in ihr Denktagebuch als Zitate notierte, und denjenigen, die sie in ihre philosophischen Werke – Vita Activa, Vom Leben des Geistes, Das Urteilen, Was ist Existenzphilosophie? – und in ihre politisch-historischen Werke – Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Über die Revolution, Über das Böse, Macht und Gewalt, Eichmann in Jerusalem und in ihren Essays – eingearbeitet hat. Es ist Barbara Hahns eingehenden Betrachtungen zu verdanken, dass der große Unterschied zwischen den deutschen und englischen Fassungen der Werke 1 | Denktagebuch: Heft 27: November 1969, Eintrag 7, S. 756. 2 | Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Denktagebuch. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 125-137, hier S. 129.

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Arendts bekannt geworden ist. Hahn vergleicht insbesondere die Vita Activa und The Human Condition und kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Fassung, die später entstanden ist, bei der Übersetzung im Grunde neu geschrieben wurde: »Eher nüchtern das eine [die amerikanische Fassung, A.B.], mit Einsprengseln einer poetischen Sprache das andere [die deutsche Fassung, A.B.]. […] Neben Zitaten, die mit einem Autornamen versehen werden, sind ins ganze Buch Wendungen aus nicht genannten Werken gestreut. Andere erschließen sich nur dem genauen zuhörenden Lesen, weil sie nicht als Zitate markiert wurden. Doch gerade diese Einsprengsel verleihen dem Text seine besondere Tonlage.«3 Diese Einsprengsel in ihren politischen und philosophischen Werken werden im Folgenden hervorgehoben.4 Arendt verwendete nicht nur Lyrikzitate in ihren Werken, sondern benutzte auch literarische Werke bestimmter Autoren, wenn und weil sie konkrete politische Phänomene besser beleuchteten, als eine theoretische Beschreibung dies hätte vollziehen können: Genannt seien hier Joseph Conrads Herz der Finsternis in ihrem Totalitarismusbuch sowie Melvilles Billy Budd und Dostojewskis Die Brüder Karamasow in Über die Revolution. Es geht ihr um den praktischen Ausdruck moralischer Handlungen, die in diesen Erzählungen zur Sprache kommen.5 Da in der vorliegenden Arbeit die Lyrik im Fokus des Interesses liegt, werden diese Werke nicht behandelt. Arendts Essays, die sich unmittelbar Lyrikern und dichterischen Autoren widmen, finden hier weiterhin Eingang. Ausschlaggebend ist nicht nur Arendts Rezeption von Gedichten und ihr Austausch mit Autoren, sondern vorrangig die Tatsache, dass sie Essays über Dichter schrieb und sich für manche Veröffentlichung ihrer Werke einsetzte – Heine, Rilke, Kafka, Benjamin, Broch, Gilbert, Brecht im deutschsprachigen Bereich: »Zeit ihres Lebens hat Arendt sich intensiv mit Literatur befasst und in mehreren Essays versucht, die Erfahrungen, die sie mit Literatur machte, zur Sprache zu bringen. Man erkennt an ihren Schriften sofort die Liebhaberin von Romanen und Dichtung, und sie hat sich auch an kleineren Gedichten versucht.«6 3 | Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen und Bücher, Berlin, 2005, S. 107 f. | Vgl. auch: Hahn, Barbara: Wie aber schreibt Hannah Arendt? In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. von Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 /  167, München, 2005, S. 103. 4 | Hannah Arendts Lieblingsgedichte wurden 2006 von Marie-Luise Knott gesammelt und herausgegeben. Leider ist die Ausgabe vergriffen. In der vorliegenden Arbeit wurden die Gedichte direkt aus Arendts publiziertem Werk zitiert. Vgl. zu der Sammlung von Knott Irmela von der Lühes Essay: Über Hannah Arendts Gedichte In: Gedichte, S. 88. | Knott, Marie-Luise (Hg.): Es rührt mich heute noch. Hannah Arendts Gedichte, Solothurn, 2006. 5 | Vgl. Lühe, Irmela von der: Über Hannah Arendts Gedichte. In: Gedichte, S. 90-91. 6 | Olay, Csaba: Hannah Arendt und Hermann Broch: Roman und Moderne. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften (Hg. Kiss, Endre / L ützeler, Paul Michael / R acs, Gabriella), Tübingen, 2008, S. 305-331, hier S. 305.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Arendts Briefwechsel mit Lyrikern und Prosaschriftstellern, deren Werke einen lyrischen Ton besitzen, bilden die zweite Quelle. Arendts persönliche Äußerungen über Gedichte, die sie zugeschickt bekam oder ihr sogar gewidmet wurden, beweisen, wie sehr ihr Dichtung am Herzen lag. Innerhalb dieser Briefwechsel findet sich weiterhin ein literarischer Austausch über Zitate anderer Lyriker. Da es in dieser Arbeit nicht um Arendts privates Verhältnis zu ihren Briefpartnern geht, sondern darum, was ihr Lyrik bedeutete und wie sie diese einschätzte, werden die Gedichte dieser Autoren getrennt behandelt und nicht bei den Lyrikern eingeordnet, an die sie schrieb. Ein konkretes Beispiel: Arendts Briefwechsel mit Heidegger enthält etwa verstreut Gedichte von Hölderlin und Rilke. Da es wesentlich ist, was Arendt von diesen Autoren hält, und nicht, was Heidegger darüber dachte oder was ihr Austausch darüber für ihre Beziehung bedeutete, werden Arendts Bemerkungen bei den jeweiligen Autoren aufgeführt. Der Schwerpunkt liegt wie bereits erwähnt auf der deutschsprachigen Lyrik. Ab den 1940er- Jahren unterhielt sie zwar auch viele Kontakte mit englisch- und amerikanischsprachigen Lyrikern. Und ebenso gibt es einige romanischsprachige Autoren, die Hannah Arendt schätzte. Das Thema ist jedoch auf Arendts Verhältnis zur deutschsprachigen Literatur begrenzt. Es sei auf Barbara Hahns und Marie-Luise Knotts Ausstellungskatalog verwiesen, in dem Arendts Beziehungen zu ausländischen Autoren eingehend besprochen werden.7

1.1 J ohann W olfgang von G oe the »Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stünd ich Natur vor dir, ein Mann allein, Da wär’s der Mühe wert ein Mensch zu sein.« 8

Nach Arendts Tod, fand man auf einem Blatt in der Schreibmaschine Hannah Arendts dieses Zitat aus Goethes Faust II. Sie wollte es als Eingangsmotto für ihr letztes Werk, den dritten Teil von Das Leben des Geistes, dem Urteilen, verwen7 | Vgl. Barbara Hahn, Marie Luise Knott: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Berlin, 2007. | Es handelt sich vor allen Dingen um englischsprachige Lyriker und Schriftsteller: Randall Jarrell, Anthony Hecht, Frederick Mortimer Clapp, Robert Lowell, Wystan Hugh Auden, Elizabeth Bishop, Theodore Weiss. Des Weiteren kannte Arendt Walther Benjamin, Albert Camus, Uwe Johnson, Mary McCarthy persönlich. Da es sich bei ihnen jedoch nicht um Lyriker handelt, wird nur vereinzelt auf sie eingegangen. 8 | Goethe, Johann Wolfgang von: Faust, Zweiter Teil, Fünfter Akt, Verszeilen 11404-7. Zitiert nach: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie (1975) (Hg. von Beiner, Ronald, Übersetzung von Ursula Ludz), München, 1985, Eingangsmotto S. 6.

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den. Sie konnte das Buch nicht mehr vollenden und Ronald Beiner veröffentlichte stattdessen ihre Vorlesungen zur Fakultät des Urteilens. Goethe begleitete sie von Jugend an bis zum letzten Tag. In Arendts erstem eigenständigen Werk, ihrer Habilitationsschrift zu Rahel Varnhagen, spielt Goethe bereits eine große Rolle. Arendt beschreibt ihn dort als Lehrmeister Rahel Varnhagens, der ihr hilft, die Schicksalsschläge des Lebens durch erlösendes Erzählen zu bewältigen.9 Bereits hier klingt Arendts Auseinandersetzung mit der Wirkungskraft der Narration an.10 Dennoch zeigt die Art und Weise, wie sie Goethe zitiert, dass es ihr weniger um den narrativen Gehalt seiner Dramen oder seiner Prosa geht. Ihre GoetheZitate sind meistens aus dem Zusammenhang gerissen. Besonders die zitierbare Kurzform, der Aphorismus, zog sie an. In ihrer Gesamtausgabe sind jedenfalls nur die Maximen und Reflexionen angestrichen. Eine dieser Maximen hat sie in ihr Denktagebuch notiert: »›Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man knüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst‹ (Tyrannei = Isolierung und ›human artifice‹).«11 In diesem Kontext erschließt sich, dass besonders der Denker Goethe sie faszinierte, etwa seine Vorstellung vom Urphänomen. So notierte sie in ihr Denktagebuch folgende Beobachtung: »Das Allgemeine weckt Staunen; das Einzelne, Partikulare erregt Neugier. Goethes Größe, dass er von dem Kleinsten ins Staunen geriet. Dies ist die ›subjektive Seite‹ des Urphänomens.«12 Später sollte sie im Zusammenhang mit Walter Benjamins Passagenwerk auf diese Recherche des Urphänomens zu sprechen kommen.13 Und zu Goethes Farbenlehre sollte sie 1954 selbst ein Gedicht verfassen:

9 | Vgl. Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 123 f. 10 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1.4. Wirkung der Dichtung: Sinnsetzen, S. 227. 11 | Denktagebuch: Heft 17: Juli 1953, Eintrag 2, S. 398. Arendt zitiert nach: Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen, Nr. 737 In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, Hamburg, 1960, S. 469. 12 | Ebenda, Heft 21: Eintrag 85, Januar 1956, S. 558. 13 | Vgl. Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 179-236, hier S. 193 f.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung Goethes Farbenlehre Gelb ist der Tag. Blau ist die Nacht. Grün liegt die Welt. Licht und Finsternis vermählen sich im Dunklen wie im Hellen. Farbe lässt das All erscheinen, Farben scheiden Ding von Ding. Wenn der Regen und die Sonne ihrer Wolkenzwiste müde noch das Trockne und das Nasse in die Farbenhochzeit einen, glänzet Dunkles so wie Helles – Bogenförmig strahlt vom Himmel Unser Auge, unsere Welt.14

In der Vita Activa und Vom Leben des Geistes zitiert sie wiederum eher psychologische Beobachtungen Goethes, etwa über die Unmöglichkeit, das Glück, Fortuna, festzuhalten,15 seine Kritik am Selbsterhaltungstrieb16 oder die Fähigkeit, sich gedanklich mit der Vergangenheit, in diesem Fall der Antike, zu beschäftigen.17 14 | Arendt, Hannah: Goethes Farbenlehre. In: Gedichte, S. 73. 15 | Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 127. | Ohne Angabe der Quelle (Goethe) stellt Arendt fest: »Denn das Glück, das Fortuna spendet, ist selten und immer flüchtig und kann nicht verfolgt werden; es hängt am Zufall, an dem, was Goethe die ›Gelegenheit‹ nannte, die gibt und nimmt, und die ›Jagd nach diesem Glück‹ endet auch dann im Unglück, wenn Fortuna sich zufällig zeigen sollte, weil die Jagenden die Lust meinen, und nicht das Glück, und es also behalten und genießen wollen, als handele es sich um ein unerschöpfliches Füllhorn der Natur.« 16 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (1971), München, 1998, S. 421. | Arendt entdeckt Parallelen zwischen Heidegger und Goethe: »Heideggers Kritik des Selbsterhaltungstriebs (der allen Lebewesen gemeinsam ist) als eines willentlichen Aufstands gegen die ›Ordnung‹ der Schöpfung als solcher ist in der Ideengeschichte etwas so Seltenes, dass ich hier die einzige mir bekannte ähnliche Äußerung anführen möchte, drei wenig bekannte Zeilen Goethes aus einem um 1821 entstandenen Gedicht mit dem Titel ›Eins und alles‹: ›Das Ewige regt sich fort in allem: / Denn alles muss ins Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will.‹« 17 | Vgl. ebenda, S. 428 f.: »Was wir noch vor ein paar Jahrzehnten eingedenk Goethes ›Dreitausend Jahren‹ (›Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiss Rechenschaft zu geben, / Bleibt im Dunkel unerfahren / Mag von Tag zu Tage leben‹) Antike nannten, ist uns heute viel näher, als es unseren Vorfahren war.«

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In ihren Briefwechseln findet vor allen Dingen Goethes Lyrik Eingang. Hier lassen sich zwei Strömungen ausmachen, Goethes Naturlyrik und seine Liebeslyrik: So zitierte sie Goethe während einer Israelreise, als sie die Aussicht auf Meer und Inselwelt genoss: »Der Abschied von gestern und vorgestern – ›Wer von dem Schönsten zu scheiden verdammt ist‹ –, aber den abgewendeten Blick erleichterte ein ungeheurer Wolkensturz, der alles überschwemmte18, oder während einer Reise durch den Westen der USA, als sie sich von einem überwältigenden Sonnenaufgang beeindruckt zeigte und Verse aus dem West-östlichen Divan anführte: »Aber zurück zu den Rocky Mountains. Man fährt tagelang auf der Höhe […] durch Schneewüsten, über die der Wind bläst und die Sonne aufgeht, und die Sterne sind auch da. Und wenn die Sonne aufgeht, weiß man: Da erschuf er die Morgenröte. Und es ist wirklich, wie ›das All mit Machtgebärde in die Wirklichkeiten brach.‹«19 Etwas später berichtete sie Blücher ihre Eindrücke von den Redwoods: Diese Bäume fand sie grandioser als den berühmten Ginkgo Biloba Goethes: »Als hätte man nur Wälder gesehen, aber nie einen Baum in seiner vollen Majestät. […] Das hat Goethe nicht gekannt, sonst hätte er sich um des Baumes Blatt, das ›aus Osten meinem Garten einverleibt‹, gar nicht so sehr gekümmert. Die Stämme wie verwittertes Felsengestein.«20 Goethes Liebesgedichte aus dem West-östlichen Divan zitierte sie regelmäßig in den Briefwechseln mit den Männern, die ihr am meisten bedeuteten – mit Heinrich Blücher und mit Martin Heidegger. Zu Beginn ihrer Beziehung mit Blücher schickte sie ihm ironisch ein Gedicht Goethes, damit er ihr öfter schreibe. Es ist ein Ermutigungsgedicht:

18 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Tel Aviv, 14.10.1955, S. 411. | Sie wandelt die Verse ab. Das Goethe-Zitat stammt aus dem Pandora-Fragment: »Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, / Fliehe mit abgewendetem Blick!« In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämmtliche Werke, Bd. 10, Stuttgart, 1840, S. 303. 19 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Berkeley, 4.2.1955, S. 331. In: Goethe Johann Wolfgang von: Wiederfinden. In: West-östlicher Divan, 2. Strophe. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämmtliche Werke, Bd. 4, Stuttgart, 1840, S. 104. 20 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Berkeley, den 19.5.1955, S. 380 f. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Gingko Biloba. In: West-östlicher Divan: »Dieses Baums Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut.« In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämmtliche Werke, Bd. 4, Stuttgart, 1840, S. 80.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung »Kenne wohl der Männer Blicke, Einer sagt: ›Ich liebe, leide! Ich begehre, ja verzweifle!‹ Und was sonst ist, kennt ein Mädchen. Alles das kann mir nicht helfen, Alles das kann mich nicht rühren. Aber Hatem, Deine Blicke Geben erst dem Tage Glanz. Denn sie sagen: Die gefällt mir, Was mir sonst nicht mag gefallen.« 21

Gegenüber Heidegger muss sie 1950, als sie sich nach zwanzig Jahren wiederbegegnet sind, Gedichtzeilen aus dem Divan deklamiert haben, denn Heidegger bat sie nachträglich zu schreiben, um welches Gedicht es sich gehandelt habe: »Kennst Du die schöne Divan-Ausgabe in der Manesse-Bücherei Zürich mit dem Kommentar von Max Rychner? Weißt Du noch, welche Verse Du beim ersten Wiedersehen in Freiburg aus dem Divan zitiertest?«22 Es handelt sich um Unbegrenzt, dessen letzter Vers auf Abschied hinweist: »Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und dass du nie beginnst, das ist dein Los. Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, Und was die Mitte bringt, ist offenbar Das was zu Ende bleibt und anfangs war.« 23

Weniger emotional aufgerührt, konnte Hannah Arendt auch Goethes Stil humorvoll parodieren, wie ihr Briefwechsel mit Hermann Broch zeigt: »Und nun der alte Goethe, der mich für immer in meiner Schüchternheit bestätigt hat, was viel besser und angenehmer ist, als sie durch psychologische Kunststückchen wieder loszuwerden.« Und sie dichtet im Divanstil »Nüchtern-mystisch, mystisch-nüchtern, Anders ist es nicht zu machen: Darum ist dein Wissen schüchtern, Deine Schüchternheit dein Wachen.« 24

21 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Genf, 20.8.1936, S. 48. 22 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 82: Heidegger an Arendt, Meßkirch, 6.10.1953, S. 139. 23 | Gedicht: Unbegrenzt. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämmtliche Werke, Bd. 4, Stuttgart, 1840, S. 22. 24 | Broch-Briefwechsel: Brief 34: Arendt an Broch, 30.12.1948, S. 89.

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Worauf hin Broch ihr im gleichen Goethe-Tonfall antwortet: »Und dazu noch ein Goethe-Vers: ›Sieht der ab von seiner Haft Weil er schon das Ende absieht, Hat er’s lang noch nicht geschafft; Absehn ist noch immer Abschied.‹

– Und es kann auch von Busch sein. Jedenfalls denke ich noch an Bestseller bei Knopf.«25

1.2 F riedrich H ölderlin »Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann ohne zu trauern.«26 Arendt, die einerseits ein »Denken ohne Geländer« prägte, das heißt auch ohne religiöses Geländer, erlebte – wie ihre eigenen Gedichte zeigen27 – die Zerrissenheit des Spannungsfeldes zwischen Momenten des transzendentalen Innewerdens Gottes, dem Gefühl der Unendlichkeit und der sonst andauernden immanenten Empfindung der Verlassenheit. Aus dieser tragischen Spaltung heraus, die immer wieder bei ihr anklingt, sind die verschiedenen Zitate Hölderlins zu verstehen, die sie in ihr Denktagebuch notierte. Etwa das Erleben des Schicksalhaftigkeit: »Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstünde.«28 Oder die Unfähigkeit sich mit diesem Schicksal abzufinden, mit dem Gegebenem:

25 | Ebenda, Brief 35: Broch an Arendt, 14.2.1949, S. 92. | Anspielung auf Wilhelm Busch und den amerikanischen Verleger Knopf. Robert Pick, ein Bekannter Brochs, fand das Gedicht später und fragte Arendt, ob er es veröffentlichen dürfe. Sie antwortete ihm: »Goethe-Vers. Kein Goethe-Vers, sondern von Broch an mich, Goethes Divan nachahmend. Auf meine Schüchternheit, über die wir einmal gesprochen haben, und die er mir sehr schön ›erklärte.‹ Danach selbiger Vers.« In: Houghton Library, Harvard University, in: Nachlass Pick, Robert (bMS Ger 201 [45]) Arendt an Pick, 9.10.1956, ohne Blattnummer. 26 | Denktagebuch: Heft 8: Eintrag 18, Februar 1952, S. 191. Reflexion aus: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke (Hg. Beißner, Friedrich), Bd. 4, Stuttgart, 1961, S. 235. 27 | Vgl. die Gedichte Hannah Arendts: In: Arendt, Hannah: Gedichte. | Zum Beispiel thematisiert sie Gottes Antwortlosigkeit in Kein Wort bricht ins Dunkel, S. 8, oder in Den Überfluss ertragen, S. 58, oder das Empfinden einer Kosmologie in Herr der Nächte, S. 41, Unermessbar, Weite, nur …, S. 49 f., oder B.s Grab, S. 60, oder Helle scheint in jeder Tiefe …, S. 66. 28 | Denktagebuch: Heft 27: Juni 1970, Eintrag 59, S. 782. Zitiert nach: Hölderlin, Friedrich: Hyperion. In: Hölderlin, Friedrich: Werke und Briefe, Stuttgart, 1969, Bd. 1, S. 329.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung »Den Blindesten aber Sind Göttersöhne. Denn es kennet der Mensch Sein Haus und dem Thier ward, wo Es bauen solle, doch jenen ist Der Fehl, dass sie nicht wissen, wohin? In die unerfahrene Seele gegeben.« 29

Aus dem gleichen Gedicht Der Rhein reflektiert sie zwei Zeilen über die Tragik in Glücksmomenten: »Denn schwer zu tragen / Das Unglück, aber schwerer das Glück.« Und sie führt das Zitat, ihrer eigenen Erfahrung, gemäß aus: »Die Jähe, mit der das Glück kommt, die Gefahr, von ihm erschlagen zu werden. Während die Bewegungsform des Unglücks das Kriechen ist, so dass man immer Zeit hat, mit Gewöhnung zu reagieren.«30 In einem ihrer Essays, in der deutschen Fassung von Kultur und Politik, bringt sie einen Gedanken Hölderlins ein. Es geht um die Kapazität des Herstellens: Selbst in der Kunst werden gewaltsame Mittel angewendet. Auch die Dichtung ist davor nicht gefeit: »Wenn Hölderlin das Dichten ›das unschuldigste‹ Geschäft nennt, mag er an die allen anderen Künsten eigene Gewalttätigkeit gedacht haben. Aber natürlich tut auch der Dichter seinem Material Gewalt an; er singt nicht, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnt.«31 Ihr Widerspruch gegenüber Hölderlin ist symptomatisch für ihre ganz eigene Kunstauffassung des Herstellens.32 In Hannah Arendts Briefwechseln tauchen Verse Hölderlins nur in geringem Maße auf. Heideggers enges Verhältnis zu Hölderlin dagegen äußert sich in seinen 1944 erschienenen Interpretationen Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Arendt besaß davon ein Exemplar von 1971, das mit einer handschriftlichen Widmung Heideggers versehen ist.33 Für Heidegger stand bereits ihre frühe Liebesbeziehung unter dem Zeichen von Hölderlins Dichtung. Als er in Todtnauberg an Sein und Zeit arbeitete, verband er seine Liebe zu ihr mit Hyperions Schicksalslied.34 Die undatierte Gesamtausgabe Hölderlins, also eine frühe Fassung, die sich 29 | Denktagebuch: Heft 1: Juli 1950, Eintrag 14, S. 13. Zitiert nach: Hölderlin, Friedrich: Der Rhein. In: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, Stuttgart, 1951, Bd. 2, S. 143. 30 | Denktagebuch: Heft 1: Juli 1950, Eintrag 16, S. 14. Zitiert nach: Hölderlin, Friedrich: Der Rhein. In: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, Stuttgart, 1951, Bd. 2, S. 143. 31 | Arendt, Hannah: Kultur und Politik (1958). In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 277-204, hier S. 291. 32 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1.3 Ziel der Dichtung: Unvergänglichkeit, S. 221. 33 | Vgl. Bard-Bibliothek: Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt  /  M ain, 1971. 34 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 28: Heidegger an Arendt, 23.8.1925: »Zu den wenigen Büchern auf meinem ›Schreibtisch‹ gehört Hölderlins Hyperion. Das mag Dir sagen, dass Du und Deine Liebe mir zur Arbeit und Existenz gehören. Und ich wünsche, dass heiligste Erinnerung so oft Dir naht wie mir. Sie wird mir dann immer zur Mahnung, würdiger

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in Arendts Bibliothek befindet, weist Anmerkungen Arendts zu Hyperion wie auch zu Empedokles auf.35 In den zwanziger Jahren besorgte sie sich zusätzlich Sekundärliteratur zu Hölderlin, einen Band von Beate Berwin.36 Hannah Arendts Begeisterung über Hölderlins Lyrik zeigt sich während der 1950er-Jahre in ihrem Vorhaben, Hölderlin ins Englische übersetzen zu lassen. Leider ist ihr Brief nicht erhalten, eine Andeutung kann aber einem Schreiben Heideggers entnommen werden: »Ich freue mich, dass es ruhiger um Dich geworden ist und dass Du Lieblingsplänen nachgehen kannst. Hölderlin-Gedichte ins Englische übersetzen – ich könnte mir denken, daß dies in hohem Maße glücken könnte, zumal ich seit einiger Zeit wieder einmal Keats (englisch mit Übersetzung) gelesen habe.«37 Zum gleichen Zeitpunkt ist ein Brief des amerikanischen Lyrikers Randall Jarrell erhalten, der deutsche Gedichte und Märchen so liebte, dass er etwa Grimms Schneewittchen ins Englische übertrug. Zwei Monate zuvor hatte Arendt ihm einen Band Hölderlins geschickt, für den er sich bedankte: »Vielen Dank für den Hölderlin, es zeigt den genauen Vollzug des reinen Wachstums (so als ob es seine Aufgabe gewesen wäre, nur das zu sagen, was wirklich wahr ist, nicht mehr). «38 Elisabeth Young-Bruehl berichtet, dass Arendt selbst eine erste Rohfassung von Übertragungen erstellt hatte, wohl mit der Bitte an Jarrel, diese auszuarbeiten: »Hannah Arendt schickte ihm einmal einige ›schrecklich simple‹ Übersetzungen von Hölderlin-Gedichten, und er bedankte sich nachdenklich dafür: ›ach, wüsste ich doch, was [Deutsch] wirklich ist.‹«39 Das Projekt zerschlug sich. Sie musste erkennen, dass gerade Lyrik nicht wirklich übersetzbar ist. Ihrer Wertschätzung der Dichtung Hölderlins tat dies keinen Abbruch. zu werden dieses Lebens mit Dir.« S. 46. | Und ebenda, Brief 29: Heidegger an Arendt, Todtnauberg, 12.9.1925: »Ich schrieb Dir schon, dass ich den Hyperion lese. Ich fange an, langsam zu verstehen. Du musst es an jeder Zeile spüren, Liebstes, wie es in mir stürmt und ich nur zusehen muss, in der rechten Weise damit fertig zu werden.« S. 48. | Im Grunde projiziert sich Heidegger in Hyperion und Arendt in Diotima. Hyperion lebt von der Unendlichkeit des Gefühls, das ihm Diotima vermittelt. Sie ist die Synthese zwischen Gottesgefühl und Menschsein. Als er sie verliert, zieht er sich in die Einsamkeit zurück – wie Heidegger auf die Berge –, um dort im Einklang mit der Natur seine Erlebnisse mit Diotima nachzuerleben. | In Arendts Bibliothek findet sich ein Band, in den Arendt übrigens ihren Namen geschrieben hat, nämlich: Viëtor, Carl: Hölderlin: Die Briefe der Diotima, Leipzig, 1923. 35 | Vgl. Bard-Bibliothek: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, Leipzig, nd. 36 | Vgl. Bard-Bibliothek: Berwin, Beate: Hölderlin, Stuttgart u. a., nd. (1920er Jahre). 37 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 77: Heidegger an Arendt, Freiburg, 14.12.1951, S. 131. 38 | LOC: General Correspondence, 1936-1976, nd., In: Box 12 / F older1: Jarrell, Randall, 1947-1967, nd., Jarrell an Arendt, Princeton, 30.10.1951, Blatt 007462:»Thanks so much for the Hölderlin; it has that pure grow exact done (as if it was his duty to say only what was really true, no more).« 39 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain 1996, S. 284.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Am Ende ihres Lebens, zum 200. Geburtstag Hölderlins, besorgte sich Hannah Arendt die Sonderschrift über Hölderlin, den Katalog des Deutschen Literaturarchivs Marbach.40 Sie beabsichtigte, in einer privaten Gratulation zu Heideggers 80. Geburtstag einen Brief zu verfassen, der auf Hölderlin Bezug nehmen sollte. Dieser Brief ist nur als Entwurf erhalten, da sie ihn nicht abgeschickt hat. Das Dokument mit dem Gedicht Der Archipelagus ist das einzige Zeugnis aus ihrer Hand, das einen Zusammenhang zwischen Heidegger und Hölderlin herstellt. »Und wenn die reißende Zeit mir Zu gewaltig das Haupt ergreift, und die Not und das Irrsal Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert, Lass der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken!« 41

Aber nicht nur Heidegger, sondern auch ihre Beziehung zu Heinrich Blücher spiegelt sich in Hölderlin-Versen wider. So erfüllt ihre Beziehung zu Blücher gewesen sein mochte, spielte auch hier eine tragische Komponente mit hinein: Blüchers Blockade, sich schriftlich ausdrücken zu können. Er war ein eloquenter Redner, ein Sokrates, aber er war nicht gewillt, wie Arendt, seine Anschauungen schriftlich festzulegen. Als Blücher starb, äußerte sie sich gegenüber ihrer engen Freundin Mary McCarthy: »Denn andererseits ist da das ganze Gewicht der Vergangenheit (gravitas). Und was Hölderlin einmal in einer schönen Zeile sagte: »›Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern / Zu behalten.‹ Kurz: Erinnerung.«42 Aus Arendts eigener lyrischer Produktion stammt ein Gedicht, das sie verfasst hat, nachdem sie die tragische Nachricht über die Errichtung der deutschen Konzentrationslager erhalten hatte. Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Ver-

40 | Vgl. Bard-Bibliothek: Schiller Nationalmuseum: Hölderlin. Zum 200. Geburtstag. Katalog von Werner Volke, München, 1970. 41 | Heidegger-Briefwechsel: Beitragsentwurf, Blatt 117: Arendt für Heidegger, September 1969, S. 192. | Das Gedicht Der Archipelagus stammt aus: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke (Hg. Hellingrath, Norbert von). Bd. 4, München / L eipzig, 1923, S. 101 (Hervorhebung Hannah Arendt). | Heidegger schickte ihr drei Jahre zuvor das Gedicht Der Herbst von Hölderlin zu. Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 91: Heidegger an Arendt, Todtnauberg, 6.10.1966, S. 154. 42 | McCarthy-Briefwechsel: Arendt an McCarthy, New York, 31. Mai 1971, S. 426. | Die Zeilen stammen aus dem Hölderlin-Gedicht Reif sind, ins Feuer getaucht. Arendt wurde allerdings von Heidegger auf die Verse aufmerksam gemacht; ihr Brief ist leider nicht erhalten, aber seine Antwort. | Heidegger-Briefwechsel: Brief 62: Heidegger an Arendt, Meßkirch, 6.5.1950, S. 105: »Das ›mit der Last von Scheitern‹ steht in ›Reif sind, ins Feuer getaucht‹ – um die gleiche Zeit als Du’s wohl schriebst, dachte ich an die Last von Scheitern.«

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gangenheit … ist bis ins Detail ausgearbeitet und ganz in einem Hölderlin’schen Ton geschrieben.43

1.3 H einrich H eine Heinrich Heine und Franz Kafka spielen eine besondere Rolle in Arendts Rezeption. Sie zitierte beide Autoren nicht nur in ihren Werken, sondern verfasste den Essay Die verborgene Tradition, der verschiedene Haltungen jüdischen Widerstands reflektiert: Heine wie Kafka stellt sie, neben Lazare und Chaplin, in eine verborgene Traditionslinie. Zuerst 1944 auf Englisch veröffentlicht,44 erschien der Essay 1948 auf Deutsch. In ihrer Einleitung verficht Arendt die These, dass das jüdische Volk ein unterdrücktes Volk sei, das im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Emanzipation auf der einen Seite und Gleichheit der Assimilation auf der anderen Seite steht: »So konnten jüdische Dichter, Schriftsteller und Künstler die Figur des Paria konzipieren, die eine für die moderne Menschheit sehr bedeutsame neue Idee vom Menschen enthält, deren Einfluss auf die nichtjüdische Welt jedenfalls im grotesken Widerspruch steht zu der geistigen und politischen Wirkungslosigkeit, zu der alle diese großen Juden in ihrem eigenen Volk verurteilt waren.«45 Der Paria sei eine jüdische Volksfigur, die von jeder Generation nach einer verborgenen Tradition immer wieder neu belebt wurde: bei Heine Schlemihl und Traumweltherrscher, bei Bernard Lazare bewusster Paria, bei Chaplin grotesker Verdächtigter und bei Kafka Mensch mit gutem Willen. Hier von Belang ist nun zuerst der Dichter Heinrich Heine.46 43 | Vgl. Arendt, Hannah: Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit. In: Gedichte, S. 34 f. 44 | Vgl. Arendt, Hannah: The jew as a pariah: A hidden tradition. In: Jewish Social Studies 6, 1944, Nr. 2, S. 99-122. 45 | Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition (1944). In: Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt /  M ain, 2000, S. 50-79, S. 50-79, hier S. 51. 46 | Lea Ritter-Santini untersucht die verschiedenen Personen und Figuren, die Arendt in Bezug auf die jüdische Identitätsbildung behandelt hat: von Rahel Varnhagen über die Figur des Schlemihls von Chamisso und die vier Vertreter der verborgenen Tradition Heine, Lazare, Chaplin und Kafka bis hin zu Proust und zu ihrer Kritik an Stefan Zweig. Vgl. Ritter-Santini, Lea: La passion de comprendre. Hannah Arendt: La pensée se fait littérature. In: Mélanges offerts à Claude David. Claude David pour son 70ème anniversaire (Hg. Bandelt, Jean-Louis), Bern, Frankfurt, New York, 1992, S. 343-365. | Ingeborg Nordmann setzt die Vorbildfunktion der Figuren Arendts aus Die Verborgene Tradition in Beziehung zu ihrem Revolutionsbuch und hebt damit deren politische Bedeutung hervor: »Das ist gemeint, wenn Hannah Arendt die verborgene Tradition des Pariatums – Rahels selbstbewußte Ignoranz gegenüber dem wirklichen Leben, die unbekümmerte Gesellschaftskritik des Traumweltherrschers Heine, Charlie Chaplins Sinn für die listigen Rettungsversuche des

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Heinrich Heine kennzeichnet Hannah Arendt als naiven Schlemihl, und aus dieser Unschuld erwachsen den Juden die Dichter: die Traumweltherrscher. Apollo, Gott der Dichter und Künstler, beschütze diese unschuldigen jüdischen Dichter: »Ja, der hohe Delphier ist Ein Schlemihl, und gar der Lorbeer, Der so stolz die Stirne krönet, Ist ein Zeichen des Schlemihltums.« 47

Den jüdischen Dichter als Paria kennzeichnen eine Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Zwängen: • Die Freude am irdischen Dasein stammt aus Heines Volksnähe: Da er nichts in der Welt erreichen möchte, bleibe er rein und unschuldig und könne sich so über die Menschenwelt lustig machen: »Solch heidnische Freude durchherrscht alle kindliche und volkstümliche Fabulierlust, und sie bringt in die heine’sche Poesie jene unvergleichliche Verquickung von Märchenland und menschlich-alltäglichen Begebnissen, die in der Ballade eine vollkommene Kunstform gefunden hat, aber schon den kleinen sentimentalen Liebesliedern ihre überwältigende Volkstümlichkeit verlieh.«48 • Die Natur besitzt Vorrang vor gesellschaftlichen Hierarchien: Die Gesellschaft habe die Natur gegen die Götzen des sozialen Vorteils eingetauscht. Heine dreht die Rangordnung um: Paria und Schlemihl sind reich, da sie ohnehin nichts besitzen: »Die Inkongruenz zwischen der geschaffenen Natur, Himmel und Erde und Mensch, vor deren Erhabenheit alles gleich gut ist, und den gesellschaftlich fabrizierten Rangunterschieden, durch die der Mensch gleichsam der Natur ihre Macht streitig macht, dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen will, hat etwas unmittelbar einleuchtend Komisches.«49 • Heines Freiheitsbegriff: Freiheit bedeute ihm mehr als die Befreiung aus dem Haus der Knechtschaft. Freiheit steht jenseits von Herrschaft und Knechtkleinen Mannes oder Kafkas genauer Nachweis der Unmenschlichkeit des Alltags durch Einforderung seiner Menschlichkeit – nur gerettet sieht, wenn sie mit der politischen Rebellion verbunden wird. Damit greift sie eine Erkenntnis Bernard Lazares auf, der als ›bewußter Paria‹ sich in die Politik begab, nicht um die Assimilation zu erwirken, sondern um sie bloßzustellen als eine die menschliche Würde und Existenz gefährdende Haltung.« Vgl. Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt. Die verborgene Tradition. In: Freibeuter, 24, Berlin, 1985, S. 103-117, hier S. 112 f. 47 | Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition (1944). In: Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt / M ain, 2000, S. 50-79, hier S. 53. 48 | Ebenda, S. 55. 49 | Ebenda, S. 55.

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schaft: »Frei wird der Mensch geboren, und in die Knechtschaft verkauft er sich immer nur selbst. Darum gilt in den politischen Gedichten wie in den Prosaschriften sein Zorn nicht nur den Tyrannen, sondern auch und gerade dem Volke, das den Tyrannen erträgt.«50 Nicht nur die Freiheit von, sondern auch die Freiheit zu etwas ist maßgeblich. Nach Arendt entging Heine einer daraus resultierenden Utopie durch seine dichterische Produktivität. Ohne einer Doktrin anzuhängen, hielt er der Welt den Spiegel vor: »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht und küsse die Marketenderin. 51 • Die Freude am irdischen Dasein, das Recht auf Glück; Menschen als Individuen unabhängig von sozialen Hierarchien anerkennen; Freiheitswillen  – die Würde des Menschen wird von Heine konsequent hervorgehoben.52 Laut Arendt gelang Heine noch die jüdische Emanzipation, »darum konnte er das, was in seinem Jahrhundert bereits nur sehr wenige Menschen gekonnt haben, die Sprache eines freien Mannes sprechen und die Lieder eines natürlichen Menschen singen.«53 Fünfzig Jahre später jedoch hatte sich die politische Realität des europäischen Judentums grundsätzlich geändert. Parias wie Parvenus wurden zu Außenseitern 50 | Ebenda, S. 57. 51 | Ebenda, S. 57. Dieses Heine-Zitat erwähnt Arendt auch in ihrem Essay über Robert Gilbert. Sie sieht in Robert Gilbert in gewisser Hinsicht einen Nachfolger Heines: die gleiche Unbekümmertheit um Unsterblichkeit, den Drang nach Anonymität. Als sie seine Leierkastenodysee lektorierte, vermittelte sich ihr der Eindruck, Heine steige aus dem Grab, eingetreten »ins Weltgebäude /  Warschauerstraße«. Heines Leichtigkeit finde sich bei Gilbert wieder: »Zu dieser Substanz gehört die unbekümmerte Vitalität, die Freude am schieren Lebendigsein, die uns in diesen Versen überall entgegenschlägt. Zu ihr gehört aber auch die Denkart, für die jedes Ding zwei Seiten hat, für die unsere Comédie humaine weder je ganz Tragödie noch ganz Komödie ist, sondern immer und in jeder Minute beides in einem. Nur Tragikomödien können vor dieser geschwinden, sich immer auch gegen sich selbst gewendeten Gescheitheit bestehen. Was hier als göttlich gilt, ist Lachen und Weinen in einem.« Arendt, Hannah: Robert Gilbert (1972). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, S. 284-191, hier S. 290. | In einer Rezension von 1946 bescheinigt sie ihm Skeptizismus und die Absage an jegliche Sentimentalität in der Tradition Heines – eine innere Güte und Lässigkeit. Arendt, Hannah: Rezension zu Meine Reime, Deine Reime: The streets of Berlin, Blatt 00612. In: LOC: General Correspondence 1938-1976. In: Box 11 /  F older 1962-1975: Gilbert, Robert, 1946-1975, nd. 52 | Heines Ja zum Judentum betont Arendt auch in vielen ihrer Schriften. Besonders in: Arendt, Hannah: Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft (1951), München, 2001, S. 167. Arendt, Hannah: Rahel Varhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001 S. 237. 53 | Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition (1944). In: Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt / M ain, 2000, S. 50-79, hier S. 60.

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in der gesamten Welt.54 Historisch analysiert Hannah ab nun Arendt Kafkas Weg, der Mensch mit dem guten Willen. Kafka wie Heine haben als Dichter für Arendt Vorbildfunktion, die zu politischen Handlungen führen sollte.55

1.4 F r anz K afk a Kafkas Weg ist einer der Belehrung, nicht mehr einer, der zur Veränderung der Welt führt. Das Ausmaß der Vernichtung geht über die Kräfte des Menschen hinaus: »Denn dies kleinste Vorhaben, die Menschenrechte zu verwirklichen, ist gerade wegen seiner einfachen Grundsätzlichkeit das allergrößte und das allerschwerste, das Menschen sich vornehmen können.«56 Während Heine noch Natur und Kunst als Zufluchtsstätten für den gesellschaftlich Vertriebenen darstellen konnte, attackiert Kafka dieses Vorhaben als konventionellen Trost.57 Während Heine noch eine erhaben-ironische Überlegenheit zur Schau stelle, setzt Kafka dagegen eine zielbewusste Aggression gegenüber einer unmenschlich gewordenen Gesellschaft ein. Arendt bespricht seinen Roman Das Schloss, den sie als Konflikt einer übertriebenen Assimilation liest: Der Landvermesser K., der als Fremder weder zum Volk (Dorf) noch zur Regierung (Schloss) gehört, also keinen rechtlichen Anspruch auf Aufenthalt hat, kommt der Erfahrung der Juden gleich, denen im Dritten Reich alle Rechte genommen wurden. Er will Assimilation und Menschenrecht (Heim, Arbeit, Familie, Mitbürgerschaft), doch das Schloss ver54 | Vgl. Bernd Neumanns Artikel, der die Romane Kafkas vor dessen jüdischem Hintergrund liest. Dabei nimmt er nicht Arendts Kafka-Artikel auf, sondern setzt ihre Gedanken etwa aus Macht und Gewalt in Beziehung zu Der Prozess. Neumann, Bernd: Das Diapositiv des Kulturgeschichtlichen als ästhetisches Integral. Franz Kafkas Romane im Diskurs mit Hannah Arendts Gedankengängen. In: Sandberg, Beatrice / L othe, Jacob (Hg.): Franz Kafka: Zur ethischen und ästhetischen Rechtfertigung, Freiburg, 2002, S. 175-196. 55 | Vgl. Liliane Weissberg, die Arendts soziologische Falluntersuchungen von Heine, Lazare, Chaplin und Kafka erforscht und den politischen Aspekt von Dichtung hervorhebt: »Wichtiger ist vielleicht Arendts These, dass Dichter mit ihren literarischen Texten Wege des Protests aufzeigen sowie die Möglichkeit des Zusammenlebens. Es sind diese Dichter, die als Parias politische Theorien geben und gleichzeitig in ihren Texten die Handlungsmöglichkeiten eines Parias zeigen können. Damit stellt Arendt nicht nur die Frage, ob ein Staat Dichter braucht, sondern ob die politische Theorie Dichter braucht – und beantwortet sie positiv.« Liliane Weissberg: Der Staat und die Dichter. Hannah Arendts Reflexionen über eine verborgene Tradition. In: Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden: Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern (Hg. Kotowski, Elke-Vera): Berlin, 2005, S. 113-114. 56 | Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition (1944). In: Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt /  M ain, 2000, S. 50-79, hier S. 79. 57 | Vgl. ebenda, S. 70.

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weigert sich ihm. K. will, was allen Menschen gemeinsam ist: »Wollte man ihn beschreiben, so könnte man schwerlich mehr sagen, als dass er ein Mensch guten Willens ist. Denn er verlangt niemals mehr, als was jedem Menschen als sein Recht zusteht, und er ist niemals geneigt, sich mit weniger zufrieden zu geben.«58 Doch für Arendt bildet Kafkas Prosa weit mehr als eine Traditionslinie der jüdischen Geschichte. Sie sieht in ihm den Vertreter einer radikal visionären Literatur, die es bis dahin noch nicht gegeben hat. Kafka schaffe eine eigenschaftslose Abstraktheit, eine Konstruktion von Modellen, einen Grundriss der Welt. Er sei nur in begrenztem Maß ein Zeitgenosse, da er von einem Standpunkt schreibe, der in einer fernen Zukunft angesiedelt sei, in einer Welt, die ›noch nicht‹ ist: »Das schafft, wenn wir sein Werk lesen und diskutieren, zwischen ihm und uns eine Distanz, einen Abstand, der auch dann nicht kleiner wird, wenn wir begreifen, dass seine Kunst Ausdruck einer zukünftigen Welt ist, die auch unsere Zukunft ist – falls wir überhaupt eine Zukunft haben.«59 Wahrhaftigkeit entsteht, wenn Mechanismen und geheime Strukturen bloßgelegt werden, die allgemein erkennbar sind: »Aus diesem von der Wirklichkeit her konstruierten Grundriss, dessen Auffindung natürlich sehr viel eher das Ergebnis eines Denkprozesses als einer Sinneserfahrung ist, baut Kafka seine Modelle. Zu ihrem Verständnis bedarf der Leser der Einbildungskraft, die am Werke war, als sie entstanden, und er kann dies Verständnis aus der Einbildungskraft her leisten, weil es sich hier nicht um freie Phantasie, sondern um Resultate des Denkens selbst handelt, die also Elemente für die Kafka’sche Konstruktion werden.«60 Der Leser ist nicht passiv, keine Identifikation ermöglicht Erlösung, keine Suche nach einer Ersatzwelt führt zur Unterhaltung oder zur Belehrung: »Nur der Leser, der aus welchen Gründen und in welcher Unbestimmtheit auch immer selbst auf der Suche nach Wahrheit ist, wird mit Kafka und seinen Modellen etwas anzufangen wissen, und er wird dankbar sein, wenn manchmal auf einer einzigen Seite oder sogar in einem einzigen Satz plötzlich die nackte Struktur ganz banaler Ereignisse sichtbar wird.«61 Die Modellhaftigkeit in Kafkas Romanen wie Parabeln wird durch unterschiedlichen stilistischen und personalen Gebrauch hervorgebracht: • Die Sprache: ein völlig reduzierter Stil bis zur Stillosigkeit; keine Experimente und Manierismen; Sprache als reine Mitteilung: »Seine Sprache ist klar und einfach wie die Sprache des Alltags, nur gereinigt von Nachlässigkeit und Jargon. Zu der unendlichen Vielfalt möglicher Sprachstile verhält sich das Kafka’sche Deutsch wie Wasser sich verhält zu der unendlichen Vielfalt mög-

58 | Ebenda, S. 73. 59 | Ebenda, S. 170. 60 | Arendt, Hannah: Franz Kafka, von neuem gewürdigt (1944). In: ebenda, S. 95-116, hier S. 109. 61 | Ebenda, S. 110.

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licher Getränke.« Und: »Das Resultat ist eine neue Art von Vollkommenheit, die von allen Stilen der Vergangenheit gleich weit entfernt ist.«62 • Die Figuren: Sie sind eigenschaftslos; die Helden haben keine Namen, sondern nur Anfangsbuchstaben; sie besitzen keine einmaligen Charaktereigenschaften; sie haben keine Rolle in einer geschlossen gefügten Gesellschaft, in der die anderen jedoch fest situiert sind: »Die Menschen, unter denen sich die Kafkaschen Helden bewegen, haben keine psychologischen Eigenschaften, weil sie außerhalb ihrer Rollen, außerhalb ihrer Stellungen und Berufe gar nicht existieren; und seine Helden haben keine psychologisch definierbaren Eigenschaften, weil sie von ihrem jeweiligen Vorhaben – dem Gewinn eines Prozesses, der Erreichung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und so weiter – vollkommen bis zum Rand ihrer Seele ausgefüllt sind.«63 Das bewirkt, dass der Leser sich zwar nicht mit ihnen, aber mit ihrem Anliegen identifiziert: »Und da diese Kafkaschen Helden nicht wirkliche Personen sind, mit denen es hybrid wäre, sich zu identifizieren, da sie nur Modelle sind und belassen in Anonymität, auch wenn sie beim Namen genannt werden, scheint es uns, als sei jeder von uns angerufen und aufgerufen. Denn dieser, der guten Willens ist, kann irgendeiner sein und jedermann, vielleicht sogar du und ich.«64 Hannah Arendt wurde selbst 1940 im südfranzösischen Lager Gurs interniert. Inwieweit Kafkas Prosa ihre eigenen Erfahrungen widerspiegelt, zeigt sich an einer frühen Ausgabe der Straf kolonie, die sie während der Emigration von Deutschland nach Amerika retten konnte: »Kafkas Welt ist zweifellos eine furchtbare Welt. Dass sie mehr als ein Alptraum ist, dass sie vielmehr strukturell der Wirklichkeit, die wir zu erleben gezwungen wurden, unheimlich adäquat ist, wissen wir heute vermutlich besser als vor zwanzig Jahren. Das Großartige dieser Kunst liegt darin beschlossen, dass sie heute noch so erschütternd wirken kann wie damals, dass der Schrecken der Straf kolonie durch die Realität der Gaskammern nichts an Unmittelbarkeit eingebüßt hat.«65 Anfang der vierziger Jahre sollte Hannah Arendt einige Parabeln schreiben, in denen sie Kafkas Stil imitiert:66 In Die Tür versucht sie, das unsagbare Grauen modellhaft wiederzugeben und sich dabei die Frage stellt, ob man ihn betreten solle. Mit dem Kopf durch die Wand zeigt den Weg der Rebellion – zu Beginn lässt eine elastische Wand den Kopf hin- und zurückschnellen, bis die Wand immer wei62 | Ebenda, S. 95 f. 63 | Ebenda, S. 107. 64 | Ebenda, S. 115. 65 | Ebenda, S. 104. 66 | Vgl. Arendt, Hannah: Parabeln. Mit dem Kopf durch die Wand, Die Tür, Der Stein der vom Herzen fällt. In: LOC: Speeches and Writings-File: Box 84: Miscellany / F older: Notebooks, Vol. II, 1942-1950: Parabeln nd., ohne Blattnummern.

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ter versteinert. In Der Stein, der vom Herzen fällt fällt ein Stein immer wieder vom Herzen und rollt wieder hinauf, so dass es zu keiner Erlösung kommt. Arendt notiert am Ende der Parabel die paradoxe Bemerkung: »Das Herz ist ein komisches Organ; erst wenn es gebrochen ist, schlägt es seinen eigenen Ton; wenn es nicht bricht, versteint es. Der Stein, der vom Herzen fällt, ist fast immer der, in welchen sich das Herz fast verwandelt hätte.«67 Arendts Engagement für Kafka ging über ihre intensive Rezeption seiner Werke hinaus. Sie setzte sich als Vermittlerin ein, machte Kafka publik. Als sie Ende der 1940er-Jahre als Lektorin für den Schocken-Verlag arbeitete, gab sie gemeinsam mit Max Brod Kafkas Tagebücher heraus, es war ihr größtes editorisches Projekt.68 Sie lektorierte Brods Edition der Tagebücher auf Deutsch: »Kafkas Freund, Max Brod, hatte die Tagebücher für die Veröffentlichung vorbereitet, aber seine Arbeit war sehr schlampig, und jede Seite musste mit dem Originalmanuskript verglichen werden. Obwohl die Arbeit an Kafka mühselig war, machte sie Arendt Spaß.«69 Und sie kümmerte sich gemeinsam mit einem professionellen Übersetzer um die englische Übertragung des zweiten Tagebuchs. Im Anschluss suchte sie berufsmäßige Rezensenten für das Manuskript. In einem Brief an Professor Barzun, der für das Harper’s Magazine arbeitete, verglich sie Kafkas Tagebuch mit dem Skizzenbuch von Leonardo da Vinci: Es gebe »einen sofortigen Eindruck in den Arbeitsraum der Kunst, wie man es selten bei einem Schriftsteller finde.« 70 Bei Lionel Trilling wirbt sie am gleichen Tag mit einem ähnlichen Kommentar,

67 | Ebenda. 68 | Vgl. Brod, Max: The diaries of Franz Kafka, Bd. 1 1910-1914 (Übersetzung von Joseph Kresh), Bd. 2 1914-1923 (Übersetzung von Martin Greenberg in Kooperation mit Hannah Arendt), New York, 1948. 69 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 271. Vgl. das Kapitel von Knott, Marie Luise: Franz Kafka. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Hahn, Barbara /  K nott, Marie Luise). Berlin, 2007, S. 29-32. | Sie entnimmt aus Arendts Arbeitsordner des Kafka-Archivs im Verlag Schocken in New York, dass Arendts Beaufsichtigung der englischen Übersetzung von Kafkas Tagebüchern vollständiger war als das deutsche Original. Ohne Max Brod etwas zu sagen, übernahm sie Passagen aus den Originaltagebüchern, die dieser weggelassen hatte. Des Weiteren dachte Schocken an eine mögliche Publikation eines Briefwechsels zwischen Kafka und Milena Jesenská, die damals nicht zustande kam. Vgl. zusätzlich auch DLA: Nachlass A: Haas, Willy: Arendt an Haas, 1947, New York, 3 Br., 4 Bl., Kopie 3995.8 / 1-3. Arendt bittet Willy Haas, ihr Kopien von Kafka-Briefen zuzusenden. 70 | Columbia University, Butler Library, Ms. Coll. Jacques Barzun: Correspondence 19471973: Folder 1, Arendt an Barzun, 24.3.1948 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »It gives an immediate glimpse into the very workroom of art as one rarely gets from a writer, making it similar to the sketch books of Leonardo da Vinci.« Ohne Blattnummer.

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dass Kafkas Tagebücher mehr über den kreativen Prozess aussagen würden als irgendein anderes literarisches Dokument ihrer Kenntnis.71 Im privaten Kreis äußerte sie sich mehrfach über ihr Projekt. An Hermann Broch schickte sie im Dezember 1946 zwei Seiten aus Kafkas Tagebuch, die Brod aus Gründen der Diskretion ausschließen wollte. Sie bat Broch um seine Meinung, ob man die Passagen doch drucken solle, indem man die Personennamen ausspare.72 Im gleichen Monat schickte sie ihm die Übersetzung des ersten Tagebuches zu sowie die Übersetzung von Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin, oder Das Volk der Mäuse.73 Auch mit dem amerikanischen Literaturkritiker Alfred Kazin tauschte sie sich aus. Kazin hatte einen Artikel über Kafka verfasst. Sie korrigiert ihn: Kafka sei nicht Tscheche, sondern deutscher Jude gewesen: »Ein kleines Detail: Warum, um Himmels willen, denken Sie, dass er ein ›tschechisches Genie‹ war. Die Fakten sind: geboren als Jude in Prag, er schrieb niemals ein Wort in tschechischer Sprache, aber, wie Sie wissen, immer in Deutsch.« 74 Und auch Jaspers band sie in ihre Kafka-Begeisterung ein, als sie Blücher bat, Jaspers die Schocken-Auswahl der Kafka’schen Parabeln zu schicken. Dem Brief kann man entnehmen, dass sie an dieser Edition auch beteiligt gewesen sein muss: »Lass doch an Jaspers auch noch die Parabeln, wie wir sie auswählten in der SchockenBücherei, mitgehen.« 75 Schließlich bildeten Kafkas Parabeln wichtige Denkanstöße, die sie gedanklich in mehreren ihrer Essays ausführte. In Band 5 der Gesamtausgabe Kafkas, in der Novellen, Skizzen und Aphorismen aus dem Nachlass zusammengefasst sind, hat Hannah Arendt die Texte Beschreibungen eines Kampfes und Er annotiert. In der Parabel Er entwickelt Kafka einen Zeitbegriff, den sie in ihrem Vorwort zu Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft und später nochmals im ersten Teil von Das Leben des Geistes, Das Denken weiterentwickeln sollte. Kurz gefasst beschreibt Kafka die Stellung des Menschen zwischen zwei Kräften, zwischen Vergangenheit und Zukunft, die sich gegenseitig bekämpfen. Arendt entwickelt aus diesem Kampf eine dritte Kraft: Der Mensch befindet sich in einer Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, in der Gegenwart. Die Gegenwart bewirkt beim Denken eine dritte Kraft, die sich in einer Diagonale außerhalb von Vergangenheit und 71 | Vgl. Columbia University, Butler Library, Ms Coll. Lionel Trilling, Folder 2, Arendt an Trilling, 24.3.1948 Originaltext: »One can gather more about the process of creative writing from these pages than from any other literary document I know of.« Ohne Blattnummer. 72 | Vgl. Broch-Briefwechsel: Brief 9: Arendt an Broch, 20.12.1946, S. 26. 73 | Vgl. ebenda, Brief 8: Arendt an Broch, 9.12.1946, S. 25. 74 | Public Library New York, Berg Collection: Alfred Kazin-Papers: Correspondence 19471971: Arendt, Hannah, Folder 1, Blatt 8250145, Arendt an Kazin, 10.4.1947 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »One little detail: Why, for Heaven’s sake, do you think that this was a ›Czech genius ‹? The facts are: born in Prague as a jew, he never wrote a word in czech language, but, as you know, always in german.« 75 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Basel, 28.12.1949, S. 187.

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Zukunft fortbewegt, in einem Bereich der Zeitlosigkeit.76 Hier definiert sie einen neuartigen Zeitbegriff. So ist es naheliegend, dass sie sich gerade um Heideggers Meinung zur Kafka’schen Parabel sorgte. Sie fügte einem Brief an ihn eine Abschrift der Parabel hinzu, mit den Worten: »Ich lege Dir einen Aphorismus von Kafka bei, an den ich dachte, als Du das Raum- und Zeitfreie erwähntest und dann wieder in dem Kant-Text, in den ersten Absätzen über Zukunft als das, was ›im Kommen ist‹ und ›uns erreicht‹. Denn die beiden Gegner der Kafkaschen Parabel sind doch sicher Vergangenheit und Zukunft.« 77 Heidegger geht in seiner Antwort mit folgender Begründung nicht auf Kafka ein: Ihm gehe es nicht um das »Zeitund Raumfreie«, »sondern um das, was Raum und Zeit – dem Zeit-Raum als solchem gewährt und dabei gerade nicht das Überzeitliche und Außerräumliche ist.« 78 Er zieht auch keine Verbindungslinie zu Denkprozessen und Erinnerungen. Wohl etwas enttäuscht, antwortet Arendt ihm ausweichend: »Den Kafka-Text schicke ich nur wegen des Zukunftsbegriffes – die Zukunft kommt auf uns zu. Der letzte Satz – mit dem Entspringen – fällt natürlich ganz in die Tradition zurück.« 79 »Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine; aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.« 80

Diesen Aphorismus Kafkas setzte Hannah Arendt über ihren Essay Verstehen und Politik. Wieder verarbeitet Hannah Arendt hier indirekt ein Zeitkonzept: Es gibt zwar nur eine Wahrheit, eine Tatsache, aber diese nimmt erstens im Verlauf der Zeit, zweitens aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Formen an: Das Verstehen »ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt, durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.« 81 Zum Konzept der Wahrheit findet sich ein zusätzlicher Eintrag Hannah Arendts, wieder unter Anwendung einer Kafka’schen Beobachtung. Wahrheit bleibt etwas Beständiges, der Wirklichkeit Verhaftetes, auch wenn diese sich unter einer anderen Perspektive wandelt. Lüge dagegen beruht auf Notwendigkeit: »Kafka – im ›Prozess‹ – Du 76 | Vgl. Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger, erster Teil, 2.2, S. 92. 77 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 97: Arendt an Heidegger, 24.9.1967, S. 159. 78 | Ebenda, Brief 99: Heidegger an Arendt, 30.10.1967, S. 162. 79 | Ebenda, Brief 100: Arendt an Heidegger, New York, 27.11.1967, S. 163. 80 | Eingangsmotto von Franz Kafka aus Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 110. Sie bezieht sich auf: Kafka, Franz: Briefe an Milena. In: Kafka, Franz: Gesammelte Werke (Hg. Brod, Max), Frankfurt /  M ain, 1952, S. 72. 81 | Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 110-127, hier S. 110.

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brauchst es nicht für wahr zu halten, nur einzusehen, dass es notwendig ist. Darauf Kafka: Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht. Im Sinne der traditionell verankerten, herkömmlichen Meinung ist das, was notwendig ist, auch wahr. Also schlägt Kafkas Bemerkung der gesamten Tradition ins Gesicht.« 82 Schließlich begleitete Kafka Arendt nicht nur als hervorragender Analyst der jüdischen Situation, als Vorläufer der literarischen Moderne, als kreatives Vorbild für die Produktion eigener Parabeln, als Denkanreger zu Phänomenen wie Zeit und Wahrheit, sondern auch einfach nur als zitierbarer Freund. Während ihrer Reise durch den Westen Amerikas kommen ihr neben Reminiszenzen von Goethe-Gedichten auch solche in den Sinn, die sich an Kafkas abstrakte Beschreibungen lehnen: »Als ob man Zeuge der Schöpfung würde, wie sich aus den unendlichen Ebenen des ungegliedert Flachen die ungeheuren Berge der Rocky Mountains jäh erheben, ohne allen Übergang, wie das allerunbegreiflichste Felsengestein von Kafka. Absurd und auch erhaben, aber ganz und gar unmenschlich.« 83

1.5 R ainer M aria R ilke »›Erde du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte Nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen –, einer, ach ein einziger ist schon dem Blute zu viel. Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her. Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall Ist der vertrauliche Tod.‹

Du siehst, es geht mir wirklich gut. Nur das eine schreckt mich zuweilen, die unantastbare Sicherheit meines Lebens. Aber das wird anders.« 84 Die frühesten Zeugnisse für Hannah Arendts Rilke-Begeisterung finden sich in ihrem Briefwechsel mit Erwin Loewenson Ende der 1920er Jahre. Einer kurzen Liebesaffäre im Jahr 1927 folgte eine innige Freundschaft, die bis zu seinem Tod andauern sollte.85 Ihre frühen Briefe an Loewenson zitieren ausführlich und kontinuierlich Rilkes Duineser Elegien, da sie Arendts Seelenverfassung zu diesem Zeitpunkt widerspiegeln. Loewenson selbst war eher den expressionistischen Lyrikern zuge82 | Denktagebuch: Heft 25: November 1967, Eintrag 30, S. 672. (Unterstreichung von Arendt). Arendt bezieht sich auf: Kafka, Franz: Der Prozess. In: Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe: Kritische Ausgabe (Hg. Born, Jürgen), Frankfurt / M ain, 1990, S. 303. 83 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Berkeley, 4.2.1955, S. 331. 84 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah, Arendt an Loewenson, Erwin, nd. (wohl zwischen 17.10.1927 und 3.12.1927), 9. Elegie Rilkes. 85 | Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Arendt, Hannah: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 114.

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neigt, so dass Rilke – wie sie betont – ganz ihre eigene Entdeckung war: »Und last, but not least, lasse auch mich antworten mit einer Stelle der Duineser Elegien, die ich fast ›zufällig‹ geschenkt bekam, von einem gleichgültigen Menschen, so dass sie durch nichts feststehn, im Augenblick ganz mein Buch sind.«86 Diese 9. Elegie Rilkes, die sie als junges Mädchen gegenüber Loewenson zitiert, kehrt in der Mitte und am Ende ihres Lebens in Variationen wieder. In der deutschen Ausgabe der Vita Activa von 1967 benutzt sie den transzendentalen SchlussVers »und dein heiliger Einfall / Ist der vertrauliche Tod«, um die Furchtlosigkeit der Menschen des Alten Testaments vor dem Tod darzulegen.87 Anfang der 1970er Jahre zitiert sie die ganze 9. Elegie in Vom Leben des Geistes, lässt aber den letzten Vers fort.88 Wie an ihrer Rezeption Goethes ersichtlich, schließt sich auch hier zeitlich ein Kreis von Jugend über Reife bis hin zum Alter. Ihr ausführlicher Essay schließlich über Rilkes Duineser Elegien, den sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann Günther Anders 1930 verfasst hat, gibt Aufschluss über Hannah Arendts Verhältnis zu einer transzendentalen Vorstellung, die nicht religiös gebunden ist. Die Elegien waren in den 1920er-Jahren wenig bekannt. Hannah Arendt unterscheidet zwischen religiös bestimmter Dichtung, die aber kein religiöses Dokument sei. Es finde eine »eingestandene Echolosigkeit« statt, Gott antworte nicht, es gebe keinen Beweis für ihn, dennoch kreisen die Elegien um religiöses Gefühl: »Dass die eigentlich religiöse Kategorie in völliger Unbestimmtheit belassen wird, bedeutet eine Rückbesinnung auf das Religiöse. Die Macht Gottes wird zwar verspürt, aber wer und wo der Mächtige sei, verbleibt in der eine Antwort nicht mehr erhoffenden Frage.«89 Gott bleibe unerreichbar, und die Elegien stellen einen vergeblichen Versuch der Annäherung dar: »Denn die Untreff barkeit Gottes ist für sie nicht Beweis seiner Nichtexistenz, sondern wird zu einer ausdrücklichen und in ihrer Negativität immer wieder erfahrenen Ferne Gottes, damit zum religiösen Faktum.«90 So grenzt sie die Elegien von Werken mit religiösem Inhalt ab. Bei den Elegien handele es sich weder um eine »unverbindliche Ausbeutung religiösen Gutes«, noch um »eine Befriedigung religiöser Bedürfnisse durch Surrogate«.91 Die Frage nach Gott jedoch bestehe objektiv. So 86 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Arendt an Loewenson, 27.09.1927. Im Anschluß folgt die 10. Elegie, im darauf folgenden Brief vom 2.10.1927 die 3. Elegie und im Brief danach vom 17.10.1927 die 8. Elegie (Unterstreichung von Arendt). 87 | Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa, (1958), München, 2001, S. 126. 88 | Arendt, Hannah: Leben des Geistes (Anfang der 1970er-Jahre), München,1998, S. 413. Vgl. auch S. 326. 89  |  Arendt, Hannah  /  S tern, Günther: Rilkes Duineser Elegien in: Neue Schweizer Rundschau: Wesen und Leben, Bd. 23, 1930, H. 11, hier S. 856. 90 | Ebenda, S. 870. 91 | Ebenda, S. 870. | Sie weist daher auch die Feststellung, Rilke sei Mystiker, vehement zurück. In einer Rezension zu Rilkes Umarbeitungen von Hans Wilhem Hagen schreibt sie: »Es ist für einen unbefangenen Leser ebenso schwer einzusehen, was, gerade vom psycho-

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synthetisiert sie die Elegien als eine Darstellung der Gott- und Weltverlassenheit, die der Dichtung gleichzeitig einen religiösen wie nihilistischen Charakter gebe; es handle sich um positiven Nihilismus – nicht Gottlosigkeit, sondern Gottverlassenheit sei das Thema: »Auch hier hängt zwar das menschliche Leben in der Luft, aber nicht deshalb, weil es keinen Gott mehr gibt, sondern weil der Mensch von ihm abgewiesen und verlassen ist.«92 Die Form der Elegie nutze Rilke daher nicht zum Ausdruck der Klage, sondern der Verlorenheit. Im Verlaufe ihrer Abhandlung zählt Arendt verschiedene Aspekte dieser von Rilke in seinen Elegien demonstrierten Verlorenheit auf:93 • In der religiösen Welt spiele Akustik eine Rolle, da das Hören das adäquate Mittel sei, um Transzendentales zu erfahren. • Der Übergang zum Tod finde über eine »Lücke« statt, die der Sterbende im Kreis der Lebenden hinterlasse. Der Übergang selbst entspreche einem Hinaufsteigen zu einem höheren Rang. Vergänglichkeit existiere nicht nur im Tod, sondern während des Lebens selbst. • Dichtung habe die Fähigkeit, Unsichtbares in Sichtbares zu verwandeln. Rühmen, Retten und Werben um Gott sei notwendig. Die Ausnahmesituation des Dichters definiere sich durch Schicksalshaftigkeit, er müsse sich mit diesem unwiderruflichen Provisorium abfinden. Die Antwortlosigkeit Gottes schlage in der Dichtung in Positives um, Schönheit entstehe. • Die Menschen in der Welt werden nach ihrer Stellung zur Zeitlichkeit gesehen, so dass bei Rilke eine Definition des Daseins stattfinde, die entsubstantialisiere und entobjektiviere und in der die Personen – sei es Tier, Held, Sterbender, Kind, Liebender  – in einer gegensatzfreien Gegenwart lebten. Weltentfremdung wird ansonsten für den Erwachsenen  – im Unterschied zum Tier und zum Kind – negativ als Abgewiesenheit bestimmt. • Nur in der Liebe sei es möglich, in die oberen Schichten der kosmologisch-hierarchischen Weltbezüge zu gelangen. Für die drei Protagonisten der Liebe – die Liebende, die ihre Individualität aufgibt und durch ihre Verlassenheit eine Möglichkeit findet, Gott inne zu werden; der Liebende, der zu seinem eigenen Ursprung hinabsteigt; und der beobachtende Dritte, der die Möglichkeit der logischen Blickpunkt betrachtet, Umarbeitungen bedeuten sollen, wenn nicht Symptome einer Entwicklung, wie was der Verfasser unter einem Mystiker versteht. Das Wort kehrt zwar immer wieder, aber trotz dieser Wiederholungen wird dem Leser nichts anderes klar, als dass Hagen Rilke für einen Mystiker hält: ›Rilke ist eben von Grund auf Mystiker‹ meint Hagen und hofft, der ›gebildete Leser‹ wird sich darunter schon irgendwas denken können.« In: Arendt, Hannah: Hans Wilhelm Hagen: Rilkes Umarbeitungen in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 28, H. 1, 1934, S. 111-112, hier S. 112. 92  |  Arendt, Hannah  / S tern, Günther: Rilkes Duineser Elegien in: Neue Schweizer Rundschau: Wesen und Leben, Bd. 23, 1930, H. 11, S. 855-871, hier S. 871. 93 | Vgl. ebenda, S. 857-868.

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reinen Dauer kennt – paralysiere sich die Vergänglichkeit, weil es nur in der Liebe keine Weltfixiertheit gebe. Insgesamt war Hannah Arendt zuvorderst von den späten Gedichten Rilkes eingenommen, denn sie bezieht sich wiederholt mehr auf seine Gedankenlyrik als auf seine Dinggedichte der frühen Phase. Allerdings hat sie selbst ein Dinggedicht verfasst. Die Untergrundbahn ist im Winter 1923 entstanden: »Die Untergrundbahn Aus Dunkel kommend, Ins Helle sich schlängelnd, Schnell und vermessen, Schmal und besessen Von menschlichen Kräften, Aufmerksam webend Gezeichnete Wege, Gleichgültig schwebend Über dem Hasten, Schnell schmal und besessen Von menschlichen Kräften, Die es nicht achtet, Ins Dunkle fliessend Um Oberes wissend Fliegt es sich windend Ein gelbes Tier.« 94

Hannah Arendts lyrischer Austausch mit Martin Heidegger in den 1950er-Jahren äußert sich nicht nur über Hölderlins Gedichte, sondern auch über Verse Rilkes. Martin Heidegger zitiert frei nach ihrer Begegnung im März 1950 Zeilen von Hölderlin und von Rilke: »Wenn ich von ›schön‹ sprach, dann dachte ich an Rilkes Wort, dass das Schöne nichts sei als des Schrecklichen Anfang, dachte an Hölderlins Gedanken, dass das Schöne die äußerst Entgegengesetzten ins Innige zu einen vermöge. Wer reicht in die Tiefe des Schönen, wer anders als die Liebenden?«95 Anfang April 1951 legt er ihr neben seinen eigenen Gedichten zwei Gedichte Rilkes bei, Magie und Nachthimmel und Sternenfall.96 Das Gedicht Magie

94 | Arendt, Hannah: Die Untergrundbahn. In: Gedichte, S. 13. 95 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 55: Heidegger an Arendt, 19.3.1950, S. 90. 96 | Vgl. ebenda, Brief 73: Heidegger an Arendt, 1. /  2.4.1951, S. 302. Handschriftliche Abschrift der Gedichte. Vgl: Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd.  2, Frankfurt  /  M ain, 1956, S. 174 f.

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interpretiert sie allerdings nicht privat als Metapher ihrer Wiederbegegnung mit Heidegger, sondern als Ausdruck für die Verwandlungsfähigkeit durch Kunst.97 Eine besondere Bedeutung für Hannah Arendt hatte Rilkes Gedicht Taube, die draußen blieb. Am 14. Juli 1951 kommt Heidegger indirekt darauf zu sprechen. In seiner Abschiedszeile erwähnt er nur den letzten Vers: »Ja und das Heimgewicht des Balles …«98 Wie ihrem Denktagebuch zu entnehmen ist, hatte Arendt das Gedicht bereits im Mai 1951 abgeschrieben: »Aus Rilkes letztem Gedicht: ›Wiedererholtes Herz ist das bewohnteste: freier durch Widerruf freut sich die Fähigkeit. Über dem Nirgendssein spannt sich das Überall! Ach der geworfene ach der gewagte Ball, Füllt er die Hände nicht anders mit Wiederkehr: Rein um sein Heimgewicht ist er mehr.‹« 99

Aus dem gleichen Gedicht zitiert sie 1952 in einem Brief an Blücher einen Vers, um ihren glücklichen Aufenthalt bei Jaspers zu preisen: »Dies sind unvergessliche Tage, in jeder, oft kaum bemerkbaren, Einzelheit. Ich kann nur wiederholen, was ich immer denke, wenn Jaspers mich richtig hernimmt – ›freier durch Widerruf / freut sich die Fähigkeit‹.«100 Und etwa zehn Jahre später tauscht sie sich mit dem amerikanischen Lyriker Robert Lowell darüber aus. Er ließ ihr davon eine ins Englische übertragene Version zukommen. Selbst Dichter, übersetzte er nicht wörtlich, sondern interpretierte: »Hier ist der Rilke, fast nicht wiederzuerkennen und wirklich mehr meine Antwort oder Ausweitung als eine Übersetzung. Stanze 3, welche ich hinzugefügt habe, ist etwas, was ich schreiben wollte, seit ich zum ersten Mal als kleiner Junge Militärgeschichte las – und besonders diesen Winter über: 97 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1.3 Ziel der Dichtung: Unvergänglichkeit, S. 221. | Und Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 63 und S. 202. 98 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 74: Heidegger an Arendt, Freiburg, 14.7.1951, S. 129. | Rilke, Rainer Maria: Dreizehnte Antwort. Für Erika Mitterer zum Feste der Rühmung. In: Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt /  M ain, 1956, S. 318 f. 99 | Denktagebuch: Heft 4: Mai 1951, Eintrag 10, S. 90. | Vgl. auch Hahn, Barbara  /  K nott Marie-Luise: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Berlin, 2007, insbesondere das Kapitel Rainer Maria Rilke – Zitieren, S. 67-73. 100 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Sankt Moritz, 7.8.1952, S. 324.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung ›Over being nowhere arches the all-being – thence the ball thrown almost beyond bounds stings our hands with the momentum of its drop – body and gravity miraculously multiplied by its mania to return.‹«101

Das letzte Gedicht Rilkes, das rekurrierend in ihrer Rezeption auftaucht, ist Bergen ruhn …, das sowohl in ihrem Denktagebuch102 als auch in ihrem Essay Natur und Geschichte 103 zu finden ist. Arendts spätere Narrationstheorie104 kommt hier bereits in Ansätzen zur Sprache: »Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; aber auch in ihnen flimmert Zeit. Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit.«

Dauerhaftigkeit besteht nicht in materiellen Dingen, sie sind vergänglich. Dauerhaftigkeit ist nur in der Erinnerung möglich und kann durch ihre verdichtete Form in der Lyrik Unvergänglichkeit hinterlassen. Arendt kommt hier noch nicht auf die dichterische Materialisierung zu sprechen, aber auf den kreativen Prozess der Erinnerung, der dahin führt: »Unvergänglichkeit jedenfalls ist aus der den Menschen umgebenden Welt wie aus der die Welt umgebenden Natur verschwunden; dafür hat sie ein unsicheres Obdach für die Nacht im Dunkel des menschlichen Herzens gefunden, das ja immer noch die Fähigkeit hat, sich zu erinnern und zu sagen: für immer. Was also das Vergänglichste war, die Sterblichen, ist die letzte Zuflucht der Unvergänglichkeit geworden.«105

101 | LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box13 / F older: Lowell, Robert, 1960-1974, nd., Lowell an Arendt, 9.1.1961, Blatt 008348 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »Here’s the Rilke, almost unrecognisable, and really more my reply or extension than a translation. Stanza 3 which I added is something I have wanted to write since I first read military history as a small boy – and especially somehow all this winter.« Gedicht, Blatt 008352. 102 | Vgl. Denktagebuch: Heft 13: März 1953, Eintrag 38, S. 315. In: Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt /  M ain, 1956, S. 123. Letzte Strophe des Gedichts: Aus dem Nachlass des Grafen C.W. 103 | Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 76. 104 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1 Narration als Erzeugnis der Unvergänglichkeit, S. 208. 105 | Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 77.

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1.6 B ertolt B recht In ihren verschiedenen Essays über ihn betont Hannah Arendt ausdrücklich die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, das soziale Engagement und die menschenwürdigen Werte, die der junge Bertolt Brecht in seinem Frühwerk zum Ausdruck gebracht hat. Im Berlin zu Beginn der 1930er-Jahre mag sie Brecht über ihren ersten Ehemann Günther Anders möglicherweise persönlich kennengelernt haben; schriftliche Zeugnisse gibt es jedoch keine. Indirekt wurde sie allerdings von Walter Benjamin über Brechts Entwicklung auf dem Laufenden gehalten, der mit Brecht während seiner Pariser Jahre der Emigration in engem Kontakt stand. Brechts Mentalität, die sich in seiner Lyrik und seinen Dramen widerspiegelt, ähnelt derjenigen ihres zweiten Ehemannes Heinrich Blücher: satirischer Ausdruck, Freude an scharfem, auch frivolem Humor. Kurz nach ihrer Bekanntschaft mit Blücher 1936 schickt sie ihm aus Genf einige Zeilen aus Brechts Ballade von den Seeräubern zu: »›Winkend mit der kleinen Zeh O Himmel strahlender Azur Enormer Wind die Segel bläht. Lass Wind und Wellen fahren, nur Lasst uns um Sankt Marie die See.‹

(Dies ist gleichzeitig ein Bekehrungsversuch zu Brecht.)«106 Der humorvolle antibourgeoise, wie auch nüchterne Tonfall des Paares Blücher-Arendt kennzeichnet dauerhaft ihre Beziehung. Während einer Deutschlandreise zitiert Arendt ihrem Mann Liedzeilen aus der Dreigroschenoper: »Seit Montag kann ich nur singen: Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.«107 Und Arendt literarisiert Blücher nach seinem Tod nicht nur durch Verse Hölderlins, sondern auch durch Zeilen Brechts in einem Denktagebuch-Eintrag:

106 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Genf, 8.8.1936, S. 39. Arendt zitiert Brechts 5. Strophe der Ballade der Seeräuber aus: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt / M ain, 2003, S. 227. | Das Gedicht lautet vollständig: »Und die die übrig bleiben, lachen / Und winken mit der kleinen Zeh: / Oh Himmel strahlender Azur! / Enormer Wind, die Segel bläh! / Lasst Wind und Himmel fahren! Nur / Lasst uns um Sankt Marie die See!« 107 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Hamburg, 9.12.1955, S. 437. Das Zitat stammt aus dem Lied aus der Dreigroschenoper: Die Ballade vom angenehmen Leben. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt /  M ain, 2003, S. 1109.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung »Einer zog aus mit dem, was ihm zu eigen, Mit Erde und Pferd, mit Langmut und Schweigen. Dann kamen noch Himmel und Geier dazu.«108

Brechts Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Lao-Tse in die Emigration galt den Arendt-Blüchers als Talisman während ihrer Emigrationszeit: Sinnbild für politischen, aber gewaltfreien Widerstand. »Doch am vierten Tage im Felsgesteine Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt: ›Kostbarkeiten zu verzollen?‹ – ›Keine.‹ Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: ›Er hat gelehrt.‹ Und so war auch das geklärt. Doch der Mann in einer heitren Regung Fragte noch: ›Hat er was rausgekriegt?‹ Sprach der Knabe: ›Daß das weiche Wasser in Bewegung Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt Du verstehst, das Harte unterliegt.‹«109

Das Gedicht gehört zum Zyklus der Svendborger Gedichte. Arendt hörte es 1940 zum ersten Mal von Walter Benjamin, der das unpublizierte Poem von seinem Aufenthalt bei Brecht in Dänemark nach Paris mitgebracht hatte. Laut Elisabeth Young-Bruehl lernte Arendt es auswendig. Blücher nahm ein Exemplar in das Lager Villemalard mit, als ihn die französische Regierung gemeinsam mit anderen Flüchtlingen internierte. Diejenigen Mitinsassen, die das Gedicht lasen und verstanden, wurden als potentielle Freunde erkannt. Es zeigte große Wirkung: »Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gedicht in den Lagern, wurde von Mund zu Mund gereicht, wie eine frohe Botschaft, die, weiß Gott, nirgends dringender benötigt wurde als auf diesen Strohsäcken der Hoffnungslosigkeit.«110 Für Arendt gehörte das Gedicht »zu den stillsten und tröstlichsten Gedichten unseres Jahrhunderts«, da es Ausdruck von »Weisheit der Gewaltlosigkeit« sei.111 Auch sie teilte das Gedicht mit Leidensgenossen, wie Kurt Blumenfeld, der später, als die Nach108 | Denktagebuch: Heft 27: November 1970, Eintrag 86, S. 797. Arendt zitiert die 10. Strophe der Ballade von Mazeppa aus: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt  /  M ain, 2003, S. 235. 109 | Strophe 4 und 5 aus: Brecht, Bertolt: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Lao-Tse in die Emigration. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt  / M ain, 2003, S.  661. 110 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 221. 111 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier S. 277.

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richt von Brechts Tod bekannt wurde, darauf zu sprechen kommt: »Durch Dich habe ich Brecht neu kennengelernt. Als ich krank war, haben Du und Heinrich mir Brechts Ballade Lao-Tse auf seiner Reise in die Emigration aus dem Gedächtnis vorgetragen. Jedes Wort ist heute bei mir sitzen geblieben. In Deutschland las ich Deinen Essay über Brecht; ein erhellender Abschiedsgruss.«112 Wie existentiell Brechts Lyrik während der »finsteren Zeiten« für das Ehepaar Blücher war, zeigt sich an Arendts Engagement dafür, seine Gedichte im Radio lesen zu lassen, es mit Mitemigranten teilen zu wollen. Barbara Hahn und Marie Luise Knott haben in Hannah Arendts Bibliothek eine Mappe von Brecht-Gedichten entdeckt, die als Typoskriptfassung unter dem Titel Steffinsche Sammlung bekannt ist. Entstanden sind die Gedichte zwischen 1938 und 1941, also in den Jahren der Emigration. Wie dieses Dokument in Arendts Hände geraten ist – ob über Walter Benjamin, Wystan H. Auden, Paul Tillich oder schließlich Günther Anders –, ist nicht geklärt. In ihren Essays über Brecht zitiert Hannah Arendt aus eben dieser Sammlung.113 Hinweise zu diesem Manuskript gibt ein Briefwechsel mit Günther Anders aus dem Jahr 1941. Anders muss ihr geschrieben haben, dass Brecht die Emigration aus Europa gelungen sei, denn Arendt antwortet ihm, »gut dass Brecht ›gerettet‹ ist.«114 Etwas später schlägt sie Anders vor, Brecht zu bitten, dessen Gedichte im Radio vorlesen zu lassen. Sie könne einen Kontakt mit einer Hörfunkkorrespondentin herstellen, die für die deutsche Abteilung eines Kurzwellensenders arbeitete, der auch in Deutschland zu empfangen war: »Selbige bat mich nun um das Brechtsche Gedicht des Buches Tao-Te-King auf dem Weg des Lao-Tse in die Emigration von 1938 und um die Brechtsche Erlaubnis, das Gedicht lesen zu lassen. Willst Du das erledigen? […] Vielleicht würde Brecht auch zu bewegen sein, ein paar Gedichte gratis beizusteuern. Wäre eigentlich sogar dazu verpflichtet. Die Sache selber ist nicht schlecht: ohne alle parteipolitische Bindung und kein amerikanischer Regierungssender. Man muss mit Einschränkung erstklassige Sachen geben, da die Leute, die es hören, immerhin ihr Leben riskieren und daher eine wirkliche, sich selbst herstellende Elite darstellen.«115 Das Gedicht über Lao-Tse ist nicht Teil der erwähnten Steffinschen Sammlung, aber es ist symptomatisch für Arendt, dass sie es publik machen wollte. Brecht sagte jedoch einer Lesung seiner Gedichte im Hörfunk ab. Aus ihrer Reaktion klingt Gelassenheit, aber auch Enttäuschung durch. Sie schreibt an Anders: »Glaube, dass Brecht nicht zugestimmt hat, obwohl alles nicht so schlimm ist, solange er gute Gedichte machen kann. Der sitzt heute fester als je in seinen alten und ältesten Sesseln.«116 112 | Blumenfeld-Briefwechsel: Blumenfeld an Arendt, Jerusalem, 26.8.1956, S. 164. 113 | Vgl. Hahn, Barbara /  K nott, Marie Luise: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Berlin, 2007, S. 210-217. 114 | Österreichische Nationalbibliothek Wien: Nachlass Günther Stern-Anders: Arendt an Stern, 7.8.1941, ohne Blattnummer. 115 | Ebenda, Arendt an Stern, 10.9.1941, ohne Blattnummer. 116 | Ebenda, Arendt an Stern, 8.10.1941, ohne Blattnummer.

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Liedzeilen aus der Dreigroschenoper benutzt Hannah Arendt in ihren Essays in erster Linie, um auf politische Missstände aufmerksam zu machen. Möglicherweise hatte sie der Aufführung Ende der 1920er-Jahre beigewohnt, da Anders mit Brecht befreundet war und sie in Berlin lebte. Mit Bestimmtheit kann allerdings angenommen werden, dass sie die Brecht’sche Adaption des Films von Pabst gesehen hatte. Denn zwei Mal benutzt sie die Liedzeilen aus dem Schlusslied der Filmversion, die sich von der Theaterfassung unterscheidet: »Denn die einen stehn im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, Die im Dunkeln sieht man nicht.«117

In ihrem Totalitarismus-Buch erklärt sie den Einfluss der Marx’schen Theorie der Klassenkämpfe auf Schriftsteller wie Brecht, der sich Marx aus einem tiefen Gerechtigkeitsgefühl heraus zugewandt habe: »Marx’ Versuch, die Weltgeschichte in eine Geschichte von Klassenkämpfen umzudeuten, schlug auch die in seinen Bann, die an die objektive Richtigkeit der These nicht glaubten, und zwar ausschließlich deshalb, weil dieser Versuch von der Absicht geleitet war, dem aus der offiziellen Geschichtsschreibung Ausgeschlossenen einen Platz im Gedächtnis der Nachwelt zu liefern.«118 Die Ausgeschlossenen sind in diesem Sinne »die im Dunkeln«, die man nicht sieht. Dann verwendet sie das Lied in ihrem Revolutions-Buch: Der Trieb des Menschen, sich auszuzeichnen, ist neben dem Trieb der Selbsterhaltung das beim Menschen am stärksten entwickelte Streben: »Selbst wenn die Not des Elends gestillt ist, bleibt es das Unglück der Armut, dass das Leben keine Folgen in der Welt hat, keine Spur hinterlässt, dass es von dem Licht der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, in dem allein das Ausgezeichnete und Außerordentliche aufleuchten kann.«119 Auch hier scheint sie die Frage zu stellen, ob manche Menschen »im Dunklen« nicht moralische Kapazitäten besitzen, die eher im Licht der Öffentlichkeit erscheinen sollten, als jene von bekannten Persönlichkeiten, die blenden. Andere Liedzeilen aus der Dreigroschenoper verarbeitet sie in ihrem Essay über die deutsche Schuldfrage von 1946: Es geht um die Diskrepanz von Funktionären im Nationalsozialismus, die sich nur ihrer Familie gegenüber verantwortlich fühlten, ansonsten aber Massenmörder waren: »Die Verwandlung des Familien117 | Sie zitiert die Zeilen aus der Filmfassung. Vgl. Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, (Hahn, Barbara /  K nott Marie Luise), Berlin, 2006, S. 140. | Vgl. auch Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München 2001, S. 237-283, hier S. 268. 118 | Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), München, 2003, S. 713. 119 | Arendt, Hannah: Über die Revolution (1963), München, 2000, S. 86.

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vaters aus einem an den öffentlichen Angelegenheiten interessierten, verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft in den Spießer, der nur an seiner privaten Existenz hängt und öffentliche Tugend nicht kennt, ist eine moderne internationale Erscheinung. Die Nöte unserer Zeit – ›bedenkt den Hunger und die große Kälte in diesem Tale, das von Jammer schallt‹ (Brecht) – können ihn jeden Tag zum Spielball allen Wahnsinns und aller Grausamkeit machen.«120 Ein Brecht-Gedicht steht an zentraler Stelle in ihrer Gerichtsreportage Eichmann in Jerusalem: Brechts Deutschland-Gedicht von 1933 stellt sie als Motto voran. Sie setzt das Gedicht neu zusammen: Sie übernimmt die bekannte Eingangsstrophe und fügt zwei Verse aus dem Ende des Gedichts hinzu. »O Deutschland, bleiche Mutter! Wie sitzest du besudelt Unter den Völkern. Unter den Befleckten Fällst du auf. […]  Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man. Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer.«121

Die erste Strophe ist ein Sinnbild des Prozesses selbst, Deutschland besudelt unter den anderen Völkern. Arendt wurde vorgeworfen, dass sie Eichmann nicht diabolisiert, sondern als einen lächerlichen Funktionär verlacht hat. Doch indem sie die Endzeilen an das Gedicht setzt, erweist sich, dass Arendts Lachen kein zynisches Lachen ist. Ihr Lachen resultiert aus der abgehärteten Revolte gegen Eichmanns Kriminalität, der Einhalt geboten werden muss: Man möchte nach dem Messer greifen, damit er nicht noch mehr Unheil stiften kann. Als Eingangsmotto für die deutsche Fassung der Vita Activa benutzte Arendt das berühmte Brecht-Gedicht Der Choral vom Manne Baal. Sie zitiert die Anfangsund Endstrophe:

120 | Arendt, Hannah: Organisierte Schuld (1945). In: Arendt, Hannah: In der Gegenwart (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S, 35-49, hier S. 35. Zitiert nach Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper, Lied: Schlusschoral. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt  /  M ain, 2003, S. 1125. 121 | Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1964), München, 2001, S. 7. Zitiert nach Brecht, Bertolt: Deutschland. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt /  M ain, 2003, S. 487.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung »Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal War der Himmel schon so groß und still und fahl Jung und nackt und ungeheuer wundersam Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam. […] Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal War der Himmel noch so groß und still und fahl Jung und nackt und ungeheuer wunderbar Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war.«122

Die Lebenszeit zwischen Geburt und Tod des Menschen auf Erden wird nach Arendt mit drei Tätigkeiten erfüllt – Arbeiten, Herstellen, Handeln –, die sie in der Vita Activa erläutert. Mit ihrer Abhandlung zielt sie darauf ab, die Flucht in transzendentale Metaphysik oder in introspektive Psychologie zu kritisieren: »Die Absicht der historischen Analyse ist, die neuzeitliche Weltentfremdung in ihrem doppelten Aspekt: der Flucht von der Erde ins Universum und der Flucht aus der Welt in das Selbstbewusstsein, in ihren Ursprüngen zu verfolgen«.123 Der Mensch ist und bleibt verbunden mit der Erde und kann nur so der Weltentfremdung entkommen. Ab 1942, als Hannah Arendt sich wieder der Lyrik zuwandte, um ihrer Erfahrung mit dem Exil Ausdruck zu verleihen, findet man verschiedene Gedichte, die einen Brecht’schen Tonfall annehmen: nüchtern, sachlich, traurig, aber ohne Wehmut. Dazu gehören Park am Hudson (Mai 1943)124, Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet (1946)125, Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind (März 1946)126 und vor allen Dingen Dies war der Abschied (September 1947).127 Arendt liebt die Lyrik des frühen Brecht, doch ihre Einschätzung des Autors bleibt nicht kritiklos. Sie macht eine Entwicklung innerhalb Brechts Produktion aus: vom anarchistischen, wilden, freien Brecht der Frühphase der Berliner Jahre über den Brecht des Widerstands während der Emigrationszeit bis hin zu einem politisch indoktrinierten Brecht der Spätphase in der DDR. Ihre Kritik an Brechts Werdegang, der sich dem sozialistischen Realismus anschloss und in der Folge schlechte Literatur erzeugte, führte zu polemischen Auseinandersetzungen, die bis heute nicht abgeklungen sind. Sie hat sie in einem Essay vorgebracht, den sie 122 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 7. Zitiert nach: Brecht, Bertolt: Der Choral vom Manne Baal. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt  /  M ain, 2003, S. 249. 123 | Ebenda, S. 15. 124 | Vgl. Arendt, Hannah: Park am Hudson. In: Gedichte, S. 36. 125 | Vgl. Arendt, Hannah: Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet… In: Gedichte, S. 37. 126 | Vgl. Arendt, Hannah: Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind… In: Gedichte, S. 38. 127 | Vgl. Arendt, Hannah: Dies war der Abschied… In: Gedichte, S. 43.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

1950 in der Neuen Rundschau veröffentlichte. Eine überarbeitete, längere Version erschien 1966 auf Englisch im Magazin New Yorker, der 1968 wiederum ins Deutsche übersetzt im Merkur unter dem Titel Quod licet Jovi …: Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik publiziert wurde. Zuerst zum jungen Brecht: Nach dem Ersten Weltkrieg war der politische, kulturelle und gesellschaftliche Zusammenbruch Deutschlands eine vollendete Tatsache: »Was Brecht anlangte, so hatten vier Jahre unerhörter Zerstörung die Welt blank gefegt, gereinigt von allem, woran sich Menschen gemeinhin halten, einschließlich kultureller Ziele und moralischer Werte; alle Spuren waren überspült, die alten Gedankenwege, die alten Maßstäbe, die alten Wegweiser für Sitten und Gebräuche waren vernichtet. Nichts schien geblieben als die Reinheit der Elemente, die elementare Verbindung von Erde und Himmel, von Mensch und Tier, die Unschuld des schieren Lebendigseins. Den Wundern des Lebens jenseits aller Zivilisation galt Brechts erste Liebe, all dem was die Erde von ihrem bloßen Dasein zu bieten hat.«128 Brecht sah im Ende des Weltkrieges die Möglichkeit, radikal neu anzufangen: »Wenn die Werkzeuge zerbrochen und unbrauchbar, die Pläne vereitelt und Anstrengungen sinnlos geworden sind, zeigt sich die Welt in einer furchtbaren, kindlichen Frische, als schwebe sie zusammenhangslos im Nichts.«129 Als Beispiele nennt Arendt Gedichte, die sie immer wieder zitiert, die Ballade von Mazeppa (»Einer ritt aus mit allem was ihm eigen«), den Choral vom Manne Baal (»War der Himmel schon so groß und still und fahl«) und die Seeräuberballade (»O Himmel, strahlender Azur!«). Brechts »jubelnder Zynismus« bewirkte nach Arendt, dass die übrige Dichtung der 1920er-Jahre anachronistisch wirkte: »Die Tradition war gerissen, ihre Instrumente waren zerbrochen; je klassizistischer die traditionsgebundene Lyrik war, desto näher kam sie der bloßen Literatur – was keiner begabter bewiesen hat als Rudolf Borchardt.«130 Brecht war fähig, klassische Gedichte zu parodieren, wobei sich seine Kritik nicht gegen die Klassiker richtete, sondern gegen die Klassizisten. Genauigkeit des Handwerklichen zeigte seine Ehrfurcht vor dem Überlieferten. Seine Fähigkeit, in der Überlieferung radikale Brüche zu vollziehen, sollte ein Schockmoment bewirken und damit den Leser zum Denken anregen. Etwa sein Gedicht Liturgie vom Haus, eine Parodie auf Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh: Die Ruhe besagt, dass man auch ruhig zusieht, wie eine alte Frau verhungert; die Vöglein im Walde singen, auch wenn ein Mann exekutiert wurde, der nicht ruhig war.131 Brecht führte nicht nur von der Tradition weg, sondern konservierte sie auch. Weder an Zerstörung noch an Modernismus noch an Experimenten war ihm gelegen. 128 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier S. 260. 129 | Ebenda, S. 260. 130 | Arendt, Hannah: Der Dichter Bertolt Brecht (1950). In: Die Neue Rundschau, Bd. 61, Nr. 1, S. 53-67, hier S. 64. 131 | Vgl. Ebenda, S. 64.

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Hannah Arendt reflektiert mit Sympathie die Charaktereigenschaften des jungen Brecht, der weder sich selbst bemitleidete noch klagte,132 der einen Hang zur Anonymität hatte und eine instinktive Aversion gegen Tuerei, Angeberei wie gegen die schlechten Manieren seiner Umwelt hegte.133 Sie zitiert in ihrem Essay eine Passage aus der Dreigroschenoper, die ihr symptomatisch für diesen völligen Mangel an Wichtigtuerei erscheint: »Ich selber könnte mich durchaus begreifen Wenn ich mich lieber groß und einsam säh. Doch sah ich solche Leute aus der Näh Da sagt ich mir: Das musst du dir verkneifen.«134

Auch den Brecht der Emigrationszeit schätzt sie, wie an dem häufig von ihr zitierten Gedicht An die Nachgeborenen des Svendborger Zyklus zu erkennen ist. Das Gedicht beschreibt Unordnung, Hunger, Aufruhr und Empörung in den Städten, Krieg und Sumpf, die Sprache der Schlächter. Den Titel für ihre Essaysammlung Menschen in finsteren Zeiten entnimmt sie diesem Gedicht: »Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid. […] Gedenkt unserer Mit Nachsicht.«135

Brecht habe sich mehr um die Welt gekümmert als um den eigenen Ruhm. Im Unterschied zu anderen sei er völlig nüchtern geblieben: »Er hatte begriffen – und dies macht ihn unter den Schriftstellern nahezu einzigartig – wie tödlich lächerlich es war, die Flut der Ereignisse an individuellen Ambitionen und Lebenserwartungen zu messen.«136 Während allgemeiner Arbeitslosigkeit an Karriere zu denken, im Moment der Kriegskatastrophe an einem Ideal der Persönlichkeit festzuhalten oder während der Jahre in der Emigration über Verlust, sei es Ruhm, Sicherheit, Besitz oder Kontinuität, zu klagen, würde von Brecht satirisch persifliert 132 | Vgl. Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier S. 251. 133 | Vgl. ebenda, S. 253. 134 | Ebenda, S. 254. 135 | Ebenda, S. 256. 136 | Ebenda, S. 257.

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und zeuge von seiner altruistischen Fähigkeit, von sich abzusehen, mitzuleiden, mitzuempfinden. Das Gedicht An die Nachgeborenen beschreibt seine Unfähigkeit, zu essen und zu trinken, so lange andere hungern. Seine Leidenschaft der Empathie habe Brecht jedoch aus Scham verborgen: »Mitleid ist eine Leidenschaft, und der Leidenschaften ist der Mensch nicht Herr. Nur eigentlich leidenschaftslose Menschen sind vollkommen souverän. Unsere Eigenschaften zeigen wir gerne vor, jedenfalls solange wir des Beifalls in der Welt einigermaßen sicher sein können; mit den Leidenschaften steht es anders, wir verbergen sie, auch wenn wir uns ihrer nicht zu schämen brauchen.«137 Brechts rekurrierendes Leitmotiv sei es, »gut zu sein« in einer Welt, in der Güte unmöglich sei. Der zentrale Konflikt, der sich in seinen dramatischen Werken wiederhole, zeige sich oft an Figuren, die vom Mitleid getrieben daran gingen, die Welt zu verbessern, es sich dabei aber nicht leisten können, gut zu sein. Als Beispiele gibt Hannah Arendt verschiedene Stücke an: • Die heilige Johanna der Schlachthöfe  – dem Heilsarmeemädchen in Chicago kommt es nicht darauf an, eine bessere Welt zu hinterlassen, sondern ein guter Mensch gewesen zu sein. • Den Kaukasischen Kreidekreis  – Grusche kann dem menschlichen Hilferuf nicht widerstehen, denn wer ihm widersteht, widersteht auch anderen Rufen, wie Stimmen der Liebe, Seufzer der Armut, Geräuschen der Natur. • Die Mutter Courage – hier ist es das Gutsein der stummen Katrin. • Der gute Mensch von Sezuan – Shen-Te kann nicht auf Dauer gut sein, wenn sie sich nicht vorübergehend in den bösen Shui-Ta verkleidet. Auch in seiner Lyrik zeige Brecht seine Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten: Bewusst habe er die Form der Ballade benutzt, deren Ursprung im Volkslied wie in Dienstbotengesängen liege – ganz im Kontakt mit der mündlichen Überlieferung: »Es ist die Form, in der das Volk der Unsichtbarkeit und dem Vergessenwerden zu entrinnen trachtet und gleichsam auf eigene Faust versucht, sich auch ein Stückchen Unsterblichkeit zu sichern.«138 Brechts Mitgefühl und soziales Engagement hat Hannah Arendt also nie in Frage gestellt: »Sehr jung muss er sich entschlossen haben, sich um das Unglück der Zeit mehr zu kümmern als um sein eigenes und seine persönlichen Probleme zu lösen oder nicht zu lösen, jedenfalls aber sie sich mit der Geste eines überlegenen Gleichmuts vom Leibe zu halten.«139 Seine besten Gedichte seien aus der echt revolutionären Stimmung der 1920er-Jahre entstanden, und der Brecht, der Arendt am meisten überzeugte, ist jener, der davon Zeugnis abgelegt hat. 137 | Ebenda, S. 267. 138 | Ebenda, S. 271. 139 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1950). In: Die Neue Rundschau, Bd. 61, Nr. 1, S. 53-67, hier S. S. 57.

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Arendts Kritik an Brecht setzt jedoch an dem Punkt an, als er sich direkt für eine Partei engagiert: »Immer wenn er direkt hat politisch wirken wollen, hat er sich vergriffen«, und »wenn er nicht Zeugnis ablegte, […] dann schrieb er Stücke und Gedichte, die, völlig belanglos, niemandem nützten und niemandem schadeten«.140 Arendts umstrittene These lautet, dass er sprachlos geworden sei, als er in die DDR zog. Ihr liegt nicht daran, diese Sprachlosigkeit an einer fehlenden, rigiden Moral Brechts festzumachen. Nein, sie stellt fest, dass Brechts Sprachlosigkeit aus der Diskrepanz resultierte zwischen einer positiven linken Utopie, welche die Güte an die erste Stelle setzt, und dem real existierenden Sozialismus der DDR: »Nichts ist lächerlicher als der Versuch, den Dichtern Moral zu predigen oder ihnen Vorschriften zu machen. […] Der einzige Maßstab, nach dem auch das persönliche Verhalten des Dichters zu beurteilen ist, ist seine Dichtung. Das Schlimmste, was einem Dichter geschehen kann, ist, dass er aufhört, ein Dichter zu sein; und gerade dies ist Brecht im letzten Jahrzehnt seines Lebens geschehen.«141 Sie stellt die Behauptung auf, dass Brecht während seines Aufenthaltes in der DDR nichts Gutes mehr geschrieben habe, dass es keine reife Alterslyrik gebe, kein großes Gedicht mehr. Positiv sei nur seine Aussage während des Berliner Arbeiteraufstandes 1953 zu bewerten, »die Regierung sollte das Volk auflösen und ein anderes wählen«. Und sie schätzt einige Zeilen aus Liebesgedichten und Kinderreimen sowie Loblieder der Zwecklosigkeit.142 Nach Arendt habe Brecht eine wesentliche Grenze überschritten, die schwierig auszumachen sei: Diese Grenze liege nicht in einer rigiden Verhaltensmaßregel, sondern sei wie eine flüchtige Linie, die sich erst nach ihrem Überschreiten zu einer festen Mauer zusammenfüge. Man könne nicht mehr zurück, stehe mit dem Rücken zur Wand. Man frage sich, wie man dazu gekommen sei, über diese kaum wahrnehmbare Grenze zu stolpern. Diese Grenzüberschreitung sei nur erkennbar in der Dichtung, im Aussetzen der Begabung.143 Ausgehend von dieser These analysiert sie Brechts Biographie und stellt fest, dass die Grenze nicht überschritten wurde, als er sich in den 1920er-Jahren zum Kommunismus bekehrte, nicht in den 1930er-Jahren der Emigration, als er nichts von der totalen Herrschaft des Stalin’schen Parteiapparats wusste. »Gerächt hat sich an ihm als Dichter nur eins: die Niederlassung in Ost-Berlin, wo er gezwungen war, tagtäglich mit anzusehen, was es nun wirklich heißt, wenn ein Volk unter eine kommunistische Diktatur stalinistischer Prägung gerät. […] Entscheidend war, dass er nun in Ostdeutschland angekommen, die poetische Distanz verlor, die er sich auch in den Jahren, in denen er ohne alle Zweifel der kommunistischen Sache ergeben war, hatte leis-

140 | Ebenda, S. 56. 141 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-238, hier S. 243. 142 | Vgl. Ebenda, S. 244. 143 | Vgl. Ebenda, S. 245.

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ten können.«144 Arendt erkennt bei Brecht also einen moralischen Konflikt – er sei mit dem DDR-System nicht einverstanden gewesen und soll sogar in den letzten Jahren an eine weitere Emigration gedacht haben. Brechts Dilemma am Ende seines Lebens habe ihm laut Arendt selbst geschadet. Aber Arendt stellt auch fest, dass der Verhaltensspielraum für Dichter weiter gefasst sei, als jener von anderen Menschen. Das verletze zwar ein allgemeines Gerechtigkeitsgefühl. Der größere Anteil an gelungener Dichtung entschuldige jedoch die Grenzüberschreitung: »Die Frage ist, ob die Gleichheit vor dem Gesetz, deren Norm wir im Allgemeinen auch für moralische Urteile akzeptieren, wirklich absolut gilt. Ich denke nicht.«145 Hannah Arendt löste mit ihrem überarbeiteten Brecht-Essay von 1968 eine heftige Kontroverse aus. Besonders der Brecht-Spezialist und Mitherausgeber Brechts im englischen Sprachraum, John Willet, nahm den Schriftsteller gegen den Vorwurf des Stalinismus in Schutz.146 Im privaten Umfeld ist Uwe Johnson zu erwähnen, der mit Arendts Interpretation nicht einverstanden war.147 Und Brechts Tochter Barbara Schall-Brecht schrieb ihr direkt, dass sie einen fundamentalen Irrtum begehe: Brecht habe in der DDR weder Gewissenskonflikte verspürt noch habe er aus Schrecken nicht mehr schreiben können. Brecht sei auch Theatermann gewesen und habe seine Zeit am Berliner Ensemble genutzt, um seine Theorien der Verfremdung zu realisieren und Stücke aufzuführen. Das Schreiben habe daher den zweiten Platz eingenommen. Sie beendete den Brief mit einem harschen politischen Gegenvorwurf: »Sehr geehrte Frau Arendt, ich schreibe Ihnen das, weil Ihr Aufsatz mir viel Interessantes und Freundliches gegeben hat, und es täte mir leid, wenn Sie durch Ihre Vorurteile gegen den Sozialismus in Ihrem Urteilsvermögen gestört worden sind.«148 1969 war ersichtlich, dass die obersten DDR-Funk144 | Ebenda, S. 246. | Vgl. auch Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 59: Arendt an Blumenfeld, 31.8.1956, S. 164 f. 145 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-238, hier S. 281. 146 | Vgl. LOC: Subject File In: Box 55 /  F older: Brecht, Bertolt, controversy, 19681971. | Die Kritiken an Arendts Essay kamen nicht nur aus den USA, sondern auch aus Deutschland, etwa Naomi Watts Besprechung in Brecht Heute, Jg. 3, 1973, S. 253355. | Einer der wenigen Autoren, der Arendts Kritik an Brecht und ihre ethische Einschätzung der Literatur verteidigte, war Erich Heller, der Arendt persönlich kannte. Vgl. Heller, Erich: Hannah Arendt und die Literatur. Mit besonderer Berücksichtigunng des Dichters Bert Brecht. In: Merkur, H. 30, 1976, S. 996-1000. 147 | Vgl. Johnson-Briefwechsel: Brief 12: Johnson an Arendt, 24.6.1970, S. 27 f. | Er legt ihr zu der Kontroverse einen Artikel aus dem Tagesspiegel bei. In seinem Nachruf auf Hannah Arendt schreibt er: »Den Streit wegen Brecht, den hatten wir schon 1968.« (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.1975). In: Johnson-Briefwechsel, S. 163 f. 148 | LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 15 / F older. Sa-Scha miscellaneous 1958-1975, nd. Schall-Brecht, Barbara: Schall-Brecht an Arendt, Berlin 8.6.1969, Blatt 005008. | Vgl. dazu, wie Arendt Brecht einschätzte, Marie Luise Knotts Essay Die

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tionäre nicht eine sozialistische Utopie verwirklicht, sondern einen autoritären Polizeistaat mit Spitzelapparat installiert hatten. Seit dem Bau der Mauer 1962 konnte man sich keiner Illusion mehr hingeben. Hannah Arendt wirft im Übrigen Brecht nicht opportunistisches, unmoralisches Verhalten vor, sondern kommt zu der Auffassung, er habe selbst unter der DDR gelitten. Tatsächlich versucht Hannah Arendt in ihrem Essay, ein differenziertes Bild von Brecht zu zeichnen. Ob ihre moralische Auffassung Brecht hätte aus Gewissensbissen nicht mehr schreiben können stimmt, bleibt allerdings eine subjektive Interpretation ihrerseits. Es ist anzunehmen, dass die Tochter Brechts über den Werdegang ihres Vaters genauer Bescheid wusste.

Z usammenfassung : Tr anszendenz , E thik und L iebe als K riterien In Arendts Rezeption einzelner Dichter kann man drei Thematiken ausmachen, die ihre Gedankenwelt bestimmten: • Das Umkreisen einer Transzendenz, kosmologische Vorstellungen in der Lyrik Goethes, Hölderlins und Rilkes. • Lyrik als politisches Engagement in den Texten Heines, Kafkas und Brechts. Diese drei Thematiken sollten sich auch bevorzugt in ihrer eigenen dichterischen Produktion wiederfinden. • Dichtung als bevorzugter Ausdruck der Liebe in den Gedichten Goethes, Rilkes und Brechts. Die Frage nach der Transzendenz beantwortete Hannah Arendt auf distanzierte Weise: Sie wählt Autoren, die keine religiöse Antwort besitzen, sich aber die Gottesfrage aufgrund bestimmter persönlicher Erfahrungen stellen.149 Arendt lehnte eine Gottesvorstellung nicht ab. Das Fehlen christlicher Wertvorstellungen sowie nihilistische Tendenzen gehörten zu der Substanz, die ihrer Meinung nach zu totalitären Strukturen führt: »Ich bin ganz sicher, dass diese ganze totalitäre Katastrophe nicht eingetreten wäre, wenn die Leute noch an Gott oder vielmehr an verlorene Generation und der Totalitarismus. Hannah Arendt liest Bertolt Brecht. Marie Luise Knott untersucht unter anderem Quellen, etwa Tagebuchaufzeichnungen von Walter Benjamin, die Arendt und Blücher zur Verfügung standen. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang /  v on der Lühe, Irmela), Göttingen, 2007, S. 50-61. 149 | Im Alter wird sie von der Metaphysik ausdrücklich Abstand nehmen und die Empfindung transzendentaler Erfahrungen als Verwechslung zwischen dem Innen und dem Außen in der Erfahrung des Denkens ausmachen, das sich auf einem Pfad der Zeitlosigkeit befindet.

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die Hölle geglaubt hätten, das heißt, wenn es noch letzte Prinzipien gab, an die man mit Aussicht auf Erfolg hätte appellieren können. Man konnte niemanden anrufen.«150 Gleichzeitig grenzt sie sich aber auch gegen starre Wertordnungen ab  – nicht nur gegen politische, sondern auch gegen religiöse. Menschen sind beeinflussbar, ihre Meinung wechselhaft, sie denken nicht selbstständig: »Und wenn Sie verallgemeinern wollen, dann können Sie sagen, dass diejenigen, die noch sehr fest an die so genannten alten Werte glaubten, am ehesten bereit waren, ihre alten Werte gegen eine neue Wertordnung einzutauschen, vorausgesetzt, man gab ihnen eine. Und ich fürchte mich davor, weil ich glaube, dass in dem Moment, in dem sie jemandem eine neue Wertordnung – oder jenes berühmte ›Geländer‹ geben – dieses sofort wieder ausgetauscht werden kann. Das einzige, an das sich der Bursche gewöhnt, ist, ein ›Geländer‹ zu haben und eine Wertordnung, ganz gleich welche.«151 Gottes Antwortlosigkeit, die eine Gottesvorstellung impliziert, beschäftigte Arendt allerdings anhaltend. Im kirchlichen Bereich verwarf sie Religion und im philosophischen Bereich grenzte sie sich von Metaphysik ab. Auch dies entsprach ihrer Tendenz, sich gegen Dogmen auszusprechen. In ihrer Lyrik allerdings spricht sie Gott direkt an: Bereits in ihrem ersten Gedicht, Kein Wort bricht ins Dunkel,152 entstanden im Winter 1923 / 24, wird ein Gefühl der Verlassenheit von Welt und Gott dargestellt. In Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit153 von 1943 tauchen Verstorbene aus einem Nebelreich auf, »als hätte ein Gott« sie geschickt. Im Mai 1952 verfasste sie das Gedicht Den Überfluss ertragen154 – sie bittet Gott darum, diejenigen, denen es gut geht, nicht zu vergessen. Im November des gleichen Jahres stellt sie Gottes Abwesenheit in Die Neige des Tages155 im Gefühl des Ausgeliefertseins an eine entleerte Welt dar. Ontologische Dimensionen lassen sich in Arendts Gedichten der Spätphase ausmachen: In Helle scheint in jeder Tiefe 156 vom Februar 1954 geht es um die Empfindung einer Transzendenz: »Licht bricht alle Finsternisse, / Töne singen jedes Schweigen«. Am Ende verweigert Arendt dennoch eine klare Antwort: »Nur die Ruh’ im Ungewissen / dunkelt still / das letzte Zeigen.« In zwei Kurzzeilern von 150 | Diskussion mit Freunden und Kollegen aus Toronto, November 1972 In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula) München, 1996, S. 71-113, hier S. 87. 151 | Ebenda, S. 86. 152 | Vgl. Arendt, Hannah: Kein Wort bricht ins Dunkel. In: Gedichte, S. 8. 153 | Vgl. den dritten Teil, 2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit«, S. 344, und: Gedichte, S. 34 f. 154 | Vgl. Arendt, Hannah: Den Überfluss ertragen. In: Gedichte, S. 58. 155 | Vgl. Arendt, Hannah: Die Neige des Tages. In: Gedichte, S. 59. 156 | Vgl. Arendt, Hannah: Helle scheint in jeder Tiefe. In: Gedichte, S. 67. | Vgl. auch im zweiten Teil, 1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin, S. 181, denn Arendt spielt auf das Geläut der Stille von Heidegger an.

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September 1948 und Juli 1950, die man fast als ein Gedicht lesen kann, gibt es »das Eine«, »das Vertraute«, das sich zuerst verflüchtigt, um später als »ewiges Bleiben im Spurt« in Dauerhaftigkeit zu enden.157 In Unermessbar Weite nur … sowie Komm und wohne … von 1951 zeugt der erste Teil von der Unergründlichkeit der transzendental-ontologischen Dimension, der im zweiten Teil ein konkretes Du gegenübersteht, das in der Immanenz, im Hier und Jetzt, angesprochen wird. Hannah Arendts Einschätzung der Dichtung nach ethischen Kriterien ist eigenwillig. Wie sehr ihr bestimmte humanistische Werte in der Literatur am Herzen lagen, zeigen nicht nur ihre Essays über deutschsprachige Dichter, sondern auch ihre Einschätzung von Prosaautoren verschiedener Kulturen und Sprachen.158 Sie untersuchte diese Autoren als Beispiele in ihren politischen Essays wie auch punktuell in ihren historischen Analysen auf diese »flüchtige Grenze« hin, die einer »moralischen Weltordnung« gleichkommt: In einer Diskussion 1958 zu Kultur und Politik äußerte sie sich direkt zu ihrem Verfahren. Sie unterschied zwischen berufsmäßigen Schriftstellern, die sich gleichschalten und nicht der Rede wert sind, aber auch wahren Dichtern, die sich durch Anpassung selbst verrieten: »Die moralische Weltordnung hat sich dort gerächt, wo sie allein sich an einem Dichter rächen kann, nämlich darin, dass er keine Gedichte mehr schreiben kann. 157 | Vgl. Arendt, Hannah: Gedichte: Unaufhörlich führt uns der Tag hinweg von dem Einen, S. 45, sowie Manchmal aber kommt es hervor das Vertrauteste, S. 44. 158 | Diese Werte drücken sich im Wesentlichen in den Fähigkeiten aus, Kritik an der Gesellschaft zu üben sowie Mitleid mit Unterdrückten zu empfinden; Themenschwerpunkt ist daher der Kampf um die Würde des Menschen. Die charakterlichen Eigenschaften eines Autors, die auch sein Wirken durchdringen, sind für Arendt wesentliche Kriterien: Neben Brecht hebt sie Camus hervor. Er sei ernsthaft und ehrlich – in seiner Philosophie des Absurden wie in seinen Romanen und Dramen stehe die Loyalität zum Erdendasein, großzügige Liebe und Brüderlichkeit zu den Mitmenschen im Zentrum. Es gehe ihm nicht wie Sartre nur darum, Meinung zu produzieren. Oder René Chars Aphorismensammlung: Ihr entnimmt sie, dass, selbst wenn Revolutionen scheitern, deren Geist, deren Kampf um Freiheit erinnert werden solle. Auf Autoren jüdischer Herkunft treffen Arendts Aussagen auf noch markantere Weise zu: Heines, Kafkas und Brochs Leben war bestimmt von antisemitischer Verfolgung, ihre menschenwürdige Standhaftigkeit daher umso wirkungsvoller. – Arendts Kritik gilt ideologisierenden Autoren von -ismen, die ihre Menschlichkeit zugunsten von Doktrinen aufgegeben haben: Totalitäre, rechte Denker, etwa Spengler und Gobineau, entwickelten, von Untergangsstimmung beherrscht, Theorien des Verfalls, in denen eine angeblich höherwertige Rasse die vermeintlich schwächere ersetze. Thomas Mann sei Opportunist gewesen, der sich zur jüdischen Frage nicht geäußert habe. Céline und Pound als offene Radikalantisemiten seien zu ernst genommen worden. In deren wie in Benns Literatur entdeckt sie eine Faszination des Morbiden, eine pathologische Verherrlichung des physischen Zerfalls, des Ekelerregenden. Aber auch Autoren des linken Lagers kritisiert sie scharf, wie etwa Sartre, der seine Identität in der Aktion, im Engagement per se findet, ohne auf die dahinterstehende Ideologie des Stalinismus einzugehen.

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Es gibt nichts und niemanden auf der Welt, der diesen Mann so furchtbar hätte bestrafen können, wie er sich schließlich selbst bestraft hat. Hier lag die Grenze, und wenn sie auch weiter gezogen war, als wir dachten, so existierte sie doch und durfte nicht überschritten werden.«159 Ihr war jedoch sehr wohl bewusst, dass Ethik als einziges Kriterium in der Literatur keine zufriedenstellende Lösung erbringt. Bereits 1950 schrieb ihr Blücher anhand des Essays Der Kitsch von Hermann Broch: »Dieses ethische Gerede in der Kunst bringt den Kitsch direkt in sie hinein.«160 Wenn der Bezug zur Realität verloren gehe, Ethik als Gutmenschentum zur Norm gemacht werde, entstehe Kitsch. Auf der anderen Seite bemerkte Arendt in ihrem eigenen Essay über Broch, dass im Gegenzug rein ästhetizistische Tendenzen kritisch zu bewerten seien, da »Kunst unweigerlich [auch] zum Kitsch wird, sobald sie sich aus dem sie leitenden Wertsystem herauslöst«. L’art pour l’art ende in der Idolatrie des Schönen. Im Grunde seien Ästheten bezaubert von der Stimmigkeit ihres eigenen Systems und bereit, dieser Stimmigkeit, dieser »schönen« Geschlossenheit alles zu opfern.161 Csaba Olay stellt Arendts und Brochs kritische Übereinstimmung gegenüber ästhetizistischen Tendenzen heraus, wie Arendt bemerkt: »Was Broch hier sagt, geht über den Hass auf das Literatentum und seinen billigen Ästhetizismus, ja selbst über die erbitterte Kritik des l’art pour l’art, die im Zentrum seiner Zeitkritik, seiner kunstphilosophischen und seinen frühen ethisch-werttheoretischen Überlegungen steht, weit hinaus.«162 So müsse ein fortdauernder Ausgleich ästhetischer und ethischer Kriterien im Schaffensprozess am Werke sein. Vor der Ästhetik steht jedoch für Arendt Ethik und diese wird durch Realitätsbezug und Gesellschaftskritik definiert. Die Aufgabe der zeitgenössischen Dichtung liege darin, »Ästhetisches in die Gewalt des Ethischen« zu werfen.163 Hannah Arendts Emigrationsgedichte sind Ausdruck politischer Erfahrung: W.B.164, Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet165, Ich weiss, dass die 159 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 75 /  F older: Essays and Lectures: Kultur und Politik. Diskussion 1958, Blatt 0227772. 160 | Blücher-Briefwechsel: Blücher an Arendt, New York, 8.3.1950, S. 227. 161 | Vgl. Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-156, hier S. 135. 162 | Olay, Csaba: Hannah Arendt und Hermann Broch: Roman und Moderne In: Hermann Brochs literarische Freundschaften (Hg. Kiss, Endre /  L ützeler, Paul Michael / R acz, Gabriella), Tübingen, 2008, S. 305-331, hier S. 312. 163 | Vgl. Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-156, hier S. 128. 164 | Vgl. Arendt, Hannah: W.B. In: Gedichte, S. 32. Und dritter Teil, 1.2.1 »W.B. Einmal dämmert Abend wieder«, S. 295. 165 | Vgl. Arendt, Hannah: Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet. In: Gedichte, S. 37. Und: dritter Teil, 1.1.1 »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet«, S. 278.

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Strassen zerstört sind166, Dies war der Abschied167 bilden eine Zyklus über Verlust und Exil.168 Ein einziges Gedicht hebt sich von diesen ab, da der Grundton nicht von Trauer, sondern von aktiver Revolte gekennzeichnet ist. Recht und Freiheit169 entstand zu einem Zeitpunkt, als Hannah Arendt sich für eine jüdische Armee aussprach, die an der Seite der Alliierten mitkämpfen sollte: »Recht und Freiheit Brüder zagt nicht Vor uns scheint das Morgenrot. Recht und Freiheit Brüder wagt es Morgen schlagen wir den Teufel tot. Von den Bergen Aus den Tälern Schleppt am Fuss das Bleigewicht; Recht und Freiheit Brüder fragt nicht Wir sind nun das Weltgericht. Weite Länder, Enge Gassen Brüder das ist unser Schritt. Weinen, Lachen Lieben Hassen Alle Götter ziehen wir mit.«

Der dritte Themenkreis der Liebe wird im Folgenden anhand ihres lyrischen Austauschs mit den Lebens- und Liebespartnern am treffendsten dargestellt. Leider kommt die Thematik der Liebe in Hannah Arendts veröffentlichtem Werk kaum vor. Sie blieb ihren Gedichten und bestimmten Analysen in ihrem Denktagebuch vorbehalten.

166 | Vgl. Arendt, Hannah: Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind … In: Gedichte, S. 38. Und: dritter Teil, 1.1.2 »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind«, S. 282. 167 | Vgl. Arendt, Hannah: Dies war der Abschied. In: Gedichte, S. 43. Und: dritter Teil, 1.1.3 »Dies war der Abschied«, S. 286. 168 | Vgl. den dritten Teil, 1.1 Die Emigrationsgedichte, S. 278. 169 | Vgl. Arendt, Hannah: Recht und Freiheit. In: Gedichte, S. 33.

2. Dichterische Kontakte mit deutschsprachigen Schriftstellern

»Immerhin habe ich dabei indirekt die deutsche Sprache um einige sehr schöne Gedichte bereichert. Man tut, was man kann.« H annah A rendt  /  B lumenfeld -B riefwechsel 1

E inleitung : Tr aditionsbruch als A usgangspunk t der liter arischen M oderne Hannah Arendt geht in ihren historisch-politischen Schriften von einem Traditionsbruch aus, der mit dem Ersten Weltkrieg begann und bis zur Errichtung der Konzentrationslager, der »Todesfabriken im Herzen Europas«, andauerte. Dieser Bruch durchtrennt »den zerschlissenen Faden der Tradition«, die mit der Geschichte von mehr als 2000 Jahren verbunden war: Die überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch könnten so nicht mehr begriffen werden.2 Auch in der Literatur spiegelt sich dieser Riss in der Tradition wider, und Arendt spielt ab 1945 in fast allen Essays über Schriftsteller, die sie interessierten, auf diese Grunderfahrung an: Proust, Kafka und Broch sind für sie die Hauptvertreter, die sich sowohl inhaltlich wie auch stilistisch damit auseinandersetzten. Dabei geht es auch um eine Generationenfrage. Die Kontinuität wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, die alte Generation – Proust – war dem Vergangenen verhaftet, die neue Generation – Kafka – ahnte das Kommen einer Katastrophe geradezu physisch voraus, war in die Zukunft gerichtet: »Wenn man nun die Sache nur im Rahmen der europäischen Literatur betrachtet, ist diese Kluft, ist dieser sich öffnende Abgrund von leerem Raum und leerer Zeit am deutlichsten erkenn1 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 13: Arendt an Blumenfeld, New York, 1.4.1951, S. 52. 2 | Vgl. Arendt, Hannah: Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs ›Der Tod des Vergil‹. In: The Nation 163 /  11, 14.9.1946 (Übersetzung von Paul Michael Lützeler). In: BrochBriefwechsel, S. 171.

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bar im Unterschied zwischen den beiden größten Meistern unserer Zeit, in der Differenz zwischen Marcel Proust und Franz Kafka.«3 Zwischen diesen Meistern ständen alle anderen europäischen Dichter von Rang, sie gäben den Maßstab zur Bewertung vor. Broch bilde mit seiner Thematik und Sprache das Bindeglied zwischen Proust und Kafka. Der Tod des Vergil »ist die Brücke über dem Abgrund zwischen dem leeren Raum, zwischen dem ›Nicht-mehr‹ [Prousts] und ›Nochnicht‹ [Kafkas].«4 Wie sehr der Traditionsbruch dabei eine Rolle spielt, wie die Welt wahrgenommen und anschließend durch die Literatur verarbeitet wird, zeigt auch Arendts Auseinandersetzung mit Jaspers, der von der Vorstellung einer Tradition, an der er alles maß, nicht loskam. Arendt widersprach ihm. Sie schreibt an Blücher: »Er versucht immer das gleiche: Durch endlose Vergleiche und rationale Erhellungen relativiert er alles einzeln Geschehene, z. B. jetzt auch die Gaskammern etc., um dadurch auf das Unbedingte, das sich immer gleich bleibe, die unzerstörbare Substanz zu stoßen. Es ist schließlich wirklich wie ein Spiel. Das Gültige, Maßstabgebende, ist ihm dann letztlich immer wieder die Tradition, und diese oft in ihren klassizistischen Ausprägungen.«5 Davon setzt sie sich ab. Und sie fügt als Beispiel Jaspers Betrachtungsweise von Lyrik, mit der sie nicht einverstanden ist: »Es ist z. B. unendlich schwer, mit ihm über, sagen wir, Rilke zu sprechen, weil er ihn sofort an Hölderlin misst und erledigt. […] Worauf er eigentlich hinaus will, kommt dann erst zum Vorschein, wenn er plötzlich, nach Erledigung Rilkes durch Hölderlin – Hofmannsthal aus der Tasche zieht. Mit anderen Worten: Er erkennt de facto in der Moderne nur an, was bewusst epigonal ist.«6 Es gibt Lyriker, die nach Arendt den Traditionsbruch sprachlich wie inhaltlich vollziehen: Robert Gilbert und Bertolt Brecht. Gilbert schreibe zwar volkstümliche Lyrik – »in kaum einer anderen Sprache ist das volkstümlich Poetische so nahtlos und zwanglos in die große Dichtung eingegangen und ihr Urelement geblieben wie in der deutschen« –, doch inhaltlich spare er das Grauen nicht aus. Und er zitiere die anderen Dichter zwar – von Hölderlin bis Kafka –, doch es seien Anklänge und Nachklänge, Zitate ohne Anführungszeichen und daher nicht epigonal. Die »alten Weisen« wurden von Hofmannsthal, George, Rudolf Borchardt noch gesungen – Gilbert dagegen sei es klar gewesen, dass Schönheit nicht mehr möglich sei, denn »auch das Ermorden von Mördern bleibt ein dunkles Geschäft

3 | Ebenda, S. 169. 4 | Ebenda, S. 170. | Vgl. Barbara Hahns Analyse von Arendts Theorie der literarischen Moderne anhand des Traditionsbruchs: Hahn, Barbara: Vom Ort der Literatur zwischen Vergangenheit und Zukunft. Über Hannah Arendt In: Hahn, Barbara: Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Theorie der Literatur nach 1945. Würzburg, 2006, S, 87- 98. 5 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Paris, 11.4.1952, S. 243. 6 | Ebenda, S. 243.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung Mir ist der Weg nicht mehr gangbar Stelzfüßig feierlich – Zwischen den Liedern so sangbar Schrecken die Geier mich.« 7

Andererseits besaß Gilbert die Fähigkeit, trotz der Schrecken sich die Freiheit zu bewahren, die Welt nicht als Ganzes abzulehnen: »Nicht zu fassen / Dort der Baum / In dem noch Vögel flöten.«8 Das bedeutet keinen erzwungenen Versuch, heimisch zu werden, indem reale Grausamkeiten nicht beachtet werden, sondern ein für Arendt typisches »Dennoch-das-Leben-Lieben«, das für sie zum Kriterium wird, wenn sie verschiedene Schriftsteller beurteilt. Ihr brieflicher Austausch mit Autoren durch und über Dichtung impliziert indirekt auch ihr Interesse an Lyrikern, die in ihrer Theorie des Traditionsbruchs eine Rolle spielen. Heidegger wäre demnach Hölderlin-Epigone und der Klassik zuzurechnen. Broch, wie Sie direkt feststellt, bildet den Übergang von der alten zur neuen Welt. Und Gilbert, Bachmann und Domin stellen die Moderne dar, die Reflexion und Verarbeitung des Genozids an den Juden. In biographischer Hinsicht handelt es sich einerseits um Philosophen, wie sie selbst, mit denen sie zumindest zeitweilig eine Liebesbeziehung hatte (Heidegger, Stern, Blücher), um Literaturforscher, die auch Lyrik schrieben (Grumach, Greve), um Autoren, die im wesentlichen Prosaschriftsteller und Essayisten waren, aber poetisch dachten (Broch), und schließlich um Schriftsteller, die vorrangig als Lyriker bekannt sind (Gilbert, Domin, Bachmann). Diese Autoren werden in der chronologischen Reihenfolge besprochen, in der Arendt sie kennen lernte.

2.1 E rnst G rumach Hannah Arendt kannte Ernst Grumach aus ihrer Königsberger Jugendzeit. Er war fünf Jahre älter als sie und studierte bereits, als sie sich kennenlernten. Elisabeth Young-Bruehl berichtet, dass Arendt als Sechzehnjährige Hauptanziehungspunkt einer Gruppe jüdischer Akademikerkinder gewesen sei: »Viele dieser jungen Leute, die im allgemeinen drei bis vier Jahre älter waren als Hannah, studierten an westdeutschen Universitäten und brachten Geschichten über ihre Professoren nach Hause. Ernst Grumach etwa besuchte die ersten Vorlesungen, die Martin Heidegger nach seinem Antritt 1923 in Marburg hielt, und er berichtete Hannah Arendt, die bei einem Aufenthalt in Berlin bereits Gerüchte über Heideg-

7 | Arendt, Hannah: Robert Gilbert (1972). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 284-191, hier S. 288. 8 | Ebenda, S. 288.

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gers Brillanz gehört hatte, von seinen Eindrücken.«9 In ihrem letzten Schuljahr kamen Hannah Arendt und Ernst Grumach zusammen. Die Beziehung blieb im Stadium einer Jugendliebelei und die Freundschaft löste sich auf, als Grumach wieder nach Marburg zurückkehrte und Arendt ihre Schulzeit unterbrach und sich privat auf das Abitur vorbereitete. Arendt schrieb im Winter 1923 / 1924 ein frühes Gedicht, in dem sie auf die Trennung zu sprechen kommt: »Im Volksliedton Sehn wir uns wieder, Blüht weisser Flieder, Ich hüll Dich in Kissen, Du sollst nichts mehr missen. Wir wollen uns freun, Dass herber Wein, Dass duftende Linden Uns noch beisammen finden. Wenn Blätter fallen, Dann lass uns scheiden. Was nützt unser Wallen? Wir müssen es leiden.«10

Grumach wurde später als klassischer Philologe Professor an der Berliner Humboldt-Universität in der DDR und renommierter Goethe-Spezialist. Als Arendt Ende 1949 ihre erste Deutschlandreise nach siebzehn Jahren des Exils unternahm, suchte sie ihn auf. Er holte sie am Flughafen in Berlin ab, sie war besonders von seiner Tochter eingenommen, die ein nachdenkliches, freies, offenes Wesen habe. Und ihr kamen Zeilen Goethes in den Sinn, wohl auch, da Grumach Herausgeber einer großangelegten Goethe-Edition11 war: »[D]enn der Boden zeugt sie wieder, wie von je er sie gezeugt«.12 In seiner Freizeit schrieb Grumach Lyrik und ließ Arendt ein Gedicht zukommen.13 Arendt äußerte sich zu dieser Gabe an Blücher, 9 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 71 f. 10 | Arendt, Hannah: Im Volksliedton. In: Gedichte, S. 9. 11 | Er war Mitherausgeber der Berliner Akademieausgabe von Goethe. 12 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Berlin, 14.2.1950, S. 213. Darin zitiert Arendt: Goethe, Johann Wolfgang von: Faust, 2. Teil, Vers 9937 (zitiert nach Briefwechsel). 13 | Sie hat das Gedicht an Blücher weitergeschickt. Davon gibt es zwei weitere Exemplare: Ein Manuskript von Grumach und eine von Arendt abgetippte Version. Beide befinden sich in dem Folder, in dem ihr Briefwechsel mit Grumach aufbewahrt ist. Vgl. LOC: Gene-

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

der in New York geblieben war: »Ernst dichtet wieder, anbei eine Abschrift eines Gedichts zur Feier unserer 30-jährigen Freundschaft.«14 Das Gedicht kann als Symbol für die Kontinuität ihrer Freundschaft verstanden werden: »Viel gehender in allem und viel mehr verbunden nun den Horizonten nähern wir uns entwachsen dem besonnten Tal der Jugend dieser sehr geklärten Landschaft, aber jetzt entschwindend das Alte, das uns längst entschwunden, in seinem vollen Sinne erst empfindend, als hätten wir zu uns nur heimgefunden. Wer löst den Widerspruch und wer erklärt uns seinen wahren Sinn? Nur wer sein Herz noch kennt nach dreißig Jahren, da er sich ihm von Anfang fest verband – denn hielten wir uns nicht in diesem Zugewandten, wir schweiften lange nur in einem Unbekannten, Verirrte nur in einem fremden Land.«

Der auf die Begegnung folgende Briefwechsel ist kurz und ein Nachklang ihrer Begegnung. Im Sommer 1950 legt Grumach verschiedene Gedichte bei, um die Arendt explizit gebeten haben muss. Zuerst schreibt ihr seine Frau Grete Grumach: »Und sofort, wenn ich wieder hier bin, in 14 Tagen, schicke ich Dir die Gedichte, die heute schon mitgehen sollten, aber ich kann sie nicht mehr abschreiben, ich habe noch so viel zu tun und seine Klaue ist ein bisschen schwer zu entziffern.«15 Und dann Grumach selbst: »Entschuldige, wenn ich die Gedichte noch nicht geschickt habe. Es war nicht Treulosigkeit oder Vergesslichkeit, sondern ein sehr anstrengendes halbes Jahr mit viel Arbeit, vollbesetztem Semester, Akademie-Jubiläum und ein Abschluss des Text-Bandes meiner DivanAusgabe, den ich vor einigen Wochen eingereicht habe.«16 Es finden sich mehrere Gedichte in dem Ordner: ein Scherzgedicht,17 ein Gedicht auf England (Kent),18 ein Gedicht über Vergänglichkeit (Rehe)19 und eines über die griechische Antike ral Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 11 / F older: Grumach, Ernst, 1950-1971, nd. Das Gedicht in der Manuskriptfassung ist von Grumach datiert 1.2.1948-12.2.1950, Blatt 006914. 14 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Berlin, 14.2.1950, S. 214. 15 | LOC: General Correspondence, 1938-1976. nd, In: Box11 / F older: Grumach Ernst, 1950-1971: Grumach, Grete an Arendt, Berlin, 6.7.1950, Blatt 006909. 16 | Ebenda, Grumach an Arendt, Berlin, 3.8.1950, Blatt 006912. 17 | Vgl. ebenda, Grumach, Ernst: Scherzgedicht, Blatt 006917. 18 | Vgl. ebenda, Grumach, Ernst: Kent, Blatt 006916. 19 | Vgl. ebenda, Grumach, Ernst: Rehe, Blatt 006906.

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(Amphion).20 Dem Briefwechsel nach zu schließen, wurde der Kontakt nachfolgend nur noch sporadisch aufrechterhalten: Als Grumach Anfang der 1960er Jahre schwer krank wurde, findet sich ein kurzer Austausch und 1967 die Nachricht seines Todes mit einer Würdigung durch einen Kollegen.21

2.2 M artin H eidegger Hannah Arendts Briefwechsel mit Heidegger steht nicht nur unter dem Zeichen der Philosophie, sondern auch der Poesie. Heidegger hatte bereits als junger Mann Gedichte in der Zeitschrift Der Akademiker publiziert und er muss auf die junge Hannah Arendt gerade wegen der poetischen Dimension seiner Sprache Eindruck gemacht haben. Antonia Grunenberg, die eine Doppelmonographie über Arendt und Heidegger verfasst hat, äußert sich zu Heideggers Persönlichkeit in den frühen 1920er-Jahren: »Heidegger vereinigte Widersprüchliches in sich. Der Mann war asketisch, doch konnte er auch plötzlich in Lebensfreude ausbrechen. Er war ein Denker par excellence und pflegte bis in die Kleidung und ins Gebaren den Stil des Bäurisch-Handwerklichen. Er war von hochfahrendem Furor erfüllt, doch zeichnete ihn auch eine verblüffende Bescheidenheit aus. In seiner Sprache mischten sich platonischer Gestus und lyrischer Purismus.«22 Als junges Mädchen in den 1920er-Jahren übersandte Arendt ihm manche ihrer Gedichte und ihren autobiographischen Text Die Schatten23, der in der dritten Person verfasst ist. Welche Gedichte sie ihm zukommen ließ, kann man nur indirekt aus seinen Briefen an sie entnehmen, da er Hannah Arendts Briefe vernichtet hat. Diese frühen Gedichte Arendts zeugen vor allem von einem verzweifelten jungen Mädchen, das unter der unerfüllten Liebesbeziehung leidet: Im Sommer 1925 entstanden lässt Sommerlied24 den Willen erkennen, die Freude zu bewahren, auch wenn man schweigen muss, Warum gibst du mir die Hand25 drückt eine Aufforderung an den Geliebten aus, sich ganz zu ihr zu bekennen, und Abschied26 thematisiert bereits das Ende. Aus Heideggers Briefen kann man schließen, dass

20 | Vgl. ebenda, Grumach, Ernst: Amphion, Blatt 006907. 21 | Vgl. ebenda, Grumach, Ernst: Rede gehalten auf dem Waldfriedhof Heerstraße zu Berlin am 13. Oktober 1967 von Rudolf Kassel, ohne Blattnummer. 22 | Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München, 2006, S. 83. 23 | Vgl. ebenda, S. 102 f. Und Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt /  M ain, 1996, S. 93 f. 24 | Arendt, Hannah: Sommerlied. In: Gedichte, S. 20. 25 | Arendt, Hannah: Warum gibst Du mir die Hand. In: Gedichte, S. 21. 26 | Arendt, Hannah: Abschied. In: Gedichte, S. 22.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Arendt ihm nur diese drei Gedichte gesendet hat.27 Die Lyrik, die darauf folgt, ist von melancholischer Stimmung geprägt und verarbeitet die Trennung, wie etwa Spätsommer 28, das die Trauer über den Verlust verrät, und drei weitere Gedichte, verfasst im Winter 1925 / 1926: Oktober, vormittag 29 zeugt von Leid, in An die Freunde30 bittet sie diese, ihren Rückzug zu verzeihen, und An die Nacht31 ist ein Stimmungsbild, in dem sie direkt und zum ersten Mal »vom Bösen« spricht: »An die Nacht Neig Dich, Du Tröstende, leis meinem Herzen. Schenke mir, Schweigende, Lindrung der Schmerzen. Deck Deine Schatten vor Alles zu Helle – Gib mir Ermatten und Flucht vor der Grelle. Lass mir Dein Schweigen, die kühlende Löse, Lass mich im Dunkel verhüllen das Böse. Wenn Helle mich peinigt mit neuen Gesichten; Gib Du mir die Kraft zum steten Verrichten.«

Die Gedichte lassen erkennen, dass Hannah Arendt nicht die bewundernde, hörige Studentin eines Professors und verheirateten Mannes war. Sie war durchaus verliebt, aber nicht blind sowohl Heideggers ambivalenten Charakter betreffend wie auch die gesellschaftliche Situation, in die er sie brachte. Aber erst Ende 1932, als Heidegger gegenüber Studenten offen antisemitisch agierte, muss sie ihn zur Rede gestellt haben, um im Anschluss den radikalen Bruch zu vollziehen.32 Fünfundzwanzig Jahre später sollte Heidegger ihr nahezu dreißig Gedichte zusenden, die zwischen Februar und September 1950 entstanden sind. Manche sind direkt Arendt gewidmet und beziehen sich auf ihre Begegnung am 6. Februar 1950 in Freiburg, die er als bedeutendes Ereignis definierte und damit einhergehend begrifflich philosophisch festmachte: »Das Ereignis ereignet das Sein und die Zeit, und diese sind verantwortlich für unseren Umgang mit allem 27 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 15: Heidegger an Arendt, 13.5.1925, S. 31: »Und ich danke Dir für ›Deine‹ Gedichte.« Sie dürfte ihm zuvor Sommerlied und Warum gibst Du mir die Hand … zugesandt haben. Vgl. ebenda, Brief 27: Heidegger an Arendt, 2.8.1925, S. 43: »Liebe Hannah! Ich danke Dir für den ›Abschied‹.« Somit ist anzunehmen, dass sie ihm Abschied zuvor geschickt hatte. 28 | Arendt, Hannah: Spätsommer. In: Gedichte, S. 23. 29 | Arendt, Hannah: Oktober vormittag. In: Gedichte, S. 24. 30 | Arendt, Hannah: An die Freunde. In: Gedichte, S. 26. 31 | Arendt, Hannah: An die Nacht. In: Gedichte, S. 27. 32 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 45: Heidegger an Arendt, Winter 1932-1933, S. 68 f.

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Seienden.«33 Die ersten Verse, die Heidegger ihr nun zuleitet, stellen dieses Erlebnis des Seins im Augenblick dar: »Im Jähen, Raren, blitzt uns Seyn. Wir spähen, wahren – schwingen ein.« 34

Das Ereignis ist für Heidegger Ausdruck des Urphänomens Goethes, das Arendt in ihrem Essay über Benjamin und indirekt Heidegger ebenfalls 1968 hervorheben sollte: »Der Einfluss Goethes nämlich, also auch eines Dichters, in dessen Denken die Vorstellung vom ›Urphänomen‹ bekanntlich im Zentrum steht. Das Urphänomen ist aber keine Idee, aus der sich eine philosophische oder theologische Theorie entwickeln ließe. Es ist vielmehr ein konkret und ›materiell‹ Auffindbares, in dem Bedeutung (dies goetheschste aller Worte kehrt bei Benjamin immer wieder) und Aussehen oder Erscheinung, Wort und Ding, Idee und Erfahrung zusammenfallen.«35 In diesem Zusammenhang kann man den Eindruck gewinnen, dass Heidegger zu emotionaler Tiefe, zu wirklicher Liebe fähig gewesen sein mag: »Das Ereignis ist für Heidegger mit Goethe gesprochen – das Urphänomen, bei dessen ›Gewahrwerden nach einem Wort Goethes den Menschen eine Art von Scheu bis zur Angst überkommt.‹«36 Wenn man allerdings den Inhalt mancher seiner Gedichte genauer betrachtet, in denen er das Ereignis der Gegenwart an die Vergangenheit bindet und nur oberflächliche Reue zeigt, erscheint der gleiche ambivalente Heidegger der Frühzeit: »November 1924 Stürzte aus entzogenen Gnaden nur die eine mir noch zu! Dass auf allen künftigen Pfaden bis ins Herz der reinen Ruh immer wahrer ich bereue; Mir erneue jene kindliche Scheue, deren Blick Vertrauen klagte, ahnend dann wie ich versagte.« 37 33 | Seubold, Günther: Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun. In: Heidegger-Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 302-306, hier S. 302 f. 34 | Heidegger Briefwechsel: Eintrag 50: Heidegger an Arendt, 5 Gedichte, S. 79. 35 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier S. 193. 36 | Seubold, Günther: Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun. In: Heidegger-Handbuch (Hg. Thomä, Dieter) Stuttgart, 2003, S. 302-306, hier S. 303. 37 | Heidegger-Briefwechsel: Eintrag 54: Heidegger an Arendt, 11.3.1950, S. 89.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Antonia Grunenberg bemerkt, dass der Blick, den Heidegger in diesem Gedicht beschreibt, auf das Erlebnis einer Vorlesung zurückgeht, als Arendt ihm zum ersten Mal aufgefallen war. Vor der ersten Sprechstunde »in der Vorlesung, muss sich jener Blick ereignet haben, mit dem sich Liebende erkennen. Heidegger jedenfalls kommt 1950 auf jenen Blick zurück, der ihn während der Vorlesung traf.«38 Hannah Arendt selbst verfasste 1957 das Gedicht Ich seh Dich nur: Sie erinnert sich konkret zurück, wie er in den 1920er-Jahren am Schreibtisch stand und das Band der Blicke fest gespannt war. Das Band zerriss und ein leerer Blick blieb zurück: Reines Geschick, aus der keine Geschichte wurde, wie etwa in ihrer Beziehung zu Blücher. Es ist anzunehmen, dass Arendt in diesem Gedicht Bezug auf Heidegger nimmt. »Ich seh Dich nur wie Du am Schreibtisch standest. Ein Licht fiel voll auf Dein Gesicht. Das Band der Blicke war so fest gespannt, als sollt es tragen Dein und mein Gewicht. Das Band zerriss, und zwischen uns erstand ich weiss nicht welches seltsame Geschick, das man nicht sehen kann, und das im Blick nicht spricht noch schweigt. Es fand und sucht ein Lauschen wohl die Stimme im Gedicht.« 39

Der enge Zusammenhang zwischen Ereignis und Sprache führt zur Dimension der Sprachphilosophie Heideggers: »›Das Ereignis ist sagend‹ und ›die Sage‹ ist die Weise, in der das Ereignis spricht. Erst in dieser und durch diese Sprache spricht sich dem Menschen das Sein zu.«40 Das bedeutet, dass der Mensch der Sprache gehört und nicht die Sprache dem Menschen. Der dichterische Ausdruck ist daher nicht in einer Subjekt-Objekt-Beziehung zu verstehen, also nicht als subjektives Empfinden oder als objektive Wirklichkeitserfahrung; er beruht auf dem »Entbergen« des Augenblicks, um das Ungesagte in der Sprache kenntlich zu machen:41 38 | Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, 2006, S. 95. 39 | Arendt, Hannah: Ich seh Dich nur. In: Gedichte, S. 80. 40 | Seubold, Günther: Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun. In: Heidegger-Handbuch (Hg. Thoma, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 302-306, hier S. 305. 41 | Vgl. Thomä, Dieter: Die späten Texte über Sprache, Dichtung und Kunst. Im »Haus des Seins« eine Orstbesichtigung. In: Heidegger-Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 306-325, hier S. 318.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung »Weß Ohr ist wach für das Gedicht? Bang herrscht mich das Gestell. Zuvor kommt Wüste, bis es bricht. Lang ruht Gedicht im Quell.« 42

Auch auf diese Verse antwortet Hannah Arendt in Form und Inhalt mit einem Gedicht. Allerdings übersandte sie im Unterschied zu Heidegger ihm ihre Lyrik nicht mehr. Heidegger bewahrte ab den 1950er-Jahren manche Briefe Hannah Arendts auf und ihre Gedichte sind nicht in seinen Unterlagen erhalten. »Dicht verdichtet das Gedicht, schützt den Kern vor bösen Sinnen. Schale, wenn der Kern durchbricht, weis’ der Welt ein dichtes Innen.« 43

Inhaltlich sind Heideggers Gedichte eine Darlegung seiner Philosophie: Er setzt Begriffe mit Bildern zusammen, die nur Allegorien bleiben, da sie sich aufschlüsseln lassen. In diesem Sinne gibt es keine Metaphern, die auf etwas Offenes, vielleicht Allgemeingültiges hinweisen. Thomä erkennt richtig, dass Heideggers dichterische Versuche begrenzt bleiben: »So kommt es, dass Heidegger sich merkwürdig schwer tut mit dem sprachlichen Zusammenhang über das einzelne Wort hinaus, auf den es in der Dichtung doch schlechterdings ankommt. […] Deutlich wird dies zumal in Heideggers eigenen dichterischen Versuchen, die hölzern bleiben.«44 Dieser philosophierenden Tendenz entsprechend, schickt Heidegger Arendt Gedichte zu, die er direkt für sie begrifflich entschlüsselt: »Das Ereignis Aus Licht und Laut ist Welt getraut. Wer bleibt die Braut, von wem er-schaut?

42 | Heidegger-Briefwechsel: Eintrag 54: Heidegger an Arendt, 11.3.1950, S. 89. 43 | Arendt, Hannah: Dicht verdichtet das Gedicht. In: Gedichte, S. 63. Vgl. den dritten Teil, 2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht«, S. 340. 44 | Thomä, Dieter: Die späten Texte über Sprache, Dichtung und Kunst. Im »Haus des Seins« eine Orstbesichtigung. In: Heidegger-Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 306-325, hier S. 317 f.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung Das Ereignis hat die Liebe – dass ihre Scheu die Herrin bliebe – an den Unterschied enteignet, ihm zur Treu Getrenntestes geeignet in ein Suchen, das nur findet wenn es jeden Fund verwindet in den Kranz des Selben.

Licht: Lichten: Aufgehend – Hervorgehenlassen Laut: Lauten: Brechen der Stille und Sammlung der Stille: Sammlung des stillenden Versammelns; (›Lesens‹: Weinlese)«45 Die Tatsache, dass Heidegger Begriffe seiner Gedichte direkt erläutert, weist darauf hin, dass er sich über den Wert der eigenen Versuche unsicher gewesen sein muss. Broch, der sich mit Heideggers Philosophie beschäftigte, äußerte sich gegenüber Hannah Arendt kritisch. Nüchtern stellt er fest, dass die HeideggerBilder etwa im Humanismus-Brief »verhatscht« seien.46 Oder er schickt ihr einen Nachlassband Husserls zu und vergleicht Heideggers sprachliche Fähigkeiten mit denjenigen Husserls: »Ich habe so hineingeschaut, aber das genügt, um ein Textgefühl zu haben. Man weiß ja auch mit den Fingerspitzen, was man flüchtig berührt. Und das ist eine Eisentextur. Daneben ist alles Heideggersche schwammig und quallig und seifig.«47 Wie äußerte sich Arendt direkt über Heideggers Gedichte? Die Begegnung am 6. Februar 1950 selbst sah sie bereits zwei Tage danach ausgesprochen sachlich: »Wir haben, scheint mir, zum ersten Mal in unserem Leben miteinander gesprochen, mit dem Resultat, dass ich selbst da an meinen verflixten Stups denken musste, der alles richtig beurteilen kann. […] Und die Vergangenheit, die auch wieder keine ist. Man soll die Zeit nicht überschätzen. Die Freiburger Sache war gespenstisch: die Szene mit der Frau, die vor genau 25 Jahren vielleicht fällig ge-

45 | Heidegger Briefwechsel: Brief 54: Heidegger an Arendt, 11.3.1950, S. 89 (Unterstreichung von Heidegger). 46 | Broch Briefwechsel: Brief 46: Broch an Arendt, 28.6.1949, S. 127. 47 | Ebenda, Brief 47: Broch an Arendt, 22.7.1949, S. 130. | Vgl. Csaba Olay über Brochs Präferenz Husserls gegenüber Heidegger: »In diesen Kontext gehört auch seine eigentümliche, weil intensivere Begeisterung für Husserl, als für Heidegger, was insofern überraschend ist, als Broch nicht zu sehen scheint, dass seine existentiellen Themen im Grunde genommen viel mehr mit Letzterem zu tun haben.« In: Olay, Csaba: Hannah Arendt und Hermann Broch: Roman und Moderne. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften (Hg. Kiss, Endre /  L ützeler, Paul Michael / R acz, Gabriella) Tübingen, 2008, S. S. 305-331, hier S. 313 f.

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wesen wäre, wurde abgehandelt, als gäbe es keine Zeit.«48 Im folgenden halben Jahr erhielt Arendt immer wieder Briefe, denen Heidegger Gedichte beigelegt hatte. Von den dreißig Poemen handeln einundzwanzig ausschließlich von seiner Begegnung mit ihr,49 und darunter sind acht Gedichte »Nur Dir« gewidmet.50 Zehn Gedichte sind allgemein gehalten.51 Hannah Arendt machte davon maschinenschriftliche Kopien. In seiner Persönlichkeit schien sie eine leichte Wahrnehmungsstörung auszumachen, doch die Gedichte nahm sie positiv auf: »Dabei ist Heidegger sicher normal, nur eben seinem eigenen Denken (oder was immer das ist) irgendwie hilflos ausgeliefert. Wie nota bene auch allem anderen. Macht übrigens herrliche Gedichte.«52 Ein Jahr später allerdings geht die Anerkennung über die Bedeutung seiner Lyrik hinaus und sie äußert sich sogar geschmeichelt: »Ich hatte dort [in Freiburg] beruflich zu tun und H. erschien im Hotel. Immerhin habe ich dabei indirekt die deutsche Sprache um einige sehr schöne Gedichte bereichert. Man tut was man kann.«53 Ihre Antwortgedichte auf diejenigen Heideggers – wie Ich seh Dich nur und Dicht verdichtet das Gedicht – zeigen, dass sie ihm widerspricht. Nur über ein Gedicht Heideggers äußert sich Hannah Arendt direkt und explizit positiv. Auffällig ist, dass es nicht ihre Wiederbegegnung zum Thema hat, sondern die Erfahrung des Todes anspricht:

48 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Wiesbaden, 8.2.1950, S. 207. 49 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Gedichte Heideggers an Arendt: Eintrag 50, Februar 1950: Du, Das Mädchen aus der Fremde, S. 80. | Brief 54, 11.3.1950: November 1924, S. 86, Der Ruf, S. 87, Persona, Das Ereignis, S. 88. | Eintrag 56, März 1950: Fünf Jahrfünfte, Märzanfang, S. 91, Holzwege, Denken, S. 92. | Eintrag 58, April 1950: Wahre in die tiefste Kluft, Oh wie weit, S. 96. | Brief 61, Mai 1950: Uns ereignend, S. 99, Das Licht, Schöne, S. 100, Glut-Licht, S. 101, Gedacht und zart, S. 102, Und so nenn es, S. 103. | Eintrag 63, Mai 1950: Sonata sonans, S. 106, Das Geheimnis wächst, S. 107, Der Wiederblick, S. 108. | Brief 67: 14.9.1950: Wellen, S. 116. 50 | Vgl. ebenda, Heidegger an Arendt: Eintrag 56, März 1950: Fünf Jahrfünfte, Märzanfang, S. 91, Holzwege, S. 92. | Brief 61, Mai 1950: Uns ereignend, S. 99, Das Licht, S. 100, Glut-Licht, S. 101, Gedacht und zart, S. 102, Und so nenn es, S. 103. 51 | Vgl. ebenda, Gedichte Heideggers an Arendt: Eintrag 50, Februar 1950: Entsprechung, Tod, S. 80. | Brief 54, 11.3.1950: Der Mensch, S. 86, Welt, Die Sterblichen, S. 87, Weß Ohr ist wach, S. 89. | Brief 61, Mai 1950: Der Ton, S. 99. | Eintrag 63, Mai 1950: Die Fluh, S. 107, Sprache, S. 108. 52 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Wiesbaden, 2.3.1950, S. 223. 53 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 13: Arendt an Blumenfeld, New York, 1.4.1951, S. 52.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung »Tod ist das Gebirg des Seyns im Gedicht der Welt. Tod entrettet Deins und Meins an’s Gewicht, das fällt – in der Höhe einer Ruh rein dem Stern der Erde zu. Für die Freundin der Freundin.« 54

Den Hintergrund des Gedichts bildete die schwere Krankheit einer Freundin Arendts, Hilde Fränkel, die einige Monate später starb. Nach Blüchers Tod sollte sich Hannah Arendt an das Gedicht erinnern und aus dem Gedächtnis die Verse niederschreiben, die sie an Heidegger zur Erinnerung adressierte. Sie wandelte die Zeile »Gedicht der Welt« in »Spiel der Welt« um: »Ich hoffe, ich habe nicht falsch zitiert, mag nicht nachsehen.«55 Das Gedicht selbst hebt sich durch Kürze und Mangel an Pathos von den anderen Gedichten Heideggers ab. In der dritten, späten Phase der Beziehung ab 1966 schickte ihr Heidegger nach und nach vier Gedichte zu. Eines davon über das Zeit-Erleben bewertet Arendt positiv. Sie äußert gegenüber Mary McCarthy, Heidegger habe ihr ein schönes Gedicht beigelegt.56 Direkt an Heidegger schreibt sie: »Seit Tagen, Wochen will ich Dir schreiben, Dir wenigstens sagen, wie gut Dein Brief tat, Deine Anteilnahme, das Zeit-Gedicht als Hilfe beim Nachdenken.« »Zeit Wie weit? Erst wenn sie steht die Uhr im Pendelschlag des Hin und Her hörst Du: sie geht und ging und geht nicht mehr. Schon spät am Tag die Uhr nur blasse Spur zur Zeit, die, nah der Endlichkeit aus ihr ent-steht.« 57

54 | Heidegger-Briefwechsel: Gedicht Heideggers an Arendt: Eintrag 50, Februar 1950: Tod, S. 80. 55 | Ebenda, Brief 127: Arendt an Heidegger, New York, 27.11.1970, S. 205. 56 | Vgl. McCarthy-Briefwechsel: Arendt an McCarthy, New York, 22.11.1970, S. 395. 57 | Ebenda, Brief 126: Heidegger an Arendt, 9.11.1970, S. 205.

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Das Gedicht ist auch in der Hommage an René Char Gedachtes / Pensivement veröffentlicht und weist Parallelen zu Rilkes Dinggedichten auf: Im Zentrum stehen nun keine philosophischen Begriffe, sondern rein Erlebtes, dem allgemeingültiger Rang zukommt. Manche von Arendts eigenen Gedichten sind Antworten auf diejenigen von Heidegger. Diese nicht abgeschickten Antworten zeigen im Vergleich zu Heideggers Versuchen eine größere Tiefe sowohl im Formwillen wie auch in der geistigpsychischen Kraft.58

2.3 G ünther S tern Günther Stern, der später das Pseudonym Günther Anders annahm, war Hannah Arendts erster Ehemann. Antonia Grunenberg berichtet, dass die Ehe ArendtStern von Anfang an nicht besonders glücklich war: »Zu Beginn lebte Arendt in Paris noch mit Günther Stern zusammen, der im Januar 1933 aus Deutschland geflohen war. Von dieser Ehe war eher eine Notgemeinschaft übriggeblieben als eine liebevolle Beziehung. Beide hatten sich bereits in Berlin auseinandergelebt. Doch es gelang ihnen, das Verhältnis in eine Freundschaft umzuwandeln.«59 Arendt ließ sich während der Emigration in Frankreich in den 1930er- Jahren von ihm scheiden. Die Differenzen zwischen beiden hat Elisabeth Young-Bruehl zusammengefasst: Sie standen unterschiedlichen Kreisen nahe – er den Kommunisten, sie den Zionisten. Stern bewegte sich in Brechts Umfeld, für dessen Variante des nihilistischen Atheismus Arendt sich zu diesem Zeitpunkt nur begrenzt erwärmen konnte:60 »Als sie und Stern an ihrer Dissertation über Augustinus arbeiteten, hatte sie sich geweigert zu sagen, ob sie wirklich an das Prinzip trans58 | Vgl. den dritten Teil, 2.1.3 »Und keine Kunde«, S. 335 (Antwort auf Heideggers Weß Ohr), den dritten Teil, 2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht«, S. 340 (Antwort auf Heideggers Sprache), und den dritten Teil, 2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur …«, S. 360 (Antwort auf Heideggers Ontologie). | Vgl. auch den Essay von Ursula Ludz über die Liebesgeschichte von Arendt und Heidegger in der Rezeption von Stifters Kalkstein durch Heidegger und in der von Brochs Die Erzählung der Magd Zerline durch Arendt. Beide erkannten in den jeweiligen literarischen Modellen vor allem das »Nievergessene« oder »Unvergessene«. Ludz, Ursula: Das nie-vergessene Unvergessbare. Anmerkung zur Liebesgeschichte HannahMartin. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / L ühe, Irmela von der): Göttingen, 2007, S. 84-94. 59 | Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, 2006, S. 207 f. 60 | Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 157. | Vgl. dazu auch Grunenberg: Stern war auch mit Brecht befreundet, der zuerst Vorurteile gegen den Heidegger-Schüler hatte; doch auf seine Empfehlung gelang es Stern, auf dem Zeitungsmarkt unterzukommen: »Fortan unterzeichnete er seine Artikel mit

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zendenter Liebe glaubte, und dieses Schweigen setzte sich fort, als sie gemeinsam über Rilkes moderne Version dieses Prinzips schrieben.«61 Der Essay Monaden von Günther Stern, den er kurz nach Arendts Tod anhand von Notizen verfasste, die um 1930 entstanden waren, gibt Aufschluss über ihre unterschiedlichen Auffassungen über weltliche wie transzendente Fragen: »Wenn ich sie beim gemeinsamen Korrekturlesen ihrer Augustinus-Dissertation (immer wieder, gewiss auf jeder Seite einmal) fragte, ob sie diese oder jene These des Augustinus nur referierte oder kommentierte oder stillschweigend unterschriebe, da antwortete sie mir unbegreiflicherweise niemals ganz unzweideutig. Auch bei der gemeinsamen Deutung der ›Duineser Elegien‹ geschah es zuweilen, dass sie sich aufs merkwürdigste ›ver-rilkte‹.«62 Günther Stern schrieb selbst Gedichte, die er mit Hannah Arendt teilte. Umgekehrt allerdings wusste er nichts davon, dass Arendt selbst Lyrik verfasste: »Auch ihm war die Seite ihres Lebens unbekannt, die in den Gedichten zum Ausdruck kam. Obwohl sie beide die Dichtung liebten und obwohl Arendt Sterns Versuche schätzte – sogar seine Gedichte auswendig kannte und rezitierte –, wusste er nie, dass sich in einem ihrer Notizbücher Gedichte und poetische Skizzen häuften.«63 In Arendts Briefwechsel mit Stern kommt ihr Interesse an seinen Gedichten zur Sprache. Als sie sich Anfang der 1940er Jahre nach der Flucht aus Europa in New York niederließ, schrieb sie ihm nach Hollywood. Er versuchte, sich dort als Drehbuchautor zu etablieren. Leider finden sich seine Briefe nicht in ihren Unterlagen, aber ihre Briefe an ihn hat er auf bewahrt. So muss er ihr mehrere Gedichte zugeschickt haben, von denen zwei – wie aus ihren Briefen zu erkennen ist – mit Sicherheit bestimmt werden können. In Schlaflied für ein Emigrantenkind 64 spielt Arendts Mutter Martha an65 und Hannah Arendt kommt zwei Mal auf das Gedicht Religionsstunde übermorgen zu sprechen.

›Günther Anders‹.« Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, 2006, S. 136 f. 61 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 157. 62 | Anders, Günther: Monaden (1975). In: Anders, Günther: Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt, München, 2011, S. 11-23, hier S. 15. 63 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 157. 64 | Anders, Günther: Tagebücher und Gedichte, München, 1985, S. 377. 65 | Arendt, Martha an Stern New York, 18.7.1941: »Güntherchen, hab Dank für das ›jüdische‹ Wiegenlied. Wenn man hier die grosse Masse der Juden sieht, sicher und zuversichtlich in ihrer Hoffnung, […] so bekommt man selber wieder Mut und möchte an eine Lösung und eine bessere Zukunft hoffen.« Ohne Blattnummer.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung »Religionsstunde übermorgen Gäbs den Vater, den Gerechten, er bestrafe nur die Schlechten. Niemals ließe er die Guten Und Schuldlosen mitverbluten. Aber da du selbst gesehen, dass die Guten untergehen, und die Schlechten ohne Strafen fest in ihren Betten schlafen, musst du lernen, liebstes Kind, dass wir alle Waisen sind. Nein, du bist der erste nicht, dem die Hoffnung niederbricht, Tausend gab’s, seit tausend Jahren, die schon vor dir trostlos waren, weil der Nachtwind ihr Gebet stets ins Leere fortgeweht. Also bleibt uns nur der Schluss, dass Gott längst schon tot sein muss, und verlassen und verwaist nur sein Thron im Raume kreist.« 66

Im zweiten Teil des Gedichts bringt Stern zum Ausdruck, dass der Mensch nun Gottes Platz einzunehmen habe, damit Gutes in der Welt geschehe: »Jedes Glück, um das er rang, / jede Hoffnung, die misslang, / alle Pläne und Projekte, / die er nicht zum Leben weckte, / haben wir mit unseren schwachen / Kräften doch noch wahr zu machen.«67 Arendts Kommentar spiegelt ihre Abneigung gegenüber Sterns atheistischen Tendenzen, die sich nihilistisch ausdrücken: »Das Ge66 | Religionsstunde übermorgen (Strophe 1). In: Anders, Günther: Tagebücher und Gedichte, München, 1985, S. 359 f. Das Gedicht hatte Stern bereits 1936 verfasst, also Arendt später zukommen lassen. 67 | Ebenda, S. 360.

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dicht finde ich gut, Du hast rein technisch enorm viel zugelernt. Hast Du viel solch Sachen im Lesebuchstil? Aber hiervon abgesehen, ist es höchst fraglich, ob man Kindern den ersten Gott ausreden soll. Bin nicht der Meinung.«68 Arendts Auffassung, dass der Mensch sich nicht auf ein transzendentes Prinzip verlassen kann und Religion nur ein fragwürdiges Geländer darstellt, an das man sich aus Unsicherheit klammert, liegt nicht im Widerspruch mit Sterns Überzeugungen: Der Mensch sollte versuchen, sich immanent an die Realität zu halten. Allerdings schließt das wiederum nicht einen möglichen Glauben an eine Transzendenz aus, die jedoch dem privaten Bereich vorbehalten bleibt. Arendt sagt weder Gott noch ontologischen Vorstellungen ab. So schreibt sie etwas später an Stern einen weiteren Kommentar zu seinem Gedicht: »Was den Atheismus bei Kindern betrifft, so bin ich wirklich der Meinung, dass die Deutschen sich da genügend erfolgreich bemühen. Ernsthaft: Das AT [Alte Testament, A.B.] ist das schönste Geschichtenbuch der Welt. Aber es ist mir nicht weiter sehr wichtig, vielleicht hast Du Recht. Die Gedichte jedenfalls sind gut. Und man sollte den Dichter nie zu genau nach seiner Theorie befragen.«69 Stern war in seiner ablehnenden Denkweise noch radikaler als Brecht, der etwa in der Ballade über Lao-Tse und die Entstehung des Tao-Te-King auf das Eine zu sprechen kommt, auf das Tao, für das es an sich keinen Namen gibt. Die Unvereinbarkeit der Gesinnung zwischen Stern und Arendt ging über charakterliche Differenzen hinaus.

2.4 H einrich B lücher Hannah Arendt lernte Heinrich Blücher im Frühjahr 1936 in Paris kennen. Sie begegnete ihm bei einem öffentlichen Vortrag.70 Blücher besaß keinerlei akademische Ausbildung, war allerdings ein begabter Autodidakt und bewies große Fähigkeiten als politischer Redner. Später sollte er am Bard-College als Philosophieprofessor lehren. Er war eng mit Robert Gilbert befreundet, der mit Schlagern, Liedern und Operetten auf der Bühne wie im Film im Berlin der 1920erJahre erfolgreich war. Beide hatten sich dem Kreis um Arno Holz, den Begründer des Naturalismus, angeschlossen.71 Im Unterschied zu Arendt war Blücher ein begeisterter Kinogänger: »Seine Liebe zu den Produkten sowohl des Berliner als 68 | Österreichische Nationalbibliothek Wien: Nachlass Günther Stern-Anders: Arendt an Stern, 25.6.1941, ohne Blattnummer. Beigefügt ist ein Brief ihrer Mutter, vom 26.6.1941: »Hoffentlich erscheint auch Dein ganzer Gedichtband, auf den ich mich schon heute freue.« 69 | Ebenda, Arendt an Stern, nd. (vor Oktober 1941), ohne Blattnummer. 70 | Vgl. Bernd Neumanns Doppel-Monographie: Neumann, Bernd: Hannah Arendt – Heinrich Blücher, Berlin, 1998. | Vgl. auch Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, 2006, S. 211, sowie Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /   M ain, S.  185. 71 | Vgl. ebenda, S. 194.

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auch des amerikanischen Films, sein Gedächtniskatalog von Filmdaten aller Art und seine Leidenschaft, Filmmusik und Schlager zu singen, waren Vorlieben, die Hannah Arendt immer etwas fremd blieben. Aber die Gedichte und Lieder, in denen Robert Gilbert die Zeit seiner beginnenden Freundschaft mit Blücher einfing, waren Bestandteil ihres ungeheuren Gedächtnisses für deutsche Lyrik.« 72 Mit Heinrich Blücher verband Hannah Arendt menschlich, moralisch und intellektuell eine tiefe Liebesbeziehung, die bis ans Ende ihres Lebens dauern sollte. Ihrem gemeinsamen Briefwechsel ist zu entnehmen, dass sie ihm ihre eigenen dichterischen Versuche zeigte. Aus Briefen, die sie Blücher von ihren Reisen schrieb, sind folgende lyrischen Zeugnisse aus ihrer Hand erhalten: Frankreich73 und Holland74 sowie Herr der Nächte.75 Blücher nimmt regen Anteil, schickt ihr Kommentare und Vorschläge zur Überarbeitung der Gedichte zu. Daraus kann man schließen, dass sie ihm vermutlich auch ihre Poesie zeigte, als sie beisammen lebten. In Arendts Nachlass sind Blüchers Papiere ebenfalls archiviert, darunter mehrere Gedichte, die er an sie gerichtet hat. Von Arendt gibt es leider keine schriftlichen Äußerungen dazu. Zwei setzen sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinander, Der militante Narr und Die Verhältnisse, zudem sind ein ironisches Liebesgedicht, Pfeil des Apoll, und eine metaphysische Offenbarung, Nacht wird Sein, erhalten. Schließlich finden sich zwei Gedichte, die seine emotionale Verbundenheit mit Arendt ausdrücken, Wunsch, Wille, Weg und A birthday play on personal pronouns.76 An den Themen der Gedichte Blüchers wird deutlich, dass Arendts und Blüchers geistiges Spektrum wahrhaftig übereinstimmte. Besonders Wunsch, Wille, Weg, 1937, kurz nach ihrer ersten Bekanntschaft verfasst, zeigt, auf welch tiefem Fundament sie ihre Beziehung auf bauen konnten und weshalb sie in späteren Zeiten alle Finsternisse und Stürme überlebten:

72 | Ebenda, S. 195. 73 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Paris, 1.5.1952, S. 258. Vgl. Arendt, Hannah: Fahrt durch Frankreich. In: Gedichte, S. 56. 74 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Paris, 9.10.1956, S. 443. Vgl. Arendt, Hannah: Holland In: Gedichte, S. 78. 75 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Hanover, New Hampshire, 21.7.1947, S. 150. | Vgl. den dritten Teil, 2.1.1 »Herr der Nächte«, S. 323, und Arendt, Hannah: Herr der Nächte. In: Gedichte, S. 41. 76 | Vgl. LOC: Family Papers, 1898-1975, nd. In: Box 7 /  F older: Writings, Blücher, Heinrich: Poetry. Die Blätter sind ohne Blattnummern.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung »Wie mich das Meine Alles zu Dir drängt, Wie mich das Deine Alles zu Dir zieht. Wenn es nun wäre, Dass ein gleicher Strom, In Deinem eignen Werk gespeichert, Aus Deinem Leben langsam angereichert, Auf diesen dünnen Drähten hier, Die ich so hastig hin zu Dir, So zaghaft nur zurück zu mir Zu spannen suche zu lebendig leitendem Gespinst – Wenn’s also wär, Dass wechselnd solch ein Strom Von Dir nun käme zu mir her – So wie die Kräfte anders sich verbinden im Atom, Wie eine neuversuchte Welt Aus alten Sternen ineinander stürzt, Wo alles sich, nach stärkerem Gesetz genormt, Aus einem neuen inneren Geschehen Nach außen fest zu seinem Sein zusammenformt, – Und sich zu lösen erst vermag, Um einem weiter Werdenden anheimzufallen, Wenn es gerecht geworden ist Den vorgebahnten Zwecken allen – Wenn’s also wirklich wär – Wenn Deins wie Meins, Zu Eins geworden, Erst kindlich zwischen beiden hin- und wiederliefe, – Dann werden wir’s bestehen. Von ausgewogener Kraft gehalten. Und in dem äußeren mördrischen Geschehen Die wenigen lebendigen Gestalten Zum letzten Stoß in diesem letzten Kampf bereitzuhalten.« 77

Hannah Arendt und Heinrich Blücher sollten im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre auch miteinander an ihrem Werk arbeiten. Besonders Arendts Diskussionen mit Blücher, der für sie auch Recherchen in Bibliotheken unternahm, trugen wesentlich zu ihrem Totalitarismus-Buch bei, das sie ihm schließlich widmete. Das Hin 77 | Ebenda, Blücher, Heinrich: Wunsch, Wille, Weg, ohne Blattnummer.

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und Her des Austauschs, im Gedicht bereits 1937 beschrieben, wurde zur Prophezeiung, die sich bewahrheiten sollte. Antonia Grunenberg beschreibt Arendts Ehe mit Blücher als »GesprächsEhe«, die man fast als symbiotisch bezeichnen kann: »Es war in dieser Zeit der aufblühenden Freundschaften, dass sich zwischen Arendt und ihrem Mann Heinrich Blücher jene ständig wachsende geistige Übereinstimmung herausbildete, die es, da sie nicht schriftlich überliefert ist, nahezu unmöglich macht, den wahren Anteil Blüchers an den Büchern Arendts zu schätzen. Die Ehe war eine GesprächsEhe, die morgens mit dem Austausch über Zeitungslektüre begann und nachts im leidenschaftlichen Streit über philosophische oder Zeitfragen mit Freunden oder auch miteinander endete. Das Miteinander-Reden, das in ihrem Denken eine große Rolle spielte, zog sehr viele in seinen Bann. Und Blücher spielte darin eine große Rolle, jener Mann, von dem Kazin schrieb, er sei ›leidenschaftlich, manchmal erschreckend geistvoll gewesen.‹« 78 Arendt sollte in ihrem Leben mit Blücher einige Gedichte über ihre erfüllte Liebe zu ihm verfassen. Zwar ist keines davon namentlich an ihn adressiert, aber ihrer Thematik kann man einiges entnehmen: Park am Hudson berichtet von einem liebenden Paar, mit dem »die Zeit geht« und das »der Zeiten Last« trägt.79 Es gab die Idee, »The burden of our time« als Untertitel für ihr Totalitarismus-Buch zu verwenden, die schließlich verworfen wurde, aber auf ihre gemeinsame Arbeit an dem Werk hindeutet. Auch das Gedicht Ach, wie die Zeit sich eilt (1951), in dem das »Herz verweilt«, was für die Dauerhaftigkeit ihrer Liebe spricht, weist auf ihre Beziehung zu Blücher hin.80 Was wir sind und scheinen (Februar 1951) spricht von einem »Beisammen, das den Weg nicht kennt«.81 Ein Mädchen und ein Knabe (August 1954), in dem ein zuerst ein junges, dann ein gemeinsam gealtertes Paar dargestellt wird, bei dem das »Zusammen« wohnt, das »Leben und Jahre nicht kennt«82 . Schwere Sanftmut (Mai 1955) beschreibt ein Paar, das durch Sanftmut und Schwermut »ineinander gestimmt« wird:

78 | Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München, 2006, S. 221 f. 79 | Arendt, Hannah: Park am Hudson In: Gedichte, S. 36. Vgl. auch dritter Teil, 2.2.2 »Park am Hudson«, S. 354. 80 | Arendt, Hannah: Ach, wie die Zeit sich eilt In: Gedichte, S. 53. Vgl. auch dritter Teil, 2.2.4 »Ach, wie die Zeit sich eilt«, S. 372. 81 | Arendt, Hannah: Was wir sind und scheinen In: Gedichte, S. 48. 82 | Arendt, Hannah: Ein Mädchen und ein Knabe In: Gedichte, S. 72.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung »Schwere Sanftmut Sanftmut ist im Inneren unserer Hände, wenn die Fläche sich zur fremden Form bequemt. Sanftmut ist Im Nacht-gewölbten Himmel, wenn die Ferne sich der Erde anbequemt. Sanftmut ist In Deiner Hand und meiner, wenn die Nähe jäh uns gefangen nimmt. Schwermut ist In Deinem Blick und meinem, wenn die Schwere uns ineinander stimmt.« 83

2.5 R obert G ilbert Robert Gilbert war Heinrich Blüchers engster Freund. Nach Elisabeth YoungBruehl erzählte Hannah Arendt gern eine Anekdote über die Freiheit und Leichtigkeit, die sich die beiden gegenüber den Widrigkeiten des Lebens bewahrten: »Blücher war sehr krank, und ein Arzt hatte die Prognose ausgesprochen, dass seine Krankheit sehr bald zum Tode führen würde. Blücher teilte das seinem Freund mit, und Gilbert zögerte nur ganz kurz, bevor er sagte: ›Na, wenn du bald stirbst, warum fahren wir dann nicht noch schnell nach Italien?‹ Und weg waren sie, per Anhalter.« 84 Dieser Gleichmut sowie der Mangel an Sentimentalität kennzeichnen auch Gilberts Lieder der Filme und Operetten, von denen manche heute noch bekannt sind wie etwa Die drei von der Tankstelle, Der Kongress tanzt oder Das weisse Rössl. In den zwanziger Jahren waren Gilberts Lieder sehr beliebt und wurden in Berlin gesungen und gepfiffen. Es ist anzunehmen, dass Gilbert und Blücher über manchen Versen gemeinsam gebrütet haben, wie bei dem Lied 83 | Arendt, Hannah: Schwere Sanftmut. In: Gedichte, S. 75 (Unterstreichungen von Arendt). 84 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 197.

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Das ist die Liebe der Matrosen. So kommt Kurt Blumenfeld darauf zu sprechen: »Der Vater von Viktor ist Kapitän, ein Kerl, der Heinrich großartig gefallen würde. Als ich mit ihm sprach, dachte ich an Heinrichs Schlager ›Ja, das ist die Liebe der Matrosen‹ …«85 Und Arendt korrigiert Uwe Johnsons Buch Jahrestage, in dem er behauptet, das gleichnamige Lied sei von den Nazis gesungen worden: »›Das ist die Liebe der Matrosen‹ vom Juden Robert Gilbert, dem bekannten Schlagerdichter, kann also die Naziwehrmacht nicht gesungen haben.« 86 Gilbert emigrierte wie die Blüchers in die USA. Marianne Gilbert, seine Tochter, berichtet in ihrer Autobiographie von Besuchen ihrer Eltern bei Arendts Silvesterpartys87 oder von Einladungen der Gilberts bei Gulasch, zu denen die Emigrantenfreunde kamen und die regelmäßig mit Klaviereinlagen endeten, in denen die Lieder von Gilbert gesungen wurden: »Sie ließen vorübergehend ihre Sorgen sein und die hitzigen Debatten ruhen. Auf den Gesichtern zeigte sich ein Lächeln, die Körper reagierten auf die Musik, Köpfe nickten, Schultern wiegten sich, Füße schlugen den Takt zu den vertrauten Klängen. Spiel ›Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist! O Marie, wie kalt ist die Welt!!‹ Spiel ›Das gibt’s nur einmal‹ …!«88 Gilbert hatte als deutschsprachiger Songtexter in New York eine schwere Zeit. Er versuchte sich in Songs in englischer Sprache, doch es fiel ihm schwer: »Leichter tat er sich mit deutschen Gedichten, welche er unter dem Titel Meine Reime, Deine Reime in New York veröffentlichte und welche ihm die Bewunderung von Bert Brecht und Hannah Arendt einbrachten, die in ihm ›jenen Nachfahr [entdeckte], den Heinrich Heine nie gehabt hat.‹ Hin und wieder trug er sie Freunden vor, die mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörten und manchmal am Ende der Lesung Beifall klatschten.«89 Arendt betonte in ihrem Essay über Gilbert seine besondere Herzensgüte: So meinte Gilbert, dass seine Schlager nur ein Spiel gewesen seien, seine richtige Arbeit seien Artikel und Gedichte über das, was einfache Arbeiter in Russland und Deutschland erlebten. Doch Freunde meinten zu ihm, sie hätten genügend Leute, die auf der Straße demonstrierten, was sie bräuchten, seien seine Schlager, da diese Geld einbringen.90 In ihren Briefen tauschen sich Arendt und Blücher auch über Robert Gilbert aus. So soll Gilbert Arendts Dissertation gelesen haben und davon beeindruckt gewesen sein.91 Da Gilbert nach seiner amerikanischen Emigration wieder nach Eu85 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 2: Blumenfeld an Arendt, Jerusalem, 26.6.1945, S. 20. 86 | Johnson-Briefwechsel: Brief 44: Arendt an Johnson, Tegna, August 1974, S. 132. 87 | Vgl. Gilbert, Marianne: Das gab’s nur einmal, Zürich, 2007, S. 145. 88 | Ebenda, S. 151. 89 | Ebenda, S. 133. 90 | Vgl. Ebenda, S. 134. 91 | Vgl. Blücher-Briefwechsel: Blücher an Arendt, New York, 16.7.1946, S. 149: »Mit Robert hatte ich einen ganzen Tag, sprach mit ihm auch über Deinen Liebesbegriff bei Augustin. Er sagte, das ›Ich will, dass Du seist‹ sei das größte und schönste Liebesgedicht der

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ropa zurückkehrte, aber Blücher in den ersten Jahren nicht bereit war, sich auch nur zu Reisezwecken dorthin zu begeben, besuchte Arendt Gilbert allein und berichtete Blücher von ihren Begegnungen.92 Auch sie war Gilbert freundschaftlich verbunden: »Er meint, es komme viel daher, dass er eben gar keinen Ehrgeiz habe, dass das kleinste Stückchen gelebte Leben für ihn wichtiger sei als alles Geschriebene, dass er oft lange Gedankenreihen nachts denke, aber sie nicht aufschreiben möge aus purer Freude gleichsam am nächtlichen reinen Denken. Versteht Dich [Blücher] eben doch so wie kein anderer, meint, Du seiest die größte geistige Angelegenheit heute, aber ohne alle Tuerei und nicht einmal mit übermäßigem Respekt, auch da ganz vertraut damit und sich dazugehörend fühlend.«93 Sie besuchte sein Kabarett, das flott, typisch zwanziger Jahre gewesen sei, und freute sich, dass vier Filme mit seiner Beteiligung geplant seien, darunter Das weisse Rössl. In Arendts Bibliothek befinden sich ihrer besonderen Freundschaft entsprechend die Gedichtbände Gilberts, alle mit handschriftlichen Widmungen des Autors versehen: Meine Reime, Deine Reime sowie Berliner, Wiener und andere Gedichte, New York, 1946; Vorsicht Gedichte! Vier lyrische Sektoren und Meckern ist wichtig, nett sein kann jeder, beide 1950 in Berlin erschienen; Frischer Wind aus der Mottenkiste, Berlin, 1961; ein Band mit gedruckter Widmung für Blücher: Durch Berlin fließt immer noch die Spree, Berlin, 1971, und schließlich ein Band, der mit der Unterstützung Arendts publiziert wurde: Mich hat kein Esel im Galopp verloren. Gedichte aus Zeit und Unzeit, München, 1972: »Hannah – geliebtes Wesen – this is my own little ›quest for God‹ geweihräuchert durch Deine holde Hand! Dein Robert, Minusio, Sept. 1972.« Aus der Korrespondenz Arendts mit Gilbert in den 1970er Jahren geht hervor,94 dass sie für den bewussten Band nicht nur das Nachwort geschrieben, sondern ihm auch zu einem Verleger, Piper, verholfen95 und echte Lektoratsarbeit geleistet hat: So gab sie ihm Ratschläge für die Auswahl der Gedichte und machte ihn auf Unstimmigkeiten in den Gedichten aufmerksam.96 Dabei bediente sie sich dreier Textkonvolute, die sich jetzt noch in ihrem Nachlass befinden und die

Welt. Sein Buch kommt in München heraus.« | Es handelt sich um Meckern ist wichtig, nett sein kann jeder, Berlin, 1950, es wurde also einige Jahre nach diesem Brief veröffentlicht. Das Buch steht auch in Arendts Bibliothek. 92 | Vgl. Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Basel, 26.12.1949, S. 186. Ebenda, Arendt an Blücher, München, 13.6.1952, S. 289. 93 | Ebenda, Arendt an Blücher, München, 20.6.1952, S. 292 f. 94 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 11 / F older: Gilbert, Robert, 1946-75, Arendt an Gilbert, 11.2.1971, Blatt 006649. 95 | Vgl. ebenda, Gilbert an Arendt, München, 6.1.1970, Blatt 006623. Ebenda, Gilbert an Arendt, Minusio, 8.1.1970, Blatt 006625. Ebenda, Gilbert an Arendt, 7.9.1971, Blatt 006601. Ebenda, Arendt an Gilbert, 12.9.1971, Blatt 006600. 96 | Vgl. Ebenda, Arendt an Gilbert, 11.2.1971, Blatt 006649.

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sie bereits seit geraumer Zeit besessen haben musste: Die Leierkasten-Odyssee 97 ist vermutlich während der Emigration entstanden; dazu kommen die Notizen98 und ein Bündel Notizen und vermischte Gedichte.99Aufgrund der Typographie der Schreibmaschine kann man annehmen, dass diese etwas später entstanden sind. Die Konvolute tragen die Widmungen »für Hannah und Heinrich«, was dafür spricht, dass sie vor Blüchers Tod in ihren Besitz gekommen sind. Einer ihrer Vorschläge war es, die Leierkasten-Odyssee getrennt zu veröffentlichen: »Das könnte ein bezaubernder kleiner Band werden (wenn Piper jemanden Gescheites hat, könnte man ihn auch illustrieren lassen). Er ist einzigartig und in sich geschlossen, und man sollte es nicht mit den anderen Gedichten zusammenbringen, jedenfalls nicht in der ersten Ausgabe – später vielleicht.«100 Gilbert antwortete ihr, dass der Lektor die Gedichte jedoch gemeinsam publizieren wollte,101 so dass er schließlich auf Pipers Wunsch einging und einen Sammelband fertigstellte. Den Zyklus Notizen schätzte sie gleichermaßen: »Heute schreibe ich eigentlich, weil ich mich endlich entschließen konnte, mir die Gedichte durchzulesen. Das wird ein sehr schöner Band. Ich würde den Titel Notizen unbedingt beibehalten. Als Motto vielleicht ›Einfach sagen, was man für wahr hält.‹«102 Dieses Motto stammt aus der Eingangserklärung der Gedichte.103 Dann schlug sie ihm vor, in diesem Zyklus andere Gedichte an den Beginn zu setzen als jene, die er vorgesehen hatte: Seine Wahl sei zu »Goethisch-epigonal«. Sie schlägt ihm fünf Gedichte vor, die ihn als Person direkt kategorisieren, darunter: »Warum nicht leichtsinnig sein Und hinschreiben, Was nicht so unbedingt Zwischen den Göttern und Laotse Buchstabiert zu werden verdient. Oh das freudige Gefühl Euch mitzuteilen, Was mich Gerade in diesem Augenblickchen Bei meiner bewegten Birke bewegt! «104

97 | Vgl. Ebenda, Gilbert, Rober: Die Leierkastenodyssee Blätter 006700-006723. 98 | Vgl. Ebenda, Gilbert, Robert: Notizen Blätter 006736-006783. |  Vgl. Ebenda, Gilbert, Robert: Notizen und vermischte Gedichte Blätter 99  006784-006792. 100 | Ebenda, Arendt an Gilbert, 12.9.1971, Blatt 006600. 101 | Vgl. Ebenda, Gilbert an Arendt, Minusio, 21.10.1971, Blatt 006597. 102 | Ebenda, Arendt an Gilbert, 11.2.1971, Blatt 006649. 103 | Vgl. Ebenda, Gilbert, Robert: Notizen, Blatt 006760. 104 | Ebenda, Gilbert, Robert: Notizen, Blatt 006742.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Ihre konkreten Korrekturen der Gedichte sind außerordentlich aufschlussreich, weil sie beweisen, dass Arendt auf dem Gebiet der Lyrik formales Können sowie eine große Sprachgewandtheit besaß. So gibt sie beispielsweise an, beim Gedicht auf Seite 9 die Wiederholung wegzulassen, und »ja bitte sehr« – empfiehlt also ein Zurücknehmen im Ton. Gedicht Seite 13: Sie fügt das Wort »jemand« ein, Wiederholung, also Betonung. Im Gedicht auf Seite 19 ist sie gegen die Reduktion des Menschen auf Püppchen. Beim Gedicht auf Seite 20 würde sie die Worte »ganz rares« weglassen, »kostbar und geliebt« reiche aus. Nicht zuletzt verfasste sie auch das Nachwort zu dem Lyrikband. Schlussendlich entschied der Lektor bei Piper jedoch, dass das Buch anders strukturiert werden sollte: Es sollte weniger Gedichte aus den Notizen enthalten, stattdessen ein Sammelband werden aus bereits erschienenen Gedichten gemeinsam mit der Leierkasten-Odyssee.105 Nichtsdestotrotz freute sie sich über das Buch und meinte völlig uneitel in Bezug auf ihr eigenes Nachwort: »Mein Lieber, wenn’s Dir nicht gefällt, schmeiß’ es weg und, bitteschön, denke nicht, dass Du dann einen großen Eiertanz mit mir anstellen musst – nicht im geringsten.«106 Er ist jedoch sehr zufrieden mit dem Nachwort und glücklich über ein dickes Bündel guter Kritiken: »Fast in allem wird aus Deinem Nachwort zitiert. Oh Du meine Bahnbrecherin!«107

2.6 H ermann B roch Hannah Arendt lernte Hermann Broch 1946 über dessen Freundin Annemarie Meier-Gräfe kennen, der Witwe des deutschen Kunsthistorikers Julius MeierGräfe:108 »Mit dem haben wir uns angefreundet, und das ist auch bereits das beste Neue, was in Deiner Abwesenheit hier vorgefallen ist,«109 äußerte sie gegenüber Kurt Blumenfeld. Arendts intensive Beziehung zu Broch dauerte bis zu seinem Tode 1951. Als 1949 Broch und Annemarie Meier-Gräfe heirateten, fungierte das Paar Arendt-Blücher als Trauzeugen. Wie in ihrer Freundschaft mit Robert Gilbert gab es in der Erfahrung des Exils eine biographische Übereinstimmung. Außerdem hatten beide noch vor der Emigration und dem Krieg Biographien von jüdischen Persönlichkeiten verfasst, die ihnen halfen, das Problem der Assimilation zu erfassen und sich dazu zu positionieren: Broch über Hofmannsthal und Hannah Arendt über Rahel Varnhagen.110 Sie lasen gegenseitig ihre Manuskripte 105 | Vgl. Ebenda, Arendt an Gilbert, New York, 11.2.1971, Blatt 006649. 106 | Ebenda, Arendt an Gilbert, New York, 1.7.1972, Blatt 006648. 107 | Ebenda, Gilbert an Arendt, Minusio, 23.4.1973, Blatt 006561. 108 | Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 276. 109 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 8: Arendt an Blumenfeld, 17.7.1946, S. 41. 110 | Vgl. Gani, Djéhanne: Hermann Broch (1886-1951) et Hannah Arendt (1906-1975): Un exil en correspondances. In: Les penseurs allemands et autrichiens à l’épreuve de l’exil

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und kommentierten sie. Hannah Arendt erkannte in Broch allerdings weniger eine philosophische und politische, sondern vielmehr seine große dichterische Fähigkeit. Hannah Arendt schätzte die Frühwerke Brochs, wie Die Schlafwandler oder etwa den Tod des Vergil, weniger aus stilistischen Gründen, sondern eher, wie Csaba Olay zurecht bemerkt, wegen der Art und Weise, wie sich Broch mit Gegenwartsfragen beschäftigte: Arendt ordnete die literarische Moderne in die Gegenwart ein, bewirkt durch den Traditionsbruch des Zweiten Weltkriegs und des Genozids, für die Broch Zeugnis gibt (Proust beschreibt den melancholischen Abschied von der Welt des 19. Jahrnunderts, Kafkas Perspektive ist in einer fernen Zukunft angesiedelt): »Die Trilogie enthält bereits eine erschütternde Zeitdiagnose über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich in der Formel ›Zerfall der Werte‹ ausdrückt. Die Formel verweist auf bestimmte Passagen der Romantrilogie Die Schlafwandler.«111 Dennoch wirft Arendt Broch vor, dass Der Tod des Vergil in Lyrik auf der einen und Spekulation auf der anderen Seite auseinanderfalle. Broch komme nicht mehr auf aktuelle Geschehnisse zu sprechen, aber die Gegenwartsbezogenheit zeige sich in Vergils langem Monolog: In den Grundkategorien von »›Nicht-mehr und Noch-nicht. Noch-nicht und Doch-schon‹. Damit ist einerseits die Schwebe zwischen Leben und Tod gemeint, andererseits, ›zugleich die Wende der Zeiten aus dem Altertum ins Christentum.‹«112 Arendt war begeistert von seinem Roman Der Tod des Vergil113 und verfasste eine Rezension, die sie einige Jahre später erweiterte und dabei seine übrigen Romane wie Die Schlafwandler ebenfalls mit einbezog.114 Obwohl sie wie erwähnt von Brochs früheren Werken nicht so überzeugt war, sparte sie ihre Kritik in dem Essay weitgehend aus. Gegenüber Blücher ist sie ehrlicher: »Schön, dass Du Broch gesprochen hast. Ich lese hier, wo es schlechtweg alles gibt, seine älteren Romane, die teilweise recht schön sind, teilweise ganz ungewöhnlich und dann doch größtenteils nicht sehr belangvoll; so dass der Tod des Vergil wie ein Wunder er-

(Hg. Azuélos, Daniel), Paris, 2010, S. 80-81. | Ganis Essay legt den Schwerpunkt vor allem auf die politische Dimension ihres Verhältnisses: Brochs Assimilation im antisemitischen Wien, bevor er sich im Alter von vierzig Jahren für die prekäre Existenz eines Schriftstellers entscheidet und zu einem bewussten Judentum findet, bezeichnet Arendt in Die verborgene Tradition als Pariatum. 111 | Olay, Csaba: Hannah Arendt und Hermann Broch: Roman und Moderne. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften (Hg. Kiss, Endre /  L ützeler, Paul Michael / R acz, Gabriella) Tübingen, 2008, S. 305-318, hier S. 309. 112 | Ebenda, S. 309 f. 113 | Arendt, Hannah: Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs »Der Tod des Vergil« (1946) In: Broch-Briefwechsel, S. 169-174. 114 | Arendt, Hannah: Hermann Broch und der moderne Roman (1949) In: Broch-Briefwechsel, S. 175-184.

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scheint. Sag ihm das aber bitte nicht.«115 Blücher, der zu diesem Zeitpunkt in engem Kontakt mit Broch stand, bestätigte ihre Einschätzung. Broch selbst sei sich dessen inzwischen bewusst: »Was Du über die Schlafwandler schreibst ist sicher richtig. Broch ist erst ganz kürzlich in das erwachsene Stadium gekommen und noch nicht recht sicher darin. Er hat sich, wie er selbst einsieht, in viele intellektuelle Spielereien jahrelang verloren.«116 Arendts Faszination bezog sich vor allen Dingen auf Brochs lyrische Ausdruckskraft nicht nur in den Gedichten, sondern auch in der Prosa, sowie auf seine außergewöhnliche Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Zeit. Was in der Schlafwandler-Trilogie noch Experiment war, findet Arendt schließlich voll entwickelt in seinem Roman Der Tod des Vergil – war Broch bisher nur ein guter Geschichtenerzähler gewesen, sei er mit dem Vergil jedoch zu einem Dichter geworden.117 Die Übereinstimmung zwischen dem gegenwärtigen Erleben und der direkten Darstellung im Monolog bezeichnet Arendt als genial und erstmalig in der Literatur.118 Sie schreibt direkt an Broch: »Sehen Sie, dies ist seit Kafkas Tod die größte dichterische Leistung der Zeit, weil er unbeirrbar an dem wenig Fundamental-Einfachen festhält. Verzeihen Sie die Ungeschminktheit des ›Lobes‹; ich habe die Wahrheit nicht gesellschaftsfähiger machen wollen, weil es gerade zu der sehr großen und sehr neuen und sehr atemberaubenden Qualität des Buches gehört, dass es jenseits alles Romanhaften im üblichen Sinne […] geschrieben ist.«119 Nicht nur das einzelne momentane Befinden der Figur wird dargestellt, sondern auch philosophische Reflexionen Vergils werden wiedergegeben, die zu seinem Gedankenprozess gehören: »Der Rhythmus der Prosa ist unmittelbar der Bewegung der philosophischen Spekulation entsprungen. Sofern es möglich ist, in einem Kunstwerk die eigentliche Bewegung des Philosophierens selbst darzustellen, etwa so wie die Musik die Bewegungen der Seele darzustellen vermag, ist es hier gelungen.«120 Auf diese Weise habe Broch Philosophie und Dichtung zusammengeführt: »Der große Glücksfall ist natürlich, dass der spekulative und der dichterische Gehalt wirklich und gleichsam apriorisch identisch geworden 115 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Hanover, New Hampshire, 8.7.1946, S. 141. 116 | Ebenda, Blücher an Arendt, New York, 15.7.1946, S. 146. 117 | Vgl. Arendt, Hannah: Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs ›Tod des Vergil‹ (1946). In: Broch Briefwechsel, S. 169-174, S. 171. 118 | Tatsächlich gibt es bereits Joyce’ Ulysses und zuvor Schnitzler mit Leutnant Gustl und Fräulein Else. 119 | Broch-Briefwechsel: Brief 1: Arendt an Broch, New York, 29.5.1946, S. 9. Vgl auch ihre Zusammenfassung an Gertrud Jaspers: Jaspers Briefwechsel, Brief 39: Arendt an Gertrud Jaspers, 30.5.1946, S. 78. 120 | Arendt, Hannah: Hermann Broch und der moderne Roman (1949). In: Broch-Briefwechsel, S. 175-184, S. 183.

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ist, was eine Spannung erzeugt, in der Nachdenken und Spekulation selbst zur Handlung werden.«121 Der Roman beschreibt fortlaufend Vergils Sterbeprozess: auf dem Schiff von Athen nach Rom, bei der Ankunft in Brundisium bis zu seinem Tod einen Tag später. Vergil nimmt bewusst Abschied vom Leben, indem er sich alle Stadien daraus ins Gedächtnis ruft bis hin zu Kindheit und Geburt, zurück in das Dunkel des Chaos.«122 Die philosophische Spekulation Vergils ist ontologischer Natur, wobei die Antagonie zum Sein, das Nichts, das kosmologisch erklärt wird, den Schlüssel bildet: »Die Fahrt führt ins Nichts; aber da sie, eine umgekehrte Schöpfungsgeschichte, alle Stadien der aus dem Nichts erschaffenen Welt, des aus dem Nichts erschaffenen Menschen, durchmisst, führt sie auch ins All: ›Das Nichts erfüllt die Leere und ward zum All‹. Die Fahrt führt ins endgültige Ende, aber sie ist in Wahrheit nur ein Sich-Schließen des Ringes, in dem sich die Zeit schließt, so ›dass das Ende Anfang war.‹«123 Arendt erkennt eine Nähe zu Spinozas Kosmos- und Logosspekulationen, in denen das Besondere nur ein Teilaspekt des ewig Einen sei. Konsequent schreibt Broch nur aus der Perspektive Vergils, indem »nichts berichtet oder wahrgenommen wird als das, was zu dem sterbenden Dichter in dem immer reicher werdenden, allbedeutsamen Geflecht von sinnlicher Wahrnehmung, Fieberphantasie und Spekulation dringt und von ihm hervorgebracht wird«.124 Durch das Fieber der Figur gebe Broch verschiedene Wahrnehmungssituationen wieder: Unendliche Assoziationen und schwebend-entschwebende Erinnerungen heben die Konturen der Individualität Vergils schärfer hervor und lassen sie ins traumhaft Symbolische dringen. Thema ist die Wahrheit per se, die sich in einem Wort manifestieren müsse, das Wort Gottes jenseits der Sprache. Die lyrische Prosa ermöglicht es Broch, im Leser selbst ein anderes Zeitgefühl zu entwickeln. Jerome Kohn weist in seinem Artikel Das ungeschriebene Vermächtnis Hannah Arendts auf die Identität zwischen der Zeitlosigkeit beim Denkprozess in Arendts Analyse und der Wirkung der Broch’schen Prosa hin: »Indem er Vergils Tod nicht als ›das Ziel des Lebens‹ begreift, sondern eher als die letzte ›Aufgabe des lebenden Menschen‹, stellt Broch seine Leser genau ›auf die Brücke zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit gespannt und dennoch vom Strom unter ihr gefangen.‹ Brochs außergewöhnliche Leistung liegt nach Arendt darin, seinen Lesern das Gefühl dafür vermittelt zu haben, was es bedeutet, in der Gegenwart der Zeit zu stehen.«125 Und diese Erfahrung kann nur in lyrischer Sprache wiederge121 | Broch-Briefwechsel: Brief 1: Arendt an Broch, New York, 29.5.1946, S. 9. 122 | Arendt, Hannah: Hermann Broch und der moderne Roman (1949). In: Broch-Briefwechsel, S. 175-184, S. 181. 123 | Ebenda, S. 181. 124 | Ebenda, S. 181. 125 | Kohn, Jerome: Das ungeschriebene Vermächtnis Hannah Arendts. In: Treue als Zeichen der Wahrheit. Hannah Arendt. Werk und Wirkung (Hg. Klein-Rüsteberg, Karl-Heinz), Essen, 1997, S. 38.

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geben werden. Für Arendt ist der Roman Vergil ein großes Gedicht, lyrische Prosa: »Von dem Leser wird verlangt, dass er sich in diese Bewegung, die durch Zuhilfenahme rein lyrischer Mittel erzeugt wird, hineinbegibt, ein Verlangen, das dem des Gedichts nicht unähnlich ist.«126 Daraus ergebe sich eine konzentrierte Spannung, die vergleichbar sei mit den Anrufungen in den homerischen Gesängen. Der Inhalt des Anrufs verschaffe Broch die Möglichkeit, die Grundthemen des Buches hervorzuheben, wie Leben, Tod, Liebe, Zeit und Raum. Und die Form des Aufrufs ermögliche den »großartigen, faszinierenden Rhythmus«, verleihe »dem Monolog seine leidenschaftliche Dringlichkeit« und führe »zu der aktiven und konzentrierten Bewegung echter Spekulation«.127 Die Verbindung der drei Elemente – Wahrheit durch intentionale, subjektive Darstellung, Inhalt durch philosophische, kosmologische Spekulation und Spannung durch lyrische Ausdruckskraft  – mache den Vergil, so Arendt, zu einem Meisterwerk der Moderne: »Aus der Aporie, wie man verhindern könne, dass der Roman, nachdem er nichts mehr zu berichten hat, in Lyrik auf der einen und philosophische Reflexion auf der anderen Seite auseinander falle, hat Broch eine Dichtung geschaffen, die in der Verbindung des rein Lyrischen mit dem echt Spekulativen die Elemente einer Spannung entdeckte, welche erst heute zu ihrem vollen künstlerischen Recht kommen.«128 Broch schickte auch privat in seinen Briefen an Arendt einige Gedichte, die später in überarbeiteter Form in der Gesamtausgabe seiner Werke mit aufgenommen wurden. Um ihre Freundschaft zu besiegeln, schickte er ihr Verse zu, die feinfühlig seine Einsamkeit und Suche nach Nähe wiedergeben: »Im Augenblick geht es auf drei Uhr früh. Infolgedessen bin ich hunde- und todmüde; bei so herabgesetztem Sensorium entstehen dann solche Dinge:

126 | Arendt, Hannah: Hermann Broch und der moderne Roman (1949). In: Broch-Briefwechsel, S. 183. 127 | Arendt, Hannah: Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs ›Tod des Vergil‹ (1946). In: Broch- Briefwechsel, S. 171. 128 | Arendt, Hannah: Hermann Broch und der moderne Roman (1949). In: Broch-Briefwechsel, S. 184.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung ›Heitern Greises Nacht-Terzinen Die Straße unten ist nun nächtlich leer, Von fern tönt hie und da ein Nebelhorn, Und all das Nichtgetane macht mich schwer: Der Schlaf ist da, des Lebens End’ und Born, Die leichte Einsamkeit, die Schweres deckt – Beginn’ ich morgen wiederum von vorn? Noch wache ich, doch bald bin ich geweckt, Denn was wir wissen, kommt zutag zur Nacht; Das Dunkel öffnet, was das Licht versteckt. Vor meinem Fenster stehn die Bäume sacht; Ich schau hinab, lösch dann die Lichter aus: Wie glücklich einen diese Stille macht Und immer irgendfern ein Nachbarhaus.‹

Bitte betrachten Sie sich als Nachbarhaus, und bitte haben Sie Freitag Zeit.«129 Arendt antwortete auf sein Freundschaftsangebot und humorvoll schickte er ihr im Lauf der Zeit Persiflagen auf Geistesgrößen, etwa auf Sartres Das Sein und das Nichts130, auf Goethes Nähe der Geliebten und Anspielungen auf Dante in Dantes Schatten.131 Die Meisterhaftigkeit eines Gedichts von 1949 erkannte sie sofort. Sie anwortete ihm direkt darauf: »Lieber – grauverbrannte, grauvermorschte, grauvertraute Lattenpforte – hat mich ganz glücklich gemacht. Es klingt nicht gerade nach erschöpft – wobei ich aber beileibe nichts bezweifelt haben möchte.«132 Das Gedicht schildert eindrucksvoll, wie das Zeitgefühl sich in manchen Momenten verändert und Zeit nun nicht mehr chronologisch, sondern assoziativ empfunden wird. Bestimmte Gefühle, die lange vorbei zu sein scheinen, tauchen unvermutet aus der 129 | Broch-Briefwechsel: Brief 13: Broch an Arendt, Princeton, 9.6.1947, S. 36. 130 | Vgl. Ebenda, Brief 16: Broch an Arendt, Killingworth, Conneticut, Juli 1947, S. 41: »L’être et le néant. / Im Reine genitivschen Gesichts / Besitzender Besitz – in ihm verflicht’s | Dem Anfang-Nie, dem Nein-Spruch des Gerichts / Das Es des Ende, Ende des Gewichts | Als Es und Nie des ewigen Gedichts: / Im Kern das Ich und drum des Lichts, / Das ist das Nichts.« 131 | Vgl. Ebenda, Brief 18: Broch an Arendt, 21.8.1947, S. 46. | Vgl. auch im ersten Teil, 1.1 Johann Wolfgang von Goethe, S. 47, Arendts eigene Persiflage auf Goethe in einem Brief an Broch. 132 | Broch- Briefwechsel: Brief 42: Arendt an Broch, 22.5.1949, S. 110.

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Dunkelheit der Vergangenheit wieder auf, entsprechend Prousts Beschreibung der »unwillkürlichen Erinnerungen des Herzens« – »les intermittences du cœur«. Für Broch war der Besuch seines Jugendhauses der Auslöser für das Gedicht: »Vom Altern Grauverbrannte, grauvermorschte, grauvertraute Lattenpforte Riegelschwach im lockeren Zaun, Die vom Buschwerk überdorrte Grenz quer durch das Gestaun, Hier der Garten, dort der Wald. Kindheitsgröße, Kindheitsstaunen, damals reich und heute wieder. Jugend, Alter werden eins, Und der Jahre Zwischenglieder Sind nur zeitverlornen Scheins, Waren Warten, kaum Gestalt. Zeitgeflüchtet, zeitverloren, zeitverstummt im Kinderworte Hebe ich den Riegelknauf. Hebt das Sein sich selber auf: Immer noch ist es der Garten, Sonnenkringelhaft bemalt, Hinterm Zaun jedoch im zarten Echodunkel steht der Wald.«133

Da Hannah Arendt den Tod des Vergil sehr schätzte – wie man auch ihrer Arbeitsausgabe mit Anstreichungen und Notizen von 1945 entnehmen kann –, schenkte Broch ihr zum 41. Geburtstag sein Typoskript der letzten Fassung. Beigefügt ist ein handschriftliches Gedicht auf einer Glückwunschkarte. »›Ach, das ist ja viel zu viel‹ Sagt der Bürger zum Geschenk Doch damit’s ihm keiner stiehl Preßt er’s in die Fäuste eng: Was man kriegt führt man zuleibe. Selbstverständlich ist’s zu viel – Wer hat Platz für Riesenbände! Trotzdem leg ich den Vergil Glückwunschvoll in Deine Hände, Dass er als Symbol da bleibe. 133 | Ebenda, Brief 41: Broch an Arendt, Mitte Mai 1949, S. 108.

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Für Hannah zum 14. Oktober 1947, Hermann.«134 Arendt antwortete ihm darauf, dass sie sich nur langsam von dem wertvollen Geschenk erholt habe und zitiert einige Zeilen Heines: »Jetzt habe ich mich aber wieder ganz zur Vernunft gebracht durch ständige Wiederholung von Heines: ›Und sie gaben gut zu essen / mir und meinem Genius‹; dies ›und‹ ist mir durchaus notwendig, ich will mich mit allen Verbindungen abfinden, nur vor der Inkarnation habe ich Angst und will nichts damit zu tun haben.«135 Im Kontext seines Romans Die Schuldlosen schickte Broch Arendt und Blücher das Buch Ende 1950 zuerst mit einem Widmungsgedicht zu: »1951 – warum musst du’s dichten? Wen willst du damit verpflichten? Ach, in diesem Tal von Wichten, die ich lieber möcht vernichten als im Bilde zu belichten, gibt es Menschen äußerst schlichten Kindersinnes, die mitnichten je geneigt sind auf Geschichten, wie sich’s g’hörte zu verzichten. Freunde sind es zwar, perverse, aber sie sind voll Verzeihn: ihnen sollen ein paar Verse und dies Buch gewidmet sein.

Für Hannah und Monsieur, Neujahr 1951, Hermann.«136 Einige Monate später, im März 1951, sendete er ihr ein weiteres Gedicht zu, das er nicht in die Schuldlosen mit aufgenommen hatte. Das Gedicht, er hatte es bereits 1942 verfasst, bezieht sich jedoch direkt auf zwei Kapitel des Romans, und zwar auf die Ballade vom Imker und auf Steinerner Gast. Bloch legte seinem Brief eine Kopie davon bei: Es handelt sich um Der Urgefährte und verarbeitet die Todeserfahrung, so die letzten Zeilen:

134 | Ebenda, Brief 21: Broch an Arendt, Oktober 1947, S. 51. 135 | Ebenda, Brief 22: Arendt an Broch. 16.10.1947, S. 52. | Das Gedicht stammt aus: Heine, Heinrich: Yolante und Marie (Strophe 1). In: Heine, Heinrich: Neue Gedichte, Salzburg, 1954, S. 266: »Diese Damen, sie verstehen. / Wie man Dichter ehren muss: / Gaben mir ein Mittagessen, / Mir und meinem Genius.« 136 | Vgl. Bard-Bibliothek: Broch, Hermann: Die Schuldlosen, Zürich, Rhein-Verlag, 1950.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung »Schließt in meiner Sterbestunde deine Hand die meine ein, wird dein Lallen dir nicht Kunde, sondern leere Stummheit sein.«137

Einen Monat später, im Mai 1951 starb Broch. Sein Tod nahm Arendt sehr mit. Nun verließ sie ein Mensch nicht aufgrund eines gewaltsamen Todes in totalitären Zeiten – das hätte bei ihr wohl eher zur Revolte geführt –, nein, der Alterungsprozess selbst, der unausweichliche Tod wurde zum Auslöser der schmerzvollen Verarbeitung. Sie verfasste selbst zwei Gedichte über diese Todeserfahrung, das erste gleich im Juni 1951 über das »Überleben«, über die Unmöglichkeit, mit dem Geist der Toten zu leben, aber auch ohne diesen Geist leben zu müssen: »H.B. Wie aber lebt man mit den Toten? Sag, wo ist der Laut, der ihren Umgang schwichtet, wie die Gebärde, wenn durch sie gerichtet, wir wünschen, dass die Nähe selbst sich uns versagt. Wer weiss die Klage, die sie uns entfernt und zieht den Schleier vor das leere Blicken? Was hilft, dass wir uns in ihr Fort-sein schicken, und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt.«138

Ein Jahr später, als der akute Schmerz bereits verklungen war und sie Brochs Grab auf dem Friedhof in Killingworth bei New Haven aufsuchte, verfasste sie ein zweites Gedicht: B.s Grab.139 Zeitlosigkeit und die Vergänglichkeit, Brochs eigene Themen, werden und waren ihre eigenen Themen. Nach seinem Tod erwies sie Broch letzte Freundschaftsdienste, indem sie versuchte seine bisher unveröffentlichen Schriften zu publizieren:140 Bereits zu Brochs Lebzeiten, war sie nicht von seinen theoretischen Schriften überzeugt, die er als systematische Philosophie zusammengefasst hatte. Sie schätzte ihn als Autor, der Dichtung und philosophische Spekulation zusammenführt, nicht als Theoretiker. Nach der ersten Lektüre schreibt sie an Heinrich Blü137 | Broch, Hermann: Der Urgefährte. In: Broch-Briefwechsel: Brief 60: Broch an Arendt, 12.4.1951, S. 158. 138 | Arendt, Hannah: H.B. In: Gedichte, S. 52. Vgl. auch dritter Teil, 1.2.2 »H.B. Wie aber lebt man mit den Toten?«, S. 303. 139 | Arendt, Hannah: B.s Grab. In: Gedichte, S. 60. Vgl. auch dritter Teil, 1.2.3 »B.s Grab«, S. 308. 140 | Vgl. Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Lugano, 27.5.1952, S. 277.

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cher: »Was Du [Blücher] von Broch schreibst, klingt alles sehr gut. […] Dann aber auch, weil er ja nun den anderen Roman irgendwie fertig machen muss. Und das wird ja doch besser als alle Erkenntnistheorien.«141 Dennoch sollte sie nach seinem Tod die Einleitung im Rahmen der Gesamtausgabe142 zu den theoretischen Schriften verfassen: Als Teil der Gesammelten Werke gab sie 1952 aus dem Nachlass die beiden erkenntnistheoretischen Werke Dichten und Erkennen (Essays, Band 1) und Erkennen und Handeln (Essays, Band 2) heraus. Für diese Tätigkeit hielt sie engen Kontakt mit Daniel Brody, der mit Broch befreundet und als sein Verleger beim Züricher Rhein-Verlag für die Herausgabe seiner Werke verantwortlich war. Ein weiteres Manuskript Brochs, das Arendt gern publiziert gesehen hätte, war seine Massenwahntheorie.143 Sie schickte dem Philosophen Karl Löwith den Text zu, bat ihn um seine Meinung und schlug ihm vor, den Text zu veröffentlichen: Es handle sich um eine Theorie massenwahnartiger Erscheinungen, verbunden mit dem Entwurf einer Massenpsychologie.144 Löwith zeigte nach der Lektüre der Schrift Sympathie dafür, sah sich aber als Herausgeber nicht geeignet.145 Neben diesen erkenntnistheoretischen Arbeiten setzte sich Arendt auch für Brochs Prosawerke ein. So versuchte sie Brody zwei Jahre später, im Juni 1954, zu überzeugen, dass Brochs letztes Werk, der unvollendete Versucher-Roman, nur in einer bestimmten Fassung publiziert werden solle. Es gab davon drei Versionen, und nach Arendt Auffassung hatte Brody die falsche herausgebracht, nicht die dritte überarbeitete, fragmentarische.146 In einem Briefwechsel mit dem Broch-Spezialisten Professor Richard Brinkmann erklärte sie, weshalb sie die letzte Fassung am besten fand: Der Versucher-Roman sei handfester Kitsch, worüber sich Broch selbst geschämt habe. Er habe sich geweigert, diesen Roman in dieser Form zu publizieren. Er schrieb ihn um, aber leider wurden nur die ersten vier Kapitel fertig, bevor er starb. Diese vier Kapitel gehörten zu dem »Schönsten, was er gemacht 141 | Ebenda, Arendt an Blücher, Hanover, New Hampshire, 7.8.1948, S. 164 f. 142 | Arendt, Hannah: Einleitung zu den Essay-Bänden von Hermann Broch. In: BrochBriefwechsel, S. 185-223. Gemeint sind die im Rhein-Verlag erschienenen Bände: Broch, Hermann: Dichten und Erkennen. Essays, 2 Bände (Hg. und Vorwort Arendt, Hannah), Zürich, 1955. | Vgl. auch Bard-Bibliothek: Die Gesamtausgabe Brochs vom Rhein-Verlag befindet sich in Arendts Bibliothek (jetzt am Bard-College) sowie zwei Bände Brochs auf englisch The death of Vergil und The sleepwalkers, in denen beide Arendts Nachwort aus dem Deutschen ins Englische übersetzt übernommen wurde. 143 | Vgl. dazu: Sauerland, Karol: Hermann Broch und Hannah Arendt: Massenwahn und Menschenrecht. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften (Hg. Kiss, Endre, Lützeler / P auls Michael /  R eicz, Gabriela), Tübingen, 2008, S. 319-331. 144 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, In: Box 13 /  F older: Lo-Ly miscellanous, 1946-1975: Löwith, Karl, Arendt an Löwith, New York, 7.2.1956, Blatt 008356. 145 | Vgl. Ebenda, Löwith an Arendt, Carona /  L ugano, 17.4.1956, ohne Blattnummer. 146 | Vgl. DLA: Nachlass A: Broch, Hermann: Arendt an Brody, 11.6.1954, ohne Blattnummer.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

habe«. Arendt verglich die erste und die letzte Fassung und stellte fest, dass Broch einfach vieles weggelassen habe und ein Alterstil herausgekommen sei.147 Arendt ging sogar so weit, einer Doktorandin, die an Brochs Konzeption von Dichtung anhand des Berg- bzw. des Versucher-Romans arbeitete, das Thema ihrer Dissertation auszureden.148 Gisela Brude schrieb fünf Jahre später an Arendt: »Ihre Gegenargumente waren zu schlagend.«149 Ein weiteres literarisches Werk Brochs, das sie schätzte und empfahl, ist die Erzählung der Magd Zerline, die in dem Roman Die Schuldlosen enthalten ist. An Brinkmann schreibt sie, dass sie mit ihm einverstanden sei, »die Erzählung der Magd Zerline sei ganz herrlich,«150 und als Piper 1960 überlegte, ob er Auszüge aus Brochs Werk publizieren solle, schlug Arendt einem Mitarbeiter des Verlegers wiederum diesen Auszug vor, gemeinsam mit der Geschichte vom verschütteten Landwehrmann aus den Schlafwandlern.151

2.7 H ilde D omin Hilde Domin stellt im Januar 1960 den ersten brieflichen Kontakt zu Hannah Arendt her. Sie schreibt ihr, dass sie von Arendts Rede in der Frankfurter Paulskirche 1958, einer Laudatio auf Karl Jaspers, beeindruckt gewesen sei. Allerdings hatte Domin vor Ort nicht den Mut besessen, Arendt direkt anzusprechen. Domin schickt Arendt ihren Lyrikband Nur eine Rose als Stütze zu, für den sich Arendt bedankt: »Liebe Hilde Domin, darf ich Sie so anreden, ohne alle Fisematenten? Gerade als ich Ihnen schreiben wollte, kam Ihr Brief. Ich wollte Ihnen sagen, eine wie außerordentlich große Freude Sie mir gemacht haben. Die Gedichte sind sehr, sehr schön, die einzig wirklich schönen und wahren Emigrationsgedichte, die ich kenne. Haben Sie vielen, vielen Dank, dass Sie an mich gedacht haben.«152

147 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 9 / F older: Bri-Bru miscellanous, 1947-1971, Brinkmann, Richard, Arendt an Brinkmann, 5.8.1957, Blatt 005055. 148 | Vgl. Box 9 / F older: Bri-Bru miscellanous, 1947-1971, Brude, Gisela: Brude an Arendt, 27.12.1964, Blatt 005035. 149 | Ebenda, Brude an Arendt, 6.8.1970, Blatt 029122. | Stattdessen bereitete Brude eine Ausgabe der Broch-Brody-Korrespondenz vor und edierte für Suhrkamp Brochs Schlafwandler-Trilogie. Arendt erteilte ihr die Bewilligung, ihren Broch-Essay dort nochmals abzudrucken. 150 | LOC: General Correpondence, 1938-1976, nd. In: Box 9 / F older: Bri-Bru miscellanous, 1947-1971, Brinkmann, Richard: Arendt an Brinkmann, 5.8.1957, Blatt 005055. 151 | Vgl. LOC: Correspondence Publishers 1944-1975, nd. In: Box 32 / F older: 19561960, Piper und Co, Arendt an Best, 3.11.1960, Blatt 008692. 152 | Arendt an Domin, New York, 28.1.1960, zitiert nach: Hilde Domin, Hannah Arendt: Der Briefwechsel 1960-1963. In: Sinn und Form, H. 1, Januar / F ebruar 2010 (Hg. Wild, Thomas), Akademie der Künste, Berlin, S. 341-432, hier S. 341 f.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung »Nur eine Rose als Stütze Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft unter den Akrobaten und Vögeln: mein Bett auf dem Trapez des Gefühls wie ein Nest im Wind auf der äußersten Spitze des Zweigs. Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle der sanftgescheitelten Schafe die im Mondlicht wie schimmernde Wolken über die feste Erde ziehn. Ich schließe die Augen und hülle mich ein in das Vlies der verlässlichen Tiere. Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren und das Klicken des Riegels hören, der die Stalltür am Abend schließt. Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt. Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein. Meine Hand greift nach einem Halt und findet nur eine Rose als Stütze.«153

Arendt und Domin verbindet einiges: Beide hatten bei Karl Jaspers studiert. Sie mussten als Jüdinnen Deutschland verlassen und kannten die prekäre Existenz der Exilanten. Und privat verarbeiteten Arendt wie Domin die Emigration durch lyrischen Ausdruck.154 Daher ist es nicht verwunderlich, dass Domins Gedichte Arendt berührten. Domin antwortet auf Arendts Brief bescheiden, indem sie ihr die Lyrik von Nelly Sachs empfiehlt: »Um nur bei den Deutschen zu bleiben. (Falls Sie sie nicht kennen sollten: Und keiner weiß weiter, Schünemann 1957, Flucht und Verwandlung, Defa, 1959). Ihnen sehr ans Herz gelegt.«155

153 | Domin, Hilde: Gesammelte Essays, München, 1992, S. 220. 154 | Vgl. den dritten Teil, 1.1 Die Emigrationsgedichte, S. 278 f., und den dritten Teil, 2.2.2 »Park am Hudson«, S. 354. 155 | Domin an Arendt, Madrid, 17.2.1960, zitiert nach: Hilde Domin, Hannah Arendt: Der Briefwechsel 1960-1963 (Hg. Wild, Thomas) In: Sinn und Form, H.  1, Januar / F ebruar 2010, Berlin, S. 341-432, hier S. 342.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

Domin nimmt zu einem Zeitpunkt Kontakt zu Arendt auf, als sie sich entschlossen hatte, nach langen Jahren der Emigration wieder nach Deutschland zurückzukehren. Sie beabsichtigt, nach Heidelberg zu ziehen, da ihrem Mann dort eine Professur angeboten worden war. Diesen Schritt thematisiert sie in ihren Briefen wie in der ersten Fassung des Romans Das zweite Paradies. Arendt spiele in diesem Roman eine Rolle, wie sie in ihrem ersten Brief schreibt: »In meinem, wie ich hoffe, bis zum Herbst vorliegenden Prosaband sind Sie in der Hauptgeschichte übrigens zitiert [hs. ergänzt: ›nicht namentlich natürlich‹]: ›Auf dem Atlantik‹, sagte sie, ›bau ich mein Haus. Beide Kontinente sind unmöglich.‹ ›Dabei fliegt sie gewiss, statt mit dem Frachtschiff zu fahren, damit sie etwas hat, von ihrem Ozean.‹ etc., etc. So oder ähnlich, ich zitiere aus dem Gedächtnis.«156 Arendt antwortet durchaus nüchtern, besonders auf die Frage, was man tun könne, damit keine totalitäre Regierungsform mehr entstehe: »Ich freue mich schon auf den Prosaband, zitierter- und unzitierterweise. Aber was man tun kann, damit nicht alles wieder so wird, weiß ich auch nicht. Es sieht überall so sehr wackelig aus. Und wir sind ein bisschen verwöhnt von der Atempause in den fünfzigern. Und wir werden ja auch nicht jünger. Aber Sie werden es vielleicht und sind vielleicht auch gar nicht verwöhnt. Die Dichter haben es ja auch besser – abgesehen davon, dass sie es schwerer haben.«157 Domin versucht im Folgenden Nähe herzustellen, indem sie Arendt Gedichte zukommen lässt, die Exil und Verfolgung ausdrücken und die zu diesem Zeitpunkt nur in Zeitschriften, nicht in Buchform publiziert worden waren, wie Fremder und Mit leichtem Gepäck: »Mit leichtem Gepäck Gewöhn dich nicht. Du darfst dich nicht gewöhnen. Eine Rose ist eine Rose, Aber ein Heim ist kein Heim. Sag dem Schoßhund Gegenstand ab, der dich anwedelt aus den Schaufenstern. Er irrt. Du Riechst nicht nach Bleiben.

156 | Domin an Arendt, Madrid, 20.1.1960, zitiert nach: Ebenda, S. 340. 157 | Arendt an Domin, New York, 28.1.1960, zitiert nach: Ebenda, S. 342.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Ein Löffel ist besser als zwei. Häng ihn dir um den Hals, du darfst einen haben, denn mit der Hand schöpft sich das Heiße zu schwer. Es liefe der Zucker dir durch die Finger wie der Trost, wie der Wunsch an dem Tag, da er dein wird. Du darfst einen Löffel haben, eine Rose, vielleicht ein Herz und, vielleicht, ein Grab.«158

Die folgenden Briefe Domins bis Dezember 1961 beschäftigen sich mit poetologischen Fragen159 und Arendts Biographie über Rahel Varnhagen, die sie von ihr zugeschickt bekommen hatte. Leider antwortet Arendt darauf nicht direkt. Es findet sich nur ein freundlicher, unverbindlicher Brief Arendts: »Dies soll Ihnen nur sagen, wie sehr mich Ihr Brief und wie viel mehr immer noch Ihre Gedichte freuten. Und es soll Ihnen auch ein gutes Jahr wünschen in Heidelberg.«160 Arendt sieht wohl Domins Begabung – ähnlich wie bei Broch – eher in der Dichtung als in der Theorie, auch wenn es um Ästhetik geht. So schöpft Domin indirekt aus Arendts Werken bzw. Verlautbarungen mögliche Antworten, wie zum Beispiel aus Arendts Lessingpreisrede von 1959: »Auf Ihre ›Rede‹ hin habe ich eine Stelle

158 | Domin, Hilde: Gedicht Mit leichtem Gepäck. In: Frankfurter Allgmeine Zeitung vom 28.3.1960. Auch in: LOC: General Correpondence 1959-1973, nd. In: Box 10 / F older: DoDu miscellanous, 1959-1973, Domin, Hilde, ohne Blattnummer. Ein weiteres Gedicht von Domin, das sie Arendt beigefügt hat, heißt Fremder. 159 | Vgl. Domin an Arendt, Madrid, 14.4. 1960, zitiert nach: Hilde Domin, Hannah Arendt: Der Briefwechsel 1960-1963 (Hg. Wild, Thomas). In: Sinn und Form, H.  1, Januar / F ebruar 2010, Berlin, S. 341-432, hier S. 345-348. 160 | Arendt an Domin, 26.12.1960, zitiert nach: Ebenda, S. 351. | Die Gedichte, auf die Arendt anspielt, dürften Bitte an einen Delphin, Herbstaugen und Vorwurf sein. Es handelt sich um Kopien, die Domin auf den 11. November 1960 handdatiert und an Arendt gesendet hat. In: LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 10 /  F older: Do-Du miscellanous, 1959-1973, Domin, Hilde, ohne Blattnummern.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

meines poetologischen Essays vorsichtiger formuliert. Es war ja wohl als eine Art Antwort gedacht.«161 Anhand von Arendts Darstelltung der Rahel Varnhagen wurde der Dissens zwischen beiden offenkundig. Domin kritisiert behutsam Arendts Rahel-Rezeption: »Die Briefe der Rahel haben mir zum Teil sehr gefallen. Manchmal gehen Sie ein wenig hart mit ihr um.«162 Als sich die beiden Frauen schließlich direkt begegnen – Arendt besucht Domin im Winter 1961 in Heidelberg, wie Barbara Hahn herausgefunden hat –, verlief die persönliche Begegnung unerfreulich.163 Hannah Arendt schreibt Domin im Anschluss an das Treffen diplomatisch, denn Domin muss sich sehr über Arendts Beschreibung Rahels empört haben: »Wenn Sie die Rahel gelesen haben, bitte schön vergessen Sie nicht, die ist nun bald ihre dreissig Jahre alt. Eigentlich ’ne Art Jugendsünde. Ich wäre also ganz und gar nicht für Ablehnen in Heidelberg gewesen. Und ich bin der Meinung, dass alle diese Fragen gar nicht mehr existieren. Trotz Antisemitismus.«164 Domin bereut ihre heftige Reaktion. Sie antwortet ein halbes Jahr später, die Begegnung habe zu einem ungünstigen Zeitpunkt stattgefunden, sie sei mit »einem durch die Nacht durchweintem Gesicht« gekommen, »am Rande der Vernunft« gewesen und es sei »doppelt und dreifach wahnsinnig [gewesen], diese Gelegenheit zu einem vernünftigen Gespräch mit einem solchen Monolog über Rahel-Gentz-Probleme vertan zu haben«.165 Sie versucht im Anschluss das missglückte Treffen durch eine Huldigung an Arendts Rahel-Buch wieder wettzumachen. In ihrer Monographie beschreibt Arendt Rahels nächtliche Träume in dem Kapitel Tag und Nacht.166 Das Gedicht Domins scheint darauf Bezug zu nehmen:

161 | Schreiben Domins auf einem Zettel des Fischer-Almanachs, datiert von 1960, beigefügt auch ein zuerst nicht abgeschickter Brief Domins an Arendt aus Pamplona vom Juni 1960, von ihr abgeschrieben am 11. November 1960, zitiert nach: Hilde Domin, Hannah Arendt: Der Briefwechsel 1960-1963 (Hg. Wild, Thomas). In: Sinn und Form, H. 1, Januar /  F ebruar 2010, Akademie der Künste, Berlin, S. 341-432, hier S. 349. 162 | Domin an Arendt, Madrid, 11.11.1960, zitiert nach: Ebenda, S. 350. 163 | Vgl. Hahn, Barbara: Widmen. Hilde Domin. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Hahn, Barbara / K nott, Marie Luise), Berlin, 2007, S. 99. 164 | Arendt an Domin, New York, 26.12.1960, zitiert nach: Hilde Domin, Hannah Arendt: Der Briefwechsel 1960-1963 (Hg. Wild, Thomas). In: Sinn und Form, H.  1, Januar / F ebruar 2010, Berlin, S. 341-432, hier S. 351. 165 | Domin an Arendt, Heidelberg, Spätsommer 1961, zitiert nach: Ebenda, S. 352. 166 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 144-155. | Diese Entdeckung ist Claudia Christopherson zu verdanken, die ihre Dissertation über Arendt und Varnhagen geschrieben hat. Vgl. Christophersen, Claudia: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint.« Hannah Arendt über Rahel Varnhagen. Königstein /  Taunus, 2002, S. 157.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung »›In der Kapsel meines Kummers treib ich dahin auf dem Bach der Tage und Nächte in dem Fruchtwasser meiner eigenen Tränen. Wenn sie reißt, die zarte Haut meiner leichten Kapsel, und die Wasser sich mischen, muss ich versinken.‹

Ich schreibe Ihnen dies ab, weil ich es Ihnen damals schicken wollte. Ich weiss nicht mehr genau, welche Stelle in dem Buch mich so stark an das Gedicht denken liess und dass es Sie sehr anginge. Das Innen und Aussen wohl, das prekäre Zeitgefühl, der getrennte Rhythmus.«167 Hilde Domin kontaktiert Hannah Arendt noch zwei Mal, schickt ihr Kopien weiterer Gedichte zu, die als Vorabdruck in der Neuen Rundschau erschienen waren.168 Von Arendt sind keine Antworten mehr erhalten.

2.8 I ngeborg B achmann Hannah Arendt begegnete Ingeborg Bachmann im Juni 1962 während einer Lesung Bachmanns im Goethe-Institut in New York und das Treffen muss von gegenseitiger Sympathie geprägt gewesen sein, denn Bachmann schreibt ihr im August 1962: »Die große Sommerapathie ist schuld daran, dass ich noch gar nicht dazu gekommen bin, Briefe zu schreiben, und doch habe ich, in Gedanken, über den Atlantik oft ein Blatt zu Ihnen geschickt, auf dem so viel gar nicht steht, aber auf dem zumindest stehen sollte: dass ich so sehr froh war, Sie zu treffen und zu Ihnen kommen zu dürfen. Ich habe nie daran gezweifelt, dass es jemanden geben müsse, der ist, wie Sie sind, aber nun gibt es Sie wirklich, und meine außerordentliche Freude darüber wird immer anhalten.«169 Arendt äußerte sich gegenüber Uwe Johnson, dass sie nicht nur die Dichterin, sondern auch die Pro167 | Domin an Arendt, Heidelberg, November 1961, zitiert nach: Hilde Domin, Hannah Arendt: Der Briefwechsel 1960-1963 (Hg. Wild, Thomas). In: Sinn und Form, H. 1, Januar /  F ebruar 2010, Berlin, S. 341-432, hier S. 353. 168 | Bei den drei Gedichten handelt es sich um Tauben im Regen, Dies Jahr sowie Lieder zur Ermutigung. Domin datierte die Kopien von Hand auf den 18. Dezember 1961. 169 | LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 9 / B ac-Barr miscellaneous, 1955-1971, Bachmann, Ingeborg: Bachmann an Arendt, Uetikon am See, 16.8.1962, Blatt 005049.

Erster Teil. Rezeption – Arendts enges Verhältnis zur Dichtung

saschriftstellerin Bachmann schätze: »Ich habe zufällig hier Simultan170 von ihr aufgestöbert. Was für eine reine Erzählerbegabung! Wie schön die Novelle mit der ›grossen Liebe‹!«171 Helgard Mahrdt hat mögliche geistige Nahtstellen zwischen Hannah Arendt und Ingeborg Bachmann herausgearbeitet. Nicht nur gründete Arendts Sympathie für Bachmann auf ihrer Liebe zur Dichtung, sondern die zwei Autorinnen verbanden auch biographische wie politische Berührungspunkte: Beide hatten ihre Heimat fern von Deutschland gefunden – Arendt in New York, Bachmann in Rom –, beide schrieben gegen Gewalt an – Arendt gegen politische Gewalt, Bachmann zunehmend auch gegen private Gewalt –, beide versuchten ihre Umwelt kritisch zu verstehen, aufmerksam auf die Entwicklung des Nachkriegsdeutschlands zu machen – Arendt durch politische Essays, Bachmann durch Lyrik, wie Erzählungen –, beide hatten sich mit Heideggers Werk profund auseinandergesetzt – Arendt hatte bei Heidegger studiert und war ihr Leben lang für seine Konzepte eingetreten, hatte aber vor allen Dingen auch gegen sie angeschrieben, Bachmann verfasste ihre Dissertation über Heideggers Existentialphilosophie, wobei sie sich besonders im Phänomen der Angst aus Sein und Zeit wiederfand.172 Marie-Luise Wandrutszka weist darauf hin, dass Bachmanns Gedankenwelt ab 1960, besonders die Erzählung Unter Mördern und Irren (die sie immer wieder überarbeitete) wie das Fragment Auf das Opfer darf sich keiner berufen, von einer eingehenden Arendt-Lektüre geprägt gewesen sei: Sie erläutert, wie Bachmann möglicherweise Arendts Diagnosen in ihren Essays Organisierte Schuld, Gedanken zu Lessing und später Eichmann in Jerusalem literarisch übersetzt habe.173 Das Gespräch zwischen beiden Frauen im Sommer 1962 dürfte tatsächlich privat wie politisch Gemeinsamkeiten offengelegt haben, denn Arendt war fest entschlossen, Ingeborg Bachmann als Übersetzerin für ihr Eichmann-Buch zu gewinnen. Im November 1962 schrieb Arendt an Piper, dass sie eine absolut erstklassige Übersetzung wünsche: »Ich brauche jemanden, der schreiben kann. Sonst hätte ich Ihnen nicht Ingeborg Bachmann vorgeschlagen. Es ist ein grosser Unterschied, eine Erzberger-Biographie halbwegs korrekt ins Deutsche zu übersetzen oder für diese Art der Reportage den geeigneten Ton zu finden. Das kann nur jemand, der entweder selbst ein Schriftsteller ist oder doch zumindest hätte werden

170 | Bard-Bibliothek: Der Band befindet sich in ihrer Bibliothek: Bachmann, Ingeborg: Simultan. Erzählungen, München, 1972. 171 | Johnson-Briefwechsel: Brief 44: Arendt an Johnson, Tegna, August 1974, S. 132. 172 | Vgl. Mahrdt, Helgard: Denken und Schreiben – »Ansiedlungsversuche« in der Welt. Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt. In: Ingeborg Bachmann – Weiter lesen und weiter schreiben (Hg. Slibar, Neva), Ljubljana, 2010, S. 38-57. 173 | Vgl. Wandrutszka, Marie Luise: Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt unter Mördern und Irren In: Sprachkunst 38, Wien, 2007, S. 55-66.

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können.«174 Ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung, da Bachmanns Englischkenntnisse nicht ausreichend waren. Eine mögliche zweite Begegnung der beiden Frauen kam nicht zustande  – nicht aus innerer Distanz wie im Fall von Domin, sondern aus terminlichen Gründen. Sigrid Weigel berichtet, dass Arendt sich im Frühjahr des darauffolgenden Jahres in Italien aufhielt, aber Bachmann Rom und Max Frisch bereits verlassen hatte. Und als Bachmann im Juni 1968 erneut im Goethe-Haus in New York vortrug, kam zwar Uwe Johnson zur Lesung, aber Blüchers Gesundheitszustand war heikel und Arendt konnte nicht kommen: »Das gegenseitige Interesse aber hatte Bestand; auf Bachmanns Seite ist es durch die Arendt-Titel in ihrer Bibliothek belegt.«175 In Arendts Besitz findet sich einer Auswahlausgabe Bachmanns von 1964, Geschichten, Erzählungen, Hörspiele, Essays.176 Bachmanns tragischer Tod 1973 in Rom traf Arendt, obwohl die beiden Frauen sich nicht mehr begegnet waren und auch weiterhin in keinem Kontakt mehr standen. Arendt schrieb an Johnson, der sowohl mit Bachmann wie auch mit Frisch befreundet war: »Mich hat die grässliche Geschichte mit Ingeborg Bachmann unerwartet berührt. Ich wollte eigentlich an Max Frisch schreiben, habe es aber dann nicht getan, weil es mir dann irgendwie zu intim schien. Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, dass ich an ihn gedacht habe.«177 Johnson schickte Arendt das Manuskript des Nachrufs auf Bachmann mit dem Titel Eine Reise nach Klagenfurt zu. Arendt schätzte den Text, da Johnson Privates diskret ausklammerte.178 Und nachdem sie ihn ein zweites Mal gelesen hatte, zeigte sie sich außerordentlich berührt: »Ich habe mir gerade die Reise nach Klagenfurt noch einmal angesehen und finde sie jetzt doch sehr eigenartig und schön.«179 Nach Arendts Tod verfasste Johnson einen Nachruf auf seine Mentorin. Thomas Wild und Eberhard Fahlke haben herausgefunden, dass Johnson seine Freundschaft mit Arendt an einem Vers Bachmanns festmachte: »Ihre Freundschaft war ehrlich genug für Tapferkeit vor dem Freund. Das ist ein Zitat, es

174 | LOC: Correspondence Publishers, 1944-1975, nd. In: Box 33 / F older: Piper 19621969: Arendt an Piper, 28.11.1962, ohne Blattnummer. 175 | Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann, Wien, 1999, S. 464. | Weigels Untersuchung gemäß verzeichnet der Katalog der Bachmann’schen Bibliothek folgende Titel von Arendt: Rahel Varnhagen (1959), Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus (1958), Über die Revolution (1963), Vita Activa (o.J.), Wahrheit und Lüge in der Politik (1972). 176 | Vgl. Bard-Bibliothek. 177 | Johnson-Briefwechsel: Brief 36: Arendt an Johnson, New York, 8.11.1973, S. 103. 178 | Vgl. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann, Wien, S. 459 f. | Weigel schreibt, dass Johnson in Bezug auf Bachmann selbst wie auch auf Arendt Diskretion lernen musste. Arendt etwa wies ihn zurecht, als er sie als Gräfin Seydlitz in den Jahrestagen porträtierte. 179 | Johnson-Briefwechsel: Brief 47: Arendt an Johnson, New York, 27.10.1974, S. 143.

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kommt nicht von ungefähr.«180 Der Vers stammt aus dem Lyrikband Die gestundete Zeit, dem Gedicht Alle Tage: »Alle Tage Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden. Der Held bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt. Die Uniform des Tages ist die Geduld, die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen. Er wird verliehen, wenn nichts mehr geschieht, wenn der Feind unsichtbar geworden ist und der Schatten ewiger Rüstung den Himmel bedeckt. Er wird verliehen für die Flucht vor den Fahnen, für die Tapferkeit vor dem Freund, für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls.«181

Z usammenfassung : L udwig G reves G edicht »H annah A rendt« Hannah Arendt ordnete im Sommer 1975 den Nachlass von Karl Jaspers im Deutschen Literaturarchiv Marbach, und Ludwig Greve, Mitarbeiter der Handschriftenabteilung, war ihre direkte Kontaktperson. Während ihres Aufenthaltes in Marbach verblüffte Arendt ihn immer wieder, da sie Gespräche ganz unvermittelt unterbrechen konnte, um ein passendes Gedicht zu zitieren. So berichtet Greve gegenüber seinem Kollegen Friedrich Pfäfflin: »Eine alte Dame mit tiefer Raucherstimme, kindlich generösen Aufschwüngen im Gespräch. Wir reden schnell – Je brûle les étapes, sage ich zögernd, und sie, lächelnd: Brûlez, brûlez  – von Ben180 | Ebenda, S. 143. Johnson, Uwe: Nachruf auf Hannah Arendt, S. 163-167, hier S. 165 f. (Erstveröffentlichung: Johnson, Uwe: Ich habe zu danken, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Dezember 1975). 181 | Bachmann, Ingeborg: Alle Tage. In: Bachmann, Ingeborg: Sämtliche Gedichte, München, 1998, S. 56.

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jamin, von Borchardt. Ihr scharfes Auge verklärt sich und sie sagt sein ›Mit den Schuhen her‹, summend, ab und zu fehlt ein Wort.«182 So schrieb er selbst ein Gedicht auf Hannah Arendt, das mit ihrer Liebe und Heimat in der Lyrik endet: »Hannah Arendt Drei, vier Stufen herab, als sei da Wasser, die Frau von woher – das bunte Kleid, amerikanisch, bedeutet nichts, der Stolz ist das Fremde, so ein Zug von Wildheit um ihren Mund, wo sah ich das? Auf griechischen Münzen, unscharf hie und da am Rand, wo die Fingerkuppen vieler Geschlechter diesem Gott ein bisschen Gefühl beibrachten, seiner Jugend Hinfälligkeit. Die Stimme… solches Wetter grollen und lachen hört man selten im Alltag, keine Sängerin, aus Gedanken holt sie einen Klang wie aus der Luft. Das Lächeln grüßte mich im vollen Café – und angelehnt wie Pessach teilen wir den Vorrat, das Scharfe, auch das Süße der Verbannung, die Freiheit. Ihre Lippen zuckten, wenn ich wie früher, um ein Mädchen zu halten, vor Begeisterung das Verkehrte sagte, und die Antwort hinwerfend, ohne lange zu zielen, stand da wirklich ein Mädchen. Jeden Morgen am Schreibtisch saß im Gespräch mit dem toten Lehrer, seine Briefe ordnend; wer eintrat, solch ein Blick empfing ihn voller Erwartung, dass sich noch der geringste Mühe gab, sie nicht zu enttäuschen. Abends schmeckte ihr das Essen, wenn Freunde kamen aus der Welt, sie fand in drei Sprachen Wohnung. Aber von uns wer, mitten im Gespräch sich nach vorne beugend, kann noch so Gedichte hersagen, deutsche Wort für Wort … Sie trugen die Bürde, Hannah, nichts ging verloren.«183 182  |  Hahn, Barbara: Widmen. Ludwig Greve, In: Hannah Arendt  – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Hahn, Barbara /  K nott, Marie Luise), Berlin, 2007, S. 190-196, hier S. 191. 183 | Greve, Ludwig: Die Gedichte (Hg. Tgahrt, Reinhard / P fäfflin, Waltraud), Mainz, 2006, zitiert nach: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Hahn, Barbara /  K nott, Marie Luise); Berlin, 2007, S. S. 190-196, hier 192. Hannah Arendt verstarb, bevor sie das Gedicht kennenlernen konnte.

Zweiter Teil Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

1. Zwei sich ergänzende Sprachmodelle

»Nur von Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten).« H annah A rendt  /  D enktagebuch1

E inleitung : D eutsche S pr ache als H aup t wohnsit z und U nüberse t zbarkeit von L yrik Bereits sehr früh äußerte sich Hannah Arendt über ihr Vertrauen zur Sprache. In ihrer Rahel-Varnhagen-Monographie Anfang der 1930er-Jahre kam sie auf Rahels Beziehung zu Goethe zu sprechen, der sie lehrte, dass man schmerzvolle Erfahrungen lindern könne, indem man die Erlebnisse durch Sprache, durch Narration verarbeitet: »Die Allgemeinheit des Dichterischen ist nur verbindlich, wenn sie aus der letzten und schärfsten Genauigkeit des Wortes entspringt, wenn sie jedes Wort beim Worte nehmen weiß. So kommen Rahel ›alle Worte Goethes ganz anders vor, wenn er sie sagt, als wenn auch andere Menschen dieselben sagten, als Hoffnung, Treue, Furcht etc.‹ Nur in der völlig befreiten Reinheit des Dichterischen, in dem alle Worte gleichsam zum ersten Mal erklingen, kann ihr die Sprache zum Freund werden, dem sie sich und ihr beispielloses Leben mitteilt, anvertraut. Goethe vermittelt ihr die Sprache, die sie sprechen kann. […] Immer wieder lösen seine Worte sie aus der stummen Verhextheit des nur Geschehenden. Dass sie sprechen kann, gibt ihr ein Asyl in der Welt, lehrt sie mit Menschen umgehen, dem Gehörten vertrauen. Dass sie sprechen kann, verdankt sie Goethe.«2 Arendt sollte die Erlösungskraft der Narration im Laufe ihres Lebens systematisch weiterentwickeln.3 Arendts Aussagen zur Sprache waren vielfältig und lassen sich in zwei Stränge aufteilen: erstens  – Sprache, um sich verständlich zu machen, Sprache als Kommunikation, die auch Handlungsfunktion hat; zweitens die Verbindung zwischen Denken und Sprache, wobei sie der besonderen Kategorie, dem 1 | Arendt, Hannah: Denktagebuch: Heft 19, Februar 1954, Eintrag 35, S. 469. 2 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 126. 3 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1 Narration als Erzeugnis der Unvergänglichkeit, S. 208.

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poetischen Denken, dem metaphorischen Sprechen, auch eine besondere Bedeutung zumaß. Für den ersten Fall – Sprache als Kommunikation – war Jaspers der Repräsentant einer solchen Sprache; für den zweiten Fall – Sprache als poetischer Ausdruck – führte sie verschiedene Autoren an, wobei besonders Heidegger und Benjamin hervorzuheben sind. Arendts enges Verhältnis zur deutschen Sprache äußerte sich in zwei Überzeugungen. Obwohl sie sich in mehreren Sprachen auszudrücken vermochte, blieb Deutsch die Muttersprache, die Sprache, die sie vollendet beherrschte, die ihre Zugehörigkeit definierte – nicht zum Land Deutschland, aber zu bestimmten deutschsprachigen Menschen und Werken. Weiterhin zeigte sich die Einmaligkeit der Sprache für sie auch darin, dass spezielle, herauszuhebende Texte für sie unübersetzbar blieben. Zudem fand sie ihre Heimat in der deutschen Lyrik und gelangte nach wiederholten Versuchen, deutsche Lyrik ins Englische übersetzen zu lassen, zu der Schlussfolgerung, dass dieses Unterfangen keine wirklich überzeugenden Resultate zeitigt. Hannah Arendts Vertrauen in die Sprache wurde auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass sie aufgrund ihrer Emigration zwei Mal die Sprache wechseln musste: als sie 1933 zuerst nach Frankreich und 1940 weiter in die USA emigrierte. Ihr Hauptwohnsitz lag in der deutschen Sprache, von der sie sich, im Unterschied zu vielen anderen Emigranten, niemals trennen wollte. Elisabeth YoungBruehl berichtet, dass für Hannah Arendt Sprache Kontinuität bedeutete und dass die deutsche Sprache für sie bis zum Ende ihres Lebens ihre Heimat war, »sozusagen ein politisches Faktum«.4 Im Interview mit Günter Gaus unterscheidet Arendt zwischen dem Land und der Sprache: »Das Europa der Vorhitlerzeit? Ich habe keine Sehnsucht, das kann ich sagen. Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache. […] Ich habe immer bewusst abgelehnt, die Muttersprache zu verlieren. Ich habe immer eine gewisse Distanz behalten sowohl zum Französischen, das ich damals sehr gut sprach, als auch zum Englischen, das ich ja heute schreibe.«5 Gerade ihre innige Beziehung zur Lyrik drückt am deutlichsten ihre Verbundenheit zur Heimatsprache aus, wohl auch weil Lyrik nicht wirklich übersetzbar ist: »Es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen Muttersprache und allen anderen Sprachen. Bei mir kann ich das furchtbar einfach sagen: Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwo im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nie erlauben würde. […] Die deutsche Sprache ist jedenfalls das Wesentliche, was geblieben ist und was ich auch bewusst immer gehalten habe.«6 Diese Aus4 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, S.  35. 5 | Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (28.10.1964). In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1996, S. 44-70, hier S. 58. 6 | Ebenda, S. 58.

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sagen stimmen auch mit früheren ihrer Bemerkungen überein, die noch aus der Zeit vor ihrer Emigration stammen. So schrieb sie 1933 an Karl Jaspers, kurz bevor sie ins Exil nach Frankreich gehen sollte, dass sie sich nicht als Deutsche fühle, sondern als Jüdin, und dass für sie Deutschland Sprache wie Kultur bedeute, die sich durch Sprache ausdrücke. Der Hintergrund ihres Briefs war ein Gespräch mit Jaspers über »das deutsche Wesen«, das seiner Ansicht nach für Vernunft und Menschlichkeit stünde, wobei er hier mit Max Weber übereinstimmte. Arendt grenzte sich von nationalen Typologien eindeutig ab: »Sie werden verstehen, dass ich als Jüdin dazu weder Ja noch Nein sagen kann und dass mein Einverständnis ebenso unpassend wäre, wie eine Argumentation dagegen. […] Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das muss und kann ich einstehen.« 7 Die deutsche Muttersprache ist für Arendt nicht ersetzbar, und eine zweite, angelernte Sprache kann höchstens der Verständigung dienen, wie ihrem Austausch mit Heinrich Blücher zu entnehmen ist.8 So zieht Blücher nach seiner Ankunft 1941 in den USA einen humorvollen Vergleich mit Geigen: »Wenn einem schon die Stradivari geklaut worden ist und wenn man schon gezwungen ist, unwahrscheinliche Preise für den Erwerb einer Bierfidel zu zahlen, denn mehr kann eine andere Sprache für einen niemals werden, so soll man wenigstens ablehnen, das Studium neu zu beginnen, nur um eine Lizenz für die Erlaubnis zum Gebrauch einer Bierfidel zu erhalten. Vielleicht kriegt man die Geige mal gepumpt.«9 Arendt, die einige Zeit in einer amerikanischen Gastfamilie in Winchester / Massachusetts verbracht hat, um Englisch zu lernen, antwortete ihm darauf, dass es ihr vor allen Dingen um Verständigung gehe: »Mit meinem Englisch ging es ganz gut. Den Leuten ist es wirklich ganz egal, was du aus dieser Sprache machst. Wenn sie dich nur verstehen.«10 Dennoch führte sie die Schwierigkeit an, die Muttersprache nicht mehr im Alltag benutzen zu können, wie in einem Artikel von 1943, der Auskunft über die Situation des Flüchtlingsdaseins gibt: »Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer

7 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 22: Arendt an Jaspers, Berlin, 1.1.1933, S. 52. 8 | Elisabeth Young-Bruehl berichtet, dass Blücher sich in den ersten Jahren weigerte, Englisch zu lernen. Arendt, die während ihrer Schulzeit in Königsberg Griechisch, Latein und Französisch gelernt und sich dem Englischen als Kind verweigert hatte, holte dies natürlich in den ersten Jahren in den USA nach. Young-Bruehl stellt fest, dass sie insgesamt sehr sprachbegabt war. Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /   M ain, S.  239. 9 | Blücher-Briefwechsel: Blücher an Arendt, New York, 26. 7.1941, S. 118. 10 | Ebenda, Arendt an Blücher, Winchester, 12.8.1941, S. 133.

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Gefühle.«11 Und mit verzweifelter Ironie fuhr sie fort: »Mit der Sprache haben wir allerdings keine Schwierigkeiten: die Optimisten unter uns sind schon nach einem Jahr der festen Überzeugung, sie sprächen Englisch so gut wie ihre Muttersprache; und nach zwei Jahren schwören sie feierlich, dass sie Englisch besser beherrschten als irgendeine andere Sprache – an die deutsche Sprache erinnern sie sich kaum.«12 Wieder ist es deutsche Lyrik, die Heimat vermittelt: »Ich weiß nicht, welche Erfahrungen und Gedanken des Nachts in unseren Träumen hausen. Ich wage nicht nach Einzelheiten zu fragen, denn auch ich bliebe lieber optimistisch. Doch manchmal stelle ich mir vor, dass wir zumindest nachts an unsere Toten denken oder uns an die einst geliebten Gedichte erinnern.«13 Von der Vertreibung aus Deutschland und dem Exil traumatisiert, wiesen manche Emigranten auch die deutsche Sprache zurück. Hier traf Arendt eine wesentliche Unterscheidung. Nicht die Sprache ist gewalttätig, sondern gewisse Menschen, welche die Sprache auf gewalttätige Weise missbrauchen. Auch in den bittersten Jahren der Emigration hielt sie daher an der deutschen Sprache fest: »Ich habe mir gedacht, was soll man denn machen? Es ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist. Und zweitens: Es gibt keinen Ersatz für die Muttersprache. Man kann die Muttersprache vergessen. Das ist wahr. Ich habe es gesehen. Ich spreche [das Englische] immer noch mit einem sehr starken Akzent, und ich spreche oft nicht idiomatisch. Das können die alle. Aber es wird eine Sprache, in der ein Klischee das andere jagt, weil nämlich die Produktivität, die man in der eigenen Sprache hat, abgeschnitten wurde, als man diese Sprache vergaß.«14 Kurz nach Kriegsende, 1946, unterschied sie gegenüber Jaspers erneut zwischen Land und Sprache: Sie definierte sich nicht als Deutsche, sondern als Jüdin.15 Der deutschen Sprache blieb sie dennoch verbunden: »Es ist für mich leich11 | Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge (1943). In: Arendt, Hannah: Politische Essays (Hg. Knott, Marie Luise), Hamburg, 1999, S. 8. 12 | Ebenda, S. 8. 13 | Ebenda, S. 9 f. | Vgl. Arendts eigene Emigrationsgedichte, die sie wohl nachts geschrieben hat, da sie Nachtbilder evozieren. | Zum Beispiel: Dritter Teil, 1.1.1 »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet«, S. 278. Auch in: Gedichte, S. 37. | Dritter Teil 1.1.2 »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind«, S. 282. Auch in: Gedichte, S. 38. | Dritter Teil, 1.2.1 »W.B. Einmal dämmert Abend wieder …«, S. 295. Auch in: Gedichte, S. 32. 14 | Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (28.10.1964). In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1996, S. 44-70, hier S. 59. 15 | Arendt zeigte Widerwillen gegen jegliches nationalistische Denken, das heißt gegenüber jeglicher Argumentation zugunsten einer territorialen, soziologischen oder ethnischen Zugehörigkeit. Für sie gab es Zugehörigkeit nur über Verständigung, das heißt über gemeinsame Sprache. In ihrem Totalitarismus-Buch positioniert sie sich dazu eindeutig: »Sobald sich dies Personal-Nationale mit dem nationalen Stolz der westlichen Völker messen wollte, stellte sich heraus, dass sie auf kein gemeinsam bebautes und besiedeltes Land, auf

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ter als für Ihre Frau, weil ich ferner bin von allen Dingen und weil ich mich niemals spontan und insistierend ›als Deutsche‹ gefühlt habe. Was bleibt, ist die Sprache, und wie wichtig das ist, weiß man wohl erst, wenn man mehr nolens als volens andere Sprachen spricht und schreibt. Ist das nicht genug?«16 Und ein Jahr später, 1947, schrieb sie in ihrem Vorwort zu Die verborgene Tradition, dem Buch, das sie Jaspers gewidmet hat, dass die einzige mögliche Rückkehr, die Rückkehr zur deutschen Sprache sei: »Denn es fällt heute einem Juden nicht leicht, in Deutschland zu veröffentlichen, und sei er ein Jude deutscher Sprache. Angesichts dessen, was geschehen ist, zählt die Verführung, seine eigene Sprache wieder schreiben zu dürfen, wahrhaftig nicht, obwohl dies die einzige Heimkehr aus dem Exil ist, die man nie ganz aus den Träumen verbannen kann.«17 Als sie 1950 zum ersten Mal nach 18 Jahren der Emigration Deutschland besuchte, thematisierte sie erneut die Bedeutung der deutschen Sprache: »Aber das allgemeine, das größte Erlebnis, wenn man nach Deutschland zurückkommt – abgesehen von dem Wiedererkennungserlebnis, das ja in der griechischem Tragödie immer der Drehpunkt der Handlung ist –, das ist die große Erschütterung. Und außerdem das Erlebnis, dass auf der Straße deutsch gesprochen wurde. Das hat mich unbeschreiblich gefreut.«18 Einige Jahre später, 1953, erwähnte sie gegenüber Jaspers erneut ihre Verbundenheit mit der deutschen Sprache, die sich auch in der Liebe zur Lyrik ausdrückte: »Aber mir scheint, ich kann versprechen, dass ich in Ihrem Sinne nicht aufhören werde, eine Deutsche zu sein; das heißt, dass ich nichts verleugnen werde, nicht Ihr Deutschland und Heinrichs [Blücher], nicht die Tradition, in der ich groß wurde, und die Sprache, in der ich denke und in der die mir liebsten Gedichte geschrieben wurden. Ich werde mir nichts anschwindeln, weder eine jüdische noch eine amerikanische Vergangenheit.«19 keinen Staat, auf keine geschichtliche Leistung weisen konnten, sondern eben nur auf sich selbst – und dies hieß im besten Fall auf die Sprache (als ob die Sprache selbst schon eine Leistung wäre) und im schlimmsten Fall auf ihre slawische oder germanische oder tschechische oder Gott weiß welche ›Seele‹.« Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München, 2001, S. 493. 16 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 50: Arendt an Jaspers, New York, 17.12.1946, S. 106 f. (Jaspers Frau war Jüdin, doch das Paar emigrierte nicht.) 17 | Arendt, Hannah: Zueignung an Karl Jaspers (1948) In: Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt /  M ain, 2000, S. 7-12, hier S. 7. 18 | Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (28.10.1964) In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 61. | Ein enger Freund, Hans Jonas, weigerte sich, nach dem Krieg in Deutschland deutsch zu sprechen. Hannah Arendt bewertete das als absurd, da er Englisch mit deutschem Akzent sprach, was die Deutschen sofort heraushörten. Vgl. Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 55: Arendt an Blumenfeld, Palenville, 2.8.1956, S. 153: »Verstehen kann ich es und ehrenwert ist es vielleicht auch, aber bestimmt außerdem verrückt.« 19 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 140: Arendt an Jaspers, New York, 19.2.1953, S. 243.

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Sigrid Weigel bemerkt, dass Hannah Arendt ihr Denktagebuch, das ja hauptsächlich in den USA entstanden ist, zumeist in deutscher Sprache gehalten hat. Öffentlich trat Arendt als englischsprachige Autorin politischer Theorie auf,20 als Professorin an amerikanischen Universitäten, privat verfasste sie ein intellektuelles Tagebuch zum großen Teil auf Deutsch: »Das ›Denktagebuch‹ also als Schauplatz einer anderen Schrift – jenseits der Ausbürgerung aus Deutschland und der Einbürgerung in Amerika.«21 Lesen und Auswendiglernen von Gedichten in deutscher Sprache sowie die eigene Produktion von deutscher Lyrik in ihrem Denktagebuch zeugen von einer Identitätsbestimmung unabhängig von nationalen Selbstdefinitionen. Arendts Überlegungen, ob Übersetzungen wirklich adäquat sein können, beruhen zunächst auf ihrem Versuch, während der ersten Jahren in New York als Lektorin bei Schocken Books einen Band zu Übersetzungsfragen herauszubringen, mit Essays von Broch, Benjamin und Rosenzweig.22 Marie Luise Knott bemerkt, dass ein Text von Broch Arendt auf die Idee zu diesem Buch gebracht hat: »Broch untersuchte darin anhand von Matthias Claudius’ Lied Der Mond ist aufgegangen die Schwierigkeiten des Übersetzens: ›Der Wald steht schwarz, abendbereit, friedensbereit, aber in seiner fernsten Ferne haust noch immer der Drache, befriedet auch er, dennoch ein Drache, und in den weißen Nebeln webt der Elf, aufgelöst zwar in Mondlicht und ruhesehnsüchtig, dennoch der Elf. Wohl in jedem deutschen Sprachkunstwerk ist etwas von all dem vorhanden, und der Übersetzer hat es mitzuerfassen, wenn er den Geist der deutschen Sprache erfassen will.‹«23 Ein bestimmter lyrischer Begriff enthält eine Vielzahl von kulturellen Hintergründen, die in einer Übersetzung nur durch mehrere Begriffe umschrieben werden können: die Kürze und Dichte des lyrischen Begriffs, der subtil hin20 | Sigrid Weigel hat weiterhin den komplexen Vorgang von Arendts Selbstübersetzungsprozessen analysiert, als sie ihre Werke ab den 1950er Jahren zuerst auf Englisch schrieb und dann ins Deutsche übersetzte. Die Texte unterscheiden sich: »When trying to find an overall characterization of her bilingual writings, one could summarize that Arendt’s English written texts practice a more conceptual mode of writing, while her German texts make more use of the metaphorical ground of thinking. […] More significant ist the fact that the more conceptual mode of her writing in English coincides with the language of political theory, whereas the more metaphorical one, practiced in German, refers to the important epistemological role of language, etymology, and the history of concepts in her thought.« Weigel, Sigrid: Sounding trough – Poetic difference – Self-Translation: Hannah Arendt’s thoughts and writings between different languages, cultures, and fields. In: German intellectuals on exile after 1933 (Hg. Goebel, Eckhart / Weigel, Sigrid), Berlin, 2013, S. 75. 21 | Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Denktagebuch. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167 München, 2005, S. 130. 22 | Vgl. Broch-Briefwechsel: Brief 14: Arendt an Broch, New York, 9.9.1946, S. 14. 23 | Knott, Marie-Luise: Bei Schocken Books. In: Hahn, Barbara /  K nott Marie Luise: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Berlin, 2007, S. 25.

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weist, bleibt nicht erhalten. Walter Benjamins Auffassung von Übersetzungen dichterischer Texte geht nicht mehr von der Illusion einer genauen Übertragung aus. Mit Distanz kann nur noch der kommunikative Gehalt wiedergegeben werden, so Marie-Luise Knott, »[w]ährend Benjamin die Notwendigkeit betont hatte, die Fremdheit des zu übersetzenden Textes im übersetzten Text spürbar zu lassen.«24 Hannah Arendts schätzte daher Übersetzungen verschiedener deutscher wie auch englischer Gedichte äußerst kritisch ein: Auden-Gedichte ins Deutsche übersetzt findet sie schlicht fehlerhaft – »die letzten Versuche im ›Merkur‹, ein Gedicht von Auden durch drei Übersetzer verarzten zu lassen, von denen positiv nicht einer den Sinn dieses sehr charmanten, kleinen Gedichts verstanden hat, sind nicht gerade ermutigend. Die rein sprachlichen Fehler sind einfach horrend.«25 Es handelt sich um If I could tell. In ihrem Essay über Auden kommt sie auf drei Übersetzer zu sprechen, die eine Übertragung versucht hätten, aber keinem von ihnen sei sie gelungen. Ihre Schlussfolgerung: Gute Lyrik sei unübersetzbar. Die Redewendung: »Time will say nothing, but I told you so« heißt übersetzt: »Die Zeit wird es nicht zeigen, ich hab es dir doch gesagt«, ergibt jedoch im Deutschen keinen Sinn, weil diese zwei idiomatischen Redewendungen hier nicht existieren. Das Idiom der Alltagssprache, die »das Prosaische ins Poetische« hebt, ist nicht übertragbar. In der Originalsprache allerdings beruht sie auf Genialität: »Wo solch flüssiger Ausdruck erreicht wird, stellt sich bei uns auf magische Weise die Überzeugung ein, dass die alltägliche Rede latent poetisch ist, und wenn von den Dichtern unterwiesen, öffnen sich unsere Ohren für die wahren Geheimnisse der Sprache.«26 Prosatexte von Lyrikern, in denen Verdichtung und Verknappung nicht wie bei Gedichten das Grundelement bilden, schien Arendt für übersetzbar zu halten. So empfahl sie dem Verleger Klaus Piper, Robert Lowell übersetzen zu lassen: »Darf ich Sie noch einmal auf Robert Lowell aufmerksam machen, von dem, soweit ich weiß, nichts auf deutsch erschienen ist. Er ist zweifellos heute der größte amerikanische Dichter. Es existieren eine Reihe von Stücken in Prosa, die nicht schwer zu übersetzen sind. Bei Gedichten ist das ja bekanntlich eine Glückssache, die nur selten zum Glück ausschlägt.«27 Lowell selbst hatte ihr Gedichte verschiedener Lyriker zukommen lassen, die er ins Englische übertragen hatte, und den Band Imitations genannt. Übertragungen, nicht Übersetzungen von Lyrik durch einen Lyriker, der selbst Verse hinzufügen mag, fanden allerdings Arendts Zustimmung: »Ich war sehr glücklich, das Übersetzungsbuch zu erhalten. Wunderbar! Und et24 | Ebenda, S. 25. 25 | LOC: Publishers Correspondence 1944-1975, nd. In: Box 33 / F older: R. Piper und Co., Klaus 1962-1969: Arendt an Piper, 16.4.1967, Blatt 003176. 26 | Arendt, Hannah: Ich erinnere an Wystan Auden (1975) In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 318-328, hier S. 319. 27 | LOC: Publishers Correspondence 1944-1975, nd. In: Box 33 / F older: R. Piper und Co, Klaus 1962-1969: Arendt an Piper, 4.6.1967, Blatt 003167.

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was, was soweit ich mich erinnern kann, niemals jemand zuvor gemacht hat. Jetzt erscheint es so naheliegend, so plausibel, das zu tun. Ich mag vor allen Dingen die Rimbaud- und Baudelaire-Übersetzungen.«28 Ein gelungenes Beispiel war für Arendt Lowells Übertragung des Rilke-Gedichts Taube, die draußen blieb, das Lowell als Ideenanleihe für eigenes Dichten benutzt hatte. Barbara Hahn erkennt, dass Lowell eine komplette Stanze hinzugefügt und aus einer Taube mehrere Tauben gemacht hat.29 Lowell sah darin sein eigenes Credo. Bei dieser Art der Übertragungen von Lyrik geht es weniger darum, dem Original treu zu bleiben, als vielmehr etwas Neues zu entwerfen: »Das Gedicht ist sehr schön und ein wirklicher Gegenentwurf (keine Antwort) zu Taube, die draußen blieb. Ich bin so stolz, dass Du es mir widmest, dass ich erröte und ganz verlegen bin.«30 Andere Übertragungen von deutscher Lyrik ins Englische wie etwa die von Randall Jarrell sah sie kritischer, vielleicht, weil sie die deutsche Sprache im Unterschied zur englischen perfekt beherrschte und einsah, wie schwierig selbst Übertragungen sind. Dabei war es Randall Jarrell, der ihr in den ersten Jahren in den USA ein Gefühl für amerikanischsprachige Dichtung vermittlte: »Stundenlang las er mir englische Gedichte vor – alte und neue, nur selten eigene, welche er allerdings eine Zeitlang per Post zu schicken pflegte, sobald sie aus seiner Schreibmaschine kamen. Er eröffnete mir eine ganz neue Welt von Tönen und Versmaßen und lehrte mich die spezifische Schwere englischer Worte, deren relatives Gewicht letztlich, wie in allen Sprachen, durch ihren Gebrauch in der Dichtung und die entsprechenden Regeln bestimmt ist. Was immer ich über englische Dichtung und möglicherweise den Geist dieser Sprache weiß, verdanke ich ihm.«31 Ein reger Austausch über deutsche Lyrik fand parallell statt, da Jarrell sich von der deutschen Sprache angezogen fühlte, die er allerdings kaum beherrschte. Er weigerte sich, Deutsch auf die herkömmliche Weise zu erwerben, indem er 28 | Houghton Library, Harvard University, Nachlass Lowell, Robert, bMS Am 1905 (3537): Arendt an Lowell, Evanston /  I llinois, 5.2.1961, ohne Blattnummer (Übersetzung A.B.). Originaltext: »I was very happy to get the translation book. Marvellous! And somehow something which, as far as I can remember, no one ever did before. Now it seems so obvious, so plausible to do. I liked especially the Rimbaud and the Baudelaire translations.« 29 | Vgl. das Typoskript von Robert Lowell zu seiner Rilke-Übertragung: Taube die draussen blieb In: Hahn, Barbara: Widmen. Robert Lowell. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Hahn, Barbara /  K nott, Marie Luise), Berlin, 2007, S. 197-199, hier S. 102. 30 | Houghton Library, Harvard University, Nachlass Lowell, Robert, bMS Am 1905 (3537): Arendt an Lowell Evanston / Illinois, 18.1.1961, ohne Blattnummer (Übersetzung A.B.). Originaltext: »The poem is very beautiful and a real reply (not response) to Die Taube die draussen blieb. I am so proud that you will dedicate it to me that I blush and get all embarrassed.« 31 | Arendt, Hannah: Randall Jarrell (1967) In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 329-334, hier S. 330.

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deutsche Lyrik ohne Wörterbuch und Grammatik übersetzte: »Durch Vertrauen und Liebe und Rilke-Lesen ohne ein Wörterbuch – nur so lernt man Deutsch.«32 Der Dichter Jarrell versuchte durch Intuition die deutsche Sprache zu erfassen. Er liebte das volkstümliche Element der deutschen Dichtung, das er sogar in der Lyrik Goethes, Hölderlins und Rilkes entdeckte. Er hatte auch Grimms Märchen und Des Knaben Wunderhorn gelesen, »so als ob er völlig zu Hause wäre, in der fremden und gefühlsbetonten deutschen Volksdichtung, den Märchen und Liedern, die ebenso unübersetzbar deutsch sind, wie, nun ja, Alice in Wonderland unübersetzbar englisch.«33 So schätzte Arendt eines der Gedichte Jarrells über Grimms Märchen, bei dem er die deutsche Sage als Inspiration nahm, ähnlich wie Lowell in seinen Übertragungen: »Listening, listening: it is never still / This ist the forest… / [where] / The sunlight fell to them, according to our wish, / And we believed, till nightfall, in that wish; / And we believed, till nightfall, in our lives.«34 Als Jarrell ihr allerdings Übersetzungen von Heine-Gedichten zuschickte, reagierte sie distanziert. Er ließ ihr Ich weiß nicht, was soll es bedeuten zukommen, sie wich aus und schlug ihm ein anderes Gedicht vor, schließlich verlief die Angelegenheit im Sande. Jarrell übersetzte auch Rilke und schickte ihr etwa den Ölbaum-Garten zu.35 Da leider keine Antwort von Arendt erhalten ist, kann man nur eine Einschätzung aus seinem Mund ablesen: »Es stellte sich heraus, dass Der Ölbaum-Garten ihr Lieblingsgedicht von Rilke ist – sie kennt es auswendig. Sie war entzückt, dass ich es übersetzt hatte. […] Sie sagte ihrem Mann über mich: ›Weißt Du, er hat Affinitäten mit Rilke.‹ Und sie fügte hinzu: ›Im Gesicht sehen sie sich ähnlich.‹ Ihr Mann sah mich an und sagte ruhig, etwas überrascht: ›Ja, tatsächlich, das stimmt.‹ Ich saß, eher zurückhaltend und still, und bemerkte schließlich, was für ein schrecklicher Mensch Rilke gewesen sein muss; sie lachten beide und ich auch.«36 Das führte wohl zu dem geplanten gemeinsamen Buchprojekt, bei Scho32 | Ebenda, S. 330. 33 | Ebenda, S. 330. 34 | Ebenda, S. 332. Übersetzung A.B.: »Hör, hör nur, es ist niemals still / Dies ist der Wald … / [in dem] / Das Sonnenlicht auf sie fiel, unserem Wunsch entsprechend, / Und wir glaubten, bis zur Dämmerung, an diesen Wunsch; / Und wir glaubten, bis zur Dämmerung, an unser Leben.« 35 | Vgl. LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 12 / F older: Jarrell, Randall, 1947-1967, nd. Folder 2: Jarrell an Arendt, nd. Blatt 007541. (Nicht alle Antwortbriefe Arendts sind als Kopien ihren eigenen Unterlagen hinzugefügt und in Jarrells Nachlass sind Arendts Briefe leider nicht erhalten.) 36 | Jarrell an Elisabeth Bishop (November 1948) In: Randall Jarrell’s Letters. An autobiographical and literary selection (Hg. Jarrell, Mary), London, 1985, S. 206 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »It turned out that The Olive Garden is her favorite Rilke poem – she knows it by heart. She was delighted that I’d translated it. […] She said to her husband about me ›He has affinities with Rilke, you know.‹ Then she added, ›His face is a little like.‹ Her husband looked at me and said quietly, in a surprised way, ›Why yes, that is so.‹ I sat,

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cken deutsche Gedichte mit Übersetzungen von Jarrell herauszugeben. Das Vorhaben zerschlug sich dann allerdings. Es ist durchaus möglich, dass Arendt sich distanziert hat, ohne Jarrell direkt vor den Kopf stoßen zu wollen. Jarrell berichtete seiner Frau, dass Arendt ihm abgeraten hatte, zu viele deutsche Gedichte zu übersetzen, da er sonst seine englische Sprachfähigkeit verlieren würde: »Hannah und ich sprachen über Übersetzungen, und ich sagte ihr, dass Du [Mary von Schrader] und ich zusammen Deutsch lernen sollten, und sie meinte, das sei gut, dass ich ein wundervoller Übersetzer sei und dass ich, wenn ich viel deutsche Lyrik übersetzen würde, längerfristig meine eigene Lyrik erweitern und ihr einen unangenehmen, unenglischen Klang geben würde.«37 Diese Äußerung Arendts ist ambivalent. Jarrell sollte im Laufe der Jahre weitere Rilke-Übertragungen vornehmen, von denen Kopien in Arendts Nachlass erhalten sind – »und ich übersetze ohne Ende Rilke – ›Requiem auf den Tod eines Knaben‹, ›Die große Nacht‹, ›Der Tod‹ und vier weitere.«38 Leider finden sich hierzu keine Stellungnahmen von Arendt. Man kann annehmen, dass sie dankbar gewesen sein muss, in Amerika Lyrikern zu begegnen, die sich für ihre ursprüngliche Sprache und deutsche Literatur so begeistern ließen. Auch der Wunsch, einem amerikanischen Publikum deutsche Literatur nahezubringen, schien groß gewesen zu sein.39 Insgesamt erweckte sie jedoch den Eindruck, Zweifel an der Übersetzbarkeit von Lyrik gehabt zu haben – so lange es sich nicht um Nachdichtungen handelte, also eigenständige Werke produziert wurden.

rather awkward and silent, and finally remarked what an odd man Rilke has been; they both laughed, and I did, too.« 37 | Jarrell an Mary von Schrader, New York, März 1952, In: Ebenda, S. 181 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »Hannah and I talked about translation, and I told her that you and I meant to learn German together, and she said that was good, that I was a wonderful translator and if I translated a lot of german poetry probably would, in the long run, have my own poetry broadened and given odd, un-English virtues by it.« 38 | Jarrell an Arendt, September 1952 In: Ebenda, S. 362 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »And I’ve translated no end of Rilke – Requiem for the death of a boy, The great night, Death and four more.« 39 | Das betrifft in geringem Maße auch französische Lyrik. So gibt es einen Austausch zwischen Arendt und Helen Wolff über Michaux und René Char. Arendt spricht sich für eine Aufnahme dieser beiden Autoren im Kurt Wolff Verlag aus: »Wird Henry Michaux Ihr Autor? Das würde mich sehr freuen. Und wenn ich mir einen kleinen Vorschlag erlauben darf – was denken Sie über René Char?« LOC: Publishers Correspondence 1944-1975, nd. In: Box 30 /  F older: Helen and Kurt Wolff Books III, 1966-1975, nd: Arendt an Wolff, New York, 28.9.1967, Blatt 002262. | Helen Wolff bringt auch hier die Problematik des Übersetzens ein: Lyrik nein, Prosa ja: »Ein Band von Michaux’ Les grandes épreuves de l’esprit hatte ich schon im Frühjahr erworben, es ist Prosa, also übersetzbar. Von ihm erzähle ich Ihnen einmal.« Ebenda, Wolff an Arendt, London, 5.10.1967, ohne Blattnummer.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

In ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes fasste Hannah Arendt zwei Möglichkeiten der Sprache systematisch zusammen: Auf der einen Seite gibt es den gemeinen Verstand, der die Erscheinungen verstehen möchte und im Dienst des Wissensdranges steht. Er gibt Beispiele an, um Begriffe zu erläutern, die Abstraktionen sind. Hier geht es um Mitteilbarkeit und Kommunikation auf Basis der Realität. Auf der anderen Seite beschäftigt sich der Verstand mit Spekulationen, die über Erscheinungen hinausgehen. In diesem Augenblick kommt die Metapher ins Spiel, weil es keine konkreten Beispiele gibt. Der passende Ausdruck vermittelt hier die Glaubwürdigkeit der Erfahrung.40 Daher wird im Folgenden Arendts Verhältnis zur Sprache in zwei Kapiteln dargelegt: Sprache als Kommunikation und Sprache als Ausdruck. In ihrer Lyrik kommen beide Möglichkeiten der Sprache vor.41

1.1 S pr ache als K ommunik ation 1.1.1 Verbindung zwischen Sprache und Handlung Hannah Arendt bezog sich für ihren Kommunkationsbegriff im Wesentlichen auf Jaspers’ Schriften und ihre persönlichen Erfahrungen aus Gesprächen mit ihm. Arendts eigene Methode der wissenschaftlichen Arbeit beruhte hauptsächlich auf Sprachanalyse, wie Elisabeth Young-Bruehl bemerkt: »Ihre philosophische Methode nannte sie ›Begriffsanalyse‹; ihr Ziel war herauszufinden, ›woher Begriffe kommen.‹ Mit Hilfe der Philologie oder der Sprachanalyse verfolgte sie politische Begriffe zurück zu den konkreten historischen und allgemein politischen Erfahrungen, aus denen die Begriffe hervorgingen. Auf dieser Grundlage konnte sie dann abschätzen, wie weit sich ein Begriff von seinen Ursprüngen entfernt hatte, und die Vermischung der Begriffe im Lauf der Zeit darstellen, indem sie Punkte der sprachlichen und begrifflichen Verwirrung markierte. Anders formuliert: Sie trieb eine Art Phänomenologie.«42 Dieser Methode folgte sie in der Vita Activa wie in ihrem Revolutions-Buch. Young-Bruehl kommt auf ihre persönlichen Erfah40 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 108. 41 | Rolf Geißler unterscheidet in seinem Essay über Arendt zwischen Dichtung und Literatur: »Dichtung hat mit Wahrheit zu tun, Literatur mit Realität. Die eine durchstößt den Realitätskokon und versucht eine Art ›Weltschöpfung‹, die andere richtet sich und den Leser – affirmativ oder kritisch – in ihm ein: er vertieft immanente Perspektiven und propagiert bestimmte Realitätskonzepte, Ideologien oder Verhaltensweisen.« Geißler, Rolf: Menschenwelt. Hannah Arendt und die Dichtung. In: Hannah Arendt. Eine deutsche Jüdin (Hg. Klein-Rüsteberg, Karl Heinz), Essen, S. 25-40, hier S. 27. 42 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 439.

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rungen mit Arendt zu sprechen und stellt fest, dass, auch wenn Arendt phänomenologisch vorging, sie diese Definition nur selten verwendete und der Ansicht war, je weniger man über die Methodik sage, desto besser sei es: »Ich bin eine Art Phänomenologin«,43 sagte sie einem Studenten. In einer Gesprächsrunde mit Kollegen ließ sie erkennen, wie sie durch den Umgang mit Sprache zur Bedeutung der Phänomene durchdringt: »Wir alle wachsen mit einem gewissen ererbten Wortschatz auf. Wir müssen dann diesen Wortschatz überprüfen. Und dies nicht nur, indem wir herausfinden, wie dieses oder jenes Wort gewöhnlich gebraucht wird, woraus sich eine gewisse Anzahl von Verwendungen ergibt. Diese Verwendungsweisen sind dann legitim. Meiner Meinung nach hat ein Wort vielmehr eine viel engere Beziehung zu dem, was es ausdrückt oder was es ist, als nur die Art und Weise, in der es zwischen Ihnen und mir gebraucht wird. Das heißt, Sie schauen nur auf den kommunikativen Wert des Wortes. Ich schaue auf die aufschließende Qualität. Und diese aufschließende Qualität hat natürlich immer einen geschichtlichen Hintergrund.«44 Indem Arendt historisch den Hintergrund des Begriffs prüft, um die dazugehörigen Phänomene zu begreifen, wird Erhellung im Jasper’schen Sinne erzeugt. Der Austausch mit anderen Personen wird zur differenzierten Kommunikation, in der es nicht mehr nur um Meinungen geht. Im Austausch von Meinungen finden meist Monologe statt, die Personen sprechen aneinander vorbei, weil unter dem Begriff jeder etwas anderes versteht. In der differenzierten Kommunkation dagegen geht es um einen Austausch von Fakten. Hannah Arendts Kommunikationsbegriff beruht auf der negativen Erfahrung von Krieg und und Gewalt sowie ihrer Vorstellung davon, was Politik positiv bewirken sollte. In ihrem Denktagebuch finden sich verschiedene Einträge über den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln sowie über das Gegenteil: die Stummheit der Gewalt. So erklärte sie im April 1953, dass logisches Denken zur Gewalt führe: »Logik als letztes Residuum führt in Stummheit. Verlust: das Über des Redens mit dem Anderen, das Selbst in der Verlassenheit. Logisches Denken führt daher immer zu Gewalt. Logik spricht niemanden an und redet über nichts. So bereitet sie die Gewalt vor.«45 Diesen Gedanken würde sie in ihrem Essay Verstehen und Politik weiter ausbauen: Wenn der Gemeinsinn durch logisches Schlussfolgern ersetzt wird, führe das zu totalitärem Denken. Arendt unterschied zwischen Gemeinsinn, der eine gemeinsame Welt voraussetzt, in der alle ihren Platz finden, und Selbstevidenz der Logik, die absolute Gültigkeit beanspruche, welche

43 | Ebenda, S. 552. 44 | Arendt, Hannah: Diskussion mit Freunden und Kollegen aus Toronto. In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1996, S. 71-112, hier S. 95. 45 | Denktagebuch: Heft 15: Eintrag 1, April 1953, S. 345.

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die Welt und die Menschen völlig übergehe.46 Gewalt äußere sich durch Stummheit: »Spezifisch Böses der Gewalt ist Stummheit. Wenn das Handeln aufhört, was den Menschen bestialisiert.«47 Dagegen beruht Sprache auf einem gemeinschaftlichen Prinzip: »Sprache verbindet und vermittelt Denken und Handeln. Die Grenze des Denkens ist die stumme, mit Stummheit geschlagene Anschauung des Wahren, die Grenze des Handelns ist die stumme Gewalt.«48 In der Vita Activa setzte sie sich weiter mit dem Miteinander durch Kommunikation auseinander: »Dies Risiko, als Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, in diesem Miteinander auch künftig zu existieren, und das heißt, bereits im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluss zu geben darüber, wer er ist, und auf die ursprüngliche Fremdheit desssen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist, zu verzichten.«49 Der Antagonismus des Miteinanders liegt in zwei Extremen: dem der Güte und dem des Verbrechens. Beide können keine Kommunikation leisten, da die Distanz zu anderen Menschen zu groß ist. Beide sind Phänomene der Verlassenheit und daher Randerscheinungen des Politischen zu extremen Zeiten, wie des Untergangs, des Verfalls, der Korruption: »In diesem Zwielicht, in dem niemand mehr weiß, wer einer ist, fühlen die Menschen sich fremd, nicht nur in der Welt, sondern auch untereinander; und in der Stimmung der Fremdheit und Verlassenheit gewinnen die Gestalten der Fremdlinge unter den Menschen, die Heiligen und die Verbrecher ihre Chance.«50 Nichtkommunikative Sprache ist die Sprache der Kriegszeiten, wenn das Sprechen bloßes Gerede wird, ein Mittel zur Erreichung des Zweckes: um dem Feind Sand in die Augen zu streuen oder sich an der eigenen Propaganda zu berauschen. Bücher können so als Waffen konzipiert werden und gehören zum Betätigungsfeld der Gewalt: »Gewalt beginnt, wo Reden endet. Worte, die zum Zwecke des Kämpfens benutzt werden, verlieren ihre Redequalität; sie werden Klischees.«51 Das gleiche gilt für Indoktrinierung, sie zerstöre die Tätigkeit des Verstehens überhaupt: »Die Indoktrinierung ist gefährlich, weil sie einer Perversion nicht in erster Linie des Wissens, sondern des Verstehens entspringt. Das Ergebnis des Verstehens ist

46 | Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 110-127, hier S. 120. 47 | Denktagebuch: Heft 15: April 1953, Eintrag 1, S. 345. | Vgl. auch ihre Analyse über Macht und Gewalt, in der sie auch feststellt, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier in der Sprache liege. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, (1970), München, 2000, S. 81. 48 | Denktagebuch: Heft 21: April 1955, Eintrag 32, S. 528. 49 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 220. 50 | Ebenda, S. 220 f. 51 | Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 110-127, hier S. 111.

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Sinn, den wir im bloßen Lebensprozess erzeugen, als wir uns mit dem, was wir tun und erleiden, zu versöhnen versuchen.«52 Sprache ist ein Mittel des Politischen: »Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.«53 Das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick gehört zur Handlung und kann Größe garantieren, während Gewalt immer stumm ist und nie Anspruch auf Größe hat.54 Einen ähnlichen Gedanken entwickelte Arendt auch in ihrem Denktagebuch, als sie die verschiedenen Möglichkeiten des Denkens analysiert und folgert, dass Handeln und Denken die Sprache gemein hätten: »Ich denke im Handeln, insofern ich spreche.«55 Sprache als Handlungsfunktion ist die Mitteilung von Fakten. Und Fakten bilden die Basis des vernünftigen Sprechens, Arendts Ideal, das sie zuerst bei Jaspers gelernt hat. Hannah Arendts persönliche Erfahrungen mit Jaspers sollen kurz skizziert werden, da er großen Einfluss auf ihren Umgang mit Sprache als Kommunikation ausgeübt hat: »[W]o Jaspers hinkommt und spricht, da wird es hell. Er hat eine Rückhaltlosigkeit, ein Vertrauen, eine Unbedingtheit des Sprechens, die ich bei keinem anderen Menschen kenne. Diese hat mich schon beeindruckt, als ich ganz jung war. Er hat außerdem einen Begriff von Freiheit gekoppelt mit Vernunft, der mir, als ich nach Heidelberg kam, ganz fremd war. Ich wusste nichts davon, obwohl ich Kant gelesen hatte. Ich habe diese Vernunft sozusagen in praxi gesehen. Und wenn ich so sagen darf – ich bin vaterlos aufgewachsen –: Ich habe mich davon erziehen lassen. Ich will ihn um Gottes willen nicht für mich verantwortlich machen, aber wenn es irgendeinem Menschen gelungen ist, mich zur Vernunft zu bringen, dann ist es ihm gelungen. Und dieser Dialog, der ist natürlich heute

52 | Ebenda, S. 111. 53 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 11. 54 | Vgl. Ebenda, S. 36. 55 | Denktagebuch: Heft 24: Dezember 1965, Eintrag 59, S. 643 f. | Vgl. auch Liliane Weissberg, die auf den wichtigen Aspekt hinweist, dass für Arendt Dichtung, im Unterschied zur Philosophie, die aus Gedankenkonstrukten besteht, in den Bereich des Politischen fällt, da sie zu realitätsbezogenen Handlungen führen kann. Aus diesem Grund sehe Arendt nicht wie Platon einen Gegensatz zwischen Dichtung und Philosophie, sondern zwischen Philosophie und politischer Theorie. Sie weise für sich die Bezeichnung als Philosophin zurück: »Nicht der Philosoph ist hier ein guter Bürger, sondern der politisch Handelnde.« Weissberg, Lilane: Der Staat und die Dichter. Hannah Arendts Reflexionen über eine verborgene Tradition. In: Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden: Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern (Hg. Kotowski, Elke-Vera), Berlin, 2015, S. 100-116, hier S. 105.

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ganz anders. Das ist eigentlich mein stärkstes Nachkriegserlebnis gewesen. Dass es ein solches Gespräch gibt! Dass man so sprechen kann!«56 Jaspers’ und Arendts Wege kreuzten sich zwei Mal: Zuerst war es die junge Studentin, die 1926 in Heidelberg bei Jaspers Philosophie studierte. Sie promovierte 1929 bei ihm über den Liebesbegriff bei Augustin. Hans Saner, ehemaliger Student und Freund von Jaspers, berichtete, dass bei dieser ersten Begegnung eine schüchterne Studentin und ein etwas schulmeisterlicher Professor aufeinanderstießen. Sie erhielt für die Dissertation nicht die beste Note, dennoch stellte er ihre Intelligenz nicht in Frage, sondern bot ihr an, sich über Rahel Varnhagen zu habilitieren: »Sie wiederum hat in ihm – wie sie später selber sagte – den einzigen Erzieher gefunden, den sie jemals annehmen konnte, die ganz und gar integre Gestalt, die lebte, was sie sagte, und den Lehrer, der nicht Schüler und Schülerinnen haben wollte, sondern unabhängig denkende Menschen, die das Wagnis neuer Aufbrüche eingingen.«57 Jaspers, ursprünglich Psychiater und Psychologe, begann Ende der zwanziger Jahre systematisch an einer eigenen Philosophie zu forschen, die er »Existenzphilosophie« nannte. Nachdem Arendt Vorlesungen bei Husserl und Heidegger gehört hatte, lernte Arendt nun in Ansätzen eine Philosophie der Kommunikation kennen, in der es um Wahrheit und Sinn ging. Ihre VarnhagenMonographie, die sie Ende der 1920er Jahre als Habilitation bei Jaspers zu schreiben begann, enthält eine Passage über Rahel, in der sie dieser bereits in den Mund legt, was sie bei Jaspers gelernt hatte, wie nämlich der Mensch durch Sprache, der Mensch durch Argumentation zu Einsicht und Vernunft gelangt: »Es gibt nichts Beruhigenderes, als dass ein Mensch auf Gründe hören kann. Einsicht ist die Vernunft, die sich auf andere einlässt und dennoch ihre Autonomie als Humanität behält. Die Vernunft ist die Garantie dafür, dass der Mensch nicht nur den Mächten und sich selbst, wie er nun einmal ist, ausgeliefert ist. Sie ist der Trost, dass man immer – gleich wie der andere, fremde Mensch beschaffen ist – an etwas appellieren kann. Unbegreiflich und alle menschlichen Beziehungen zerstörend ist nie die Fremdheit oder Gemeinheit oder die Eitelkeit, sondern nur die Vergeblichkeit dieses Appells, indem wir bezeugt haben wollen, dass wir Menschen sind.«58 Wie Benhabib schreibt, »zum ersten Mal greift Arendt auf Elemente von Jaspers Philosophie zurück – auf seine Begriffe der ›Grenzsituationen‹ und der Kommu-

56 | Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (28.10.1964). In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 69. 57 | Saner, Hans: Philosophie beginnt zu zweien. In: Hannah Arendt. Mut zum Politischen. In: Du, H. 10, 2000, S. 14-15, hier S. 14. 58 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 164 f.

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nikation –, um sich aus den Fallstricken von Heideggers Ontologie zu lösen und zu einem Begriff der ›Welt‹ zu gelangen.«59 Die zweite bedeutende Begegnung fand nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Karl Jaspers war nicht emigriert. Arendt konnte also erst 1945 wieder brieflich Kontakt zu ihm aufnehmen. Der Funken sprang sofort über, noch bevor sie sich trafen, schrieb Jaspers ihr: »Ich möchte stunden-, tagelang mit Ihnen reden. Ihre Briefe, Ihre Aufsätze ermuntern mich auf eine Weise, die Sie kaum ahnen werden. Wir sind alle so einsam, führen Monologe, haben ›Erfolg‹ und alles versackt, wie Steine, die man in einen Schlamm wirft. In Ihnen spricht mich endlich jemand an, dessen Ernst mir fraglos ist, und von dem ich spüre, dass ihm an denselben gelegen ist, wie mir. Nur, dass Sie mir tapferer scheinen, als ich es bin.«60 Als Arendt 1947 ihren Essayband Die verborgene Tradition veröffentlichte, widmete sie das Buch Jaspers und betonte dabei, als junges Mädchen bei ihm gelernt zu haben, dass es auf Wahrheit ankomme und nicht auf Weltanschauungen. Um jedoch zur Wahrheit zu finden, seien Gespräche notwendig, die auf echter Kommunikation beruhen. Sie erinnert daran, wie sie in ihrer Jugend Karl Jaspers begegnet war: »Was ich persönlich nie vergessen habe, ist Ihre so schwer beschreibbare Haltung des Zuhörens, jene dauernd zur Kritik bereite Toleranz, die von Skepsis gleich weit entfernt ist wie vom Fanatismus und schließlich nur die Realisierung dessen ist, dass alle Menschen Vernunft haben und dass keines Menschen Vernunft unfehlbar ist. Damals war ich manchmal versucht, Sie nachzuahmen bis in den Gestus des Sprechens hinein, weil dieser Gestus für mich symbolisch geworden war für einen sich unmittelbar verhaltenden Menschen, für einen Menschen ohne Hintergedanken.«61 Als Arendt Jaspers 1950 nach siebzehn Jahren Emigration zum ersten Mal wieder besucht, legt sie den Grundstein zu einer Freundschaft, die auf einem vertrauensvollen und ganz und gar offenen Austausch beruht, »[d]ies immer erneute Glück des rückhaltlosen Gesprächs, das ich sonst nur zu Hause kenne, und das, weil es nochmals möglich ist (außerhalb des eigenen Zuhauses, das man sich ja mit selbst errichtet hat), zu einem lebendigen Faktor meiner Welt geworden ist«,62 wie Arendt ihm aus New York nach ihrer Rückkehr dankbar schreibt. Jaspers bemerkt, dass Arendts Verhalten gegenüber ehemaligen deutschen Freunden nach 1945 außerordentlich sei: Anstatt auf Verhärtung und Rache zu setzen, reagiere sie – ohne ihre Kritikfähigkeit einzubüßen – mit Großzügigkeit. Jaspers gegenüber, der sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen, war diese Geste nicht 59 | Benhabib, Seyla: Arendt und Adorno: Die Flüchtigkeit des Partikularen und das Benjaminsche Moment. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 89, Berlin, 2011, S. 655678, hier S. 668. 60 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 46: Jaspers an Arendt, Heidelberg, 19.10.1946, S. 97. 61 | Arendt, Hannah: Zueignung an Karl Jaspers (1947). In: Die verborgene Tradition, Frankfurt /  M ain, 2000, 1976, S. 9. 62 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 99: Arendt an Jaspers, New York, 10.4.1950, S. 183.

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notwendig. Dennoch zeugen sein Beschreiben dieses Charakterzugs von Hannah Arendt und sein Erkennen ihrer Herzensgüte von seiner eigenen Sensibilität: »Und immer wieder diese Sprache der Freundschaft, für die ich so dankbar bin. Mit Ihnen verbunden zu sein, das verscheucht die Geister der Menschenverachtung und der herzlosen Gleichgültigkeit.«63 Ihre gemeinsam geteilten Werte bezeichnet er als »Denkungsart«. Dazu gehören verschiedene Bedingungen: Man dürfe sich nicht an die eigene nationale Vergangenheit festklammern, als Jude nicht vergessen, dass man nur zufällig Überlebende einer Sintflut sei, und vor allen Dingen nicht der Verführung zur Verzweiflung oder zur Menschenverachtung nachgeben. »Jedenfalls«, so Arendt über Jaspers, »zeichnet sich in Ihrer Existenz und in Ihrer Philosophie das Modell eines Verhaltens ab, in dem Menschen miteinander reden können, und sei es unter den Bedingungen der Sintflut.«64 Bis zu Karl Jaspers’ Tod Ende der sechziger Jahre führten sie einen regelmäßigen Briefwechsel, Arendt besuchte ihn während ihrer Europabesuche jedes Mal in Basel. Hans Saner bemerkt dazu: »Es waren Tage und manchmal Wochen der rückhaltlosen Gespräche, die, außer während der Essenszeiten, mit wenigen Ausnahmen zu zweit geführt wurden. Denn Jaspers war der Meinung, dass zu dritt bereits die Unterhaltung beginne.«65 Das Erlebnis eines bestimmten Gesprächs im März oder April 1952 war so intensiv, dass Arendt mehreren Personen davon berichtete. So schrieb sie im August aus Sankt Moritz an Blumenfeld: »Hier ist es herrlichst. Jaspers im Nebenzimmer, ganz lebendig und immer zu Gesprächen aufgelegt. Mich immer ungeheuer freundlich und freundschaftlich, in wahrer Solidarität, kritisierend. Das vorige Mal, als ich zehn Tage bei ihm in Basel war, hatten wir durch die zehn Tage hindurch ein einziges großes Gespräch. Das gibt es in der Welt nur einmal: diese himmlische Offenheit und Helle und dies, wie der gute Wille einen ganzen Menschen wahrhaft beseelt, zur Seele geworden ist.«66 Und einige Monate später: »Niemand kann so zuhören und antworten, das gleiche Gespräch über viele Tage hin hindurchhalten, bis das ganze mögliche Hin und Her in ein eigentümliches Licht, in eine wirkliche Helle getreten ist. Das ist großartig.«67 Noch zwanzig Jahre später kommt Arendt auf dieses Gespräch zurück, das unter anderem eine Diskussion über Lyrik beinhaltete: »Es konnte uns passieren, dass wir bei meiner Ankunft – meist dauerte der Aufenthalt ein paar Wochen – gleich am ersten Tag ein bestimmtes Thema berührten. Eines dieser Themen, an das ich mich erinnere, war: Ein guter Vers ist ein guter Vers. Ich hat63 | Ebenda, Brief 100: Jaspers an Arendt, Basel, 20.4.1950, S. 184. 64 | Arendt, Hannah: Zueignung an Karl Jaspers (1948). In: Die verborgene Tradition, Frankfurt  /   M ain, 1976, S.  11. 65 | Saner, Hans: Philosophie beginnt zu zweien In: Hannah Arendt. Mut zum Politischen. In: Du, H. 10, Zürich, 2000, S. 14-15, hier S. 14. 66 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 17: Arendt an Blumenfeld, St. Moritz, 6.8.1952, S. 61 f. | Vgl. auch Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Paris, 11.4.1952, S. 243. 67 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 18: Arendt an Blumenfeld, 14.10.1952, S. 69.

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te das gesagt und meinte damit, dass ein guter Vers aus sich selbst heraus Überzeugungskraft besitzt, was Jaspers nicht so recht glaubte. Und das Wichtigste war dann für mich, ihn davon zu überzeugen, dass Brecht ein großer Dichter war. Dieser eine Satz reichte uns zwei Wochen, zwei Sitzungen pro Tag. Und wir kamen ständig wieder auf ihn zurück.«68 Hans Saner, der Jaspers’ Gesprächskultur aus eigener Erfahrung kannte, definiert Jaspers’ Denken, das Freiräume schaffte: So sei ein Gespräch mit Jaspers »ein wechselseitiger Prozess der Erhellung von Wahrheit und Sinn« gewesen, geprägt von »Offenheit und Redlichkeit im Umgang mit den Differenzen«, »Grundbedingung war die Anerkennung von Fakten«, »ihre Deutung aber blieb offen«, dazu gehörte »eine gewisse Verwandtschaft der Denkungsart, die sich die Zuflucht zu Mythisierungen, Magien, Dogmen, Ideologien und Fundamentalismen nicht erlaubte«.69 Verschiedene zwischenmenschliche Fähigkeiten sind die Basis, um ein wirkliches Gespräch zu führen. Arendt selbst beschrieb diese in ihrer Laudatio auf Jaspers, als er 1958 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt: »Denn in dieser kleinen Welt entfaltete und übte sich seine unvergleichliche Fähigkeit für das Gespräch, die herrliche Genauigkeit des Zuhörens, die ständige Bereitschaft, Rede und Antwort zu stehen, die Geduld, bei der einmal besprochenen Sache zu verweilen; ja mehr noch, die Fähigkeit, das sonst Verschwiegene in den Gesprächsraum zu locken, es sprechwürdig zu machen und so alles im Sprechen und Hören zu verändern, erweitern, verschärfen – oder, wie er selbst am schönsten sagen würde: zu erhellen.« 70 Arendt lernte im Umgang mit Jaspers diese Fähigkeiten, wie Hans Saner bemerkt: »Da sie vielleicht eher zu Thesen neigte als er, waren diese Gespräche für sie eine permanente Öffnung neuer Horizonte und eine Disziplinierung des Zuhörens und des präzisen Eingehens auf das Gehörte. Denn darin: Im Zu-Worte-kommen-Lassen des Anderen und im Zuhören-Können war er ebenso souverän wie in der Präzision der Entgegnung.« 71 Arendt kommt in der Vita Activa auf diese Fähigkeit zur Kommunikation im Begriff des »Miteinander-sprechens« zurück: »Diese aufschlussgebende Qualität des Sprechens und Handelns […] kommt aber eigentlich nur da ins Spiel, wo Menschen miteinander und weder für noch gegeneinander sprechen und agieren.« 72

68 | Arendt, Hannah: Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto (November 1972). In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 71-113, hier S. 112. 69 | Saner, Hans: Philosophie beginnt zu zweien. In: Hannah Arendt. Mut zum Politischen. In: Du, H. 10, 2000, S. 14-15, hier S. 14. 70 | Arendt, Hannah: Laudatio auf Karl Jaspers (1958) In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München 2001, S. 90. 71 | Saner, Hans: Philosophie beginnt zu zweien. In: Hannah Arendt. Mut zum Politischen. In: Du, H. 10, 2000, S. 14 f. 72 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 220.

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Auf der öffentlichen Gedenkfeier an der Universität Basel anlässlich des Todes von Karl Jaspers hielt sie eine Ansprache. Sie betonte, wie sehr sie in ihrem eigenen Denken von ihm beeinflusst worden ist. Der Ausgangspunkt sei die Vernunft, das Ziel die Freiheit, und die Wiedergabe würde durch Kommunikation ermöglicht: »Jaspers hat auf einmalige Weise die Verbindung von Freiheit, Vernunft und Kommunikation gewissermaßen an sich selbst exemplifiziert, in seinem Leben exemplarisch dargestellt, um es dann in der Reflexion wieder zu beschreiben, so dass wir fortan diese drei, Vernunft, Freiheit und Kommunikation, nicht mehr gesondert, sondern als Dreieinigkeit denken müssen.« 73

1.1.2 Mitteilbarkeit durch Sprache des Gemeinsinns Der Wahrheit mit dem Mittel der Sprache als Kommunikation so nahe wie möglich zu kommen versuchte Hannah Arendt in ihrem eigenen Werk, das immer verständlich bleibt. Arendt differenzierte und definierte verschiedene Aspekte der Realität. Auch in ihren poetischen Texten ist ein Großteil ihrer Lyrik – selbst in ihrer Verkürzung durch Sprache – ganz der Verständlichkeit gewidmet. Ihre Begegnung mit Jaspers und seiner Philosophie ist für sie ein Glücksfall, auf den sie später bewusst auf bauen sollte. Bereits 1927 berichtete sie ihrem nahestehenden Freund Erwin Loewenson, dass sie besonders von Jaspers’ existentiellem Wahrheitsbegriff beeindruckt gewesen sei: »Von Jaspers kann ich vorläufig nur wenig berichten. Er unterscheidet […] Wahrheit von Richtigkeiten, die zwingend einseitig sind. Wahrheit hat existentielle Bedeutung, ist das ›Wesentliche‹, das in der Existenz ergriffene – im Augenblick der Entscheidung (siehe Kierkegaard), in der Philosophie nur explizit machen kann, nicht bewiesen, dauernd appellierend an die eigene Erfahrung – er nennt es Existenzerhellung, ein wie mir scheint sehr guter Terminus.« 74 Jaspers’ Kommunikationslehre lässt sich mithilfe dreier Schlüsselbegriffe definieren – Vernunft, Freiheit, Kommunikation –, wie Arendt 1946 in ihrem Essay über Existenzphilosophie analysierte. Das zentrale Problem für Jaspers besteht in der Mitteilbarkeit, in der Kommunikation. Es gehe um philosophische Mitteilung, um Zusammen-Philosophieren. Das Ziel liegt nicht darin, zu festen Resultaten zu kommen, sondern darin, bis zur »Erhellung der Existenz« vorzudringen: »Sofern Jaspers Resultate mitteilt, bringt er sie daher in Form einer ›spielenden Metaphysik‹, in die Form einer ständig experimentierenden, nie sich festlegenden Darstellung bestimmter Gedankenbewegungen, die gleichsam den Charakter von Vorschlägen haben, durch die die Menschen dazu gebracht werden,

73 | Jaspers Briefwechsel: Arendt, Hannah: Ansprache Arendts anläßlich der öffentlichen Gedenkfeier der Universität Basel am 4.4.1969, S. 719. 74 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Arendt an Loewenson, Baden-Baden, 8.6.1927, Blatt 76954.

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mitzutun, nämlich mitzuphilosophieren.« 75 Freiheit setze Jaspers in Bezug zur menschlichen Existenz: Sie wird definiert durch die »Möglichkeit der Spontaneität« des Menschen, die im Gegensatz zum festgefahrenen »Resultatsein« steht. Diese Existenz ist nur dann Wirklichkeit, wenn der Mensch sich in seiner eigenen auf Spontaneität beruhenden Freiheit bewegt. Freiheit selbst wird begrenzt durch die Wirklichkeit der Welt, die Unberechenbarkeit der Mitmenschen und die Tatsache, dass sich der Mensch nicht selbst erschaffen hat. Im letzten Punkt liegt jedoch nach Arendt ein Paradox: »Nur weil ich mich nicht selbst gemacht habe, bin ich frei; hätte ich mich selbst geschaffen, hätte ich mich voraussehen können und wäre dadurch unfrei geworden.« 76 Ein weiterer wichtiger Begriff Jaspers’ – er beruft sich hierbei auf Kierkegaard und Nietzsche – ist die »Grenzsituation«, die er in Verbindung mit Vernunft setzt. In Grenzsituationen erfährt der Mensch Begrenzungen durch andere Menschen. Der andere Mensch ist Bedingung der eigenen begrenzten Freiheit und der Grund des eigenen Handelns. Von den Grenzsituationen her kann der Mensch seine Existenz erhellen, definiert er per Vernunft, was er kann und was er nicht kann. Die daraus entstehenden Handlungen kommen in die Welt durch Kommunikation mit dem anderen und garantieren Allgemeines. Hier wird Jaspers politisch: Die Freiheit des einen Menschen muss die Freiheit des anderen Menschen garantieren können. Das geht nur in einem Miteinander. So schrieb Arendt einmal an Dolf Sternberger über Jaspers: »Das hindert nicht, dass der Kern seiner Philosophie (wie er wohl selbst zugeben würde) die Verbindung des Freiheitsbegriffes mit der Kommunikation ist. Dass Frei-Sein sich äußert im Miteinander-Reden (statt einander zu zwingen) ist ausschlaggebend, jedenfalls im politischen Bereich.« 77 Jaspers’ Freiheitsbegriff ist immer ein Appell an die uns allen gemeinsame Vernunft: »Die Existenz selbst ist wesensmäßig nie isoliert; sie ist nur in Kommunikation und im Wissen um andere Existenzen. Die Mitmenschen sind nicht (wie bei Heidegger) ein zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz; sondern umgekehrt nur in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich die Existenz entfalten.« 78 In seinen Texten zur Philosophiegeschichte geht Jaspers ebenso von diesem Kommunikationsprinzip aus. Bereits in seiner Psychologie der Weltanschauungen, die er in seiner Disziplin als Psychiater geschrieben hat, bemerkte Arendt, dass er feste Resultate, einen absoluten Charakter jeglicher Lehre ablehnte und relativierte: Relativierung führe dazu, dass philosophischer Inhalt ein Mittel für individuelles Philosophieren wird. Die großen Inhalte der Vergangenheit würden frei miteinander in Verbindung gesetzt. Alle doktrinären Inhalte würden in Prozes75 | Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie? (1948), Frankfurt / M ain, 1990, S. 41. 76 | Ebenda, S. 42. 77 | LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 15 / F older: Sternberger, Dolf, Folder 1: 1946-1953 Arendt an Sternberger, 14.12.1953, Blatt 010117. 78 | Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie? (1948), Frankfurt / M ain, 1990, S. 47.

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se aufgelöst und träten in ein Reich ein, in dem alle Philosophen zu Zeitgenossen werden: »Diese Philosophie soll die großen philosophischen Systeme der Vergangenheit nicht abschaffen, nicht einmal kritisieren, sie soll sie nur von ihrer dogmatischen metaphysischen Forderung entblößen, sie auflösen gleichsam in Gedankengänge, die sich treffen und kreuzen, miteinander kommunizieren, und schließlich nur zurückbehalten, was allgemein kommunizierbar ist. Eine Philosophie der Menschheit unterscheidet sich von einer Philosophie der Menschen dadurch, dass sie darauf besteht, dass nicht der Mensch, im einsamen Dialog zu sich selbst redend, die Erde bevölkert, sondern die Menschen, die miteinander reden und sich verständigen.« 79 Arendt besteht darauf, dass Jaspers eine Philosophie geschaffen habe, in der er verschiedene Philosophen miteinander kommunizieren lasse, wobei er den Leser in diese Kommunikation miteinbeziehe: »Dies Prinzip ist Kommunikation: Wahrheit, die niemals als dogmatischer Inhalt erfasst werden kann, erscheint als existentielle Substanz, geklärt und deutlich gemacht durch Vernunft, sich selbst mitteilend und appellierend an das Vernünftigsein des anderen, fasslich und fähig, alles andere zu fassen. ›Existenz wird nur durch Vernunft hell; Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt.‹«80 Das Ziel von Jaspers’ Philosophieren liege darin, sich dem Leser mitteilbar zu machen. Seine zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen nach dem Krieg zeichnen sich durch eine Neigung zum Popularisieren aus, zu einem Philosophieren ohne philosophische Termini:81 Seine Philosophie ist »geleitet von der Überzeugung, dass Vernunft und existentielles Betroffensein in allen Menschen gleich ist, dass Philosophie an alle appellieren kann. Philosophisch war das nur möglich, weil Wahrheit und Kommunikation als dasselbe angesetzt wurden.«82 Alle Gedanken, Erfahrungen und Inhalte prüfe Jaspers anhand der Frage, ob sie geeignet sind, Kommunikation zu fördern oder zu hemmen, ob sie zu Einsamkeit oder zur Kommunikation führen. Er glaubte an die Fasslichkeit aller Wahrheit, verbunden mit dem guten Willen, sich dem anderen mitzuteilen und den anderen zuzuhören: »Die Wahrheit selber ist kommunizierend, sie verschwindet und kann außerhalb der Kommunikation nicht

79 | Arendt, Hannah: Karl Jaspers, Bürger der Welt (1957). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 93-106, hier S. 103. 80 | Ebenda, S. 97. 81 | So schreibt etwa Kurt Blumenfeld an Arendt, dass er Jaspers aufgrund seiner Verständlichkeit schätzte: »Er gehört zu den Philosophen, die sogar ich mühelos lese. Mir imponieren nur Leute, bei denen schon das Missverstehen Schwierigkeiten macht. Jaspers ist mir sympathisch, weil er so ein lieber redlicher Mensch ist, der einem keine zyklopischen Gedanken an den Kopf wirft.« Blumenfeld-Briefwechsel: Blumenfeld an Arendt, Jerusalem, 1.9.1952, S. 64. 82 | Arendt, Hannah: Karl Jaspers, Bürger der Welt (1957). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 93-106, hier S. 99.

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konzipiert werden; im existentiellen Bereich sind Wahrheit und Kommunikation dasselbe. ›Denn Wahrheit ist, was uns miteinander verbindet.‹«83 1951 leitete Hannah Arendt an der Yale Universität ein Seminar über Jaspers und Heidegger. Die Notizen zur Vorbereitung auf das Seminar zeigen, dass sie sich mit Jaspers’ Wahrheitsbegriff beschäftigt hat. Kommunikation ist Mitteilung, Wahrheit gilt daher als Mitteilbarkeit. Wahrheit wird durch vier verschiedene Aspekte der Wahrnehmung der Realität definiert: durch pragmatische Bewährung im Dasein, durch prinzipielle Erweiterung im Bewusstsein, durch Überzeugung der Idee im Geiste und schließlich durch den Glauben an die Existenz, das heißt an das Leben der Transzendenz.84 Man macht die Erfahrung der Wahrheit über die Vernunft. Vernunft hat absoluten Vorrang: Man kann sich ihr nicht entziehen, da sie den Mitmenschen einbezieht.85 Und sie exzerpierte Zitate von Jaspers: »Die Vollendung des Wahrseins […] liegt zwar im Erfahren des Seins, aber bei aller Vergewisserung des Seins doch in der Bewegung dieser Vergewisserung selbst.« 86 Sein wird als Existenzerhellung in Beziehung zur Kommunikation gesetzt: »Als Existenz und Vernunft ist das Sein und das In-Kommunikation-Sein dasselbe«.87 Ohne Karl Jaspers’ Einfluss direkt zu benennen, integriert Hannah Arendt Elemente seines Denkens und Kommunikationsbegriffes in ihr eigenes Schaffen. In ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes kommt sie indirekt auf ihn zurück und geht über ihn hinaus. So stellt sie fest, dass das Bedürfnis der Vernunft zu diskursivem Denken führt. Dieses Bedürfnis ist nicht Erkenntnisdrang, sondern Sinnstreben: »Das bloße Benennen von Dingen, die Schaffung von Wörtern, ist die menschliche Art der Aneignung und gewissermaßen der Aufhebung der Entfremdung von der Welt, in die ja jeder als Neuling und Fremder geboren wird.« 88 Sie beruft sich indirekt auf Jaspers, wenn sie meint, dass Sprache der Verständigung zwischen 83 | Ebenda, S. 98. 84 | Vgl. LOC: Subject File 1949-1975, nd. In: Box 59 / F older: Heidegger, Martin and Jaspers, Karl. Seminar, 1951, Yale University, New Haven, Connecticut, Blatt 024202. 85 | Vgl., wie Seyla Benhabib die »moralische Resonanz der narrativen Sprache« von Arendt herausstellt. Die Errichtung der Konzentrationslager nicht mit moralischer Empörung zu beschreiben hielt Arendt für Komplizenschaft: »Die moralische Resonanz der eigenen Sprache residiert nicht nur, und auch nicht vorrangig, in den ausgesprochenen Werturteilen, die ein Autor über das Thema angibt, solch eine Resonanz muss viel eher ein Aspekt der beschreibenden Erzählung selbst sein. Die Sprache der Erzählung muss der moralischen Qualität des erzählten Gegenstandes entsprechen.« Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz (Hg. Diner, Dan), Frankfurt /  M ain, 1988, S. 150-174, S. 166. 86 | LOC: Subject File 1949-1975, nd. In: Box 53 /  F older: Heidegger, Martin und Jaspers Karl. Seminar, 1951, Yale University, New Haven, Connecticut, Blatt 024206. 87 | Ebenda, Blatt 024207. 88 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er-Jahre), München, 1998, S. 104 f.

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Menschen diene und dass durch Sprache ein Miteinander möglich sei, das die gemeinsame Wahrnehmung der Realität zusichere: »Und nicht weil der Mensch ein denkendes Wesen ist, sondern weil er in der Mehrzahl existiert, deshalb bedarf auch seine Vernunft der Kommunikation und geht leicht in die Irre, wenn sie davon abgeschnitten ist; denn die Vernunft ist ja, wie Kant bemerkte, ›nicht dazu gemacht, dass sie sich isoliere, sondern in Gemeinschaft setze‹.«89 Der stumme Dialog mit sich selbst ist der erste Schritt, bevor es im zweiten zur Kommunikation mit anderen komme. Auch im Dialog mit sich selbst spielt die Vernunft eine Rolle: »Die Funktion dieses unhörbaren Sprechens – […] ›stumm mit sich selbst diskutieren‹, wie Anselm von Canterbury sagt – ist die Bewältigung all dessen, was im Rahmen der Alltagserscheinungen unseren Sinnen gegeben sein kann; das Bedürfnis der Vernunft besteht darin, Rechenschaft zu geben.«90 Allerdings teilt sie mit Jaspers nicht die optimistische Überzeugung, dass die Übertragung des stummen Dialogs mit sich selbst auf den lauten Dialog mit den anderen politisch immer effizient sei: »Ein recht häufiger Fehler moderner Philosophen, die in der Kommunikation eine Wahrheitsgarantie sehen – vor allem Jaspers und Martin Buber mit seiner Philosophie des Ich-Du – ist die Meinung, die Innerlichkeit des Zwiegesprächs, das ›innere Handeln‹, das sich an die eigene Person ›wendet‹, oder an das ›andere Selbst‹ – Aristoteles Freund, Jaspers’ Geliebter, Bubers Du – könnte als Vorbild für die politische Sphäre dienen.«91 Auch Jaspers’ Wahrheitsbegriff sieht sie nach persönlichen Erfahrungen im Alter kritisch. Sie bemerkt, dass Wahrheit nicht nur über den Sehsinn erkannt wird, sondern auch über die vier anderen Sinne. Die Eigenschaften der Sinne sind nicht ineinander übersetzbar, sondern nur durch den Gemeinsinn miteinander verbunden: »Die Sprache, die dem gemeinen Verstand entspricht und ihm folgt, gibt einem Gegenstand einen eindeutigen und allgemein gebräuchlichen Namen; das ist nicht nur entscheidend für die Verständigung zwischen den Menschen – derselbe Gegenstand wird von verschiedenen Menschen wahrgenommen und ist für sie derselbe –, sondern damit wird auch ein Datum identifiziert, das jedem der fünf Sinne völlig anders erscheint: hart oder weich beim Berühren, süß oder bitter beim Schmecken, hell oder dunkel beim Sehen, verschieden klingend beim Hören. Keine dieser Empfindungen lässt sich zureichend in Worten beschreiben.«92 In diesem Sinne kann Wirklichkeit, kann Wahrheit nicht vollständig wiedergegeben werden. Aber nicht nur eigene Erfahrungen können nicht absolut beschrieben werden, auch im Gespräch mit anderen findet eine fortlaufende Entfremdung statt: »Die Wahrheit ist hier das Gesehene, und das Reden wie auch das Denken ist in dem Maße richtig, wie es dem Gesehenen folgt, es durch Übersetzung in Worten erfasst; sobald sich diese Rede vom Gesehenen entfernt, etwa wenn sie die Meinungen oder Gedan89 | Ebenda, S. 104. 90 | Ebenda, S. 104. 91 | Ebenda, S. 427. 92 | Ebenda, S. 123.

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ken anderer wiederholt, so wird sie im selben Sinn uneigentlich wie für Platon das Abbild im Vergleich zum Gegenstand selbst.«93 Nach Arendt gibt es also Wahrheit, diese ist jedoch erstens einem ständigen Prozess unterworfen und nicht fest resultathaft, zweitens nur in Bezug auf den Sehsinn mitteilbar und drittens insofern dem Gemeinsinn unterworfen, als dass andere dieselbe Wahrnehmung machen müssen wie man selbst und diese so mitteilbar wird.94

1.1.3 Beispiele für kommunikative Darstellung: Rousset und Kogon Kommunikation ist gerade in der Darstellung des Grauens von Bedeutung  – wenn die Grenze überschritten wird, an der man an das Unsagbare stößt. Arendts Versuch, das Grauen zu analysieren und zu verstehen, zeigt sich in ihrer monumentalen Studie über totalitäre Strukturen, einer historischen Arbeit, die von Fakten ausgeht. Auch in ihrem philosophischen Werk Vita Activa versucht sie zu begreifen, wie es zur sprachlosen Entfremdung zwischen Menschen kommt und wie dem zu entgegnen sei. Ihre Beobachtungen der extremsten menschlichen Negation  – der Errichtung der Konzentrationslager  – führen sie zu der Fragestelllung, welcher sprachliche Umgang notwendig ist, um dies angemessen zu erfassen. 1948 schreibt sie in der Zeitschrift Die Wandlung über die »unmittelbar leidende Erfahrung« der Opfer, die sich »in Zeugnissen [äußert], die kommunikationslos und ohne Klagen berichten, was sich menschlicher Fassungskraft und menschlicher Erfahrung entzieht und was daher, wenn es von Menschen erlitten

93 | Ebenda, S. 123. 94 | Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001. | Darin kritisiert Arendt den Verlust des Gemeinsinnes, der durch reine Verinnerlichung erzeugt wird: In der Selbstreflexion, dem völlig unbewegten Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein, begegnet der Mensch nur sich selber. Die Bewusstseinsvorgänge sagen nichts über die Wirklichkeit der Außenwelt aus, nichts über Wahrheit. Die Reflexion bestätigt nur Vorgänge im Bewusstsein (vgl. ebenda, S. 355 f.). Seit Descartes, also seit dem Beginn der Neuzeit, findet nach Arendt Weltlosigkeit statt, wenn der Verstand Vorrang besitzt, so dass das Innenleben auseinanderfällt: zwischen rational rechnerischer Verstandestätigkeit und irrational leidenschaftlichem Gefühlsleben (vgl. ebenda, S. 408). | Vgl. auch die für Arendts Gedankenwelt wesentliche Bedeutsamkeit des Gemeinsinns, die Fähigkeit, eine gemeinsame Welt zu teilen und Fakten gleichermaßen anzuerkennen. Thomas Wild erkennt hier eine Gemeinsamkeit mit Ingeborg Bachmann: »Wirklichkeit benötigt eine Vielfalt von Perspektiven, die ›Verbindlichkeit haben‹, wie Bachmann formulierte. Das heißt in Arendts Worten, ›Realität unter den Bedingungen einer gemeinsamen Welt‹ ist nicht durch eine gemeinsame Menschennatur garantiert, sondern ergibt sich daraus, ›dass ungeachtet aller Unterschiede der Position und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offenkundig ist, dass alle mit demselben Gegenstand befasst sind.‹« Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin, 2009, S. 135.

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wird, sie in ›uncomplaining animals‹ verwandelt«.95 Das Zitat über die klaglosen Tiere oder Lebewesen bezieht sich auf die Sammlung von Berichten polnischer Überlebender in The dark side of moon96 und drückt aus, wie Mitmenschlichkeit außer Kraft gesetzt und der Mensch reduziert wurde. Kommunikationslos sind die Berichte, weil die Grenze überschritten wurde, die durch den Gemeinsinn mit anderen fassbar ist: »Es gibt zahlreiche derartige Berichte von Überlebenden, nur wenige von ihnen sind gedruckt worden und dies nicht nur, weil die Welt begreiflicherweise von diesen Dingen nichts mehr hören will, sondern auch deswegen, weil sie alle den Leser kalt lassen, ihn in das gleiche apathische Nicht-mehr-Begreifen stoßen, in dem sich der Berichterstatter bewegt, und weil sie auf keinen Fall in ihm jene Leidenschaften des empörten Mitleidens auslösen, durch die von jeher Menschen für die Gerechtigkeit mobilisiert worden sind. ›Une certaine profondeur de misère ne suscite plus la compassion, mais la répugnance et la haine‹ – sagt David Rousset: ›Eine bestimmte Tiefe des Elends erregt kein Mitleid mehr, sondern Widerwillen und Haß.‹«97 Das Nicht-mehr-Begreifen entspringt nicht der Tatsache, dass man die Motive der Täter, der Nationalsozialisten, nicht nachvollziehen kann  – den Wahnsinn, Massen von Menschen auf grausamste Weise systematisch umzubringen. Diese Grausamkeiten müssen jedoch mitgeteilt werden. In diesem Sinne ist die Darstellung politisch: Durch Veröffentlichung wird Handlung erzeugt, die zur Bewusstwerdung führen kann, damit diese Taten nicht wieder geschehen, die Realität verändert wird. Welche Möglichkeiten besitzt Sprache, um diesen Schrecken darzustellen? Im Unterschied zu objektiven Berichten ohne Kommentar gibt Arendt zwei Beispiele an, denen es gelungen sei, den Terror wiederzugeben: erstens Eugen Kogons Der SS-Staat und zweitens die bereits genannte Sammlung von Berichten Les jours de notre mort, die von David Rousset kommentiert wurden. Beide Bücher seien bewusst für die Welt der Lebenden geschrieben. Ihr Ziel sei es, sich verständlich machen zu wollen, wobei sie dem Hohn des ›Was wisst ihr schon, was habt ihr schon erlebt?‹ entgehen, der an die Stelle der Kommunikation tritt.98 95 | Arendt, Hannah: Konzentrationsläger (1948). In: Die Wandlung, H. 3, 1948, S. 309330, hier S. 309. 96 | The dark side of moon: The Incredible Story of What Really Happened in Poland During the Russian Occupation 1939-1945 (Hg. Zadjelowa, Zoe), New York, 1947. 97 | Ebenda, S. 309. 98 | Vgl. Melvyn A. Hill, der hervorhebt, wie Arendt zwischen den verlogenen Fiktionen der totalitären Staaten und den Geschichten der Menschen unterscheidet: »But understanding was not enough; communicating it with others was a necessary step in regaining her sense of humanity, after having it denied because she was a Jew: ›We humanize what is going on in the world and in ourselves only be speaking of it, and in the course of speaking about it, we learn to be human.‹ Storytelling could effect a reconciliation even with the experience of the inhuman and the monstrous, and it could overcome the ›weird irreality of worldlessness‹ with is promise of a new beginning, which is precisely the conclusion that Hannah

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Julia Kristeva vermutet zu Recht, dass Hannah Arendt nicht mit Adornos Absage an Lyrik nach 1945 einverstanden gewesen wäre: »Es scheint uns, als dürfte sie die bekannte Bemerkung Adornos nicht unterschreiben: ›Nach Auschwitz ein Gedicht schreiben, ist barbarisch …‹ und dies unabhängig von der Aversion, die sie gegen die Person des Philosophen hatte. Im Gegenteil, es ist, was wir die Einbildungskraft nannten, einschließlich der dichterischen Darstellung in der Erzählung, die allein dazu befähigt, das Grauen zu denken.«99 Tatsächlich findet sich in Arendts Nachlass ein kurzer Briefwechsel von 1967 mit einer jungen Frau, Veronika Demohn. Diese beklagt die fehlende Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit und kommt auf Adornos Aussage zu sprechen.100 Arendt antworArendt drew when she came to the end of her story in The Origins of Totalitarism.« Hill, Melvyn A.: The fictions of mankind and the stories of men. In: Hannah Arendt: The recovery oft he public world (Hg. Hill, Melvyn A.), New York, 1979, S. 295. 99 | Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Le génie féminin. Bd. 1, Paris, 1999, S. 160 f. (Übersetzung A.B.). Originaltext: »Aussi ne devrait-elle pas souscrire, nous semble-t-il aux propos bien connus d’Adorno: ›Ecrire un poème après Auschwitz est barbare…‹, et ce bien indépendamment de l’aversion qu’elle vouait à la personne même de ce philosophe. Au contraire, pour Arendt, c’est bien ce que nous appelons l’imaginaire, incluant le déploiement poétique dans une narration, qui est seul capable de penser l’horreur.« | Vgl. Arendts schlechtes Verhältnis zu Adorno, das bereits aus ihrer Studienzeit rührte, als Adorno ein Habilitationsvorhaben ihres ersten Ehemannes Günther Stern ablehnte. Später, in den 1930er Jahren in Paris, empörte sie sich darüber, dass Adorno Benjamin nicht genügend unterstützt habe. In ihrem Briefwechsel mit Jaspers geht sie sehr weit, als sie Adorno auch Gleichschaltungsabsichten an das NS-Regime unterstellt: »Karl Kraus hat 1933 gesagt: ›Zu Hitler fällt mir nichts ein‹, was von einem Literaten gesagt ein großes Wort ist. Ich zitiere es manchmal, um zu sagen: Natürlich hätten sich auch Juden gleichgeschaltet, wenn sie gedurft hätten; wie also kann man sagen, wer sich nicht gleichgeschaltet hätte? Nun, Karl Kraus hätte sich nicht gleichgeschaltet, auch wenn er nicht Jude gewesen wäre. Aber Adorno hätte bestimmt – hat es nb [i.e. nota bene] auch versucht auf Grund von Halbjude, ist nur leider nicht gegangen. Was mir daran so unheimlich ist, ist die Realitätsfremde, dass man alles Reale übersieht aufgrunde des Details.« | Jaspers-Briefwechsel: Brief 373: Arendt an Jaspers, nd. Erhalten am 13.4.1965, S. 628. 100 | Vgl. Alfons Söllner, der in seinem Vergleich über die essayistische Form von Arendt und Adorno feststellt, dass die Entscheidung Adornos, nach Westdeutschland zurückzukehren, einen maßgeblichen Einfluss auf sein Denken über den Holocaust hatte: »Adornos Westdeutschland war das Land der Täter und ihrer Kinder, also mehr oder weniger eine geschlossene Verdrängungskultur, während Arendt im offeneren, im multikulturellen Amerika sehr viel freier denken und offensiver schreiben konnte. Vor diesem Hintergrund kann man behaupten, dass gerade der von Adorno perfektionierte Typus der esoterischen Kulturkritik, in dem ›Auschwitz‹ als eine Art Kryptogramm stets präsent blieb, die beste politische Strategie war, das mentale Gefängnis der Nachkriegsgesellschaft aufzusprengen, während Hannah Arendts sehr viel direkterer Zugang zur Politik durch einen nostalgischen Rückgriff

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tet ihr, dass sie die Schuldfrage nicht persönlich nehmen solle, da sie nicht zu der Tätergeneration gehöre und sich nicht schuldig fühlen solle für Dinge, die sie nicht getan habe. Und sie kommt auf Adorno zu sprechen: »Natürlich ist es barer Unsinn zu sagen, ›dass es nach Auschwitz unmöglich sei, jemals wieder ein Gedicht zu schreiben‹, genauso wie es barer Unsinn ist, zu meinen, dass man nach Auschwitz nicht mehr an Gott glauben könne – und Ähnliches mehr. Das sind hysterische Reaktionen, die man wohl verstehen kann, die aber jeder wirklichen Auseinandersetzung nur hinderlich sein können. Dafür braucht man vor allen Dingen einen klaren Kopf und den guten Willen, auch Wahrheiten anzuerkennen, wenn sie einem nicht ins Konzept passen.«101 Und sie beobachtet eine dritte Reaktion: Der apathischen Kommunikationslosigkeit der Überlebenden, der Verweigerung durch Sprache etwa durch Adorno steht die emotionalisierende, nachträgliche Darstellung der Grauen durch Unbeteiligte gegenüber. Diese Gefahr bemerkt sie in einer Vorlesung zu Fragen der Ethik, Über das Böse: »Da es den Menschen schwer fällt – und dies mit Recht –, mit etwas zu leben, das ihnen den Atem raubt und sie sprachlos macht, haben sie allzu oft der offensichtlichen Versuchung nachgegeben, ihre Sprachlosigkeit in allen möglichen auf der Hand liegenden Sprachgebilde, die immer natürlich unangemessene, gefühlsmäßige Erregung auszudrücken, zu übertragen. Die Folge ist, dass heute die ganze Geschichte auf die Tradition überdeckt zu werden drohte.« (S. 90) Söllner stellt auch fest, dass Adorno zwar immer wieder auf den Genozid an den Juden Bezug genommen hat, doch häufig nur indirekt, als Anspielung. Arendt dagegen ist mit ihrem Totalitarismusbuch ins Herz des Problems eingedrungen. Das Original-Auschwitz-Zitat Adornos lautet folgendermaßen: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« Söllner, Alfons: Arendt und Adorno: die Anfänge nach dem Zweiten Weltkrieg In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. von Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 /  167, München, 2005, hier S. 87-91. | Vgl. außerdem Samir Gandeshas Essay über Arendt und Adorno, in dem der Autor konstatiert, dass Adorno weniger radikal war als angenommen. Denn in Minima Moralia gibt es folgende Bemerkung, die an Arendts Schreiben und Urteilen, um in der »Welt heimisch« zu werden, erinnert: »Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.« Weiterhin hat Gandesha herausgearbeitet, dass Adorno in seinem Text Der Essay als Form behauptet, die Form des Essays ermögliche es, »Kommunikation und Ausdruck« in ein spezifisches Verhältnis zueinander zu setzen: »Es ist genau diese Spannung, die Spannung zwischen dem Universellen (Kommunikativen) und dem Partikularen (Ausdruck), welche der Form des Essays in einer produktiven Spannung oder in einem Kraftfeld zu halten versucht.« Gandesha, Samir: Scheiben und Urteilen. Adorno, Arendt und der Chiasmus der Naturgeschichte. In: Arendt und Adorno (Hg. Auer, Dirk, Rensmann, Lars, Wessel Schulze, Julia), Frankfurt /  M ain, 2003, S. 99-132, hier S. 231. 101 | LOC: General Correspondence, 1938-1976, nd. In: Box 10 / F older: Da-Di miscellanous, 1959-1973, Demohn, Veronika: Arendt an Demohn, 10.9.1967, Blatt 005739.

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gewöhnlich in Begriffen der Gefühlswelt, die als solche nicht unbedingt kitschig sein müssen, erzählt wird, um sie zu sentimentalisieren und zu verkitschen. Es gibt sehr wenige Beispiele, für die das nicht zutrifft, und diese sind meist unerkannt und unbekannt.«102 Nicht nur das Entsetzen ist sprachlos und kommunikationslos, sondern auch übertriebener Ausdruck von Gefühlen kann Kommunikation verhindern. Eine Darstellung, die sich der Wahrheit annähern will, muss notwendig Distanz halten. Gegen Gefühlskitsch der Aufarbeitung spricht Arendt sich vehement aus: »Die ganze Atmosphäre, in der die Dinge heutzutage diskutiert werden, ist mit Gefühlen, oft nicht gerade großen Formats, aufgeladen, und wer immer diese Fragen anspricht, muss damit rechnen, wenn überhaupt noch möglich auf ein Niveau heruntergezogen zu werden, auf dem ernsthaft nicht mehr diskutiert werden kann.«103 Julia Kristeva vermutet weiterhin, dass Arendt nicht mit Primo Levis Auffassung einverstanden gewesen wäre, dass das Grauen durch Poesie darzustellen sei.104 Der erste Mensch von Levi zeigt jedoch einerseits die objektive, faktische Darstellung des Erlebten im Konzentrationslager und andererseits seinen Versuch, sich dort durch Lyrik den Lebenswillen und die Humanität zu bewahren. Er verkitscht nichts ins Sentimentale, sondern beschreibt schonungslos die Tatsachenbestände. Leider gibt es von Arendt keine Aussagen zu Primo Levi.105 102 | Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik (1965), München, 2006, S. 19. | Vgl. auch Bérenice Levet, die nicht nur Arendts Kritik an der nachträglichen sentimentalen Verkitschung des Holocausts aufnimmt, sondern auch die Klischeebeladene, unwahrhaftige Sprache der Täter betont: »Son analyse des totalitarismes lui a révélé à quel point l’imperméabilité au réel avait contribué à la tragédie.Or le langage joue très efficacement ce rôle d’écran. Le procès d’Eichmann ne fera que la fortifier dans cette conclusion. Elle prêtera toujours une grande attention aux mécanismes par lesquels l’esprit humain se protège contre le choc du réel. Les techniques qu’il déploie pour s’immuniser contre cette épreuve. Elle découvre le pouvoir hypnotique des clichés.« Levet, Bérénice: Le musée imaginaire d’Hannah Arendt, Paris, 2011, S. 174. »Durch ihre Analyse totalitärer Strukturen erkannte sie, wie die Undurchsichtigkeit der Wirklichkeit zur Tragödie beigetragen hatte. Tatsächlich schirmt die Sprache wirkungsvoll ab. Der Eichmann-Prozess wird sie nur in ihrer Schlussfolgerung bestätigen. Sie wird immer große Aufmerksamkeit auf die Mechanismen verwenden, die der menschliche Geist benutzt, um sich gegen den Schock der Wirklichkeit zu schützen. Die Techniken, um gegen die schwere Zeit immun zu sein. Sie entdeckt die hypnotische Macht der Klischees.« (Übersetzung A.B.) 103 | Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik (1965), München, 2006, S. 19. 104  |  Vgl. Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Le génie féminin. Bd. 1, Paris 1999, S. 162.  |  Levi hatte 1984 in einem Interview provokativ die These Adornos umgedreht. 105 | Sprache als Kommunikation nach Jaspers betrifft nicht nur dokumentarische Zeugnisse, sondern auch Dichtung. Vgl. Lilane Weissberg: »Sieht [Platon] Dichter wegen ihrer Erfindungskunst von der Wahrheit entfernt, so können Dichter nach Arendt gerade durch ihre dichterischen Mittel der Wahrheit näher kommen, ja Wahrheit sprechen. Sie sind daher

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Es gibt eine Parallele zwischen Levi und Arendt. Natürlich hat Arendt das Grauen der Vernichtungslager nicht selbst erlebt. Doch Teile ihrer Familie und Freunde kamen in Konzentrationslagern um. Und sie wurde 1940 für einige Zeit im südfranzösischen Lager Gurs interniert, kannte also unwürdige Haftbedingungen. Während Levi seine Zeit im Konzentrationslager anhand der bloßen Fakten beschreibt, setzt sich Arendt genauso nüchtern-historisch mit der Endlösung in ihrem Totalitarismus-Buch auseinander.106 Als Levi im Lager für sich Gedichte rezitierte, um Mensch zu bleiben, verfasste Arendt von 1942 bis etwa 1950 Emigrationsgedichte, die um das Grauen kreisen. Diese nüchtern-kommunikativ gehaltenen Poeme teilen mit und geben auf zurückhaltende Weise die vernünftigste menschlichste Reaktion darüber wieder: Trauer und Wut, die auf Humanität basieren.107 Schließlich wird es Karl Jaspers sein, der Hannah Arendts Haltung zur Sprache und zum Versuch, das Grauen wiederzugeben, am deutlichsten bemerkt hat. Als Arendt aufgrund ihres Eichmann-Buches angegriffen wurde, nahm er sich vor, sie öffentlich in einer Schrift zu verteidigen, an der er mehrere Jahre forschte und schrieb, ohne sie abzuschließen. Unter dem Titel Hannah-Buch finden sich Notizen und manche bereits ausformulierte Kapitel sowie Briefwechsel dazu, unter anderem mit Golo Mann, selbst Jaspers-Schüler und Kontrahent Arendts.108 Dieses Buch steht unter dem Motto, dass Arendt keine Literatin sei, sondern im Gegenteil sich immer durch die Unabhängigkeit ihres Geistes hervorgetan habe. In einem Brief an Arendt fasst er das Projekt folgendermaßen zusammen: »Wie Descartes Repräsentant ist einer Denkungsweise, die ständig die moderne Wissenschaft durcheinanderbringt und ihrer Größe beraubt, so ist Voltaire in der modernicht nur für einen Staat erwünscht, sondern notwendig.« Weissberg, Liliane: Der Staat und die Dichter. Hannah Arendts Reflexionen über eine verborgene Traditon. In: Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden: Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern (Hg. Kotowski, Elke-Vera), Berlin, 2015, S. 105. 106 | Martin Blumenthal-Barby kommt darauf zu sprechen, dass Hannah Arendt in ihrem historischen Totalitarismusbuch Metaphern gebraucht. Es stimmt tatsächlich, dass Arendt etwa die verschiedenen Abläufe in den Konzentrationslagern als Hades, Purgatorium und Hölle definierte, aber es scheint doch, dass sie hier eher biblische Vergleiche als Metaphern verwendete. Später sollte sie etwa anhand der Persönlichkeit Eichmanns solche Vergleiche, etwa mit literarischen Figuren wie Macbeth, bewusst vermeiden, um ihn in seiner »Banalität des Bösen« zu charakterisieren. Vgl. Blumenthal-Barby, Martin: »The Odium of Doubtfulness«; or, The vicissitudes of Metaphorical Thinking. In: New German critique, H. 106, 2009, S. 61-81. 107 | Vgl. den dritten Teil, 1.1 Die Emigrationsgedichte, S. 278. Vgl. Arendt, Hannah: Recht-Freiheit In: Gedichte, S. 33. 108 | Vgl. Jaspers-Briefwechsel: Brief 393: Jaspers an Arendt, Basel, 9.3.1966, S. 667. Jaspers fühlte sich in einem Solidaritätskonflikt zwischen seinen beiden ehemaligen Studenten.

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nen Humanität der Repräsentant jenes Literatentums, das seinem Wesen nach so inhuman wie möglich ist, faktisch niederträchtig, aber die Sprechweise des Moralismus, die große Gebärde, das Protestieren und so fort begründet, wie es bis heute stattfindet. […] Was ich von einem Literatentypus meine, in dessen Folge z. B. Thomas Mann steht, ist noch schwieriger herauszubringen. Warum beschäftige ich mich damit? Weil ich meine, dass unter den Fronten so heterogener Art, die sich gegen Dich erhoben haben, dieser Literatentypus in sich, ohne Verabredung, solidarisch geschlossen gegen Dich stellt. Dass Du mit diesem Literatentypus nichts zu tun hast, ist einer der Punkte, der mir wichtig ist.«109 Wie Arendt spricht sich Jaspers dagegen aus, dass man über Auschwitz nicht sprechen könne, und gibt damit ihre Haltung des Verstehen-Wollens wieder, die nur über Kommunikation möglich ist: »Einige sagen, man könne davon nicht reden, man solle schweigen, vor dem maßlos Entsetzlichen, das alles menschlich Begreifliche überschreite. Doch das ist ein Ausweichen. Dass man sprechen muss, dass aber im Sprechen stets etwas Wesentliches verloren geht, ist offenbar. Was Holthusen sagt, tut Hannah Arendt. Sie will verstehen, aber der Sinn ihres Verstehens ist, das Unbegreifliche zu zeigen, ohne es am Ende zu begreifen. Sie will verstehen in Sinnmöglichkeiten, soweit sie zu sehen vermag. Aber sie will durch dies Verstehen die Grenze berühren, wo in Wahrheit die Erfahrung des Unvorstellbaren gemacht werden kann.«110 Wie Arendt wendet sich Jaspers gegen Adornos Aussage – nur eine nüchterne Sprache, die ja auch in der Lyrik möglich ist, könne das Grauen wiedergeben: »Adorno: nach Auschwitz lasse sich keine Dichtung mehr schaffen – das entspricht dem Diktum eines berühmten jüdischen Autors (wenn es richtig ist): nach Auschwitz hört der Glaube an Gott nicht auf, aber man könne nicht mehr zu ihm beten. Solche Dicta sind ebenso falsch wie unverschämt. Der Mensch soll jederzeit erfüllen, was ihm vergönnt ist, sein Schicksal ergreifen im Glück nicht weniger als im Unheil. Ob ein Gedicht entsteht, beweist sein Schöpfer. Wenn, dann ist wahre Schönheit unbetroffen von der Last der Zeit.«111 Grundlage dieser Sprache liegt in Sachlichkeit und Distanz – was viele als Kälte empfanden, als Arendt etwa über Eichmann schrieb: »Hannahs Kühle ist ein Bestandteil ihrer Lebenshaltung, die zum Edlen, zum Schönen, zum Lebenswerten drängt. Mir scheint: der hellhörige Leser vernähme die Liebende an menschlichem Adel […]. Sie ist die Distanzierung, um überlaut sprechen zu können. Sie ist die Maxime, in der Sachlichkeit doch die Leidenschaft zur Geltung bringt.«112

109 | Ebenda, Brief 372: Jaspers an Arendt, Basel, 23.3.1965, S. 625. 110 | DLA: Nachlass A: Jaspers, Karl: Hannah Buch, Teil III: Die Polemik gegen Hannah Arendt, 1c) Abschnitt Holthusen von 16). 111 | Ebenda, i. Beilage: 7.2.1965, Arendt an Hochhuth (Kopie). 112 | Ebenda, Anhang II, Literaten zum Buch über Hannah Arendt, d) Notizen zu Hannah Arendt und die Literaten.

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1.2 S pr ache als M e tapher 1.2.1 Verbindung zwischen Sprache und Denken Hannah Arendt stellte verschiedene Betrachtungen an, wie das Denken funktioniert und wie es zur Sprache führt. Das betrifft den Umgang mit Denkgegenständen, die nicht materiell nachweisbar sind, besonders metaphysische Spekulationen. Ab Mitte der sechziger Jahre beschäftigte Arendt die Frage, was beim Denken, Wollen und Urteilen tatsächlich im Menschen vorgeht, und diese Gedanken sollte sie schließlich ausführlich in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes zusammengefasst darstellen. Nachdem sie 1961 ihr letztes Gedicht verfasst hatte, befasste sie sich systematisch mit der Verbindung von Denken und Sprache sowie dem Zusammenhang von Denken und Dichten und dem Gebrauch der Metapher. Die eigene Erfahrung des Dichtens, besonders Gedankenlyrik, dürfte sie zu den verschiedenen praktischen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen angeregt haben. Wie setzt der Mensch Gedachtes in Sprache um? Grundsätzlich haben, folgt man Hannah Arendt, denkende Wesen den Drang zu sprechen: »Nicht unsere Seele, sondern unser Geist verlangt Sprache.«113 Und sie beruft sich auf Aristoteles, der zwischen dem Geist – den Gedanken der Vernunft – und der Seele – den Passionen des emotionalen Systems – unterscheidet.114 In ihrem Briefwechsel mit Mary McCarthy analysiert Arendt 1969 anlässlich des Romans von Sarraute Entre la vie et la mort, wie aus dem emotionalen Innenleben Sprache wird. Sie unterscheidet drei Stufen der inneren Kommunikation mit sich selbst: den Dialog zwischen zwei Ich – das vernünftige Denken; den Dialog zwischen zwei Selbsten – die emotionalen Passionen; die Vervielfältigung der Selbste – hier ist Sprache nicht mehr möglich. Das bedeutet konkret: Der innere Dialog zwischen zwei Ich, das vernünftige Denken, führt zu den Resultaten, die man anschließend einem Gegenüber mitteilt: »Der stumme Dialog des Denkens findet zwischen mir und mir selbst statt, aber nicht zwischen einem und einem anderen Selbst. Im Denken bist Du Selbst-los – ohne Alter, ohne psychologische Attribute, ganz und gar nicht wie Du ›wirklich‹ bist.« Vor dem Denken zwischen zwei Ichs gibt es den inneren Dialog zwischen zwei Selbsten, der auf Emotionen beruht: »Das Zwei-in-Einem kann sich umkehren, und dann sprechen Selbst und Selbst miteinander, wobei jedes beansprucht, das ›wahre‹ Selbst zu sein, Identitätskrise und all dieser Unsinn, einschließlich des unendlichen Rückzugs, der darin enthalten ist, wobei viele behaupten, dass es das wahre Ego sei.«115 Nach Arendt drückt sich das Seelenleben

113 | Arendt, Hannah: Vom Lebens des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 103. 114 | Vgl. Ebenda, S. 103. 115 | McCarthy-Briefwechsel: Arendt an McCarthy, Tegna, 8.8.1969, S. 356 f.

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besser in Blicken, Lauten, Gesten aus als im Gesprochenen.116 Und noch weiter zuvor vor dem Denken zwischen zwei Selbsten gibt es ein Stadium, in dem diese in einer »inneren Unruhe« sich noch weiter vervielfältigen, in dem sich »alle Identitäten auflösen, [da] nichts mehr [da ist], woran man sich festhalten kann. Identität hängt von Manifestation ab, und Manifestation ist vor allem außen«: »Wenn es [das Selbst] nach innen zu sehen beginnt, se replier sur soi-même, stolpert es sofort in den unendlichen Rückzug, nicht ein Selbst, sondern Vervielfältigung.«117 Während der Vervielfältigung finden verschiedene Prozesse statt: Projektion des Selbst in die Welt, Projektion der Welt in das Selbst, oder der Vorgang »Ich stelle mir vor, dass ich mir vorstelle zu denken«, in dem die Welt einem endlosen, kaleidoskopartigen Wandel unterworfen ist – angesteckt von der Unruhe des Selbst. Diese Form des Innenlebens bezeichnet Arendt Brochs Terminus gemäß als »Seelenlärm«: »Wenn man von diesem Gesichtspunkt aus auf das ›innere Leben‹ schaut, ist die innere Bewegtheit gleich dem unvermeidlichen Geräusch unseres funktionalen Apparates, was Broch ›Seelenlärm‹ nannte. Es ist das, was uns ticken lässt. Es ist nicht weniger anstößig, ungeeignet für das Erscheinen, als unser Verdauungsapparat, oder unsere inneren Organe, die unsere Haut auch verbirgt, damit sie nicht gesehen werden.«118 Sprache entsteht also aus einem inneren Dialog zwischen zwei Selbsten, die sich zu einem Selbst im Moment der Aussprache entwickeln. Echte Kommunikation erfolgt allerdings erst, wenn das Ich aktiviert wird. Maßstäbe für diese Sprache sind Vernunft, Mitteilbarkeit und Sinnträchtigkeit. Das schließt eine Wahl des Gesagten ein: Sprache ist eine äußere Manifestation von etwas Innerem, wobei Sprache nicht der reine Abdruck oder exakte Repräsentation dessen ist, was innen vor sich geht: »Sprache, Gesten, Gesichtsausdrücke – all dies manifestiert etwas Verborgenes, und es ist diese Manifestation, die das gestaltlose, chaotische Innere auf solche Weise verändert, dass es für die Erscheinung, für das Gesehen-Werden geeignet wird. Aber es nagelt uns auch fest, verpflichtet uns.«119 Daher ist Sprache im Jaspers’schen Sinne Kommunikation, das heißt, Worte werden Teil der Welt und verändern sie. 116 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 41. | Vgl. den Eintrag im Denktagebuch zur Passion der Seele oder zum emotionalen System: »Die Stimmlaute sind Zeichen der Passionen der Seele, und die Buchstaben sind Zeichen der Laute. Buchstaben und Laute (›bloße Erscheinungen‹?) sind nicht dieselben bei allen Menschen, aber die Dinge, deren Zeichen sie zunächst einmal sind, sind bei allen Menschen dieselben; Passionen der Seele sind stoffliche Vorgänge, von denen annähernd Abbilder sind, sind auch dieselben.« In: Denktagebuch: Heft 27: September 1970, Eintrag 82, S. 795. 117 | McCarthy-Briefwechsel: Arendt an McCarty, Tegna, 8.8.1969, S. 357. 118 | Ebenda, S. 358. 119 | Ebenda, S. 357. | Sprache ist also nach Arendt eine zielbewusste Äußerung und setzt die Wahl dessen voraus, wie man erscheinen möchte. So ist zum Beispiel das Zeigen von Ärger eine Form der Selbstdarstellung. Der Mensch entscheidet, was erscheinen

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Bildliches Denken und sprachliches Denken funktionieren zusammen. In Vom Leben des Geistes beobachtet Arendt, wie ein abstrakter Begriff beim Aussprechen in ein Bild umgewandelt wird. Als Beispiel gibt sie den Begriff »Freundschaft«, der das Bild der vereinigten Hände evoziert: »Die Antwort auf die typisch Sokratische Frage, was Freundschaft sei, ist sichtbarlich vorhanden und deutlich in dem Sinnbild der beiden vereinigten Hände, und ›das Sinnbild setzt einen ganzen Strom bildlicher Darstellungen frei‹ in Form sinnfälliger Assoziationen, durch welche die Bilder untereinander verbunden sind. Das erkennt man am besten in der großen Vielfalt zusammengesetzter Zeichen; so fasst das Zeichen für ›kalt‹ ›alle Vorstellungen zusammen, die mit dem Gedanken an kaltes Wetter verbunden sind‹ und mit Tätigkeiten, mit denen man sich davor schützt.«120 Ein permanenter wechselseitiger Prozess findet statt, so dass manchmal vom Bild auf das Wort – also induktiv vom Besonderen auf eine allgemeine Regel – und dann wieder vom Wort auf das Bild – hier deduktiv abgeleitet von den Schlüssen, also vom Allgemeinen auf das Besondere – geschlossen wird. Für die geistigen Tätigkeiten hat das Sehen immer Vorrang. Dabei scheint für Arendt die Sprache nicht so offensichtlich für das Denken geeignet zu sein wie die Bilder für das Sehen: »Die Unterschiede zwischen dem konkreten Denken in Bildern und unserem abstrakten Umgehen in Begriffswörtern sind faszinierend und beunruhigend – ich kann sie aber nicht adäquat behandeln.«121 Der Umgang mit Worten und Bildern unterscheidet sich je nachdem, welche Zielsetzung sich der Geist vorgenommen hat. In ihrem Denktagebuch differenziert sie zwischen »etwas denken« – »wenn ich Stuhl sage, denke ich Stuhl, aber brauche nicht über den Stuhl zu denken oder zu sprechen« –, »über etwas denken« – »wenn ich über den Stuhl spreche (denke), denke ich eine Fülle von anderen Dingen mit; Funktion, Nutzen, Eigenschaften etc.« – und schließlich »an etwas denken« – das heißt, erinnern, sich also darauf zurückbesinnen, wie man auf einem bestimmten Stuhl gesessen hat.122 In Vom Leben des Geistes entwickelt sie diese Gedanken in etwas anderen Definitionen weiter: »an etwas denken« wird zur Erinnerung, »etwas denken« wird zum Gedankending und »über etwas denken« zum sichtbaren Sinnesgegenstand, der Anlass gibt, darüber zu nachzudenken. Wesentlich bei allen drei Modalitäten ist die »Einbildungskraft, die einen sichtbaren Gegenstand in ein unsichtbares Vorstellungsbild verwandelt, das im Geist gespeichert werden kann, [sie] ist also die soll. Dabei differenziert Arendt zwischen Selbstpräsentation und Selbstdarstellung. Bei der Präsentation zeigt man ein bestimmtes Bild von sich: Bis zu einem gewissen Grad hat man ein Bewusstsein von sich selbst und von den eigenen Geistestätigkeiten – hier ist Heuchelei und Verstellung möglich. In der Darstellung hat man keine andere Wahl, als die Eigenschaften zu zeigen, die man besitzt: Hier geht es um das reine Da-Sein der Existenz. 120 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 137. 121 | Ebenda, S. 106. 122 | Vgl. Denktagebuch: Heft 24: Eintrag 59, 24.12.1965, S. 643.

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unabdingbare Voraussetzung dafür, dass der Geist brauchbare Gegenstände geliefert bekommt; doch diese entstehen erst, wenn der Geist aktiv und vorsätzlich erinnert und aus dem Schatz des Gedächtnisses irgend etwas auswählt, das sein Interesse so stark weckt, dass sich Konzentration einstellt; dabei lernt der Geist mit abwesenden Gegenständen umzugehen und bereitet sich darauf vor, ›weiter zu gehen‹ in Richtung auf das Verstehen von Gegenständen, die immer abwesend sind und nicht erinnert werden können, weil sie der Sinneserfahrung nie gegenwärtig waren.«123 Eine Klasse von Denkgegenständen, die nicht sichtbar sind und nicht materiell existieren, sind sprachlich abstrakt gehalten – es handelt sich um Begriffe, Ideen und Kategorien –, und der Anlass, diese abstrakten Dinge zu denken, stammt immer aus der Erfahrung der Realität: »Die ganzen metaphysischen Fragen, die die Philosophie zu ihren Spezialproblemen machte, entstehen aus ganz gewöhnlichen Alltagserfahrungen; das ›Bedürfnis der Vernunft‹ – die Suche nach Sinn, die die Menschen veranlasst, diese Fragen zu stellen – unterscheidet sich in keiner Weise von dem Bedürfnis der Menschen, von irgend etwas Erlebtem zu erzählen oder Gedichte darüber zu schreiben.«124 Alltagserfahrungen führen zur Bildung von Begriffen: »Alles Denken fängt mit der Alltagssprache an und entfernt sich von ihr. Das Bedürfnis zu denken entsteht immer dann, wenn wir das Empfinden haben, dass Worte in ihrer gewöhnlichen Bedeutung (die Sache) eher verdunkeln als erhellen. Der Prozess der Klärung, der im Denkprozess vor sich geht, erfolgt durch Unterscheidung.«125 Sokrates als Schöpfer des Begriffes, ist also derjenige, der den abstrakten Begriff entdeckt hat (was sind etwa Mut, Schönheit, Gerechtigkeit): Viele Einzeldinge werden unter einem gemeinsamen Namen zusammengefasst.126 Sokrates’ frühe Dialoge beschäftigen sich mit einfachen alltäglichen Begriffen, das Problem bestehe beim Gebrauch der Hauptwörter: Arendt nimmt als Beispiel »das Haus«, das vielerlei sein kann: Lehmhütte eines Eingeborenen, Palast eines Königs, Landhaus eines Städters, Hütte im Dorf, Hochhaus in der Großstadt. Das Mindestmaß dessen, unter denen alle diese Häuser sich zusammenfassen lassen, sei: Beherbergt-Sein, Wohnen, Ein-Heim-haben. Als Beispiel nimmt Arendt das Substantiv »Haus«: »Als Wort ist ›Haus‹ ein Kürzel für alle diese Dinge, die Art Kürzel, ohne die das Denken mit seiner bezeichnenden Hurtigkeit – ›hurtig wie ein Gedanke‹, pflegte Homer zu sagen – überhaupt nicht möglich wäre. Das Wort ›Haus‹ ist wie ein gefrorener Gedanke, den das Denken auftauen muss, also wenn man so will, zu entfrosten hat, wann immer man dessen ursprüngliche Bedeutung herausfin-

123 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 83. 124 | Ebenda, S. 83 f. 125 | Denktagebuch: Heft 29, Eintrag 45, April 1970, S. 772. 126 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 170.

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den möchte.«127 (Dabei bemerkt sie auch, dass es Sprachen gibt, deren Wortschatz reicher ist, denen aber die abstrakten Hauptwörter fehlen; stattdessen beziehen sie sich auf klar sichtbare Gegenstände.) Die Maßgabe Sokrates’, vernünftig mit Sprache umzugehen, sieht Arendt in zwei Vorgehensweisen: auf der einen Seite das »Auftauen von Gedanken«, das auf einer konsequenten Denkungsart beruht nach dem Axiom der Widerspruchslosigkeit – logisch (keinen Unsinn reden und denken) sowie integer (besser mit der Menge uneins als mit sich selbst);128 auf der anderen Seite, dass man sich auf das Denken selbst unabhängig von Ergebnissen konzentriert, Sokrates’ Dialoge sind aporetisch, sie bewegen sich nirgendwohin, sie bewegen sich im Kreis. Die Parallele zu Jaspers’ Resultatlosigkeit des Denkens, das Freiheit impliziert, ist hier evident: »Gefrorene Gedanken, scheint Sokrates zu sagen, kommen so leicht daher, dass du sie in deinem Schlaf benutzen kannst; aber wenn der Wind des Denkens, den ich jetzt in dir erregen werde, dich aus dem Schlaf gerissen und ganz wach und lebendig gemacht hat, dann wirst du sehen, dass du nichts weiter in den Händen hast als Perplexitäten, und das Äußerste, was wir tun können, ist, sie miteinander zu teilen.«129 Sprache selbst kann das zu Denkende vorgeben: »Alles existiert für das Denken, wofür die Sprache ein Wort hat. Wofür die Sprache kein Wort hat, fällt aus dem Denken heraus. […] Will man das Wort Gott nicht mehr benutzen, weil es ›nur‹ für das Denken (im weitesten Sinne) existiert, so hat man die Möglichkeit vernichtet, über ›Gott‹ zu denken. Man hat das Denken beschnitten, nicht die Erfahrung.«130 Das bedeutet also, dass auch Dinge erfahrbar sind, die unabhängig von materiellen Beweisen existieren. Gott als Beispiel ist die bedeutendste Vorstellung, die materiell nicht nachweisbar und doch für viele Menschen existent ist. Hier entspricht das Denken der metaphysischen Spekulation: »Es ist ein Irrtum zu glauben, dass eine sprachlich-gedachte Wirklichkeit weniger wirklich ist als eine erfahrene-ungedachte. Was den Menschen betrifft, so könnte das Gegenteil der Fall sein.«131 In einem weiteren Eintrag im Denktagebuch geht sie der gleichen Frage nach, ob »man sagen kann, das Denken gelte nur Sachen, die nur sprachlich und nicht auch sinnlich gegeben sind.« Auch hier kommt sie zu dem Schluss, dass die Sprache das zu Denkende vorgibt: »Kant spricht von dem ›Bedürfnis der Vernunft‹, meint damit aber nicht das Bedürfnis zu denken, das heißt 127 | Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral (1971). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 128156, hier S. 140. | Vgl. auch Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang 1970er Jahre), München, 1998, S. 171. 128 | Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 53. 129 | Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral (1971). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 128156, hier S. 143. 130 | Denktagebuch: Heft 24: November 1965, Eintrag 58, S. 642. 131 | Ebenda, S. 643.

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die Tätigkeit, sondern ›reine Vernunftbegriffe‹, die ›der Vernunft subjektiv notwendigen Begriffe‹ sind (6242 in Bd. XVIII), wie zum Beispiel der ›Begriff des Unbedingten‹, aber auch Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Dies ist fragwürdig. Wir wissen nicht mehr, als dass unsere Sprache solche Worte enthält. Die Sprache spricht uns das zu Denkende zu.«132 Grundsätzlich sind geistige Fähigkeiten sprachlich gefasst, es handelt sich um einen wechselseitigen Prozess zwischen Denken und Sprache: »Denken ohne Sprache ist unvorstellbar; Denken und Sprache nehmen einander vorweg. Ständig nimmt eines den Platz des anderen ein, ja sie setzen einander einfach voraus. Und obwohl die Sprachfähigkeit physisch sicherer lokalisierbar ist als viele Gefühle – Liebe oder Hass, Scham oder Neid –, so ist ihr Ort doch nicht ein ›Organ‹, und ihm fehlen die ganzen strengen funktionalen Eigenschaften, die für den gesamten Prozess des organischen Lebens so kennzeichnend sind.«133 Hannah Arendt vertritt die These, dass Sprache, die geistige Sachverhalte behandelt – in Philosophie und in Dichtung –, an sich metaphorisch sei. Das Denken bedarf der Bilder, um die Kluft zwischen der Welt der Sinneserfahrungen und dem Reich zu überbrücken, dem solches Erfahren von Daten nicht möglich ist. Zum ersten Mal spricht sie diese Beobachtung 1958 in der Vita Activa aus – noch beiläufig, da die Funktionsweisen des Arbeitens, Herstellens, Handelns im Zentrum der Abhandlung stehen. In Klammern führt sie eine Beobachtung über Platos Idee des Schönen aus: »Ich unterstelle, dass alles Denken, das sich außerhalb des Mathematischen bewegt, seinem Wesen nach metaphorisch ist, und dass jeder philosophische Begriff seine Evidenz dem metaphorischen Gehalt verdankt, den er gleichsam verkürzt ausspricht.«134 In ihrem Denktagebuch macht sie ab Ende der sechziger Jahre systematisch Notizen zu diesen Überlegungen135 (die sie später ausführlich in Vom Leben des Geistes zusammenfassen sollte): »Keine Sprache besitzt einen fertigen Wortschatz für die Bedürfnisse des Geistes; stets werden Wörter geborgt, die ursprünglich entweder eine Sinneserfahrung oder eine andere Alltagerfahrung bedeuten. Doch dabei wird niemals willkürlich oder konventionell (wie bei den mathematischen Symbolen) oder sinnbildlich vorgegangen; die gesamte philosophische und der größte Teil der dichterischen Sprache ist metaphorisch, aber nicht in dem einfachen Sinne des Oxford Dictionary, das ›Metapher‹ definiert als die Redefigur, in der ein Name oder eine Beschreibung auf einen Gegenstand übertragen wird, der von dem eigentlichen analog ist.«136 Die bildliche 132 | Denktagebuch: Heft 27: November 1969, Eintrag 6, S. 755. 133 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 41. 134 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 286. 135 | Vgl. Denktagebuch: Heft 26: November 1969, Eintrag 70, S. 749. Und ebenda, Heft 27: November 1969, Eintrag 6, S. 755. 136 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 107.

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Übertragung mit der Maßgabe, einen abstrakten Sachverhalt darzustellen, besteht nach Arendt eher in der Analogie der Beziehung als in dem Vergleich zwischen beiden. Sie gibt ein oft genutztes Beispiel aus der Dichtkunst: Der Vergleich zwischen Sonnenuntergang und Alter bedeutet nichts Sinnvolles – ganz im Gegensatz zur Analogie, die den Sonnenuntergang zum vorangegangenen Tag und das Alter zum Leben in Beziehung setzt. Und sie beruft sich auf Shelleys und Aristoteles Definition der Metapher: Nach Shelley ist die dichterische Sprache im Wesentlichen metaphorisch, weil sie »die bisher unbemerkten Beziehungen der Dinge herausstellt und dieser Auffassung Dauer verleiht«, und nach Aristoteles legt die Metapher »eine intuitive Wahrnehmung einer Ähnlichkeit zwischen Unähnlichem« frei.137 Die Bedeutung der Metapher ist also nicht nur von Bedeutung für ihren Dichtungsbegriff, sondern fasst auch ihr Verhältnis zur Sprache im Allgemeinen zusammen: Sprache beruht auf Erfahrungen. Es gibt auch Erfahrungen, für die es keine vollkommene Sprache gibt, man kann sich immer nur annähern. Grundsätzlich sind Erfahrungen sprachlich niemals vollständig wiedergebbar. Gerade abstrakte Begriffe müssen aufgetaut werden, damit man ihre ursprüngliche Bedeutung wieder begreift. Die Metapher als Bild ist eine Möglichkeit, die Reduziertheit der Sprache zu erweitern. Hannah Arendts Sprachkritik resultiert wohl aus ihrer Mehrsprachigkeit. Nach sieben Jahren Aufenthalt in Frankreich und nach zehn Jahren in den USA notiert sie in ihr Denktagebuch, wie unterschiedlich das Denken sich bewege, je nachdem, welche Sprache man benutze: »Pluralität der Sprachen: Gäbe es nur eine Sprache, so wären wir vielleicht des Wesens der Dinge sicher. Entscheidend ist erstens, dass es viele Sprachen gibt und dass sie sich nicht nur im Vokabular, sondern auch in der Grammatik, also der Denkweise überhaupt unterscheiden, und zweitens, dass alle Sprachen erlernbar sind.«138 Sie führt am Beispiel des Wortes »Tisch«, im Englischen »table«, aus, wie durch die Unterschiedlichkeit der beiden Sprachen Vieldeutigkeit erzeugt wird: »Nicht die Sinne und die in ihnen liegenden Täuschungsmöglichkeiten machen die Welt unsicher, auch nicht einmal die ausgedachte Möglichkeit oder erlebte Panik, dass alles nur ein Traum sein könnte, sondern die Vieldeutigkeit, die mit der Sprache und vor allem mit den Sprachen gegeben ist. Innerhalb einer homogenen Menschengemeinschaft wird das Wesen des Tisches durch das Wort Tisch vereindeutigt, um doch gleich an der Grenze der Gemeinschaft ins Schwanken zu geraten.«139 Die Tatsache, dass Sprachen erlernbar sind und dass man Entsprechungen finden kann, bezeugt dennoch, dass man gemeinsam in einer identischen Welt lebt. Daher darf die durch verschiedene Sprachen erzeugte Vieldeutigkeit nicht aufgegeben werden. Das entspricht ganz Arendts freiem Denken in Pluralität: »Daher der Unsinn der Weltsprache – gegen

137 | Ebenda, S. 107. 138 | Denktagebuch: Heft 2: November 1950, Eintrag 15, S. 42. 139 | Ebenda, S. 42.

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die ›condition humaine‹, die künstliche Vereindeutigung des Vieldeutigen.«140 Arendts Aufgeschlossenheit für die Vieldeutigkeit verschiedener Sprachen entspricht ihrer Erkenntnis, dass gerade in der Metapher innerhalb einer Sprache das größte rhetorische Mittel liegt: Auch die Metapher erzeugt Vieldeutigkeit.141 Hannah Arendts Sprachkritik bezieht sich besonders auf zwei Wissenschaftszweige, deren Denkungsart sie nicht teilt: die Psychoanalyse und die Sprachphilosophie. Arendt bezeichnet dieses Denken als Thesaurusdenken: »Die ›Sprach‹Philosophen haben sie gelehrt, die Alltagssprache zu analysieren, nicht zu klären. Wenn die Alltagssprache Worte zu Synonymen macht, deren ursprüngliche Bedeutung ziemlich verschieden ist, dann akzeptieren sie sie als Synonyme. […] Ein Denken, das Unterschiede macht, steht im Gegensatz zum Denken mithilfe von Assoziationen – wie es in der psychoanalytischen Therapie gehandhabt wird. Diese assoziative Methode, welche verfeinert und kontrolliert werden kann, um Zufälliges auszuschalten, bringt eine Vielzahl von Begriffsfamilien und Wortgruppen hervor, welche in einer rein linguistischen Analyse von gewissem Wert sind. Es scheint (aber), als hätten diese Bemühungen nur ein Ziel  – einen gigantischen Thesaurus zu produzieren, bei dem es nicht wie bei einem Lexikon um Definition geht, sondern um Auflistung einer größtmöglichen ›Vielfalt von Assoziationen.‹«142 Arendt kritisiert dieses Thesaurusdenkens, da es von Ideen und nicht von Erfahrungen ausgeht. Die meisten Worte beziehen sich auf Objekte, wie auf Begriffe (etwa Gerechtigkeit, Mut), die allerdings zuerst auf Erfahrungen beruhen (gerechte Taten, mutige Handlungen): »Es ist nicht zweifelhaft, dass in der Entwicklung des menschlichen Lebewesens Worte den Ideen vorausgehen.«143 Assoziatives Denken verdunkelt nach Arendt Sachverhalte und stiftet Verwirrung: Vergangenheit und Tradition sind nicht dasselbe, ebenso wenig wie schwierig und dunkel, Ideologie und Denken oder Gleichnisse und Metaphern. Aber auch Denken, das allzu sehr unterscheidet, kann Gefahren bergen: Es führt zu Konstruktionen von Modellen oder ›Idealtypen‹, die Welt wird nur noch restriktiv dargestellt. Der Freiraum des sokratischen Denkens ist daher Grundbedingung des unterscheidenden Denkens, »weil jeder Mensch – Freund oder Feind, doch natürlich nicht eng Vertraute – ein Sein enthüllt, das er in dessen Ganzheit zwar nicht ist, auf das seine Existenz aber hinweist und von dem man ohne ihn nichts gewusst hätte.«144 140 | Ebenda, S. 42. 141 | Vgl. den zweiten Teil, 1.2 Sprache als Metapher, S. 163. 142 | Denktagebuch: Heft 29: April 1970, Eintrag 45, S. 772. 143 | Ebenda, S. 773 f. 144 | Ebenda, S. 773. | Ähnlich dem Denken in Synonymen und in Assoziationen kann ein falscher Gebrauch der Metapher, wie etwa in den Pseudowissenschaften, Verwirrung stiften. Die Metapher weise auf Beweismaterial für Theorien hin, die in Wirklichkeit reine Hypothesen seien. Als Beispiel führt Arendt die Psychoanalyse an: Das Bewusstsein sei die Spitze des Eisbergs, und das Unterbewusstsein bleibe verborgen. Für Arendt ist das eine

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

Wie Hannah Arendt das Denken Martin Heideggers bewertet hat, ist ein Beispiel für ihre Kritik an der Sprachphilosophie. Als sie Heidegger und Jaspers 1950 wiedertraf, stellte sie fest, dass die beiden Philosophen eine unterschiedliche Wirkung ausüben, die sich an ihrem je eigenen Gebrauch der Sprache ablesen lässt: Jaspers sei Erzieher, Heidegger Lehrer.145 Während Jaspers’ Grundbegriff Kommunikation ist, die sich durch Differenzierung definiert, ist Heideggers Grundbegriff der Ausdruck. So schreibt sie 1950: Heidegger »ist in der Tat nicht mehr der Exponent, das Mundstück der Zeit; die Zeit spricht nicht mehr durch ihn. Das gerade ist seine große Chance. Daher auch die neue Möglichkeit der Kommunikation – unterschieden von dem bloßen Ausdrücken-können.«146 Heidegger als Philosoph der Kommunikation war wohl eine Wunschvorstellung Arendts. Dennoch: Auch wenn sie Heideggers Denken in Frage stellte, schätzte sie doch seine Ausdrucksfähigkeit. Sie erkannte in ihm einen poetischen Denker.147 Arendt distanzierte sich 1950 von ihrem früheren, 1946 entstandenen Existentialismusaufsatz, indem sie ihn als Philosophen am schärfsten kritisierte.148 In diesem Aufsatz warf sie Heideggers kurzem Entwurf Was ist Metaphysik? Sprachspielerei vor sowie das, was sie Anfang der 1970er-Jahre als Thesaurusphilosophie bezeichnen sollte, das unangebrachte Anwenden von Synonymen. Heideggers Versuch einer Neubegründung der Metaphysik zeige »trotz aller augenscheinlichen sprachlichen Tricks und Sophistereien, doch gewissermaßen konsequent […], dass das Sein im Heideggerschen Sinn das Nichts ist.«149 Zu dieser frühen Kritik sollte sie zwanzig Jahre später indirekt zurückkehren: In der Zwischenzeit tauschten sich Heidegger und Arendt ausführlich über die Möglichkeiten der Sprache aus. Nachdem Heidegger Unterwegs zur Sprache veröffentlicht hatte, sandte er es ihr am 17. Dezember 1959 zu.150 Arendt hielt in ihrem Denktagebuch 1968 fest, worin die Schwierigkeit aller Sprachphilosophie liege: erstens, dass sprechend die Sprache behandelt werde, unbeweisbare Theorie: Sobald ein Stück Unbewusstes an die Spitze des Eisbergs kommt, sind die Eigenschaften des Ausgangspunktes verloren. Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 117. 145 | Vgl. Denktagebuch: Heft 1, Juli 1950, Eintrag 12, S. 13. 146 | Ebenda, Heft 2: Eintrag 17, November 1950, S. 43. 147 | Vgl. den zweiten Teil, 1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin, S. 181. 148 | Uwe Johnson wollte Arendts Existentialismusaufsatz 1974 neu auflegen, und Arendt bat ihn darum, den Abschnitt über Heidegger herauszunehmen. Vgl. Johnson-Briefwechsel: Brief 39: Arendt an Johnson New York, 12.2.1974, S. 114. | In ihrem Nachlass gibt es eine ähnliche Bemerkung Arendts gegenüber einem Doktoranden, der eine Dissertation über Heidegger verfasst hat. Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 15 / F older: Sche-Sco miscellanous 1953-1975, nd. Schrag, Calvin: Arendt an Schrag, 31.12.1955, Blatt 009466. 149 | Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie? (1946), Frankfurt  /  M ain, 1990, S. 29. 150 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Heidegger an Arendt, 17.12.1959, S. 148.

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zweitens, dass in einer bestimmten Sprache über Sprache überhaupt geredet werde: »Nur in der Sprachphilosophie, die sich ja der Sprache bedienen muss, fehlt jede Distanz zwischen Denken und seinem Gegenstand. Da ist nichts, was sich dazwischen schiebt, jedenfalls nichts, sobald ich zum Aussprechen gezwungen werde.«151 Dennoch schätzte sie Heideggers Hölderlin- oder Trakl-Interpretationen, da er in gewisser Weise deren Gedichte weitergedichtet hat. Sie war von Heideggers eigener poetischer Sprache fasziniert.

1.2.2 Ausdruck des Unsichtbaren durch die Metapher Das Denken besteht aus einer Verknüpfung von bildlichen Vorstellungen und Worten, die vieldeutig bleiben, bevor sie sich in die Eindeutigkeit der reinen Sprache transformieren. In diesem Zusammenhang ist Dichtung das Geschenk, das die Vieldeutigkeit durch die bildliche Metapher bewahrt. Da beim Denken der Vorgang zwischen Bildern und Worten komplex ist, besteht das Ziel der Metapher, in einem kurzen Bild diese Komplexität wiederzugeben. Bilder aus der äußeren Welt müssen für die unsichtbaren Geistestätigkeiten gefunden werden, für die es an sich keine Worte gibt, weil sie in der Erscheinungswelt nicht existieren: »Die Metapher, Brücke über dem Abgrund zwischen den inneren und unsichtbaren Geistestätigkeiten und der Erscheinungswelt, war gewiss die größte Gabe der Sprache an das Denken und damit an die Philosophie, doch die Metapher an sich hat ihren Ursprung in der Dichtung und nicht in der Philosophie.«152 Nach Arendt kommt also den Dichtern und Schriftstellern der Dank zu, die wesentliche Funktion der Metapher erkannt zu haben: Es gehe darum, eine Brücke zu schlagen zwischen der niederen Wahrheit des Gesehenen und der höheren Wahrheit des Nichtgesehenen. Anhand theoretischer Aussagen zur Metapher und Beispielen für Metaphern verschiedener Autoren erschließt Arendt in Vom Leben des Geistes ihre eigene Definition: Dabei bezieht sie sich auf Aristoteles, Homer, Platon, Kant und Nietzsche. Arendt stellt fest, dass Metaphern auf zwei Gebieten des menschlichen Innenlebens angewandt werden: Metaphern, die das unsichtbare Seelenleben und die Emotionen des Menschen wiedergeben, und Metaphern, die metaphysische Spekulationen, die ebenfalls unsichtbar sind, in Bildern ausdrücken. In ihrem Denktagebuch exzerpierte sie bereits, übersetzt aus dem Griechischen, einen Text zur Metapher von Aristoteles aus seiner Ars Poetica: »Das weitaus Größte ist das Metaphorische. Denn allein dieses kann man von keinem Anderen nehmen, und es ist Zeichen von Wohlbeschaffenheit. Denn das Gut-

151 | Denktagebuch: Heft 25: Eintrag 77, August 1968, S. 690 f. 152 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 110.

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übertragen ist das Schauen des Ähnlichen.«153 Wie Bilder aus der äußeren Realität übertragen werden können, um das Innenleben wiederzugeben, führt sie in Vom Leben des Geistes aus, indem sie auf den Philosophen zurückkommt: »Aristoteles hatte die Sprache eindrücklich definiert als ›sinnträchtiges Aussprechen‹ von Worten, die selbst bereits ›sinnträchtige Laute‹ sind und Gedanken ›ähneln‹; demnach ist das Denken die Geistestätigkeit, die jene Erzeugnisse des Geistes vergegenwärtigt, die in der Rede stecken und für die die Sprache noch vor jeder besonderen Bemühung bereits eine passende, wenn auch nur vorläufige Heimstätte in der hörbaren Welt gefunden hat.«154 Die Metapher kann durch Übertragung von Dingen in der Erscheinungswelt das Unsichtbare des Innenlebens wiedergeben: »Und hier kehrt die Sprache des Geistes mit Hilfe der Metapher zur Welt des Sichtbaren zurück, um weiter zu verdeutlichen, was man nicht sehen, aber sagen kann.«155 Analogien, Metaphern und Sinnbilder haben eine doppelte Funktion nach Arendt: Auf der einen Seite gewähren sie die Einheit der menschlichen Erfahrung, auf der anderen Seite bilden sie Wegweiser und Vorbilder beim Denken selbst. Die Sprache verbindet Innen und Außen: »Die einfache Tatsache, dass unser Geist solche Analogien finden kann, dass uns die Erscheinungswelt an nichts Erscheinendes erinnert, könnte man als eine Art ›Beweis‹ nehmen, dass Geist und Körper, Denken und Sinneserfahrung, dass das Unsichtbare und das Sichtbare zusammengehören, gewissermaßen füreinander ›geschaffen‹ sind.«156 Die höchste Wirkung der Metapher liegt in der Schaffung der Illusion einer Einheit der menschlichen Erfahrung. Tatsächlich liegt der Primat in der Erscheinungswelt, wie man an der Nichtumkehrbarkeit der Metapher erkennen kann. Anhand Homer führt sie die metaphorische Wiedergabe von Empfindungen aus. Für Arendt ist Homer der Entdecker der Metapher, der er sich in der Odyssee und der Ilias dichterisch bedient. Zwei konkrete Beispiele geben nach Arendt besonders gut das Vermögen der Metapher wieder, um das Unsichtbare des Innenlebens sichtbar zu machen. Wie stellt Homer die unsichtbare Wirkung von Angst und Kummer auf den Menschen dar? Er vergleicht die sorgenvollen Emotionen mit der Wirkung des Windes auf dem Meer, der aus verschiedenen Richtungen anzugreifen scheint: »Denk dir diese Stürme, die du so gut kennst, so scheint uns der Dichter zu sagen, und du weißt etwas von Kummer und Angst. Bezeichnenderweise gilt die Umkehrung nicht. Wie lange auch jemand an Kummer und Angst denken mag, er erfährt nie etwas über die Winde und das Meer; der Vergleich soll eindeutig zeigen, was Kummer und Angst dem Menschenherzen antun können, 153 | Denktagebuch: Heft 25: Eintrag 48, April 1968, S. 680. Arendt zitiert nach: Aristoteles Ars Poetica 1459a5-8. (Vgl. Anmerkung Ingeborg Nordmann / U rsula Ludz im Denktagebuch.) 154 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 113. 155 | Ebenda, S. 113. 156 | Ebenda, S. 114.

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das heißt, er soll eine Erfahrung erhellen, die nicht erscheint.«157 Wesentlich ist die Nichtumkehrbarkeit der Metapher: Der Sturm auf dem Meer ist wie die Wirkung von Kummer und Angst, aber Kummer und Angst sind nicht wie der Sturm auf dem Meer. Bereits in ihrem Denktagebuch erwähnt sie die Nichtumkehrbarkeit der Metapher gerade an diesem Beispiel, das sie in Vom Leben des Geistes aufnimmt: »Der Vorrang des Sinnlichen in der Metapher: Wer Kummer hat und die vom Wind hin- und hergeworfenen Wellen des Meeres sieht, weiß vielleicht besser um den eigenen Kummer Bescheid. Aber das Umgekehrte ist sicher nicht der Fall. Wenn ich um meinen Kummer weiß, weiß ich um nichts besser über das windgepeitschte Meer Bescheid.«158 Aber nicht nur einfache, sondern auch erweiterte Metaphern, die auf mehr als nur eine Emotion, sondern globaler auf die versteckte Geschichte hinter den unsichtbaren Emotionen verweisen, entnimmt Arendt bei Homer: den Dialog zwischen Odysseus und Penelope vor der Erkennungsszene, als Penelope glaubt, mit einem Unbekannten zu sprechen. Sie weint über den Verlust ihres Ehemannes: »Ihre Tränen flossen und ihr Körper schmolz dahin wie der Schnee in den hohen Bergen, wo ihn der Westwind aufgetürmt hat, der Südwind aber schmilzt, der die Flüsse anschwellen lässt. Ja, die schönen Wangen Penelopes strömten Tränen aus, als sie um ihren Mann weinte, der an ihrer Seite saß.«159 Arendt bemerkt über die Wirkung der erweiterten Metapher, dass diese einen Vergleich zieht zwischen Vorgängen der Natur und Emotionen, die auf der Geschichte Penelopes beruhen. Arendt benutzt selbst eine poetische Sprache: »Das Unsichtbare, das die Metapher sichtbar macht, ist der lange Winter der Abwesenheit des Odysseus, die leblose Kälte und steinerne Härte dieser Jahre, die nun bei den ersten Hoffnungszeichen einer Erneuerung des Lebens dahinzuschmelzen beginnt. Die Tränen selbst hatten nur Kummer ausgedrückt; ihr Sinn – die Gedanken, von denen sie hervorgerufen sind – wurde in der Metapher vom schmelzenden Schnee und der Erweichung des Bodens vor dem Frühling deutlich.«160 Dieser Analyse Arendts ist zu entnehmen, dass ein Gedicht im Ganzen dieser Definition der erweiterten Metapher entspräche. Die Nichtumkehrbarkeit der Metapher gilt nicht absolut. So erkennt Hannah Arendt, dass in Friedrich Nietzsches Metaphern das Primat nicht in der Erscheinungswelt liegt, sondern im Innenleben. Die Metapher »Wille und Welle« aus der Fröhlichen Wissenschaft zeigt umgekehrt die Welt nur noch als Symbol für das Innenleben. Zuerst fasst sie die Metapher, die ähnlich wie bei Homer dem Meer zugrundeliegt, zusammen: Eine Welle kriecht in ein felsiges Geklüft, als ob dort etwas versteckt sei, das einen großen Wert hat. Die nächste Welle kriecht her157 | Ebenda, S. 111. 158 | Denktagebuch: Heft 27: Eintrag 28, Dezember 1967, S. 764. 159 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 112. 160 | Ebenda, S. 112.

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an, gieriger und wilder als die erste. »So leben die Wellen, so leben nur die Wollenden … Treibt es, wie ihr wollt, ihr Übermütigen, brüllt vor Lust und Bosheit – oder taucht wieder hinunter … werft euer unendliches Gezottel von Schaum und Gischt darüber weg – es ist mir alles recht, denn alles steht euch so gut, und ich bin euch für alles gut … denn … ich kenne euch und euer Geheimnis, ich kenne euer Geschlecht! […] Ihr und ich, wir haben ja ein Geheimnis!«161 Nach Aristoteles hat die Metapher die Fähigkeit, eine vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen herzustellen. Arendt wendet diese Analyse auf Nietzsches Metapher an: »Das Verhältnis der Wellen zum Meer, aus dem sie ohne Absicht oder Zweck hervorbrechen und eine ungeheure sinnlose Erregung stiften, ähnelt dem Aufruhr, den der Wille im Haushalt der Seele stiftet, und verdeutlicht ihn somit, stets anscheinend auf der Suche nach etwas, bis er sich legt, doch nie verlöschend, stets bereit zu einem neuen Ansprung.«162 Nach Arendt geht Nietzsche dennoch in dem Gebrauch seiner Metapher weiter: Es besteht nicht nur eine Ähnlichkeit zwischen der Emotion und dem Bild der äußeren Erscheinungswelt, das er wiedergibt, sondern Nietzsche überschreitet eine Grenze. Es findet eine Identität zwischen Emotion und Bild statt, im Unterschied zur herkömmlichen Metapher bei Homer, die bei ihm unumkehrbar ist. Bei Nietzsche seien Wille und Welle dasselbe: »Mit anderen Worten, die Erscheinungen der Welt sind bloßes Symbol für innere Erfahrungen geworden, so dass die Metapher, die ursprünglich die Kluft zwischen dem denkenden oder dem wollenden Ich und der Welt der Erscheinungen überbrücken sollte, zusammenbricht.«163 Damit nehme Nietzsche grundsätzlich Partei für den seelischen Apparat des Menschen, dessen Erfahrungen absoluten Vorrang haben. Bei Aristoteles und Homer dagegen liegt das Primat noch in der Erscheinungswelt. Von den verschiedenen bildhaften Termini findet nur die Metapher Arendts volle Anerkennung. In ihrem Denktagebuch gibt es einen Eintrag zum Symbol, der unkommentiert bleibt: »Symbol: […] Jede der beiden Hälften eines Stückes, mit deren Hilfe zwei Vertragsparteien identifiziert werden können. Von […] Zusammentreffen, -passen.«164 In Vom Leben des Geistes kommentiert sie Bildarten, die sich von der Metapher unterscheiden: So finde man bei Aristoteles Sinnbilder, wie etwa die Trinkschale des Dionysos, die für eine festliche Stimmung steht, oder bei Homer bloße Redefiguren, wie etwa »weiß wie Elfenbein«. Analogien, die zu stehenden Redensarten werden, wie »das Alter zum Leben sei wie der Abend zum Tage«, bezeichnet sie als abgenutzt. Allegorien sind für sie personifizierte Abstraktionen und würden nur von schlechten Poeten oder manchen Gelehrten gebraucht; Ide161 | Ebenda, S. 392 f. Arendt zitiert nach: Nietzsche, Friedrich: Wille und Welle (Buch 4, Aphorismus 310). In: Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft, Stuttgart, 1965, S. 206 f. 162 | Ebenda, S. 393. 163 | Ebenda, S. 393. 164 | Denktagebuch: Heft 25: Eintrag 51, April 1968, S. 681.

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altypen seien nicht völlig frei erfunden, hätten Repräsentatives an sich, so dass deren Wahrheitsgehalt fraglich sei.165 Für die überzeugende Metapher ist Wahrheit das Kriterium. Dazu gibt es sehr frühe Aussagen von 1950 in ihrem Denktagebuch (in Vom Leben des Geistes zwanzig Jahre später hat sie diese Beobachtungen nicht aufgenommen). Unter dem Stichwort »Metapher und Wahrheit« schreibt sie: »In nichts offenbart sich die eigentümliche Vieldeutigkeit der Sprache – in der allein wir Wahrheit haben und sagen können, durch die allein wir aktiv Wahrheit aus der Welt schaffen können und die in ihrer notwendigen Abgeschliffenheit uns immer im Weg ist, die Wahrheit zu finden – deutlicher als in der Metapher. So habe ich zum Beispiel ein Leben lang die Metapher ›es öffnet sich mir das Herz‹ benutzt, ohne die je dazu gehörende physische Sensation erfahren zu haben. Erst seit ich die physische Sensation kenne, weiß ich, wie oft ich gelogen habe, so wie junge Männer ahnungslos lügen, wenn sie den Mädchen sagen: Ich liebe dich. – Wie aber hätte ich je die Wahrheit der physischen Sensation erfahren, wenn die Sprache mit ihrer Metapher mir nicht bereits eine Ahnung von der Bedeutsamkeit des Vorgangs gegeben hätte.«166 Eine Metapher ist also wahr, wenn sie eindrücklich eine unsichtbare Empfindung wiedergibt, die von verschiedenen Lesern oder Hörern geteilt werden kann. Einige Tage später notiert Arendt zu derselben Metapher, wie aus dieser in einem Umkehrschluss erneut Wahrheit entsteht: »Wie die Floskel sich ins Wort zurückverwandelt, wie aus der Metapher wieder Wahrheit wird, weil die Wirklichkeit sich eröffnet hat. Wie man ohne dieses Zum-Wort-Werden den Schock der Wirklichkeit nicht aushalten könnte. In diesem Moment, wo die Wirklichkeit sich eröffnet und das Wort entsteht, um sie aufzufangen und dem Menschen erträglich zu machen, ersteht Wahrheit.«167 Arendt sollte in ihren eigenen Gedichten und Parabeln das Motiv des Herzens metaphorisch immer wieder umwandeln, um ihren Empfindungen Ausdruck zu verleihen.168 Neben diesen Metaphern für die dem Auge verborgenen Seelenzustände und Gefühle hatte Arendt einen zweiten Aspekt identifiziert, in dem die Metapher zum Tragen kommt: den Versuch, Metaphysisches, Spekulatives wiederzugeben, wie es in der Philosophie der Fall ist. In Vorbereitung zu Vom Leben des Geistes notiert Arendt 1969 in ihr Denktagebuch folgenden Eintrag: »Was Denken und Dichten verbindet, ist die Metapher. In der Philosophie nennt man Begriff, was in der Dichtung Metapher heißt. Das Denken schöpft aus dem Sichtbaren seine ›Begriffe‹,

165 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 169. 166 | Denktagebuch: Heft 2: Eintrag 22, Dezember 1950, S. 46. 167 | Ebenda, Heft 2: Eintrag 25, Dezember 1950, S. 48. 168 | Vgl. Arendts Gedichte: Dritter Teil, 1.1.1 »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet«, S. 278. Auch in: Gedichte, S. 37. | Dritter Teil, 2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur …«, S. 360. Auch in: Gedichte, S. 49 f. | Schlagend hat einst mein Herz. In: Gedichte, S. 79 | So ist mein Herz. In: Gedichte, S. 76.

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um das Unsichtbare zu bezeichnen.«169 Philosophische Begriffe sind Metaphern, um Unsichtbares bezeichnen zu können. Hans Blumenberg kommt in seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie auf die Metapher zu sprechen, welche die Rolle des Modells für Spekulationen über unbeantwortete Fragen wiedergibt. Dazu meint Arendt, dass die Berechtigung darin liege, »dass alles Denken ›überträgt‹, metaphorisch ist«.170 In Vom Leben des Geistes führt Arendt diese Analyse aus. Spekulationen, die über Erscheinungen hinaus gehen, können nur über metaphorische Ausdrücke wiedergegeben werden: »An diesem Punkt kommt die Metapher ins Spiel. Sie bewirkt die ›Übertragung‹ – metapherein – einen echten und scheinbar unmöglichen Übergang – metabasis eis allo genos – von einem existentiellen Zustand, dem des Denkens, in einen anderen, dass man Erscheinung unter Erscheinungen ist, und das ist nur mit Hilfe von Analogien möglich.«171 Arendt beruft sich auf Kant, wenn sie sagt, dass die Sprache voll von indirekten Vergleichen sei, besonders im Fall von metaphysischen Spekulationen: »Die Erkenntnisse der Metaphysik gewinnt man ›nach der Analogie, welche nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen bedeutet.‹«172 Und Arendt schließt daraus, dass nicht nur metaphysische Vorstellungen, sondern alle philosophischen Termini Metaphern seien, gewissermaßen erstarrte Analogien, deren ursprünglichen Kontext man aufzuspüren habe. In ihrem Denktagebuch, in dem sie Kants Überlegungen rezipiert hat, spricht sie konkret die Gottesvorstellungen an, die nur über Analogien wiedergegeben werden können: »Ad Metapher: Kant über Analogien: Sie müssen uns überall leiten› ›wo dem Verstande der Faden der untrüglichen Beweise mangelt.‹ (Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels). Zum Beispiel: Verhältnis Gottes zur Welt in Analogie zum Verhältnis des Menschen zu seinem Produkt. (Reflexionen zur Metaphysik, Akademie Ausgabe, XVIII, 554 m 6286; oder Prolegomena, 3. Teil, §57,

169 | Denktagebuch: Heft 26: Eintrag 30, August 1969, S. 728. 170 | Ebenda, S. 728. | Sigrid Weigel bemerkt, dass diese letzte Feststellung, »alles Denken sei metaphorisch,« nicht bedeutet, dass Arendt das Verhältnis von Philosophie und Literatur in der Analogie von Begriff und Metapher begreife, sondern »die Bildlichkeit oder Figurativität der Sprache als fundamentale Voraussetzung jeden Denkens« reflektiere. Und sie führt aus: »Dieselben Worte können als Begriffe oder Metaphern verstanden werden, nur dass ihre Bezeichnung als Metapher das Moment der Übertragung reflektiert, das ihnen stets eingeschrieben ist – zumindest dort, wo es um die Bezeichnung von Unsichtbarem geht.« Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Denktagebuch. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 125-137, hier S. 132. 171 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 2008, S. 108. 172 | Ebenda, S. 108. (Hervorhebungen Hannah Arendt).

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S. 233)«173. Und schließlich: »Schon in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes 174 meint Kant, dass das Analogisieren ›für den Philosophen ein … wichtiger Gegenstand des Nachdenkens‹ sei, nämlich ›wie solche Übereinkunft sehr verschiedener Dinge in einem gewissen gemeinschaftlichen Grunde der Gleichförmigkeit so groß und weitläufig und doch zugleich so genau sein könne.‹«175 Die Tatsache, dass Gott nicht beweisbar ist, bedeutet nicht, dass es keine Metaphysik gibt. Dennoch kann nach Arendt über Gott nur spekulativ in Analogien gesprochen werden. Was gehört nun zu den metaphysischen Spekulationen? Anhand von Kurt Riezlers Homerischen Vergleich und die Anfänge der Philosophie 176 erläutert Arendt die Vorstellung einer Einheit von Welt und Seele, die nur existieren kann, wenn es einen göttlichen Plan gibt. Gerade die Metapher, welche die Außenwelt auf die Innenwelt überträgt, schaffe dabei diese Einheit. Der Vergleich ermögliche dem Dichter oder dem Denker, »die Seele als Welt und die Welt als Seele darzustellen«, wie Arendt bereits bei Nietzsche festgestellt hat. Arendt beruft sich auf Riezler: »Hinter dem Gegensatz von Welt und Seele müsse es eine Einheit geben, die die Entsprechungen möglich mache, ein ›unbekanntes Gesetz‹, wie es Riezler mit Goethe nennt, das ebenso in der Sinnenwelt wie im Reich der Seele besteht. Es ist die nämliche Einheit, die alle Gegensätze verbindet – Tag und Nacht, Licht und Finsternis, Kälte und Wärme – deren jeder für sich allein undenkbar ist; er muss auf geheimnisvolle Weise mit seiner Antithese in Verbindung stehen.«177 Diese verborgene Einheit ist eine der Grundströmungen der Philosophie seit Heraklits koinos logos oder Parmenides’ hen kai pan – es gehe um philosophische Wahrheit, die um Einheit kreist. Und Arendt zitiert Heraklit nach Riezler: »Gott ist Tag 173 | Denktagebuch: Heft 25: Januar 1968, Eintrag 34, S. 674. Arendt zitiert nach: Kant, Immanuel: (Vgl. Anmerkung Ursula Ludz / I ngeborg Nordmann Denktagebuch.) | Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt (1755), A 116. In: Kant: Werke, Bd. 1, Weischedel, S. 219-400, S. 336. Handschriftlicher Nachlass V: Metaphysik, 2. Teil. In: Kant; Gesammelte Schriften (Akademie) m Bd. 18, S. 554, Nr. 6286, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), Hannah Arendts Seitenhinweis bezieht sich hier wie bei allen folgenden Zitaten auf den Abdruck in der Weischedelschen Werkausgabe, dort Bd. 5. (Vgl. Anmerkung Ursula Ludz /  I ngeborg Nordmann im Denktagebuch.) 174 | Denktagebuch: Heft 25: Januar 1968, Eintrag 34, S. 674. Arendt zitiert nach: Kant, Immanuel: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Dasein Gottes (1763, 1779, 1783). In: Kant, Werke (Weischedel), Bd. 2, S. 619-738, hier S. 702. (Vgl. Anmerkung Ursula Ludz / I ngeborg Nordmann im Denktagebuch.) 175 | Denktagebuch: Heft 25: Januar 1968, Eintrag 34, S. 674. 176 | Vgl. das Zitat Arendts in: Arendt, Hannah: Vom Lebens des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 112 f. 177 | Ebenda, S. 112.

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Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger (lauter Gegensätze, er ist das nous); er wandelt sich aber gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach dem Duft eines jeglichen heißt.«178 Arendt pflichtet Riezler bei, dass die Philosophie bei der Dichtung, bei Homer in die Schule gegangen sei. Die zwei bekanntesten Gedankenparabeln seien ganz dichterisch: Parmenides’ Reise zu den Toren von Tag und Nacht und Platons Höhlengleichnis. Und sie kommt auf Heidegger zu sprechen, der dichterische Sprache in der Philosophie verwendet: »Das deutet mindestens an, wie recht Heidegger hatte, als er Dichtung und Denken enge Nachbarn nannte.«179 Arendts eigene Haltung scheint kritisch zu sein. Sie geht nicht von zwei dialektischen Welten aus, die zu einer Einheit zwischen Welt und Seele führen könnten, sondern von der Sprache. Ihr ist bewusst, dass die Metapher diese Einheit schafft. Und weiter: »Die Zwei-Welten-Theorie ist, wie ich schon sagte, eine metaphysische Täuschung, wenn auch keineswegs eine willkürliche oder zufällige; es ist die einleuchtendste Täuschung, mit der die Erfahrung des Denkens geschlagen ist. Indem sich die Sprache metaphorisch gebrauchen lässt, ermöglicht sie uns das Denken, d. h. den Umgang mit nichtsinnlichen Dingen, weil sie eine Übertragung (metapherein) unserer Sinneserfahrung ermöglicht. Es gibt nicht zwei Welten, denn die Metapher vereinigt sie.«180 Über metaphysische Fragen kann also nur metaphorisch gesprochen werden. Diese Fragen sollten aus Gründen der Nichtbeweisbarkeit mit kritischer Distanz betrachtet werden: »Man hätte ja nichts gegen die Metapher, wenn man sie in dem Sinne präsentiert bekäme, dass es sich um Spekulationen über etwas Unbekanntes handle – so wie in früheren Jahrhunderten anhand von Analogien über Gott spekuliert wurde.«181 Thema der Philosophie sind nach Arendt Dinge, die der menschlichen Erkenntnis nicht zugänglich sind, aber welche die menschliche Vernunft umtreibt. Transzendenz lässt sich sprachlich nur begrenzt fassen: Platons Staunen; Aristoteles’ Ohnmacht der Worte; Nietzsches Feststellung, dass sich seine Philosophie nicht mitteilen lasse; Heidegger, der meinte, dass das sagbare Wort aus dem Unsagbaren seine Bestimmung erhalte; und schließlich Wittgenstein, dessen Werk um das Unsagbare kreist, das ohne Metaphern festmachen will. Nach Arendt ist Wittgensteins Grenze die Sprache, seine Philosophie ein Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die Mittel der Sprache – »die Schwierigkeit ist natürlich dies, dass dieser Kampf wiederum nur mittels der Sprache verfochten werden kann.«182

178 | Ebenda, S. 113. 179 | Ebenda, S. 113. Gemeint ist: Heidegger, Martin: Die Erfahrung des Denkens, Bern, 1947. 180 | Arendt, Hannah: Vom Lebens des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 114. 181 | Ebenda, S. 117. 182 | Ebenda, S. 120.

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Dagegen steht Platon, der als erster Philosoph die Möglichkeiten der dichterischen Sprache voll ausschöpfte. So wie eine gute Metapher bei ihrer Übertragung dem Seelenleben emotionale Wahrheit vermitteln kann, so kann eine gute Metapher für Spekulationen transzendentale Wahrheit wiedergeben. Da es keine materielle Beweisbarkeit Gottes gibt, existiert dieser nur spekulativ im Denkvorgang. Worte können Gott nicht wiedergeben, nur beim Menschen den Moment der Wahrheit, den Moment der Erleuchtung: Diesem kann man sich metaphorisch annähern. Konkret heißt das: Arendt geht von der Wahrnehmung des Menschen aus. Als Beispiel gibt sie einen Auszug Platons aus dem Siebten Brief an: Zuerst findet die Wahrnehmung statt, dann wird diese in Sprache und in ein Bild verwandelt, das nur die Seele sehen kann. Dabei ist das Bild nicht identisch einem anderen mitteilbar, es entspricht nicht der ersten Wahrnehmung. Der Geist erfasst zum Beispiel das Wesen des Kreises, das sowohl verschieden vom realen Kreis ist, den die Sinne wahrgenommen haben, wie auch von den Kreisen, die nach der sprachlichen Erklärung gezeichnet werden: »Dieser Kreis in der Seele wird vom Geist (nous) wahrgenommen, der ›ihm am verwandtesten und ähnlichsten ist.‹ Und allein diese innere Anschauung kann man Wahrheit nennen.«183 Welche Metaphern geben nach Arendt Wahrheit im Augenblick des Denkens adäquat wieder? Eine metaphorische Übertragung ist die »Blitzartigkeit«: »Diese Anschauung stellt sich ›plötzlich ein, wenn eine blitzartige Erkenntnis (phronesis) bezüglich aller Dinge einschlägt und der Geist … voller Licht ist.‹ Diese Wahrheit lässt sich nicht in Worte fassen; die Namen, von denen das Denken ausgeht, sind unzuverlässig, (…) und Worte, jene durchdachte Rede, die erklären möchte, sind ›schwach‹, sie bieten lediglich ›ein wenig Anleitung‹, um in der Seele, wie von einem übersprungenen Funken, ein Feuer zu entfachen, das, einmal in Gang gekommen, sich selbst am Leben erhält.«184 Spekulationen über Gott müssen unaussprechlich bleiben. Metaphern für eine metaphysische Erleuchtung seien zwar niemals ganz vollkommen, doch manche nähern sich der Wahrheit an. Beispiele für gelungene Metaphern findet Arendt bei Heidegger und Benjamin: Neben Heideggers »Blitz« ist sie später vom »Geläut der Stille« beeindruckt;185 bei Benjamin überzeugt sie die Darstellung der Erleuchtung als »Wahrheit, die vorüberhuscht.«186 Besonders Heideggers »Geläut der Stille« ist für Arendt die 183 | Ebenda, S. 121. 184 | Ebenda, S. 122. 185 | Heideggers »Geläut der Stille« nimmt sie in einem eigenen Gedicht wieder auf: In Helle scheint / in jeder Tiefe benutzt sie zwei Verse, die dieses Paradox von Laut und Stille wiedergeben: »Laut ertönt in jeder Stille« und »Töne singen jedes Schweigen« verweisen auf Transzendentales hin, das aber im Unterschied zu Heideggers Philosophie des Seins, die eine Antwort gibt, bei ihr bewusst offengehalten wird: Im »Ungewissen dunkelt still das letzte Zeigen.« Vgl. Arendt, Hannah: Helle scheint / in jeder Tiefe. In: Gedichte, S. 67. 186 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 126.

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engste Annäherung an Erleuchtung, die man im Denken erlangt, denn diese Metapher für den Denkvorgang ist dem Gehörsinn entnommen und stellt den unbeweglichen Geisteszustand reiner Rezeptivität dar. Spekulationen des Denkens über Gott müssen bildlos bleiben, doch dem Hörsinn kommt Bedeutung zu. So stellt Arendt fest, dass etwa in der jüdischen Tradition die Leitmetapher nicht das Sehen, sondern das Hören ist – den jüdischen Gott kann man hören, aber nicht sehen, die Wahrheit ist unsichtbar (man soll sich kein Bild von Gott machen, weder im Himmel noch auf Erden).187 Neben dem Gehörsinn, dem Blitz und dem Huschen der Wahrheit gibt es eine weitere Erfahrung des Denkens: »Die einzig denkbare Metapher für das Leben des Geistes ist die Empfindung des Lebendigseins. ›Ohne den Lebenshauch ist der menschliche Körper ein Leichnam; ohne das Denken ist der menschliche Geist tot.‹«188 Arendt versuchte selbst, diese Lebendigkeit beim Denken, diesen Prozess der Erleuchtung in eigenen Gedichten wiederzugeben.189 Ihre theoretischen Aufzeichnungen über die Metapher und das Unsagbare in Vom Leben des Geistes sind etwa zehn Jahre älter als ihre letzten dichterischen Versuche. Die Schlussnote zu metaphorischen Übertragungen, mit denen das Denken wiedergegeben werden könnte, endet pessimistisch: »Mit anderen Worten, die Hauptschwierigkeit scheint hier die zu sein, dass es für das Denken selbst – dessen Sprache rein metaphorisch ist und dessen theoretisches Gerüst völlig auf der Fähigkeit zur Metapher beruht, die die Kluft zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren der Welt der Erscheinungen und dem denkenden Ich überbrückt –, dass es für das Denken selbst keine Metapher gibt, die diese besondere Geistestätigkeit einleuchtend veranschaulichen könnte, bei der sich etwas Unsichtbares in uns mit dem Unsichtbaren in der Welt beschäftigt.«190

1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin So groß die politischen und menschlichen Unterschiede zwischen Martin Heidegger und Walter Benjamin gewesen sein mögen,191 so dürfte dennoch die 187 | Vgl. Ebenda, S. 123. 188 | Ebenda, S. 128. Arendt zitiert nach: Aristoteles: Metaphysik, 7. Kapitel (vgl. Anmerkung Mary McCarthy in Vom Leben des Geistes). 189 | Vgl. Gedichte Arendts: Dritter Teil, 2.1.1 »Herr der Nächte«, S. 323. Auch in: Gedichte, S. 41. | Dritter Teil, 2.1.2 »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt«, S. 330. Und in: Gedichte, S. 54. | Helle scheint /  i n jeder Tiefe. In: Gedichte, S. 67. | Der Sturz im Flug gefangen. In: Gedichte, S. 83. 190 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 127. 191 | Arendt macht eine klare moralische Unterscheidung zwischen Benjamin und Heidegger. In der ersten, von ihr selbst herausgegebenen Fassung von Menschen in finsteren Zeiten, Men in dark times, kam Heidegger nicht vor. Die Autoren, deren Licht das Dunkel der

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Annahme nicht verfehlt sein, dass Hannah Arendt in beiden poetische Denker gesehen hat, die versucht haben, das Unsagbare oder Transzendente dichterisch wiederzugeben. Sie kannte beide persönlich, und dem Umgang mit ihnen hat sie unmittelbar entnommen, dass ihre Denkweisen auf Bildern und Metaphern beruhten, auf einer Fähigkeit mithin, die sie sehr an ihnen geschätzt hat. Benjamin kategorisiert sie in ihrem Essay von 1967 eindeutig als poetischen Denker,192 aus vereinzelten Aussagen in ihren Briefwechseln, ebenfalls aus dem Benjamin-Essay und aus ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes lässt sich entnehmen, dass sie zu diesem Schluss auch bei Heidegger gekommen ist.193 Zeiten erhellt, sind: Benjamin, Brecht, Rosa Luxemburg, Karl Jaspers, Kafka und Lessing. Darauf weist Weissberg hin: Vgl. Weissberg, Liliane: On friendship in dark times: Hannah Arendt reads Walter Benjamin. In: Literary paternity, literary friendship (Hg. Richter, Gerhard), Chapel Hill, London, 2002, S. 278-293, hier S. 280. 192 | Vgl. Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 179-236. Auch in: Arendt, Hannah: Walter Benjamin – Bertolt Brecht, München, 1971. 193 | In dieser Arbeit wird aufgezeigt, wie Arendt bestimmte Autoren einschätzt. Ihr Vergleich zwischen Benjamin und Heidegger wird in der Sekundärliteratur kritisiert. Um Objektivität bemüht, werden die Aussagen synthetisiert: | Vgl. Detlef Schöttker und Erdmut Wizisla äußern sich in ihrem Vorwort zum Dokumentationsband über Arendt und Benjamin kritisch, was Arendts Gleichsetzung von Benjamin mit Heidegger betrifft. Besonders deren Definitionen von Geschichte gingen auseinander. Benjamin habe seine Idee der Geschichtsaneignung bereits sehr früh von derjenigen Heideggers abzugrenzen versucht: Schon im November 1916 habe er über Heideggers Antrittsvorlesung (Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft) geschrieben, dass er mit Heideggers Definition der »historischen und mechanischen Zeit« nicht einverstanden sei, wonach die Quelle mit der historischen Wirklichkeit gleichgesetzt werde dürfe, sondern dass die Quelle die Wirklichkeit erst erzeuge. 1930, nachdem Sein und Zeit erschienen war, beabsichtigte Benjamin gemeinsam mit Brecht, Heideggers Definitionen zu destruieren: »Benjamins Konzeption einer Rettung der Vergangenheit durch Destruktion ihrer Überlieferung, die in den erkenntnistheoretischen Notizen des Passagen-Werks skizziert ist […] und in den Thesen Über den Begriff der Geschichte weitergeführt wird, orientiert sich durchaus an der Destruktion von § 6 von Sein und Zeit, verändert sie aber« (S. 28): Benjamin gehe es um das »Jetzt der Erkennbarkeit«, um die Erkenntnis der Gegenwart: »Er skizziert diese Intention unmittelbar nach dem Heidegger-Hinweis wie folgt: ›Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern das Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.‹« (S. 29.) Nach Schöttker und Wizisla hat Arendt den Unterschied zwischen der gegenwartsbezogenen Intention Benjamins und der historischen Intention Heideggers in ihrem Essay über Benjamin eliminiert. Wizisla, Erdmut /  S chöttker, Detlef (Hg.): Hannah Arendt und Walter Benjamin. Konstellationen, Debatten, Vermittlungen. In: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt / M ain, 2006, S. 11-44. | Vgl. Thomas We-

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ber zu Arendts Essay über Benjamin: Weber stellt fest, dass Arendt Benjamins Denken aus dem Marxismus entstelle. In Brecht und die Polemik der Dialektik kommt er auf Arendts Bemerkung zurück, dass Brechts und Benjamins dialektisches Verfahren »plump« sei, wobei sie es positiv als realitätsbezogenes Denken umdeutet und in Beziehung zum dichterischen Denken setzt In Lob des Elitären oder der Flaneur als Engel der Geschichte wirft er Arendt vor, Benjamin eine identifikatorische Lektüre zu unterlegen (S. 284 f.). In Der Sammler oder die Polemik gegen das Nützliche stimmt er mit Arendt nicht überein, wenn sie das Sammeln als Unterhaltung für kleine Kinder und reiche Leute ansehe und gleichzeitig die Abwendung von Zweck-Mittel-Kategorien als revolutionär bezeichne – wobei Weber feststellt, Benjamin habe darin ein privates, asoziales Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft gesehen (vgl. S. 286 f.). In Zweierlei Traditionsbruch kritisiert er, wie Schöttker und Wizisla, Arendts Gleichsetzung mit Heidegger. Es gebe nur formal-gestische Gemeinsamkeiten zwischen beiden: »Bekanntlich will Heidegger seine in Sein und Zeit versuchte ›Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie‹ nicht im ›negativen Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition‹ verstanden wissen; die Destruktion will ›nicht die Vergangenheit in Nichtigkeit begraben, sie hat positive Absicht‹, nämlich ›die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden‹, freizulegen. Dazu ›bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen‹: Ihre negierende ›Kritik trifft das Heute‹ und die herrschende Behandlungsart der Geschichte der Ontologie, mag sie doxiographisch, geistesgeschichtlich oder problemgeschichtlich sein.« (S. 289.) Bei Heidegger stehe das »Hören der Überlieferung« im Vordergrund, bei Benjamin dagegen die Absage an jegliche Tradition, wobei es ihm vor allen Dingen um »Destruktion der herrschenden Überlieferungsgeschichte als katastrophales Kontinuum der Herrschenden und ›Eingedenken‹ und Rekonstruktion der ›Taten der Unterdrückten‹ gehe.« Weber, Thomas: »Der seltsamste Marxist?« Hannah Arendts Benjamin-Porträt. In: Das Argument, Jg. 45, Nr. 249-253, S. 282-290, hier S. 282-290. | Vgl. Jean-Michel Palmier: Er hat eingehende biographische Untersuchungen darüber angestellt, über welche Kontakte sich Arendt und Benjamin kennengelernt haben, wie diese Personen ideologisch zu verorten sind und wie das zu verschiedenen Diskussionspunkten geführt haben mag. Palmier stellt fest, dass Arendt in ihrem Essay über Benjamin in erster Linie ihre Privaterfahrung mit Benjamin mitteilte, die ebenso subjektiv sei wie ihre Abneigung gegen das Frankfurter Institut: »L’hostilité profonde qu’elle vouait aux membres de l’Institut de Francfort ne la rend pas toujours objective. Elle simplifie considérablement la richesse de leurs rapports, ne semble pas comprendre que les conflits théoriques qui opposaient Benjamin et Adorno furent un stimulant permanent dans la production de Benjamin. Le rapprochement qu’elle tente dans son essai sur Benjamin, de sa philosophie du langage avec celle de Heidegger, rapprochement qui repose sur des analogies superficielles et dénuées de tout fondement, illustre aussi son désir de restreindre le lien de Benjamin au marxisme. Voulant unir deux figures qui ont marqué son itinéraire et sa vie, Hannah Arendt ignore volontairement que Benjamin avait fait le projet, avec Brecht, de critiquer Heidegger.« Palmier, Jean-Michel: Hannah Arendt / Walter Benjamin. Une rencontre insolite. In: Magazine Littéraire: Hannah

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In Vom Leben des Geistes fasst sie den Vorrang des Hörens vor dem Sehen nochmals als metaphysische Frage zusammen: Die Philosophie benutze normalerweise das Sehen als Modellfall der Wahrnehmung, als »Schau des Wahren«. Das Sehen könne allerdings die Außenwelt ausblenden, so dass in der metaphysischen Tradition, besonders in der jüdischen, das Hören die Leitmetapher für das Denken sei: Gott wird gehört, aber nicht gesehen. Und sie nimmt auf Heideggers spätere Schriften Bezug, als er schreibt, dass das denkende Ich den Ruf des Seins hört.194 Bereits in ihrem Essay über Walter Benjamin spricht sie diesen Vorrang des Hörens an, der bei beiden, Benjamin wie Heidegger, eine Rolle spielt: »Wahrheit, wie man in der Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels nachlesen kann, gilt ihm als ein ausschließlich akustisches Phänomen […]. Tradition war daher die Form, in welcher diese nennenden Worte überliefert wurden – auch sie ein akustisches Phänomen, eine ›Überlieferung‹, wie Heidegger sagt, in der es ›gilt … zurückzuhören.‹«195 Mithin ist Wahrheit bei Benjamin wie Heidegger eine akustische Offenbarung, die »vernommen werden muss«: »Sprache war also für Arendt. Philosophe et politique. Nr. 337, Paris, November 2005, S. 33-36, hier S. 35. | Vgl. Seyla Benhabibs Essay über den Einfluss Benjamins auf Arendt und Adorno. Sie geht über die persönlichen Animositäten der beiden Denker hinweg und sieht Parallelen beim Ausgangspunkt des Denkens von Hannah Arendt und Theodor W. Adorno, die von Benjamin herrühren: »Beide waren zutiefst überzeugt, dass es galt, jenseits der traditionellen philosophischen Schulen und Methoden ›neu zu denken‹. Es ist dieser Versuch, ›neu zu denken‹, den ich als ihr ›Benjaminsches Moment‹ bezeichnen möchte. Kurz gesagt: Sowohl Arendt als auch Adorno kamen zu der Überzeugung, dass das Denken sich von der Macht ›falscher Universalien‹ befreien muss. Dies bedeutet nicht nur, geschichtliche Teleologien zurückzuweisen, sondern schließt die kategorische Kritik aller philosophischen Versuche der Verallgemeinerung und Systematisierung auf einer noch grundsätzlicheren Ebene mit ein. Für Arendt kann ehrliches Denken nur in ›Fragmenten‹ gelingen. Für Adorno muss das Denken der Versuchung widerstehen, seinen Gegenstand zu überwältigen, und ihm stattdessen Raum geben, zum Vorschein zu kommen und sich gegenüber dem epistemischen Imperialismus der Subjektivität zu behaupten. […] Die von beiden geübte Kritik an den falschen Universalien ermöglicht es dem Denken, sich der ›Flüchtigkeit des Partikularen‹ zu stellen, und führt sowohl Arendt als auch Adorno zu einer Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft.« Benhabib, Seyla: Arendt und Adorno. Die Flüchtigkeit des Partikularen und das Benjaminsche Moment. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 89, Berlin, 2011, S. 655-678, hier S. 658. 194 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 115. 195 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1989, hier S. 179-236, hier S. 234. Arendt zitiert nach Heidegger: Hegel und die Griechen. In: Heidegger, Martin: Die Gegenwart der Griechen in meinem Denken: Festschrift für Hans Georg Gadamer, Tübingen, 1960, S. 53. (Vgl. Anmerkung Ursula Ludz in Menschen in finsteren Zeiten.)

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ihn [Benjamin] keineswegs primär die den Menschen unter anderen Lebewesen auszuzeichnende Sprechbegabung, sondern im Gegenteil das ›Weltwesen …, aus dem das Sprechen hervorgeht.‹ Dies kommt der Heideggerschen Position: ›Der Mensch kann nur sprechen, insofern er der Sagende ist‹, sehr nahe, nur dass für Benjamin das Sagen zwar auch ›erscheinen‹, aber nicht ›sehen-lassen‹ würde.«196 In Heideggers Schriften hebt Hannah Arendt die enge Verbindung zwischen Sprache und metaphysischer Spekulation hervor. So rezipiert sie im November 1951 in ihrem Denktagebuch eine Passage aus Heideggers Bauen-Wohnen-Denken: »Die Sprache bleibt die Herrin des Menschen. Vielleicht ist es vor allem anderen die vom Menschen betriebene Verkehrung dieses Herrschaftsverhältnisses, was sein Wesen in das Unheimische jagt.« Das bedeutet, dass Sprache vor dem Menschen existiert, der Ursprung der Sprache nicht beim Menschen liegt. Arendt kommentiert den Auszug fragend: »Warum Herrschaftsverhältnisse ? […] Und ist die ›ursprüngliche‹ Sprache göttlichen Ursprungs, Gottes Wort, dem der Mensch in der Entwicklung des Wortes zur Sprache gehorsam oder ungehorsam sein kann? Soll dieses ›ursprüngliche Wort‹ […] den Maßstab des Denkens abgeben, und zwar außermenschlicher, ›übermenschlicher‹ Maßstab?«197 Damit wäre Heidegger ein metaphysischer Denker, dessen Sprache von einer Transzendenz, dem Sein, gesteuert wird. In Vom Leben des Geistes kommt sie auf Heideggers metaphyisches Verhältnis zur Sprache zurück: In Sein und Zeit ging es um die Analyse des Seins des Menschen, mit der »Kehre« (Humanismus-Brief) gibt er diesen Ansatz auf: Es geht nicht mehr um das Dasein des Menschen, vielmehr ist das Sein als Ontologie eine übergeordnete, seinsgeschichtliche Instanz, die den Menschen definiert: Das Denken wird das Denken des Seins, der Mensch hört dem stummen Anspruch des Seins zu, »die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind«.198 Die »Kehre« hat also zwei Konsequenzen: Erstens »denkt es« durch das Sein: »Einmal ist das Denken nicht mehr ›subjektiv‹. Natürlich würde das Sein nie offenbar, wenn es nicht vom Menschen gedacht würde; es ist angewiesen auf den Menschen, der ihm ein Haus bietet: ›Die Sprache ist das Haus des Seins‹. Doch was der Mensch denkt, das entspringt nicht seiner eigenen Spontaneität oder Kreativität; es ist die gehorsame Antwort auf den Ruf des Seins.«199 Damit verändert sich zweitens das Verhältnis zur Welt: die Seinsvergessenheit bedeutet, dass die Gegenstände des Menschen vom Sein ablenken: »Und das zweite: die Gegenstände, in denen die Erscheinungswelt dem Menschen gegeben ist, len-

196 | Ebenda, S. 235. Arendt zitiert nach Heidegger: Hegel und die Griechen, S. 55. 197 | Denktagebuch: Heft 6: November 1951, Eintrag 21, S. 143 f. 198 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 401. 199 | Ebenda, S. 402.

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ken ihn ab vom Sein, das sich hinter ihnen verbirgt – ganz ähnlich wie man vor Bäumen den Wald nicht sieht, der doch von außen gesehen, aus ihnen besteht.«200 Eine der wichtigsten Tätigkeiten des Denkens wird bei Heidegger das An-denken. Und hier findet eine Überschneidung zur Lyrik statt: Es geht um metaphysisches Denken, das Sein spricht durch den Menschen auf poetische Weise im Andenken. In Arendts eigener Lyrik ist das Andenken ebenfalls ein Motor; allerdings geht es um konkrete Erinnerungen, die sich durch einen Anfang im Menschenleben auszeichnen, und nicht um Metaphysik.201 Einen Beginn gibt es bei Heidegger nicht: »Der Wille hat den Anfang nie zu eigen gehabt, hat ihn wesenhaft je schon verlassen durch das Vergessen.«202 Arendts Briefwechsel mit Heidegger ab 1950, als er ihr viele Gedichte zukommen ließ, gibt weiteren Aufschluss: Einen wesentlichen Bestandteil des Briefwechsels bildete ein Austausch über Sprache. So schreibt ihr Heidegger kurz nach dem Treffen im Februar 1950 von einer Stimme, die von außen komme: »Hören befreit. Dass Du der Stimme folgtest, löst alles ins Gute und verschenkt die neue Gewähr der retractatio.« Und er spricht von Emotionen die dieses Treffen in ihm sprachlich auslösen, so als ob auch hier die Sprache von außen kommt und nicht aus seiner Psyche stammt: »Das Gute bedarf der Güte des Herzens, die sieht, weil sie schon alles ab-gesehen hat auf die Rettung des Menschen in sein Wesen; der unergründliche Sinn des […] gewahrten Blickes; lauter Wunder der Sprache, die denkender als wir, das französische re-garder.«203 Im gleichen Zeitraum, schickte Heidegger Arendt seine Schriften aus den 1940er-und 1950er- Jahren, die sich auf poetische Weise mit Sprache und Literatur beschäftigen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Denken und Dichten,204 »… dichterisch wohnet der Mensch …«,205 Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung,206 »Gedachtes / Pensivement«,207 »Georg Trakl: Eine Erörterung seines Gedichtes«208 so200 | Ebenda, S. 402. 201 | Vgl. den zweiten Teil, 2.2.3 Thematik der Dichtung: Erinnerung im Andenken, S. 251. 202 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 402. 203 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 51: Heidegger an Arendt, Freiburg, 15.2.1950, S. 81. 204 | Vgl. Heidegger, Martin: Denken und Dichten. In: Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 50, 1990, S. 90-160. 205 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt: Heidegger, Martin: »… dichterisch wohnet der Mensch …« (Vortrag Bühlerhöhe, 6.10.1951), Durchschlag des maschinenschriftlichen Textes mit handschriftlicher Widmung. 206 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt: Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944), Arendts Exemplar von 1971 mit handschriftlicher Widmung. 207 | Vgl. Heidegger, Martin: »Gedachtes  / P ensivement«. Für René Char in freundschaftlichem Gedenken. In: Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 13, S. 221-224. 208 | Vgl. Heidegger, Martin: Georg Trakl: Eine Erörterung seines Gedichtes (Vortrag Bühlerhöhe, 7.10.1952). In: Merkur 7, Heft 3, 1953, S. 226-258.

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wie Unterwegs zur Sprache.209 Erster Anlass mag ein Gespräch zwischen Arendt und Heidegger bei ihrem Wiedertreffen 1950 gewesen sein. Wiederholt spricht er sie in seinen Briefen auf ihren Austausch über Sprache an: Er entwickelte zu diesem Zeitpunkt Unterwegs zur Sprache. Leider sind Arendts Briefe aus dieser Phase nicht erhalten. Im Mai 1950 schreibt er: »Die Sprache enthält mein Denken an die Sprache; es ist keine Philosophie darüber. Aber Du erinnerst Dich; wir sprachen auf einem Gang ins Waldtal von der Sprache.«210 Und im November 1950, nachdem er es im Oktober in einer ersten Kurzfassung unter dem Titel »Die Sprache« zur Gedenkfeier von Max Kommerell vorgetragen hatte, berichtet er über Vorarbeiten zu diesem Buch aus den Jahren 1938 / 39. Es gehe ihm um einfache Zusammenhänge, um unmittelbare Darstellung. Er bezieht Arendt mit ein: »Oft denke ich, wie schön und fruchtbar es wäre, ein günstiges Gespräch mit Dir von all dem als Geschenk zu haben. Das Geschriebene wird sogleich steif und halbseitig, auch wenn Du es aus Deinem Vor-Denken zu ergänzen vermagst.«211 Wie unterschiedlich die Persönlichkeiten von Heidegger und Jaspers sind, kommt in einem weiteren Brief klar zum Ausdruck: »[E]infache Zusammenhänge und unmittelbare Darstellung« sind nicht mit Mitteilbarkeit und Vernunft im zwischenmenschlichen Bereich zu verwechseln. Die »unmittelbare Darstellung« ist die künstlerische Darstellung des Unsagbaren, die über Kommunikation nicht vermittelbar ist: »Die oft durchdachten Sachen werden immer geheimnisvoller. So kommt es noch dahin, dass wir im Sagen eines Tages das ganz Unverständliche wagen müssen, ohne uns um die immer handgreiflicher um sich greifende Verständlichkeit zu kümmern.«212 Dieses Buch über Sprache nennt Heidegger zwei Monate später einen Versuch zum Verhältnis von »Denken und Dichten.«213 Anhand eines Streites mit dem Romanisten Hugo Friedrich lässt sich Hannah Arendts Haltung zur künstlerischen Darstellung des Unsagbaren bei Hei209 | Vgl. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, 1959. 210 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 64: Heidegger an Arendt, Meßkirch, 16.5.1950, S. 109. | In einem späteren Brief spielt er erneut auf dieses Gespräch an, das ein gemeinsames Terrain nach den vielen Jahren bilden sollte: »Dann denke ich oft an unser Gespräch über die Sprache auf dem Weg zur Birke (das Tal liegt zwischen den Bergen und grüßt und grüßt-).« Ebenda, Brief 74: Heidegger an Arendt, Freiburg, 14.7.1951, S. 127. 211 | Ebenda, Brief 70: Heidegger an Arendt, Meßkirch, 2.11.1950, S. 119. 212 | Ebenda, Brief 72: Heidegger an Arendt, Freiburg, 6.2.1951, S. 124. 213 | Ebenda, Brief 73: Heidegger an Arendt, Freiburg, 1.4.1951, S. 126. | Liliane Weissberg weist darauf hin, dass bei Heidegger »Denken und Dichten« einen völkischen Charakter besitzt. Vgl. Weissberg, Liliane: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin. In: Hölderlin in der Moderne (Hg. Vollhardt, Friedrich), Berlin, 2014, S. 121-125. | Natürlich ist in Hannah Arendts Konzeption von Dichtung in keiner Weise eine nationalistische Auffassung zu finden. Arendt erkannte in Heidegger einen dichterischen Denker, da er in Metaphern im literarischen Sinn denken konnte. Vgl. dazu den zweiten Teil, 2. Einleitung: Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger, S. 199.

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degger ablesen. Bereits 1952 hatte sie, nachdem sie Heideggers Vortrag »… dichterisch wohnet der Mensch …« gehört hatte, an Blücher geschrieben, dass Heidegger in der dichterischem Domäne seinen Ausdruck gefunden habe: »Es ist, als ob er seine Mitte so sicher gefunden hat, dass er jederzeit anfangen kann, überall, alles hängt zusammen, und nichts setzt das andere voraus. Weder Willkür noch Notwendigkeit des Anfangs, sondern wirkliche Freiheit.«214 Ein halbes Jahr später berichtete Heidegger ihr, dass er auf der Bühlerhöhe einen Vortrag über Trakl gehalten habe, zu dem auch Ludwig von Ficker, der ehemalige Herausgeber Trakls, erschienen war.215 Dieser Vortrag war nun Gegenstand eines Disputs zwischen Arendt und Hugo Friedrich. 1950 hatte Arendt Kontakt zu Friedrich aufgenommen, den sie aus ihrer Studienzeit kannte und der das Treffen zwischen ihr und Heidegger vermittelt hatte. Als Literaturwissenschaftler lehnte Hugo Friedrich Heideggers Interpretationsmethode von Gedichten ab. So beendete er im März 1953 einen Brief an Arendt mit einem ironischen Hinweis auf Heidegger: »Haben Sie Heideggers neuen Aufsatz über Trakl zu Gesicht bekommen? Der ist allerdings nicht mehr begreiflich. Lauter Tempelweihe und Seinsgeraune; die Dichtung aber, die er interpretiert, liegt am Ende mit dreifach gebrochenem Genick am Boden; denn der Grundsatz des Interpretierens ist: alles heißt anders als es heißt. Kennen Sie das böse Wort von Ortega über Heidegger?: ›el ventrilocuo (Bauchredner) de Hölderlin‹.«216 In ihrem Denktagebuch notiert Arendt ihre Antwort an Friedrich, die sie einige Monate später ausformuliert per Post an ihn schicken wird. Das spezifisch Unausgesprochene wird hier umschrieben als das »Eine, das unsagbar« ist: »Das Neue besteht im Folgenden: Heidegger nimmt nicht nur an (was andere vor ihm taten), dass jedes Werk ein ihm spezifisch Unausgesprochenes in sich trägt, sondern dass dies Unausgesprochene seinen eigentlichen Kern bildet (psychologisch gesprochen der Grund seines Entstehens ist: Weil dies Eine unsagbar war, wurde alles Andere geschrieben), also gleichsam der leere, in der Mitte liegende Raum, um den sich alles dreht und der alles andere organisiert. Auf diesen Platz setzt sich Heidegger, also in die Mitte des Werkes, in der sein Autor gerade nicht ist, als sei dies der ausgesparte Raum für den Leser oder Hörer. Von hier aus rückverwandelt sich das Werk aus dem Resultathaft-tot-Gedruckten in eine lebendige Rede, auf die Widerrede möglich ist. Es ergibt sich ein Zwiegespräch, bei dem der Leser nicht mehr von außen kommt, sondern mittendrin mitbeteiligt ist.«217 In ihrem Brief an Friedrich fasst sie zusammen: »Heidegger sagt nicht das von dem Autor Unge214 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Freiburg, 24.5.1952, S. 275. 215 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 81: Heidegger an Arendt, Freiburg, 15.12.1952, S. 137. 216 | LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 10 / F older: Fran-Fru miscellanous, 1946-1975, Friedrich, Hugo: Friedrich an Arendt, 25.3.1953, Blatt 006152. 217 | Denktagebuch: Heft 15: Eintrag 13, April 1953, S. 353 f. | Vgl. Weigel, Sigrid: Dichtung als Voraussetzung der Philosophie. Hannah Arendts Denktagebuch. In: Text und Kri-

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sagte (wie er manchmal zu meinen scheint), sondern erblickt den Raum des Unsagbaren, der in jedem großen Werk ein spezifisch anderer ist, und von dem aus, um dessentwillen, das ganze Werk entstand und sich organisierte.«218 Tatsache ist, dass Heidegger Motive eines Lyrikers aufnimmt, weiterentwickelt und auf diese Weise ein Gespräch zwischen Werk und Interpretierendem stattfindet. Da es für das Unsagbare per se keine Terminologie besitzt, muss der Interpretierende selbst metaphorisch vorgehen. In einer Notiz kommt Arendt auf Heideggers Methode zu sprechen: »Die Schärfe und Strenge dieses Verfahrens liegt darin, dass es diesen Platz ›objektiv‹ wirklich gibt und er bei jedem großen Werk zu entdecken ist. Das ›Willkürliche‹ besteht darin, dass sich ja nie nur ein Individuum auf den Platz setzen kann – mit seinen begrenzten Ohren und Fähigkeiten der Widerrede. Aber das heißt nur, dass die Qualität der Interpretationen von der Qualität des Interpretierenden abhängt – eine Selbstverständlichkeit.«219 Arendt setzt dichterische Gleichwertigkeit zwischen dem Interpretierenden und dem Interpretierten voraus, und wenn ein Ungleichgewicht resultiert, indem der Interpret zu viel Raum einnimmt, dann erkennt sie an, dass die Interpretation nicht gelungen sei. Sie schreibt an Friedrich: »Aber dabei kann es natürlich passieren, dass der ›Interpretierende‹ mehr Gewicht hat als das ›Interpretierte‹, dann, aber nur dann, wird alles ›gewaltsam‹, einfach weil er das Werk, statt es lebendig zu machen, sprengt.«220 Anstatt allerdings Heidegger in Frage zu stellen, kritisiert sie somit Trakls Lyrik.221 Die künstlerischen Qualitäten des Interpretierenden sind also gleichwertig mit denen des Künstlers. Arendt setzt etwa Heidegger mit Cézanne und Picasso gleich. Seine Interpretation eines Gedichts führe zu einem neuen Kunstwerk. Das sei nach Arendt keine Gewaltsamkeit oder Verzerrung. Das neue Kunstwerk des interpretierten Gedichts ist Ausdruck der subjektiven Perspektive in der Moderne: »Die ›Gewaltsamkeit‹ ist keine andere als die sogenannten ›Verzerrungen‹ bei Picasso. Die letzteren entstehen (eigentlich schon bei Cézanne, wo alles anfing) dadurch, dass die Welt nicht mehr abgemalt wird (die Photographie hat die Malerei, nach dem bekannten Wort von Cocteau wirklich befreit), so dass man einen dreidimensionalen Raum in der Perspektive auf dem Bild erscheinen lassen muss; sondern der Maler malt, als säße er selbst im Zentrum des Bildes, von dem sich nun ›flächig‹ die eigentlich menschlichen drei Dimensionen entfalten: oben und tik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 /  167, München, 2005, S. 125-137, hier S. 133. 218 | Heidegger-Briefwechsel: Arendt an Friedrich, 15.7.1953, S. 317. 219 | Denktagebuch: Heft 15: April 1953, Eintrag 13, S. 354. 220 | Heidegger-Briefwechsel: Arendt an Friedrich, 15.7.1953, S. 317. 221 | Vgl. ebenda, S. 316. | Arendt behauptet, Trakl sei kein großer Lyriker und seine Sprache sei symbolisch. Damit meint sie wohl, diese sei aufschlüsselbar im Unterschied zur metaphorischen Sprache, die vieldeutig sei. Trakls Gedichte sind metaphorisch, auch wenn sie ihr nicht gefielen.

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unten, rechts und links, vorn und hinten.«222 Schließlich geht sie sogar so weit, eine Identität zwischen dem Interpretierenden und dem Interpretierten festzustellen: In Heideggers Texten entstünde dieselbe Lebendigkeit, die bei der Entstehung des Gedichts durch den Dichter stattgefunden haben muss: »Was Ihnen wie Gewaltsamkeit erscheint, erscheint mir als die spezifische Lebendigkeit; nämlich in diesem im Werke selbst liegenden Raum sitzend, verschwindet der Unterschied zwischen Denken und Gedachtem, Dichten und Gedichtetem, genau so wie er ursprünglich bei der Entstehung nicht vorhanden war.«223 Ingeborg Nordmann thematisiert Arendts Versuch, Heidegger als poetischen Denker zu retten und gleichzeitig seine politische Verirrtheit zu kritisieren. Denn Arendt verfasst selbst eine Parabel, in der sie Heideggers politische und charakterliche Ambivalenz zusammenfasst unter dem Titel Heidegger der Fuchs,224 der in seine eigene Falle geht. Nordmann entdeckt ein Spannungsverhältnis zwischen Arendt und Heidegger, das einerseits aus gemeinsamer Nähe zur Sprache, andererseits aus Ferne in jedem anderen menschlichen Gebiet besteht: »Die Treue gilt der Liebe und der Leidenschaft für das Sich-Treffen bei der Sprache. Heideggers Offenheit für das Unausgesprochene, die den Sinn des Textes nicht erzwingt, sondern hervorleuchten lässt (Arendt: ›niemand liest so wie Du‹), kommt der Art und Weise des Verstehens nahe, das für sie einem Zuhause gleichkam. Doch das sind die Augenblicke, die im Erinnern immer wieder vergegenwärtigt und verteidigt werden müssen gegen die Seite der Existenz Heideggers, die sie als freiwilligen Aufenthalt in einer Falle umschrieben hat.«225 Allerdings geht es Arendt nicht nur um das Unausgesprochene, sondern auch um das Unsagbare, das nur metaphorisch wiedergegeben werden kann und das man einerseits beim Lesen der Interpretationen nachvollziehen kann, andererseits wahrscheinlich erst vollständig beim Vorlesen Heideggers, beim Hören: »Um in diesen Dimensionen, welche überhaupt erst entstehen können im Moment des lesenden Hörens, nicht schwindlig zu werden, benutzt Heidegger das Leitwort, gleichsam das ›Sesam-öffne-Dich‹, 222 | Ebenda, S. 316. 223 | Ebenda, S. 316. 224 | Vgl. Denktagebuch: Heft 17: Juli 1953, Eintrag 7: Heidegger der Fuchs. | Antonia Grunenberg sieht diese Parabel auch als Dilemma für das Denken schlechthin: Für Heidegger war die Vorstellung das Wirkliche, der sich die Realität fügen müsse: »Beschrieb sie hier nicht das Problem des Übergangs vom reinen Denken in die Welt und von der Welt in das Denken? Dieses Dilemma war nicht lösbar. Dann wäre der Text keine Parabel auf den weltfremden Heidegger. Es wäre stattdessen ein literarisches Stück über das Dilemma des philosophischen Denkens, ausgeführt an der Gestalt eines bedeutenden Denkers im 20. Jahrhundert.« Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, 2006, S. 350. 225 | Nordmann, Ingeborg: Tapferkeit vor dem Freund. Briefeschreiben in finsteren Zeiten. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, S. 67-78, hier S. 74.

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das im ausgesparten Raum das ungesagte Wort war, also nur dort gefunden werden kann, dann aber alles dem Hören so erschließt, wie die leer gelassene Mitte ursprünglich das Ganze organisiert hatte.«226 Während Arendts Äußerungen über Heidegger als dichterischen Denker hauptsächlich ihren privaten Aufzeichnungen und Briefen vorenthalten ist, unterstreicht sie die entsprechende These zu Benjamin öffentlich in einem Essay. Darin definiert sie Benjamin eingangs über seine verschiedenen schriftstellerischen Disziplinen, um zur Synthese zu führen – seine Fähigkeit des poetischen Denkens: »Ich könnte sagen, dass er sehr gelehrt, aber durchaus kein Gelehrter war; dass sein Hauptthema Texte und Textinterpretationen waren, aber dass er kein Philologe war; dass ihn nicht Religion, aber Theologie und theologische Auslegung […] fasziniert hat, aber er war weder ein Theologe noch sonderlich an der Bibel interessiert; dass er ein Schriftsteller war, sein größter Ehrgeiz aber darin bestand, einen nur aus Zitaten zusammengesetzten Text zusammenzustellen; er hat Proust und Baudelaire ins Deutsche übersetzt, aber er war kein Übersetzer; er hat unzählige Buchbesprechungen und eine Reihe klassischer Essays über tote zeitgenössische Schriftsteller und Dichter verfasst, aber er war kein Literaturkritiker; er hat Bücher über das deutsche Barock und die deutsche Romantik geschrieben, und er starb über einem groß angelegten Werk über das französische 19. Jahrhundert, aber er war weder ein Historiker, noch ein Literaturhistoriker. Ich werde hier zu zeigen versuchen, dass er dichterisch dachte, aber er war weder ein Dichter noch ein Philosoph.«227 Benjamin selbst verstand sich als Kritiker. Er unterschied zwischen dem Kommentar eines Textes, der den Sachgehalt wiedergibt, und der Kritik eines Textes, die den Wahrheitsgehalt aufzeigt. Nach dieser Definition hat Kritik ein ähnliches Ziel wie die besondere Interpretationsdefinition bei Heidegger: Es geht darum, sich in einen Text hineinzubegeben und die Wahrheit wiederzugeben, die unausgesprochen darin liegt. Arendt schreibt: »Der Kritiker als Alchimist, der die dunkle Kunst des Verwandelns nichtiger Bestandteile des Wirklichen in das glänzende, beständige Gold der Wahrheit, besser: des Beobachtens und Interpretierens

226 | Denktagebuch: Heft 15: April 1953, Eintrag 13, S. 354. 227 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967) In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 179-236, hier S. 181. | Vgl. auch Mahrdt, Helgard: Hannah Arendt über Walter Benjamin In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang /  v on der Lühe, Irmela), Göttingen, 2007, S. 31-49. Mahrdt untersucht in ihrem Essay die biographischen Aspekte der Beziehung Arendt-Benjamin (I. Existenzsorgen), die poetische Komposition von Arendts Essay über Benjamin (II. Der Flaneur) sowie Benjamins Verhältnis zu Geschichte und Literatur (III Denken ohne Autorität der Tradition) und schließlich sein Passagenwerk (IV. Der Perlentaucher). | Vgl. auch Weissberg, Liliane: On friendship in dark times. Hannah Arendt reads Walter Benjamin. In: Literary paternity, literary friendship. Chapel Hill, London, 2002, S. 279-293.

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des solch magische Umformung bewirkenden historischen Prozesses, ausübt.«228 Sie vergleicht das Vorgehen der beiden direkt: Wie Heidegger habe Benjamin versucht, Texte wieder zum Leben zu erwecken, aus dem Resultathaften, Intentionalen zu befreien: »Martin Heidegger, dessen außerordentlicher und außerordentlich früher Erfolg zu einem wesentlichen Teil aus einem ›Hören auf die Überlieferung‹ geschuldet ist, ›das nicht Vergangenem nachhängt, sondern das Gegenwärtige bedenkt‹. Mit Heideggers großem Gespür für das, was aus lebendigem Auge und lebendigem Gebein Perle und Koralle geworden und als solches nur durch die Gewaltsamkeit der Interpretation, nämlich die tödliche Stoßkraft neuer Gedanken zu retten und in die Gegenwart zu heben ist, hatte Benjamin, ohne es zu wissen, im Grunde erheblich mehr gemein als mit den dialektischen Subtilitäten seiner marxistischen Freunde.«229 Als Beweis zitiert sie einen Brief Benjamins an Hofmannsthal von 1924, der ihrer Meinung nach vom Heidegger der 1940er-und 1950er-Jahren hätte verfasst sein können: »Die Überzeugung, welche in meinen literarischen Versuchen mich leitet […] (ist), dass jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat, dass er aus der ältesten logoi errichtet ist und dass der so gegründeten Wahrheit gegenüber die Einsichten der Einzelwissenschaften subaltern bleiben«.230 Der Autor, in diesem Fall Benjamin, kann sich, auf dieser Sprache gründend, der Wahrheit anzunähern versuchen. Der metaphysische Aspekt im Vorrang der Sprache – Arendt bezeichnet das Transzendente bei Benjamin als das »Weltwesen« – wird offenbar durch seinen Wahrheitsbegriff: »Es gibt also ›eine Sprache der Wahrheit […] in welcher die letzten Geheimnisse, um die alles Denken sich müht, spannungslos und selbst schweigend auf bewahrt sind‹, und dies ist ›die wahre Sprache‹, deren Existenz wir zumeist ahnungslos voraussetzen, sobald wir aus einer Sprache in eine andere übersetzen.«231 Dabei gehe es Benjamin (wie Heidegger) nicht um Theologie oder Religion. Arendt sieht in Benjamins Freundschaft zu Brecht den Beweis, dass ersterer sich nicht von Gershom Scholems jüdischer Mystik verführen ließ, der ihn zeitgleich zu bekehren versuchte: »Und wenn Benjamin schrieb, dass das ›Einverständnis mit der Produktion von Brecht einen der wichtigsten, und bewehrtesten (sic) Punkte meiner Produktion darstellt‹ (Briefe II, S. 594), so wies er deutlich darauf hin, dass ihm an jener Philosophie oder Metaphysik oder auch Theologie, welche die Freunde von ihm verlangten und an deren Maßstab sie seine Produktion maßen und verwarfen, nicht sehr viel gelegen war.«232 Wahrheit eines transzendentalen Weltwesens ist in diesem Sinne nicht relgiös zu verstehen. Und nur 228 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 179-236, hier S. 183. 229 | Ebenda, S. 231 f. Arendt zitiert nach Heidegger: Kants These über das Sein, Frankfurt / M ain, 1962, S. 8. (Vgl. Anmerkung von Ursula Ludz in Menschen in finsteren Zeiten.) 230 | Ebenda, S. 232. 231 | Ebenda, S. 235. 232 | Ebenda, S. 193.

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durch dichterische, metaphorische Sprache kann man sich ihm annähern. Wie bei Heidegger beobachtet sie auch bei Benjamin, dass es ihm nicht um Kommunikation und Verständlichkeit geht, sondern darum, das Unsagbare zu umkreisen: »Was immer er [Benjamin] später theoretisch an diesen theologisch-metaphysischen Überzeugungen revidiert haben mag, an dem für alle seine literarischen Arbeiten entscheidenden Ansatz, sprachliche Gebilde nicht auf ihren Nützlichkeits- und Mitteilungswert zu befragen, sondern sie in ihrer kristallisierten und daher prinzipiell fragmentarischen Form als intentionslose und kommunikationslose Äußerungen eines ›Weltwesens‹ zu verstehen, hat er immer festgehalten.«233 Welche Verfahren nutzte Benjamin, um zur Einheit der Welt, zum Ausdruck des »Weltwesens« zu gelangen? Zuerst das des metaphorischen Übertragens, das er in seinen Kritiken erzeugt: Arendt stellt fest, dass Benjamins und Brechts Freundschaft einzigartig gewesen sei, der eine war der bedeutendste Dichter, der andere der bedeutendste Kritiker seiner Zeit. Beide waren links. Beide dachten nicht dialektisch, sondern realitätsnah. Beide hatten die gleiche Auffassung von der Funktion der Metapher: Eine Idee wird metaphorisch übertragen und nimmt sofort konkrete und präzise Gestalt an. In ihrem Essay über Brecht stellt sie fest, dass diese metaphorische Denkweise auf der einen Seite »eine große dichterische Klugheit verlangte«, das heißt »die Gabe der Verdichtung, welche die Vorbedingung aller Dichtung ist«, und dass sie auf der anderen Seite bei der metaphorischen Übertragung eine sich »in Kurzschlüssen bewegende Denkweise [sei] und die ihr eigene Hintergründigkeit« habe.234 Durch die Verwendung der Metapher wird Zusammenhang geschaffen, Entsprechung, die unmittelbar sinnlich einleuchtet und keiner Deutung mehr bedarf: »Was an Benjamin so schwer zu verstehen war, ist, dass er, ohne ein Dichter zu sein, dichterisch dachte und dass die Metapher daher für ihn das größte und geheimnisvollste Geschenk der Sprache sein musste, weil sie in der ›Übertragung‹ es möglich machte, das Unsichtbare zu versinnlichen – ›eine feste Burg ist unser Gott‹ – und so erfahrbar zu machen.«235 Als Beispiel für eine gelungene Metapher 233 | Ebenda, S. 236. 234 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 237-283, hier S. 258. 235 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 179-236, hier S. 199. | Vgl. auch Herzog, Annabel: Nach Arendt ist das wesentliche Merkmal der Metapher die Übertragung. Übertragung bedeutet auf französisch correspondance. Annabel Herzog hat nun einen Konnex hergestellt zum Correspondances-Gedicht von Baudelaire, das Arendt nach Herzogs Ansicht gekannt haben muss, da Benjamin es in seinem Essay Über einige Motive bei Baudelaire behandelt hat. Im zehnten Kapitel des Baudelaire-Essays geht Benjamin auf das Gedicht Baudelaires ein, aber im Zusammenhang mit der mémoire involontaire bei Proust, die sich auch bei Baudelaire finden lasse – sie entspreche dem Andenken, wobei es um reale Erinnerungen gehe. Aussagen zur Metapher gibt es hier nicht. (Vgl. Benjamin, Walter: Über

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benennt Arendt das bekannte Bild des Angelus Novus: »Nichts natürlich könnte ›undialektischer‹ sein als diese Haltung, für die in dem einzig großartigen Bild der neunten seiner geschichtsphilosophischen Thesen, ›der Engel der Geschichte‹ nicht nach vorn in die Zukunft gewendet dialektisch fortschreitet, sondern ›das Anlitz der Vergangenheit zugewendet‹ hat. ›Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.‹ (Womit wohl das Ende der Geschichte gekommen wäre.) ›Aber ein Sturm weht vom Paradiese her‹ und ›treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«236 (Arendt schrieb selbst ein Gedicht auf Benjamin, das indirekt das Bild des Engels als Boten aufnimmt. In W.B., 1942 nach langen Jahren dichterischer Untätigkeit, kommen Boten aus dem Jenseits vor, die gleichzeitig Erinnerungen an die Verstorbenen vermitteln und die Lebenden in den Schlummer geleiten.237) Das sinnlich Entfernteste wird also in genaueste Entsprechung gebracht und durch diese Entsprechungen wird dichterisch die Einheit der Welt vermittelt. Benjamin entdeckt die Welteinheit durch die Metapher, aus der Überzeugung heraus, dass diese Einheit existiert. Und über die Welteinheit dringt er zum Weltwesen vor.238

einige Motive bei Baudelaire, In: Illuminationen, Frankfurt /  M ain, 1977, S. 214 f.) Dennoch hat Herzog recht, wenn sie feststellt, dass Arendt auch in ihren Essays über Persönlichkeiten, die »Menschen in finsteren Zeiten«, gern dichterische Vergleiche benutzte, wie etwa für Benjamins Charakter »das bucklicht Männlein«. Vgl. Herzog, Annabel: The Poetic Nature of Political Disclosure: Hannah Arendt’s Storytelling. In: Clio, 30 / 2, 2001, S. 169-194, hier S. 176 f. 236 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 179-236, hier S. 197. Arendt zitiert nach Benjamin: Schriften I (Hg. Adorno, Theodor W.) Frankfurt, 1955, S. 499 (Hervorhebungen von Hannah Arendt) 237 | Vgl. den dritten Teil, 1.2.1 »W.B. Einmal dämmert Abend wieder …«, S. 295. Auch in Gedichte, S. 32. 238 | Vgl. Denktagebuch: Heft 29: April 1970, Eintrag 45, S. 773. | Arendts Feststellung, dass die Metapher die Einheit der Welt schafft, wurde von englischen Philosophen kritisiert: »Worauf dies hinausläuft ist, dass die ganze Vorstellung, eine Sache durchzudenken, der englischen ›Philosophie‹ fremd ist. Zum Beispiel: ich schrieb, dass Benjamin poetisch denkt, d. h. in Metaphern. So weit alles in Ordnung. Aber dann stelle ich die Frage, was eine Metapher ist (welche mich ganz selbstverständlich zu Homer führt, der die Metapher als dichterisches Mittel entdeckt hat) und was eine Metapher bewirkt – die Einheit der Welt. Diese Überlegungen haben, nach Ansicht unseres englischen Freundes, nichts mit einer Darstellung von Benjamin zu tun.«

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

Das führt zum zweiten Verfahren, mit dem Benjamin die Einheit der Welt zu fassen versucht, zu seinem unvollendet gebliebenen Passagenwerk, das nur aus Zitaten besteht: Benjamin sammelte Elemente der Welt und setzte sie kommentarlos zu einer Einheit zusammen. Diese Elemente bezeichnet Arendt als »Perlen und Korallen«: »Jedenfalls war nichts für ihn in den dreißiger Jahren charakteristischer als die kleinen schwarz-gebundenen Notizbüchlein, die er immer bei sich trug und in die er unermüdlich in Zitaten eintrug, was das tägliche Leben und Lesen ihm an ›Perlen und Korallen‹ zutrug, um sie dann gelegentlich wie Stücke einer erlesenen kostbaren Sammlung vorzuzeigen und vorzulesen.«239 Sie gibt Beispiele für diese Zitate an, die skurril und schrullig und auch schrecklich anmuten: ein verschollenes Liebesgedicht aus dem 18. Jahrhundert, eine Zeitungsnachricht, Goeckingks Als der erste Schnee fiel, eine entsetzliche Meldung aus Wien im Sommer 1939, als die Gasgesellschaft einen zu hohen Verbrauch beklagte – sehr viele Juden begingen Selbstmord. Nach Arendt erinnert Benjamins Verfahren an ähnliche Versuche aus dem surrealistischen Bereich: »Die Hauptarbeit bestand darin, Fragmente aus ihrem Zusammenhang zu reißen und sie neu anzuordnen, und zwar so, dass sie sich gegenseitig illuminieren und gleichsam freischwebend ihre Existenzberechtigung bewähren konnten. Es handelte sich durchaus um eine Art surrealistischer Montage. Sein Ideal, eine Arbeit herzustellen, die nur aus Zitaten bestand, also so meisterhaft montiert war, dass sie jeder begleitender Rede entraten konnte, mag skurril und selbstzerstörerisch anmuten, war es aber so wenig wie die gleichzeitigen surrealistischen Versuche, die ähnliche Impulse ihrer Entstehung verdanken.«240 Das Bohren, Beschwören, Perlen-zutage-Bringen – das Zitieren – bringe die Wahrheit ans Licht. Das Ziel sei dabei Selbstzweck, nicht die Wirkung auf einen Rezipienten, wie sie Benjamin sagen lässt: »Kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft« – sondern ist gerichtet »auf ein Gedenken Gottes«,241 ein theologischer Begriff, den Benjamin später nicht mehr gebrauchen sollte, der aber auf ein einheitsbildendes Weltwesen hinweist. Arendt beschließt ihren Essay über Benjamins Verfahren mit einem eigenen langen metaphorischen Vergleich, den sie aus Shakespeares Sturm (I, 2) entnimmt und weiterentwickelt: »Fünf Faden tief liegt Vater dein: Sein Gebein wird zu Korallen; Perlen sind die Augen sein: Nichts an ihm, das soll verfallen, Das nicht wandelt Meereshut In ein reich und seltnes Gut.« 239 | Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 179-236, hier S. 231. 240 | Ebenda, S. 233. 241 | Ebenda, S. 233.

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Die Vergangenheit ist wie das Meer, in dem Perlen und Korallen liegen, die gerettet werden müssen, wobei sie in dieser Rettung in neue kristalline Erscheinungsformen treten. »Das Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit ›Denkbruchstücken‹, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leitet, ist die Überzeugung, dass zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, aber dass der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; dass in der ›Meereshut‹  – dem selbst nicht-historischen Element, dem alles geschichtlich Gewordene verfallen soll – neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt: als ›Denkbruchstücke‹, als Fragmente oder auch als die immerwährenden ›Urphänomene‹.«242

242 | Ebenda, S. 236. | Vgl. auch Benhabib, Seyla: Seyla Benhabib macht darauf aufmerksam, dass nicht nur das kommunikationsgebundene, tatsachenverhaftete, auf Gemeinsinn gerichtete Sprechen nach Jaspers politisch aufgeladen sei, sondern dass auch das metaphorische Sprechen diese Möglichkeit freilege: »Doch ist es Aufgabe der Urteilskraft, die Gemeinschaftlichkeit der Welt in ihrer ganzen Pluralität wiederherzustellen. Dürfen wir demnach sagen, dass die Urteilskraft nötig ist, um ›Konfigurationen‹ und ›Kristallisationsformen von Elementen‹ sowohl in ihrer Singularität als auch in ihrer Gemeinschaftlichkeit herzustellen? Wie können wir diese Konfigurationen erfassen? Vielleicht durch Bildung von Metaphern?« Und weiter: »Das Denken bewegt sich in der Sprache der Metaphern und versucht, die Lücke zwischem dem Bereich des Sichtbaren und dem Bereich des Unsichtbaren zu überbrücken. Doch die politische Denkerin muss, im Gegensatz zur spekulativen Philosophin, die Fähigkeit haben, die Kraft der Metapher mit ihren Mitmenschen zu teilen, um die zerbrechliche Pluralität der geteilten Welt aufrechtzuerhalten und zu bewahren, die jeden Augenblick zerfallen kann, um von Propaganda, Kitsch und dem Verlust des common sense weggespült zu werden.« Hier scheint jedoch die Gefahr auf, dass die metaphorische Sprache, die transzendente und emotionale Sachverhalte behandelt, in politischen Angelegenheiten, die weltlich bezogen sind, missbraucht werden kann. Eine gute Metapher ist vieldeutig und kann daher bewusst auch zu Propagandazwecken benutzt werden. Benhabib, Seyla: Arendt und Adorno: Die Flüchtigkeit des Partikularen und das Benjaminsche Moment. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 89, Berlin, 2011, S. 674.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

Z usammenfassung : Z wei sich ergänzende W ahrheitsbegriffe In Hannah Arendts Lyrik kommen beide Möglichkeiten der Sprache vor – Sprache als Kommunikation und Sprache als Metapher; in manchen Gedichten treten beide Elemente gemeinsam auf  – und in beiden Sprachmöglichkeiten dreht es sich um Wahrheit. Wahrheit in der Sprache als Kommunikation ist diesseitsbezogen. Wahrheit definiert sich über den Umgang mit den Mitmenschen: Was allen Menschen verständlich wird und für alle nachvollziehbar ist, ist Wahrheit. Die beiden Grenzen, die diese Wahrheit definieren, sind Freiheit und Vernunft. Nur was vernünftig ist, ist mitteilbar. Und nur was den anderen, in diesem Fall den Leser, frei lässt – ihn nicht durch Ideologien oder Dogmen einschränkt –, kann wahr sein. Das Thema ist hier im Wesentlichen Jaspers’ »existentielle Betroffenheit«, die geklärt werden muss durch Sprache: Es geht um Erhellung, »Existenzerhellung«. Wahr sind Gedichte, weil nach der Grundvoraussetzung der Vernunft realitätsbezogene Wahrnehmungen dargestellt werden: nach Jaspers’ Kategorien die pragmatische Bewährung im Dasein, die Erweiterung im Bewusstsein, die Überzeugung der Idee im Geist und der Glauben an die Existenz. Wahrheit kann dennoch nicht absolut gefasst werden: Sie ist einem ständigen Prozess unterworfen und nicht fest resultathaft. Sie ist weiterhin dem Sehsinn als dem wirklichkeitsnächsten Wahrnehmungsorgan unterworfen, der allerdings begrenzt ist, weil er nicht die vier anderen Sinne angemessen übertragen kann. Insgesamt geht es um eine lyrische Sprache, die auf einem ethischen Fundament basiert, also kontrolliert vom Menschen geschaffen wird: Differenzierung aufgrund von Tatsachenbeständen und Humanität auf Realitätsgrundlage sind hier die wesentlichen Vorraussetzungen. Wahrheit ist in diesem Sinne Kommunikation. Wahrheit in der Sprache als Metapher betrifft zwei Gebiete, die unsichtbar sind, weil sie das Innenleben des Menschen betreffen: Auf der einen Seite geht es um Emotionen und auf der anderen Seite um gedankliche metaphysische Spekulationen. Da diese unsichtbar sind, können sie nur durch die metaphorische Übertragung wiedergegeben werden. Emotionen und Spekulationen sind wahr, nicht weil sie auf Tatsachenbeständen basieren, sondern auf inneren Erfahrungen. Auch hier kann Wahrheit nicht absolut gefasst werden, denn es gilt auch der Umkehrschluss: Die Metapher selbst bewirkt auf der einen Seite verschiedene Emotionen oder auf der anderen die Empfindung der Erleuchtung, in der Welt und Seele eins werden. Wahrheit ist bei Spekulationen der akustischen Wahrnehmung unterworfen, wie Martin Heidegger und Walter Benjamin dichterisch wiederzugeben versuchen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es hier um eine lyrische Sprache geht, in der die Metapher zu ihrem vollen Recht kommt. Wahrheit ist hier Emotion, die das Unsagbare des Innenlebens und der metaphysischen Spekulation umkreist.

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2. Zeitliche Dimension der Dichtung

»Unausrottbar ist das Poetische solange es noch das Wundern gibt, das wir in der Kindheit gelernt haben …« H annah A rendt  /  R obert G ilbert1

E inleitung : A rendts A useinanderse t zung mit H eidegger Kurz bevor ihr Buch über den Eichmann-Prozess erschien und einen Skandal auslöste, enden 1961 Hannah Arendts eigene dichterische Versuche. Die Kontroverse muss sie mitgenommen haben, so dass sie sich der lyrischen Sprache nicht mehr bedienen wollte oder konnte. In den 1950er Jahren, als sie selbst noch Gedichte geschrieben hat, entwickelte sie in der Vita Activa eine Theorie der Narration, wie zuerst Elisabeth Young-Bruehl2 feststellt und Julia Kristeva später systematisch herausgearbeitet hat 3; aber auch ohne selbst zu dichten, stellte Arendt in den 1970er-Jahren Überlegungen zur Dichtung an: Im Grunde handelt es sich um eine Theorie der Kreativität, die sich aus der Verbindung zwischen Denken und Dichten erschließt. Dass ihre Theorie der Narration entstand, während sie selbst gedichtet hat, deutet darauf hin, dass sie sich des Ziels ihrer Dichtung bewusst war: etwas Dauerhaftes herzustellen. Die Theorie der Kreativität hingegen ist später entstanden. Mithin liegt die Vermutung nahe, dass sie sich nachträglich Gedanken darüber gemacht hat, was sie tatsächlich beim Dichten getan hatte. Beide Konzepte stehen in Verbindung zur Zeitlichkeit: Während des kreativen Aktes, beim Denken, befindet sich das Ich außerhalb der Zeit, auf einem »Pfad der Nichtzeit«. Ziel der Dichtung, der Erzählung wie auch der Lyrik ist die Bildung von Dauerhaftigkeit: Das Werk hat Bestand. Beide Konzepte sollen hier nun zusammengefasst vorgestellt werden. Eingangs wird auf die Entwicklungsgeschichte dieser beiden Konzepte verwiesen, die auf dem Austausch Hannah Arendts mit Martin Heidegger beruhen. 1 | Arendt, Hannah: Robert Gilbert (1972). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 284-291, hier S. 289. 2 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996. 3 | Kristeva, Julia: Life is a narrative, Toronto, Buffalo, London, 2001.

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1968 schreibt Hannah Arendt an ihre Freundin, die amerikanische Romanautorin Mary McCarthy, dass sie ihr Spätwerk Vom Leben des Geistes vorbereite und dass sie darin die drei innerpsychischen menschlichen Tätigkeiten behandele: Denken – Wollen – Urteilen. Sie kommt auf ihre eigenen Erfahrungen beim Denken zu sprechen, den einzigen Momenten, in denen sie ganz bei sich sei: »Ich habe ein Gefühl der Sinnlosigkeit bei allem was ich tue. Im Vergleich zu dem, worauf es ankommt, wirkt alles nichtig. Ich weiß, dass dieses Gefühl verschwindet, sobald ich mich in jene Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft fallen lasse, die der richtige zeitliche Ort des Denkens ist.«4 Dieses Konzept der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft hatte sie zeitgleich in ihrem Vorwort zu ihrem Essayband Zwischen Vergangenheit und Zukunft entwickelt; Ausgangspunkt für dieses Bild der Gegenwart beim Denken ist eine Parabel Kafkas mit dem Titel Er: »Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten, denn er will ihn nach vorne drängen, und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, dass er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampferfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.«5 Diese Parabel nimmt Hannah Arendt als Ausgangspunkt für ihren Zeitbegriff: Der eine Gegner, die Kraft von hinten, sei die Vergangenheit, die gegen den anderen Gegner, die Kraft von vorn, die Zukunft, ankämpft. Zwischen beiden Kräften gibt es eine Lücke, die Gegenwart, die sich ständig verschiebt. Im Unterschied zu Kafka bleibt das Herausspringen aus dieser Lücke bei Arendt kein Traum. Sie entwickelt das Bild weiter: Die beiden Kräfte sind nicht als eine Linie zu sehen, sondern treffen sich im rechten Winkel in der Gegenwart. Beim Denken führt eine dritte Kraft, vom Menschen selbst geschaffen, diagonal weg von diesem Kreuzungspunkt: Beim Denken entweicht der Mensch auf den Pfad der Nichtzeit. Dieses Bild sollte Arendt später in Vom Leben des Geistes noch genauer ausführen.6 Hier ist einleitend von Belang, dass Arendt bereits ein Jahr zuvor, 1967, Heidegger im brieflichen Austausch auf diese Parabel hingewiesen hat. Für beide Autoren hingen Denken und Dichten eng zusammen: Beide schrieben Gedichte, allgemeine und auch füreinander bestimmte (wie bereits ausgeführt wurde, schickte 4 | McCarthy Briefwechsel: Arendt an McCarthy, New York, 9.2.1968, S. 320. 5 | Arendt, Hannah: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft (1961). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 11. 6 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 198 f.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

Arendt in den 1920er-Jahren Gedichte an Heidegger und in den 1950ern Heidegger an Arendt), und beide entwickelten Konzepte. Daher soll hier kurz auf diesen biographischen Austausch eingegangen werden, da er erstens die Entwicklung von Arendts Theorie wiedergibt und zweitens deren Distanz zum korrespondierenden Bild der Heidegger’schen »Lichtung« kenntlich wird.7 Im August 1967 fügt Hannah Arendt einem Brief an Martin Heidegger Kafkas Parabel Er hinzu mit der Bemerkung: »Ich lege Dir einen Aphorismus von Kafka bei, an den ich dachte, als Du das Raum- und Zeitfreie erwähntest und dann wieder, in dem Kant-Text, in den ersten Ansätzen über Zukunft als das, was ›im Kommen ist‹ und ›uns erreicht‹. Denn die beiden ›Gegner‹ der Kafkaschen Parabel sind doch sicher Vergangenheit und Zukunft.« 8 Heidegger antwortet, dass er Kafkas Text sehr aufschlussreich finde und ihrer Deutung zustimme, dennoch grenzt er sich davon ab: »Nur handelt es sich in dem, was mich umtreibt unter dem Titel ›Lichtung‹ nicht bloß um das Raum- und Zeitfreie, sondern um das, was Raum und Zeit – dem Zeitraum als solchem gewährt und dabei gerade nicht das Überzeitliche und Außerräumliche ist. Die Ausflucht der Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit ist zu billig. Sie reicht für die Theologie vielleicht aus, bleibt aber für das Denken eine zu grobe Sache.«9 Heidegger behauptet hier zwar, der metaphysischen Zeitvorstellung der Ewigkeit abzusagen, aber wie an seiner Definition des Ereignisses zu zeigen ist, entwickelt er in gewisser Hinsicht eine bestimmte Form einer Kosmologie.10 Arendt antwortet ihm daher ebenso zweischneidig: Auf der einen Seite bezieht sie sich auf die metaphysische Tradition von Parmenides bis Plato, von der sie ihn angeblich freispricht: »Den Kafka-Text schickte ich nur wegen des Zukunftbegriffs – die Zukunft kommt auf uns zu. Der letzte Satz – mit dem Entspringen – fällt natürlich ganz in die Tradition zurück, es ist der Sprung 7 | Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, die über Arendts Haltung gegenüber Heideggers Spätphilosophie schrieb: »Solange sie sich als politische Theoretikerin einschätzte, blieb sein späteres Werk für ihr eigenes im Hintergrund. Als sie zu einem Thema zurückkehrte, das sie als ›eigentliche Philosophie‹ ansah, nämlich Vom Leben des Geistes, rückten Heideggers Spätwerk und besonders seine Reflexionen über Denken und Sprache in das Zentrum ihres Interesses. Aber Hannah Arendt verhielt sich in dieser Hinsicht niemals unkritisch. Sie hatte immer Vorbehalte gegenüber Heideggers Denken, und sie blieb dabei, dass Sein und Zeit, und nicht das spätere Werk, die größere Leistung sei.« Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt /  M ain, 1996, S. 420. | Das mag daran liegen, dass Heidegger in Sein und Zeit vom Dasein des Menschen ausgeht und Theologie wie Metaphysik absagt. Nach der »Kehre« allerdings wendet er sich indirekt metaphyischen Fragen zu: Das Sein existiert über dem Menschen, es gibt eine Seinsgeschichte, Transzendentales. 8 | Heidegger Briefwechsel: Brief 97: Arendt an Heidegger, 24.9.1967, S. 159. | Vgl. auch den ersten Teil, 2.2 Martin Heidegger, S. 92. 9 | Ebenda, Brief 99: Heidegger an Arendt, 30.10.1967, S. 162. 10 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1 Narration als Zeugnis der Unvergänglichkeit, S. 208f.

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des Parmenides und des Höhlengleichnisses, nur eben im Ton der dramatischen modernen Verzweiflung. Bemerkenswert aber doch, dass die Gleichnisse dieselben bleiben; denn dass Kafka Parmenides oder Plato kannte, halte ich für so gut wie ausgeschlossen.«11 Auf der anderen Seite weist Arendt ihn zusätzlich auf sein Konzept der »Lichtung« hin, das sie metaphorisch ausweitet  – »Ich weiß, ›die Lichtung‹ ist gerade mitten im Wald.«12 Die Lichtung als Metapher für Ontologie bescheinigt etwas dem Menschen Außenstehendes, Ursprüngliches, die im Widerspruch zu Arendts Modell nach Kafka steht, das allein vom Denkprozess des Menschen ausgeht. Wie sehr Arendt die Zeit aus der Perspektive des Menschen sieht, wird in ihrem darauffolgenden Brief kenntlich, der auf Heideggers Zur Sache des Denkens Bezug nimmt. Hier meinte sie, nach seiner »Kehre«, nach seiner Wende von »Sein und Zeit«, ginge es nun um »Sein und Denken«. Das ist aufschlussreich, da für sie das Denken in einem zeitlosen Raum stattfindet. Sie führt in Anlehnung an Heideggers metaphorische Vergleiche fort: »Nun sagst Du ›Lichtung und Anwesenheit‹.13 Die Anwesenheit wäre demnach die Gegenwart des denkenden Ichs. Sein oder Lichtung bedeuten eine Verbindung aus Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie, wie Franz Josef Wetz über Heideggers Aufsätze Was heißt Denken? und Grundsätze des Denkens herausgearbeitet hat. Auch wenn Heidegger die Vergleiche mit Heraklit und Parmenides scheut – auf die Arendt in ihrem Brief ja hinweist –, lässt sich aus seinen Schriften dennoch entnehmen, dass er dieser Tradition folgt. Wetz schreibt: »Da Heidegger, geprägt von der Phänomenologie Husserls, das Seiende von vornherein als etwas Sichtbares auffasst – als eine Welt des Augenscheins aus Meer und Gebirge, Erde und Himmel, Mensch und Tier –, kann es nicht überraschen, dass er diese naturhafte Ursprungsmacht als alles fügende Lichtung, Unverborgenheit oder Offenheit bezeichnet, die einer Verbergung oder Dunkelheit entstamme, aus der sie selbst wiederum hervorgehe. Als die alles Seiende verfügende Unverborgenheit sei das im besinnlichen Denken erahnte Sein selbst nichts Seiendes, weder ein außerweltlicher Gott noch eine absolute Vernunft.«14 Das bezieht sich auf Heideggers Absage an die Theologie. Dennoch bescheinigt ein Seinsdenken, in welchem man nicht selber denkt, sondern gedacht wird, die metaphysische Vorstellung einer Einheit: »Am ehesten lässt es sich wohl noch mit pantheistischen Ursprungskräften vergleichen, wie etwa der Weltseele Heraklits oder der Weltvernunft der Stoiker sowie der natura naturans Spinozas, die eine dem Kosmos innewohnende anonyme oder unpersönliche

11 | Heidegger Briefwechsel: Brief 100: Arendt an Heidegger, New York, 27.11.1967, S. 163. 12 | Ebenda, S. 163. 13 | Ebenda, Brief 119: Arendt an Heidegger, Weihnachten 1969, S. 195. 14 | Wetz, Franz Josef: Was heißt Denken? Grundsätze des Denkens und kleinere Schriften aus dem Umkreis Denken zwischen Forschen und Hören. In: Heidegger-Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 279-286, hier S. 285.

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Macht der Hervorbringung und Lenkung alles Seienden darstellen.«15 Dagegen ist Arendt in ihrem Zeitkonzept der Immanenz verpflichtet: Wie ihre Interpretation der Kafka’schen Parabel zeigt, besteht sie auf der Perspektive des Menschen: Beim Denken selbst befinde man sich auf einem Pfad der Nichtzeit, man springe zurück und erinnere sich oder springe vor und stelle sich vor. Sie weist eine einheitliche metaphysische Vorstellung nicht zurück, doch bleibt diese reine Spekulation: Das Gefühl der Zeitlosigkeit beim Denken vermittelt die Illusion der Ewigkeit, für die es keinen Beweis gibt.16 Es bleibt nur noch die Frage, was Hannah Arendt mit der Kraft, die aus der Zukunft kommt, meinte, denn diese könnte voraussetzen, dass die Ereignisse wirklich wie Prophezeiungen aus der Zukunft auf den Menschen zukommen. Es gibt einige Gedichte Arendts, die Erhellung geben können: Bereits 1947, also bevor sie Heidegger wieder begegnen würde, schreibt sie ein Gedicht mit dem Titel Traum, das eine Lichtung – also Heideggers zeitfreien Raum – beschreibt.17 Ein Jahr später fertigt sie ein Gedicht über die Vergänglichkeit an, Unauf hörlich führt uns der Tag hinweg von dem Einen…,18 das 1950 seine Entsprechung in dem Poem Manchmal aber kommt es hervor, das Vertrauteste19 findet – Arendt hat beide Verszeilen untereinander geschrieben. Allerdings übernimmt sie sie nicht in ihre maschinenschriftliche Sammlung. Das Schlüsselwort in diesen Gedichten für den zeitfreien Raum und die Zukunft, die auf uns zukommt, ist die Vertrautheit. Im Gedicht Traum ist die Lichtung ebenfalls eine vertraute Stelle. Es handelt sich also 15 | Ebenda, S. 285. 16 | Vgl. auch Kohn, Jerome: Wie wichtig die Perspektive des Menschen für Arendts Zeitbegriff ist, betont Jerome Kohn: Es geht um Zeitlosigkeit während des Denkprozesses, nicht um Ewigkeit im Dasein. Zeitlosigkeit ermöglicht nicht nur Dichtung, sondern auch politische Urteilsfähigkeit: »Von Anfang an wollte Arendt ›weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen‹, sondern ›ganz gegenwärtig sein.‹ [Jaspers-Briefwechsel: 11.7.1950, Arendt an das Ehepaar Jaspers, S. 289.] Am Ende war ihr eigener ›Kampf nicht vergeblich‹, weil sie ein nunc stans fand, das kein nunc aeternitatis war. Von dort, der Gegenwart des Denkens, die von Vergangenheit und Zukunft bestimmt ist, war es ihr möglich, menschliche Angelegenheiten unvoreingenommen zu beurteilen, nicht unter dem Aspekt der Ewigkeit, sondern zufällig, so wie sie in der Zeit erscheinen. Der Zufälligkeit dieser Welt gerecht zu werden, Freiheit durch die Vorstellung von Ereignissen aus der Pluralität der Standpunkte der sie Ausführenden, als Geschichten zu fassen, mag der einzige Weg sein, Bedeutung aus der Zeitströmung zu bergen.« Kohn, Jerome: Das ungeschriebene Vermächtnis Hannah Arendts. In: Treue als Zeichen der Wahrheit: Hannah Arendt: Werk und Wirkung (Hg. KleinRüsteberg, Karl-Heinz), Essen, 1997, S. 41. 17 | Vgl. Arendt, Hannah: Traum. In: Gedichte, S. 39. 18 | Vgl. Arendt, Hannah: Unaufhörlich führt uns der Tag hinweg von dem Einen. In: Gedichte, S. 45. 19 | Vgl. Arendt, Hannah: Manchmal aber kommt es hervor das Vertrauteste. In: Gedichte, S. 46.

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um das Erleben des Déjà-vu, das häufig ein Element der Traumhaftigkeit besitzt. In diesem Sinne ist die Zukunft vielleicht eine Kraft, aber sie kommt nicht als etwas Vorhergesehenes auf uns zu. Es ist eher so, dass in dem Ereignis etwas Vertrautes erscheint, das gleichzeitig aus der Kenntnis der Vergangenheit wie aus der erträumten Zukunft stammt. Arendt versucht Heidegger auf die »Ortschaft des Denkens« festzulegen. Sie bleibt anthropologisch beim Menschen: »Kennst Du Valérys gelegentliche Bemerkung ›Tantôt je pense, tantôt je suis‹? Daran ist etwas ganz und gar Wahres.«20 Gewissermaßen ironisch bezieht sich das »suis« nicht auf Sein als Ontologie, sondern ganz prosaisch auf das natürliche Dasein des handelnden und sprechenden Menschen, der sich, wenn er nachdenkt, zurückzieht. Dagegen besteht Heidegger weiter auf der Ontologie, einer außenstehenden Macht: »Bei der ›Ortschaft‹ handelt es sich um die Ortschaft des ›Seins‹, das jedoch, in das Ereignis zurückgebracht, die Zugehörigkeit des Menschen zu diesem einschließt.«21 Im Anschluss daran kritisiert er Arendt, indem er auf Parmenides zurückkommt (»Die Griechen kannten keine Begriffe«) und ihr indirekt mitteilt, dass ihr Bild von Kafka unzureichend, modellhaft sei (»aber mit dieser Ketzerei befreundet sich das heutige ›Denken‹ in ›Modellen‹ am allerwenigsten«).22 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Arendts und Heideggers Zeitkonzepte radikal unterschiedlich sind: Für Arendt begibt sich der Mensch beim Denken auf einen Pfad der Nichtzeit, in der er sich an die Vergangenheit erinnern und die Zukunft vorstellen kann. Der kreative Prozess des Dichtens ist hauptsächlich das Resultat des Andenkens. Bei Heidegger ergründet der Mensch beim Denken das Unsichtbare, das Sein, und befindet sich somit in der Ewigkeit (auch wenn er das Wort ablehnt). Der kreative Prozess des Dichtens ist auch Andenken, das aber nicht vom Menschen kommt, sondern vom Sein. Ein solches Andenken allerdings beinhaltet das Konzept des Bewahrens, der Kreation des Unvergänglichen durch das Kunstwerk: In diesem Punkt wiederum sind sich Arendt und Heidegger einig. 1951 erschienen Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, die 1971 in einer erweiterten Auflage publiziert wurden. Arendt erhielt von Heidegger ein ihr gewidmetes Exemplar dieser Ausgabe von 1971: An verschiedenen Stellen befinden sich Anstreichungen, die auf Übereinstimmungen, aber auch auf Unterschiede in ihrem jeweiligen Denken hinweisen.23 Wie im Kapitel zur Meta20 | Heidegger Briefwechsel: Brief 144: Arendt an Heidegger, New York, 27.3.1972, S. 231. 21 | Ebenda, Brief 145: Heidegger an Arendt, Freiburg, 19.4.1972, S. 234. 22 | Ebenda, S. 234. 23 | Arendt waren bereits 1951 Hölderlininterpretationen von Heidegger bekannt, wie auch ihr brieflicher Austausch mit Hugo Friedrich aufzeigt. Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Cont.10 / F older: Fran-Frau miscellaneous, 1946-1975, Friedrich, Hugo. | Arendt hatte alle Unterlagen zu Heidegger dem Deutschen Literaturarchiv Marbach übergeben: ihren Briefwechsel wie auch die Bücher, die Heidegger ihr schenkte und widmete.

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pher24 bereits festgestellt, mochte Arendt Heideggers nichtbeschreibende, nichtdiskursive Interpretationsweise, die sich direkt ins Werk selbst setzt, in poetischer Sprache wie aus der Perspektive des Autors weiterschreibend. Offenbar kannte Arendt bereits zu Beginn der 1950er-Jahre Heideggers Hölderlin-Interpretation.25 Wie der Vita Activa zu entnehmen ist, stimmte sie zumindest mit der Idee der Beständigkeit durch das Kunstwerk überein. Ihre Anstreichungen in der Ausgabe von 1971 müssen allerdings später datiert werden. In dem Sammelband über Hölderlin hat sie besonders den Text Hölderlin und das Wesen der Dichtung von 1937 annotiert. »Zuerst ergab sich: der Werkbereich der Dichtung ist Sprache. Das Wesen der Dichtung muss daher aus dem Wesen der Sprache begriffen werden. Nachher wurde aber deutlich: Dichtung ist das stiftende Nennen des Seins und des Wesens aller Dinge – kein beliebiges Sagen, sondern jenes, wodurch erst all das ins Offene tritt, was wir dann in der Alltagssprache bereden und verhandeln. Daher nimmt Dichtung niemals die Sprache als einen vorhandenen Werkstoff auf, sondern die Dichtung selbst ermöglicht erst die Sprache. Dichtung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes. Also muss umgekehrt das Wesen der Sprache aus dem Wesen der Dichtung verstanden werden.«26 Arendts Unterstreichung ist aufschlussreich: Heidegger übernimmt den Gedanken Herders, Poesie sei die Ursprache des Menschengeschlechtes. Er vermischt ihn jedoch mit ontologischen Vorstellungen – »Dichtung ist das stiftende Nennen des Seins und das Wesen aller Dinge«: Sprache geht nicht vom Menschen aus, sondern Dichtung entsteht, weil das Sein durch den Menschen spricht. Damit wird der Mensch allerdings seiner Verantwortung enthoben. Das Gleiche gilt für folgende Passage, in der Arendt ebenfalls unterstrichen und dabei zudem das Wort »Notwendigkeit« mit Ausrufezeichen versehen hat: »Die Bezeugung des Menschseins und damit sein eigentlicher Vollzug geschieht aus der Freiheit der Entscheidung. Diese ergreift das Notwendige und stellt sich in die Bindung eines höchsten Anspruchs. Das Zeugesein der Zugehörigkeit in das Seiende im Ganzen geschieht als Geschichte. Damit aber Geschichte möglich sei, ist dem Menschen die Sprache gegeben.«27 Der interne 24 | Vgl. den zweiten Teil, 1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin, S. 181. 25 | Liliane Weissberg hat herausgefunden, dass sich Hannah Arendt bereits 1947 über den Politologen Waldemar Gurian Heideggers Aufsatz Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1937) beschafft hatte. Vgl. Liliane Weissberg: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin. In: Hölderlin in der Moderne (Hg. Vollhardt, Friedrich), Berlin, 2014, S. 114-125, hier S. 117. 26 | Heidegger, Martin: Hölderlin und das Wesen der Dichtung. Rede gehalten am 2.4.1936 in Rom. In: Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt  /  M ain, 1971, S. 43. Auch in: DLA: A: Teilnachlass Arendt: Heidegger, Verschiedenes, Widmungen (Unterstreichungen von Arendt). 27 | Ebenda, S. 36 (Unterstreichungen von Arendt).

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Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit, indem beide gleichgesetzt werden, der Zwang, sich für Notwendigkeit zu entscheiden und Dinge zu akzeptieren, die auf Kosten der Würde des Mitmenschen gehen, führte zu Heideggers Entschluss, sich für das Dritte Reich zu engagieren. Arendt dürfte dies als fragwürdig angesehen haben.28 Dagegen scheint die zweite Unterscheidung unabhängig von Heideggers Geschichtskonzept Arendts Zuspruch gefunden zu haben: Geschichte kann nur sprachlich wiedergegeben werden. Wesentlich ist, dass Geschichten geschrieben werden, damit vor der Vergänglichkeit, vor dem Ruin der Zeit etwas bestehen bleibt. In diesem Sinn ist die folgende unterstrichene Passage im Einklang mit Arendts Theorie der Narration zu denken: »Dies Wort bildet den Schluss des Gedichts ›Andenken‹ und lautet: ›Was bleibet aber, stiften die Dichter‹ (IV, 63). Mit diesem Wort kommt Licht in unsere Frage nach dem Wesen der Dichtung. Dichtung ist Stiftung durch das Wort im Wort. Was wird gestiftet? Das Bleibende. Aber kann das Bleibende denn gestiftet werden? Ist es nicht das immer schon Vorhandene? Nein! Gerade das Bleibende muss gegen den Fortriss zum Stehen gebracht werden; das Einfache muss der Verwirrung abgerungen, das Maß dem Maßlosen vorgesetzt werden.«29 Arendt sollte das Konzept der Unvergänglichkeit der Dich28 | Vgl. auch Weissberg Liliane: Liliane Weissberg hat inzwischen Einblick in Arendts Bibliothek am Bard College genommen und eine Ausgabe der Erläuterungen Hölderlins von Martin Heidegger untersucht, die sich im Besitz Hannah Arendts befand. Das war allerdings nicht die gleiche Ausgabe, wie in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Hier wurde diejenige benutzt, die Arendt dem Deutschen Literaturarchiv Marbach hinterlassen hat. Beide Exemplare dürften jedoch ähnliche Annotationen besitzen, denn Liliane Weissberg kommt zu dem gleichen Ergebnis. Arendts Kritik an Heideggers nationaler Selbstbestimmung durch Dichtung spricht aus den Annotationen in beiden Bänden: »Aber Dichten und Denken sind bei Heidegger auch keine einfach gegebenen Eigenschaften; wer weist vielmehr auf die konstante Selbstbefragung eines Volkes hin, auf den Versuch, eine Antwort zu finden auf die Frage, wer man ist, die er schließlich als geschichtlich bezeichnen sollte. Für Heidegger war Hölderlin jemand, der die Erkenntnis der Nähe von Denken und Dichten einzigartig formulieren konnte, der Heidegger als Philosoph voranging und sich – als ein Resultat seines Verhältnisses zu Griechenland – als Deutscher erwies. Und Heidegger schreibt: ›Die Wendung zum Vaterländischen ist aber auch nicht die Wendung zum Politischen.‹ Arendt wiederum sucht eine Wendung zum Politischen. Was bei Heidegger für die deutsche Nation gegeben scheint bzw. zu fordern ist, wird bei Arendt jedoch zu einer Frage der Handlung eines Subjekts, die über eine Selbstbefragung hinausgeht. Es war ihr wichtig, den handelnden Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, das Subjekt, auf das Heidegger verzichten konnte.« Das handelnde Subjekt besitzt Selbstverantwortung und wird nicht durch das Sein bestimmt. Weissberg, Liliane: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin. In: Hölderlin in der Moderne (Hg. Vollhardt, Friedrich), Berlin, 2014, S. 114-125, S. 123 f. 29 | Heidegger, Martin: Hölderlin und das Wesen der Dichtung. Rede gehalten am 2.4.1936 in Rom. In: Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt  /  M ain,

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tung und der Kunst in ihrer Narrationstheorie in der Vita Activa (1958) erweitert ausbauen. Ob sie in den 1950er-Jahren vom Heidegger’schen Text angeregt oder in den 1970er-Jahren in diesem Punkt Übereinstimmung mit ihm fand, bleibt offen. So unterschiedlich beide Denker sind, so haben sie doch eines gemein: Dichtung und Denken im Kreationsprozess wie in der Zielsetzung des Bestehenbleibens hängen eng zusammen. Heideggers Essay enstand 1936 und nimmt seine zweite Begegnung mit Arendt Anfang der 1950er-Jahre vorweg, die unter dem Motto des Denkens und Dichtens stand. Es gibt eine Passage, die sie in dieser Hinsicht annotiert hat: zu Gesprächen, die Bleibendes bewirken. Auch steht die Passage hier unter der Thematik des Verzeihens und der Versöhnung, die zu diesem Zeitpunkt ihren Umgang mit Heidegger bestimmte. Im Zusammenhang mit eigener Dichtung, Theorie zur Dichtung und biographischem Erlebnis gibt die Passage Aufschluss: »Wie geschieht Sprache? Um für diese Frage die Antwort zu finden, bedenken wir ein drittes Wort Hölderlins. Wir stoßen auf dieses Wort innerhalb eines großen und verwickelten Entwurfs zu dem unvollendeten Gedicht, das beginnt ›Versöhnender, der du nimmer geglaubt …‹ (IV, 163 ff. und 229 ff.) ›Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander.‹ (IV, 343)

[…] Wir sind ein Gespräch – und das will sagen: wir können voneinander hören. […] Wo ein Gespräch sein soll, muss das wesentliche Wort auf das Eine und Selbe bezogen bleiben. […] Das Eine und Selbe aber kann nur offenbar sein im Lichte eines Bleibenden und Ständigen. Beständigkeit und Bleiben kommen jedoch dann zum Vorschein, wenn Beharren und Gegenwart aufleuchten. […] Erst seitdem die ›reißende Zeit‹ aufgerissen ist in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, besteht die Möglichkeit, sich auf ein Bleibendes zu einigen. Ein Gespräch sind wir seit der Zeit, da es ›die Zeit ist‹. Seitdem die Zeit aufgestanden und zum Stehen gebracht ist, seitdem sind wir geschichtlich. Beides  – ein Gesprächsein und Geschichtlichsein – ist gleich, gehört zusammen und ist dasselbe.«30 Seit der zweiten Begegnung 1950 stand Arendts und Heideggers Beziehung unter dem Motto der Kontinuität, Bleibendes zwischen ihnen zu bewahren, das sich über das gemeinsame Interesse an Dichtung und Sprache ausdrückt. Dieser Wille, etwas Drittes aufzubauen, erklärt die Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Beziehung gestalteten, obwohl lange Unterbrechungen zeigen, dass ihnen das nicht wirklich gelang: Besucht hat Arendt Heidegger zwischen 1950 und 1952, während dieser 1971, S. 41 (Unterstreichungen von Arendt). In: DLA: Teilarchiv A: Arendt: Heidegger, Verschiedenes, Widmungen. 30 | Ebenda, S. 38 f. (Unterstreichungen von Arendt).

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Phase entstand der Großteil ihres Briefwechsels. Es gibt nur wenige Briefe zwischen 1953 und 1954. Dann folgte eine Pause von fünf Jahren, dann zwei Briefe, 1959 und 1960. Dann folgte wieder eine Pause von fünf Jahren und ein Brief 1965. Erst ab 1967 gab es tatsächlich wieder einen regen Briefwechsel, einen echten Austausch. Das bedeutet, dass sie sich fünfzehn Jahre lang mit wenigen kurzen Anläufen aus dem Weg gegangen sind. In den beiden folgenden Kapiteln sollen Arendts Äußerungen zur Narration und zur Kreation, die verstreut in verschiedenen Schriften, im Wesentlichen aber in der Vita Activa und in Vom Leben des Geistes erscheinen, unter der Perspektive des kreativen Menschen zusammengefasst werden.

2.1 N arr ation als E rzeugnis der U nvergänglichkeit »All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them.« Die dänische Schriftstellerin Karen Blixen, die ihre ersten Werke unter dem Pseudonym Isak Dinesen veröffentlichte, wurde von Arendt wegen ihrer Erzählkunst und ihrer Reflexionen über die Wirkung des Erzählens sehr bewundert. Das oben stehende Zitat verwendete Arendt mehrmals, so zum Beispiel als Eingangsmotto über dem Abschnitt »Das Handeln« in der Vita Activa31. Später fügte sie es nochmals in ihren politischen Essay über Wahrheit und Politik ein: »Wer es unternimmt zu sagen, was ist […] kann nicht umhin eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen Bedeutung, die menschlich sinnvoll ist. Dies ist der Grund, warum ›alles Leid erträglich wird, wenn man es einer Geschichte eingliedert oder eine Geschichte darüber erzählt‹, wie Isak Dinesen gelegentlich bemerkt – die nicht nur eine der großen Geschichtenerzähler unserer Zeit war, sondern auch, und in dieser Hinsicht nahezu einzigartig, wusste – was sie tat.«32 Arendts Interesse daran, wie Geschichten und Geschichte entstehen, geht bereits auf ihre ersten Schriften zurück. Angesichts ihrer vorwiegend politisch und philosophisch bestimmten Werke scheint diese literarische Dimension eher unbedeutend zu sein. Nun hat aber Arendts erste und kompetenteste Biographin Elisabeth Young-Bruehl bereits die Bedeutung der Literatur für Arendt herausgestellt.33 31 | Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1958), München, 2001, S. 213. 32 | Arendt Hannah: Wahrheit und Politik (1964). In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 327-379, hier S. 367. 33 | Vgl. auch Elisabeth Young-Bruehl, die berichet, dass Arendt zu einer Lesung Blixens kam: »Ein Jahr nach dem Tod der dänischen Kurzgeschichtenautorin Isak Dinesen berichtete Hannah Arendt einem Freund über ein Erlebnis mit Dinesen, die nach New York gekommen war: ›Sie kam, sehr, sehr alt, schrecklich hinfällig, wunderschön gekleidet; sie wurde zu einer Art Renaissancesessel geführt, bekam ein Glas Wein und dann fing sie an, ohne

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

Julia Kristeva hat außerdem betont, dass es in Arendts Werk so etwas wie eine »Apologie der Narration« gebe, die von ihren frühen Texten bis hin zum Alterswerk Vom Leben des Geistes eine einheitliche Linie darstelle.34 Tatsächlich finden sich Beobachtungen zur Wirkung des Erzählens bereits in Arendts Rilke-Essay von 1930 und in ihrer Rahel-Varnhagen-Habilitation von 1933. Theoretisch hat sie sich darüber ausführlich in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita Activa (1958) geäußert, wobei sie ihre Thesen vereinzelt parallel bereits in den politischen Essays Verstehen und Politik (1953), Natur und Geschichte, Kultur und Politik und Geschichte und Politik in der Neuzeit (alle 1957) parallel entwickelt hatte. Ihr Denktagebuch erhellt solche Reflexionen zusätzlich. So sollen im Folgenden ihre Beobachtungen über das Erzählen aus diesen Texten unter vier grundlegenden Gesichtspunkten zusammengefasst werden: dem Anlass, der Perspektive, dem Ziel und der Wirkung der Dichtung. Allerdings beziehen sich Hannah Arendts Äußerungen auf ganz verschiedene literarische Gattungen: auf Geschichtsschreibung, auf fiktionales Erzählen und auf Biographien; indirekt auch auf Lyrik, selbst wenn diese natürlich keine Geschichten im Sinne einer Handlung vermittelt. Aber auch in der Lyrik erscheinen in verkürzter Form Ereignisse, die einen plötzlichen Wandel herstellen. Selbst hier gibt es Narration, wenn auch eher im Sinne eines Aufzählens verschiedener Wahrnehmungen des lyrischen Ichs. Mit Julia Kristeva soll hier also festgestellt werden, dass Arendts Hymne auf das Erzählen auch das poetische Sagen mit einschließt: »Arendts Festhalten an der Erzählung schließt nicht die Verneinung des poetischen Sprechens aus, das für sie immanent zur erzählenden Sprache gehört.«35

2.1.1 Anlass der Dichtung: Ereignis und Geschichte In ihrem Essay Natur und Geschichte übernimmt Hannah Arendt von Aristoteles die Vorstellung eines wiederkehrenden Kreislaufs der Natur, die unvergänglich gegenwärtig und unabhängig vom Menschenleben sei.36 Im Kreislauf des biologiVorlage Geschichten zu erzählen, fast Wort für Wort wie sie im Buch stehen. Das Publikum, alles sehr junge Leute, war überwältigt. […] Sie war wie eine Erscheinung von Gott weiß wo oder wann. Und sogar noch überzeugender als in den Büchern. Also: eine große Dame.‹« Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 55. 34 | Vgl. das erste Kapitel La vie est un récit: Arendt et Aristote. In: Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Le génie féminin. Bd. 1, Paris, 1999, S. 120-146. 35 | Ebenda, S. 160 (Übersetzung A.B.). | Originaltext: »Pourtant son adhésion au récit ne devrait nullement s’entendre comme un déni du dire poétique […] qu’elle considère comme intrinsèque à la parole narrative.« 36 | Vgl. Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula); München, 2000, S. 54-79, hier S. 60 und S. 390, Anmerkung 70.

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schen Lebens gebe es allerdings ein andersartiges, lineares Leben: die Biographie, also die Lebensgeschichte, die von Geburt bis zum Tod erkennbar und erzählbar werde. Arendt unterscheidet zwischen den Bewegungsabläufen in der Natur, dem Kreislauf eines natürlich-biologischen Lebens, und dem individuellen menschlichen Leben, das linear verläuft. Als Beispiel erwähnt sie die gerade, zielstrebige Handlung der Antigone von Sophokles: Das sterbliche Leben der Menschen greift in die Natur ein, stört die Ordnung, die ohne Menschen in sich selbst ruhen und schwingen würde, in den ewigen Kreisen des Immerseins. Parallel zur geradlinigen Lebensgeschichte des Menschen, welche die kreisförmige Wiederkehr des biologischen Lebens unterbreche, beobachtet sie in der antiken Geschichtsschreibung, dass einzelne Ereignisse, Taten, Worte, Gesten die kreisförmige Wiederkehr des täglichen Lebens unterbrechen. Der Stoff der Geschichte bestehe aus solchen Unterbrechungen; Geschichte bestehe nur durch Außerordentliches.37 Wie definiert Hannah Arendt Ereignisse? Im Denktagebuch ist ein Eintrag vom März 1953 zu finden, worin sie zwischen Ereignis, Geschehen und Tatsache unterscheidet: »Jedes Ereignis ereignet sich in einem Geschehenszusammenhang, dessen ›routinemäßigen‹, ›notwendigen‹, nämlich vorhersehbaren alltäglichen Ablauf es unterbricht. Ohne solche Ereignisse ist der Ablauf des Geschehens (›nothing ever happens to me‹) schlechthin unerträglich in seiner Langeweile und Sinnlosigkeit. Ereignisse werden, wenn sie vergangen sind, zu Tatsachen. Als solche werden sie dem Geschehen assimiliert und verlieren gerade ihren Ereignischarakter. Als Tatsachen gliedern die Ereignisse den bloßen Ablauf des Geschehens, das ohne sie unerzählbar, unentrinnbar und sinnlos bliebe. Ereignisse sind letztlich garantiert durch Geburt und Tod, durch das Hinzukommen neuer Menschen und durch das Weggehen derer, mit denen der Geschehenszusammenhang rechnet.«38 Ereignisse unterbrechen den Alltag, werden zu Tatsachen und dadurch erzählbar: Indem Tatsachen einen erzählbaren Geschehenszusammenhang bilden, wird Sinn geschaffen. Voraussetzung für Geschichte ist schließlich die faktische Präsenz der Menschen: Geschichte kann nur dort existieren, wo Menschen aufeinanderstoßen, wenn sich etwas ereignet. Die Sinnhaftigkeit, die sich durch das Geschichtenerzählen manifestiert, betont Arendt in einem weiteren Eintrag vom Juli 1951: »Nur im Ereignis aber, in dem die Elemente des Geschehens zusammenschießen, leuchtet der Sinn des Geschehens auf, […] Ferner: Nur Ereignisse ›organisieren‹ das Geschehen, geben Form – und dem Menschen Haltung.«39 Das Ereignis ist als Endpunkt der erlebten Geschichte zu verstehen. Anhand der historischen Geschichtsschreibung bemerkt sie, dass Vergangenheit selbst überhaupt erst mit dem Ereignis entsteht: »Nur wenn etwas Unwiderrufliches passiert ist, können wir versuchen, seine Geschichte rückwärts zu verfolgen. Das Ereignis er37 | Vgl. Ebenda, S. 58 f. 38 | Denktagebuch: Heft 14: März 1953, Eintrag 8, S. 326. 39 | Denktagebuch: Heft 5: Juli 1951, Eintrag 10, S. 108.

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hellt seine eigene Vergangenheit, niemals kann es aus ihr abgeleitet werden. […] Wann immer ein Ereignis vorkommt, das groß genug ist, seine eigene Vergangenheit zu erhellen, entsteht Geschichte. Nur dann zeigt sich der Irrgarten vergangener Geschehnisse als eine Geschichte (›story‹), die erzählt werden kann, weil sie einen Anfang und ein Ende hat. Was das erhellende Ereignis enthüllt, ist ein bis dahin verborgener Anfang in der Vergangenheit; dem Auge des Historikers kann das erhellende Ereignis als nichts anderes erscheinen denn als ein Ende dieses neu entdeckten Anfangs.«40 Aus der Perspektive der Geschichtsschreibung ist das Ereignis als das Ende eines Prozesses zu verstehen, im Unterschied zur Perspektive des Handelns, aus der heraus das Ereignis im Gegenteil den Anfang eines neuen Prozesses bildet: »Nur im Handeln natürlich werden wir von den veränderten Umständen, die das Ereignis geschaffen hat, ausgehen, das heißt dieses Ereignis als einen Anfang begreifen.«41 Hier stellt sich die Frage, inwiefern Hannah Arendt von Martin Heidegger beeinflusst war, für den »das Ereignis« ein Grundbegriff seiner mittleren und späten Phase wurde. Das »Ereignis« löst die Begriffe »Sein« und »die Frage nach dem Sinn von Sein« der ersten Phase ab.42 Arendt notiert in ihrem Denktagebuch im April 1951 zu Heideggers Geschichtsauffassung: Leben, die menschliche Geschichte, habe Ereignischarakter, der Ursprung des Menschen liege im Ereignis. In Opposition dazu bedeute »Seinsvergessenheit« das Vergessen des eigenen Ursprungs, das Vergessen des ursprünglichen Ereignisses.43 Diese »Kehre« bei Heidegger vom transzendental-ontologischen Ansatz hin zum seinsgeschichtlichen verneint jedoch kein Transzendentes, denn sie notiert zu Heidegger: »Das Sein liefert sich dem Menschen aus, da es sich dem Menschen ereignet.«44 Dadurch erscheint das Ereignis als Akt, in dem ein mystifizierter, entpersonalisierter Gott »das Sein« dem Menschen zuschickt. Im gleichen Monat notiert Arendt konkreter eine indirekte Kritik an Heidegger: »Man tut oft so, als ob das, was sich zwischen Menschen begibt, sofort zum gleichsam kosmischen Ereignis wird in einer Geschichte, die bereits über dem Kopf der Menschen sich vollzieht, wenn er nur den ersten kleinen Finger gerührt hat. Nun ist es wahr, dass es solche Ereignisse wirklich gibt, aber sie gerade sprengen die Geschichte.«45 Für Arendt gibt es solch 40 | Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 110-127, hier S. 122. 41 | Ebenda, S. 123. 42 | Seubold, Günther: Stichwort: Ereignis: Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun In: Heidegger Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 302. 43 | Vgl. Denktagebuch: Heft 3: April 1951, Eintrag 21, S. 68. 44 | Seubold, Günther: Stichwort: Ereignis: Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun In: Heidegger Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S. 302. 45 | Denktagebuch: Heft 3: Eintrag 22, April 1951, S. 69. | Vgl. auch Young-Bruehl, Elisabeth: Elisabeth Young-Bruehl zitiert eine Rede Arendts, die sie 1954 vor der American

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»sprengende Ereignisse«, diese sind allerdings unabhängig von Geschichtsprozessen zu sehen, stellen also auch das Seinsgeschichtliche bei Heidegger in Frage.46 Ihre veröffentlichten Texte lassen, wie im Verlauf dieses Kapitels zu sehen sein wird, allerdings keinen Zweifel an der immanenten Auslegung des »Ereignisses« bei Arendt zu. Im Ereignis erscheint der Sinn im Geschehenszusammenhang, er wird durch die daraus entstehende Geschichte vermittelt. Es geht also nicht um eine bereits zuvor geschriebene Seinsgeschichte, die sich über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden hätte.

2.1.2 Perspektive: Der Erzähler Diese Immanenz bei Hannah Arendt (im Gegensatz zur Transzendenz) zeigt sich am deutlichsten, wenn man ihre häufigen und vielfältigen Analysen der Geschichtsschreibung betrachtet. Sie geht immer pragmatisch von der Perspektive des Erzählers aus. In Vom Leben des Geistes unterscheidet sie einerseits zwischen den Philosophen, deren Ziel das Ewige sei, deren Denken also um das immer Unsichtbare, wirklich Ewige (ageneton) kreise, das keinen Anfang und kein Ende habe, und andererseits den Dichtern und Historikern, die sich mit dem beschäfPolitical Science gehalten hat. Diese Rede wurde nie veröffentlicht. Ihre Distanz zu Heideggers Konzept der Geschichtlichkeit gibt sie darin unverhüllt zum Ausdruck. Die »Kehre« in Heideggers Denken interpretierte Arendt positiv, da sie mit seiner früheren »Wendung gegen die Selbstischkeit des Menschen« zusammenhängt, »aber seine Entwicklung des Menschenbegriffs bis hin zu einer ›Funktion des Seins‹ erschütterte Arendt tief. Nach ihrer Meinung zielte Heidegger in die Richtung einer mystischen Sicht, wonach die weltlichen Dinge ›den Menschen vom Sein ablenken‹. Er wurde kurz gesagt immer unpolitischer, auch wenn er zu vielen historischen Einsichten gelangte, die sie schätzte.« Blücher wie Arendt waren der Meinung, dass der schwächste Punkt sein Begriff der Geschichtlichkeit sei. In der Rede schreibt Arendt: »In Sein und Zeit (1927) interpretierte Heidegger Geschichtlichkeit nicht im anthropologischen, sondern im ontologischen Sinne, und jetzt ist er bei einem Verständnis angelangt, nach dem ›Geschichtlichkeit‹ bedeutet, geworfen zu sein (Geschichtlichkeit und Geschicklichkeit werden in diesem Sinne zusammengedacht, dass man geworfen und bereit ist, dieses ›Geworfensein‹ auf sich zu nehmen), so dass für ihn die Menschheitsgeschichte mit einer Seinsgeschichte zusammenfällt, die darin enthüllt wird.« Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 418. 46 | Vgl. die Seinsgeschichte bei Heidegger: geschichtliche Wandlungen des Seins, das heißt Wandlung der Seinsbegriffe: drei abendländische Großperioden: 1. dem Chaos und dem Grenzenlosen abgerungene Geordnetheit, 2. Kreatürlichkeit, das heißt Geschaffenheit vor dem obersten Schöpfer, 3. der Wille des Menschen als Steigerung ins Unabsehbare. Vgl. Seubold, Günter: Stichwort: Ereignis: Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun. In: Heidegger Handbuch (Hg. Thomä, Dieter), Stuttgart, 2003, S, 302-306, hier S. 302.

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tigen, was erscheine und im Lauf der Zeit wieder verschwinde.47 So folgen aus der Differenzierung zwischen Dichtern und Historikern zwei wesentlich unterscheidbare Arten von Geschichte: »Erstens und ursprünglich die Erinnerung und das Melden von Taten und Leiden, die allein darauf angewiesen sind, gerühmt zu werden und unsterblichen Ruhm zu erringen, weil sie das Allervergänglichste sind. Zweitens Geschichte im Sinne der Wissenschaft, die am Ende und vom Ende sich zu Anfängen zurücktastet, für die das Ende die zentrale Kategorie ist, um überhaupt Sinn zu finden, der es um einen Geschichtsprozess und keine Geschichte zu tun ist, etc. Diese Geschichte gibt es erst, seit die Neuzeit sich als Ende empfindet und zu den Anfängen zurück will (Hegel und Herder).«48 Die erste Art der Geschichte erklärt sie anhand der griechischen Geschichtsschreibung, die zweite anhand der Geschichtstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts. In der griechischen Geschichtsschreibung der Antike geht sie von Homer und Herodot aus. Herodot gilt ihr und allgemein als der Vater der abendländischen Geschichtsschreibung. Ihm gehe es durch Niederschrift darum, die großen Taten der Griechen unsterblich zu machen, damit ihr Glanz über Jahrhunderte hinweg erstrahle.49 Die Aufgabe des Dichters wie des Geschichtsschreibers liege darin, Ruhm herzustellen, damit das Vergängliche unvergänglich werde. Dabei spiele die Auswahl keine Rolle, wesentlich sei die Größe: »Die Erkenntnis des Großen, nämlich des Hervorragenden, Ausgezeichneten und Glänzenden in jeglichem Sinne, gehörte offenbar zu den selbstverständlichen Wahrnehmungserfahrungen, bei denen es nicht wesentlich anders zuging als bei den anderen Wahrnehmungserfahrungen auch.«50 47 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er-Jahre), München, 1998, S. 132. 48 | Denktagebuch: Heft 17: Eintrag 17, August 1953, S. 411. | Vgl. auch Benhabib, Seyla: Arendt verwirklichte in ihrem Totalitarismus-Buch historische Geschichtsschreibung. Seyla Benhabib analysiert Arendts Methode als »fragmentarische Historiographie«: In »Historisierung und Erlösung« stellt Benhabib fest, dass Arendt sich auf Benjamin beruft, um »die Kette der narrativen Kontinuität zu zerschlagen, die Fragmentarität, die historischen Sackgassen, Fehlschläge und Risse zu betonen. Die Methode der fragmentarischen Historiographie lässt nicht nur der Erinnerung der Toten Gerechtigkeit widerfahren, indem sie die Erzählung der Geschichte in den Kategorien ihrer fehlgeschlagenen Hoffnungen und Bemühungen erzählt, sondern sie ist auch ein Weg, ›die Vergangenheit zu bewahren‹, ohne von ihr versklavt zu werden, und besonders, ohne dass die eigene moralische und politische Imagination von den Argumenten der ›historischen Notwendigkeit‹ erstickt wird.« Benabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft der Erzählung In: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz (Hg. Diner, Dan), Frankfurt / M ain, 1988, S. 150-174, S. 163 f. 49 | Vgl. Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S, 54-79, hier S. 63. 50 | Ebenda, S. 63.

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Durch Geschichte werden Menschen zu Ebenbürtigen der Natur. Das gelte für drei Autoren, die sie behandelt: den Dichter Homer, den Geschichtenerzähler Herodot und den wissenschaftlichen Historiker Thukydides.51 Wie bereits festgestellt, hat Arendt Aristoteles’ Konzept von einem wiederkehrenden Kreislauf der Natur, der unvergänglich sei, übernommen und diese Unvergänglichkeit mit dem Bestreben der Geschichtsschreibung nach Unvergänglichkeit gleichgesetzt. Der gemeinsame Nenner von Natur und Geschichte in der antiken Geschichtsschreibung sei diese Unsterblichkeit: »Weil die Sterblichen in ein Naturgefüge hineingeboren sind, das von sich aus unsterblich ist, müssen auch sie mit großer Mühe und Anstrengung danach trachten, Unsterblichkeit zu erlangen. […] Die Geschichte nimmt in ihr Gedenken diejenigen Sterblichen auf, die durch Tat und Wort sich der Natur als würdig erzeigt haben, und der unsterbliche Ruhm bezeugt ihnen, dass es ihnen, ihrer eigenen Vergänglichkeit zum Trotz, gestattet sein soll, in der Gemeinschaft der Dinge zu verbleiben, die unvergänglich dauern.«52 In der griechischen Antike gebe es eine pluralistische Form der Geschichtsschreibung, aber keine Nationalgeschichte. Im Denktagebuch sind dazu zwei Beobachtungen vermerkt: Im August 1953 notiert Arendt, dass wir das Konzept der Weltgeschichte zwar den Griechen verdankten, aber daraus noch lange kein Weltgeschehen werde, »nur die Taten aller Herren Völker«, im Unterschied zu der historischen Geschichtsschreibung Roms im Anschluss, die den Aufstieg Roms zur Weltmacht als einen weltgeschichtlichen Prozess darstellen.53 Einen Monat später untersucht Arendt die Darstellungen von Homer und Herodot und stellt erneut heraus, dass der Anfang der Geschichte alles andere als eine »National«-Geschichte sei: »Es ist im Gegenteil die Fähigkeit, überall Größe zu sehen und zu verstehen und neugierig zu sein für andere Schicksale.«54 Auf diese Weise unterscheidet sie die griechische Geschichtsschreibung, die viele punktuelle Geschichten enthält, von jener der Geschichtstheorien, in der es nur eine Geschichte gebe, die sich prozessartig und planmäßig entwickle.55 51 | Im Denktagebuch unterscheidet Arendt die drei Arten der Geschichtsschreibung genauer: »Homer: pragmatische Geschichte, Rühmung der Taten des Einzelnen, weil diese wie Rauch vergehen; Homer rühmt die Taten, aber nicht ein Geschehen. Herodot: Aus den Taten wird ein Volk; geschichtliche Wirklichkeit als menschliche Stätte für den Ruhm des Volkes. Herodot und Thukydides: Geschichte wird zur Erzählung des ›Geschehens‹ eines Volkes, indem Taten und Leiden erinnert werden.« | Denktagebuch: Heft 17: Juli 1953, Eintrag 5, S. 400 f. 52 | Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 64. 53 | Vgl. Denktagebuch: Heft 17: August 1953, Eintrag 29, S. 420. 54 | Denktagebuch: Heft 18: September 1953, Eintrag 19, S. 433. 55 | Vgl. Seyla Benhabib, die zu dem Schluss kommt, dass politisches Denken nicht auf Geschichte fundiert werden kann, da der Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert alle Hoffnung auf einen tieferen Sinn oder ein höheres Endziel zunichte gemacht hat. Nach

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Anhand der Geschichtstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert Hannah Arendt den Mechanismus einer Geschichtsschreibung aus der Perspektive des Erzählers, der sich einer Geschichtsphilosophie verschrieben hat. Sie kommt zu dem Resultat, dass im Grunde jede Konstruktion für den gesetzmäßigen Ablauf des Geschichtsprozesses zutreffen könne, aber eben doch immer Konstruktion bleibe. Man könne ein Geschehen immer auch so erklären, dass es so und nicht anders hätte kommen müssen. Ob es sich dabei um das Hegel’sche Gesetz der Freiheitsdialektik, das Marx’sche Gesetz des Klassenkampfes, das Spengler’sche Gesetz des Auf- und Untergangs der Kulturen oder das Toynbee’sche Gesetz Benhabib haben Arendt und Benjamin den gleichen Ausgangspunkt: »Wie Walter Benjamin, den sie hoch schätzte, suchte Hannah Arendt den Sinn des Politischen nicht in dem offen sichtbaren Verlauf der Geschichte, die – mit Benjamin zu reden – wie eine zum Entgleisen verurteilte Lokomotive dahinraste, sondern in jenen brüchigen Elementen und Traditionsbeständen, die in unerwarteten Handlungen, und immer nur für Augenblicke, zum Vorschein kommen.« Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz (Hg. Diner, Dan), Frankfurt / M ain, 1988, S. 150281, S. 150 f. | Vgl. Honohan, Yseult, die feststellt, dass nach ähnlichen Ausgangspunkten (Kritik am positivistischen Historiker, der die Perspektive der Sieger einnimmt; monumentale Geschichte, die ohne Auswahl alles referiert; praktische Intention der Geschichte) die Konzepte Arendts und Benjamins divergieren: Für Arendt gibt es einen Unterschied zwischen dem Historiker und dem politischen Akteur, selbst wenn Geschichtsschreibung selbst zur Handlung werden kann, Handlungsfunktion besitzt. Für Benjamin gibt es eine Identität zwischen dem historischen Materialisten oder Revolutionär und dem Geschichtsschreiber. Das Passagenwerk, das nur aus Zitaten besteht und intentionslos sei, steht dazu im Widerspruch: »Benjamin’s approach to the past alternates between a form of historical thought that is indistinguishable from action and one that is radically isolated from it. Arendt’s approach is more consistent; writing history is related to, but different from making history.« (S. 326) Weiterhin unterscheiden sich Arendt und Benjamins Auffassung über das Prozessdenken in der Geschichte: Benjamin kritisiert das Prozessdenken, aber nimmt implizit eine einzige Richtung in der Geschichte an – anstatt einer Kette von Ereignissen sieht er eine einzige Katastrophe, und die Aufgabe des Historikers liege darin, den Kern dieser Geschichte zu finden. Arendt dagegen versteht geschichtliche Ereignisse im Plural. Als Anfänge kondensieren sie zu, erhellen sie ihre eigene Vergangenheit: »Arendt’s questionning ›of the very image in which history is usually conceived as a process or stream of development‹ is more general and far-reaching, as one process is continually interrupted by others. For her, history is the scene of praxis rather than poesis. […] There can be no ›end of History.‹ Revolutions essentially found rather than destroy. They interrupt one process by starting another; though one cannot put a stop to he process of history, one can start new ones. When Benjamin sees history as an unending series of disasters, Arendt sees it, at worst, as a succession of lost opportunities and uncomplete projects.« Honohan, Yseult: Arendt and Benjamin on the Promise of History: A Network of Possibilities or One Apocalyptiv Moment? In: Clio, 1990, S. 311-330, hier S. 327.

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von typischen Reaktionen und Herausforderungen handele,56 im Grunde seien dies alles Modelle, die sich nicht an die Wirklichkeit anpassen, sondern an welche die Wirklichkeit angepasst werde. Sie notiert mehrere Male Zitate über die Willkürlichkeit geschichtlicher Prozesse, sei es von Goethe (»Geschichte als ein Mischmasch aus Irrtum und Gewalt«) oder von Kant (»Geschichte als trostloses Ungefähr«)57, und bemerkt trocken über die Konstruktion von Geschichtsmodellen: »Die Vexierfrage der Geschichte – dass alles im ›trostlosen Ungefähr‹ bleibt, wenn es im Einzelnen betrachtet wird, und sinnvoll wird ›im Großen‹ – von der sich schon Vico und dann Kant und Hegel so imponieren ließen, war eigentlich bereits gelöst, als Leibniz entdeckte, dass man aus zufällig aufs Papier geworfenen Punkten immer eine mathematische Kurve konstruieren und eine Formel ableiten könne. Man stelle sich vor, Leibniz hätte daraus geschlossen, dass eine List der Vernunft dem die Feder führt, der die Punkte aufs Papier wirft! Hegels Schluss war im Grunde von keinem besseren Kaliber.«58 Ihre Kritik an der Geschichtsphilosophie veröffentlicht Arendt in ihrem Essay über Geschichte und Politik in der Neuzeit.59 Auch hier wiederholt sie die Kant- und Goethe-Zitate über die Willkürlichkeit historisch-politischer Ereignisse und die Planlosigkeit geschichtlicher Abläufe. Und sie analysiert den psychologischen Mechanismus, der zu geschichtsphilosophischem Denken führt. Der erste Schritt bestehe im Versuch, die Geschichte im Ganzen zu betrachten und dabei von einzelnen Ereignissen, Absichten und Zwecken der Menschen zu abstrahieren: Plötzlich scheine alles sinnvoll. Sie vergleicht diesen Vorgang mit Alltagserfahrungen: Im 56 | Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 55. 57 | Denktagebuch: Heft 20: Juli 1954, Eintrag 21, S. 488. 58 | Denktagebuch: Heft 20: Eintrag 46, November 1954, S. 505. Hier könnte ein Widerspruch in Kants Geschichtsauffassung liegen: auf der einen Seite das »trostlose Ungefähr« der Ereignisse, auf der anderen sein Ansatz zu einer Geschichtsphilosophie, die von der Natur gesteuert wird. 59 | Vgl. Arendt, Hannah: Geschichte und Politik in der Neuzeit (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 81-116, hier S. 101 f. | Arendt führt Büchner, also bewusst einen literarischen Autor, an, der aus Enttäuschung über die Französische Revolution Ereignisse relativierte: »Unter den vielfältigen Belegen, die aus der Zeit erhalten sind, greife ich einige Zeilen aus Georg Büchner heraus, weil in ihnen die eigentliche Probleme des Handelns, mit denen dann die moderne Geschichtsschreibung hoffte fertig zu werden, besonders eindringlich zur Geltung kommen. Büchner schrieb: ›Ich studierte die Geschichte der Revolution (…) Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulern und Eckstehern der Geschichte mich zu beugen.‹« Ebenda, S. 101 f. | Vgl. auch Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt /  M ain, 1996, S. 445.

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Zusammenhandeln der Menschen gebe es eine Fülle einander widersprechender Intentionen und Zwecke. Wenn der Prozess zu seinem vorläufigen Abschluss gekommen sei, bekomme alles einen stimmigen Sinn, der als zusammenhängende, erzählbare Geschichte dargelegt werden könne, auch dann, wenn keine der Absichten und Zwecke der Handelnden sich habe durchsetzen können.60 Der zweite Schritt des geschichtsphilosophischen Denkens bestehe in der Verwechslung von Sinn und Zweck. Nachdem man einen Sinn in diesem Geschichtsprozess gefunden habe, mache man diesen Sinn zu einem Zweck. Tatsächlich sei es aber so, dass der Sinn sich erst offenbare, wenn der Vorgang abgeschlossen ist, also in seiner vollen Bedeutung erst erfassbar werde, wenn alle Handelnden tot sind. Der Zweck dagegen sei dasjenige, um dessentwillen die Menschen handeln. Wenn man nun wie Hegel einen wirkenden Weltgeist annimmt, so zeige sich den Handelnden ein ihnen unbewusster, aber dennoch eindeutiger Zweck, der von diesem Weltgeist bestimmt werde. Das bedeutet also einerseits totalen Determinismus, andererseits enthebt es die Menschen jeglicher Verantwortung. Arendts Vorstellung der geschichtlichen Immanenz zeigt sich ganz klar in ihrer Beurteilung von Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr. Im Grunde folge Nietzsche Hegel, er ersetze nur den Weltgeist durch den Übermenschen, eine Art »Zuschauergott«, und reduziere das Handeln der übrigen Menschen auf Fatalismus. Während bei Hegel alles sinnvoll und gut sei, sich Gott offenbare und sich über das Schauspiel der Menschen freue, so werde bei Nietzsche unter denselben Voraussetzungen Gott der Übermensch an die Seite gesetzt, der ebenfalls zuschaue: »Nietzsche dreht Hegel insofern um, als bei ihm nicht mehr der Mensch das göttliche Spektakel der Selbstoffenbarung des Geistes betrachtet, sondern Gott das menschliche Schauspiel der ›ewigen Wiederkehr‹, Die ewige Wiederkehr, das ist der ›circulus vitiosus deus‹, das ewig sich wiederholende Spektakel des menschlichen Geschehens, zu dem ›da capo‹ zu rufen göttlich ist, Beweis des Anteils am Göttlichen; ein Schauspiel, das sich immer wiederholt, weil es Einen gibt, der es ›so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus …; der gerade dieses Schauspiel nötig hat – und nötig macht‹ (Jenseits von Gut und Böse, 56). Dies ist Nietzsches Gottesbeweis! – Wie? […] Der ›Übermensch‹, dessen wesentliches Zeichen ›amor fati‹ ist, ist der göttliche Mensch, der imstande ist, Gott im Zuschauerraum Gesellschaft zu leisten. Dies ist Nietzsches Ausweg aus dem Nihilismus.«61 Insgesamt beruft sich Hannah Arendt auf ein pragmatisches Geschichtsverständnis, in Anlehnung an die griechische Geschichtsschreibung. Diese erhelle 60 | Vgl. Arendt, Hannah: Geschichte und Politik in der Neuzeit (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 80-109, hier S. 102. 61 | Denktagebuch: Heft 6: September 1951, Eintrag 17, S. 139. Arendt zitiert nach Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, Bd. 3, S. 75.

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die Welt durch ihre punktuellen Geschichten: »Es hat nur Leuchtkraft. Das Tun und Leiden eines Menschen, des Odysseus, des Achilles, des Ödipus, der Antigone, des Perikles etc., verändert die Welt nicht und macht sie nicht sinnvoller; sie erleuchten sie nur. Wir stehen noch heute im Lichte ihres Ruhms.«62 Die Welt wird nicht bedeutsamer, aber durch den Verstehensprozess kann der Mensch Sinn in den Geschichten erkennen, die Leuchtkraft entfalten. Dadurch vermeidet Arendt nihilistische Tendenzen, die aufgrund ihrer pessimistischen Haltung gegenüber der Willkürlichkeit historischer Ereignisse durchaus hätten präsent sein können. Eine Bejahung der Welt, gegen die Reaktion einer sinnlos erscheinenden Weltordnung, ist Teil ihres Glaubens, dass alles möglich sei, sobald Menschen zusammentreffen. Geschichte habe mit dem Muster zu tun, das durch die Handlungen vieler entstehe. Aus diesem Durcheinander entwickle sich ein verstehbares Geschehen, ein Schema, eine Welt, die für die Nachfolgenden zur Geschichte wird: »Die Welt ist so eingerichtet, dass aus jedem Nebeneinander und Zugleich Sinn bereits herausspringt. Wegen dieser Musterhaftigkeit nannte Leibniz die Welt die vollkommenste aller Welten: Sie ist so eingerichtet, dass es Sinnlosigkeit nicht gibt. Das heißt andererseits, dass es wirklich stimmt, dass alles möglich sei.«63 Hannah Arendt untersucht schließlich nicht nur Erzählperspektiven der griechischen Antike, wie der geschichtsphilosophischen Strömungen, sondern auch diejenige des Künstlers oder Erzählers. In der Vita Activa äußert sie sich ausführlich darüber; zentral ist hier wieder die Leuchtkraft. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts habe der Künstler eine besondere Stellung in der Arbeitswelt. In der Massengesellschaft der jobholder stelle der Künstler eine Ausnahme dar: »Hiervon ausgenommen sind wirklich nur die ›Dichter und Denker‹, die schon aus diesem Grund außerhalb der Gesellschaft stehen.«64 Arbeit definiere sich unter anderem dadurch, ein Einkommen zu sichern. Der Künstler arbeite in diesem Sinne nicht, er sei ein »Werktätiger«: »Die künstlerischen Berufe – genau gesprochen die einzigen Werktätigen, welche die Arbeitsgesellschaft übrig gelassen hat – bilden die Ausnahme, die diese Gesellschaft zu machen hat.«65 Die Arbeit stehe dabei in Opposition zum Spiel des Künstlers: Freiheit des Lebens, freier Kräfteüberschuss kennzeichnen ihn, wenn der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte den Punkt erreicht habe, an dem man seiner nicht mehr bedürfe. Das »Spielen« des Künstlers übernehme damit die gleiche Funktion wie der Zeitvertreib des Hobbys im Leben des Individuums.66 Sie kritisiert so-

62 | Ebenda, Heft 7: Juli 1953, Eintrag 5, S. 402. 63 | Ebenda, Heft 20: August 1954, Eintrag 26, S. 490. 64 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 13. 65 | Ebenda, S. 13. 66 | Vgl. Ebenda, S. 151.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

mit das öffentliche Urteil der Gesellschaft, die nur noch eine Vorherrschaft der Arbeit sehe67 und für welche Kultur nur noch dem Zweck der Unterhaltung diene.68 Das Besondere am Kunstwerk zeige sich an zwei Kriterien: einmal darin, dass das Kunstwerk etwas Außerordentliches darstelle, andererseits, dass dessen Maßstab absolut sei. Damit sei das Kunstwerk im Gegensatz zum Gebrauchsgegenstand zu sehen, welcher der Unterhaltung diene, durch den Markt bestehe und sich durch materiellen Wert definiere. Die Außerordentlichkeit des Kunstwerks entwickelt Hannah Arendt aus der Persönlichkeit des Künstlers. Das Leben sei eine Geschichte, die keinen transzendenten Verfasser habe: »Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch auf einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfasst ist.«69 Diese Geschichte sei einzigartig, die Person dabei der Held der Geschichte. Seine Individualität, das »Wer«, eröffne sich im Medium des Erzählbaren, durch das die Geschichte greif bar und bedeutend werde. Sie bewahre die flüchtigen und unverwechselbar einzigartigen Manifestationen der Person: »Wer jemand ist oder was, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie; was immer wir sonst von ihm wissen mögen und von den Werken, deren Verfasser er ist, kann uns höchstens darüber belehren, was er ist oder war.« 70 Das Kunstwerk sei dabei nicht auf das Schriftliche fixiert, es gebe auch andere Ausdrucksmittel. Wesentlich sei nur, dass dabei die Außerordentlichkeit, also das Besondere, zum Ausdruck komme, das im Leben des Einzelnen stattfinde: »In der Verdinglichung durch das Kunstwerk, das eine Tat oder Leistung verherrlicht und vermittels der nur ihm eigenen Verdichtung und Transfiguration ein Außerordentliches in seiner vollen Bedeutsamkeit erstrahlen lässt, kann der Gehalt des Gesprochenen und Getanen sowie sein eigentlich konkreter Inhalt die verschiedensten Formen annehmen.« 71 Ihre Betonung des »Außerordentlichen,« des »Wer« der Person, das »erstrahlt«, heben besonders Julia Kristeva und Christina Thürmer-Rohr hervor. Nach Kristeva gehe es darum, eine Erzählform zu finden, die auf die Frage antworte: »Wer bist du?«: »Die Kunst der Erzählung liegt in der Fähigkeit, Handlungen zu kondensieren in ein vorbildhaftes Intervall, sie aus der kontinuierlichen Flut herauszuheben und das ›Wer‹ zu erhellen.« 72 Und Thürmer-Rohr betont gleicher-

67 | Vgl. Ebenda, S. 152. 68 | Vgl. Ebenda, S. 157. 69 | Ebenda, S. 231. 70 | Ebenda, S. 231. 71 | Ebenda, S. 231. 72 | Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Le génie féminin, Bd. 1, Paris, 1999, S. 123 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »L’art du récit réside dans le pouvoir de condenser l’action en un intervalle exemplaire, de l’extraire du flux continu, et de révéler un ›qui‹«.

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maßen, dass man im Schreiben identifizierbar werde: Man »muss sich entscheiden, Boden finden, Raum einnehmen – sich ansiedeln.« 73 Das Außerordentliche des »Wer« des Erzählers zeige sich zwar immer im Kunstwerk, aber damit dieses Qualität besitze, sei das Können unabdingbar. Das Können definiere sich auf zweierlei Art: erstens als Ausdruck des allerpersönlichsten Individuums, zweitens durch das Anlegen von Maßstäben. Der persönliche Ausdruck des Künstlers könne nur zur Meisterschaft kommen, wenn er allein sei: »Die Isoliertheit gegen die Mitwelt, das ungestörte Alleinsein mit einer ›Idee‹, d. h. mit dem inneren Bild des herzustellenden Gegenstandes, ist die unerlässliche Lebensbedingung der Meisterschaft.« 74 Arendt kritisiert an der Moderne, dass diese Meisterschaft verloren gehe, da das alleinige Arbeiten am Gegenstand nicht mehr existiere. Beim Teamwork sei die echte Leistung des Einzelnen nicht mehr auszumachen. Die Formen des Zusammen gewinnen Vorrang vor dem Produkt.75 Zur Außerordentlichkeit gehöre also der besondere Einzelne, der allein sein Produkt erschaffe. Der Maßstab, nach dem der Künstler arbeite, hebe sich durch seine besondere Qualität hervor. Gegenwärtig werde dieses Qualitätsbewusstsein von der Gesellschaft nivelliert, weil man sich nur an einen äußeren Wert halte, der vom Markt abhängig sei: »Der Wert existiert nur in ›der Vorstellung‹ der anderen, sofern diese sich als Wertschätzung öffentlich äußern kann, wozu es wiederum eines öffentlichen Bereiches bedarf, in dem Dinge als Waren erscheinen. Weder Arbeit noch Werk, weder Kapital noch Profit noch das erlesenste Material kann von sich aus Wert verleihen; wertstiftend ist einzig die Öffentlichkeit, in der ein Gegenstand erscheint, in das Verhältnis zu anderen Gegenständen treten und durch Vergleich eingeschätzt werden kann.« 76 Der Künstler, der Herstellende dagegen brauche absolute Maßstäbe und Kriterien: Dazu gehören Regeln, die Messbarkeit in das Chaos tragen. Diese Maßstäbe übersteigern und überdauern die Kunstwerke, an denen sie angelegt worden sind, sowie den Künstler, der sie handhabt. Im Grunde seien Maßstäbe per se absolut, im Unterschied zu Werten, die relativ seien: »Denn ihm [dem Künstler] bleiben dann keineswegs relative Maßstäbe in der Hand; es gibt keine relativen Maßstäbe, wie es relative Werte gibt; jeder Maßstab ist im Verhältnis zu dem, was er zu messen sich anschickt, ›absolut‹ und dem Menschen transzendent.« 77 Zusammenfassend manifestiert sich laut Arendt das echte Kunstwerk inhaltlich durch die Individualität des Künstlers, der sich formal bei der Kreation an absolute Maßstäbe hält. Beide Kategorien, Persönlichkeit und Qualität, sprechen in73 | Thürmer-Rohr, Christina: »Verstehen und schreiben – unheimliche Heimat«. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz-Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 95. 74 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 191. 75 | Vgl. Ebenda, S. 192. 76 | Ebenda, S. 197. 77 | Ebenda, S. 200.

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direkt für die Leuchtkraft, die für Arendts Auffassung der Kunst wesentlich ist. Wie sie anhand ihrer historischen Analysen der Erzählperspektiven in der griechischen Antike und der Geschichtsphilosophie zeigt, gibt es keine Geschichte an sich, sondern nur Geschichten, die von Menschen geschrieben werden und deren Ziel es ist, zu bewahren und Sinn zu vermitteln. Zu diesen beiden Zielen äußert sie sich ausführlich in verschiedenen Werken. Sie sollen daher im Folgenden getrennt besprochen werden.

2.1.3 Ziel der Dichtung: Unvergänglichkeit »Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, …« 78

Sehr früh schon, nämlich 1930, kommt Hannah Arendt in der Neuen Schweizer Rundschau in einem Essay über Rilkes Duineser Elegien zum ersten Mal auf das Hauptziel der Dichtung zu sprechen, das sie in ihren späteren Werken wiederholen und ausarbeiten wird. Aus Rilkes Zeilen entnimmt sie folgende Schlussfolgerung: »Retten aber ist Nennen, das heißt vor Verfall bewahren. Nennen ist schließlich Rühmen. Gerühmtwerden aber heißt hier nicht nur in seinem unveränderten Sein belassen, sondern bedeutet grundsätzlich eine Verwandlung in ein stärkeres Sein: ›… aber zu sagen, verstehs, oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein …‹« 79

In nuce findet sich hier bereits Hannah Arendts Theorie der Narration: Dinge beschreiben und dadurch zu retten. Transzendenz werde vergeblich gesucht, das menschliche Dasein und das menschliche Rufen bleibe ohne Antwort, nur Dichtung bestehe als Auftrag. Alles, was bleibe, sei das Erzählen. Das menschliche Dasein sei der Welt entfremdet, der Mensch hänge bezugslos in der Luft. Weltfremdheit könne nur überwunden werden, wenn der Mensch einen Umweg über die Dichtung gehe, die errette: »Dinge sind vergänglich und daher retttungsbedürftig. Rettung ist nicht einfach ein spontan menschlicher Akt, sondern Auftrag und Drang der Dinge (›drängender Auftrag‹)«.80 Arendt drückt sich hier phäno78 | Arendt zitiert nach Rilke: Duineser Elegien, 9. Elegie. In: Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte, Frankfurt / M ain, Leipzig, 1986, S. 662 (Hervorhebung Rainer Maria Rilke). 79  |  Hannah Arendt / G ünther Stern: Rilkes Duineser Elegien In: Neue Schweizer Rundschau: Wesen und Leben. Bd. 23, 1930, H. 11, S. 859. Arendt zitiert nach Rilke: Duineser Elegien, 9. Elegie. In: Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte, Frankfurt / M ain, Leipzig, 1986, S. 662 (Hervorhebung Rainer Maria Rilke). 80 | Ebenda, S. 859.

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menologisch aus, tatsächlich im Husserl’schen Sinne. Ihr Ausdruck »Auftrag und Drang der Dinge« entspricht der Husserl’schen Auffassung des »Gegenstandes«: »Das Wort fungiert als ein logischer Grundbegriff und ist aus phänomenologischer Perspektive immer ein intentionaler Gegenstand, der in einem Akt (im Urteilen, Fühlen und Begehren usf.) intendierte Gegenstand, ein Etwas, worauf sich die Intention richtet.«81 Hannah Arendt äußert sich 25 Jahre später über die Unvergänglichkeit der Erzählung, die sie vor allen Dingen in der Vita Activa entwickelt: Auch hier geht sie von der Opposition des Kreislaufs der Natur zum linearen Leben der Menschen aus. »Das Leben ist durch Anfang und Ende begrenzt, es vollzieht sich zwischen zwei Grundereignissen, seinem Erscheinen in der Welt und seinem Verschwinden aus ihr, und folgt einer eindeutig gradlinigen Bewegung, wiewohl diese lineare Bewegung ihrerseits noch einmal von der Triebkraft des biologischen Lebensprozesses gespeist ist, dessen Bewegung im Kreislauf verläuft.«82 Das Leben auf die Welt bezogen sieht Arendt also als eine gerade Linie der Zeitspanne zwischen Geburt und Tod. Ihr Ausgangspunkt für das Geschichtenerzählen ist die Biographie. Handeln und Sprechen ergeben am Ende immer eine Geschichte, sie weisen ungefähr und zufällig in Einzelereignissen und Ursachen genügend Kohärenz auf, um erzählt zu werden. »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, dass es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt, und die, wenn sie aufgezeichnet, also in einer Biographie verdinglicht wird, als Weltding weiter bestehen kann.«83 Ausgehend von der Biographie stellt sie in der Vita Activa fest, dass man im Grunde lebe, um Geschichten zu erleben und zu erzählen, die überdauern. Klarsichtig erkennt sie, dass dabei häufig nicht die Impulse des Handelns überdauern, sondern die Geschichte, die daraus entstanden sei: »Das, was von seinem [des Menschen] Handeln schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht die Impulse, die ihn selbst in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die er verursachte; nur diese können am Ende in Urkunden und Denkmälern verzeichnet werden, in Gebrauchsgegenständen und Kunstwerken sichtbar gemacht werden, im Gedächtnis der Generationen wieder und wieder nacherzählt und in allen möglichen Materialien vergegenständlicht werden.« 84

81 | Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Hg.Vetter, Helmuth), Hamburg, 2004: Begriff »Gegenstand«, S. 208. 82 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 116. 83 | Ebenda, S. 116. 84 | Ebenda, S. 227.

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Sie geht auch hier auf die griechische antike Geschichtsschreibung85 zurück, um den künstlerischen Prozess darzulegen. Voraussetzung der antiken Geschichtsschreibung sei die Sterblichkeit der Menschen und die Unsterblichkeit der Natur. In Kultur und Politik stellt sie fest, dass für die Griechen Ruhm deshalb so bedeutsam war, da er unsterblichen Bestand verleihen konnte. Dichter und Künstler waren für die Erzeugung des Ruhms, für das Dauerhaft- und Unvergänglichmachen eine bessere Garantie als Handeln und politische Organisationen. Homer und seine Dichtung bezeugten, was Ruhm sei und vermöge: »Denn die Größe des Menschen, auf die alles ankommt, wird darin gesehen, dass die Menschen, obwohl sie Sterbliche sind, Dinge tun und Worte sprechen können, die der Unsterblichkeit würdig sind, also wert sind, für immer erinnert zu werden. Diese nur menschliche und rein irdische Unsterblichkeit, auf die Größe seinen Anspruch hat, ist der Ruhm.« 86 Dieser Ruhm werde durch die Verdinglichung, das Niederschreiben der Taten am Leben erhalten. Gerade die Griechen seien fähig gewesen, die eigentümliche Flüchtigkeit des lebendig gesprochenen Wortes und die tragische Vergänglichkeit der lebendig vollzogenen Tat zu entdecken und ihre höchste menschliche Aufgabe darin zu sehen, diesem Flüchtigsten und Vergänglichsten Bestand zu verlei-

85 | Vgl. dazu auch Denktagebuch: Heft 18: August 1953, Eintrag 15, S. 428: | Arendt unterscheidet hier zwischen der griechischen und der römischen Geschichtsschreibung: Die Griechen erfuhren die Vergänglichkeit des Handelns und erzeugten Beständigkeit durch Dichtung, die daher klassisch geworden sei. Die Römer dagegen begriffen das Handeln als vorübergehend und schufen Bleibendes durch die Gründung von Städten: »Rom selbst ist der römische Homer.« | Und Denktagebuch, Heft 20, Mai 1954, Eintrag 10, S. 483, wo Arendt den »Ursprung der Poesie als ewiges Gedächtnis« bezeichnet und ausführt: »Es stellt sich ferner heraus, dass Gedächtnis an sich genügt; es muss sich in etwas Hergestelltes transformieren.« 86 | Arendt, Hannah: Kultur und Politik (1958). In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 277-304, hier S. 287. | Sarah Clift weist darauf hin, dass Ruhm bei Arendt nicht als individualistische Glorifizierung zu verstehen sei: »Although it can certainly be argued that Arendts’s formulation – that the Greeks committed human action tot he memorial structure of individual life span – reflects a broad humanist commitment and that hers is an attempt to ›humanize‹ political action on the basis of the individual, her intention is certainly not to focus on how ›great men‹ become immortal on the basis of an individualistic conception of personal biography. Rather, the task of her argument here is to show how Greek political action retains its singularity in historical discourse by virtue of being narrated like a human life.« Clift, Sarah: Narrarive life span, in the Wake: Benjamin and Arendt. In: Clift, Sarah: Committing the future to memory, New York, 2014, S. 17. Tatsächlich spricht Arendt ja von erinnerungswürdigen Taten und nicht von ruhmreichen Menschen.

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hen – durch eine Verwandlung in Hergestelltes, durch poiesis.87 Arendt stellt die Fähigkeit des geschriebenen Wortes, erhalten zu bleiben, in Frage, da das Schreiben im Unterschied zu den bildenden Künsten wie Malerei und Skulptur nur wenig physisches Material gebrauche, also leichter zerstörbar und vergänglicher sei. Wenn jedoch Schriftliches erhalten bleibe, könne seine Wirkung außerordentlich sein: »Und wenn auch Dichtung neben der Musik die am wenigsten materialgebundene aller Künste ist, so ist doch auch sie Herstellen, und es findet auch in ihr eine Verdinglichung statt, die nur dem Herstellen eignet und ohne die schon Dauerhaftigkeit unmöglich wäre, von Unvergänglichkeit ganz zu schweigen.« 88 Das Motiv des Künstlers besteht im Willen etwas zu bewahren. Vergänglich sei alles von Menschen Gemachte. Dauer könne nur verliehen werden durch Verdinglichung. Die Erinnerungsfähigkeit im Schaffensprozess ist daher von elementarer Bedeutung, da sie dazu befähigt, die Vergangenheit zu bewahren: »Nur wenn es den Sterblichen gelingt, diesen Dauer zu verleihen, die den Prozess des Vergehens, der in ihrem Wesen liegt, aufhält, können die Dinge der Menschen sich ansiedeln in dem Kosmos der Unvergänglichkeit und in ihm eine verlässliche Menschenwelt bilden, durch welche die Menschen ihren Platz und ihre Heimat in einer Natur finden, in der alles unsterblich ist, außer ihnen selbst. Die Fähigkeit des Menschen, das zu vollbringen, heißt Erinnerung, Mnemosyne, die darum die Mutter der Musen wurde, der göttlichen Beschützerinnen aller Künste der Menschenwelt.«89 Aus der Erinnerung entsteht das poetische Herstellen, die Dichtung, die dauerhaft bestehen bleibt. In Arendts Bewertung erscheint hierbei allen voran das Gedicht den anderen Formen überlegen, da durch die kurze Form die Erinnerung in der Wiederholung am ehesten in Anspruch genommen werde: »Die Aufgabe des Dichters und Geschichtsschreibers – die von Aristoteles noch in die gleiche Kategorie eingereiht werden, weil sie beide mit […] praxis, Handlung zu tun haben – besteht darin, die Erinnerung so zu handhaben, dass aus ihr etwas Dauerhaftes, ein beständiges Ding entsteht: Dies kann nur durch Herstellung, durch […] poiesis, geschehen. Aber dies ›poetische Herstellen‹ ist direkt von der Erinnerung inspiriert, weil nur in der Erinnerung das lebendig gesprochene Wort und die lebendig getane Tat so viel Dauerhaftigkeit erhalten, dass sie dinghaft werden können, vom einprägsamen und darum immer wiederholbaren Gedicht bis schließlich zum geschriebenen Wort und Buch.«90 Wie wichtig die Erinnerung für Arendt ist, kommt auch in ihrem Essay über Kultur und Politik zum Ausdruck. Hier definiert sie Kunstwerke als Produkte, die 87 | Vgl. Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 72. 88 | Arendt, Hannah: Kultur und Politik (1958). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 277-304, hier S. 288. 89 | Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 61. 90 | Ebenda, S. 61.

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aus dem Eingedenken, dem Andenken entstehen und die verdinglicht werden müssten: »Kunstwerke sind Gedankendinge, das griechisch gewendet Mnemosyne, Erinnern und Gedenken, die Mutter aller Musen ist, dass also durch Denken und Gedenken jene Umwandlung des Wirklichen geschieht, die es überhaupt möglich macht, das Ungreifbare – Ereignisse und Taten und Worte und Geschichten – gewissermaßen dingfest zu machen, es zu verdinglichen.«91 Durch die künstlerische Verdinglichung der Erinnerungen werde potentielle Unvergänglichkeit vorbereitet. Und durch das Kunstwerk werde Welt geschaffen, die auf diese Weise dauerhaft werde: athanazein, Unsterblichmachen, ein Ausdruck, den Arendt als Anleihe an Aristoteles gebraucht. Sie überprüft verschiedene Gegenstände der von den Menschen hergestellten Dinge unter dem Blickwinkel der Beständigkeit: Konsumgüter überdauern kaum in der Zeit, Gebrauchsobjekte seien dauerhaft, Kunstwerke schließlich seien unsterblich. Über diese Materialisierung, die Verdinglichung, äußert sich Arendt in der Vita Activa im dritten Kapitel über das Arbeiten. Herstellungsprodukte garantieren Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, sie erzeugen dadurch Welt. Handeln, Sprechen, Denken seien unproduktiv, flüchtig wie das Leben selbst: »Um in die Welt als Dinge einzugehen, um als Taten, Tatsachen und Ereignisse oder als Gedanken, Gedankenformen und Ideen sich in der Welt anzusiedeln, müssen sie erst gesehen, gehört, erinnert und dann verwandelt, nämlich verdinglicht werden, um überhaupt Gegenstandscharakter zu gewinnen – wie ein gedichteter Vers, eine geschriebene Seite, ein gedrucktes Buch, ein Bild oder eine Skulptur, wie alle Denkund Mahnmäler des menschlichen Geistes.«92 Zwei Elemente sind demnach wesentlich für den Schaffensprozess eines Kunstwerks: einerseits die Erinnerung, andererseits die Verdinglichung. Das eine entspringt aus dem anderen, die Verdinglichung aus der Erinnerung. Der Preis, der bezahlt werden muss, liegt in der Tatsache, dass das Kunstwerk das Leben ersetzt hat: »Die verwandelnde Vergegenständlichung ist der Preis, den das Lebendige zahlt, um nur in der Welt bleiben zu dürfen; und der Preis ist sehr hoch, da immer ein ›toter Buchstabe‹ an die Stelle dessen tritt, was einen flüchtigen Augenblick lang wirklich ›lebendiger Geist‹ war.«93 In einem anderen Passus der Vita Activa führt sie jedoch fort, dass die Fähigkeit eines Kunstwerks darin liege, die Vergangenheit in der Gegenwart beständig zu machen: »Es ist, als würde in dem Währen des Kunstwerks das weltlich Dauerhafte transparent, und als offenbare sich hinter ihm ein Wink möglicher Unsterblichkeit – nicht etwa der Unsterblichkeit der Seele oder des Lebens –, sondern dessen, was sterbliche Hände gemacht haben; und das Ergreifende des Tatbestands ist, dass er nicht eine sehnende Regung des Gemüts ist, sondern im Gegenteil greif bar und den Sinnen gegenwärtig 91 | Arendt, Hannah: Kultur und Politik (1958). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 277-304, hier S. 289. 92 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 113. 93 | Ebenda, S. 114.

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vorliegt, leuchtend, um gesehen zu werden, tönend, um gehört zu werden, in die Welt noch hineinsprechend aus den Zeilen des gelesenen Buches.«94 Die Beständigkeit des Kunstwerks besteht also doppelt: während der Kreation durch den Künstler, der sich erinnert und verdinglicht, und während des Rezeption durch den Leser, der das verdinglichte Werk liest und für den die Erinnerungen des Künstler lebendig und gegenwärtig werden. Diese Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit durch die Verdinglichung nennt Arendt »weltlich« und »weltbildend«: »Wirklichkeit und Verlässlichkeit der Welt beruhen darauf, dass die uns umgebenden Dinge eine größere Dauerhaftigkeit haben als die Tätigkeit, die sie hervorbrachte, und dass diese Dauerhaftigkeit sogar das Leben ihrer Erzeuger überdauern kann. Sofern menschliches Leben weltlich und weltbildend ist, hat es sich auf einen Prozess ständiger Verdinglichung eingelassen.«95 Durch ihre Unsterblichkeit seien die Kunstwerke den anderen Dingen der Welt überlegen. Wieder bringt sie die Leuchtkraft des Kunstwerkes ein, die bereits in dem oben genannten Unterkapitel »Der Erzähler« so wesentlich für sie ist: »Noch nach Jahrtausenden können sie [die Kunstwerke] uns so entgegenleuchten, wie am ersten Tag, der sie der Welt verlieh. Darum sind sie die weltlichsten aller Dinge. Sie sind die einzigen, welche nur für eine Welt hergestellt werden, die die jeweils sterblichen Menschen überdauern soll, und die daher keinerlei Funktion in dem Lebensprozess der Menschengesellschaft haben.«96 Neben Unvergänglichkeit ist für Arendt auch die Zweckfreiheit des Kunstwerks ein Stichwort. Kunstwerke müssen ohne einen Funktionszusammenhang rezipiert werden können. Kunstwerke, die zu sehr ihrer Zeit verhaftet, nicht universell genug gehalten sind, werden in späteren Zeiten vom Publikum oder Leser nicht mehr nachvollzogen werden können. In der Vita Activa geht Arendt in ihrer Absage an die Funktion und die Zweck-Mittel-Kategorien sogar so weit, dass für sie das Maß der Welt sich eher nach der Kunst als nach der Arbeit richte, »denn soviel ist sicher, das Maß für die Welt ist nicht die zwingende Lebensnotwendigkeit, die sich in der Arbeit kundgibt, und es kann nicht in dem Reich von Mitteln und Zwecken gefunden werden, das maßgebend ist für die Herstellung der Weltdinge«. Nur auf diese Weise werde die »Welt eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen«.97 Bedingung für das Kunstwerk sei es, dass es gar kei94 | Ebenda, S. 202. 95 | Ebenda, S. 114. 96 | Arendt, Hannah: Kultur und Politik (1958). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 277-304, hier S. 289. | Vgl. auch Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 202: »Und in diesem Währen des Beständigen tritt die Weltlichkeit der Welt, die als solche niemals absolut sein kann, weil sie von Sterblichen bewohnt und benutzt wird, selbst in Erscheinung, ja in ein Leuchten, in dessen Glanz auch der Wandel und Gang aufleuchtet.« 97 | Beide Zitate: Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 212. | Im gleichen Kapitel wiederholt Arendt ihre Äußerungen über die Bedeutung von Geschichten und

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nen Nutzen aufweise, einmalig, also unvertauschbar sei. Es besitzt keinen Wert, der sich durch Geld ausdrücken ließe. Kunstwerke würden nicht gebraucht oder verbraucht: »So müssen sie auch den täglichen Bedürfnissen und Notdürften des Lebens entrückt werden, mit dem sie weniger in Berührung kommen als irgendein anderes Ding.«98 Angelehnt an ihre Ablehnung der Zweck-Mittel-Kategorien beim Kunstwerk bemerkt Arendt in der Vita Activa im Kapitel über die »Rolle des Instrumentalen für das Herstellen«, dass nach Kant kein Mensch Mittel zum Zweck werden dürfe, sondern der Mensch vielmehr der Endzweck sei: »Kant wollte […] im Gegenteil die Zweck-Mittel-Kategorie auf den ihr gehörigen Platz verweisen, um zu verhindern, dass sie im Feld des politischen Handelns zur Anwendung komme.«99 Vergleichbar zur Zweckfreiheit des Menschen, müsse auch das Kunstwerk zweckfrei sein. Sie stellt in Übereinstimmung mit Kant fest: »Er legt in der ›Kritik der Urteilskraft‹ den Umgang mit den einzigen Dingen, die nicht Gebrauchsgegenstände sind, nämlich mit Kunstwerken, fest, an denen wir ein ›Wohlgefallen ohne alles Interesse‹ nehmen (§2).«100 Über die Unvergänglichkeit der Kunstwerke hat Arendt ein Zitat Karoline Schlegels in ihr Denktagebuch notiert: »O mein Freund, wiederhole es Dir unaufhörlich, wie kurz das Leben ist, und dass nichts so wahrhaftig existiert als ein Kunstwerk. Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln. Aber wenn die Welt einmal auf brennt wie ein Papierschnitzel, so werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das Haus Gottes gehen – dann erst kommt Finsternis.«101 Arendt sollte in den 1950er Jahren ein Gedicht schreiben, das die Unvergänglichkeit der Kunst durch Materialisierung lobt: Und keine Kunde thematisiert das Bleiben, eine Stätte wird geschaffen.102

2.1.4 Wirkung der Dichtung: Sinnsetzen Die deutsche Romantik hatte Hannah Arendt bereits als junges Mädchen fasziniert, als sie ihre Habilitation über Rahel Varnhagen schrieb. Die Schrift enthält die ersten Aussagen über die Erlösungskraft der Erzählung: Diese sei fähig, nicht nur Unvergänglichkeit, sondern auch Sinn zu vermitteln. Arendt beobachtet, dass Rahel ihr Leben lang von einem Dichter, Goethe, begleitet wurde. Der Bildungsvon Dichtern, die sich der höchsten Form der Herstellung widmen, der Dichtung, da sie das gelebte Leben wiedergeben und dauerhaft erhalten. 98 | Ebenda, S. 201. 99 | Ebenda, S. 185. 100 | Ebenda. 101 | Denktagebuch: Heft 24: Eintrag 22, 1963-1964, S. 628. Arendt zitiert nach: Waitz, Georg (Hg.): Karoline, Briefe aus der Frühromantik, Leipzig, Bd. 2, 1913, Karoline Schlegel an August W. Schelling, 2. März 1801, S. 55. 102 | Vgl. den dritten Teil, 2.1.3 »Und keine Kunde«, S. 335. Auch in: Gedichte, S. 61.

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roman Wilhelm Meister, der im Unterschied zu den Wahlverwandtschaften Geschehenszusammenhänge bilde, die verstehbar seien, gehörte zu Rahels ausgesuchter Lektüre: »Nichts konnte belehrender und tröstlicher sein für Rahel als ein Leben, in dem jegliches Geschehen eine Bedeutung hat, in dem es nur Verstehbares gibt […]. Wie heftig sie gerade das Helle, Einsichtige, Verstehbare sucht, zeigt am deutlichsten ihr leidenschaftlicher Prostest gegen die ›Wahlverwandtschaften‹.«103 Rahel orientierte sich nach Arendts Überzeugung am Leben Wilhelm Meisters und lernte von ihm: Liebe, Angst, Hoffnung, Glück und Unglück seien nicht nur blinder Schreck, sondern bedeuteten an einer bestimmten Stelle, von einer bestimmten Vergangenheit aus gesehen, etwas, das dem Menschen einsichtig sei. Diese Einsicht besteht im Verstehensprozess, der sich aus dem Sinn einer Geschichte ergibt. Das Fragmentierte der Innenwahrnehmung äußert sich in einem erzählbaren, zusammenhängenden, äußeren Zusammenhang: »Goethe verdankte sie es, wenn sie über die bloßen Resultate hinaus etwas Erzählbares in der Hand hält, was sich sonst nur in Lebensweisheiten zersplittert hätte. Ohne ihn sähe sie ihr Leben nur von außen, in seiner gespenstischen Kontur. Sie könnte es nie in Zusammenhang bringen mit der Welt, der sie es erzählen muss. […] Er zerbricht ihr die unmenschliche Klarheit der Kontur und zeigt ihr den Übergang und den Zusammenhang, den alles Menschliche mit dem Menschlichen hat.«104 Hannah Arendt bemerkt zu Rahel, dass sie durch das Geschichtenerzählen, Ihre-Biographie-Erzählen zu verschiedenen Ergebnissen kommt, die alle auf ihre Weise Sinn erzeugen: Das Triviale werde zum Exempel; das Schicksal vollziehe sich nicht mehr nur an einem, sondern man agiere mit; Geschehen, dem man hilflos ausgeliefert sei, taste die Reinheit des Inneren, den Adel der Person an; man irre nicht anders als andere, sei kleinlich und dabei dennoch nicht weniger schlecht. Wesentlich beim Geschichtenerzählen sei der Verzicht auf Eitelkeit und damit der Versuch, wahrhaftig zu sein: »Aus den Bausteinen, die sich Rahel in verzweifelter Verspieltheit gesammelt hat, baut sie sich eine Art erzählbare Geschichte zusammen. Mit dieser Geschichte, nicht mit sich selbst, wendet sie sich noch einmal an die Umwelt, versucht Schicksalsgenossen zu finden. Voraussetzung für den Erfolg ist der Verzicht auf das Jenseitsstehen, Erhabenheit und Prätentionen.«105 Voraussetzung in der Narration ist Wahrheit, denn nur dann gibt es Verstehen, das Sinn ergibt, die zur Unvergänglichkeit führen kann: »Denn für uns in der Welt hat nur das Bestand, was mitteilbar ist.«106 Ihr Denktagebuch weist für 1953 einen paradoxen Eintrag zur Wahrheit aus: »Den Dichtern wird vorgeworfen, dass sie lügen. Und das ist auch ganz berechtigt. Nur von ihnen erwarten wir Wahr103 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 124. 104 | Ebenda, S. 125. 105 | Ebenda, S. 118. 106 | Ebenda, S. 117.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

heit (nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten). Vor einem so furchtbar unerfüllbaren Anspruch – wie sollte man nicht lügen?«107 Arendt provoziert, wenn sie den Begriff Wahrheit benutzt, denn Dichtung ist per se fiktional, erfunden, das heißt nicht die Wirklichkeit. Nur in der Wirklichkeit kann die Wahrheit liegen. Allerdings gibt es in der Fiktion das Element der Wahrhaftigkeit: Die Tatsache, dass etwas erzählt wird, das möglich ist, das wahr sein könnte. Wie schwer es ist, dieser Wahrhaftigkeit gerecht zu werden, kommt in ihren Worten über den »furchtbar unerfüllbaren Anspruch« zum Ausdruck. Keine Fiktion kann der Wirklichkeit und damit der Wahrheit ganz und gar gerecht werden. In Vom Leben des Geistes gibt es eine Passage in der die Entwicklung des Geschichtenerzählens beim Erzähler beschrieben wird. Nicht die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit wird wahrgenommen, stattdessen ist, um eine Geschichte erzählen zu können, die Vorstellung einer einheitlichen Linie notwendig, Kontingentes, Zufälliges wird dabei ausgeschaltet: »Wenn sich dagegen der Geist, beunruhigt über den scheinbaren Widerspruch, nur noch an seiner eigenen Innerlichkeit orientiert und über die Vergangenheit zu reflektieren beginnt, so findet er, dass auch hier faktisch, als Ergebnis des Werdens, die Zufälligkeit der Vorgänge bereits zu einer notwendigen Struktur umgeordnet und umgedeutet ist. Das ist die notwendige Bedingung für die existenzhafte Gegenwart des denkenden Ichs, das über den Sinn dessen nachdenkt, was geworden ist und nun ist. Ohne die apriorische Annahme einer einheitlichen Folge von Ereignissen, die notwendig und nicht kontingent verursacht sind, wäre keine auch nur einigermaßen systematische Erzählung möglich. Die naheliegendste, ja die einzig mögliche Art, eine Geschichte aufzubereiten und zu erzählen, ist die Ausschaltung der ›zufälligen‹ Bestandteile aus dem wirklichen Geschehen, deren genaue Aufführung ohnehin unmöglich sein dürfte, selbst für ein Computerhirn.«108 Hinter der Frage nach dem Warum, hinter dem »Was ist die Ursache?« stehe der Wille, der das Geschehen in dieser Richtung interpretieren möchte. Und es ist auch der Wille, der die Triebfeder des Handelns ist, der bestimmte Wirkungen erzielen möchte, die man nicht ungeschehen machen kann: »Der Verstand versucht, dem Willen eine erklärende Ursache zur Stillung seines Unmuts über seine eigene Hilflosigkeit zu liefern; so baut er eine Geschichte auf, die die Daten in ein hübsches System anordnet. Ohne eine Notwendigkeitsannahme wäre die Geschichte völlig zusammenhanglos.«109 Wie begrenzt also die Fiktion ebenfalls sein kann, stellt Arendt schließlich kritisch in ihrem Spätwerk dar. Es gibt nicht nur 107 | Denktagebuch: Heft 19: Februar 1954, Eintrag 35, S. 469. | Vgl. auch den Titel des Ausstellungsbandes über Arendt und die Dichtung im Literaturhaus Berlin: Hahn, Barbara  /  K nott, Marie-Luise: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Berlin, 2007. 108 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 370. 109 | Ebenda, S. 370.

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ihre fast hymnischen Äußerungen zur Erzählung in der Vita Activa, in Natur und Geschichte und in Kultur und Politik. In diesem Schaffensprozess, der die Erinnerung, die Mnemosyne, benutzt, gibt es auch die Auswahl der Ereignisse, die eine vereinfachte Erzählung ergeben können. Die Komplexität des Geschichtenerzählens beschreibt die späte Arendt 1968 in ihrer Analyse der Werke der dänischen Schriftstellerin Karen Blixen. Hier kommt zur Erinnerung und zur Auswahl der Ereignisse die Vorstellungskraft hinzu, die ein Willensakt ist. Dieser Wille besteht darin, der Wirklichkeit des Lebens gegenüber treu zu bleiben, also verschiedene Möglichkeiten zu erkennen und nicht blind einer Notwendigkeit zu folgen: »Wer das Leben nicht in der Vorstellungskraft wiederholt, wird niemals ganz lebendig sein können; ›der Mangel an Vorstellungskraft‹ hindert die Menschen daran, wirklich zu existieren. ›Sei treu gegenüber der Geschichte‹, ermahnt eine ihrer Geschichtenerzählerinnen die Jungen, ›sei immer und unentwegt treu gegenüber der Geschichte‹, und das bedeutet nicht weniger als: Sei treu gegenüber dem Leben, erfinde nichts, sondern akzeptiere, was das Leben dir bietet, erweise dich all seiner Möglichkeiten würdig, indem du dich erinnerst, darüber nachdenkst und es so in der Vorstellung wiederholst; so bleibst du lebendig.«110 Indem Blixen in ihren Novellen die Problematik des Geschichtenerzählens mit der Wirklichkeit konfrontiert, bleibt die Komplexität gegenüber der Wirklichkeit bestehen. Arendt bemerkt, dass Blixen selbst als junges Mädchen versucht hat, in ihrem Leben eine Idee oder Geschichte zu verwirklichen, das Geschick im Leben zu antizipieren. Im Alter habe Blixen dann erkannt, dass es »Sünde sei, eine Geschichte wahr werden zu lassen: das Leben nach einem vorgegebenen Muster beeinflussen zu wollen, anstatt geduldig darauf zu warten, dass die Geschichte dahinter zum Vorschein kommt«.111 Der Fehler bestehe darin, dass man nicht die Geschichte in der Vorstellung wiederhole, sondern eine Fiktion erschaffe und nach dieser lebe. Fiktion und Leben sind nicht das Gleiche. Drei Novellen Blixens schildern diese Problematik: Der Dichter, Die unsterbliche Geschichte und Widerhall. Arendt fasst die drei Erzählungen zusammen, deren Inhalt hier kurz wiedergegeben werden soll, damit der Konflikt deutlich wird. In Der Dichter begegnet ein junger Dichter einem hochstehenden Mäzen, der unter dem Banne Goethes Ideales durch Dichtung verwirklichen will. Der Mäzen gibt dem Dichter Geld, damit dieser Goethes Erzählungen verwirkliche, die Tragödien und Leiden, aus denen große Poesie entsteht. Er sorgt dafür, dass der Dichter sich in seine Frau verliebt. Doch statt Poesie kommt es zu einem blutigen Ende: Der Dichter erschießt den Mäzen, während dieser im Todeskampf von Goethe und Weimar träumt.112 Ein weiteres Beispiel für die misslungene Manipulation der 110 | Arendt, Hannah: Isak Dinesen (1968). In: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula) München, 2001, S. 104-127, hier S. 109. 111 | Ebenda, S. 120. 112 | Vgl. Ebenda, S. 121.

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Wirklichkeit durch die Fiktion ist Die unsterbliche Geschichte: Ein reicher Teehändler, der an seine Allmacht glaubt, beginnt im Alter Literatur zu lesen und wünscht sich, dass eine bestimmte Fiktion Realität wird. Er engagiert einen jungen Seemann, mit seiner Frau eine Nacht zu verbringen. Nur möchte der Seemann am Tag danach keine Ähnlichkeit mit der Geschichte des Alten erkennen, nimmt das Geld nicht an und schenkt der Frau seinen Schatz, eine Muschel, die es nur einmal auf der Welt geben soll.113 In Widerhall ist die Hauptfigur eine Diva, die ihre Stimmkraft verloren hat. Sie begegnet einem Jungen, dessen Stimme ihrer ähnelt und sie versucht, ihn nach ihrem Bild zu formen. Der Junge weigert sich schließlich, beschimpft sie als Blutsaugerin und bewirft sie mit Steinen.114 Arendt kommt zu dem Schluss: »Die gleiche Anklage hätte der junge Dichter seinem Mäzen entgegenschleudern können, der junge Seemann seinem Wohltäter, und ganz allgemein all jene Menschen, die unter dem Vorwand der Hilfe benutzt werden, um den Traum eines anderen wahr werden zu lassen.«115 Arendts Absage an ZweckMittel-Kategorien (man soll den Menschen nicht für eigene Zwecke benutzen) ist im Grunde zuallererst eine radikale Absage an den »Bovarismus«: Flauberts Madame Bovary, die ihr Leben nach romantischen Vorstellungen und Fiktionen zu leben versucht und schließlich scheitert. Wirklichkeit und Fiktion müssen auseinandergehalten werden: »So hatte sie [Karen Blixen] der frühere Teil ihres Lebens gelehrt, dass man zwar Geschichten über das Leben erzählen oder Gedichte darüber schreiben, nicht aber dem Leben Poesie verleihen, es nicht so leben kann, als sei es Kunstwerk (wie es Goethe getan hatte) oder es für die Realisierung einer Idee benutzen kann. Das Leben mag die ›Essenz‹ enthalten (was sonst wäre dazu in der Lage?); die Erinnerung, die Wiederholung in der Vorstellung, mag die ›Essenz,‹ den Sinn entziffern und das ›Elixier‹ bereitstellen; und vielleicht mag man das Privileg erringen, etwas daraus zu ›machen‹, ›die Geschichte zusammenzufügen.‹ Aber das Leben selbst ist weder Essenz noch Elixier, und wer es so behandelt, dem wird es nur Streiche spielen.«116 Hannah Arendt greift hier eine Bemerkung Eudora Weltys auf, die Blixens Erzählkunst zusammenfasst: »Aus einer Geschichte gewann sie eine Essenz, aus der Essenz ein Elixier, und aus dem Elixier begann sie aufs Neue, die Geschichte zusammenzufügen.«117 Auf das Elixier, den Sinn der Geschichte, muss der Leser allerdings selbst kommen. Nur dann ist die Geschichte gelungen: »Das Geschichtenerzählen enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu bezeichnen; es führt zu Übereinstimmung und Versöhnung mit den Dingen, wie sie wirklich

113 | Vgl. Ebenda, S. 122. 114 | Vgl. Ebenda, S. 122 f. 115 | Ebenda, S. 123. 116 | Ebenda, S. 123. 117 | Ebenda, S. 110.

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sind, und vielleicht können wir ihm zutrauen, implizit jenes Wort zu enthalten, das wir vom Tage des jüngsten Gerichts erwarten.«118 Der Begriff »jüngstes Gericht« ist hier nicht religiös gemeint, sondern narrativ. In Arendts Äußerungen über Erzählung taucht immer wieder die Überzeugung auf, dass der Sinn eines Gehandelten erst erscheint, wenn das Handeln selbst zum Abschluss gekommen ist. Die Geschichte enthüllt sich erst am Ende, also übertragen am Tage des jüngsten Gerichts: »Der Grund, warum die Spannung des Lebens, gleichsam der Elan des mit der Geburt gegebenen Anfangs, anhalten kann bis zum Tode, liegt darin, dass die Bedeutung einer jeden Geschichte sich voll erst dann enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist, dass wir also zeit unseres Lebens in eine Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen.«119 Arendt geht sehr weit, wenn sie feststellt, dass Handlungen erst beendet seien, wenn alle Beteiligten tot sind. Erst nach dem Tod eines Menschen kann man um seine Identität wissen, weil sie dann handhabbar in seiner Lebensgeschichte erscheint: »Das Wesen einer Person – […] wer einer ist – kann überhaupt erst entstehen und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als Geschichte.«120 So lange das Leben eines Menschen andauert, so lange besitzt er die Freiheit, unterschiedlich zu handeln und zu versuchen, der Wirklichkeit eine Richtung zu geben. Nur der Tod entziehe der Person die Folgen und Fortsetzungen des Begonnenen. Daher ist es klug »das Ende abzuwarten«, denn das menschliche Leben ist eine Geschichte, und erst das Ende der Geschichte, wenn alles abgeschlossen ist, lässt erkennen, was es mit dem Leben eines Menschen auf sich hatte. »Da das menschliche Leben einen Anfang und ein Ende hat, wird es erst dann ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes, Beurteilbares, wenn es im Tod geendet hat; der Tod beendet nicht nur das Leben, sondern verleiht ihm auch eine stille Abgeschlossenheit, nun dem steten Auf – und Ab alles Menschlichen abgetrotzt.«121 Orientiert an der Erzählung folgert Hannah Arendt daraus, dass das Leben, das in einem Werk verdinglicht wird, erst voll und ganz seinen Sinn erhält, nachdem sein Erzähler gestorben ist. Sie geht davon aus, dass der Mensch sich selbst nicht kennen könne, und verstehen könne man nicht seine Person, sondern nur die Geschichte seiner Person, »denn die Gestalt, die ich nach dem Tode sein werde, die Identität, die schließlich bleibend meinen Namen erfüllen wird, kenne ich selbst so wenig wie die Mitlebenden.«122 Eine aufschlussreiche Stelle im Denktagebuch weist auf die Schwierigkeit der Selbstwahrnehmung des Ichs, das versucht, 118 | Ebenda, S. 119. 119 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 239. 120 | Ebenda, S. 241. 121 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 165. 122 | Denktagebuch: Heft 20: April 1954, Eintrag 7, S. 481.

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sein »Wer bin ich?« anhand seiner Gefühle zu erkunden: »Von meinem Innenleben weiß ich nur so viel, als sich an meinen inneren Organen kundtut. Ich kenne kein Gefühl, das ich nicht lokalisieren könnte – Galle, Leber, Herz, Kopf etc. Ich habe ein ›Innen‹-leben, weil ich bei Gefühlen meine inneren Organe spüre. […] Gefühle bekunden sich nur im ›Inneren‹, ›verstehen‹ können wir sie nicht, nur ihnen Ausdruck verleihen, also aus dem ›Inneren‹ ein ›Äußeres‹ machen. Erst wenn das geleistet ist, setzt Verstehen ein. Ferner, und dies ist entscheidend, erst dann fängt die Differenzierung an. So wie ich auch nur nach außen ›einmalig‹ bin. Z. B. Liebe empfinden vermutlich alle Menschen gleich, aber äußern tun sie sich unendlich verschieden. Das ›Gefühl‹ selbst ist weder sentimental, noch tief, der Ausdruck unweigerlich das Eine oder das Andere.«123 Das »Wer bin ich?« vollzieht sich anhand der Transformation der Gefühle in Geschichte, in ein Äußeres, das verständlich wird. Arendt gibt ein Beispiel aus der griechischen Mythologie an: Wie es in Orest ausgesehen habe, als er die Mutter erschlug, um den Vater zu rächen, ob er sie hasste und den Vater liebte, das könne der Leser nicht wissen: »Was ich verstehe, ist die Geschichte der Opferung der Iphigenie über Klytaimenstra und Aigisthos, den Mord an Agamemnon bis zur Orest und Elektra. Der Gegenstand des Verstehens ist: Sinn. Und von Sinn zeugt erst die Geschichte, die sich aus allem Möglichen  – Gefühlen, Leidenschaften, Denken, Zufällen – ergibt und dann erzählt wird. Wir verstehen nur Geäußertes, Gesprochenes, Erzähltes.«124 Das Ausmachen der Identität einer Person geht also nur über die Veräußerlichung des Geschichtenerzählens. Weiterhin kann seine eigene Unsterblichkeit nur über unsterbliche Werke erscheinen. Solange die Person am Leben ist, sei allerdings die Verdinglichung durch das Werk eine Versachlichung des Lebendigen, dagegen werde es »zum Merkmal des Lebendigen […] erst nach dem Tode. So fangen große Werke ihr spezifisches Leben, Lebendig-bleiben erst an, wenn der Urheber tot ist.«125 Die Tragik und Tiefe des Geschichtenerzählers liegt dabei darin, dass der Mensch nicht zu seiner »Gestalt«, seinem »Wesen« oder seiner Identität komme, so lange er am Leben ist, er also nicht weiß, wie er und sein Werk nach seinem Tod rezipiert werden. Was für den Geschichtenerzähler gilt, gilt nicht für den Helden einer Geschichte, der seine eigene Tragik erkennen kann, wenn sie ihm vom Erzähler berichtet wird. Als Beispiel für die Wirkung der Sinnhaftigkeit der Erzählung benutzt Arendt sowohl in Natur und Geschichte als auch in Vom Leben des Geistes eine Erzählung, in welcher der Held und der Zuhörer dieselbe Person sind. Es handelt sich um Odysseus, der am Hof der Phäaken von einem Sänger unterhalten wird, der ihm seine eigene Geschichte erzählt, seinen Streit mit Achilles. Odysseus wird dabei zu Tränen gerührt und das widerfuhr ihm nicht, als er dies Geschehen di123 | Denktagebuch: Heft 26: Juli 1969, Eintrag 24, S. 720. 124 | Ebenda, S. 720 f. 125 | Denktagebuch: Heft 20: April 1954, Eintrag 7, S. 481.

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rekt erlebte. Arendt beschreibt hier den Moment der Katharsis,126 der das Wesen der Tragödie ausmacht,127 das tragische Weltgefühl der Griechen: »Der Vorgang ist von unver-gleichlicher Reinheit, weil der Handelnde, der Duldende und der Zuhörende eine und dieselbe Person sind, so dass alle Motive bloßer Neugier und Lernbegier, die natürlich immer eine große Rolle in historischen Untersuchungen wie im ästhetischen Genuss gespielt haben, automatisch wegfallen. Bestünde Geschichte in nichts anderem als interessanten Nachrichten und wäre Dichtung vorwiegend zur Unterhaltung da, so wäre Odysseus nicht erschüttert, sondern gelangweilt gewesen.«128 Der Sinn der Geschichte erscheint dem Helden erst, als ihm die Geschichte vorgetragen wird. Es seien Tränen der Erinnerung, die Odysseus vergießt: »Erst als er die Geschichte hört, wird ihm ihr Sinn völlig bewusst. Und Homer selbst sagt: Der Mensch singt den Menschen und Göttern, was die Muse Mnemosyne, die über das Andenken wacht, ihm eingegeben hat.«129 Auf den Zuhörer wirkt die Erzählung reinigend, da ihm der Sinn des Geschehens erkenntlich wird. Sinn bedeutet dabei nicht ein eindeutiges Resultat. In ihrem Essay über Lessing definiert Arendt den Begriff Sinn am klarsten: Er besteht in einer Art Pluralität der Bedeutung, die sich nicht an einem einfachen Wort festmachen lässt: »Einen von diesen Geschichten ganz und gar ablösbaren Sinn gibt es nicht, und auch dies wissen wir bereits aus unserer eigenen, nicht-dichterischen Lebenserfahrung. Keine Lebensweisheit, keine Analyse, kein Resultat, kein noch so tiefsinniger Aphorismus kann es an Eindringlichkeit und Sinnfülle mit der recht erzählten Geschichte aufnehmen.«130 Arendt sollte selbst ein kurzes poeto126 | Im Unterschied zu Aristoteles in Ars poetica definiert Arendt die Katharsis beim Zuschauer als Einsicht und Erkenntnis, Begreifen des Sinns. Aristoteles meinte vor allen Dingen Reinigung durch Furcht und Mitleid. Die Einsicht des Wiedererkennens lautet bei Aristoteles, zum Beispiel bei Ödipus: Anagnorisis. 127 | Zur politischen Funktion des Theaters äußert sich Arendt ausführlich. Im Drama ahmt das Theater die Bühne der Welt nach. Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 46. | Die Welt braucht Zuschauer, die den Sinn begreifen, während die Akteure in der Handlung verfangen sind. Ihnen entgeht der Sinn der Geschichte häufig. Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 134. | Vgl. dazu auch Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Le génie féminin. Bd. 1, Paris 1999, S. 124 ff. 128 | Arendt, Hannah: Natur und Geschichte (1957). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 54-79, hier S. 62. 129 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er-Jahre), München, 1998, S. 37. | Thomas Schestag interpretiert Arendts Aussagen über Odysseus’ Tränen nicht als Erkenntnis des Sinns, sondern als Wut über die Enteignung, Verdinglichung und Verfremdung des eigenen Lebens. Vgl. Schestag, Thomas: Die unbewältigte Sprache. Hannah Arendts Theorie der Dichtung, Basel /  Weil am Rhein, 2006, S. 37. 130 | Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten (1959) In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 32. | Siehe auch Rolf Geißlers Erläuterung zu diesem Zitat: »Die Dichter bringen

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logisches Gedicht verfassen, das die Sinnfülle der Dichtung thematisiert: In Dicht verdichtet das Gedicht wird als Resultat das »dichte Innen der Welt« angegeben.131 Der reinigende Sinn, der sich aus dem Erzählten ergibt, hat zwei weitere Effekte auf den Zuhörer. Erstens kann er die Vergangenheit nicht wirklich bewältigen, da sie ja nicht verändert werden kann: »Sofern es überhaupt ein ›Bewältigen‹ der Vergangenheit gibt, besteht es im Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nicht endgültig.«132 Zweitens kann das Sinnsetzen durch Narration aber dazu führen, dass man einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zieht, indem man sie innerlich nicht im dauernden »Daran-denken« wachhält, sondern loslässt: »Die Belohnung für das Geschichtenerzählen liegt darin, etwas loslassen zu können: ›Wenn der Erzähler der Geschichte gegenüber treu ist, wird am Ende die Stille sprechen‹.«133 Einige der Zeugenaussagen, die Hannah Arendt während des Eichmann-Prozesses beobachtet hat, fassen ihre Narrationstheorie zusammen, da sie alle Elemente – das Ereignis und die Geschichte, den Erzähler, die Unvergänglichkeit und das Sinnsetzen – ganz konkret und untheoretisch darstellen. Die Perspektive des Erzählers kann am Fall des alten Zindel Grynszpan abgelesen werden: »Nun stand er hier als Zeuge und erzählte seine Geschichte, sorg-

also Welthaltigkeit in die Abstraktionen der Realität und vermenschlichen sie durch Sprache. Das ist der eigentliche Humanisierungsprozess. Erst ihre Sinnfrage transzendiert wissenschaftliche Sacherkenntnis und egoistische Privatheit zu welthaltiger Öffentlichkeit. Erst sie befreit menschliches Denken und Handeln aus ideologischen, theoretischen und traditionellen Zwängen. Sie schafft Freiheit.« Geißler, Rolf: Menschenwelt. Hannah Arendt und die Dichtung. In: Hannah Arendt. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin … (Hg. Klein-Rüsteberg, Karl-Heinz), S. 28. 131 | Vgl. den dritten Teil, 2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht«, S. 340. Auch in: Gedichte, S. 63. 132 | Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten (1959). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula) München, 2001, S. 11-42, hier S. 31. 133 | Arendt, Hannah: Isak Dinesen (1968). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 107-124, hier S. 109. Arendt zitiert nach Dinesen: Aus dem geplanten Roman Albondocani. In: Paris Review, Herbst 1946, S. 59. | Arendt beendet die Vita Activa mit der Sinnhaftigkeit des Erzählens, die für sie der zentrale Punkt ist, mit dem der Mensch sich mit seinem Leben versöhnen kann: Es liegt im menschlichen Vermögen, auf der einen Seite »die Enthüllung der Person« und auf der anderen »das Hervorbringen von Geschichten« zu leisten, »die zusammen die Quelle bilden, als der sich in der Menschenwelt selbst ein Sinn formiert, der dann wiederum als Sinnhaftigkeit das menschliche Treiben erhellen und zu erleuchten vermag.« Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 413 f.

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fältig auf die Fragen, die ihm der Staatsanwalt stellte, antwortend.«134 Wesentlich ist dabei die Individualität des Erzählers, das »Wer«, das die flüchtige und unverwechselbare Manifestation seiner Person wiedergibt und damit Wahrheit vermittelt: »In den endlosen Sitzungen, die dann folgten, stellte sich heraus, wie schwer es ist, eine Geschichte zu erzählen, dass es hierzu – jedenfalls außerhalb der Verwandlung, welche der Dichtung eignet – einer Reinheit der Seele, einer ungespiegelten und unreflektierten Unschuld des Herzens und Geistes bedarf, die nur die Gerechten besitzen.«135 Eine Vorgabe für das Geschichtenerzählen besteht im Können, den Maßstäben, die das Können zu messen vermögen: »Nicht einer, weder vorher noch nachher, konnte es mit der unantastbaren schmucklosen Wahrhaftigkeit des alten Mannes aufnehmen.«136 Und: »Er sprach klar und fest, ohne Ausschmückung, nicht ein Wort zu viel.«137 Grynszpan berichtet von dem Ereignis, das sein Leben verändern sollte: Im Oktober 1938 kam die Polizei, um ihn abzuholen und ihn aufs Revier zu bringen. Er durfte nur seinen Pass mitnehmen. Dort waren bereits viele Juden, die gezwungen wurden, Papiere zu unterschreiben. Sie wurden zu einem Konzerthaus geführt, wo nunmehr an die 600 Leute zusammengepfercht standen. Sie mussten dort einige Tage verbringen. Dann wurden sie zum Bahnhof getrieben, auf dem Weg dorthin riefen Ortsansässige: »Juden raus nach Palästina!« Mit der Eisenbahn wurden sie an die polnische Grenze transportiert, wo Züge überall aus Deutschland ankamen. Nun waren es an die 12.000 Menschen. Sie mussten ihr Geld abgeben. SS-Leute trieben sie mit der Peitsche voran. Grynszpan fiel hin. Sein Sohn sagte ihm, dass er laufen solle. Sie wurden in einem Dorf angesiedelt, hungerten tagelang. Er schrieb seinem zweiten Sohn nach Frankreich, dass er sich nicht mehr bei ihm melden solle.138 Arendt fasst das Ereignis, das zur Tatsache und dadurch erzählbar wird, folgendermaßen zusammen: »Es dauerte nicht länger als zehn Minuten, bis die Geschichte erzählt war, und als sie zu Ende war – die sinnlose, nutzlose Zerstörung von 27 Jahren in weniger als 24 Stunden –, da dachte man: Jeder, jeder soll seinen Tag vor Gericht haben.«139 Der letzte Satz fasst das Ziel der Dichtung, die Unvergänglichkeit durch Narration zusammen. Das Gedenken an das Grauen muss erhalten bleiben, darf nicht vergessen werden: »So tief ist keine Versenkung, dass alle Spuren vernichtet werden könnten, nichts Menschliches ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Men-

134 | Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1964), München, 2001, S. 341. 135 | Ebenda, S. 343. 136 | Ebenda, S. 343. 137 | Ebenda, S. 341. 138 | Vgl. Ebenda, S. 341 f. 139 | Ebenda, S. 343.

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schen auf der Welt, um Vergessen endgültig zu machen. Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen.«140 Die Wirkung der Dichtung, den Sinn, der sich aus der Geschichte ergibt, beschreibt Arendt in einer zweiten Zeugenaussage, der eines Dichters und Schriftstellers, Abba Kovner: »Während der wenigen Minuten, die Kovner brauchte, um über die Hilfe eines deutschen Feldwebels zu erzählen, lag Stille über dem Gerichtssaal; es war, als habe die Menge spontan beschlossen, die üblichen zwei Minuten des Schweigens zu Ehren des Mannes Anton Schmidt einzuhalten.«141 Der Sinn der Geschichte, dass es selbst in schlimmsten Zeiten des Grauens auch Zivilcourage und Mut gab, leuchtet hervor: »Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht.«142 Diese Lehre, dieser Sinn wird vom Publikum durch Schweigen geehrt. Bei den Zuhörern werde Katharsis erzeugt, Reinigung, die zur Veränderung führe: »Und in diesen zwei Minuten, die wie ein plötzlicher Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher Finsternis waren, zeichnete ein einziger Gedanken sich ab, klar, unwiderlegbar, unbezweifelbar: wie vollkommen anders alles heute wäre, in diesem Gerichtssaal, in Israel, in Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in allen Ländern der Welt, wenn es mehr solcher Geschichten gäbe.«143 Sinn und Verstehen durch das Geschichtenerzählen erzeugt also eine Welt, die zu einem Ort der Heimat wird: »Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können.«144

2.2 D ichtung als R esultat des nicht zeitlichen P fades des D enkens 2.2.1 Anlass des kreativen Prozesses: Passionen und Staunen Bestimmte Kunstauffassungen, die von einem Nullpunkt bei der Kreation ausgehen, teilt Arendt nicht: Es gibt einen äußeren Anlass, der zur schöpferischen Kreativität führt, Arendt geht immer von der Perspektive des Menschen aus. In Vom Leben des Geistes bespricht sie Bergsons und Heideggers Konzeptionen, die von der Vorstellung eines Ursprungs ausgehen. Sie bemerkt, dass es für Bergson zwei Selbste gebe: ein soziales (bei Heidegger das »man«) und ein fundamentales (bei Heidgger das »eigentliche Selbst«), und dass die Funktion des Willens darin 140 | Ebenda, S. 346. 141 | Ebenda, S. 345. 142 | Ebenda, S. 346. 143 | Ebenda, S. 345. 144 | Ebenda, S. 346.

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bestehe, dieses fundamentale Selbst im kreativen Prozess zu befreien. Das soziale Ich soll wieder zum konkreten Ich geführt werden, kraft seiner Spontaneität, die keine Ursache hat. Bergsons Vorstellung eines Nullpunktes korrespondiert mit Heideggers Konzeption: »Und ganz übereinstimmend mit Nietzsche und gewissermaßen auch im Einklang mit Heidegger sieht Bergson den ›Beweis‹ dieser Spontaneität in der künstlerischen Kreativität. Die Entstehung eines Kunstwerks lässt sich demnach nicht mittels vorausgehender Ursachen erklären, als wäre das jetzt Wirkliche vorher latent oder möglich gewesen, sei es in Form äußerer Ursachen oder innerer Motive.«145 Für Hannah Arendt gibt es Ursachen und Motive, Anlässe, die zur Dichtung führen. Es können ihr zufolge zwei wesentliche Ursachen für Dichtung ausgemacht werden, die auf zwei verschiedenen Emotionen beruhen: auf der einen Seite Liebe und auf der anderen Seite Staunen. Das Letztere, das Staunen, ist so weit gefasst, dass es alle Emotionen wie Freude, Trauer, Freundschaft, Liebe miteinbezieht. Da es allerdings in ihrem Denktagebuch sehr viele Aussagen zur Liebe als Motor gibt, sollen beide Ursachen getrennt besprochen werden. Hannah Arendt spricht in ihren offiziellen Werken sehr selten von Empfindungen, auch wenn ihre Texte von einer starken Emotionalität durchdrungen sind, die einen großen Teil der Anziehungskraft ausmachen. Sigrid Weigel stellt fest, dass Arendts Äußerungen über Empfindungen ihrem Denktagebuch vorbehalten hat und nicht in ihre Philosophie eingegangen sind: »Am empfindlichsten ist wohl das Nichtzustandekommen eines Werks im Falle der zahlreichen Aufzeichnungen zur Liebe, zu Passion und Pathos, aus denen eine umfassende philosophische Kritik der Gefühle hätte geschrieben werden können.«146 Empfindungen werden in ihren beiden philosophischen Hauptwerken vor allen Dingen mit dem kreativen Schöpfungsprozess in Verbindung gebracht und sind Ursache und Inhalt des Kunstwerks. Den ersten Ausgangspunkt soll hier die Liebe bilden. In Vom Leben des Geistes gibt es eine Stelle, in der sie von Gefühlen spricht, ausgehend von der antiken griechischen Auffassung, nach der Erscheinungen »empfindende Wesen« voraussetzen, die diese wahrnehmen, anerkennen, loben.147 Sie analysiert etwas später, wie wesentlich die Willensfunktion bei der Sinneswahrnehmung ist. Diese verbinde alles, denn »man sieht einen Gegenstand nur, wenn man seinen Geist auf die Wahrnehmung konzentriert. Man kann sehen, ohne wahrzunehmen, man kann

145 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 410 f. 146 | Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Passagenwerk. Das Denktagebuch als deutschsprachiger Palimpsest zum Werk der amerikanischen Philosophin. In: Weimarer Beiträge, H. 1, 2004, S. 119. 147 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang 1970er Jahre), München, 1998, S. 326.

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hören, ohne zuzuhören, was häufig geschieht, wenn man geistesabwesend ist.«148 Die Aufmerksamkeit des Geistes ist also notwendig, um aus der Empfindung eine Wahrnehmung zu machen, denn der Wille ist Geist und nicht Körper. Indem sich der Geist auf das Gesehene und Gehörte fixiert, sagt er dem Gedächtnis, was er behalten, und dem Verstand, was er erfassen soll: »Gedächtnis und Verstand haben sich von den äußeren Erscheinungen zurückgezogen und beschäftigen sich nicht mit diesen selbst (dem wirklichen Baum), sondern mit Abbildern (dem gesehenen Baum), und diese sind eindeutig in unserem Inneren.«149 Wie kommt es nun zu den verschiedenen inneren Beschäftigungen, zu denen auch das Erinnern gehört? Nach Arendt verbindet der Wille durch Aufmerksamkeit die Sinnesorgane mit der Wirklichkeit, »er zieht gewissermaßen diese äußere Welt in uns hinein und bereitet sie für die weitere geistige Bearbeitung zu: für die Erinnerung, das Verstehen, das Behaupten oder Bestreiten.«150 Dabei gibt es einen Unterschied zwischen den äußeren und inneren Bildern, die jedoch nicht fundamental verschieden sind. Sie sucht Bestätigung bei Augustin: »Denn die inneren Bilder sind keineswegs bloße Täuschungen. ›Konzentriert man sich nur auf die inneren Phantasien und wendet das geistige Auge völlig von den Körpern ab, die unsere Sinne umgeben‹, so ergibt sich ›eine so überraschende Ähnlichkeit mit den Erinnerungsbildern‹, dass man nur schwer sagen kann, ob man gerade sieht oder sich nur erinnert.«151 Aus dieser Auseinandersetzung mit Erinnerungsbildern im Denken und Sinnen entstehen dann Kunstwerke. Es gibt einen kurzen Hinweis in der Vita Activa dazu: Denken und Sinnen »sind wirkliche Fähigkeiten des Menschen, und nicht bloß Attribute eines der Gattung Mensch angehörenden Lebewesens, wie Gefühle, Bedürfnisse, Triebe«.152 Vom Prozess des Denkens und Sinnens wird später zu sprechen sein, während des Akts der Kreativität selbst. Was hier interessiert, ist der Anlass, denn Arendt spricht im Anschluss davon, dass Ursprung und Inhalt des Kunstwerkes gerade diese »Gefühle, Bedürfnisse und Triebe« seien: »Sofern das Denken sich auf Gefühle bezieht, verwandelt es bereits die verschlossene Stummheit des schieren Fühlens«, bis es schließlich der Welt eigne, weil es bereit sei, »sich auf Gegenstände zu richten und im dinglichen Bestand der Welt«, also im Kunstwerk, »seine Erfüllung und Begrenzung zu erfahren«.153 Die künstlerische Aktivität befreit dabei den Schaffenden von der Last des Gefühls, da sie eine »weltoffene und weltbezogene Tätigkeit« ist: Sie »transzendiert die leidenschaftliche Intensität eines bloßen Gefühls oder Triebs oder Drangs und befreit sie da-

148 | Ebenda, S. 334. 149 | Ebenda, S. 334. 150 | Ebenda, S. 334. 151 | Ebenda, S. 334. Arendt zitiert nach: Augustinus: Bekenntnisse, Buch 11, Kapitel 4, S. 7. 152 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 203. 153 | Ebenda, S. 203.

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durch aus dem bloßen Gefängnis des bloßen Bewusstseins, d. h. eines nur sich selbst fühlenden Selbsts, in die Weite der Welt.«154 Liebe als Passion im Sinne von Erleiden, Leidenschaften-empfinden, spielt in Hannah Arendts Konzept der Dichtung eine besondere Rolle. Ausdrücklich differenziert und definiert sie Passion jedoch nur in ihrem Denktagebuch; in der Vita Activa und in Vom Leben des Geistes bleibt sie allgemeiner bei dem Ausdruck »Gefühl.« Aus dem April 1955 stammt ein langer Eintrag, der Passion von Aktion unterscheidet. Das Erleiden der Liebe als Passion drückt sich befreiend in der herstellenden Dichtung aus, während das reine Handeln in der Aktion im Kontrast dazu sich selbst erfüllt: »Ad Passionen (Leiden, Leidenschaften): Passion (Leiden) ist genau das Gegenteil von Aktion (Tun). Wie Mut die Tugend des Tuns ist, so ist Dulden die Tugend des Leidens. Passion ist immer mit Liebe verbunden; der Mann der Tat (Achill) kennt nur Liebe als Begehren, und dann spielt sie eine untergeordnete Rolle. Odysseus, der viel Erduldende, kennt Liebe als Passion, die Götter treiben ihr Spiel mit ihm.«155 Liebe wie auch Denken ist für Arendt ein Zustand des »Duldens,« des »Missgeschicks«, wobei das Organ der Liebe als Passion das Herz ist und das Organ des Denkens das Gehirn. Beide Organe hängen eng miteinander zusammen: »Der Entdecker des Herzens ist Homer, wie Plato der Entdecker der Seele gewesen ist. Dass das Herz nicht ohne Denken tätig ist, meinte Pascal mit seiner ›logique du cœur‹.«156 Sie gibt als Beispiel für die enge Verbindung zwischen Passion und Denken zeitgenössische Beobachtungen des Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler an: »Dass Köhler entdeckt hat, dass jedem Akt des Sehens Hirnwellen entsprechen, bedeutet nicht, dass wir mit dem Gehirn sehen, sondern dass wir nicht sehen können ohne Gedanken, wie wir nicht ›fühlen‹ können ohne Gedanken. Mit anderen Worten: Sehend, fühlend, denkend übersetzen wir alles in Sprache.«157 Weshalb drückt sich nun gerade Liebe als Passion in der Dichtung aus, die für Arendt zum Bereich des Herstellens gehört? Arendt gibt zwei Argumente an: auf der einen Seite die Befreiung des Gefühls, das aktiv, also handelnd in ein äußeres Objekt (das Kunstwerk) verwandelt wird, das dauerhaft ist: »Passion hat eine viel engere Beziehung zum ›Herstellen‹ – (griech.) ›Dichtung, Poesie‹ – oder (griech.) ›nach Unsterblichkeit streben‹ als Handeln oder Denken. Dichtung entsteht aus Leiden. Erduldetes Leid will sich in Erinnerung bringen, will Dauer, für Handeln und Denken ist das Darüber-schreiben wie ein Nach-denken.«158 Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, sich vom Gefühl der Liebe zu befreien, die passiv erduldet wird und dadurch Leid erzeugt, indem sie wiederum 154 | Ebenda, S. 203. 155 | Denktagebuch: Heft 21: April 1955, Eintrag 31, S. 526 (Unterstreichung von Arendt). 156 | Ebenda, S. 526. 157 | Ebenda, S. 526. | Vgl. Wolfgang Köhler (1887-1967), Gestaltpsychologe, der am Swarthmore College in Swarthmore (Pennsylvania) forschte und lehrte. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann weisen auf sein Buch The places of value in a world of facts (1938) hin. 158 | Ebenda, S. 526 (Unterstreichung von Arendt).

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aktiv durch das objektivierende Schreiben in das distanziertere Mitleid verwandelt wird: »Achilles braucht Homer, aber Odysseus erzählt am Hofe des Königs der Phäaken seine Geschichte und hört ihr zu. Er beginnt zu weinen – hat Mitleid mit sich und wird frei von Leid.«159 Diese Befreiung durch Verwandlung von Liebe in Mitleid bezeichnet Arendt als Katharsis: »Mitleid und Schreiben bei Rousseau: die Befreiung von Leid durch Mitleid, woraus Dichtung entsteht. Wenn wir Mit-leid in Bewegung setzen, werden wir leid-los. Das ist das Geheimnis der Katharsis. Die Katharsis tilgt Leiden (Passionen), befreit von ihnen.«160 In stark verknappter Form gibt es in ihrem Denktagebuch einen früheren Eintrag über diese Katharsis – das Gedicht führt zur Befreiung von zerstörerischer Liebe: »Der Akkusativ […] der Liebe zerstört das Zwischen, vernichtet oder verbrennt es, macht den Anderen schutzlos, beraubt sich selbst des Schutzes. Dagegen steht der Dativ des Sagens und Sprechens, der das Zwischen bestätigt, im Zwischen sich bewegt. Dann gibt es noch den Akkusativ des singenden Gedichts, das das Besungene, ohne irgendetwas zu bestätigen, aus dem Zwischen und seinen Relationen löst und erlöst. Wenn die Dichtung, und nicht die Philosophie, verabsolutiert, ist Rettung da.«161 Liebe als Passion ist also für Arendt einer der treibenden Motoren für dichterische Tätigkeit. Das wird auch anhand vieler ihrer eigenen Gedichte zu zeigen sein: Das Schreiben hat sie von der Last ihrer Empfindungen befreit und auch wohl eine Reinigung bewirkt.162 Dennoch zeigt Hannah Arendt nicht durchgängig ein so negatives Bild der Liebe als Passion, als Erdulden, die nur durch Dichtung erlöst werden kann: Es gibt einen Eintrag vom Juni 1952, der ihre Beobachtung festhält, dass die Sprache der Liebenden selbst dichterisch sei. Hier geht es im Grunde in Opposition zur erleidenden Liebe um erfüllte Liebe. Arendt unterscheidet zwischen Gesprächen »über« etwas, also diskursives Sprechen, und Gesprächen aus und in der Sprache selbst. Die erste Form ist das gewöhnliche Gespräch: »Im ›über‹ drückt sich aus, dass wir die Welt gemeinsam haben, dass wir zusammen die Erde bewohnen.«163 Die zweite Form ist sehr selten und wird von Liebenden verwendet: »Nur die Rede der Liebenden ist frei von dem ›über‹; in ihr spricht man mit dem Du wie mit sich selbst, weil dies Du das Du nur eines Ichs ist, so wie das Selbst, das Selbst nur eines Ichs ist. Die Rede der Liebenden erlöst von beidem zugleich, von dem ›über‹, indem man die Welt mit Vielen (Fremden) gemeinsam hat, und von der Zwiespältigkeit der Einsamkeit.«164 Es handelt sich hierbei um eine gelungene Einheit von zwei Liebenden, in der jeder dem anderen rückhaltlos Dinge sagen kann, die er sich selbst eingesteht; diese Liebe selbst wird als positive Macht empfunden, nur 159 | Ebenda, S. 526. 160 | Ebenda, S. 526 (Unterstreichung von Arendt). 161 | Denktagebuch: Heft 18: August 1953, Eintrag 11, S. 428. 162 | Vgl. »Die frühen Gedichte 1923-1926«. In: Gedichte, S. 7-30. 163 | Denktagebuch: Heft 9: Eintrag 19, Juni 1952, S. 214 (Unterstreichung von Arendt). 164 | Ebenda, S. 214 (Unterstreichung von Arendt).

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so kann sich diese Rückhaltlosigkeit bestätigen. Die Positivität dieser Sprache der Liebenden drückt sich nach Arendt darin aus, dass diese selbst dichterisch wird: »Die Rede der Liebenden ist daher von sich aus ›poetisch‹ […]. Es ist, als ob in ihr erst Menschen dazu werden, als was sie sich als Dichtende geben: Sie reden nicht, und sie sprechen nicht, sondern sie ertönen. In der Liebe gilt für jeden: ›Höchstens Mund dem Wagnis eines Lautes, der mich unbedingter überfiel.‹«165 Der zweite, allgemeine Motor für die künstlerische Kreativität ist das Staunen. Aussagen hierzu finden sich wiederholt in Vom Leben des Geistes. Dem Staunen kommt besondere Bedeutung zu, denn es gilt als Ausgangspunkt für alle weiteren Aktivitäten, sowohl emotionaler wie intellektueller Art. Für Arendt stammt das ursprüngliche Staunen aus der Philosophie. Sie zitiert Platon: Sokrates sagte im Theaitetos, dass es die erste Leidenschaft des Philosophen sein müsse, sich zu wundern (thaumazein). Bei Homer sei das Staunen wiederum pathos, erleiden, erfahren: Gott sei der Handelnde, die Menschen müssten seine Erscheinung aushalten. Staunen werde durch etwas Vertrautes, Unsichtbares hervorgerufen, das die Menschen bewundern müssen. Mit dem Staunen beginne das Denken: »Der Gegenstand des Staunens wird bestätigt und bejaht durch die Bewunderung, die in Worte ausbricht, das Geschenk der Iris (Regenbogen), der Götterbotin.«166 Da Platon nicht ausführlich beschreibe, zieht Arendt Heraklits Aussagen hinzu, um zu zeigen, worauf sich dieses bewundernde Staunen richtet und wie es sich im Denken äußert. Hinter der Welt wird eine harmonische Ordnung vermutet, die selbst nicht sichtbar ist, sich aber in der Erscheinungswelt widerspiegelt. Der Philosoph staunt nun über die unsichtbare Harmonie, die nach Heraklit stärker sei als die sichtbare. Sie führt Apollo, Herr des Delphischen Orakels und den Gott der Dichter, an: »Er sagt nichts und er birgt nichts, sondern er bedeutet.«167 Die Empfindung des Staunens sei vital, da es »zum Denken in Worten geführt [hat], die Erfahrung des Staunens über das Unsichtbare, das sich in den Erscheinungen zeigt, ist von der Sprache aufgenommen worden, die gleichzeitig stark genug ist, um die Irrtümer und Täuschungen zu beseitigen, denen unsere Organe für das sich Zeigende, die Augen und Ohren, unterworfen sind, wenn ihnen nicht das Denken zur Hilfe kommt.«168 Aber das Staunen ist nicht nur der Ursprung der Philosophie, sondern auch des Kunstwerks: Denn hinter dem Staunen steckt die Frage nach dem Sinn, die Heraklit vielleicht einheitlich zu beantworten weiß, die jedoch jedes Mal neu und anders gestellt werden muss. In Arendts Kapitel über Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, Wahrheit und Sinn erscheint das Staunen indirekt nochmals. Sie unter165 | Ebenda, S. 214 (Unterstreichung von Arendt). Arendt zitiert im Denktagebuch die Gedichtzeile aus dem Rilke-Zyklus: Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer 1924 /  26. 166 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 43 f. 167 | Ebenda, S. 144. 168 | Ebenda, S. 144.

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scheidet zwischen der Sinnsuche beim Denken und der Wahrheitssuche beim Erkennen, wobei beide miteinander zusammenhängen: »Indem die Menschen unbeantwortbare Sinnfragen stellen, qualifizieren sie sich als fragende Wesen. Hinter all den Erkenntnisfragen, auf die die Menschen Antwort finden, stehen die unbeantwortbaren Fragen, die als völlig eitel erscheinen und stets in diesem Sinne kritisiert worden sind.«169 Dennoch müssen und werden diese Sinnfragen immer wieder und wieder gestellt, sie gehören zur Natur des Menschen, und sie finden ihren Ausdruck und ihre Antwort jeweils auf eigene Weise: »Würden die Menschen jemals das Sinnstreben, das wir Denken nennen, verlieren und keine unbeantwortbaren Fragen mehr stellen, so wäre es mehr als wahrscheinlich, dass sie nicht nur jene Gedankendinge nicht mehr herstellen könnten, die wir Kunstwerke nennen, sondern auch die Fähigkeit verlören, all die beantwortbaren Fragen zu stellen, auf denen jede Zivilisation beruht.«170 Konkret kann man daraus schließen, dass das Staunen zum Denken und damit zur Kreation des Kunstwerks führt. Arendts Gedankenlyrik, in der sie versucht, das Denken selbst metaphorisch wiederzugeben, und in welcher das bewundernde Staunen über die Welt zum Ausdruck kommt, befindet sich ganz und gar in der Tradition der Philosophie.171 Weiterhin kann allerdings der Anlass des Staunens nicht nur aus Bewunderung stammen, sondern auch durch verschiedene emotionale Erfahrungen geweckt werden, wie etwa bei den Emigrationsgedichten aus Trauer und verhaltener Verzweiflung.172

2.2.2 Kreativer Akt: Denken und Sinnen im Bereich der Zeitlosigkeit »Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen Solche Gebilde-: Fühl! Und glaub! Wir leidens oft: Zu Asche werden Flammen, doch, in der Kunst: zur Flamme wird der Staub. Hier ist Magie. In das Bereich des Zaubers scheint das gemeine Wort hinaufgestuft … und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers, der nach der unsichtbaren Taube ruft.«173

Hannah Arendt benutzte in der Vita Activa eine Zeile aus Rilkes Gedicht Magie, das die Transfiguration der Wirklichkeit durch die Kunst wiedergibt. Heidegger

169 | Ebenda, S. 70 f. 170 | Ebenda, S. 71. 171 | Vgl. den dritten Teil, 2. Gedankenlyrik, S. 321. 172 | Vgl. den dritten Teil, 1. Lyrik als Andenken, S. 275. 173 | Rilke, Rainer Maria: Magie. In: Aus Taschenbüchern und Merk-Blättern, 1950. Zitiert nach: Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 458 im Anmerkungsteil.

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hatte ihr im April 1951 eine handschriftliche Kopie zugesandt.174 Es wurde zu einem der Lieblingsgedichte Arendts und der befreundete amerikanische Lyriker Robert Lowell übertrug es für sie ins Englische.175 Mit Emphase beschreibt Arendt die Wirkung des Kunstwerks: Durch das Kunstwerk wird die Zeit aufgehoben, wird Dauerndes realisiert: Die radikale Transformation durch den Akt der Kreation schafft Überzeitliches: »Aber die vergegenständlichte Verdinglichung, die das Kunstwerk dem ihm zugrundeliegenden Inhalt zufügt, ist eine Transfiguration, eine Metamorphose so radikaler Art, dass es ist, als könne in ihm der natürliche Lauf der Dinge umgekehrt werden – als gäbe es Gebilde, die aus so ›unbeschreiblicher Verwandlung stammen‹176, dass die Flammen des Herzens, in sie gerettet, nicht mehr zu Asche werden, ja dass noch der Staub der Vergänglichkeit in ein immerwährendes Feuer entflammt.«177 Um dauerhaft zu sein, müssen Kunstwerke selbst auf dem Pfad der Nichtzeit geboren werden. Dazu muss zuerst dargelegt werden, wie Arendt den Denkprozess definiert, wie sie es später in Vom Leben des Geistes tut. Dabei geht es um zwei Dinge: erstens: Womit beschäftigt sich das Denken? Und damit eng zusammenhängend zweitens: Wo befindet man sich, während man denkt? Das Zeiterleben spielt beim Denken eine determinierende Rolle. Nach Hannah Arendt beschäftigt man sich beim Denken mit Abwesendem. Wirklichkeit und Existenz können zeitweilig ausgesetzt werden, weil der Mensch beim Denken die gegenwärtige Zeit und den aktuellen Raum verlässt. Was man während des Denkens gewinnt, sind nach Arendt Destillate, Ergebnisse der Entsinnlichung, sie nennt diese Destillate auch »das Wesen«. Vorstellungen sind nach Arendt Gedankendinge – Erfahrungen und Begriffe –, die also eine Entmaterialisierung durchgemacht haben und damit ihrer räumlichen Eigenschaften entkleidet sind. Das Denken entsinnliche und enträumliche. Während des Denkens werde die Simultaneität im Erleben der Erfahrungen zu einem Nacheinander lautloser Worte. Die Zeit bestimme die Art des Denkens, wie die Vorstellungen zueinander in Beziehung stünden, die Zeit zwinge zur Reihenfolge, die sich als Prozess, als Gedankengang äußert. Wenn man einem Gedankengang folge, entstehe diskursives Denken, eine »ins Unendliche sich erstreckende Gerade«, eine Gedankenlinie, die hergestellt werden müsse. Der Ort des Denkens ist das »Nirgendwo«, das denkende Ich befindet sich nirgends, ist heimatlos: »Das Wesen hat keinen Ort. Bemächtigt sich seiner das menschliche Denken, so verlässt es die Welt der Einzeldinge und macht sich auf die Suche nach etwas allgemein Sinnvollem, wenn auch nicht notwendig Allgemeingültigem. Das Denken ›verallgemeinert‹ stets, es presst aus den vielen 174 | Vgl. Heidegger-Briefwechsel: Brief 73: Heidegger an Arendt, Freiburg,1.4.1951, Gedicht im Anmerkungsteil, S. 302. 175 | Vgl. den zweiten Teil, 1. Einleitung: Deutsche Sprache als Hauptwohnsitz und Unübersetzbarkeit von Lyrik, S. 133. 176 | Arendt zitiert nach Rilke: Magie. In: Aus Taschenbüchern und Merk-Blättern, 1950. 177 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 203.

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Einzeldingen […] allen Sinn heraus, der in ihnen stecken könnte. […] Mit anderen Worten, das ›Wesenhafte‹ ist das überall Anwendbare, und dieses ›Überall‹, das dem Denken sein besonderes Gewicht verleiht, ist, räumlich gesprochen, ein ›Nirgends‹.«178 Gerade weil das Ich sich nicht nur körperlich in einem Raum befindet, sondern auch geistig in der Zeit, kann es den Raum beim Denken verlassen: Das Ich erinnere sich, sammle, hole aus »dem Bauch des Gedächtnisses« (Augustin), denke voraus, plane, was noch nicht ist: »Aus der Sicht der alltäglichen Erscheinungswelt ist das Überall des denkenden Ichs – das alles vor sein Angesicht lädt, was es nur will, aus jeder zeitlichen und räumlichen Entfernung, die der Gedanke ja rascher als mit Lichtgeschwindigkeit durchmisst – ein Nirgends.«179 Die Zeit spielt also beim Denken eine doppelte Rolle: Auf der einen Seite befindet man sich beim Denken an einem abstrakten Ort, nirgends. Auf der anderen Seite entsinnlicht und enträumlicht das Denken die Erfahrungen, die simultan erlebt werden, sucht deren Essenz oder Wesen und setzt sie sprachlich in eine Reihenfolge, so dass eine Gedankenlinie entsteht. Auf der einen Seite gibt es also die Aufhebung der Zeit und auf der anderen eine Neuschaffung der Zeit in einem linearen Ablauf. Nicht nur im alltäglichen Denken, sondern im verstärkten Maße auch beim Kunstwerk, besonders beim Gedicht, das die Essenz verknappt in eine Linearität bringt oder dem es vielleicht sogar gelingt, sprachlich die ursprüngliche Erfahrung der Simultaneität wiederzugeben, kommt diese doppelte Zeitauffassung zum Tragen: Aus zwei wird eins – die Zeitlosigkeit beim Denken selbst erzeugt aus der Darstellung des Vergangenen die Zeitlosigkeit des Gedichts: »Was den Kunstwerken ihre Dauer verleiht, ist vielleicht ihr Ursprung – sie wurden auf dem nichtzeitlichen Pfad des Denkens geboren.«180 So notiert Arendt 1970 kurz in ihr Denktagebuch die Synthese einer Analyse, die sie ausführlich in Vom Leben des Geistes erläutern wird. Was versteht nun Hannah Arendt unter dem »nichtzeitlichen Pfad des Denkens«? Wie bereits anhand der Entwicklungsgeschichte im Austausch mit Heidegger angedeutet,181 benutzt Arendt eine Parabel, Kafkas Er, um ihre Zeitvorstellung beim Denken darzulegen. In dieser Parabel steht der Mensch zwischen zwei Kräften, die ihn bedrängen: von hinten, vom Ursprung in der Vergangenheit, und von vorn, von der Zukunft. Er kämpft mit beiden und wünscht, in einem unbewachten Augenblick aus der Kampflinie auszuscheren und zum Richter über die beiden Kräfte zu werden, die er als Gegner empfindet. Nach Arendt gibt diese Parabel das innere Zeitempfinden wieder, das entsteht, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit des Denkens selbst zu richten beginnt: Vergangenheit und 178 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er-Jahre), München, 1998, S. 195. 179 | Ebenda, S. 196. 180 | Denktagebuch: Heft 27: Januar 1970, Eintrag 31, S. 765. 181 | Vgl. den zweiten Teil, 2. Einleitung: Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger, S. 199.

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Zukunft sind gleichermaßen gegenwärtig, weil sie den Sinnen fern sind. Dabei stellen diese beiden Kräfte Antagonisten dar, weil der Mensch, der selbst einen Ursprung (die Geburt) und ein Ende (den Tod) hat, zwischen ihnen (in der Gegenwart) steht. Es sind auch Feinde, da es sich bei diesem Kampf um einen Kampf gegen die Last der Vergangenheit handelt, die den Menschen hoffend vorantreibt, und gegen die Furcht vor einer Zukunft, deren einzige sichere Aussage der Tod ist und die ihn zurücktreibt in die Ruhe der Vergangenheit. Denn Sehnsucht und Erinnerung sind die einzige Wirklichkeit, derer sich der Mensch sicher sein kann: »Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft öffnet sich nur in der Reflexion, deren Gegenstand das nicht Gegenwärtige ist – das bereits Verschwundene oder das noch nicht Erschienene.«182 Kafkas Parabel ist Arendt zufolge eine Metapher, denn für geistige Erscheinungen gibt es keine Worte. Dabei sei das denkende Ich nicht das Selbst, wie es in der Welt erscheint, sich seiner Vergangenheit erinnert oder Zukunftspläne schmiedet. Das denkende Ich sei alterslos, nirgends, und Vergangenheit und Zukunft können sich ihm offenbaren, entleert von Inhalt und räumlichen Kategorien.183 Hier findet jener Bereich der Nichtzeit statt, den Kafka am Ende seiner Parabel als Wunsch bezeichnet, die Kampflinie zu verlassen, »›er‹ in der Zeitlücke sitzend, die eine unbewegliche Gegenwart, ein nunc stans ist, und der von dem unbewachten Augenblick träumt, da die Zeit ihre Kraft erschöpft hätte«.184 Wie ihrer Auseinandersetzung mit Heidegger zu entnehmen, entspricht für Arendt dieser Wunsch des Herausspringens aus der Gegenwart dem metaphysischen Begriff der Ewigkeit der Antike. Auch wenn Heidegger es nicht zugeben mag, steht 182 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 201. | Vgl. auch die Vorstufe zu der Erläuterung der Kafka’schen Parabel im Vorwort von: Arendt, Hannah: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft (1961). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 1117. | In der Sekundärliteraur wird meistens auf eine frühe Passage daraus Bezug genommen. Darin setzt Arendt Kafkas Parabel in Verbindung mit einem Aphorismus René Chars. Der gerissene Faden der Tradition fordert jede neue Generation auf, selbst zu denken und zu urteilen: Vgl. Schestag, Thomas: Die unbewältigte Sprache. Hannah Arendts Theorie der Dichtung, Basel /  Weil am Rhein, 2006, S. 169 f. | Vivian Liska vergleicht Arendts Zeitkonzept mit Kafkas Parabel und kommt zu dem Schluss, dass es im Bild des Ausspringens beiden um Freiheit gehe, wobei Kafka möglicherweise auch eine Freiheit nicht nur von Vergangenheit, Zukunft und Geschichte meinte, sondern auch vom Denken. Vgl. Liska, Vivian: The gap between Hannah Arendt and Franz Kafka. In: Arcadia, Bd. 38, H. 1, 2003, S. 332. 183 | Vgl. auch Arendts Heidegger-Essay: »Das denkende Ich ist alterslos, und es ist der Fluch und der Segen der Denker, sofern sie nur im Denken wirklich sind, dass sie altern, ohne zu altern.« Arendt, Hannah: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt (1969). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula) München, 2001, S. 172. 184 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 202.

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seine Metapher der Lichtung in dieser Tradition des, nach Arendts Bezeichnung, »alten Traums der abendländischen Metaphysik von Parmenides bis Hegel«.185 Sie selbst dagegen entwickelt aus den Voraussetzungen der Kafka’schen Parabel ihre eigene Vorstellung des »nunc stans«, der Zeitlosigkeit im Denken, die nichts mit Ewigkeit zu tun hat, also nicht in einer metaphysischen Tradition steht, sondern die Perspektive des Menschen beibehält: Der Mensch in der Gegenwart ist nicht passiv den beiden Kräften der Zeit ausgesetzt, sondern aktiv, kämpfend. Aus diesem Grund ist es ihm möglich, denkend sich in den Bereich der Zeitlosigkeit zu versetzen: »Ohne ›ihn‹ gäbe es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern nur ewigen Wandel. Oder diese Kräfte würden frontal aufeinander treffen und einander vernichten. Weil aber eine kämpfende Gegenwart dazwischentritt, treffen sie in einem Winkel aufeinander, und das passende Bild wäre dann, was in der Physik ein Kräfteparallelogramm heißt. Dieses Bild hätte den Vorzug, dass die Region des Denkens nicht mehr jenseits und über der Welt und der menschlichen Zeit angesiedelt werden müsste; der Kämpfer müsste nicht aus der Kampflinie springen, um die nötige Ruhe und Stille zu finden.«186 In Vom Leben des Geistes gibt es eine Zeichnung zu diesem Modell, das Arendts Vorstellung bildlich wiedergibt: Abbildung 1 Unendliches

Unendliches

Zukunft

Gedankengang

Gegenwart

Unendliches Vergangenheit

Quelle: eigene Darstellung nach Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 204 185 | Ebenda, S. 202. 186 | Ebenda, S. 203.

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Diese Diagonalkraft in Arendts Zeitkonzept ist vollständig neu und stimmt offenbar mit der menschlichen Erfahrung überein. Arendt definiert sie folgendermaßen: »Die Diagonalkraft hingegen hat einen bestimmten Ursprung, ihr Ausgangspunkt ist der Zusammenprall der beiden anderen Kräfte, doch bezüglich ihres Endes wäre sie unendlich, denn sie ist aus dem Zusammenwirken zweier Kräfte entstanden, die aus dem Unendlichen kommen. Diese Diagonalkraft, deren Ursprung bekannt ist, deren Richtung durch Vergangenheit und Zukunft bestimmt ist, deren Kraft aber auch auf ein unbestimmtes Ende hinzielt, als wollte sie bis ins Unendliche reichen, sie scheint mir eine vollkommene Metapher für die Tätigkeit des Denkens.«187 Hannah Arendt verwendet ein weiteres antagonistisches Bild, um die Empfindung des Denkens wiederzugeben: Das Jetzt ist die Ruhe und der Kampf zwischen Vergangenheit und Zukunft ein Sturm: »Sie [die Diagonale] ist die Ruhe des Jetzt in der von der Zeit bedrängten, umhergeschleuderten Existenz des Menschen; irgendwie ist sie, um die Metapher abzuwandeln, die Ruhe im Zentrum des Sturms, die zwar völlig anders ist als der Sturm, aber doch zu ihm gehört.«188 Die Bezeichnung Ruhe ist symptomatisch und weist auf das »nunc stans« des Mittelalters hin, das »stehende Jetzt«: nach Arendt Modell und Metapher der göttlichen Ewigkeit. Es ist wesentlich, wiederholt hervorzuheben, dass Arendt dieses Konzept der Ewigkeit nur unter dem Gesichtspunkt der von innen kommenden menschlichen Erfahrung begreift, die von der Antike (Plato, Parmenides, Heraklit als das Sein) über das Mittelalter (als Gott) bis zur Neuzeit (Heidegger als das Sein) entsprechend aufgefasst wurde, wenngleich sie deren Erklärungen (Sein, Gott) nicht teilt, die Ewigkeit also nicht als von einer definierten, von außen kommenden metaphysischen Ordnung bestimmt begreift: »Von dieser Lücke hören wir zum erstenmal als dem nunc stans, dem ›stehenden Jetzt‹, in der mittelalterlichen Philosophie, wo es in Form des nunc aeternitatis als Modell und Metapher für die göttliche Ewigkeit diente, doch es ist nichts Historisches, sondern scheint so alt zu sein wie die Existenz des Menschen auf Erden.«189 Ewigkeit ist für Arendt ein Grenzbegriff, der sich nicht denken lässt – der Zusammenbruch aller zeitli187 | Ebenda, S. 204 f. 188 | Ebenda, S. 205. | Vgl. das Gedicht Arendts Aufgestiegen aus den stehenden Teichen der Vergangenheit, das die Bilder der Erinnerung mit einem Sturm beendet. Dritter Teil, 2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit«, S. 344. Auch in Gedichte: S. 34 / 3 5. | Vgl. auch: »Das Ich, das denkend in dem entfesselten Sturm ›innesteht‹, wie Heidegger sagt, und für das die Zeit buchstäblich still steht, ist nicht nur alterslos, es ist auch, obwohl immer ein spezifisch anderes, eigenschaftslos.« In: Arendt, Hannah: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt (1969). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 166-178, hier S. 172. 189 | Ebenda, S. 206 Vgl. auch ebenda, S. 139: »Die letzte Spur der griechischen Suche nach dem Ewigen könnte man mit dem ›nunc stans‹, dem ›stehenden Jetzt‹ der Kontemplation der mittelalterlichen Mystiker erblicken. Diese Formel ist etwas Merkwürdiges, und wir

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

chen Dimensionen – Zeitlosigkeit, entspringt dagegen aus dem Zusammenprall von Vergangenheit und Zukunft, der bei der Denktätigkeit erfahren wird: Er holt die abwesenden Zeitformen in die Gegenwart. Etwas später drückt Arendt ihre Absage an die Metaphysik klar aus: Primat sei die Erfahrung des denkenden Ichs in der Gegenwart und nicht die dogmatische These einer philosophischen Spekulation. Die Denkerfahrung kann zur Metaphysik führen, sei aber ein Trugschluss: »Mit anderen Worten, ich bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren.«190 Im Kapitel darauf bezeichnet Arendt sogar die mittelalterliche Mystik, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit außer Kraft setzt, als »hysterische Extravaganz«.191 In diesem Zusammenhang sollte auf ein Gedicht von Auden aufmerksam gemacht werden, der Schriftsteller sagte ebenfalls der Mystik ab. Stattdessen beschwor er Alltagsbilder herauf und hob die Rolle der Erinnerung hervor. Arendt zitiert eine Strophe aus As I walked out one evening in Vom Leben des Geistes: »O tauch deine Hände ins Wasser, tauch sie ein bis zum Handgelenk; Blicke nur in das Becken Und frag dich was dir fehlt. Der Gletscher rumpelt im Schranke, die Wüste seufzt im Bett, Und der Sprung in der Teetasse öffnet Einen Weg in das Land der Toten …«192

Dichten ist nun Denken, das auf das Wesentliche Bezug nimmt und verdinglicht. Dichtung, die im Unterschied zu anderen Kunstwerken allein aus Sprache besteht, erwächst daher aus dieser Diagonalkraft des Denkens in der Zeitlosigkeit. Gerade weil Dichtung in einem zeitlosen Raum entsteht, wird sie überzeitlich, dauerhaft: »Und es ist gar nicht unmöglich, und ich halte es für wahrscheinlich, dass das merkwürdige Überleben großer Werke, ihre relative Dauerhaftigkeit über Jahrtausende hinweg, dem zu verdanken ist, dass sie auf dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad der Nicht-Zeit geboren wurden, den das Denken ihrer Schöpfer zwischen einer unendlichen Vergangenheit und einer unendlichen Zukunft als gerichtet, gewissermaßen gezielt auf sie selbst anerkannte –, wodurch sie eine Gegenwart für sich selbst schufen, eine Art zeitlose Zeit, in der die Menwerden später sehen, dass sie in der Tat einer Erfahrung entspricht, die für das denkende Ich höchst charakteristisch ist.« 190 | Ebenda, S. 207. 191 | Ebenda, S. 251. 192 | Auden, W.H.: As I walked out one evening, zitiert nach: Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 208.

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schen zeitlose Werke schaffen können, um mit ihnen ihre eigene Endlichkeit zu transzendieren.«193 Als Beispiel für Dichtung, die auf dem Pfad der Nichtzeit entstanden ist, kann man Arendts Erläuterungen der Zeitauffassung Brochs in ihrem Essay von 1955 zu Hilfe nehmen. In dem Kapitel über seine Erkenntnistheorie geht sie von der bereits dargestellten Simultaneität, dem Nebeneinander beim Erfahren eines Erlebnisses aus, das beim Denken in einen chronologisch linearen Ablauf gebracht wird. Ziel der Dichtung Brochs sei gewesen, diese Simultaneität wieder herzustellen, den Ablauf zur Einheit des Simultanen zurückzuzwingen. Dabei legt Broch einen zeitlosen Ich-Kern zugrunde, ist also radikaler als Arendt, die nur das denkende Ich als zeitlos beschreibt. Die lyrische Sprache ist fähig, den chronologischen Zeitablauf beim Denken zu unterbrechen: »Was immer in die Simultaneität des Satzes gebannt ist, nämlich der Gedanke, der ›in einem einzigen Augenblick Ganzheiten von außerordentlicher Ausdehnung erfassen kann‹, ist dem Zeitablauf entrissen.«194 Und sie bemerkt anschließend, dass diese Überlegungen Brochs seinen eigenen dichterisch-lyrischen Stil kommentieren, der nur scheinbar lyrisch ist: die sehr langen Sätze wie die präzisen Wiederholungen. Ziel Brochs sei es, Ewigkeit herzustellen, nach Arendts Perspektive die Zeitlosigkeit beim Denken: »Aber die Überzeugung, dass durch Simultaneität des sprachlichen Ausdrucks ein Abglanz der Ewigkeit gegeben sei, dass in ihm ›Logos und das Leben … wieder Eins‹ werden können, dass ›die Forderung nach Simultaneität … das eigentliche Ziel alles Epischen, ja alles Dichterischen‹195 ist, hat er bereits in dem Essay über Joyce ausgesprochen.«196 Schließlich hebt Arendt bei Broch nicht nur die inhaltli193 | Ebenda, S. 206. 194 | Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-165, hier S. 148. 195 | Arendt zitiert nach Broch: James Joyce In: Broch, Hermann: Gesammelte Werke, Bd. 7, Zürich, 1955, S. 209. 196 | Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-165, hier S. 148. | Vgl. Kristeva, die Arendt vorwirft, dass sie die Verbindung des Denkens, Dichtens mit der Zeitlosigkeit als Rekreation der Vergangenheit nicht genügend gewürdigt hätte: »On peut reprocher à Arendt de ne pas avoir su saisir que le langage poétique d’un narrateur – voir Proust – est en mesure de conjuguer le ›Moi pensant‹ et le ›Moi qui paraît et se meut dans le monde‹ pour traduire le nunc stans sensible et l’insuffler au temps retrouvé bien mieux que ne le font un concept philosophique ou une vision mystique.« Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Le génie féminin. Bd. 1, Paris, 1999, S. 156. Übersetzung A.B.: »Man kann Arendt vorwerfen, die poetische Sprache eines Erzählers – wie etwa Proust – nicht erkannt zu haben, die fähig ist, das ›denkende Ich‹ mit dem ›Ich, das sich in der Welt bewegt‹ zu verbinden, um das feine nunc stans zu übertragen und die verlorene Zeit wiederzubeleben – besser als es ein philosophisches Konzept oder eine mystische Vision zu tun vermögen.« Tatsächlich hatte Arendt bereits 1955 in ihren Broch-Essays das Wiederaufleben der Vergangenheit in der

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che Vermittlung der Empfindung der Zeitlosigkeit beim Lesen, sondern schließlich auch die Überzeitlichkeit des Kunstwerks durch die Dauerhaftigkeit hervor. Zusammenfassend kann man sagen, dass aus der Perspektive des schaffenden Menschen Kunstwerke, besonders Gedichte, nach Arendt folgendermaßen entstehen: Aufgrund von Erlebnissen, die zu Empfindungen führen, beginnt der Mensch zu staunen, er zieht sich von der Sinnenwelt zurück und beginnt darüber nachzudenken. In dieser Gegenwart befindet er sich in einem zeitlosen Raum, seine Gedanken bewegen sich auf dem Pfad der Nichtzeit: Sie entsinnlichen und enträumlichen die Erfahrung und suchen die Essenz, indem sie die Simultaneität der Erlebens ins Lineare der Worte fassen. In diesem gleichen zeitlosen Raum, in dem Ruhe herrscht, schafft der Dichter sein Werk. Die Essenz ist das Allgemeingültige, Universelle, für alle Menschen Geltende. Da der schaffende Mensch sich in einem zeitlosen Raum befindet, wird das Gedicht selbst überzeitlich. Es ist anzunehmen, dass dies in erster Linie auf Gedankenlyrik zutrifft, die etwa versucht, allgemeine Bilder für die Zeitlosigkeit beim Denken selbst zu finden. Arendt unternahm verschiedene Versuche in diese Richtung.197 Es gibt also zwei Ziele der Dichtung, die im Folgenden getrennt besprochen werden: Auf der einen Seite geht es um das Retten der Erlebnisse vor der Vergänglichkeit im Andenken und auf der anderen Seite um das Darstellen der zeitlosen allgemeingültigen Themen wie Denken, Dichten und Zeiterleben, wie der Schöpfer sie selbst beim Denken erlebt.

2.2.3 Thematik der Dichtung: Erinnerung im Andenken »The past is never dead. It is not even past.« 198 Ein Großteil des denkenden Ichs beschäftigt sich mit der Vergangenheit, die es zu verstehen versucht, indem es das Wesentliche hervorhebt. Von Walter Benjamin übernimmt Arendt das Bild »des Trümmerhaufens der Vergangenheit«: Sie äußert sich mehrere Male über die bekannte neunte These aus Benjamins Schrift Über den Begriff der Geschichte,199 Gegenwart betont. Und ihre Beobachtungen zur Dichtung, die auf dem nichtzeitlichen Pfad des Denkens entsteht, ist eine lange Erörterung gerade dieser Kreativität. 197 | Vgl. Arendts Gedichte: Dritter Teil, 2.1.1 »Herr der Nächte«, S. 323. Auch in: Gedichte, S. 41. | Dritter Teil, 2.1.2 »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt«, S. 330. Auch in: Gedichte, S. 54. | Dritter Teil, 2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit«, S. 344. Auch in: Gedichte, S. 34 f. | Sowie Die Gedanken kommen zu mir, in: Gedichte, S. 51. Die ironisierende Persiflage auf zeichnerische Modelle: Ich bin ja nur ein kleiner Punkt, in: Gedichte, S. 42. 198 | Arendt zitiert nach Faulkner, William: Requiem for a nun, Akt 1, Szene 3 in: Arendt, Hannah: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft (1961) In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 7-20, hier S. 14. 199 | Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München, 2001, S. 324. | Und: Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 179-236, hier S. 197.

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dessen Originalmanuskript sie von ihm persönlich während ihrer Emigration in Frankreich erhalten hatte und mit in die USA retten konnte. In dieser neunten These entwickelt Benjamin sein eigenes Zeitkonzept, das allerdings auf den Geschichtsprozess bezogen ist und das Arendt hier zum Teil auf die Perspektive des Menschen überträgt. Nach Benjamin wird der Engel von der Vergangenheit, die als Kraft einem Sturm vergleichbar ist, in die Zukunft geweht und blickt dabei auf diese Vergangenheit, auf Erinnerungen, die »eine einzige Katastrophe« sind, »unablässig Trümmer auf Trümmer« häufend: »Dieser Sturm treibt unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.«200 Arendt übernimmt also nun von Benjamin, ohne ihn namentlich zu zitieren, das Bild des Trümmerhaufens: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Gegenwart »mag sehr wohl das Reich des Geistes oder, besser, der vom Denken gezogene Pfad sein – dieser schmale Weg der Nicht-Zeit, den die Tätigkeit des Denkens in den Zeit-Raum der sterblichen Menschen schlägt und in den hinein Denken, Erinnerung und Antizipation aus dem Trümmerhaufen der geschichtlichen und biographischen Zeit das retten, was immer sie auf ihrem Gang berührt«.201 Wenn Arendt hier beim Denken nicht nur von Erinnerung spricht, sondern auch von Antizipation, Vorwegnahme, so bedeutet dies nicht, dass der Mensch etwas vollständig Neues ersinnt. Aus den Bildern, die er bereits kennt, also aus der Vergangenheit reproduziert er mögliche Bilder, die Zukunft sein könnten. Daher nimmt die Vergangenheit, die aus Fragmenten besteht, »einem Trümmerhaufen gleich« eine zentrale Stelle bei Arendt ein. Das Fragmentarisierte der Vergangenheit, der verschiedenen Erinnerungen, wie sie der Mensch wahrnimmt, wird von ihm gesammelt und neu zusammengesetzt. Sowohl in Vom Leben des Geistes als auch bereits zuvor in ihrem Essay über Walter Benjamin, der verschiedene Fragmente etwa in seinem Passagenwerk sammelte, zitiert Arendt einen Auszug aus Der Sturm von Shakespeare: »Man hat immer noch eine Vergangenheit, aber eine zerstückelte Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewissheit verloren hat: ›Fünf Faden tief liegt Vater dein: Sein Bein wird zu Korallen; Perlen sind die Augen sein: Nichts an ihm das soll verfallen, Das nicht wandelt Meeres Hut In ein reich’ und seltenes Gut.‹

200 | Walter Benjamin zitiert nach: Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München, 2001, S. 324. 201 | Arendt, Hannah: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 7-20, hier S. 17.

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Dass man mit ihnen (den Bruchstücken) überhaupt etwas anfangen kann, das verdanken wir dem zeitlosen Pfad, den das Denken in die Welt von Raum und Zeit schlägt.«202 Diese verschiedenen Fragmente der Erinnerung werden etwa durch das Herstellen eines Gedichts zusammengefügt und damit vor der Vergänglichkeit gerettet. Kreativität ist demnach die Kapazität, die auf dem Pfad der Nichtzeit liegenden Bruchstücke der Erinnerung wieder herzustellen: Dazu bedarf es der Einbildungskraft.203 Diese beruht laut Arendt immer reproduktiv auf Vergangenem, als eine Form der Erinnerung: »Die Fähigkeit, vorgestellte Gegenstände im Geiste zu erzeugen, etwa das Einhorn oder den Kentauren, oder die erfundenen Gestalten aus einer Geschichte – man spricht gewöhnlich von produktiver Einbildungs202 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 208 (Shakespeare, William: Der Sturm, I, 2). | Vgl. Johanna Lauber, die in ihrer Studienarbeit über Hannah Arendt und die deutsche Literatur auf diese Verse Shakespeares zu sprechen kommt, die Arendt auch in ihrem Essay über Walter Benjamin zitiert hat. Hier gehe es Arendt darum, nicht mehr chronologisch, narrativ zu erzählen, da sonst eine künstliche Logik heraufbeschworen werde: »Dieses ›Herauftauchen von Erinnerungsperlen‹ sieht sie bei Walter Benjamin verwirklicht. Er habe erkannt, schreibt sie, ›dass an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war, an die Stelle ihrer Autorität, die gespenstische Kraft, sich stückweise in der Gegenwart anzusiedeln und ihr den falschen Frieden der gedankenlosen Selbstzufriedenheit zu rauben.« Lauber, Johanna: Hannah Arendt und die deutsche Literatur: »Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen.« Studienarbeit, München, 2009, S. 11. | Diese Vorgehensweise bezieht sich im Wesentlichen auf historische Geschichtsschreibung. Aber auch in der literarischen Narration interessiert sich Arendt für Autoren, die die ungewisse Wahrnehmung der Welt nach dem Tradionsbruch in ihr Werk vollzogen haben. Vgl. den ersten Teil, 2. Einleitung: Traditionsbruch als Ausgangspunkt der literarischen Moderne, S. 87. | Der Autor kann nur intentional, im Bewusstsein seiner Subjektivität berichten. Es gibt keine Objektivität eines auktorialen Erzählers mehr, der eine logische Abfolge des Berichts erstellen kann. Vgl. den zweiten Teil, 2.1.2 Perspektive: Der Erzähler, S. 212. 203 | Vgl auch Benhabib. Seyla: In Arendts historischer Geschichtsschreibung unterscheidet Benhabib zwischen Einfühlung, Imagination und historischem Urteil: »Arendt behauptete, dass es eine spezielle Beziehung zwischen dem historischen Verstehen und dem gibt, was Kant ›Einbildungskraft‹ genannt hatte. Beide waren Übungen in reproduktiver Imagination […] Arendt unterscheidet sorgfältig Urteil von Einfühlung. Der historische Erzähler muss nicht weniger als der moralisch Handelnde Akte des Urteilens vornehmen, denn Verstehen war eine Form des Urteilens. […] Auf dem Spiel stand in solchen Repräsentationserzählungen das Vermögen, den Standpunkt des Anderen einzunehmen, was nicht bedeutet, sich in den Anderen einzufühlen oder mit ihm zu sympathisieren, sondern vielmehr das Vermögen, die Welt, wie sie durch die Augen des anderen erscheint, neu zu schaffen.« Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz (Hg. Diner, Dan), Frankfurt / M ain, 1988, S. 150-174, hier S. 164.

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kraft –, beruht in Wirklichkeit völlig auf der sogenannten reproduktiven Einbildungskraft; die ›reproduktive‹ Einbildungskraft ordnet Bestandteile der sichtbaren Welt um, und das ist möglich, weil diese Bestandteile, mit denen man jetzt so frei umgehen kann, schon durch das Denken entsinnlicht worden sind.«204 Das bedeutet also, dass beim kreativen Akt, der das Wesentliche einer erinnerten Erfahrung hervorhebt, auch korrelierende Bilder aus anderen Erinnerungen hinzukommen können, um diese Essenz zu verdeutlichen und zu verstärken. Die Intentionalität des Denkens hebt Arendt daher hervor: Die Vorstellungstätigkeit bereitet die Gegenstände auf das Denken zu. Als Beispiele gibt sie etwa abstrakte Vorstellungen an, wie Glück, Gerechtigkeit, Erkenntnis. Nur durch diese abstrahierende Entsinnlichung, die durch Wiederholung zustande kommt, kann das Denkvermögen nach Arendt sich mit diesen Daten in immaterieller Form auseinandersetzen.205 Daraus lässt sich folgern, dass bei der Kreation eines Gedichts der Inhalt aus verschiedenen Erinnerungsbildern besteht, die korrespondierend zusammengebracht werden. Das Gedächtnis spielt somit eine große Rolle in der Kreation. Es gibt an einer anderen Stelle eine Aussage Arendts, in der sie auf die grundlegende Funktion des Gedächtnisses zu sprechen kommt: »Das Gedächtnis, die Fähigkeit des Geistes zur Vergegenwärtigung des unwiderruflich Vergangenen und damit den Sinnen nicht mehr Gegenwärtigen, war schon immer eins der einleuchtendsten Beispiele für die Fähigkeit des Geistes, Unsichtbares zu vergegenwärtigen. Sie scheint den Geist geradezu stärker als die Wirklichkeit zu machen; sie misst ihre Kraft mit der Nichtigkeit alles Veränderlichen; sie bewahrt und stellt wieder vor, was sonst dem Untergang und der Vergangenheit anheimfiele.«206 Das Gedächtnis allein allerdings reicht nicht aus, damit Untergang und das Vergessen der Vergangenheit nicht überhand nehmen. Erst durch die Herstellung in der Dichtung kann es Andenken geben, da man ja das Gedicht immer wieder lesen oder gedanklich wiederholen kann: »So kommt doch immer die Zeit, da auch dies Undinglichste aller Dinge ›gemacht‹ werden muss, niedergeschrieben und verwandelt in ein greif bares Ding unter Dingen, weil lebendige Erinnerung und Fähigkeit des Gedächtnisses, aus denen alles Verlangen nach Unvergänglichkeit stammt, der Greif barkeit des Dinglichen bedarf, um sich an ihm festzuhalten und nicht seinerseits dem Vergessen und der Vergänglichkeit zu verfallen.«207 Die Herstellung eines Gedichts beschreibt Hannah Arendt bereits in der Vita Activa ausführlich. Sie geht dabei wohl von ihren eigenen Erfahrungen aus. Der Dichter muss das sinnende Denken unterbrechen, um es in Kunst zu verwandeln: »Gerade den reinen Denkprozess, den eigentlichen Gedankengang muss der Künstler […] unterbrechen, wenn er das Gedachte so verwandeln will, dass es ei204 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 92. 205 | Vgl. Ebenda, S. 93. 206 | Ebenda, S. 251. 207 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 205.

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ner schriftlich-verdinglichenden Darstellung eignet.«208 Diese sich beim Dichten vollziehende Verdinglichung leitet Arendt aus der Etymologie des Wortes Dichten ab: Man »macht« ein Gedicht oder, wie es im Französischen heißt, »faire un vers« und im Englischen »to make a poem«. Dabei wird das Gedicht hergestellt, bevor es niedergeschrieben wird: »Aber auch das deutsche Dichten stammt aus dem Lateinischen ›dictare‹ und heißt ›das ausgesonnene geistig Geschaffene niederschreiben oder zum Niederschreiben vorsagen‹ (Grimms Wörterbuch). Kluge Götze, Etymologisches Wörterbuch (1951), leitet das Wort ›dichten‹ neuerdings von ›tichen‹, einem alten Wort für ›schaffen‹ ab, was besagen würde, dass es mit dem lateinischen ›fingere‹ vielleicht zusammenhängt. Auch in diesem Fall ist die eigentliche dichterische Tätigkeit, die das Gedicht ›herstellt‹, bevor es niedergeschrieben wird, als eine Art Verdinglichung vorgestellt.«209 Das Gedicht entsteht also nach Arendt nicht beim Schreiben, sondern beim Denken und Sinnen selbst, und wird aufgeschrieben, wenn es fertiggestellt ist. Daraus lässt sich schließen, dass der Dichter es sich beim Denken und Sinnen beständig wiederholt, wie eine Melodie oder einen Liedtext. Es muss für ihn selbst einprägsam sein. Diese Einprägsamkeit ist nach Hannah Arendt nun die wesentliche Kategorie für Dichtung, die zum Andenken führt. Es ist Einprägsamkeit, welche die Lebendigkeit des Gedichts ausmache, so dass es überdauert. Indem man es gedanklich wiederholen kann, ist es dem Gedächtnis nahe und bleibt bestehen – es kann auch ohne Niederschrift überleben: »Die Qualität eines Gedichts […] wird doch gerade durch seine ›Einprägsamkeit‹ weitgehend darüber entscheiden, ob es sich endgültig im Gedächtnis der Menschheit festsetzen, ihm sich einprägen kann.«210 Die Musikalität der Sprache in der Lyrik ist wesentlich für die Einprägsamkeit und Dauerhaftigkeit.211 Die technischen Hilfsmittel wie Rhythmus und Reim reichen allerdings nicht aus. Die Einprägsamkeit entsteht auch durch »Verdichtung«. Ein Gedicht ist eine konzentrierte, sprachlich kurze Zusammenfassung. Wie bereits festgestellt, wohnt nach Arendt dem Denken eine Essentialisierung inne: Das Gedicht nun tut dasselbe, es fasst das Wesen einer Situation oder eines Erlebnisses oder eines Gedankens zusammen. Dichtung verdichtet die Erfahrung, seine Dauerhaftigkeit entsteht durch Verdichtung. Die konzentrierte, essentialisierende Form des Gedichts ist am ehesten fähig, Erinnerung und Andenken zu be208 | Ebenda, S. 206. 209 | Ebenda, S. 458, Fußnote im Anmerkungsteil. 210 | Ebenda, S. 205. 211 | Vgl. Ebenda, S. 204: | Nach Arendt liegt die besondere Lebendigkeit der Dichtung wie der Musik darin, dass diese von allen Kunstwerken am wenigsten materialgebunden ist: »Aber diese Leblosigkeit [der anderen Kunstwerke wie Malerei oder Bildhauerei] ist nicht allen Künsten im gleichen Maße eigen; sie ist dort am schwächsten, wo die herstellende Verdinglichung am wenigsten an Material im eigentlichen Sinne gebunden ist, also in der Musik und der Dichtung, deren ›Material‹ Worte und Töne sind, mit denen umzugehen ein Minimum an Materialkenntnis und Werkerfahrung erfordert.«

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wahren: »Das andenkende Erinnern – Mnemosyne, die Mutter aller Musen und Künste – vermag sprachlich so zu konzentrieren, dass das Gedachte sich in etwas verwandelt, was sich unmittelbar dem Gedächtnis einprägt; und auch Rhythmus und Reim, die technischem Mittel der Dichtkunst, stammen noch aus dieser äußersten Konzentration.«212 Andenken ist ein menschliches Bedürfnis, das über die materiellen Antriebe hinausgeht. Arendt selbst stellt fest, dass der Künstler nutzlose Dinge schafft, die über die Welt hinausgehen. Die Zweckfreiheit und Selbstlosigkeit der Kunst muss Ausgangspunkt sein, damit sie überzeugen kann: »In diesem höchsten Schaffen, dessen er [der Künstler] fähig ist, das sich von Nutzen und Gebrauchen so weit emanzipiert hat, dass es nutzlose Dinge herstellt, ist es auch, als wachse er gleichsam über sich selbst und alle nur den Menschen bezogenen Bedürfnisse hinaus, als könne er ohne den Stachel materieller oder intellektueller Antriebe auskommen, als bedürfe er, um der Welt zu dienen, weder des natürlichen Verlangens nach den Gütern der Welt noch des spezifisch menschlichen Durstes, über die Welt Bescheid zu wissen.«213 Es ist anzunehmen, dass Arendt ihre eigenen Gedichte gerade wegen ihrer Zweckfreiheit nicht publizierte, sondern sich auf die politischen und historischen Schriften beschränkte, die ihr wichtiger erschienen. Das ist durchaus zu bedauern, denn einige ihrer Gedichte sind Andenken einerseits an tote Freunde, Nekrologe, wie etwa an Walter Benjamin, Hermann Broch oder Erich Neumann, andererseits an Situationen, die nicht vergessen werden sollen, wie etwa die Emigrationsgedichte, die den Verlust betrauern, oder einige späte Liebesgedichte. Wenn Hannah Arendt hier auch die Zwecklosigkeit der Kunst lobt, so kann sich diese auch in ihr Gegenteil verkehren, wenn sich daraus eine gewisse Weltfremdheit entwickelt, wofür Heideggers Werke ein Beispiel sind. Wie Heidegger meint Arendt, dass Lyrik Andenken sein kann. Er selbst geht noch weiter und stellt fest, dass es eine Verbindung zwischen Denken und Danken gibt. So rezipiert sie in ihrem Denktagebuch, dass nach Heidegger »Gedenken« ursprünglicher »Dank« sei, also »andenkendes Gedächtnis«: »Der Gedanke entfaltet sich im Gedächtnis, das währt als Andacht. Gedächtnis – Dank: Im Dank gedenken wir dessen, worin unser Gemüt versammelt ist.«214 Und zu Heideggers Hölderlin-Interpretationen 212 | Ebenda, S. 205. 213 | Ebenda, S. 207. 214 | Denktagebuch: Heft 9: Mai 1952, Eintrag 17, S. 210. | Die Verbindung von Denken und Dank erscheint als Sprachspiel, wie Arendt in Vom Leben des Geistes analysiert: »Nach Heidegger ist Denken und Danken wesentlich dasselbe; schon die Wörter haben dieselbe etymologische Wurzel.« Diese etymologische Herleitung findet Arendt problematisch, da es dafür keine beweiskräftigen Argumente gebe: Denken und Danken seien nicht das Gleiche. Weiterhin ist im Konzept des Denkens als Danken kein Raum für das Vorhandensein von Disharmonie, Hässlichkeit und dem Bösen. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 150. Arendt führt Heideggers Dank auf das

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des Gedichts Andenken hat Arendt die Passagen, die eine Verbindung zwischen Dichten und Andenken herstellen, unterstrichen: »Das Erinnern an das Vergangene trifft auf das Unwiderrufliche. Dieses duldet keine Frage mehr. Andenken bewahrt dann, allen Fragens enthoben, das Vergangene.«215 Aber Heidegger geht auch sehr weit, wenn er den gängigen zeitlichen Ablauf umdreht, um zu Prophezeiungen zu kommen: »Wenn das Denken an das Gewesene diesem sein Wesen lässt und sein Walten durch eine übereilte Verrechnung auf eine Gegenwart nicht stört, dann erfahren wir, dass das Gewesene bei seiner Rückkunft im Andenken über unsere Gegenwart sich hinausschwingt und als ein Zukünftiges auf uns zukommt. Plötzlich muss das Andenken das Gewesene als ein Noch-nicht-Entfaltetes denken.«216 Die Tatsache, dass Vergangenheit als Zukunft auf den Menschen zukommen soll, dürfte Arendt als eine gefährliche Form der Weltentfremdung verstanden haben. In ihrer Heidegger-Würdigung 1968 kommt diese Kritik zum Tragen: Sie stellt Heideggers Denken vor – »das Denken, sagt Heidegger, ist ›das In-die-Nähe-kommen zum Fernen‹«217 – das sie etwas später als »Binsenweisheit« darstellt, denn es sei klar, dass Anwesendes und Abwesendes, Nähe und Ferne, Entbergen und Verbergen immer zusammenhängen: »Die Erinnerung, die im Denken zum Andenken wird, hat eine so eminente Rolle in der Geschichte des Denkens über das Denken als einen mentalen Vorgang gespielt, weil es uns verbürgt, dass Nähe und Ferne, wie sie sinnlich gegeben sind, einer solchen Umkehrung überhaupt fähig sind.«218 Aber die ausschließliche Beschäftigung damit führt schließlich zu Weltentfremdung: Sein »Seinsentzug« und seine »Seinsvergessenheit« bedeuten auch den »Entzug dessen, womit das Denken, das sich seiner Natur nach an das Abwesende hält, es zu tun hat. Die Aufhebung dieses ›Entzugs‹ ist immer mit einem Entzug der Welt der menschlichen Angelegenheiten bezahlt, und dies auch dann, wenn das Denken gerade diesen Angelegenheiten in der ihm eigenen abgeschiedenen Stille nachdenkt. So hat auch Aristoteles bereits, das große Beispiel Plato noch lebendig vor Augen, den Philosophen dringend geplatonische thaumazein, das Staunen, zurück: »Jetzt ist das Selbst einem Denken zurückgewonnen, das Dankbarkeit dafür ausdrückt, dass ihm das nackte ›Dass‹ überhaupt zuteil geworden ist. Dass der Mensch gegenüber dem Sein dankbar sein sollte, lässt sich als eine Ableitung gegenüber dem Platonischen thaumazein sehen, des Anfangs aller Philosophie.« Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, S. 412. 215 | Heidegger, Martin: Andenken. Erschienen zum 100. Todestages Hölderlins 1943. In: Heidegger Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt / M ain, 1951, S. 83 Zitiert nach Arendts Ausgabe in: DLA: A: Arendt: Heidegger, Verschiedenes, Widmungen (Unterstreichungen von Arendt). 216 | Ebenda, S. 100 (Unterstreichungen von Arendt). 217 | Vgl. Arendt, Hannah: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt (1969). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 166-178, hier S. 174. 218 | Ebenda, S. 175.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

raten, nicht die Könige in der Welt der Politik spielen zu wollen.«219 So kann man daraus schließen, dass Andenken in der Dichtung ein wesentliches Ziel ist, aber auch, dass man durch die ausschließliche Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Kunst die aktuelle Gegenwart mit ihren sozialen und politischen Anforderungen nicht aus den Augen verlieren darf.220

2.2.4 Thematik der Dichtung: Zeitlosigkeit der Gedankenlyrik Nach Hannah Arendt unterschied Hermann Broch am Ende seines Lebens zwischen der Erkenntnis, die Zwangscharakter habe und auf eine Theorie des Tuns abziele, und dem Denken, das auf zweckfreie Dichtung und Philosophie eingehe. Einer tiefgreifenden Wandlung entsprechend hatte er der Theorie den Vorrang gegeben, während in seinen frühen Schriften für ihn die Kunst eine größere Erkenntnispotenz hatte. In diesem Sinne nahm Broch den entgegengesetzten Weg von Heidegger.221 Auch wenn Arendt Sympathien dafür hegte, bedauerte Arendt diese Wendung, denn nach ihr lagen Brochs Fähigkeiten besonders in der Dichtung. Aus ihren Analysen schließend, hält sie offenbar Brochs Schema für zu rigide: Auch wenn Philosophie aus Denken besteht und nach Arendt damit zweckfrei ist, bemerkt sie dennoch in der Vita Activa indirekt, dass diese Einteilung Denken  – Philosophie  – Zweckfreiheit und Erkennen  – Wissenschaft  – Zielbestimmtheit etwas übersieht. Auch in der Philosophie müssen die Gedanken niedergeschrieben werden und führen zu Erkenntnis.222 Und wie aus einer Notiz im Denktagebuch zu entnehmen ist, ist Denken immer auf Sinn, also auf Erkenntnis aus: »Denken und Anschauung: Die Möglichkeit, Entferntes mir vorzustellen, d. h. zu ›sehen‹, wieder präsent zu machen, was abwesend ist, ist zwar die Bedingung des Denkens, aber noch nicht Denken. Denken ist immer auf Sinn aus; der Sinn des sinnlich Erfahrenen kann aber nur durch Denken erreicht werden, also nur wenn es sinnlich nicht mehr gegeben ist.«223 Den Sinn oder die Essenz etwa einer Erfahrung darzustellen, ist daher das Ziel der Dichtung. Arendt benutzt ein 219 | Ebenda, S. 175. 220 | Vgl. dazu Antonia Grunenberg, die Arendts und Heideggers Begriff des Andenkens analysiert: Bei Heidegger finde eine völlige Abkehr vom Politischen statt, während bei Arendt die Welt als das Zusammenhandeln der Pluralität die Basis des Politischen bilde: »Dabei wurde deutlich, es ging nicht nur um das An-Denken der Welt, wie Heidegger sagte, sondern um das politische Handeln in ihr, das Zusammen-Handeln der Vielen.« Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, 2006, S. 358. 221 | Vgl. Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-165, hier S. 144. 222 | Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001, S. 34. 223 | Denktagebuch: Heft 16: September 1969, Eintrag 53, S. 739 (Unterstreichung von Arendt).

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

Bild, um diese Essenz wiederzugeben, das sie der Archäologie entnimmt: »Sinn ist, was nie erscheint, sich nicht einmal manifestiert (?). Also geht Denken immer auf das, was unter der Oberfläche ist, oder in die Tiefe. Die Tiefe ist seine Dimension. Es aus der Tiefe in die Höhe zu heben, ist die Aufgabe der Dichtung, aller Kunst.«224 Dieses Bild sollte sie selbst in einem Gedicht verwenden, in Helle scheint in jeder Tiefe,225 was dafür spricht, dass Arendt bereits früh in den fünfziger Jahren versucht hat, für das Denken selbst Bilder zu finden. Ziel der Dichtung ist also nicht nur Andenken, das heißt im Gedicht die Emotion herzustellen, die auf die Erinnerung verweist und die Essenz hervorholt, sondern Dichtung kann für sie auch Gedankendichtung sein, die modellhafte Bilder findet für scheinbar abstrakte Sachverhalte und somit auf intellektuelle Erkenntnis aus ist. Arendts eigene Lyrik beschäftigen neben dem Fragenkomplex, was das Denken sei, zwei weitere große Themenkreise: auf der einen Seite, was Zeit sei,226 und auf der anderen, was Dichtung sei.227 Diese Gedankenlyrik ist durch ihr philosophisches Interesse gekennzeichnet, die das abstrakte Thema in seiner Zeitlosigkeit wiedergibt. Das Ich des Denkens befindet sich nach Arendt auf dem Pfad der Nichtzeit: Beim Andenken erinnert sich das Selbst, das zwischen der Vergangenheit und Zukunft steht, aber das Ich auf dem Pfad der Nichtzeit schreibt das Gedicht. Bei der Gedankenlyrik nun entwickelt das Ich auf dem Pfad der Nichtzeit Bilder für das Denken, die Zeit oder die Dichtung, die aufgrund von Kontemplation des Ewigen oder – für Arendt passender – von zeitloser Ordnung zustande kommen. Hier muss ein Rückgriff auf Aussagen Arendts in Vom Leben des Geistes erfolgen, denn Ewigkeit darf nicht mit Zeitlosigkeit verwechselt werden. Das Ich befindet sich beim Denken auf einem zeitlosen Pfad, es gibt aber auch in der Außenwelt zeitlose Gebiete oder Gegenstände. Arendt spricht davon im Zusammenhang mit der griechischen Antike. Der dort vorherrschenden Vorstellung von ewigen 224 | Ebenda, S. 740. 225 | Vgl. Ebenda, S. 587. | Vgl. Arendts Gedichte: Denken – dritter Teil, 2. Gedankenlyrik, S. 321, sowie 2.1 Zu Denken und Dichten, S. 323. | Dritter Teil, 2.1.1 »Herr der Nächte«, S. 323. Auch in: Gedichte, S. 41. | Dritter Teil, 2.1.2 »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt«, S. 330. Auch in: Gedichte, S. 54. 226 | Vgl. Arendts Gedichte: Zeit – dritter Teil, 2. Gedankenlyrik, S. 321, sowie 2.2 Zu Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit, S. 344. | Dritter Teil, 2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit«, S. 344. Auch in: Gedichte, S. 34 f. | Dritter Teil, 2.2.2 »Park am Hudson«, S. 354. Auch in: Gedichte, S. 36. | Dritter Teil, 2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur …«, S. 360. Auch in: Gedichte, S. 49 f. | Dritter Teil, 2.2.4 »Ach wie die Zeit sich eilt«, S. 372. Auch in: Gedichte, S. 53. 227 | Vgl. Arendts Gedichte: Dichtung – dritter Teil, 2. Gedankenlyrik, S. 321, sowie, 2.1 Zu Denken und Dichten, S. 323. | Dritter Teil, 2.1.3 »Und keine Kunde«, S. 335. Auch in: Gedichte, S. 61. | Dritter Teil, 2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht«, S. 340. Auch in: Gedichte, S. 63.

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Gegenständen scheint sie weniger Abneigungen entgegenzubringen als den mystischen Visionen des Mittelalters. Nach Arendt erlangten die Griechen Unsterblichkeit in zwei Phasen: durch die Tätigkeit des nous, der Betrachtung des Unvergänglichen, das sprachlos und göttlich und dessen Kriterium die Ewigkeit ist, und durch die Tätigkeit des logos, der das Geschaute in Worte überträgt, nichtgöttlich und dessen Kriterium die Wahrheit ist.228 Wenn man vom Göttlichen abstrahiert, so kann man doch feststellen, dass es für bestimmte Gebiete wie das Zeiterleben, Denkprozesse oder die Wirkung von Dichtung bestimmte Ordnungen gibt, die allgemeingültig, also zeitlos sind. Die Darstellung durch den logos der Philosophie stößt nach Arendt auf erhebliche Schwierigkeiten, denn das Kriterium der philosophischen Rede sei das »gleichendmachen«, die möglichst getreue sprachliche Wiedergabe, der vom nous geleisteten Schau: Diese Schau ist selbst sprachlos, ein »unmittelbares« Sehen »ohne jedes diskursive Denken«.229 Man kann daraus folgern, dass das, was die Philosophie nicht leisten kann, von der Dichtung in ihrer kurzen, konzentrierten Form vollbracht werden kann, da sie nicht diskursiv beschreibend mit einem abstrakten Ergebnis arbeitet, sondern direkt die Bildlichkeit des geschauten Gegenstandes wiedergibt und den Leser das Ergebnis dieser Kon, templation erblicken lässt. Aus der Arendt schen Gedankenlyrik jedenfalls entnimmt man, dass ihre Gegenstände oder Themenstellungen – Zeit, Denken und Dichtung – aufgrund von Kontemplation auf dem Pfad der Nichtzeit beim Denken entstanden sind, also als Gegenstände selbst zeitlos sind und in der Wirkung Unsterblichkeit und Dauerhaftigkeit erzeugen. Es gibt eine weitere Kategorie in ihrer Dichtung, die auf einen Einfluss der griechischen Antike zurückzuführen ist: Das bereits erwähnte Staunen, das den Anlass für das Philosophieren liefert. Arendts eigene Gedankenlyrik dürfte aus diesem Staunen, das zum Preisen und Loben führt, geboren sein, denn diesen Gedichten liegt zumeist ein lebensbejahender Ton zugrunde, auch wenn der Ursprung manches Mal auf Melancholie beruht, die staunend ergründet wird, um sie dann in etwas Positives zu verwandeln. Elisabeth Young-Bruehls ursprüngliche amerikanische Biographie ist zu Recht mit »Love of the world« untertitelt. In Vom Leben des Geistes stellt Arendt diese Lobpreisung als wesentliche philosophische Begründung der Dichtung dar, so betont sie an zwei Stellen, dass sich diese Tradition in der Moderne trotz eines Bruches bewahrt habe. Einmal fasst sie zusammen, dass große Dichter dieses Jahrhunderts in der Bejahung eine Lösung der scheinbaren Sinnlosigkeit in einer völlig säkularisierten Welt sahen.230 Und in einem anderen Passus schreibt sie: »Diese Weltentfremdung, die dem Aufstieg des stoischen und christlichen Denkens vorausging, konnte diese Vorstellung des Lobens zwar aus der philosophischen Tradition verbannen, aber nicht aus dem Ge228 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 138. 229 | Ebenda, S. 138. 230 | Vgl. Ebenda, S. 412.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

danken der Dichter.«231 Als Beispiele gibt sie neben Nietzsches Ja-Sager Verse von Ossip Mandelstam an – »In Lethes kalten Wassern werden wir gedenken, / Dass die Erde uns tausend Himmel wert war.« – sowie eine Strophe aus Rilkes Duineser Elegien: »Erde du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte Nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen. Einer, ach ein einziger ist schon dem Blute zu viel. Namenlos bin ich zu dir entschlossen von weit her, Immer warst du im Recht …« 232

Und insbesondere zitiert sie zweimal ein Gedicht Audens, das die Schwierigkeit des Lobens in einer zivilisationskritischen Moderne betont und doch darauf besteht: Die Weltentfremdung »findet sich noch, mit emphatischen Ausdruck, bei W.H. Auden, bei dem es heißt: ›Dies seltsame Gebot versteh ich nicht: Preise was da ist, weil es ist. Man muss ihm gehorchen, denn Wozu sonst bin ich geschaffen, Zum Ja oder zum Nein?‹« 233

Diese grundsätzliche Bejahung der Welt, die aus dem Staunen geboren wird, ist nach Arendt die wesentliche philosophische Fundierung der Dichtung.234 Es gibt 231 | Ebenda, S. 326. 232 | Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien, 9. Elegie zitiert nach: Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, München, 1998, S. 412. 233 | Wystan H. Auden: Precious Five zitiert nach Arendt: Ebenda, S. 412. 234 | Vgl. Levet, Bérénice: Bérénice Levet übersetzt die Bejahung der Welt aus Dankbarkeit dafür, geboren zu sein, auch als Ausdruck, um gegen nihilistische Tendenzen vorzugehen: »La poésie injecte ainsi un double antidote contre le nihilisme. Non seulement il y a de l’être pour le poète, un être placé dans les choses, dans la richesse, dans la variété des apparences sensibles, mais cet être, il l’interprète comme un don, comme un ›cadeau‹, ›cadeau venu de nulle part‹.« (S. 187). Übersetzung A.B.: »Dichtung wirkt als doppeltes Gegenmittel gegen den Nihilismus. Es gibt nicht nur ein Sein für den Dichter, einen Menschen, der sich in den Dingen, in den Reichtümern, in der Vielfalt der sinnlichen Erscheinungen befindet. Aber dieses Sein wird von ihm als Gabe, als ›Geschenk‹, als ›Geschenk, das nirgendwoher stammt‹, interpretiert.« | Das Sein der sinnlich gegebenen Welt, für das der Dichter dankbar ist, hat nach Levet einen Ursprung, den man nicht ausmachen kann. Hier grenzt sich Hannah Arendt von Heideggers Ontologie ab. Aber Levet hat auch richtig erkannt, dass Arendts transzendentale Vorstellungen nicht religiös bestimmt sind, ihre Dankbarkeit nicht aus einer Lobpreisung Gottes resultiert: »Que ce soit dans son hommage à Auden ou dans

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einige Gedichte Arendts, die genau diese Bejahung ausdrücken, zumeist in Landschaftsbildern und als Zugehörigkeit zu der von den Menschen hergestellten Welt und zur immer vorhandenen Erde: Beispiele sind die zwei Reiseeindrücke, Fahrt durch Frankreich,235 1952, in dem die von Menschenhand bebaute Erde und die Einheit der Menschen mit der Natur beschworen wird, und Holland,236 1956, das diese Einheit des Menschen in der Welt behandelt, indem er Felder bearbeitet. Abstrakter gehalten sind zwei weitere Gedichte von 1954, die von ihrem direkten Bezug zu der Erde sprechen: Ich lieb die Erde 237 bezeichnet diese zwar als fremd, was auf die Weltentfremdung verweist, die sie in Audens Gedicht hervorhebt, gleichzeitig stellt Arendt in ihm ihre Zugehörigkeit zum Leben fest, das »seinen Faden ins nie gekannte Muster« fortsetzt; Erdennässe 238 setzt die »Erdennässe« mit der »Herzenswärme« und den »Erdendunst« mit der »Herzensgunst« gleich und definiert in seiner rein positiven Emotion des »Gerührtseins« die Zugehörigkeit zum Mitmenschen. Einen Zeitbezug zur Erde gibt es schließlich noch in dem Gedicht Stürzet ein ihr Horizonte,239 in einer abstrakten Zeitlosigkeit ist die Erde innerhalb des Universums: »fremdes Licht« stürzt durch die Horizonte und sprengt »die irdischen Gezeiten donnernd« auseinander. Hier führt wiederum ein Naturerlebnis zum Staunen und Preisen der Erde, die in ihrer Dauerhaftigkeit existiert und unabhängig von der Linearität der Zeit des Menschen als einzige die Ewigkeit kennt. Das Gedicht ist in Palenville entstanden, einem Urlaubsort, den Arendt während mehrerer Sommer besucht hat, und man kann in dieser Linie auch die Naturbeschreibung ansiedeln, die in dem Gedicht Palenville vom August le deuxième tôme de La vie de l’esprit, Arendt prévient tout malentendu. La disposition au poète à la louange et à la gratitude ne doit pas être confondue avec une attitude religieuse. La ›gratitude‹ n’a ›rien à voir avec le fait de servir Dieu‹, avec la ›foi aveugle en un Dieu créateur.‹ […] Cette disposition n’est pas dirigée contre le christianisme, n’est pas motivée par la hantise d’une quelconque récupération, mais par le souci de sauver la disposition à la gratitude en montrant qu’elle peut se soutenir sans l’échafaudage d’une foi.« (S. 187 f.) Übersetzung A.B.: »Ob in ihrer Würdigung Audens oder im zweiten Band von Das Leben des Geistes, Arendt beugt jedem Missverständnis vor. Die Bereitschaft des Dichters, zu loben und dankbar zu sein, darf nicht mit einer religiösen Haltung verwechselt werden. Die ›Dankbarkeit‹ hat ›nichts damit zu tun, Gott zu dienen‹, mit ›einem blinden Glauben an einen schöpferischen Gott‹. […] Diese Bereitschaft ist nicht gegen das Christentum gerichtet, wird nicht von der Angst vor jedweder Vereinnahmung motiviert, sondern von der Sorge, diese Dankesbereitschaft zu retten, indem aufgezeigt wird, dass diese sich ohne das Gerüst eines Glaubens bewähren kann.« Levet, Bérénice: Le musée imaginaire d’Hannah Arendt, Paris, 2011. 235 | Vgl. Arendt, Hannah: Fahrt durch Frankreich. In: Gedichte, S. 56. 236 | Vgl. Arendt, Hannah: Holland. In: Gedichte, S. 78. 237 | Vgl. Arendt, Hannah: Ich lieb die Erde. In: Gedichte, S. 66. 238 | Vgl. Arendt, Hannah: Erdennässe. In: Gedichte, S. 68. 239 | Vgl. Arendt, Hannah: Stürzet ein ihr Horizonte. In: Gedichte, S. 82.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

1953 allgemeiner gehalten ist: »Spannlos winkt mir hinter gehäuften Hügeln die Weite / Und das Ferne bricht durch, leuchtend wie Mond in der Nacht.«240 Hannah Arendts Gedanken über Dichtung als Resultat der Nichtzeit sind bereits in ihrer Rahel-Varnhagen-Monographie Anfang der 1930er-Jahre angedeutet. Ihre Habilitation ist eine Literarisierung der Empfindungswelt Rahel Varnhagens und scheinbar aus ihrer Perspektive geschrieben. Wie Claudia Christophersen in ihrer Dissertation über Arendts Varnhagen-Buch richtig beobachtet, nimmt Arendts Text stilistisch die Sprache der Briefe Rahels auf: »Lange Zitatpassagen aus Rahels Briefen erschweren außerdem die Differenzierungsmöglichkeit zwischen den Aussagen der Autorin und denen der Heldin des Buches.«241 In einer Passage dieses Werks führt Arendt im Namen Rahels bereits die Verbindung von Dichtung und Zeitlichkeit aus – einige Denkansätze existieren bereits vollständig. Daher können hier zusammenfassend Arendts Thesen anhand dieses literarisierenden Beispiels gegeben werden. Die These der Zweckfreiheit der Dichtung, die sich im extremen Fall, wenn sie zu Weltentfremdung führt, in Zwecklosigkeit verwandeln kann, ist in ihrer Varnhagen-Monographie bereits angelegt: »Das Schöne ist von sich aus gegen alles andere isoliert. Von dem, was nur schön ist, führt kein Weg in die Wirklichkeit. Zwar kann die Schönheit eines Gedichts der Anlass werden zum ›unendlichen Sinnen‹; aber dieses Sinnen ist gebunden an den Zauber des Augenblicks und kennt weder gestern noch morgen.«242 Sie stellt weiterhin fest, dass der Denkprozess, das Sinnen, an die Gegenwart, an den Augenblick gebunden ist und sich mitten in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet: Dieses Sinnen ist unendlich – vierzig Jahre später sollte die Diagonale des nichtzeitlichen Pfades des Denkens in die Unendlichkeit reichen. Auch die Unterscheidung zwischen dem alterslosen Ich beim Denken und dem vergänglichen Selbst wird hier bereits erwähnt: »Der Zauber des Schönen trifft auf den nackten Menschen, als hätte er nie gelebt. Das Schöne in seiner Isoliertheit scheint alle Verbundenheit auszulöschen und den Menschen in die gleiche Nacktheit zu stoßen, in der es ihm selbst begegnet.«243 Schließlich kommt sie auf die lebensbejahende Funktion der Dichtung zu sprechen, die hier parallel zur Erdverbundenheit steht. Wie die Wahl der Gedichtzitate von Auden, Mandelstam und Rilke in den 1970er-Jahren in Vom Leben des Geistes zeigen,244 setzt sie wie auch in manchen ihrer Gedichte aus den 1950er-Jah-

240 | Vgl. Arendt, Hannah: Palenville. In: Gedichte, S. 62. 241 | Christophersen, Claudia: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« Hannah Arendt über Rahel Varnhagen, Königstein / Taunus, 2002, S. 79. 242 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 101. 243 | Ebenda, S. 101. 244 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 412.

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ren245 hier Natur und Dichtung als Elemente des Lebens gleich, um derentwillen es sich zu leben lohnt: »Der Mensch kann sich dem Schönen ausliefern, wie er der Natur ausgeliefert sein kann. Unabhängig von all dem, was das Leben gibt oder versagt, ist das schrankenlose Entzücken über den ersten Frühlingstag, über den stets wiederkehrenden warmen Geruch des Sommers. So wie das Schöne unbesiegbar ist von dem Sieg des Lebens, in dem es untergeht, so ist die Macht der Jahreszeiten unbesiegbar in der Sicherheit ihrer ewigen Wiederkehr.«246

Z usammenfassung : Theorie der N arr ation und Theorie der K reation Aus den verschiedenen Äußerungen, die Hannah Arendt beiläufig in der Vita Activa in den 1950er-und in Vom Leben des Geistes in den 1970er-Jahren gemacht hat, lassen sich zwei theoretische Konzepte der Dichtung – der Narration und der Kreation – zusammenfassen, die in engem Zusammenhang mit der Zeit stehen. Arendts eigene dichterische Erfahrung dürfte dabei eine Anregung gewesen sein. Diese beiden Konzepte sollen in ihrer Interaktion zusammengefasst werden: Grundsätzlich geht Hannah Arendt immer von der Perspektive des Menschen aus, in diesem Fall des Dichters. In ihrer Theorie des Erzählens, der Narration, ist die Grundbedingung für künstlerisches Schaffen die Tatsache, dass der Dichter außerhalb der Gesellschaft stehen muss. Es geht nicht darum, ein Einkommen zu sichern, sondern darum, etwas zu schaffen, das frei vom Marktwert, von jeglicher Zweckverhaftung steht. Das Kunstwerk ist kein Gebrauchsgegenstand. Die Außerordentlichkeit des Kunstwerks stammt aus der Individualität des Künstlers, der eine einzigartige biographische Geschichte hat und dessen Wer-er-ist sich im Bereich des Erzählbaren eröffnet. Dies steht in Opposition zu der Auffassung des Künstlers, der nur ein Sprachrohr für das Sein (Heidegger) oder den Weltgeist (Hegel) ist. Es gibt keinen allgemeinen Geschichtsprozess  – auch hier fordert Arendt die Zweckfreiheit der Kunst ein –, es gibt nur punktuelle Geschichten, die einen Sinn wiedergeben. Diese Geschichten haben Leuchtkraft, denn durch das Verstehen kann der Mensch den Sinn eines Musters ergründen. Anlass von Dichtung sind Ereignisse: Die Welt besteht aus einem wiederkehrenden Kreislauf der Natur, unterbrochen von der Linearität des Menschen, der geboren wird und stirbt. Ereignisse unterbrechen den Ablauf des Geschehens, sie entstehen aus dem Aufeinanderstoßen von Menschen. Das Ereignis ist der Endpunkt der erlebten Geschichte. Etwas Unwiderrufliches passiert und man ver245 | Vgl. Arendts Gedichte: Arendt, Hannah: Palenville. In: Gedichte, S. 62. | Arendt, Hannah: Ich lieb die Erde. In: Gedichte, S. 66. | Arendt, Hannah: Erdennässe. In: Gedichte, S. 68. 246 | Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959), München, 2001, S. 102.

Zweiter Teil. Reflexion – Arendts theoretische Überlegungen zur Dichtung

sucht die Geschichte rückwärts zu erzählen. Das Ereignis erhellt die Vergangenheit. Geschehnisse erscheinen als Geschichte mit Anfang und Ende. In ihrer Theorie der Kreativität führt Arendt diese Theorie anhand des Dichters aus: Der Antrieb zu dichten kommt aus dem Erleiden einer Situation, also eines Ereignisses. Das bewirkt Passionen oder auch andere Empfindungen, die der Dichter staunend ergründet: Sie werden zum Motor seines Denkens. Aus dem Verwandeln des Gedachten in Dichtung resultiert zweierlei: Der Dichter befreit sich aus der passiven Situation des Erleidens und gelangt in eine aktive Situation, die auf der einen Seite den Sinn des Erlebten herausarbeitet und damit auf der anderen Seite die Katharsis herbeiführt, die aus Mitleiden besteht. Indem er die Geschichte nacherzählt, kann er seine Vergangenheit begrenzt bewältigen und einen Schlusspunkt darunter setzen. Während er ein Gedicht erschafft, befindet sich der denkende und sinnende Künstler auf einem Pfad der Nichtzeit: in einem stehenden Jetzt, dem nunc stans vergleichbar. Das Gedicht wird daher aus der Zeitlosigkeit geboren: Der Mensch entsinnlicht und enträumlicht die Erfahrung bzw. das Ereignis (Gedicht) oder die Geschehnisse (Erzählung). Er hebt die Zeit beim Denken auf und sucht den Sinn, das Essentielle, das Allgemeingültige des Ereignisses: Die reproduktive Einbildungskraft bezieht sich auf ihrer Suche nach Sinn entweder auf die Erinnerung (Passion) oder auf die intellektuelle Erkenntnissuche (Staunen), so dass ein Gedicht entweder Andenken ist oder Gedankenlyrik. Das Gedicht selbst entsteht dann durch innere Wiederholung beim Denken, seine Einprägsamkeit ist das Resultat von Verdichtung und von Musikalität, wie etwa Rhythmus und Reim. Erst wenn es fertiggestellt ist, wird es niedergeschrieben. Aus Hannah Arendts Theorie der Narration kann man schließen, was der Dichter beim Denken und Sinnen auf dem Pfad der Nichtzeit genau tut: Aus der Sinnsuche ergibt sich, dass das Dichten darauf basiert, in einer einheitlichen Linie die Ereignisse nacheinander zu setzen, wobei Kontingentes und Zufälliges ausgeschaltet wird. Diese Annahme einer einheitlichen Folge von Ereignissen ist jedoch apriorisch – es ist der Wille, der das Geschehen in eine bestimmte Richtung interpretiert. Für dieses Dilemma der Intentionalität geht Arendt, ohne dies direkt zu benennen, von der Wahrhaftigkeit aus. Je nachdem, um welche Art der Dichtung es geht, äußert sich Wahrhaftigkeit verschieden: Einerseits wird bei konventioneller Dichtung die Komplexität der Wirklichkeit diskursiv wiedergegeben, es geht darum, dem Leben treu zu bleiben, nichts zu erfinden (Dinesen); andererseits, wie aus ihrer Theorie der Kreativität zu entnehmen ist, kann Wahrhaftigkeit bei experimenteller Dichtung darauf beruhen, das Simultane oder sogar Plurale der Wahrnehmung bei der Erfahrung selbst wiederzugeben (Broch) – das geht allerdings nur bei so grundlegenden, sehr breit angelegten Themen wie Zeit, Gott, Tod, deren Essentialisierung in der Wahrnehmung wiedergegeben wird. Aus Hannah Arendts Theorie der Narration ergibt sich weiterhin, dass das Können des Künstlers unabdingbar ist. Dabei gibt es zwei Kriterien für Qualität: die Persönlichkeit des Künstlers und absolute Maßstäbe.

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Es geht um den Ausdruck eines Individuums: Empfindungen werden zwar von allen gekannt, finden jedoch bei jedem Menschen andere Ausdrucksformen. Die Identität des Künstlers drückt sich in seiner Dichtung aus. Persönlicher Ausdruck ist demnach nur in der Isolation möglich, im ungestörten Alleinsein mit der Idee, mit dem inneren Bild des herzustellenden Gegenstandes. Erst am Ende eines Lebens, wenn der Mensch nicht mehr handelt und nichts Neues mehr in die Welt setzt, weiß man, wer er ist. Daher weiß man auch erst nach dem Tod eines Künstlers, ob sein Werk Bestand haben wird oder nicht. Die Maßstäbe, die an Kunstwerke gesetzt werden, sind absolut. Das Kunstwerk darf nicht durch Vergleiche, die aufgrund von Werten existieren, relativiert werden: Der erste Maßstab besteht darin, dass die Dichtung zweckfrei ist, ohne Funktionszusammenhang, das heißt, sie darf nicht allein der Zeit verhaftet sein, sondern muss universelle, überzeitliche Gültigkeit besitzen. Die Möglichkeit, dies zu realisieren, besteht wiederum in der Darstellung des Sinns: Das Kunstwerk muss Sinnfülle erzeugen, das heißt, das Resultat darf keine eindeutige zeitbedingte Lebensweisheit oder Analyse sein. Aus dieser Perspektive darf der Sinn oder die Essenz nicht direkt benannt werden: Die Geschichte enthüllt den Sinn, ohne ihn zu bezeichnen. Aus ihrer Theorie der Kreativität ergibt sich der zweite Maßstab. Die Dauerhaftigkeit des Gedichts ist das Resultat verschiedener Elemente: Aus Zeitlosigkeit beim Denken geboren, wird das Gedicht selbst zeitlos. Die Essenz und die Allgemeingültigkeit korrespondieren mit der Kontemplation der ewigen Gegenstände, wie in der antiken griechischen Vorstellung. Die Dauerhaftigkeit der Dichtung betont Hannah Arendt in ihrer Theorie der Narration wiederholt. Der Mensch erzählt Geschichten, die den Kreislauf der Natur und des biologischen Lebensprozesses unterbrechen und damit etwas herstellen, das überdauert. Ziel der Dichtung ist Ruhm, der unsterblichen Bestand haben soll: Dinge und Worte sollen erhalten werden, die der Unsterblichkeit würdig sind. Dichtung hat eine Vorbildfunktion: Der Sinn, der hervorscheint, hat eine starke Leuchtkraft. Durch Verdinglichung des Niederschreibens wird dieser Ruhm erhalten. Dem Flüchtigsten und Vergänglichsten wird Bestand im Hergestellten verliehen. Der Leser eines Gedichts etwa erlebt die Erfahrung des Dichters und befindet sich damit selbst in einem zeitlosen Raum: Dessen Erinnerungen werden für ihn lebendig und gegenwärtig. Diese erneute Kreation beim Lesen ist weltbildend: Die Verlässlichkeit der Welt beruht darauf, dass die Dichtung eine größere Dauerhaftigkeit hat, als Tätigkeit und Erzeuger. Durch diese Unsterblichkeit ist Dichtung den anderen Dingen der Welt überlegen.

Dritter Teil Produktion – Arendts eigene Dichtung

Produktion – Arendts eigene Dichtung

Heft eins von Hannah Arendts Denktagebuch beginnt 1942: Die ersten Seiten enthalten Gedichte (genauer drei Parabeln und dreizehn Gedichte), bevor sie 1950 damit beginnt, in dieses Heft auch Gedanken über Philosophie und Politik einzutragen. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann haben die Gedichte in ihrer Publikation nicht mit aufgenommen, da Hannah Arendt in dem von ihr für das Denktagebuch angefertigten Register nicht auf die Gedichte verwiesen hat.1 Bis 1962 finden sich verstreut zwischen Notizen über Philosophie und Politik in den Heften des Denktagebuchs weiterhin eine Parabel und 34 Gedichte, die allerdings nur selten einen Zusammenhang mit den Notizen aufweisen, zwischen denen sie stehen. Es scheint, wie es auch ihre theoretischen Äußerungen zur Kreativität nahegelegen, dass Arendt diese Gedichte gedanklich lange mit sich getragen hat, bevor sie sie jeweils in ihre Notizhefte schrieb. Vereinzelt sind einige wenige handschriftliche Korrekturen der Gedichte auszumachen – vor allem in den späteren Heften ab 1950, nicht jedoch im ersten Heft, so dass man vermuten kann, dass sie diese zuerst auf einzelnen Blättern entworfen hatte, bevor sie sie gesammelt in das Heft abgeschrieben hat. Hannah Arendt maß diesen Gedichten einen besonderen Wert zu: Bereits als junges Mädchen. zwischen 1923 und 1926, hatte sie lyrische Texte verfasst und als maschinenschriftliche Dokumente gesammelt.2 Es handelt sich hierbei um 21 Gedichte, die nach Universtitätssemestern eingeteilt sind (Winter 1923 / 1924, Sommer 1924, Winter 1924 / 1925, Sommer 1925, Winter 1925 / 1926). Im von Ursula Ludz herausgegebenen Heidegger-Briefwechsel sind sie enthalten, dem Band ist zu entnehmen, dass sie ihm einige, wenn auch nicht alle Gedichte zugesandt hat.3 1 | Das Heft liegt im Unterschied zu den anderen Heften nicht im Marbacher Literaturarchiv, sondern in einem Ordner Poetry and stories in der Library of Congress in Washington. 2 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File, 1923-1975, nd. In: Box 79 / F older: Miscellany Poetry and stories, 1923-1942: 21 Gedichte von 1923 bis 1926, Blätter 022966-022994. 3 | Vgl. den Anhang in: Heidegger-Briefwechsel, S. 366-381. | Darin ist der autobiographische Text, Die Schatten, publiziert, der allerdings in der dritten Person gehalten ist. Arendt hatte Heidegger den Text zukommen lassen. Heidegger bezieht sich in seinen Brie-

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Diese Gedichte sind in einen schwermütigen Grundton gehalten und in ihrer Tagund Nachtmetaphorik der romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Sie sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht besprochen werden, denn hier bestünde die Gefahr des Biographismus, der vermieden werden soll.4 Anders verhält es sich mit den Gedichten, die nach sechzehn Jahren Pause ab 1942 entstanden sind. Es handelt sich um Emigrationslyrik, um Liebeslyrik in Bezug auf den Menschen und die Welt und um Gedankenlyrik: Was ist Zeit, was ist Dichtung, was ist Denken? Das deutet darauf hin, dass sie die lyrische Form benutzte, um sich bewusst zu werden, was Dichtung ist und wie sie entsteht, und sich in der Vita Activa in den 1950er und später in den 1970er- Jahren in Vom Leben des Geistes parallel dazu Gedanken gemacht hat. Auch in den Gedichten ab 1942 gibt es Überschneidungen mit Heidegger, aber nur begrenzt privater Art: Die Auseinandersetzung findet vor allen Dingen auf der Ebene der Gedanken statt, das heißt, dass sie sich gegenüber seinen Konzepten abgegrenzt hat. Insgesamt handelt es sich um 45 Gedichte, von denen elf lange Zeit nicht publiziert worden waren, da sie zwischen 1942 und 1950 entstanden sind und somit keine Aufnahme ins Denktagebuch gefunden haben. Arendt hatte diesen Gedichten allerdings wiederum einen gewissen Wert zugeschrieben, denn auch hiervon ist in ihrem Nachlass, wie bei den frühen Gedichten, ein maschinenschriftliches Konvolut von 21 Gedichten nachweisbar.5 Aus welchem Anlass sie 1954 ihre Hefte auf die Gedichte hin durchsah, um von den besten maschinenschriftliche Kopien anzufertigen, bleibt offen. Die Tatsache allerdings, dass Arendt zwischen guten und schlechteren oder zu persönlichen Gedichten unterschieden, dass sie eine zusätzliche maschinenschriftliche Sammlung angefertigt und zu der Typoskriptfen auf manche Gedichte wie auch auf diesen Text. Während Arendt, wie bereits erwähnt, Kopien davon aufbewahrt hatte, sind in Heideggers Nachlass viele Briefe Arendts, ihre Gedichte und der Schatten-Text nicht zu finden. 4 | Vgl. Ottmar Ette, der Hannah Arendts frühes Gedicht Ich sich versunken nicht nur biographisch, sondern auch im literaturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Kontext analysiert. Er erkennt die Qualität des Gedichts durch eine Einzelinterpretation an und geht möglichen Vorbildern Arendts nach. Es wäre schön, wenn die Veröffentlichung der gesammelten Gedichte Arendts zukünftig zu einer ebensolch ernstnehmenden Wahrnehmung im wissenschaftlichen Bereich führen würde. Ette, Ottmar: Hand-Schrift und Körper-Leib. Alteritätserfahrung, autobiographisches Schreiben und Leibhaftigkeit in einem frühen Gedicht Hannah Arendts. In: Literarische Begegnungen (Hg. Leinen, Frank), Berlin, 2002, S. 153-187. 5 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd.: In Box 85 / F older: Miscellany: Poetry and stories, 1942-1954: 21 Collection 1942-1954, Blätter 022952-022965. | Von den 21 Gedichten der Jahre 1942 bis 1950 hatte Arendt sechs nicht in ihre maschinenschriftliche Sammlung von 1954 aufgenommen: Recht-Freiheit, Fluch, Ich bin ja nur ein kleiner Punkt, Dies war der Abschied, Unaufhörlich führt uns der Tag hinweg von dem Einen sowie Manchmal aber kommt es hervor das Vertrauteste.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

sammlung der frühen Gedichte von 1923 bis 1926 hinzugefügt hat, führt zu der Frage, ob sie vielleicht eine Publikation erwog. Lotte Köhler, die mit ihr befreundet war, bemerkt allerdings, dass Hannah Arendt als politische Theoretikerin und nicht als Lyrikerin wahrgenommen werden wollte. Arendt blieb diskret, was ihre Dichtung betraf. Nach Elisabeth Young-Bruehl äußerte sich Arendt nur gegenüber Menschen, mit denen sie eng verbunden war, über ihre dichterische Produktion. Nicht einmal ihr erster Ehemann Günther Stern wusste, dass sie Gedichte schrieb. Immerhin kannte Blücher einige Poeme und kommentierte sie, und auch Broch wusste davon.6 So bezog sich Lyrik für Arendt nur auf das Privatleben, so YoungBruehl: »Ihre Gedichte waren ihr allerpersönlichstes Leben. Hannah Arendt lehnte ab, was sie Reflexion oder Introspektion nannte, und sie fand sehr scharfe Worte für die Psychoanalyse; in und mit Hilfe der Poesie verstand sie sich selbst.« 7 So ist es schließlich Elisabeth Young-Bruehl, die 1982 als Erste einige Gedichte Arendts (die maschinenschriftlichen Fassungen) in ihrer Biographie einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat. Zwischen 1954 und 1961 hat Arendt ihre Hefte nicht mehr durchgesehen, um Kopien von den Gedichten anzufertigen. Inzwischen sind alle Gedichte bei Piper veröffentlicht, und es gibt Anlass zur Hoffnung, dass sie als Teil ihres Werkes wahrgenommen und nicht nur unter biographischem Blickwinkel interpretiert werden. Wie Irmela von der Lühe in ihrem Essay über Arendts Gedichte schreibt, besteht die Gedahr, dass die Gedichte von »einer urteilsfreudigen Nachwelt bis heute« als »Gegenstand empört-voyeuristischer oder subtiler Spekulationen über eine angeblich Heidegger-affine Denkweise Hannah Arendts« gelesen werden könnten. Nur wenige Gedichte benutzen Hei6 | Vgl. den ersten Teil, 2.6: Hermann Broch, S. 111. 7 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 36. | Vgl. auch Levet, die den Unterschied zwischen grenzenloser Introspektion und lyrischer Verarbeitung des Seelenlebens, wie Elisabeth Young-Bruehl hervorgehoben hat: »›L’introspection et la psychologie fournit ce qui est général […]. Lorsque je m’enfonce en moi, je ne suis plus du tout moi.‹ L’introspection, l’exploration de ses propres ténèbres, échouera toujours à l’individu, en personne, dans son unicité, dans ce qu’il a d’irréductible à tout autre. Il se perd donc comme être unique. La plongée à l’intérieur de soi se révèle le plus sûr moyen de se perdre de vue, c‹est-à-dire de perdre de vue qui l’on est.« Levet, Bérénice: Le musée imaginaire d’Hannah Arendt, Paris, 2011, S. 178. Übersetzung A.B.: »›Introspektion und Psychologie gibt nur Allgemeines wieder […]. Wenn ich mich in mich selbst versenke, bin ich gar nicht mehr Ich.‹ Bei der Introspektion, der Erforschung seiner eigenen Finsternis wird das Individuum, die Person, seine Einheit verlieren, die es von jedem anderen unterscheidet. Es verliert sich als einzigartiges Wesen. Indem man nach innen taucht, begibt man sich auf die sicherste Bahn, sich selbst aus den Augen zu verlieren, das bedeutet es, wer man ist.« | Statt sich in unermesslichem Seelenlärm (Broch) zu verlieren, zwingt die lyrische Produktion, das Verfassen eines Gedichts zur Konzentration auf eine individuelle Thematik wie auf äußerste sprachliche Genauigkeit. Hier liegt die mögliche Erlösungskraft durch Dichtung.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

deggers Terminologie und ihre Auseinandersetzung steht immer im Widerspruch zu seiner Gedankenwelt. Gerade die späteren Gedichte sollten nicht nur als persönliche Zeugnisse gelesen werden. Während die frühen besonders die Liebe zu einem Menschen und die Desillusionierung der Liebe behandeln, gehen die späteren Gedichte weit darüber hinaus: Es geht um die Verarbeitung der Emigration, den Verlust der Freunde, der sich in der Behandlung des Todes widerspiegelt, dazu kommen einige Reisegedichte in Form von Landschaftsbeschreibungen, die Arendts Liebe zur Erde bekunden, und schließlich behandelt der größte Teil abstrakte Themen, ist also als Gedankenlyrik zu bezeichnen (Denken, Dichten, Zeit). Die künstlerische Gestaltung, die Korrekturen in den Handschriften wie in den zweiten maschinenschriftlichen Fassungen, die allgemeinen Fragestellungen, all das zeigt, dass diese Gedichte künstlerische Autonomie besitzen. Sie fragen aufgrund einer Erfahrung, was Andenken, was Tod, was Zeit, was Denken und was Dichten ist – das heißt, sie geben das Erleben wieder und gehen darüber hinaus und abstrahieren. Ein eigener Ton verbindet die verschiedenen Gedichte. So wiederholen sich in ihrer frühen wie in ihrer späten Lyrik die Bilder von Tag, Nacht und Dämmerung, später kommen Bewegungsabläufe hinzu, wie Stürze und Sprünge, das Herz als Passion ist ein wiederkehrendes Motiv, wie auch die Hände als Verbundenheit. In der Emigrationslyrik kehren immer wieder Häuser und Züge bildhaft wieder. Dabei erscheinen diese Motive nicht in einem konventionellen Zusammenhang, sondern ergeben neue originale Bilder. Weiterhin sind die Gedichte mit wenigen Ausnahmen farblos: Es gibt Licht und Dunkel, aber direkte Farben benutzt Arendt kaum.8 Man kann als gemeinsamen Nenner noch die subjektive Wahrnehmung des lyrischen Ichs erkennen, es gibt kaum einmal eine auktoriale Erzählhaltung. Die frühe Lyrik ist traditionelle Empfindungslyrik, die spätere Lyrik ist dagegen moderner, sie führt von einer Situation ausgehend zu einem synthetisierenden Gedanken, Ergebnis oder einer Pointe. Genauso verhält es sich auch mit der Versund Strophenform: In der frühen Lyrik gilt das gereimte Volkslied als Modell, in der späten Lyrik liegt der Schwerpunkt auf dem Rhythmus. Die Gedichte sind natürlich Ausdruck einer Persönlichkeit, die der Öffentlichkeit bisher unbekannt war, die sie wegen ihrer politisch-historischen Schriften schätzte. Aus den Gedichten spricht Arendts Fähigkeit wirklich zu trauern und echte Freude zu empfinden. Trotz ihrer negativen Erfahrungen durch Verfolgung 8 | Den hohen Abstraktionsgrad stellte etwa Broch in seiner Beurteilung von Arendts Literarisierung Rahel Varnhagens heraus: Ihm fiel die Schwarz-weiß-, Hell-dunkel-Technik auf, die auch in ihren Gedichten vorherrscht. Er schreibt: »Es ist ein neuer Typ von Biographie, den Sie da in aller Unschuld erfunden haben, sozusagen die ›abstrakte Biographie‹, und daraus resultiert die sonderbar zweidimensionale Technik, die Sie sich zurechtgelegt haben, oder richtiger zurechtgewebt, zurechtgestickt, zurechtgewirkt, denn das alles ist textilisch: ein Gobelin, u.z. in Schwarz-Weiß-Verfahren, wie es der Abstraktheit unzweifelhaft geziemt.« Broch-Briefwechsel: Brief 26: Broch an Arendt, Princeton, 14.12.1947, S. 65.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

und Bedrohung spricht aus den Gedichten niemals Hass, sondern Arendts Ton zeichnet sich durch Ironie oder oder Rebellion aus. Die Wahl der besprochenen Gedichte ergibt sich aus Hannah Arendts Schwerpunktsetzung ihrer eigenen theoretischen Aussagen über die Dichtung: Andenken (Emigrationsgedichte und Nekrologe) und Gedankenlyrik (Behandlung von Denken und Dichten sowie Zeitgedichte). Dabei wurden die Gedichte nach Arendts eigenen Kriterien ausgewählt, also vor allen Dingen diejenigen, die sie selbst für würdig erachtet und von denen sie eine maschinenschriftliche Fassung verfertigt hat. Im dritten Teil wird, um das Vorgehen kurz zu skizzieren, zuerst auf die Genese des Gedichts hingewiesen. Ein Quellenbericht gehört zur Entstehungsgeschichte des lyrischen Textes. Es folgt eine Interpretation des einzelnen Gedichts, um es mit weiteren Schlüsselbegriffen ihres Werks in Beziehung zu setzen. Schließlich wird das Gedicht ins Verhältnis zu Arendts theoretischen Äußerungen über Dichtung gebracht: Es geht darum, zu überprüfen, ob die Sprache mehr kommunikationsbetont, also aufschlüsselbar ist, oder ob die Sprache das Unsagbare, schwer Vermittelbare metaphorisch wiedergibt.

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1. Lyrik als Andenken

»Wohl dem, der keine Heimat hat; er sieht sie noch im Traum.« Hannah Arendt  /  G edichte1

E inleitung : E migr ation , Tod  – das E rleiden durch P oesie schmälern Liebe als Passion, Emigration  – die erzwungene Flucht  – und der unausweichliche Tod gehören zu den Erlebnissen, die der Mensch erleidet. Das Erleiden ist nach Arendt zu überwinden durch aktive Herstellung und Verarbeitung in der Poesie. Es gibt einige frühe Liebesgedichte Hannah Arendts, die das Erleiden, die Passion wiedergeben. Diese Gedichte sollen hier nicht behandelt, lediglich kurz charakterisiert werden. So zeigt die frühe Lyrik Arendts jugendliche Leichtigkeit in ihrer Beziehung zu Grumach, grundlegenden Schmerz und Schwermut in ihrer Beziehung zu Heidegger und in ihrer späten Lyrik Empörung eine Form der Erfülltheit mit Blücher. Arendts erster Entwurf zur Vita Activa bestand aus vier Teilen: Zum Arbeiten, Herstellen und Handeln kam die Liebe hinzu. Diesen Aspekt verwies sie schließlich aus dem Werk, denn während die ersten drei Tätigkeiten aktiv sind, ist die Liebe passiv, erleidend, auch wenn sie aktiv wird in der Herstellung von Lyrik. Aber die Liebe weist im Unterschied zu den anderen Tätigkeiten nicht auf eine Pluralität der Menschen hin, sondern bleibt im Raum des Intimen – der Zweisamkeit.2 Liebe wie Freundschaft bedeutet, zu zweit zu sein: Während Freundschaft sich im Zwischen befindet, sich zwischen zwei Menschen abspielt, also ein Weltausschnitt ist, so bedeutet Liebe »die Verbrennung des Zwischen, aus

1 | Schlusszeile aus Arendts Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet. In: Gedichte, S. 37. | Karin Biro hat den abgewandelten Schlussvers Arendts von Nietzsches Gedicht als Titel ihres Gedichtbands gewählt: Hannah Arendt: »Heureux celui qui n’a pas de patrie«. Poèmes de pensée (Hg. Biro, Karin), Paris, 2015. 2 | Vgl. Denktagebuch: Heft 21: Eintrag 38, Mai 1955, S. 529.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

deren Brand ein neues Zwischen entsteht, das in die Welt eingefügt wird«.3 Liebe fällt also in den Raum des Privaten, der hier nicht angesprochen werden sollte. Die Nachrufe auf Freunde wiederum behandeln den Umgang mit dem Tod selbst und können daher besprochen werden. Das Verhältnis zum Tod der Freunde wie das Verhältnis zur Emigration hängt in dem Sinne zusammen, dass es sich in beiden Fällen um Grenzsituationen handelt: Der Verlust steht im Mittelpunkt, so dass hier die Thematik des Andenkens am klarsten zum Ausdruck kommt. In ihrem Artikel Wir Flüchtlinge von 1943 erörtert Arendt die Situation der Emigranten, die nicht nur ihren Besitz verlieren, sondern auch die Selbstverständlichkeit des Alltags, des natürlichen Umgangs mit der Sprache; der Verlust der Freunde und der Verwandten in den Konzentrationslagern, die Unerträglichkeit der Situation führt die Exilanten schließlich zu einer ständigen Bereitschaft zum Selbstmord. Auf noch direktere Weise spricht Arendt den Tod in ihren dichterischen Nachrufen an: Darin behandelt sie nicht die verstorbenen Personen, indem sie sie etwa charakterlich kennzeichnete, sondern es geht um den Umgang mit dem Tod für die Hinterbliebenen. Daher stehen in den getippten Fassungen auch nicht die Namen Walter Benjamin oder Hermann Broch, sondern nur die Initalen: W.B. und H.B. Es geht im Wesentlichen um Arendts Umgang mit deren Verlust.4 Da Arendt ab 1961 keine Gedichte mehr geschrieben hat, kommt der Tod Blüchers und Jaspers nicht mehr in ihrer Lyrik vor. Das hat wahrscheinlich zwei Gründe: Auf der einen Seite scheint die dichterische Sprache nicht mehr das richtige Medium zu sein nach der verbal unerbittlichen Kontroverse um ihr Eichmann-Buch. Es ging ihr nun darum, rational zu begreifen, wie Menschen denken und urteilen, so dass Vom Leben des Geistes eine 3 | Denktagebuch: Heft 21: Eintrag 66, August 1955, S. 548. 4 | Ihren eigenen Tod sah Arendt nüchtern, ohne Entsetzen. In ihrem Alterswerk Vom Leben des Geistes erwähnt sie eine stoizistische Haltung gegenüber dem Tod, die mit Camusʼ berühmter Feststellung übereinstimmt: »Es gibt nur ein einziges wirklich ernsthaftes philosophisches Problem: den Selbstmord.« Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 314. | Privat erwähnt sie im Alter die Möglichkeit des Freitodes in einem Brief an Jaspers: »Dann noch das dem Tode Näherrücken. Das macht mir, glaube ich, wenig aus. Ich habe immer gern gelebt, aber so gerne, dass es immer weiterdauern sollte, wieder nicht. Mir war der Tod immer ein angenehmer Genosse – ohne Melancholie. Krankheit wäre mir sehr unangenehm, lästig oder schlimmer. Was ich gerne hätte, wäre ein sicheres anständiges Mittel zum eventuellen Selbstmord; ich hätte es gern in der Hand.« Jaspers-Briefwechsel: Brief 410: Arendt an Jaspers, Palenville, 10.8.1966, S. 685. | Kurz vor ihrem Tod, 1975, schreibt sie sogar versöhnlich an Mary McCarthy, dass sie die nachgelassenen Fragmente von Kant lese: »Teilweise sehr schön; seltsam, dass offenbar niemand sie je durchgelesen und eine Auswahl von Aphorismen veröffentlicht hat. So zum Beispiel, dass Spekulationen über ein Leben nach dem Tode einer Raupe gleichen, die weiß, dass es ihr wahres Schicksal ist, ein Schmetterling zu werden.« McCarthy-Briefwechsel: Arendt an McCarthy, Tegna, Ende Juli 1975, S. 540.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Antwort darauf ist. Auf der anderen Seite sind Blücher und Jaspers wohl die zwei Personen, die ihr am nächsten standen, deren moralische Unterstützung ein unabdingbarer Bestandteil ihres Lebens war. Hier scheint deren Tod zu einer gewissen Sprachlosigkeit geführt zu haben. Zwei Merkmale kennzeichnen den Ton ihrer Lyrik als Andenken: Das eine betrifft die Wahrhaftigkeit des Erlebens, die auf Selbsterkenntnis beruht. So beruft sie sich in einer Notiz im Denktagebuch auf Sokrates: »Sokrates’ ›Erkenne dich selbst‹ enthält zwei Bedeutungen. Es heisst erstens: Erkenne, dass du nur Einer bist und nur partikulare Erkenntnis haben kannst, wisse, dass du ein Mensch und kein Gott bist; zweitens: Gehe diesem Partikularen nach und finde seine und damit deine Wahrheit – behältst du beides zugleich, so wirst du Wahrheit, menschliche Wahrheit haben, ohne sie Anderen aufzuzwingen.«5 Das bedeutet übertragen auf Arendts Lyrik, dass sie partikulare Erfahrungen beschreibt, in denen auch Widersprüche und Paradoxe auftreten können, wie eindrücklich in ihrer Emigrationslyrik zu erkennen ist: So wandelt sie etwa Nietzsches »Weh dem, der keine Heimat hat« in »wohl dem, der keine Heimat hat« um, das bedeutet, zum einen gibt es Trauer über Verlust, aber auch zum anderen eine Absage an Heimat. Oder aber: In ihrem Gedicht über die zerstörten Straßen in Deutschland erscheint eine Wehmut nach dem Alten, und dennoch spricht sie den Traditionsbruch an. Das andere Charakteristikum betrifft eine grundsätzliche Schwermut in Verbindung mit der Erinnerung, die jedoch nicht in einer Revolte gegen das Unabänderliche mündet: »Die Erinnerung hat eine natürliche Affinität zum Denken; alle Gegenstände sind nachträgliche Gedanken. Gedankengänge entstehen ganz natürlich, fast automatisch, völlig bruchlos, aus dem Erinnern. […] Die Erinnerung kann die Seele mit Sehnsucht nach der Vergangenheit anrühren, doch diese Nostalgie kann zwar kummervoll sein, aber sie erschüttert nicht das Gleichgewicht des Geistes, weil sie Dinge betrifft, die man nicht ändern kann.«6 Es gibt in Arendts Gedichten Trauer, doch diese hat paradoxerweise sogar etwas Schönes, es gibt ein Glück in der Trauer. Melancholie und Wahrhaftigkeit sind also zwei Tonalitäten, die sich gleichmäßig durch Arendts dem Andenken gewidmete Gedichte ziehen.

5 | Denktagebuch: Heft 17: August 1953, Eintrag 19, S. 413. | Irmela von der Lühe kommt auf Arendts Versuch der Selbsterkenntnis durch Lyrik zu sprechen: »Auch Hannah Arendts eigenen Gedichten, den ›finsteren Zeiten‹ ebenso entstammend wie ihr philosophisch-theoretisches Werk, wird man […] zubilligen dürfen, dass sie das ›Gefängnis des bloßen Bewußtseins zu transzendieren und einen Raum des (Selbst-)Gesprächs zu eröffnen versuchen.« Lühe, Irmela von der: Über Hannah Arendts Gedichte. In: Gedichte, S. 111. 6 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 276.

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1.1 D ie E migr ationsgedichte 1.1.1 »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet« »Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet, Die Dunkelheit ist wie ein Schein, der unsere Nacht ergründet. Wir brauchen nur das kleine Licht der Trauer zu entzünden, Um durch die lange weite Nacht wie Schatten heimzufinden. Beleuchtet ist der Wald, die Stadt, die Strasse und der Baum. Wohl dem, der keine Heimat hat; er sieht sie noch im Traum.« 7

Das Gedicht ist 1946 entstanden. Im November des gleichen Jahres schreibt Hannah Arendt an Karl Jaspers über ihr Selbstverständnis als Emigrantin: »Und denken Sie nicht, dass ich Heimweh hätte, nach Heidelberg oder sonst wohin. (Heimweh hätte ich am ehesten noch nach Paris.) Auch kein Heimweh nach meiner Jugend. Ich will wirklich nichts anderes, als zu Ihnen zu kommen und Ihnen einen Besuch machen. Und das will ich nun bereits seit 1933, und daran hat sich nichts geändert. Hatte Nietzsche vielleicht recht mit seinem ›Wohl dem, der keine Heimat hat‹? Mit jedenfalls ist es mit Monsieur [Heinrich Blücher] als portabler Heimat (was gar kein Ersatz ist) sehr wohl.«8 Gerade die Synthese ihres Gedichts, die aus einem neu zusammengestellten Zitat aus Nietzsches Gedicht Vereinsamt besteht, zeigt das Paradox ihrer Erfahrung als Emigrantin: auf der einen Seite Trauer und Wehmut, auf der anderen Seite das sich Schicken ins Unabänderliche. Nietzsches Gedicht besteht aus sechs Strophen, wobei das Ende der ersten Strophe lautet: »Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!« und das Ende der sechsten Strophe geht: »Weh dem, der keine Heimat hat.« Arendt setzt diese eindeutige Aussage Nietzsches, Heimat als erstrebenswertes Ziel der Sicherheit zu betrachten, in ein Paradox um: »Wohl dem, der keine Heimat hat.« Das bedeutet, dass Heimat für sie kein ortsgebundenes Ziel ist, sondern – wie aus ihrer Bemerkung gegenüber Jaspers hervorgeht – an den Menschen gebunden ist. 1975, am Ende ihres Lebens, fasst Arendt ihre Emigrationserfahrung zusammen: Sie hielt am kulturellen Hintergrund Europas und an der Sprache fest, dagegen war sie nicht an den Ort Deutschland gebunden: »Mein Problem war, dass ich nie habe dazugehören wollen, nicht einmal in Deutschland, und dass ich deshalb Schwierigkeiten hatte zu verstehen, welch große Rolle das Heimweh bei allen anderen Einwanderern spielt […]. Was für diejenigen, die um mich herum lebten, das Land, vielleicht eine Landschaft, ein festes Gefüge von Gewohnheiten und Traditionen und vor allem eine gewisse Mentalität war, das war für mich die Sprache. Und wenn ich je bewusst etwas für die europäische Zivilisation getan habe, so lag dies 7 | Arendt, Hannah: Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet. In: Gedichte, S. 37. 8 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 47: Arendt an Jaspers, 11.11.1946, S. 102.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

in nichts anderem als der ausdrücklichen Absicht, meine Muttersprache nicht gegen welch andere Sprache auch immer, ob sie mir zum Gebrauch angeboten oder aufgezwungen wurde, auszutauschen.«9 Das Festhalten an der deutschen Sprache und auch an der deutschen Kultur zeigt sich in diesem Gedicht deutlich: Arendt schrieb zeit ihres Lebens ihre Lyrik auf Deutsch, in diesem Poem, in dem sie sich als Exilantin positioniert, nimmt sie Bezug auf Nietzsche. Elisabeth Young-Bruehl, die dieses Gedicht als erste in ihrer Biographie veröffentlicht hat, erkennt noch einen erweiterten Zusammenhang: Hannah Arendts Heimat als Jüdin. Als Arendt das Gedicht 1946 geschrieben hat, hatte sie Deutschland seit dreizehn und Europa seit sechs Jahren verlassen. Sie sollte erst 1950 nach Deutschland zurückkehren. Aber ab 1944 arbeitete sie als Leiterin der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction, einer Organisation, deren Aufgabe darin bestand, die geistigen Schätze des europäischen Judentums zu retten und in eine neue Heimat zu bringen; es ging um Konfiszierungen, die unter der Einsatzgrupe des Reichsführers Alfred Rosenberg im besetzten Europa durchgeführt wurden: »Für Hannah Arendt war die Arbeit bei der Jewish Cultural Reconstruction ein gewisser Trost in den letzten schrecklichen Kriegsjahren. Aber die Sicherung einer Heimat für jüdische Kulturgüter milderte nicht ihr eigenes Gefühl, heimatlos zu sein. Sie sehnte sich nach der verlorenen Welt, Europa. Eins ihrer schlichtesten, traurigsten Gedichte, 1946 geschrieben, lebt von einer berühmten Zeile Nietzsches: ›Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat.‹«10 So kann man zur Entstehung des Gedichts zusammenfassend sagen, dass es zwar eine Wehmut nach den Orten und Landschaften gibt, diese jedoch im Traumbereich der Erinnerung verbleiben sollten, da man an diesen Orten nicht mehr leben kann: Die Vertreibung durch die Nationalsozialisten verändert zwar nicht äußerlich die Landschaften und Städte, aber doch innerlich. Zu retten gilt es die Heimat des jüdischen Kulturguts. Eine Untersuchung der Quellen ergibt, dass die Handschrift im ersten Heft des Denktagebuchs,11 das in der Library of Congress in Washington liegt, identisch mit der abgetippten Version im Konvolut ist. Es gibt in beiden Fassungen keine Korrekturen. Die getippte Fassung unterscheidet sich einzig darin, dass sie zusammenhängend eine Strophe ergibt, während es in der handschriftlichen Version drei Strophen, drei Zweizeiler, sind: der Zeilenabstand, entfiel. Daraus ergibt sich eine größere Dichte in der Aussage. Das gesamte Gedicht beruht auf einem Paradox: Traurigkeit ist nicht dunkel, sondern wie Licht, das heißt, dass eine dunkle Empfindung Schein erzeugt. Im Bildablauf kommt Arendt zuerst auf den Anlass zu sprechen – die Trauer, die Licht 9 | Arendt, Hannah: Die Sonning-Preis-Rede, Kopenhagen, 1975. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz-Ludwig), Bd 166 /  167, München, 2005, S. 4. 10 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 270. 11 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1875, nd. In: Box 84 / F older: Miscellany, Notebooks Volume II, 1942-1950, Heft ohne Nummerierung.

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bewirkt  –, wobei sie klarstellt, dass es sich um einen psychologischen Vorgang handelt: »im Herzen«. Es geht um den Vorgang der Erinnerung, das lyrische Ich geht imaginär durch »eine lange weite Nacht« und läßt Bilder aus der Vergangenheit erscheinen – bis es »heimfindet.« Das Motiv der Heimat wird als Ziel (vierte Zeile) wie zum Schluss als Synthese angesprochen (letzte Zeile). Die Erinnerung an die Heimat scheint in einfachen Bildern auf, die für alle Länder gelten können, aus denen Menschen emigrieren: »der Wald, die Stadt, die Strasse und der Baum« – wobei Arendt von einer Totalen, Wald und Stadt, zu einem Ausschnitt, Strasse und Baum, gelangt, so, als ob sich das lyrische Ich immer mehr annähert, die Erinnerung immer präziser wird. Die Synthese in der letzten Zeile zeigt: Es handelt sich um einen Traum von der Heimat. Das Gedicht wird vor allem von einer Gegenübersetzung von Helligkeit und Dunkelheit beherrscht: Trauer ist Licht, das durch die Dunkelheit des Vergessens, die Nacht, bricht. Das lyrische Ich ist ein Schatten. Gleichzeitig evoziert das Gedicht die Haltung des Menschen während des Traums: Der Eindruck wird vermittelt, dass das lyrische Ich in der Nacht – fern von der Helligkeit und Geschäftigkeit des Tages, fern von der Realität – das innere Licht entzünden kann, um sich erinnern zu können. Licht spricht auch für Lebendigkeit, so dass das Paradox entsteht, das Innenleben sei wirklicher als das Außenleben. Dabei spricht das lyrische Ich nicht explizit seine eigene Erfahrung an, sondern die aller Emigranten: In der zweiten Zeile heißt es »unsre Nacht« und zu Beginn der dritten Zeile kommt es auf ein »Wir« zu sprechen. Die Erinnerung träumt eine Kollektivität, fern von der Heimat. Diese Abstraktion im Wir wiederum zeigt die Stärke des Gedichts, denn es geht über den Einzelfall hinaus: Darin liegt Beruhigung und die Versöhnlichkeit, nicht vereinzelt zu sein. Dieser positive Grundton lässt sich formal an den siebenhebigen Jamben erkennen wie auch an den jeweiligen Reimpaaren, die harmonisch ordnen. Die weiblichen Kadenzen am Anfang und die abschließenden männlichen Kadenzen verstärken dieses Gefühl der Ordnung, obwohl es um Trauer und Heimatverlust geht. Diese Trauer im Wir ist etwas Schönes. Das Wir wird mit Schatten verglichen und evoziert die Vertreibung aus dem ursprünglichen Land, in dem Menschen wie Schatten behandelt wurden, sowie gleichzeitig die innere Erfahrung, wie ein Schatten über die Grenzen des Erfahrbaren zu gehen, und die Vorstellung, im Traum wieder heimzufinden. Das Paradox in der Synthese »wohl dem, der keine Heimat hat« schließt mit ein, dass eine Rückkehr nicht möglich ist, außer im Traum: Es geht um Sehnsucht nach Vergangenem, da die Gegenwart den Erinnerungen nicht mehr entspricht. »Herz« und »Schatten« sind Motive12, die in Arendts Gedichten wiederholt vorkommen. Hier ist in erster Linie das Herz von Bedeutung, denn es steht für 12 | Vgl. die Gedichte, in denen das Motiv des Herzens vorkommt, in: Arendt, Hannah: Gedichte: Unermessbar, Weite, nur und Komme und wohne (S. 49 f.), Ach wie die Zeit sich eilt (S. 53), Erdennässe (S. 68), Zwei Jahre in ihren Gezeiten (S. 55), So ist mein Herz (S. 76)

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

den inneren seelischen Apparat. Sigrid Weigel stellt richtig fest, dass es sich um die körperliche Erfahrung des Herzens, »die Buchstäblichkeit und Leiblichkeit sprachlicher Wendungen« handelt: Sie zitiert eine Stelle aus dem Denktagebuch Arendts, die etwa in der Redewendung »›mir öffnet sich das Herz‹ die gegenseitige Angewiesenheit von physischer Sensation und Bildbedeutung erörtert: ›Erst seit ich die physische Sensation kenne […] Wie aber hätte ich die Wahrheit der physischen Sensation erfahren, wenn die Sprache mit ihrer Metapher mir nicht bereits die Ahnung von der Bedeutsamkeit des Vorgangs gegeben hätte?‹«13 In Über die Revolution definiert Arendt das Herz als den Stammsitz für Leidenschaften und Gefühle, die im Inneren geschehen und ambivalent sind: »Und nicht nur ist des Menschen Herz dunkel, dass mit Gewissheit noch kein Menschenauge es hat durchschauen können, die Eigenschaften des Herzens bedürfen dieser Dunkelheit und des Schutzes gegen das Licht der Öffentlichkeit, um sich entfalten oder auch nur bleiben zu können, was sie sind: die innersten, verborgenen Antriebe, die sich zur öffentlichen Schaustellung nicht eignen.«14 Die Thematik der Wehmut, wie auch der Abwehr dieser Wehmut in dem Gedicht ist also dem privaten Bereich vorbehalten: Sie ist zweideutig. Nach Arendt bringt das Herz Kräfte hervor, die miteinander im Streit liegen und es so lebendig erhalten, sie geht sogar so weit zu sagen, dass »das Herz erst wirklich zu schlagen anfängt, wenn es gebrochen ist oder wenn seine Kräfte miteinander in Konflikt geraten sind«.15 Daraus kann man schließen, dass erst die Erfahrung der Emigration mit all ihren Widersprüchen tiefe Empfindungen bei Arendt erzeugt haben. Das Gedicht ist einfach aufzuschlüsseln: Arendt vergleicht direkt – »die Traurigkeit ist wie ein Licht«, das »wir« sind »Schatten«, – so dass es sich um Allegorien handelt, die klar verständlich sind, und nicht um Metaphern, die um das Unsagbare kreisen. Allegorie darf hier nicht negativ konnotiert verstanden werden, denn Arendts Vergleich von Traurigkeit und Licht ist nicht konventionell, wie es etwa in der Barocklyrik typisch ist: Sie schafft im Bild einen Vergleich, der originell ist, dabei jedoch einfach zu entschlüsseln bleibt. In diesem Sinne kann das Gedicht nach Arendts eigener Schwerpunktsetzung im Bereich der Sprache als Kommunikation verortet werden. Es geht um Mitteilbarkeit einer gemeinsamen Erfahrung mit anderen, die sogar als »wir« im Text erscheinen. Gleichzeitig geht es um Erhellung im Jasper’schen Sinne: Die Grenzerfahrung der Emigration, die existentielle Betroffenheit wird erhellt – siehe auch die Bilder des Lichts und des sowie Schlagend hat einst mein Herz (S. 79). | Vgl. Die Schatten. In: Heidegger-Briefwechsel, S. 21-25. 13 | Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Denktagebuch, In: Text und Kritk: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz-Ludwig), Bd. 166 /  167, München, 2005, S. 136. Weigel zitiert nach: Arendt, Hannah: Denktagebuch: Heft 2: Dezember 1950, Eintrag 22, S. 46. | Vgl. zweiter Teil, 1.1.2 Ausdruck des Unsichtbaren durch die Metapher, S. 173, FN 618. 14 | Arendt, Hannah: Über die Revolution (1963), München, 2000, S. 122. 15 | Ebenda, S. 124.

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Dunkels im Gedicht –, um zu einem Schluss zu kommen, dessen Wahrheit in einem Paradox liegt. Wehmut ja, aber kein Heimweh. Gleichzeitig kommt Jaspers’ Konzept der Vernunft zum Tragen: Eine Rückkehr ist nach allem, was passiert ist, nicht möglich. Dennoch scheint es kein dogmatisches Ressentiment zu geben, sondern die Humanität bleibt erhalten: Die Vergangenheit wird nicht aufgrund einer negativen Gegenwart verformt, sondern betrauert. Ziel ist das Andenken an diese Vergangenheit: Es geht um Erinnerung, doch dieses Wort kommt klugerweise nicht vor, nur in den vier Bildern Wald, Stadt, Haus, Baum. Diese sind so allgemein gehalten, dass jeder Emigrant seine eigene frühere Welt darin wiederauferstehen lassen kann. Indem das Andenken selbst Thema ist wie auch dessen Darstellung, wie es also zu dem inneren Vorgang des Andenkens und der Erinnerung kommt, wird das Gedicht allgemeingültig.

1.1.2 »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind« »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind. Wo leuchtet die Wagenspur, die wunderbar unversehrte aus antiken Trümmern hervor? Ich weiss, dass die Häuser gestürzt sind. In sie traten wir in die Welt, wunderbar sicher, dass sie beständiger als wir selbst. Ob der Mond, den wir diesmal vergassen, in seinem beständigeren Licht der Pferde Hufe noch mitträgt wie ein Echo aus des Flusses schweigendem Gesicht?«16

Das Gedicht ist wie das im Abschnitt zuvor behandelte 1946, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Im Unterschied zu Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet spricht es nicht von der Erinnerung an die Heimat, sondern von der gegenwärtigen Gegebenheit, der Zerstörung Europas und Deutschlands durch den Krieg. Die Schlüsselaussage des Gedichts liegt in der Erkenntnis der Illusion, dass die Vergangenheit beständig sein sollte – sowohl in den Orten wie auch in der Denktradition, wiedergegeben durch Bilder der Zerstörung der Städte wie durch das Bild der Antike, die »Wagenspur«. Es findet ein Bruch statt: Das Überschreiten einer moralischen Grenze führt zu einem Traditionsbruch. Die Frage lautet daher am Ende, ob diese Tradition erhalten werden kann. In ihrem Briefwechsel mit Jaspers schreibt Arendt im August desselben Jahrs, in dem das Gedicht entstanden ist, dass sie sich erst jetzt, nachdem Deutschland zerstört ist, wieder als Deutsche fühlen könne: »Ihre Bemerkung ›Nun Deutschland ver16 | Arendt, Hannah: Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind. In: Gedichte, S, 38.

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nichtet, fühle ich mich zum ersten Male unbefangen als Deutscher,‹ hat mich sehr erschüttert. Auch deshalb, weil mein Mann vor einem Jahr beinahe wörtlich das gleiche sagte.«17 So furchtbar die Zerstörung auch sein mag, sie übt dennoch eine kathartische, befreiende Wirkung aus: Die moralische Verkommenheit der Deutschen konnte nur durch Zerstörung zu einem Ausgleich führen; wie es weiter geht, zeigt sich an der Frage, wie nun mit der Denktradition, die vom Guten ausgeht, verfahren wird, denn das Böse muss mit einkalkuliert werden. Ein Vergleich der Quellen zeigt, dass Handschrift und getippte Fassung identisch sind; manche Kommas sind in der maschinenschriftlichen Version verbessert. Da es sich bei der Handschrift um das erste Heft des Denktagebuchs18 handelt, gewinnt man den Eindruck, dass das Heft eine handschriftliche Gedichtsammlung ist. Die handgeschriebene Fassung datiert das Gedicht präziser als die maschinenschriftliche auf den Herbst 1946. Daraus lässt den Schluss zu, dass Arendt das Gedicht in Auseinandersetzung mit Blüchers und Jaspers Aussagen entwickelt hat. Wie in dem Gedicht Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet entwickelt Arendt ein Stimmungsbild der Nacht: Doch im Unterschied dazu herrscht keine Ordnung einer schönen Trauer mehr vor, sondern Instabilität aufgrund der Zerstörung. Die drei Strophen sind daher ungereimt, es gibt kein festes Versmaß und auch die Zeilenlänge weist auf kein festes Bauelement hin. Die einzige formale Gestaltung besteht in einer Anapher am Beginn der ersten und zweiten Strophe: »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind« und »Ich weiss, dass die Häuser gestürzt sind« – diese Wiederholung von zwei Tatsachenbeständen zeigt, dass die Emigrantin die Zerstörung nicht erlebt hat, sondern ihr nur davon berichtet worden ist: Nicht mehr der Traum der Vergangenheit, sondern ein abstraktes Wissen um die Zerstörung ist also der Ausgangspunkt. Daher kommt auch keine Verzweiflung über den Verlust zum Ausdruck, eher eine Nüchternheit über die Wandelbarkeit der Welt, die Aussage der zweiten Strophe: Die Tatsache, dass die Häuser sicher sind, beständiger als die Menschen, stellt sich als Illusion heraus, denn die Menschen in ihrer eigenen Unbeständigkeit können sie zerstören. Hier wird grundsätzliche Zivilisationskritik an dem vom Menschen Gemachten deutlich. Man kann zwei Gedichte nennen, die verdeutlichen, dass sich Hannah Arendt darüber bewusst war, wie wandel- und zerstörbar die von Menschen geschaffenen Welt ist. Als junges Mädchen zitiert sie 1930 eine Passage aus Rilkes Duineser Elegien, in der die Dinge einen Existenzvorrang vor den Menschen haben, »sie sind relativ dauernder als der Mensch, der in seiner äußersten Flüchtigkeit der Welt eigentlich nicht mehr zugehört, denn die Dinge ›bestehen‹ in ihrem relativen Bestand, der von ihnen nur geduldet wird: ›… siehe die Bäume sind; die Häuser, / die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur / ziehen an allem vorbei wie ein luftiger 17 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 43: Arendt an Jaspers, New York, 17.8.1946, S. 93. 18 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 84 / F older: Miscellany, Notebooks Volume II, 1942-1950, Heft ohne Nummerierung.

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Austausch.‹«19 Vierzig Jahre später hebt Arendt in ihrem Essay über Brecht besonders sein Gedicht Vom armen B.B. hervor, aus dem das Lebensgefühl der verlorenen Generation herausspreche: Ihr eigenes Gedicht von 1946 ähnelt diesem in dem Mangel an Selbstmitleid und stoischer Gelassenheit. Hier nun ist die Welt im Unterschied zu Rilke nicht mehr beständig: »Als Zivilisten unterm Bombenhagel und Überlebende von Städten, von denen Brecht schon Jahrzehnte zuvor meinte: ›Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte In Häusern, die für unzerstörbar galten So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten. Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind! Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es. Wir wissen, dass wir Vorläufige sind, Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.‹

Die Menschen haben ihr Gewicht verloren; schwerelos dem Winde gleich, treiben sie durch eine verlorene Welt, die sie nicht mehr behaust. Es geht nicht um die Menschen, es geht um die Welt.«20 Im Unterschied zum nihilistischen Ergebnis Brechts – »nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes« – macht sich Arendt in ihrem Gedicht 1946 darüber Gedanken, in welcher denkerischen Tradition die Menschen stehen und ob sie erhalten werden soll oder nicht. Sie gibt keine Antwort, aber in der Frageform kommt sie zweimal auf humanistisches Gedankengut zu sprechen: einmal einleitend in der ersten Strophe, um dann zentral am Ende das Bild fortführend in einer erneuten Frage. Im Gedicht werden zwei Zerstörungsvorgänge gleichgesetzt: Die Straßen Europas sind zerstört, aber es gibt auch »antike Trümmer«: »Wo leuchtet die Wagenspur, die wunderbar unversehrte / aus antiken Trümmern hervor?« In diesem Bild des Wagens findet sie eine Entsprechung zu dem Faden der Tradition, der gerissen ist. Die Spur des Wagens wird aufgenommen in einem Bild in der letzten Strophe: »der Pferde Hufe« laufen weiter, doch man kann sie nicht mehr hören, sie sind nur noch ein nicht mehr hörbares »Echo«. Das einzige, was Bestand hat, ist nicht mehr das von Menschen Gemachte, sondern die Natur: Der Mond und der Fluss sind beständig – doch sie schweigen. Dabei verwendet Arendt wieder wie im vorherigen Gedicht die Opposition von Helligkeit und Dunkelheit. Dunkel ist die Zerstörung, hell ist die Natur, wie die Tradition der Antike. Doch die Hellig19 | Duineser Elegien: Zitat aus der 2. Elegie In: Arendt, Hannah / S tern, Günther: Rilkes Duineser Elegien. In: Neue Schweizer Rundschau, Wesen und Leben, Bd. 23, Heft 11, 1930, S. 895. 20 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier S. 249 f.

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keit genügt nicht mehr, wie das Schlüsselwort »Schweigen« aussagt: Die Tradition leuchtet noch, es gibt allerdings nur noch ein Echo, das schweigend ist. In dieser gleichzeitig akustischen wie optischen Wahrnehmung der gleichen Sache, die sich jedoch in ihrer Wirkung widersprechen, entwickelt Arendt ein gewagtes Bild – die Synästhesie bewirkt erneut ein Paradox. Das Bild wirkt wie ein Film, dessen Ton abgestellt ist, denn er hat nichts mehr zu sagen. In ihren politischen wie historischen Texten findet Arendt eine Lösung für dieses Paradox: Auf der einen Seite umkreisen ihre Arbeiten das Undenkbare des Bösen, wie die Vernichtung in den Konzentrationslagern und totalitäre Systeme, die neue Denkkategorien verlangen; auf der anderen Seite nimmt sie den Faden der Tradition auf, um die alten philosophischen Konzepte einander gegenüberzustellen, um deren Begrenztheit aufzuzeigen. Der Faden der Tradition ist zwar aufgrund der Umstände gerissen, doch die Kenntnis dieser Tradition darf nicht ganz und gar dem Schweigen ausgeliefert werden, auch wenn sie keine zufriedenstellenden Antworten geben kann. Es geht darum zu erkennen, wie das Denken bestimmter Philosophen oder Dichter möglicherweise präfaschistisch war, um diese wiederum von anderen abzugrenzen. Realitätsbezogene Wahrheit liegt im visuellen Bereich.21 Der Sehsinn gilt als die Schau des Wahren, während in der metaphysischen Tradition das Hören die Leitmetapher ist. In diesem Sinne ist das Gedicht auch eine Absage an die metaphysische Tradition, deren Bereich die Akustik ist. So grenzt sich Arendt etwa von Heideggers »Ruf des Seins« ab, das auf der Überlieferung begründet eine Offenbarung vernimmt. Bei Arendt schweigt die Tradition, sie ist noch visuell wahrnehmbar, kann aber keine Antworten liefern. Arendts Realitätsbezug kommt also in dem Gedicht doppelt zutage: auf der einen Seite die Zerstörung der Städte, die auf der anderen Seite auch eine Zerstörung einer metaphysischen Überlieferung bewirken – das Schweigen. Das Gedicht benutzt in seinem Bild des antiken Wagens erneut eine leicht zu entziffernde Allegorie – auch wenn der direkte benennende Vergleich fehlt – und fällt daher nach Arendts eigener Dichtungstheorie wieder in den Bereich der Sprache als Kommunikation, in der die Realität im Vordergrund steht. Arendt benutzt eine Sprache, welche die Opposition zwischen Beständigkeit und Vergänglichkeit der Welt verständlich wiedergibt. Es geht um die Erhellung der existentiellen Frage: Wie kann man weiterleben nach Vernichtung, Krieg und Konzentrationslagern, wie sich denkerisch positionieren? Dieser Frage ins Angesicht sehen ist Ausdruck von Wahrhaftigkeit. Gleichzeitig handelt es sich auch um ein Gedicht, dessen Thematik das Andenken selbst ist: Die Zerstörung setzt voraus, dass es zuvor eine Beständigkeit der Orte gab, mit einer gewissen Wehmut, dass es diese Sicherheit nun nicht mehr gibt. Soll man sich der Vergangenheit im Andenken verpflichten, obwohl die Orte zerstört sind, oder nicht?

21 | Vgl. den zweiten Teil, 1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin, S. 181.

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1.1.3 »Dies war der Abschied« »Dies war der Abschied. Manche Freunde kamen mit und wer nicht mitkam war ein Freund nicht mehr. Dies war der Abend. Zögernd senkte er den Schritt und zog zum Fenster unsre Seelen raus. Dies war der Zug. Vermass das Land im Fluge und stockte durch die Enge mancher Stadt. Dies ist die Ankunft. Brot heisst Brot nicht mehr und Wein in fremder Sprache ändert das Gespräch.« 22

Auch dieses Gedicht, das die Emigration beschreibt, ist 1946, im September, geschrieben worden: Jetzt erst, nachdem der Krieg ausgestanden und die Sache gewonnen wurde, findet bei Hannah Arendt eine poetische Verarbeitung statt. Das Gedicht schlägt einen nüchternen und sachlichen Ton an, dessen Hauptmerkmal die unsentimentale Untertreibung ist. Was Arendt bei Brecht und Auden schätzte, deren völliger Mangel an Eitelkeit, der mehr an dem Leid anderer als an dem eigenen interessiert ist, trifft auch auf sie selbst zu. Denn das Gedicht ist in der Wir-Perspektive geschrieben, das heißt aus der Sicht aller Emigranten, und vermeidet damit mögliches Selbstmitleid, das aus der Perspektive eines Einzelnen hätte klingen können. Weiterhin: Es geht nicht mehr um Erinnerung wie in Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet noch darum, was aus den Trümmern gerettet werden könnte, wie in Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind, sondern die Last der Emigration wird in ihren einzelnen Stadien dargestellt: Der Abschied aus dem Heimatland, die Verzweiflung, die Flucht und die Ankunft in der Fremde. Für diese vier Etappen lassen sich biographische Äußerungen Arendts finden, die zur Entstehung beigetragen haben mögen – die Schwere und Vielfalt der Erfahrung wird in diesem Gedicht äußerst verknappt behandelt. Aus diesem Grund sollen die Hintergründe kurz vermittelt werden. Der Verlust der Freunde beim Abschied in der ersten Strophe  – »manche Freunde kamen mit / und wer nicht mitkam, war ein Freund nicht mehr« – zeugt von der menschlichen Enttäuschung, die Arendt im angehenden Nazideutschland erleben musste: Sie kann besonders am Opportunismus von Martin Heidegger und Benno von Wiese dargelegt werden. Der letzte Brief von Heidegger an 22 | Arendt, Hannah: Dies war der Abschied. In: Gedichte, S. 43.

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Arendt im Winter 1932 / 1933 ist eine Rechtfertigung seines Antisemitismus: »In übrigen bin ich heute in Universitätsfragen genau so Antisemit wie vor 10 Jahren und in Marburg, wo ich für diesen Antisemitismus sogar die Unterstützung von Jacobsthal und Friedländer fand.«23 Und Benno von Wiese, ein Studienfreund Arendts, verhielt sich nicht weniger anpassungsfähig gegenüber der herrschenden Ideologie. So stellt Arendt gegenüber Jaspers fest, von Wiese habe im April / Mai 1933 einen programmatischen Artikel über die deutschen Universitäten geschrieben, von denen »selbstverständlich alles Fremdblütige entfernt werden müßte«: »It was that simple; und zu jener Zeit hat ihn wirklich niemand gezwungen. […] Und als er den Gang in den Plöck wagte: War nicht damals die kommende Niederlage schon sehr klar? Schwachsinnig war er schließlich nicht und ein überzeugter Nazi sicher auch nicht. Macht die Geschichte nicht besser.«24 Von diesen Leuten galt es sich radikal zu trennen. Sie kamen nicht mit. Die Verzweiflung über die manichäisch gewordene Welt kommt in der zweiten Strophe zum Ausdruck  – »und zog zum Fenster unsre Seelen raus.« Auch hierzu ist eine Aussage in Arendts Briefwechsel mit Blumenfeld nachweisbar, die im selben Zeitraum wie das Gedicht (1946) geschrieben wurde. Atem und Seele werden gleichbedeutend: »Sieh, versteh doch, dass diese Zeiten einem den Atem verschlagen und dass man sich nicht mehr traut, noch persönliche Gefühle auszudrücken – weil der allgemeine Kummer zu groß ist.«25 Diese einzige Stelle der Klage in dem Gedicht ist so kurz gehalten, dass sie der Sprachlosigkeit des Kummers entspricht, die aus dem übrigen Gedicht klingt. Wie die Flucht während der Emigration verlief, lässt sich aus ihren Briefen an Günther Stern ablesen. Die Bedeutung des »Zuges, der durch die Enge mancher Stadt stockte«, ist für jeden Emigranten auf der Flucht nachvollziehbar: Arendt benutzt eine extreme Untertreibung, um die Bedrohung darzustellen. Ihren Briefen an Stern kann man entnehmen, wie das Stocken während der Flucht lebensgefährliche Züge annahm: Das Stocken bestand in Affidavits, die sie von Stern, der bereits in den USA war, zugeschickt bekam, dabei jedoch eineinhalb Jahre warten musste, um ein Visum zu erhalten. Das Stocken bestand weiterhin in den Lageraufenthalten der Freunde, wie Benjamin und Blücher, die sich nach ihrer Freilassung verstecken mussten und kein Geld verdienen konnten.26 Das Stocken bestand in ihrem eigenen Lageraufenthalt in Gurs, dem Treffen mit Blücher 23 | Heidegger-Briefwechsel: Brief 43: Heidegger an Arendt, Winter 1932 /  1933, S. 69. 24 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 57: Arendt an Jaspers, 4.5.1947, S. 123. | Arendt korrepondierte mit Benno von Wiese in den 1950er Jahren, als dieser Kontakt zu ihr suchte. In ihren Briefen weist sie ihn deutlich zurecht. Vgl. LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. In: Box 16 /  F older: Wiese, Benno von 1953-1973, nd.: Arendt an von Wiese, 3.2.1965, Blätter 010327-010328. 25 | Blumenfeld-Briefwechsel: Brief 7: Arendt an Blumenfeld, 14.1.1946, S. 36. 26 | Vgl. Österreichische Nationalblibliothek: Bestand Günther Anders, Akz-Nr. ÖLA 237104, Gruppe 2.5.2: Arendt an Stern, 23.12.1939, Blatt ohne Nummerierung.

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in Montauban, mit Benjamin, der Flucht durch die Pyrenäen, dem verlorenen Gepäck und dem Mangel an Geld.27 Das Stocken bestand in Lissabon, als sie auf ihr Schiff warteten und Arendts Mutter erst später nachkommen konnte, oder in der Sorge um Freunde wie Chanaan Klenbort und Erich Cohn-Bendit.28 Erst das Telegramm vom 23. Mai 1941 aus New York zeugt von Arendts Neubeginn, auf dem sie vielleicht ihr Konzept der Natalität begründete: »Sind gerettet. Wohnen 317 West 95. Hannah.«29 Die letzte Strophe – »Brot heisst Brot nicht mehr / und Wein in fremder Sprache ändert das Gespräch«– synthetisiert extrem ihrer Situation als Emigrantin, die sie im Januar 1943 in einem Artikel für das »Menorah Journal« verarbeitet: Arendt schildert ihre Lage in Wir Flüchtlinge im gleichen Ton wie das Gedicht, ja noch weitgehender: Indem sie ironisch provoziert, werden Unrecht und Demütigungen schärfer hervorgehoben – Ziel ist es, sich zu wehren und um seine Rechte zu kämpfen, anstatt zu resignieren: »Unsere Zuversicht ist in der Tat bewundernswert, auch wenn die Feststellung von uns selbst kommt. Denn schließlich ist die Geschichte unseres Kampfes jetzt bekannt geworden. Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.«30 Das Motiv »Brot und Wein« dürfte eine Anspielung auf das Gedicht Hölderlins Brot und Wein31 sein. Deutsche Lyrik, deutsche Kultur ist in der Fremdsprache nicht mehr vermittelbar. Die Lebenswelt hat sich grundlegend verändert. Von dem Gedicht ist nur eine handschriftliche Fassung im ersten Notizheft des Denktagebuchs erhalten.32 Arendt nahm es nicht in ihre Sammlung der Typoskripte auf, obwohl es in seiner Kürze und Prägnanz zu ihren besten gehört – gerade indem sie Vorwürfe oder lange Deskriptionen ausspart und stattdessen schlichte Fakten, die verschiedenen Stationen der Emigration aufzählt, wirft sie ein Licht auf das Grauen, von dem jeder wusste.

27 | Vgl. Ebenda, Arendt an Stern, Montauban, 10.7.1940, ohne Blattnummer. 28 | Vgl. Ebenda, Arendt an Stern, New York, 25.5.1941, ohne Blattnummer. 29 | Ebenda, Arendt an Stern, Telegramm, New York, 23.5.1941, ohne Blattummer. 30 | Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge (1943). In: Arendt, Hannah: Politische Essays (Hg. Knott, Marie-Luise) Hamburg, 1999, S. 7-20, hier S. 7 f. 31 | Hölderlin, Friedrich: Brot und Wein. In: Hölderlin, Friedrich: Gedichte, Stuttgart, 2003, S. 48-55. 32 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 84 / F older: Miscellany, Notebooks Volume II, 1942-1950, ohne Blattnummer.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Die vier Strophen des Gedichts sind streng komponiert: Jede Strophe besteht aus zwei Sätzen. Es gibt drei Verse pro Strophe. Die erste Zeile ist kurz; sie gibt in einem Satz den Tatsachenbestand wieder. Die zweite Zeile ist länger, sie leitet die Erklärung ein, um in der dritten und längsten Zeile zur Synthese zu kommen. Dabei arbeitet Arendt mit Anaphern. Der ersten drei Anfangszeilen beginnen immer mit »dies war«, um in der vierten in der Gegenwart anzukommen: »dies ist«. Es handelt sich also um einen Rückblick, um Erinnerung. Das Gedicht umkreist das Andenken, das in allen vier Strophen Bilder für Heimat und Heimatverlust findet: in der ersten Strophe die Menschen (Freunde), in der zweiten die Stadt (Fenster), in der dritten das Land und in der vierten die Fremde (Sprache). Das Gedicht ist leicht aufzuschlüsseln und verweist indirekt in jeder Strophe auf eine Emotion, die sich unter dem Überbegriff des Kummers einordnen lässt: In der ersten Strophe der Abschied von den Menschen, die sich dem Dritten Reich anpassen – hier bildet Enttäuschung den Schwerpunkt. In der zweiten Strophe wird der Abend vor der Reise beschrieben – »die Seele wird aus dem Fenster gezogen« – es kommt zum Abschiedsschmerz, das Gefühl eines kurzen Innehaltens. Der Abend wird hier personifiziert: Er steht übergreifend über alle Orte, das heißt über alle Menschen, die diese Erfahrung machen. In der dritten Strophe wird die Zugreise hinaus aus dem Land beschrieben – das Stocken durch manche Stadt verweist auf die Empfindung der Angst, das Herz steht kurz still. Und die vierte Strophe zeigt die Ankunft im Ausland in der Gegenwart: Die fremde Sprache ändert das Gespräch, alles ändert sich – das Grundgefühl ist Entfremdung, auch wenn Arendt in den Bildern von Brot und Wein ein christliches Symbol des Überlebens benutzt. Der Kummer besteht also aus Enttäuschung, Schmerz, Angst und Entfremdung. In einfachen Bildern drückt Arendt nüchterne Tatsachenbestände aus, die auf ungesagte Emotionen hinweisen. Indem das Gedicht aus der Wir-Perspektive geschrieben ist, spricht es die Erfahrung aller Emigranten aus. Das Gedicht fällt in den Bereich der Sprache als Kommunikation: Es geht um die Wahrhaftigkeit des Erlebens in der existentiellen Grenzsituation der Emigration. Die Empfindungen sind eindeutig, nur in der letzten Zeile erscheint ein Paradox: Auf der einen Seite ist das Überleben gesichert, auf der anderen findet eine Entfremdung statt. Das Gedicht ist kommunikativ, weil es Mitmenschen einbezieht: Es stellt keine Verlassenheit oder Einsamkeit dar, sondern Mitemigranten finden sich beim Lesen wieder. Die Sprache ist nicht »in« der Erfahrung, sondern »über« die Erfahrung, das Gedicht berichtet »über« die Emigration: Die Bilder sind realitätsbezogen und abgesehen von der Seele, die den Körper aus Angst verlässt, nicht metaphorisch. Die Bilder sind diskursiv geordnet aneinandergereiht, zeitlich linear hintereinander gesetzt. Es geht um Verständigung in einer Sprache des Miteinanders, in der sich die Emigranten ihre gemeinsame Wahrnehmung der Emigration zusichern.33 Die narrative Aneinanderreihung der verschiedenen Situationen verweist auf Arendts spätere Narrationstheorie: Verschiedene Ereig33 | Vgl. den zweiten Teil, 1.1.2 Mitteilbarkeit durch Sprache des Gemeinsinns, S. 151.

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nisse werden zu Tatsachen und so erzählbar und schaffen Sinn. Etwas Unwiderrufliches – die Vertreibung – ist passiert, die Vergangenheit wird erhellt, es entsteht eine Geschichte mit Anfang und Ende.34 Der Sinn in dem Gedicht lässt sich aus der Schlussstrophe ziehen: Das lyrische Ich befindet sich in der Gegenwart in der Fremde und erinnert sich an die verschiedenen Etappen seiner Emigration zurück. Das lyrische Ich hat überlebt und das bedeutet, dass die Geschichte aufgeschrieben werden muss, denn sie ist erinnerungswürdig. Das Rühmen und Retten in der Dichtung der griechischen Antike, auf das Arendt sich in der Vita Activa wiederholt bezieht, kommt hier zum Tragen: Das Überleben ist nicht selbstverständlich.35 Weiterhin stellt sich bei dem Gedicht die Frage, wie es danach weitergeht: Emigration bedeutet nicht nur den Willen zu überleben, sondern auch einen Neuanfang zu wollen, für eine bessere Zukunft. Arendts Konzept der Natalität, der Gebürtlichkeit des Menschen, kommt indirekt bereits zur Sprache: die Willensfreiheit, ein anderes Leben zu führen, statt ein Land zu akzeptieren, das in seiner Mordlust die Menschen als Sterbliche definiert und sie vernichtet. Das Recht, Spontaneität einzufordern, auch wenn die neue Sprache noch etwas hemmt: »Jeder Mensch, in der Einzahl geschaffen, ist ein neuer Anfang kraft seiner Geburt; hätte Augustinus die Folgerung aus dieser Spekulation gezogen, so hätte er die Menschen nicht, wie die Griechen, als Sterbliche definiert, sondern als ›Geborene‹. […] [J]eder ist wieder Neuankömmling in einer Welt, die ihm zeitlich voranging. Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ ist der Wille.«36

1.1.4 »Flüsse ohne Brücke« »Flüsse ohne Brücke Häuser ohne Wand Wenn der Zug durchquert es – Alles unerkannt Menschen ohne Schatten Arme ohne Hand« 37

Das vierte Emigrationsgedicht handelt von der Rückkehr und setzt damit einen Schlusspunkt unter die Thematik. Arendt nimmt dabei Motive aus ihren vorherigen Emigrationsgedichten auf: Sie wusste um die Vernichtung Deutschlands in 34 | Vgl. den zweiten Teil, 2.2.1 Anlass des kreativen Prozesses: Passionen und Staunen, S. 237. 35 | Vgl. den zweiten Teil, 2.2.3 Thematik der Dichtung: Erinnerung im Andenken, S. 251. 36 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 343. 37 | Arendt, Hannah: Flüsse ohne Brücke. In: Gedichte, S. 47.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind, nun sieht sie die zerstörten Städte. Sie verließ Deutschland in einem stockenden Zug in Dies war der Abschied, nun durchquert sie das durch Krieg zerstörte Land wiederum im Zug und erkennt es nicht wieder. Die Menschen, die im Abschiedsgedicht zu Feinden wurden, sind nun nur noch Schatten, die nichts mehr greifen können. Von dem Gedicht gibt es nur eine Handschrift, die einer Notiz gleicht, mit Bleistift geschrieben, hinten eingetragen in Arendts Exemplar von Ernst Jüngers Kriegstagebuch Strahlungen. Barbara Hahn und Marie Luise Knott haben den Band in Arendts Bibliothek gefunden und zum ersten Mal in ihrem Ausstellungskatalog über Arendt und Dichtung veröffentlicht. Das Buch hatte Arendt bei ihrer ersten Europareise nach siebzehn Jahren, 1950, von einem neuen deutschen Bekannten, einem Johannes Zilkens, geschenkt bekommen – wie man aus der Widmung vom Februar 1950 schließen kann. Hahn und Knott folgern aufgrund des Zustands des Buchs, dass Arendt Jünger eingehend studiert hat: »Sie las es gründlich, von Anfang bis Ende. Das zeigen die vielen, vielen Anstreichungen und ein paar nicht mehr entzifferbare Anmerkungen auf dem vergilbten Nachkriegspapier. Heute reißt das Papier selbst bei vorsichtigem Blättern.«38 Man kann sich vorstellen, wie Arendt das Buch auf ihrer Zugreise las, unter dem Einfluss des Gesehenen, des zerstörten Deutschlands, und wie sie dabei eine Eingebung gehabt haben mag und das Gedicht verfasst hat. Arendts Essay Bericht aus Deutschland ist in den 1990er-Jahren berühmt geworden, als er im Rotbuch-Verlag mit einem Vorwort von Hendrik M. Broder erschien. Zuvor wurde der Artikel vor allen Dingen in Emigrantenkreisen gelesen – er erschien unter dem kompletten Titel The aftermath of Nazi-Rule: Report from Germany39 – zu deutsch Die Nachwirkungen der Naziregimes: ein Bericht aus Deutschland. Es ging Hannah Arendt darum, während ihrer dreimonatigen Reise von Ende November 1949 bis Anfang März 1950, die sie im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction unternommen hat, Einsicht zu bekommen, inwieweit Deutschland nach dem Krieg noch von der Naziideologie beherrscht war und wie die Deutschen mit dem Kriegsende umgingen. Der Bericht besteht aus zwei Teilen: Einerseits beschreibt er das physisch, moralisch und politisch ruinierte Deutschland, andererseits das Scheitern der Entnazifizierungspolitik. Arendts Gedicht vermittelt in verknappter und dichter Form die gleiche Aussage. Der Zerstörung der Städte entspricht der moralische Ruin der Menschen. So wirft sie den Deutschen vor, dass sie nicht auf das Geschehene reagierten, und es sei nicht klar, ob sie sich absichtlich weigerten zu trauern oder ob es der Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit sei: »Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtspostkarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die 38 | Ebenda, S. 54. 39 | Vgl. Arendt, Hannah: The Aftermath of Nazi Rule: Report from Germany. In: Commentary, 10. Jg, 1950, H. 4, Oktober, S. 342-353.

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Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert; sie spiegelt sich in der Apathie wider, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge reagieren oder vielmehr nicht reagieren.«40 Die Deutschen sind »Menschen ohne Schatten« geworden, das heißt Menschen ohne moralische Konsistenz, die auf Mitmenschlichkeit beruhte. Anhand verschiedener Beispiele drückt sie ihr Entsetzen und ihre Empörung darüber aus: Als sie die Deutschen auf das Schicksal der Juden anspricht, rechnen diese ihr Leiden gegenüber dem der Juden auf; die Ruinen sind für den Durchschnittsdeutschen eine Folge des Kriegs, den er beklagt, aber keine Folge des direkten Kriegsanlasses, des Naziregimes; die Konzentrationslager werden nur auf eine bloße Möglichkeit heruntergespielt, die auch andere hätten begehen können; die Besatzungsmächte hätten Schuld an der Lage. Insgesamt klagt sie die Deutschen für ihre massive Realitätsflucht an, die auch eine Flucht vor der Verantwortung ist. Das Bild der »Arme ohne Hand« kommt in diesem Bericht indirekt ebenfalls vor. Sie wirft den Deutschen eine fieberhafte Geschäftigkeit vor, die zu mittelmäßigen Produktionen führe: »Die alte Tugend, unabhängig von den Arbeitsbedingungen ein möglichst vortreffliches Endprodukt zu erzielen, hat einem blinden Zwang Platz gemacht, dauernd beschäftigt zu sein, einem gierigen Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren.«41 Diese Geschäftigkeit sei eine der Hauptwaffen bei der Abwehr der Wirklichkeit. Diese Abwehr der Wirklichkeit gehe so weit, dass sie Deutschland mit einer Nervenheilanstalt vergleicht, in der alle verrückt geworden sind. Objektiv gesehen zeige ein gestörtes Verhältnis zur Nazigesellschaft geistige Normalität. »Die Situation eines Nazigegners ähnelte dem Schicksal eines normalen Menschen, der zufällig in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird, in der alle Insassen an ein und derselben Wahnvorstellung leiden: Unter solchen Umständen wird es schwierig, seinen eigenen Sinnen noch zu trauen. […] Diese Situation verlangt ein hellwaches Bewusstsein der gesamten eigenen Existenz, eine Aufmerksamkeit, die niemals in die automatischen Reaktionen zurückfallen durfte, mit denen wir den Alltag meistern.«42 Den Traditionsbruch erlebte Arendt auf eklatante Weise – das Verhalten der Deutschen ließe sich mit dem Begriff Unmoral nicht fassen, denn der Realitätsverlust liege tiefer als bloße Bösartigkeit: Jüngers Kriegstagebuch, in das sie ihr Gedicht geschrieben hat, fasst die Problematik des Zerfalls der Werte, der in Wahnsinn, in das Schattenhafte des Daseins führt, zusammen. Auf der einen Seite hatte Jünger Einfluss auf die nazistische Elite, auf der anderen Seite war er aktiver Regimegegner, da er auf einem altmodischen Ehrbegriff des preußischen Offizierskorps beharrte. Seine Situation ist gespalten: »Doch selbst diese 40 | Vgl. Arendt, Hannah: Die Nachwirkungen des Naziregimes – Bericht aus Deutschland (1950). In: Arendt, Hannah: In der Gegenwart (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 3863, hier S. 39. 41 | Ebenda, S. 45. 42 | Ebenda, S. 51.

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unzweifelhafte Integrität klingt hohl; es ist, als ob die Moralität ausser Kraft gesetzt und zu einem Hohlraum geworden wäre, in dem sich die Personen, die den ganzen Tag lang leben, funktionieren und überleben müssen, sich nur des Nachts und in Stunden der Einsamkeit zurückziehen. Der Tag wird der Nacht zum Alptraum und umgekehrt. Das moralische Urteil, das für die Nacht aufgehoben wird, ist der Alptraum der Angst, tagsüber entdeckt zu werden, und das Leben am Tag ist ein Alptraum des Schreckens, man könnte das intakte Gewissen verraten, das sich doch nur in den Nachtstunden verrät.«43 Das Gedicht ist kurz wie ein Aphorismus, zum Teil gereimt, zum Teil nicht. Seine Eindringlichkeit erlangt es durch die anaphorische Wiederholung: die Zerstörung der Städte – »Flüsse ohne Brücke, / Häuser ohne Wand.« – und die Zerstörung der Menschen – »Menschen ohne Schatten, / A rme ohne Hand.« Gleichzeitig kommt die Fremdheit des lyrischen Ichs zur Sprache, das sich abgrenzt: »Wenn der Zug durchquert es / Alles unerkannt.« Es hat nichts mehr mit dem Land noch mit den Menschen gemein. Die Tatsache, dass das Ich jedoch versucht, die Städte wiederzuerkennen, weist darauf hin, dass es ihm um Andenken geht, das nun allerdings misslingt. Das reale Bild der Zerstörung der Städte – die Flüsse sind wirklich ohne Brücke, die Häuser ohne Wände – wird übertragen auf den moralischen Zusammenbruch der Menschen: Natürlich haben diese noch einen Schatten und Hände, doch der Wahnsinn des Naziregimes zeigt noch fünf Jahre nach Kriegsende die moralische Inkonsistenz der Menschen. Das Motiv der Menschen ohne Schatten kann auch ein Hinweis auf Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Chamisso sein. Arendt hatte bereits Heinrich Heine als Schlemihl und Traumweltherrscher bezeichnet. In der Erzählung Chamissos verkauft Schlemihl einem reichen Herrn, der sich als Teufel herausstellt, seinen Schatten für einen Glücksbeutel, der immer mit Dukaten gefüllt ist. Trotz Reichtum verfällt Schlemihl jedoch der Ächtung seiner Mitmenschen. Chamissos Erzählung wird in der Regel mit der Einbuße der bürgerlichen Existenz interpretiert, denn Schlemihl findet eine Lösung in Siebenmeilenstiefeln, mit denen er auf dauernder Reise ist – er kann die menschliche Gesellschaft entbehren. Im Kontext dieses Gedichts kommt nur der Ausgangspunkt der Erzählung von Chamissos zum Tragen: Der Verlust des Schattens durch einen Teufelspakt, den die Deutschen mit den Nationalsozialisten eingegangen sind. Das würde auf den diabolischen Charakter des Naziregimes verweisen. Jaspers allerdings war nicht von dieser These überzeugt, bereits 1946 spricht er sie als Erstes auf die »Banalität des Bösen« an: Er hatte ihren Antisemitismusaufsatz gelesen, der später in ihr Totalitarismus-Buch einfließen sollte. In einem Brief stellt er fest, dass die Protokolle des Weisen als Quelle für die Nazipolitik unzureichend seien: »Weiter: Statt die ›Protokolle‹ kann man etwa auch die ›Dämonen‹ von Dostojewski und andere Dinge nennen, von denen Hitler gelernt hat. Er hat vermutlich da nirgends gelernt, sondern es liegt in der Natur der Sache, dass auto43 | Ebenda, S. 52.

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matisch die Konsequenzen entstehen, wo so etwas beginnt: in der Konstruktion der ›Protokolle‹ – in der Phantasie Dostojewskis – in der Realität Hitlers.« 44 Als Fallbeispiel bezieht sich Arendt auf Heidegger: Als der seinen Namen unter das Schriftstück setzte, das Husserl den Zugang zur Universität verwehrt hat, hätte er selbst abdanken müssen: »Und ich würde wahrscheinlich antworten, dass das wirklich Irreparable oft fast – täuschend – wie ein Akzident auftritt, dass manchmal aus einer unscheinbaren Linie, die wir gelassen überschreiten, im sicheren Bewusstsein, dass es darauf nun auch nicht mehr ankommt, jener Wall sich aufrichtet, der Menschen wirklich scheidet. Mit anderen Worten, obwohl mir weder sachlich noch persönlich je an dem alten Husserl irgend etwas gelegen war, gedenke ich, ihm in diesem Punkt die Solidarität zu halten; und da ich weiß, dass dieser Brief und diese Unterschrift ihn beinahe umgebracht haben, kann ich nicht anders, als Heidegger für einen potentiellen Mörder zu halten.« 45 In seiner Antwort geht Jaspers mit ihrer Meinung über Heidegger konform, aber ihre Bemerkung über die Schuldfrage, dass das, was die Nazis getan haben, sich nicht als Verbrechen fassen lasse, teilt er nicht. Er ist nicht einverstanden, dass Hitlers kriminelle Schuld einen Zug von satanischer Größe oder Dämonischem habe: »Mir scheint, man muss, weil es wirklich so war, die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen, ihrer ganzen nüchternen Nichtigkeit  – Bakterien können völkervernichtende Seuchen machen und bleiben doch nur Bakterien. Ich sehe jeden Ansatz von Mythos oder Legende mit Schrecken, und jedes Unbestimmte ist schon solcher Ansatz. […] Es ist keine Idee und kein Wesen in dieser Sache. Sie erschöpft sich als Gegenstand der Psychologie und Soziologie, der Psychopathologie und der Jurisprudenz.«46 Arendt haderte mit dem Thema, wie der Vergleich der »Menschen ohne Schatten« im Gedicht zeigt, bevor sie jedoch in ihrem Eichmann-Buch selbst doch ganz zu Jaspers’ Einschätzung gelangt – mit dem Ergebnis, dass sie dafür kritisiert wurde, sie banalisiere das Böse. Fakt ist, dass sie das Böse nicht mehr dämonisierte, was auf Tiefe verweisen würde, sondern zu dem Schluss kam, dass das Böse flach, banal sei. In seiner Aufzählung von Fakten ist das Gedicht diskursiv gehalten. Wie das vorherige setzt es das Gesehene narrativ in eine Linearität um. Das Bild der Menschen am Ende kann entschüsselt werden, es handelt sich daher um ein Gedicht, dessen wesentlicher Bestandteil Kommunikation ist. Aus dem Gedicht spricht grundsätzliche Enttäuschung, die der Enttäuschung in Dies war der Abschied gleichkommt: Nicht nur, dass die Menschen, die nicht mit in die Emigration kamen, keine Freunde mehr sind – selbst nach dem Debakel erkennen sie ihre Schuld nicht an, bleiben inkonsistent wie zuvor. In einfachen Bildern, bestehend aus der jeweiligen schlichten Verneinung »ohne«, gelingt es Arendt in äußerster Verknappung nicht nur, Deutschlands Situation nach dem Krieg, sondern auch 44 | Jaspers-Briefwechsel: Brief 41: Jaspers an Arendt, Heidelberg, 27.6.1946, S. 81. 45 | Ebenda, Brief 42: Arendt an Jaspers, 9.7. 1946, S. 84. 46 | Ebenda, Brief 46: Jaspers an Arendt, Heidelberg, 19. 10.1946, S. 99.

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ihr eigenes Verhältnis dazu zu erhellen. Dennoch gab sie nicht die Hoffnung auf, Einsicht bei den Deutschen zu finden, wie ihre wiederaufgenommenen Kontakte zu Heidegger oder zu von Wiese zeigen. Doch die Enttäuschung blieb bestehen, allerdings ohne alle Verhärtung oder Rache, wie in dem 1953 geschriebenen Text zu erkennen ist, der ihre Wiederbegegnung mit Heidegger während dieser Deutschlandreise 1950 thematisiert – eine lange Parabel über Heidegger den Fuchs, der in seine eigene Falle geht.47

1.2 D ie N ekrologe 48 1.2.1 »W.B.« »W.B. Einmal dämmert Abend wieder, Nacht fällt nieder von den Sternen, Liegen wir gestreckte Glieder In den Nähen, in den Fernen. Aus den Dunkelheiten tönen Sanfte kleine Melodeien. Lauschen wir uns zu entwöhnen, Lockern endlich wir die Reihen. Ferne Stimmen, naher Kummer –: Jene Stimmen jener Toten, Die wir vorgeschickt als Boten Uns zu leiten in den Schlummer.« 49

W.B. ist das erste Gedicht, das Hannah Arendt nach sechzehn Jahren Pause geschrieben hat. Die Handschrift ist auf den Oktober 1942 datiert. Sie übernahm das Gedicht in ihre maschinenschriftliche Sammlung, dort ist es noch direkter An W.B. gerichtet: an Walter Benjamin. Der Freitod Walter Benjamins während der Flucht über die Pyrenäen nahm Arendt sehr mit. In der Zeit ihrer Pariser Emigration waren sie eng befreundet gewesen. Arendt hatte ihn 1934 kennen-

47 | Vgl. Denktagebuch: Heft 17, Juli 1953, Eintrag 7: Heidegger, der Fuchs, S. 403. 48 | Karin Biro hat in ihrer Ausgabe der Gedichte »Heureux celui qui n’a pas de patrie«. Poèmes de pensée, Paris, 2015 Arendts Gedichte thematisch geordnet. Die vier Nekrologe erscheinen unter dem Titel: »Aux amis perdus«. 49 | Arendt, Hannah: W.B. In: Gedichte, S. 32.

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gelernt, Günther Stern, hatte sie bekannt gemacht.50 Von 1936 an tat sich Arendt mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die von der marxistischen Theorie oder Praxis geprägt waren: Der Kontakt mit Benjamin wurde enger, außerdem gehörten auch der Rechtsanwantl Erich Cohn-Bendit, der Psychoanalytiker Fritz Fränkel, der Maler Karl Heidenreich sowie Chanaan Klenbort und Heinrich Blücher dazu. »Die Diskussionen, die gewöhnlich in Benjamins Wohnung, 10, rue Dombasle, stattfanden, führten Freunde sowohl Hannah Arendts als auch Heinrich Blüchers zusammen.«51 Im August 1939 begann die französische Regierung, Flüchtlinge in Lagern zu versammeln. Blücher wurde gemeinsam mit Cohn-Bendit und Benjamin in das Lager Villemalard in der Nähe von Orléans interniert. Benjamin, der einige Monate zuvor Bertolt Brecht in Dänemark besucht hatte, brachte das unveröffentlichte Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration mit, das Blücher im Lager als eine Art Talisman nutzte.52 Arendt kam kurz darauf über das Sammellager Vél d’Hiv ins südfranzösische Lager Gurs. Diese Erfahrung, die mit Gedanken an Selbstmord einherging, beschreibt Arendt in ihrem Artikel Wir Flüchtlinge.53 Als alle drei wieder freikamen, trafen sich Arendt und Blücher durch einen glücklichen Zufall in Montauban wieder, während Benjamin sich in Lourdes aufhielt. Aus dieser bewegten Zeit sind zwei Briefe Benjamins an Arendt erhalten, in denen er seine verzweifelte Situation beschreibt, die er jedoch selbstironisch zu relativieren weiß: In einem der Schreiben beklagt er den Verlust seiner Bibliothek – sein Passagenwerk, das nur aus Zitaten besteht, wurde dadurch kompromitiert und es war hart für ihn, dieses Lebenswerk nicht vollenden zu können: »Mir ginge es so ganz ohne Bücher noch schlechter, wenn ich mir nicht folgende Devise zu eigen gemacht hätte, die perfekt auf meine Situation zutrifft: ›Seine Faulheit hat ihn ruhmesgleich gestützt, einige Jahre lang in der Dunkelheit eines suchenden und versteckten Lebens.‹ (La Rochefoucauld über Retz) Ich zitiere Ihnen dies mit der

50 | Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 176. 51 | Ebenda, S. 185. 52 | Vgl. Ebenda, S. 221. Vgl. auch erster Teil, 1.6 Bertolt Brecht, S. 71. 53 | Arendt erinnert sich, wie ab einem bestimmten Moment die Stimmung im Lager kippte, alle von Selbstmord sprachen – bis jemand bemerkte, dass sie sowieso zum Sterben hier seien. Daraufhin brach ein starker Lebenswille aus: Das Unglück sollte nicht als individuelles Missgeschick gesehen werden. Als die Frauen entlassen wurden und in ihr private Leben zurückfanden, war die Todesbereitschaft wieder größer: »Vielleicht haben die Philosophen recht, die lehren, dass Selbstmord die letzte, die äußerste Garantie menschlicher Freiheit ist: wir besitzen zwar nicht die Freiheit, unser Leben oder die Welt, in der wir leben, zu erschaffen, sind aber dennoch darin frei, das Leben wegzuwerfen und die Welt zu verlassen.« Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge (1943). In: Arendt, Hannah: Politische Essays (Hg. Knott, Marie-Luise), Hamburg, 1999, S. 7-20, hier S. 12.

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schweren Hoffnung, Monsieur in Trauer zu versetzen.«54 In dem anderen Brief vom August 1940 beschreibt er seine Ausreisebemühungen: Er wusste, dass Adorno ihm aus den USA ein Visum geschickt hatte, adressiert an das Konsulat von Marseille. Nur erhielt er dafür keine schriftliche Bestätigung.55 Schließlich trafen sich die Blüchers und Benjamin in Marseille, Benjamin hatte inzwischen ein Notvisum von seinen amerikanischen Freunden erhalten. Wie Elisabeth Young-Bruehl berichtet, »gelang es ihm [dann], ein spanisches Transitvisum zu bekommen, aber er hatte keine Ausreisegenehmigung für Frankreich. Benjamin beschloss, Frankreich zusammen mit einer kleinen Gruppe illegal über einen Fluchtweg in den Pyrenäen zu verlassen, der nach Port Bou führte und den Flüchtlingen in Marseille wohlvertraut war. Aber als die Gruppe an der spanischen Grenze ankam, erfuhren sie, dass ihre Transitvisa ungültig waren; genau an diesem Tag hatte man die Grenze gesperrt.«56 Arendt beschreibt in ihrem Benjamin-Essay das tragische Timing, das den Selbstmord Benjamins an der Grenze zu Spanien in Port Bou begleitete: Hätte er nur einen Tag später auf brechen wollen, wäre in Marseille bekannt gewesen, dass man nicht durch Spanien kommen konnte; die Visumsperre wurde nach einigen Wochen wieder aufgehoben. »Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.«57 Benjamin hatte den Blüchers in Marseille, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, eine Sammlung von Manuskripten anvertraut, darunter die Thesen Über den Begriff der Geschichte. Sie sollten sie bei ihrer Ankunft in New York dem Institut für Sozialforschung übergeben: »Ihnen wurde die Ehre zuteil, ihrem Freund einen Botendienst zu erweisen. Während sie in Lissabon auf ihr Schiff warteten, lasen die Blüchers Benjamins Thesen einander und den Flüchtlingen, die sich um sie scharten, laut vor. Sie diskutierten und debattierten über die Bedeutung die-

54 | Benjamin an Arendt, Lourdes, 8.7.1940 (Übersetzung A.B.) In: Benjamin-Briefwechsel, S. 136. Originaltext: »Je serais plongé dans un cafard encore plus noir encore que celui qui me tient à présent, si, tout dépourvu que je suis de livres, je n’aurais pas trouvé dans moi seul la devise qui s’applique le plus magnifiquement à ma condition actuelle: ›Sa paresse l’a soutenu avec gloire, durant plusieurs années dans l’obscurité d’une vie errante et cachée‹ (La Rochefoucauld en parlant de Retz). Je vous cite cela avec le sourd espoir d’attrister Monsieur.« 55 | Vgl. Ebenda, Benjamin an Arendt, 9.8.1940, S. 139-141. 56 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 233. 57 | Vgl. Ebenda, S. 233. | Die Bedingungen des Freitods Benjamins waren noch drastischer, als Arendt erfahren hatte: Tatsächlich verlangten die Zöllner Geld, um die Flüchtlinge über die Grenze zu lassen. Am nächsten Tag konnte die Gruppe in Spanien einreisen. Vgl. Richard, Lionel: La Mort de Walter Benjamin In: Magazine Littéraire: Walter Benjamin. Les découvertes d’un flaneur, Nr. 408, avril 2002, S. 31.

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ser vom Augenblick inspirierten messianischen Hoffnung.«58 Die Übergabe des Manuskripts war ein Ausdruck der Freundschaft: Young-Bruehl, die das Gedicht W.B. als Erste veröffentlicht hat, interpretierte es als Antwort Arendts auf Benjamins Zuneigung. Im Herbst 1942 brachte ein äußerer Anlass Arendt und Blücher wieder in den verzweifelten Zustand, den sie im Sommer und Herbst 1940 in den Lagern kennengelernt und zu überwunden geglaubt hatten: »Sie lasen, dass die Deutschen Vernichtungszentren aufgebaut hatten, dass sie Gas einsetzten, um Juden zu ermorden, dass die gesamte Bevölkerung von Gurs in das Vernichtungslager von Auschwitz verschifft worden war. Als die Hoffnung für Europa, die Hoffnung auf eine ›wirkliche Volksaktion‹, die ihnen Mut gemacht hatte, angesichts dieser Berichte nachließ, schrieb Hannah Arendt ein Gedicht für ihren toten Freund, ein Ade und ein Gruß mit der schlichten Überschrift W.B.«59 Das Gedicht selbst ist von Melancholie geprägt, das den Tod der Zurückgelassenen mit einschließt – »Lauschen wir uns zu entwöhnen, / Lockern endlich wir die Reihen.« – eine Melancholie, die auch in ihrem Artikel Wir Flüchtlinge anklingt, der einige Monate später entstehen sollte. Wie nächtliche Gedanken, die das Grauen nicht verdrängen können, das Reifen der Verse begleitet haben müssen, lässt sich anhand des Artikels eindrücklich wiedergeben: »Um reibungsloser zu vergessen, vermeiden wir lieber jede Anspielung auf die Konzentrations- und Internierungslager, die wir fast überall in Europa durchgemacht haben – denn das könnte man uns als Pessimismus oder als mangelndes Vertrauen in das neue Heimatland auslegen. Wie oft hat man uns zu verstehen gegeben, dass das niemand hören möchte; die Hölle ist keine religiöse Vorstellung mehr und kein Phantasiegebilde, sondern so wirklich wie Häuser, Steine, Bäume. Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat  – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen und Gedanken in unseren Träumen hausen. Ich wage nicht nach Einzelheiten zu fragen, denn auch ich bliebe lieber optimistisch. Doch manchmal stelle ich mir vor, dass wir zumindest nachts an unsere Toten denken oder uns an die einst geliebten Gedichte erinnern.«60 Die Schwierigkeit der psychischen Verarbeitung des Grauens – nachdem die Emigranten die Flucht überlebt hatten – zeigt sich in einer ständigen Bereitschaft zum Selbstmord: »Mit unserem Optimismus stimmt etwas nicht. Es gibt unter uns jene seltsamen Optimisten, die ihre Zuversicht wortreich verbreiten und dann nach Hause gehen und das Gas aufdrehen oder auf unerwartete Weise von einem Wolkenkratzer Gebrauch machen. Anscheinend beweisen sie, dass unser erklärter 58 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 236. 59 | Ebenda, S. 236 f. 60 | Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge (1943). In: Arendt, Hannah: Politische Essays (Hg. Knott, Marie Luise), Hamburg, 1999, S. 7-20, hier S. 9 f.

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Frohmut auf einer gefährlichen Todesbereitschaft gründet.«61 Falls ein Emigrant Selbstmord beging, wie Benjamin, so wunderte es niemanden – zuerst fühlten sich die Flüchtlinge in Amerika nicht bedroht, aber seit Hitlers Einmarsch 1938 in Österreich nahmen die Selbstmorde zu: »Im Unterschied zu anderen Selbstmördern lassen unsere Freunde keine Erklärung ihrer Tat zurück, keine Beschuldigung, keine Anklage gegen eine Welt, die einen verzweifelten Menschen gezwungen hatte, in Wort und Tat bis zuletzt guter Laune zu sein. Sie lassen ganz gewöhnliche Abschiedsbriefe zurück, bedeutungslose Dokumente. Folglich sind auch unsere Grabreden kurz, verlegen und voller Hoffnung. Niemand scherte sich um Motive, denn die scheinen uns allen eindeutig zu sein.«62 Vor diesem Hintergrund kann das Gedicht im Zusammenhang mit der Trauer über den Tod der Freunde wie auch mit der möglichen eigenen Freitodbereitschaft erklärt werden. Eine Untersuchung der Quellen ergibt, dass die Handschrift im ersten Notizheft des Denktagebuchs 63 unter dem Datum Oktober 1942 eine Korrektur erhält: Die erste Zeile der dritten Strophe hieß zuerst »Stimmen, lang vergessner Kummer«, sie wurde durchgestrichen und mit »Ferne Stimmen, naher Kummer« verbessert. Die Opposition zwischen fern und nah drückt die Verarbeitung der Trauer metaphorisch klarer aus und ist nicht einfach nur eine direkte Aussage zum Trauerprozess. Gleichzeitig nimmt Arendt das Motiv der Ferne und der Nähe aus der ersten Strophe wieder auf. Die Stimmen der Toten sind fern; der Kummer jedoch, der auch fern, lang vergessen schien, ist in Wirklichkeit noch präsent, nah. Die Korrektur weist auch darauf hin, dass die Nachricht von den Konzentrationslagern 1942 alte Wunden aufgerissen hat – lang vergessen ist der Kummer nicht. Die maschinenschriftliche Kopie ist identisch mit dem handschriftlichen Original und weist keine weitere Veränderung auf. Thematisch stellt das Gedicht den Übergang vom Leben zum Tod dar, den Prozess selbst: Mit jedem, der stirbt, sterben wir selbst ein wenig mit. Die Perspektive ist wie in den vorherigen Gedichten und wie auch in Arendts Essay über das Flüchtlingsdasein ein »Wir« – sie schließt alle Mitemigranten mit ein. Dadurch ergibt sich ein unsentimentaler Ton, der Hintergrund der Emigration wird vorausgesetzt. Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit je vier Versen, die gereimt sind und deren vierhebige, regelmäßige Trochäen auf Formwillen schließen lassen. Der Text ist flüssig: Bei den Trochäen mit den weiblichen Kadenzen läuft der Text weiter, ohne dass man Pausen setzen muss. Das hat einen kathartischen Effekt, der den Tod nicht als Abschluss, sondern als Ankunft deuten lässt. Dem entspricht auch der Inhalt. Die erste Strophe beginnt mit der Dämmerung, einem gewöhnlichen Bild, das allegorisch den Tag als Leben und die Nacht als möglichen Tod wiedergibt. In der Dämmerung befindet sich das lyrische Ich 61 | Ebenda, S. 10. 62 | Ebenda, S. 11. 63 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd In: Box 85 / F older: Misceallany, Notebooks Volume II, 1942-1950, ohne Blattnummer.

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in einem Zwischenstadium. Ungewöhnlich ist, dass das Wir an verschiedenen Orten liegt, »in den Nähen, in den Fernen.« Während die ersten beiden Strophen geheimnisvoll sind, löst die dritte Strophe das Geheimnis auf: Die Fernen sind die Toten. Die Toten wie die Lebenden sind in einer liegenden Position, wohl im Bett, vor dem Einschlafen – »Liegen wir gestreckte Glieder«. Die Toten liegen in Todesstarre, ähnlich der Lebenden, die der Toten gedenken und daher in einer melancholisch-erstarrten Stimmung sind. Der Auslöser für die Gedanken an die Toten kommt in der zweiten Strophe zum Ausdruck. Nun ist es Nacht geworden: »Aus den Dunkelheiten tönen / Sanfte kleine Melodeien.« Nicht der Sehsinn ist ausschlaggebend für die Erinnerung, sondern die Akustik. Die Erinnerung ist schön, denn die Musik ist sanft, gleichzeitig handelt es sich nicht nur um Instrumente, sondern, wie aus der dritten Strophe zu entnehmen ist, auch um Stimmen. Dies bedeutet eine direkte Hommage an Benjamin: Der jüdischen Tradition folgend ist das Hören die Leitmetapher für die Wahrnehmung des Transzendenten. Gleichzeitig bleibt sich Arendt treu, denn man kann diese Verse auch rein aus der Perspektive des Menschen interpretieren, so als ob die Stimmen der Verstorbenen aus der Erinnerung stammen. So verbindet sie einerseits die tatsächliche Wahrnehmung des lyrischen Ichs mit Vorstellungen Benjamins. Diese Stimmen der Toten und deren Musik ziehen die Lebendigen, das Wir, in ihr Reich: Diese werden dem Leben entwöhnt, »sie lockern die Reihen«. Das scheint eine Anspielung auf die Selbstmordwelle unter den Emigranten zu sein, die den Tod der Angehörigen nicht ertrugen. Die dritte Strophe löst das Geheimnisvolle der ersten beiden Strophen auf: Die Toten sind die Fernen, das Wir sind die Lebenden, die trauern, im Kummer verweilen. Die »sanften Melodeien« vermischen sich mit den Stimmen der Toten. Das »Lockern der Reihen«, das auf Freitode verweist, wird zum Schluss umschrieben mit einem Schlummer, dem sich die Lebenden ergeben. Und es kommt ein neues Motiv hinzu, das auf die Zwiespältigkeit, das Paradoxe dieser Erfahrung hinweist: den Schuldkomplex, überlebt zu haben. In der vorletzten Zeile schreibt Arendt von Toten, »die wir als Boten vorgeschickt« haben – die Überlebenden sind nicht am Tod der Freunde und Verwandten schuld, und dennoch lastet dieser Komplex auf ihnen und führt zur gedanklichen Nähe an einen Freitod. Insgesamt sind Leben und Tod nachts, während des Empfindens von Trauer und Kummer, so eng miteinander verbunden, dass dem Suizid nichts Schreckliches oder Unheimliches anlastet. Er erscheint eher wie die Möglichkeit, sich von der Last des Lebens zu befreien. Wie bereits erwähnt, hatte Arendt keine Angst vor dem Tod, dieser liegt für sie in einer anderen Dimension, einer transzendenten Welt, in der die verstorbenen Freunde sich aufhalten. Nachts kann man deren Stimmen hören, ein Übergang findet statt. Gleichzeitig ist das Gedicht wiederum so offen gehalten, dass eine immanente Interpretation möglich ist: Es zeigt, wie Erinnerung, auch akustische Erinnerung, funktioniert und wie Kummer zu Todessehnsucht werden kann. Das Gedicht gründet, wie die vorherigen, erneut auf einem Paradox: Die körperliche Haltung der beschriebenen Menschen ist starr, eine Todesstarre. Die Er-

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innerung, die akustischer Natur ist, ist jedoch von Sanftheit geprägt. Das Gedicht beschreibt einen Übergang zwischen Leben und Tod: im Schlummer. Eine mögliche Todessehnsucht behielt Arendt diesem Gedicht vor. Es ist Benjamin gewidmet, dessen sanfte Stimme sie beschwört. In ihren öffentlichen Texten für die Emigrantenzeitschrift Auf bau setzt sie sich mit Suizid auseinander, aber immer, um gegen diese Tendenz anzugehen: gegen die Täter, die für die Todesgedanken der Emigranten verantwortlich sind, wie gegen die Empfindung der Todessehnsucht. Für den Kampf gegen die Nationalsozialisten setzte sie sich konkret für die Bildung einer jüdischen Armee ein; und an ihre Leidensgenossen richtete sie ermutigende Worte, im Namen der Toten weiterzukämpfen: »Diese Toten hinterlassen keine geschriebenen Testamente und kaum einen Namen; wir können ihnen nicht die letzte Ehre erweisen, wir können ihre Witwen und Waisen nicht trösten. Sie sind Opfer, wie es Opfer nicht mehr gegeben hat, seitdem Carthago und der Moloch zerstört wurden. Wir können nur ihre Träume zu Ende träumen. Die Erbschaft dieser Toten werden die antreten, die traurig genug sind, um entschlossen zu sein, die erschüttert genug sind, um fest zu stehen, die phantastisch genug sind, um mit ihrer Einbildungskraft die Ferne zu überwinden, die menschlich genug sind, um mit ihnen die Toten aller Völker zu beweinen, und die erschreckt genug sind, um aus Utopien, aus jenem ungastlichen Lande, das wir Juden so gerne bewohnen, auszuwandern.«64 Trauer, Entschluss, Erschütterung, Einbildungskraft, Menschlichkeit, Erschrecken – das sind die Empfindungen, die aus dem Kummer resultieren sollen, der auch aus dem Gedicht spricht: Emotionale und intellektuelle Geschmeidigkeit sind vonnöten, damit Welt und Leben wieder ihre Würde erhalten. Das Gedicht kann auf beide Sprachmodelle Arendts zurückgeführt werden: auf Sprache als Kommunikation wie auf Sprache als Metapher. Es handelt sich um Sprache als Kommunikation, wenn man es von den Phänomenen her interpretiert. Die ersten beiden Strophen geben die Situation wieder, das lyrische Ich liegt mit anderen Ichs abends in der Dämmerung und hört Melodien und Stimmen. In der dritten Strophe wird die Auflösung allegorisch gegeben: Es stellt sich heraus, dass es die Melodien und Stimmen der Toten sind und dass es sich dabei um Erinnerungen handelt. Sie leiten das Ich in einen todesähnlichen Zustand, den Schlummer. In diesem Sinne wäre das Gedicht narrativ, es setzt den Vorgang der Erinnerung in eine erzählerische Chronologie um, welche die Synthese, den Sinn ans Ende setzt. Beim Gedicht handelt es sich allerdings auch um metaphorische Sprache, da das Thema das Gedichts der Tod ist, von dem man nichts Bestimmtes weiß: Der Tod gehört zum Unsagbaren. In dieser Deutung beschreibt der Verlauf des Gedichts die bildhafte, symbolische Umsetzung des Übergangs vom Leben zum Tode, der vorerst nur in einem Vorläufigen endet, dem Schlummer. Die 64 | Arendt, Hannah: Keinen Kaddisch wird man sagen (19.6.1942). In: Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher (Hg. Knott, Marie-Luise), München, 2004, S. 67-68, hier S. 68.

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Melodien und die Stimmen der Toten werden in dieser Interpretation tatsächlich vernommen. Hier wäre das Gedicht eher im Bereich der Zeitlosigkeit anzusiedeln: Das Wir befindet sich nicht wie am Tage im Zustand des alternden, biologischen Selbst, sondern im Bereich der Nichtzeit des denkenden Ichs – das Wir vernimmt die Vergangenheit, als ob sie gegenwärtig wäre; das Traumartige dieser Situation beim Übergang vom Wachen zum Schlaf verstärkt diese Zeitlosigkeit. Diese zwei möglichen Interpretationsweisen geben dem Gedicht Vieldeutigkeit  – es erhält eine geheimnisvolle Dimension. Das Gedicht thematisiert nicht das konkrete Andenken an Benjamin, sondern Benjamin steht für alle Freunde, die gewaltsam verstorben sind: Was passiert, wenn man im Zustand des Andenkens verweilt? Nicht nur Arendt, sondern auch Brecht schrieb für Walter Benjamin verschiedene Andenkengedichte, die Arendt kannte, wie aus ihrem Brecht-Essay zu entnehmen ist. So zitiert sie sein Gedicht Die Verlustliste:65 Brechts außerordentliches Selbstbewusstsein sei nur einmal ins Wanken geraten, und zwar als enge Freunde verstarben – Margarethe Steffin, »die kleine Lehrerin aus der Arbeiterschaft«, Walter Benjamin, »Widersprecher, Vieles wissen«, Karl Koch, »Meister im Disput«.66 Zwei weitere Gedichte Brechts sind dem Tod Benjamins gewidmet: An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte 67 und Zum Freitod des Flüchtlings W.B.68 Sie beschreiben – wie die Titel angeben – Benjamins Verzweiflung und Selbstmord. Im Rahmen der Emigrationsgedichte findet sich jedoch ein anderes Gedicht, das Arendt beeindruckte und aus dem sie möglicherweise das Motiv des Boten in ihrem eigenen Gedicht übernommen hat. Es handelt sich um Die Landschaft des Exils:69 In Arendts Gedicht sind die Toten die Boten, bei Brecht werden Flüchtlinge als »Boten des Unglücks« bezeichnet: »Nichts von all diesen Sentimentalitäten ist zu spüren in Brechts großartiger und großartig präziser Definition des Flüchtlings: ›ein Bote des Unglücks‹. Es war wahrlich nicht nur ihr eigenes Unglück, das die Flüchtlinge von Land zu Land trugen, von Kontinent zu Kontinent, ›öfter die Länder als die Schuhe wechselnd‹, sondern das große Unheil, das die ganze Welt betroffen hatte.« 70 In ihren eigenen Gedichten geht es Arendt um die Allgemeinheit der Erfahrung, um das Andenken an die Emigrationserfahrung selbst, dessen äußerster Punkt der Freitod ist. 65 | Vgl. Brecht, Bertolt: Die Verlustliste. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt  /  M ain, 1981, S. 839. 66 | Vgl. Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier 256. 67 | Vgl. Brecht, Bertolt: An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte. In: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt /  M ain, 1981, S. 828. 68 | Vgl. ebenda, Zum Freitod des Flüchtlings W.B., S. 828 f. 69 | Vgl. ebenda, Die Landschaft des Exils, S. 830 f. 70 | Arendt, Hannah: Bertolt Brecht (1971). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 237-283, hier S. 257.

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1.2.2 »H.B.« / »Überleben« »H.B. Wie aber lebt man mit den Toten? Sag, wo ist der Laut, der ihren Umgang schwichtet, wie die Gebärde, wenn durch sie gerichtet, wir wünschen, dass die Nähe selbst sich uns versagt. Wer weiss die Klage, die sie uns entfernt Und zieht den Schleier vor das leere Blicken? Was hilft, dass wir uns in ihr Fort-Sein schicken, und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt.« 71

Während das Andenkengedicht an Walter Benjamin indirekt noch zur Emigrationslyrik gerechnet werden kann, handelt es sich bei H.B. um ein Gedicht, das den allgemeinen Todesverlust unabhängig vom Flüchtlingsdasein widerspiegelt. Es ist 1951 entstanden. Zu diesem Gedicht steht einer der wenigen persönlichen Einträge in Arendts Denktagebuch: »Broch starb am 30. Mai und wurde am 2. Juni 1951 beerdigt.« 72 Dann folgen drei Gedichte, Die Gedanken kommen zu mir …,73 Komm und wohne 74 das Gedicht zu Broch, H.B., schließlich folgt ein längerer Eintrag über ihr Verhältnis zu ihm: »Seit Brochs Tod: unerwartet für ihn, der die Todesnähe wusste, aber an die Plötzlichkeit des Tot-seins (nicht Sterbens) nicht glaubte, unerwarteter für mich, der er von der Todesnähe gesagt hatte und die es nicht glauben wollte (obwohl ich die Plötzlichkeit des Tot-seins befürchtete) und ihm so das bisschen Freundschaft und Hören und Nähe entzog, auf das er ein Recht hatte, weil er ja doch ein Freund war, obwohl er nichts hätte damit anfangen können.« 75 Die Plötzlichkeit des Todes erschütterte Arendt, das Nicht-mehr-vorhanden-Sein der Person und damit einhergehend das Schuldgefühl, dass vieles, was noch hätte getan oder gesagt werden können, nun nicht mehr möglich war. Sigrid Weigel kommt auf die Entstehung des Gedichts zu sprechen: »Sie gilt dem Versäumnis von Nähe und Freundschaft, denn Hannah Arendt hatte nicht an den nahen Tod des Freundes glauben wollen, mit dem sie seit 1946 ein intensiver Dialog, vor allem über Literatur verband.« 76 Der Verlust machte Arendt deutlich, wie 71 | Arendt, Hannah: H.B. In: Gedichte, S. 52. 72 | Denktagebuch: Heft 4: Mai 1951, Eintrag 11, S. 90. 73 | Vgl. Arendt, Hannah: Die Gedanken kommen zu mir. In: Gedichte, S. 51. 74 | Vgl. den dritten Teil, 2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur«, S. 360. Auch in: Gedichte, S. 49 f. 75 | Denktagebuch: Heft 4: Juni 1951, Eintrag 16, S. 92 f. 76 | Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Denktagebuch In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz-Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2006, S. 125-137, hier S. 128.

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einmalig ein Mensch und wie schwer er in seiner Vielfältigkeit zu fassen ist – erst nach dem Tod hat man eine ungefähre Gewissheit, mit wem man es zu tun hatte, da er den Schlusspunkt, da er jeder weiteren Wandlung ein Ende setzt: »Er – unbewegbar, steinern-verschlossen hinter der Fassade des Wienerischen, Liebenswürdigen, hinter der ewig bewegten Oberfläche einer ausserordentlichen Gabe für Intimität; er – wer einer ist, weiss man doch erst, wenn er tot ist – verzweifelt in den Netzen eines vielfältig verstrickten Lebens hängend, die sich über ihm geschlossen hatten, weil er einen Kardinalfehler gemacht hatte.« 77 Dann folgt ein längerer persönlicher Eintrag zu Broch, aus dem zu schließen ist, dass Broch überlastet war von vielerlei Verantwortungen, die er kraft seiner Imagination in die Wirklichkeit gesponnen hatte – doch das ist für das Verständnis des Gedichts von keinerlei weiterem Interesse. Das Thema des Gedichts kreist um das Überleben. In einem Brief an den Literaturkritiker Alfred Kazin, einen Monat nach Brochs Tod verfasst, bemerkte sie, wie sehr er ihr fehlt – sie fühle noch seine Präsenz: »Ich konnte nicht schreiben, und selbst heute, kann es nur schwer. Brochs Tod bewirkte bei mir einen plötzlichen und tiefen Schock – er gehörte mehr in meine Welt, als ich dies realisierte, während er noch lebte. Ich sah ihn zuletzt zwei Tage vor seinem Tod – in meinem Büro, in welches er gewöhnlich kam, um mich zu einer Tasse Tee bei Child’s abzuholen. Und hier, gerade neben dieser Schreibmaschine steht die Liege, auf welcher er die Angewohnheit hatte zu schlafen etc. Ich kann es nicht fassen, dass er nun für immer tot ist.« 78 Während Benjamins Tod ein gewaltsamer Freitod war, wie auch die gewaltsamen Morde an den Freunden und Verwandten, so handelt es sich hier um die Alterssterblichkeit, die jeden Menschen erwartet: Flucht und Todesbereitschaft implizierten noch die freie Wahl, hier kommt die Unausweichlichkeit des Todes zur Sprache. »Sieh, ich bin einfach verletzt. Erstens, weil einer meiner liebsten Bekannten in diesem Land hinging, sagend ›Ich nehme diese Art der Dinge (er meinte den Tod) so ernst‹ (ist das nicht liebenswert), und zweitens, weil ich beginne zu realisieren, wie viele meiner besten Freunde zwischen 60 und 70 sind, so dass sich mir das Problem des ›Überlebens‹ stellt, welches die einfache Version der ernsteren Frage ist: Wie lebt man mit dem Tod? Es ist offensichtlich, nicht wahr, dass man neue Gefühle, neue Gewohnheiten, alles neu

77 | Denktagebuch: Heft 4: Juni 1951, Eintrag 16, S. 93. 78 | Public Library: Berg Collection: Nachlass: Kazin, Alfred: Arendt an Kazin, June 28, 1951 (Übersetzung A.B.). Originaltext: »I could not write, and even today hardly can. Broch’s death was a sudden and deep shock – He belonged even more into my world than I had realized while he was still alive. I last saw him two days before his death – in my office where he used to come and fetch me for a cup of thea at Child’s. And here, right besides this typewriter is he couch on which he used to sleep etc. I somehow can’t get reconciled to his being dead for ever.«

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braucht.« 79 Einige Monate später machte sie gegenüber Gertrud Jaspers, die ihren Bruder verloren hatte, eine ähnliche Bemerkung über das Überleben. Es gehe darum, mit der Trauer umzugehen und dabei doch ganz lebendig zu bleiben: »Sie haben recht, ich hatte keine Geschwister, aber ich weiß doch, wie viel Kraft man braucht zum Überleben. Nämlich die doppelte Kraft, die Trauer durch- und festzuhalten und doch lebendig zu bleiben.«80 Ziel der Trauerarbeit ist also nicht die Verdrängung, sondern die Integration des Verlustes, wobei der Mensch emotional lebendig bleiben soll.81 Ein Vergleich der Quellen zeigt, dass die erste handschriftliche Fassung des Gedichts im Denktagebuch 82 die Thematik preisgibt: »Überleben« steht im Titel, den Arendt in der maschinenschriftlichen Fassung durch die Initialien Brochs ersetzt hat. Beim Schreiben hat Arendt das Gedicht überarbeitet, so dass in der ersten Strophe die Fragestellung klarer ist: Zuerst hieß es: »Sag, gibt es den Laut …«, dann: »Wo ist der Laut …«. Im Manuskript steht auch ein Fragezeichen am Ende, während in der maschinenschriftlichen Endfassung das Fragezeichen weggelassen wurde: Es geht um unbeantwortbare, rhetorische Fragen, auf die niemand eine Antwort kennt. Die zweite Strophe hat Arendt in der Handschrift zwei Mal untereinander geschrieben, wobei sie die erste Version durchgestrichen hat. Die zweite handschriftliche Fassung entspricht dem Typoskript. Die gestrichene Version enthüllt, dass sie die zweite und die dritte Zeile miteinander ausgetauscht hat: In der gestrichenen Version hieß es: »und hilft, dass wir uns in ihr Fortsein schicken? / Wer hängt der Tränen Schleier vor das leere Blicken«, was in der Endversion zu »Und zieht den Schleier vor das leere Blicken / Was hilft, dass wir uns in ihr Fortsein schicken« wird – diese Änderung scheint sinnvoll zu sein, denn sie verweist auf die Zusammenfassung in der Endzeile: »und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt.«

79 | Ebenda (Übersetzung A.B.). Originaltext: »You see, I am really hurt. First, because, as one of my more lovely acquaintances in this country put it, ›I take this sort of thing (meaning death) so seriously‹ (is not that lovely?) and second because I begin to realize how many of my very best friends are between 60 and 70, i. e. am up against the problem of ›surviving‹, which ist the vulgar version of the more serious question: How does one live with the death? It is obvious, isn’t it, that one needs new feelings, new manners, new everything.« 80 | Jaspers-Briefwechsel:Arendt an Gertrud Jaspers, 1.11.1952, S. 239. 81 | Lühe zieht für dieses Gedicht eine Verbindungslinie zwischen dem Überleben eines toten Menschen und der Unvergänglichkeit des Kunstwerks: »Solches ›Überleben‹ mag mit jener Beständigkeit des Kunstwerks zu tun haben, von der Hannah Arendt in Vita Activa sprechen wird; und auch Hermann Broch gehörte zu den Autoren, in deren Werk sie diese Beständigkeit gewährleistet sah. Damit realisiert das kleine Gedicht als Text, wovon es handelt; es hat zudem einen Kontext, den es selbst gerade ausspart.« Lühe, Irmela von der: Über Hannah Arendts Gedichte, In: Gedichte, S. 108. 82 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 5, S. 28.

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Das Gedicht ist bis ins Detail bewusst gestaltet: vom Reim über die Kadenzen und Verszahl bis zu den Hebungen. Es handelt sich um zwei Strophen mit je vier Versen. In der ersten Strophe bestehen die ersten drei Zeilen aus Blankversen, also fünfhebigen Jamben, die letzte, vierte Zeile ist ein sechshebiger Jambus. Die zweite Strophe ist parallel aufgebaut, zuerst fünfhebige Jamben, dann abschließend ein sechshebiger Jambus. Das Gedicht setzt sich aus einer klaren Frage sowie aus einer abschließenden rhetorischen Frage am Ende der jeweiligen Strophen zusammen. Genauso hatte Arendt das Reimschema im Blick: Für beide Strophen hat sie umschließende Reime verwendet, wobei die erste und vierte sowie die fünfte und achte Zeile männliche Endungen haben und die inneren Zeilen weibliche Endungen. Die äußeren Verse stellen die allgemeinen Fragen, die inneren Verse geben die fragenden Empfindungen wieder, und die männlichen Endungen antworten rhetorisch. Dass das Gedicht nur aus Fragen besteht, weist auf die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Überleben hin. Wie auch in den vorherigen Gedichten tritt das lyrische Ich einem trauernden Wir bei, das sich Fragen stellt: die Pronomen »wie, wo, wie, wer, was«, mit denen die Zeilen eins, zwei, drei, fünf und sieben beginnen. Die Aufzählung, die daraus resultiert, verstärkt die Empfindung der Hilflosigkeit und der Ohnmacht, selbst wenn die Strophen in rhetorischen Fragen enden, die scheinbar Antworten geben. Die erste Strophe fragt danach, wie man mit den Toten weiterleben soll, wie das Paradox der verstorbenen, nicht mehr anwesenden Menschen, die doch gedanklich noch so präsent sind, aufzulösen ist. Im Innenleben sind sie lebendig, ihr äußeres Fehlen bedeutet Schmerz. Die Plötzlichkeit des Todes, die absolute äußere Abwesenheit bewirkt den Schock. Die innere Präsenz der Toten, die aus enger geistiger Verbundenheit stammt, beschreibt Arendt in konkreten Bilder aus dem akustischen – »wo ist der Laut, der ihren Umgang schwichtet« – und aus dem visuellen Erleben – »wie die Gebärde, wenn durch sie gerichtet«. Sie erprobt einen Umgang, indem sie der Erfahrung auszuweichen versucht: »Wir wünschen, dass die Nähe selbst sich uns versagt.« Wie Geister möchte man die Toten verscheuchen, weil die reale Absenz immer wieder zu Bewusstsein kommt und Schmerz vermittelt. Die zweite Strophe ist abstrakter gehalten. Arendt wiederholt die Motive von Ton und Bild: in der ersten Strophe waren es Laut und Gebärde; in der zweiten sind es die damit korrelierenden Emotionen – der Laut ist »Klage«, die Gebärde wird nur durch einen »Schleier des leeren Blickens« gesehen. Das lyrische Ich bzw. Wir beschreibt nun den Vorgang nicht mehr als innerlich wie in der ersten Strophe, sondern von außen: Während die erste Strophe das inwendige Erleben darstellt, das Ich versucht, Distanz zu gewinnen, fragt es sich in der zweiten Strophe, ob es wirklich gut sei, Distanz zu gewinnen: Der Vers »Was hilft, dass wir uns in ihr Fortsein schicken, / und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt« impliziert, dass man die Empfindungen für die verstorbene Person bewahren sollte, denn anderenfalls würde man seelisch leiden. In der Handschrift steht am Ende des Gedichts in aphoristischer Verkürzung ein nachträglicher Kommentar: »Das umge-

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dreht Fühlen ist doch wie der Dolch, den man im Herzen umdreht.« Das weist auf Arendts Verweigerung hin, sich zu distanzieren und zu verdrängen – auch, wenn das Ich oder Wir immer wieder Versuche in diese Richtung unternimmt. Insgesamt scheint Arendt im Alltag Umgang auch mit manchen abwesenden Menschen gehabt zu haben; es scheint selbstverständlich zu sein, dass geistig nahestehende Personen in ihr weiterlebten. Das erklärt ihre Treue zu vielen Freunden: Die Freundschaftsbeweise gegenüber Broch und Benjamin, die sich in den nachgelassenen Publikationen ihrer Werke zeigen, die Nachrufe auf Freunde wie Auden, Benjamin, Gurian, Jarrell, die in ihren Schriften wieder ganz lebendig werden; selbst der sporadische Kontakt mit Heidegger über Jahrzehnte, als Arendt immer wieder nach langen Phasen der Trennung Diskussionsthemen aufnimmt – das alles zeugt von ihrer inneren Verbundenheit und ihrem Willen, dem Tod nicht die Herrschaft über das Leben zu überlassen. Arendts Denktagebuch enthält manche Hinweise zur Problematik des Überlebens. Auch hier hält sie fest, dass die Toten für sie weiterexistieren: »Im Tod stellt sich heraus, ob wir lebend gewesen sind: nur dann können wir auch tot sein. Totsein heisst: in der Welt bleiben ohne Leben, also unabhängig von den irdischen Bedingungen, unter denen uns ursprünglich Existenz überhaupt gegeben ist.« 83 Auf der einen Seite bestehen Menschen im Andenken weiter, auf der anderen Seite bedeutet der Tod eines Menschen auch den Untergang einer ganzen Welt, seiner Welt. So rezipiert sie Montaigne: »›Comme notre naissance nous apporta la naissance de toutes choses, aussi fera la mort de toutes choses, notre mort.‹ (S. 117) Mit jeder Geburt beginnt eine Welt, mit jedem Tod stirbt eine Welt. ›Rien ne peut être grief, qui n’est qu’une fois.‹ Und möchte man hinzusetzen, nichts geschieht nur einmal, was wir erinnern können. Anästhesie entfernt nicht den Schmerz, sondern die mögliche Erinnerung an ihn: Vor nichts können wir Angst haben, wenn wir wüssten, dass wir es keinen Moment länger ›wissen‹ könnten, als es dauert. (S. 117)«84 Die Schmerzen des Überlebens bestehen also zuallererst in der Erinnerung der Schmerzen über das Verschwinden der geliebten Person. Das Gedicht H.B. behandelt das Thema des Andenkens selbst. Soll man die Toten verdrängen oder aber mit ihnen geistig weiterleben? Die Antwort gibt die Schlusszeile: Sie spricht sich für ein Denken an die Personen aus, auch wenn das Bewusstsein über die Abwesenheit einen gewissen Schmerz mitbringt – dieser ist nichts im Vergleich zum Schmerz des umgedrehten Fühlens, wenn man zu vergessen trachtet. Insgesamt ist das Gedicht kommunikativ gehalten, alle Bilder beruhen auf realen Erfahrungen und sind nicht metaphorisch auf einer zweiten

83 | Denktagebuch: Heft 21: Eintrag 74, Januar 1956, S. 553. 84 | Denktagebuch: Heft 15, Eintrag 12, April 1953, S. 353. Die Montaigne-Zitate lauten: »Wie unsere Geburt uns die Geburt aller Dinge vermittelt, so bewirkt der Tod aller Dinge unseren Tod.« Und: »Nichts kann eine Beschwerde sein, die es nur einmal gibt.« (Übersetzung A.B.).

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Ebene angesiedelt. Die Dichterin will gemeinsame Erlebnisse mit anderen Überlebenden teilen und mitteilen.

1.2.3 »B’s Grab« »B’s Grab Auf dem Hügel unter dem Baum zwischen sinkender Sonne und steigendem Mond Hängt Dein Grab, Schwingt sich ein in das Totsein, in das Sinken der Sonne, in das Steigen des Monds. Unter dem Himmel, über der Erde vom Himmel herab, zum Himmel hinan Ruht Dein Grab.« 85

Das Gedicht ist Hermann Broch gewidmet, wie man der Handschrift 86 entnehmen kann. Die maschinenschriftliche Fassung dagegen weist auf ein Allgemeines hin, da es wie das Gedicht auf Benjamin und das erste auf Broch nur die Initialen angibt. Es ist auf den 1. November 1952 datiert, also ein Jahr nach H.B. entstanden. Während das Überleben-Gedicht noch den Schock über den plötzlichen Verlust ausdrückt, hat sich das lyrische Ich mit dem Tod abgefunden. Das Bild des Grabes, das sich in die Natur einfügt, weist auf Versöhnung mit dem Bestehenden hin, das Du, mit dem Arendt Broch direkt anspricht, auf ein inneres Weiterleben seiner Person in ihr. In der handschriftlichen ersten Fassung benutzt Arendt ambivalentere Formulierungen: Die Schlusszeile lautete nicht »ruht Dein Grab« sondern »schweigt Dein Grab«, bevor Arendt dies im Typoskript änderte. Diese kleine Änderung gibt dem Gedicht eine ganz andere Wendung: Statt um das Fehlen der Person, das Schweigen aufgrund des Todes, geht es nun darum, dass die Person in etwas Größerem bestehen bleibt, in etwas Universalem ruht, wie zu zeigen sein wird. Auch die Aufteilung des Gedichts in drei Strophen mit je drei Zeilen weist auf eine flüssigere Wahrnehmung hin. In der Handschrift sind die Strophen noch nicht so klar gegliedert: die erste Strophe ist unverändert, doch die letzten beiden waren zu einem Achtzeiler verbunden. Durch die Auflockerung in zwei Strophen zu je drei Zeilen im Typoskript erscheint nun die Wahrnehmung des Grabes harmonischer, das wie in einem Luftbett zwischen Himmel und Erde liegt. 85 | Arendt, Hannah: B.s Grab. In: Gedichte, S. 60. 86 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 11, S. 36.

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Das »Schweigen« der ersten Fassung, das Hannah Arendt in »Ruhen« geändert hat, geht auf ein Gespräch über den Tod mit Hermann Broch zurück, das sie einige Jahre zuvor, im August 1948, mit ihm geführt hat: Anlass war das Verscheiden ihrer Mutter. Leider ist ihr Brief nicht erhalten, aber es gibt seine Antwort: »Das Literarische der Reaktion auf Ihren Schmerz hat mich zögern gemacht: dieses endgültige Abschneiden der physisch-seelischen Verbindung mit dem Einst packt einen in Schichten, von denen es eigentlich bloß Schweigen gibt.«87 Dennoch versuchte er Worte dafür zu finden, denn er schickt ihr ein Gedicht zu, in dem er versucht, das Unsagbare des Todes wiederzugeben. Er sollte den Text später in die Schuldlosen einarbeiten, im Kapitel, das bezeichnenderweise »Stimmen 1933« lautet. Er widmet Arendt den Text mit folgenden Worten: »Und es schaut auch nur literarisch aus, wenn ich Ihnen das Gedicht […] nun doch schicke, denn es wurde nicht eigens für Sie erzeugt: […] Aber das Sonderbare ist, dass es das letzte Stück ist, das ich (dem damit noch lange nicht abgeschlossenen) Gedicht angefügt hatte, u.z. vorige Woche, also noch ehe ich von dem Ableben ihrer Mutter wusste. Vielleicht war es gerade an dem Tag, an dem Sie die Nachricht empfingen. Und wenn wir auch aufs Telepathische nichts geben, so gehört halt das Stück doch zu Ihnen.« 88 Aus diesem Gedicht übernimmt Arendt einige Jahre später in B.s Grab verschiedene Motive. Doch zuerst Brochs Text: »Der Schnitt im Irdischen – nochmals. Steil fällt das Ufer zum Meer, zerschnitten sind die Landschaften, und über den Horizonten draußen liegt der Nebel der Verwandlung. Denn zum Maß des Menschen sind die Dinge geworden, und Das Gestern entflieht eh’ noch die Barke des Todes Es aufnimmt – Gehe zum Hafen; allabendlich warten die Barken, unsichtbar freilich, die Flotte des Menschlichen ausfahrend ins östlich Unbekannte der Nacht. Gestern war’s noch deine Mutter, gestern war’s noch was dich hielt, heute ist es nicht mehr Heimat, heute ist das Ziel verzielt. Du aber schaue in das Unsichtbare, in dem Die Dinge sich auflösen und vor dem Hand-Werk vergehen machtlos am Ende der Macht. Hier reicht es hinüber. Nochmals – gehe zum Rande, gehe zur Schneide, doch wird es Abend steige zum Hafen hinab, zur Pause zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, und schaue hinüber dorthin, wo das Gestern eintreffen und zum Morgen werden wird eh’ es noch eingetroffen ist.« 89 87 | Broch-Briefwechsel: Brief 29: Broch an Arendt, Princeton Hospital, 5.8.1948, S. 71. 88 | Ebenda, S. 71. 89 | Ebenda, S. 72 f.

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Das Gedicht enthält die Aufforderung, sich an die Grenze des Todes zu begeben, die sich in einem eigentümlichen Schwebezustand befindet: »der Schnitt im Irdischen«, »das Unsichtbare, in dem die Dinge sich auflösen«, »die Pause zwischen dem Unsichtbaren und Sichtbaren« beschreibt den gleichen Bereich, den Arendt in ihrer Wahrnehmung von Brochs Grab dichterisch wiederzugeben versucht. Sein Gedicht wendet sich an ein »Du« und ist, wie der Widmung zu entnehmen ist, an Arendt gerichtet, die geblieben ist und den Tod ihrer Mutter betrauert: Er fordert sie auf, diesen Weg der Trauer zu gehen, dargestellt im Bild des Hafens, in dem Barken liegen, die ins Unbekannte des Todes führen. Der Besuch seines Grabes einige Jahre später und ihr Gedicht sind wie eine Antwort auf diesen frühen Text. Die Motive zu Brochs Gedicht entsprechen sich: das Schweben des Grabes zwischen Himmel und Erde bei ihr verweist auf die Auflösung der Landschaften in seinem Gedicht; das Einschwingen des Grabes zu einer Tageszeit des Übergangs – »dem Sinken der Sonne, dem Steigen des Mondes«, also der Abenddämmerung – entspricht seiner Aufforderung »zur Schneide«, »zum Rand«, »zum Hafen«, »zum Abend« zu gehen. Sie verrichtet Trauer- und Abschiedsarbeit, genau die Auseinandersetzung mit dem Tod, zu der er sie einige Jahre zuvor aufgefordert hat – nunmehr nicht auf den Tod ihrer Mutter, sondern auf seinen, auf Brochs Tod bezogen. Dennoch sollte Arendt Distanz zu Brochs Gedicht wahren: Während bei Broch Verzweiflung über das Ausgeliefertsein an den Tod mitschwingt – »machtlos am Ende der Macht« –, erscheint in Arendts Gedicht »die Ruhe« als versöhnender Punkt. Einige Monate nach Erhalt seines Gedichts schickte sie ihm folgende Bemerkung über ihre Divergenzen zu: »Sie sagen: Wenn es keinen Tod gäbe, gäbe es keine Furcht auf Erden. Ich weiß, aber ich habe den ketzerischen Gedanken, dass, wenn es keinen Tod gäbe, die Furcht auf Erden unerträglich wäre. Es gäbe keine Relativierungsmöglichkeiten. Wir wären dann, ohne doch die Herren der Dinge zu sein, sozusagen mit dem Ding an sich konfrontiert.«90 Arendts Gedicht B.s Grab folgt hier nicht den klassischen Kriterien von Versmaß und Reim (es ist reimlos, ohne Metrum), sondern es ist moderner gestaltet. Das Stimmungsbild prägen rhythmische Motivwiederholungen: »sinkende Son90 | Ebenda, Brief 36: Arendt an Broch, 20.2.1949, S. 95. | In ihrem Essay über Hermann Broch kommt Arendt bereits darauf zu sprechen. Für Broch bedeutet der Tod das absolut Unerträglichste. Nach Arendts Analyse totalitärer Herrschaftsformen ist nicht der Tod, sondern der Schmerz das Unerträglichste: »Denn wir wissen heute, dass Mord bei weitem nicht das Schlimmste ist, was der Mensch dem Menschen antun kann, und dass andererseits der Tod keineswegs das ist, was der Mensch am meisten fürchtet […] dass neben den Tod der unerträgliche Schmerz tritt, der unerträgliche Schmerz wäre dem Menschen überhaupt untragbar, wenn es keinen Tod gäbe. […] Es wäre angesichts unserer Erfahrung vielleicht an der Zeit, die philosophische Dignität der Schmerzerfahrung zu entdecken.« Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-165, hier S. 140.

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ne« und »steigender Mond« zwei mal in der ersten und zweiten Strophe; »unter, vom, zum Himmel«, also drei mal in der dritten Strophe; »hängt und ruht« Dein »Grab« in der ersten und letzten Strophe. Die längeren Zeilen teilen mehr mit und werden schneller gesprochen. Die kürzeren, das sind die letzten Zeilen der ersten und dritten Strophe bekommen über das zentrale Motiv des Grabes Schwere, sie werden langsamer und betonter gesprochen. Nach jeder Strophe gibt es eine Pause, die den zeitlichen Ablauf der Dämmerung verstärkt. Das Gedicht zeigt ein Bild in der Totalen, das sich über drei Strophen hin dem Zeitablauf des Sonnenuntergangs entsprechend verändert. Die erste Strophe stellt die Ausgangssituation dar: Das Grab wird aus der Entfernung wahrgenommen, es liegt auf einem Hügel unter einem Baum. Durch das simultane Sinken der Sonne und Steigen des Mondes löst sich das Bild des Grabes auf: Das ungenannte lyrische Ich sieht das Grab, das in den Himmel gezogen wird. In Arendts Denktagebuch gibt es einen Hinweis über Sein und Seiendes, der auf die Wahrnehmung des Grabes im Gedicht möglicherweise angewendet werden kann: »Das Sein als das, was nicht erscheint, aber sich im Seienden manifestiert: Wie der Wald, der sich in dem Zusammen der einzelnen Bäume manifestiert, wenn man außerhalb seiner steht oder inmitten des Waldes über die Bäume gleichsam hinweg sieht. Was erscheint, ist in der Nähe, was sich manifestiert in der Ferne.«91 In diesem Sinne könnte man Brochs Seele als Sein auffassen, das nicht direkt erscheint, sich aber in der Entfernung als Seiendes im Bild des Grabes manifestiert. Das Bild des Grabes drückt Brochs Tot-Sein aus, sein Sein besteht weiter in der Bewegung des Grabes, das in den Himmel getragen wird, das schwebt. Die zweite Strophe bestätigt diese Vermutung: Das Grab »schwingt sich ein in das Totsein« – durch die Bewegung dieser Schwingung wie auch durch die Wiederholung: »in das Sinken der Sonne, / in das Steigen des Mondes« ist der Tod zu etwas Lebendigem geworden, das ins Universum deutet. Die Himmelskörper Sonne und Mond, die beständiger sind als Leben und Tod, nehmen das Grab an sich, bewahren es. Die dritte Strophe greift die zweite Strophe auf, indem das Bild des Grabes nun in einen noch umfassenderen Kontext als Sonne und Mond gesetzt wird: »unter dem Himmel« weist auf die Sonne hin, die untergeht, »über der Erde« auf den Mond, der aufgeht. Im immer bestehenden Himmel – der auf das Universum hindeutet – herrscht Ruhe, das Grab hat seinen Ort gefunden – »vom Himmel herab« und »zum Himmel hinan«. Nachdem die Sonne untergangen ist, herrscht nun, am Abend, Friede unter dem Mond. Die scheinbare Opposition, auf der das Gedicht beruht, sowie die Bewegung sind zu ihrem Ende gekommen. Ein Eintrag im Denktagebuch erläutert das Gedicht unter dem Überbegriff des Bestehenden. Die Notiz hat Arendt etwa anderthalb Jahre vor dem Gedicht, einen Monat nach Brochs Tod abgefasst, so dass man den Gedanken als den Beginn ihrer Trauerarbeit interpretieren kann, die zu diesem versöhnlichen Ende führt: »Es ist 91 | Denktagebuch: Heft 26: September 1969, Eintrag 50, S. 739.

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eine eigentümliche Gestuftheit in allem, was ist. Jedes Seiende wird und vergeht, geht auf und geht unter, erscheint und verschwindet. Das, worin es erscheint und aus dem es verschwindet, ist zwar auch durch Auf- und Untergang bestimmt, ist aber jeweils ein wenig stabiler, so dass es für das weniger Stabile oder kürzer Befristete eine ›Welt‹ darstellt. So überlebt die lebende Natur den Menschen […] so überlebt der Stein den Baum, so überlebt das Gebirge den Stein, die Sonne wahrscheinlich die Erde und das Universum unser Sonnensystem. Die Tatsache, dass jeglicher Auf- und Untergang sich gleichsam im Rahmen eines Bleibenderen vollzieht, scheint zu indizieren, dass Sein eigentlich Bleiben meint, es hier zum Bleiben, aber immer nur unvollständig, immer nur in Relation zu einem Schwindenden bringt.«92 Das im Himmel ruhende Grab deutet auf seinen Bestand im Universum hin; das Du, dessen Ort durch das Grab symbolisiert wird und das vom lyrischen Ich angesprochen wird, existiert weiter im lyrischen Ich, das vorläufig bestehen bleibt. Diese inneren Gespräche mit einem abwesenden Du gehören in den Bereich des Andenkens  – solange sich jemand an einen Toten erinnert, besteht dieser fort. Das Gedächtnis spielt dabei eine fundamentale Rolle: »Die eigentliche Auszeichnung des Menschengeschlechts vor allen anderen Geschlechtern des Seienden, den Geschlechtern des Organischen wie des Anorganischen, scheint zu sein, dass das Geschlecht der Menschen im Gedächtnis als Anlage jedes Menschen, desjenigen wenigstens, das innerhalb des Werdens und Verschwindens eines Menschen, innerhalb seines Lebens auf- und untergeht, eine Bleibe sichern kann.«93 Ausdrucksort ist die Sprache, ohne diese gibt es kein Gedächtnis; so ist es naheliegend, dass Arendt ihr Andenken an Broch durch Lyrik wiedergibt: »Das Gedächtnis oder dieses Bleiben aber bliebe ganz imaginär ohne die Sprache, die das Gedächtnis an Verschwundenes realisieren kann. Dadurch wird auf einmal das ganze Menschengeschlecht, solange es überhaupt existiert, zum Bleibendsten, das wir kennen, gleichsam der Hort des Seins, in das sich alles andere retten kann.«94 Das bedeutet, dass das Grab durch seine Position im immer bestehenden Himmel oder Universum Dauerhaftigkeit erhält, was nur möglich wird im Andenken durch Sprache. Fünf Jahre später macht sich Hannah Arendt nochmals systematisch Gedanken über die Stellung des Menschen im Universum. Sie notiert in ihr Denktagebuch: »Alles Leben, auch das menschliche, ist an die Erde gebunden, nirgend sonst im Universum scheint es Leben zu geben. Aber unser Wesen ist universal, das hat die Naturwissenschaft bewiesen: Wir können, obwohl natürlicherweise nicht dafür ausgestattet, das Universum ›schauen‹.«95 Und einige Einträge später wird Arendt noch expliziter, als sie schreibt: »Dass wir das Universum erkennen kön92 | Denktagebuch: Heft 5: Juli 1951, Eintrag 3, S. 103. 93 | Ebenda, S. 104. 94 | Ebenda, S. 104. 95 | Denktagebuch: Heft 21: Januar 1956, Eintrag 74, S. 553.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

nen, scheint zu indizieren, dass wir ›universale Wesen‹ sind, denen aber sich das Universum nur unter den Bedingungen, in der Perspektive des irdischen Lebens zeigt. Dies ist das Paradox der Naturwissenschaften seit Galilei.«96 Die Tatsache, dass der Mensch eine universale Dimension besitzt, da er denken und sprechen, sich erinnern kann, eröffnet die Möglichkeit, dass etwas nach dem Tode folgt. Das Gedicht ist eine Hommage an Brochs Kosmologie, die er in seinen Romanen anhand von Bewusstseinsströmen der Figuren wiederzugeben versucht. Bereits in Die Schlafwandler beschreibt er in der Episode über den Landwehrmann dessen Wiederauferstehung zum Leben, nachdem er in einem halbtoten Zustand verweilt hat.97 Der Tod des Vergil stellt den Sterbeprozess des Dichters dar. Motive des Gedichts aus Die Schuldlosen tauchen auf, der Hafen und besonders der Strom, der den Toten wieder zurück ins lebendige Universum führt, das des Lebens Ursprung bei der Geburt war. Broch versucht, für das Unsagbare eine Sprache zu finden, dem Wort Gottes jenseits der Sprache: »Das wiederholende Insistieren auf dem Wort selbst, auf Leben und Tod, Zeit und Raum, Liebe und Hilfe, Einsamkeit und Freundschaft, all dies sind nur die spekulierenden Versuche, zu dem einen Wort vorzudringen, in dem alles, das All und der Mensch und sein Leben, von jeher ›aufgelöst und aufgehoben‹, ›enthalten und auf bewahrt‹, ›vernichtet und neuerschaffen für ewig‹ ist, das Wort Gottes ›jenseits der Sprache‹.«98 Während Broch allerdings rein metaphorische Bilder wie den Hafen entwickelt, hält sich Arendt an das reale Bild des Grabes, das sie allerdings in Brochs Sinne lebendig-schwingend, schwebend, ins Universum deutend, darstellt. Damit hat sie eine Mittelposition zwischen einer Hommage an seine Mischung aus platonischer Naturoffenbarung und christlichem Gottesglauben99 einerseits und ihrer eigenen transzendentalen Vorstellung andererseits gefunden, die auf die intentionale Perspektive des Einzelnen begrenzt bleibt. Hannah Arendts Gedicht gibt die Wahrhaftigkeit des Erlebens während ihres Friedhofsbesuchs wieder. Die Antwort auf die transzendentale Frage, ob es nach dem Tod ein Weiterbestehen gibt, bleibt offen  – aber das lebendige Einschwingen des Grabes in den Himmel weist auf eine solche Möglichkeit hin. Arendt hält sich an die Grenze des Wissbaren im Bild des Grabes. Sie spekuliert nicht, son96 | Denktagebuch: Heft 21: Januar 1956, Eintrag 77, S. 555. 97 | Vgl. Arendt, Hannah: Hermann Broch und der moderne Roman (1949). In: BrochBriefwechsel, Frankfurt /  M ain, 1996, S. 175-184, hier S. 180. 98 | Ebenda, S. 182 f. 99 | Vgl. Arendts Aussagen über Brochs christlichen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele: »Woran Broch […] festhält, ist die frühe, im Grunde christliche Überzeugung, dass der Tod und die Vergänglichkeit der Welt, die Unsterblichkeit und die Ewigkeit aber im Ich verankert sind, dass also das uns sterbliche Leben in Wahrheit unsterblich und die uns ewig scheinende Welt in Wahrheit dem Tode verfallen ist.« Arendt, Hannah: Hermann Broch (1955). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 125-165, hier S. 155.

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dern bleibt bei der Wahrnehmung des lyrischen Ichs, das sich an ein Du wendet. Arendts Narrationstheorie kommt hier zum Ausdruck: Durch Sprache ist Andenken möglich, so dass die Erinnerung an die verstorbene Person weiterlebt. Das Gedicht ist nach Arendts Einteilung der Sprache sowohl als Kommunikation wie auch als Metapher lesbar. Auf der einen Seite ist es kommunikativ, denn es geht um das subjektive Erleben während eines Friedhofsbesuches, das Einschwingen des Grabes in den Himmel kann auch eine reale visuelle Wahrnehmung sein, die durch den Sonnenuntergang erzeugt wird. Auf der anderen Seite ist das Gedicht metaphorisch, denn Arendt geht darüber hinaus und integriert zum Schluss das Grab lebendig-organisch in den Himmel, was auf Metaphysik hinweist, die das Unsagbare wiedergibt. Durch die Simultaneität von Sonne und Mond schließlich wird ein atemporeller Raum geschaffen, der weder im Gestern noch im Morgen liegt. Das kann auf eine Ewigkeit, ein Leben nach Brochs Tod hindeuten, aber eher noch auf den Denkprozess des lyrischen Ichs, denn Dichtung wird ja nach Arendt auf dem Pfad der Nichtzeit geboren: Nur so kann Nichtirdisches, Metaphysisches wiedergegeben werden. Für Arendt gibt es nach dem Schmerz des Verlustes Versöhnung – der Tod findet seinen Platz in einem lebendigen Universum.

1.2.4 »Erich Neumanns Tod« »Erich Neumanns Tod Was von Dir blieb? Nicht mehr als eine Hand, nicht mehr als Deiner Finger bebende Gespanntheit, wenn sie ergriffen und zum Gruss sich schlossen. Denn dieser Griff verblieb als Spur in meiner Hand, die nicht vergass, die wie Du warst noch spürte, als Dir längst Dein Mund und Deine Augen sich versagten.«100

Erich Neumann war ein entfernter Bekannter Hannah Arendts, wie Sigrid Weigel berichtet: »Dem im fernen Tel-Aviv verstorbenen, auch sonst entfernteren Studienfreund Neumann ist ein Gedicht des Andenkens gewidmet, das eine seiner Gesten festhält, mit denen er sich in die Erinnerung eingeschrieben hat.«101 Arendt reduziert das Gedicht nicht auf Initialen wie in den Gedichten über Benjamin und Broch. Es hat weniger übergreifende Bedeutung und verweist konkret auf Neumanns Individualität. 100 | Arendt, Hannah: Erich Neumanns Tod. In: Gedichte, S. 84. 101 | Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Denktagebuch In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz-Ludwig) Bd. 166 /  167, München, 2006, S. 125-137, hier S. 127.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Es handelt sich um das vorletzte Gedicht Hannah Arendts und ist auf den 30. November 1960 datiert. Da sie ihre Lyrik seit 1954 nicht mehr mit der Schreibmaschine übertragen hat, gibt es davon nur eine handschriftliche Fassung in ihrem Denktagebuch. Darin sind keine Korrekturen enthalten, so dass man daraus schließen kann, dass sie es innerlich einige Zeit mit sich getragen hatte, bevor sie es niedergeschrieben hat. Ähnlich wie in H.B. verspürt Arendt noch die Gegenwart des Toten, wobei diese Präsenz diesmal nicht durch Ton (»Laut«) und Bild (»Gebärde«) wiedergegeben wird, sondern durch eine taktile Wahrnehmung: Sie empfindet Neumanns Hand in ihrer nach. Das Gedicht ist nüchterner und distanzierter als Überleben, das noch ganz der Trauer und dem Schmerz gewidmet war. Hier steht nur eine kurze Frage zu Beginn – »Was von Dir blieb?« –, keine sich wiederholenden, intensiven Fragen wie nach Brochs Tod. Auf diese Einleitung folgt in der ersten Strophe das Bild des Grußes, der sich ihr besonders eingeprägt hat: zuerst die Hand – »Nicht mehr als eine Hand« –, dann konkret die Finger und die Empfindung, die sie dabei hatte – »nicht mehr als Deiner Finger bebende Gespanntheit« –, und schließlich die Bedeutung, die freundschaftliche Geste des Begrüßens – »wenn sie ergriffen und zum Gruss sich schlossen.« Die zweite Strophe ist direkt erklärend: Während er verstarb  – »als Dir längst / Dein Mund und Deine Augen sich versagten« –, verbleibt nur die Erinnerung an diesen Gruß, die sie wiederholend wieder aufnimmt: Die Hand Neumanns bleibt als Spur, ihre Hand vergisst seine Hand nicht. Sie spricht zwar Mund und Augen Neumanns im Sterbeprozess an, doch scheint sie diese nur sekundär wahrzunehmen. Wesentlich ist die taktile Erinnerung. Hand, Augen, Mund erscheinen als fragmentierte Erinnerungen an die Person. Das lyrische Ich spricht Neumann direkt an – wie in B.s Grab, als sie sich im Bild des Grabes symbolisch an Broch wendet – zeigt, dass der Verstorbene in ihr weiterlebt. Damit ist das Gedicht direktes und individuelles Andenken an die Person Neumanns. Arendt stellt die Erinnerungsspur nur immanent dar – auf ein Transzendentes wie in den Andenkengedichten an Benjamin oder Broch wird nicht verwiesen. Die ganz konkrete Erinnerung an ihren ehemaligen Studienfreund deutet darauf hin, wie wichtig ihr seine individuelle Erscheinung als Person ist. Das Gedicht setzt sich mit dem Phänomen der Erscheinung auseinander, die von Mensch zu Mensch radikal individuell ist. Gerade der Tod bringt die Einzigartigkeit jedes Menschen zu Bewusstsein; das Verschwinden dieser Einzigartigkeit bleibt für die Hinterlassenen unbegreiflich. Arendt hält in ihrem Denktagebuch bereits 1954 eine Beobachtung fest, die zwar auch auf das Gedicht Überleben, aber noch besser auf Erich Neumanns Tod passt: »Über die Unbegreiflichkeit des Todes: Unser eigener Tod ist uns nur so lange unbegreiflich, als wir ihn unter der allgemeinen Maxime: Alle Menschen müssen sterben, vorstellen. In uns selbst meldet sich der Tod immer schon als eine Grunderfahrung des Körpergefühls an. Schon ein schlechter Zahn ist Beweis genug, dass wir im Leben nicht nur leben, sondern auch sterben. Ganz anders steht es mit dem Tod von Anderen, der

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immer unbegreiflich bleibt, schon weil wir ja deren körperliche Lebens- und Sterbeerfahrung nicht teilen. Jeder solche Tod ist, als ob zum Beispiel es nur eine Mücke in der ganzen Welt gäbe und die sei nun zum Tode verurteilt. Jeder Mensch in seiner Eigentümlichkeit ist ein solches nie wiederkehrendes Exemplar.«102 Die Besonderheit einer Person wird einem also erst ganz bewusst, wenn sie verstorben ist. Arendt stellt in ihrem Gedicht über Ernst Neumann seine Besonderheit durch seine eigene Art des Grüßens dar – die »bebende Gespanntheit der Finger« –, die auf einen intensiven Charakter hinweist. In diesem einzigen Bild, dieser einzigen Situation über ein ganzes Gedicht hinweg, fasst sie seine sterbliche Individualität zusammen. Diese Individualität ist zuerst etwas Inneres, das sich dann in etwas Äußerem manifestiert. Ihr Spätwerk Vom Leben des Geistes wird auch die Thematik der Erscheinungen behandeln. Erste Gedanken, Vorarbeiten dazu finden sich in ihrem Denktagebuch. Gerade ein Gedicht kann bestimmte individuelle Erscheinungen repräsentieren und scheint die beste Möglichkeit zu sein, das Einzigartige einer Person wiederzugeben: »Innen als der Ort des Funktionierens ist um das Außen, um der Erscheinung willen da, nicht umgekehrt. Wir alle empfinden Liebe, aber nicht ein Liebesgedicht ist wie das andere. Erst wenn das Denken, das Funktionieren der ›Seele‹, die Liebe in der Erscheinung bringt, ist sie individuell und schön.«103 Die Wahrnehmung einer bestimmten Geste, an die sich Arendt erinnert, ist Zeugnis für die Wahrhaftigkeit ihres Erlebens. Ein weiteres Zeugnis ist der Grundton des Unbegreiflichen: Wenn diese Erinnerung so lebhaft in ihr weiterlebt, dass sie die Geste noch taktil verspürt, wie kann dann die Person verstorben sein? Das Unbegreifliche des Todes kommt in diesem Gedicht durch die Auswahl eines konkreten Bildes, der Momentaufnahme der Geste, im Grunde ebenso zum Ausdruck wie in Überleben. Die Sympathie, die Arendt für die Person Neumanns empfand, spielt dabei eine zentrale Rolle. Das Gedicht ist nach Arendts Sprachmodell kommunikativ, nicht metaphorisch zu verstehen: Es werden keine Bilder für das Unsagbare des Todes gefunden, sondern der Tod, der ins Alltagsleben bricht, wird als solcher direkt dargestellt.

Z usammenfassung : A ndenken durch L yrik Auf Arendts Gedichte kann man ihr eigenes Kriterium der Wahrhaftigkeit in transzendenten wie in kommunikativen, ethischen Fragen anwenden. Um Transzendenz geht es in dem Gedicht über Benjamin wie auch in B.s Grab. Als Arendt Anfang der dreißiger Jahre ihren Essay über Rilkes Duineser Elegien verfasst, erwähnt sie die dort beschriebenen Engel. In ihrem Gedicht über Benjamin treten gleichsam versteckt Engel auf: die Toten, die als Boten vorgeschickt werden 102 | Denktagebuch: Heft 20: September 1954, Eintrag 36, S. 497 f. 103 | Denktagebuch: Heft 25: Januar 1967, Eintrag 16, S. 646.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

und die sich akustisch bei den Lebenden manifestieren. Auch Benjamins Engel der Geschichte kann herangezogen werden. Es ist möglich, dass Arendt Benjamin mit diesem Boten aus dem Jenseits gleichsetzt, diesem Engel, der in der Vergangenheit nur Trümmerhaufen erblickt  – eine indirekte Hommage an die Gedankenwelt ihres verstorbenen Freundes. Vielleicht geht diese Gleichsetzung zu weit, aber Arendt schätzte Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte. Das Gedicht über Brochs Grab ist, wie bereits dargestellt, eine Hommage an seine Kosmologie, das Eingehen ins All nach dem Tode. Auch hier gibt es indirekte Hinweise auf ein Werk des Gemeinten, und zwar auf den Tod des Vergil. In beiden Fällen spielt Arendt also auf das transzendente Denken ihrer verstorbenen Freunde an, hält aber gleichzeitig an ihren eigenen Überzeugungen fest: Vielleicht gibt es Göttliches; wenn ja, dann kann darüber nur begrenzt aus der Perspektive des Einzelnen geschrieben werden, aus einem transzendenten Gefühl heraus und nicht in einem objektiven Diskurs. Die Gedichte bleiben den Phänomenen verhaftet: Sie zeigen das Erleben intentional und bleiben dadurch wahrhaftig. Kommunikation, Mitteilbarkeit im Jaspers’schen Sinne ist Grundlage der Emigrationsgedichte, diese bilden einen abgeschlossenen Zyklus: Die Wahrhaftigkeit der Erfahrung ergibt sich durch die Darstellung der Flucht aus Deutschland, des intellektuellen Umgangs (Tradition) und der seelischen Verarbeitung (Freitode) sowie der Rückkehr nach Deutschland. In allen Emigrationsgedichten spricht ein lyrisches Wir und nicht ein einzelnes Ich, womit Arendt auf Allgemeingültigkeit verweist, die sie mit anderen Emigranten teilt. Gut und Böse sind klar definiert. Wie aber dem Bösen differenziert begegnen, ohne der Rache anheimzufallen? Arendts Lösung liegt einerseits in der Darstellung von paradoxen Empfindungen, deren Schlussfolgerung aber andererseits eindeutig ist: In Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet gibt es zwar Erinnerung, aber kein Heimweh; in Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind wird die Tradition der Antike beschworen, sie existiert noch im Bild des Wagens, aber sie schweigt; W.B. schließlich arbeitet mit dem Paradox des Schuldgefühls, überlebt zu haben, findet seine Lösung jedoch in der Annäherung an den eigenen Tod durch den Schlaf. Dies war der Abschied und Flüsse ohne Brücke arbeiten ohne Widersprüche – ihre Aussagen über das Flüchtlingsdasein und die Rückkehr nach Ende des Krieges sind eindeutig: Sie stellen nüchtern dar, was es tatsächlich bedeutet, zu fliehen wie auch zurückzukehren, und üben Kritik am Gegner, indem Tatsachen beschrieben werden und Vorwürfe ausgespart bleiben. Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet, Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind, Dies war der Abschied, Flüsse ohne Brücke, aber auch H.B. und Erich Neumanns Tod entsprechen Arents Auslegung von Jaspers’ Kommunikationsbegriff. Sie zeigen das lyrische Ich in Grenzsituationen existentieller Betroffenheit wie bei der Flucht aus einem gewalttätigen Land, Gedanken an den Freitod, bei der Rückkehr in das zerstörte Land oder im Falle des Todes anderer. Die Sprache ist vernunftbetont an die Mitmenschen gerichtet, wenn diese nicht sogar in der Perspektive des Wir miteinbezogen werden. Arendt unternimmt in diesen Gedich-

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ten, was Jaspers als »Existenzerhellung« bezeichnet. Das Wahrnehmungsorgan, das hier vorrangig angesprochen wird, ist der Sehsinn, der Garant für Wahrheit in der immanenten Welt. Das Sprachmodell der Metapher drückt nach Arendt das Unsagbare aus, das, wofür es keine konventionellen Begriffe gibt: innere Empfindungen und transzendentale Erfahrungen. Selbstverständlich geben alle Gedichte Emotionen wie Trauer, Verzweiflung, Staunen oder Abgeklärtheit wieder und sind in diesem Sinne metaphorisch zu verstehen: Das heißt, sie entwickeln Bilder, die diesen Empfindungen Ausdruck verleihen. Gleichzeitig schwingt in allen Gedichten das Unaussprechliche des Grauens mit: Es wird nicht direkt beschrieben, wie etwa in Celans Todesfuge, aber es bildet den unausgesprochenen Hintergrund. In diesem Zusammenhang kann man auch auf die drei ansatzweisen und leider nicht weiter überarbeiteten Versuche von Hannah Arendt hinweisen, Parabeln zu schreiben.104 Im engsten Sinne ihrer eigener Dichtungstheorie nutzt Arendt die Möglichkeiten der Metapher nur in zwei Gedichten vollumfänglich: in W.B. und in H.B. Metaphorisch bedeutet hier, dass die Gedichte sich mit metaphysischen Spekulationen auseinandersetzen, das heißt, dass sie hier originale Bilder schafft, die es bis dahin noch nicht gab. Anlass für beide Gedichte sind Erfahrungen aus der Realität – das abendliche Einschlafen und Brochs Grab –, die unmerklich zu einer höheren Realität umgeformt werden: die Melodien aus dem Totenreich, das Grab, das sich in den Himmel einschwingt. Das Organ im Andenkengedicht an Walter Benjamin ist der Hörsinn, die Wahrheit der metaphysischen Spekulation kann nur akustisch wahrgenommen werden. Wie an Arendts Gedankenlyrik zu zeigen ist, wird Arendt noch sehr viel weiter gehen, indem sie Bilder kreiert, die nicht mehr aus dem realitätsbezogenen Erleben des Alltags stammen. Das Phänomen der Zeit bildet einen weiteren Schwerpunkt in diesem Gedichtzyklus. Hier kann spekuliert werden, inwieweit Arendts eigene dichterische Produktion zu ihrem Zeitkonzept geführt hat, das sie Ende der 1960er Jahre anhand der Kafka-Parabel Er weiterentwickelt hat. Arendt stellt fest, dass der kreative Akt der Dichtung auf dem nichtzeitlichen Pfad des Denkens geboren wird: Tatsächlich sind ihre Gedichte Andenken an Vergangenes. Arendt erkennt in der Zeit die Dimension einer Energie: einer Kraft, die aus der Vergangenheit kommt – in den Gedichten die Erinnerung –, die sie in die Zukunft treibt. In H.B. und in Erich Neumanns Tod befindet sich Arendt in diesem Kräfteraum zwischen Vergangenheit und Zukunft, so dass Gebärden, Laute, taktile Empfindungen wieder lebendig werden. Erlebnisse, die vergangen sind, werden gegenwärtig. In beiden Gedichten kommt Schmerz zum Ausdruck, denn die Erlebnisse sind vergangen, fern der realen Gegenwart. Es ist möglich, dass dieser emotionale Aspekt der Zeit Arendt zu der Schlussfolgerung geführt hat, dass Vergangenheit und Zukunft Kräfte sind: 104 | Vgl. die Parabeln am Anfang des ersten Heftes des Denktagebuches in: LOC: Speeches-and Writings-File, 1923-1975, nd. In: Box 84 /  F older: Miscellany, Notebooks, Volume II, 1942-1950.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Die unwillkürliche Erinnerung scheint durch äußere Kräfte hervorgebracht, von der Vergangenheit in Richtung Gegenwart gestoßen wie von der Zukunft in Richtung Gegenwart zurückgeschoben. Sie stellt dar, wie der Schmerz dadurch erzeugt wird, dass Erinnerung (Vergangenheit) und reale Gegenwart nichtsimultan verlaufen. Indem Arendt jedoch in der Gegenwart bewusst die dritte Diagonalkraft bemüht, den Pfad der Nichtzeit beschreitet, findet der Kampf der Kräfte zu einem emotionalen Abschluss: Beim Dichten bewahrt sie bewusst das Andenken und lässt möglicherweise los – Arendt ist ihren inneren Bildern nicht mehr passiv ausgesetzt. In zwei weiteren Gedichten spielt Zeit eine eminente Rolle. In der Dimension der Zukunft vollzieht sich das Gedicht über Walter Benjamin: Sein Engel der Geschichte wird aus der Vergangenheit in die Zukunft geblasen, die ebenfalls eine Kraft ist, die Widerstand mit sich führt – die Flügel sind weit ausgebreitet. In Arendts Gedicht sind die Toten die Boten, die aus der Zukunft kommen und Nachrichten in Form von Melodien bringen. In B.s Grab schließlich wird reine Gegenwart beschrieben, die Simultaneität zwischen sinkender Sonne und steigendem Mond beschreibt dieses nunc stans, das stehende Jetzt zwischen Vergangenheit (Sonne) und Zukunft (Mond) und erlaubt zumindest in diesem Gedicht eine gelungene Katharsis. So vollziehen diese vier Nekrologe Zeiterfahrungen, die möglicherweise zu Arendts Zeitkonzept geführt haben. Das Erleiden verschiedener Situationen ruft Erinnerungen hervor, die Passionen sind, keine Ruhe lassen, so dass Arendt den Sinn dieser Emotionen zu verstehen versucht. Dies geschieht durch Dichtung. Sie hält sich an Dinesens Überzeugung, nicht den Fehler zu begehen, den Sinn direkt zu benennen. Diese Aufgabe obliegt dem Leser: das Heimweh, das abgewehrt wird (Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet), die Tradition, die nicht fortgeführt werden kann (Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind), der materielle und sprachliche Verlust durch die Flucht (Dies war der Abschied) und die moralische Niederlage der Deutschen (Flüsse ohne Brücke), die Nichtsimultaneität der Empfindung im Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Gegenwart (H.B. und Erich Neumanns Tod) sowie schließlich eine mögliche Transzendenz (W.B. und B.s Grab). Der Sinn des Erlebten leuchtet ungenannt hervor. Der ewige Kreislauf der Natur und des biologischen Lebens wird durch die dichterische Sprache unterbrochen, die Erlebnisse aufzählt und so Linearität herstellt. Durch ihr Andenken an die Emigration oder an die verstorbenen Freunde wird Ruhm geschaffen: Diese Erlebnisse und Menschen sind es wert, erinnert zu werden und auf diese Weise Beständigkeit zu erhalten.

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2. Gedankenlyrik

»Gedichtetes Wort / ist Stätte, nicht Hort.« Hannah Arendt  /  G edichte1

E inleitung : D as S taunen über D enken , D ichtung und Z eit Nicht nur das Erleiden von Extremsituationen kann künstlerisch verarbeitet werden; ein weiterer Motor für kreative Tätigkeit ist nach Arendts Beobachtung das Staunen und man findet für diesen Bereich eine ganze Reihe von Gedichten, die der Gedankenlyrik zuzurechnen sind.2 Nach Hannah Arendt ist die Empfindung des Staunens vital, da sie zum Denken über das Unsichtbare in den Erscheinungen führt und dazu motiviert, den Sinn des Erlebten begreifen zu wollen. Das Staunen ist am größten, wenn es um unbeantwortbare Sinnfragen geht, im Falle ihrer Lyrik also um Begebenheiten oder Gegenstände, die nur schwer zu fassen sind und deren Sinn vielfältig ist, wie der Prozess des Denkens, die Wirkung der Dichtung und das Erleben der Zeit. Diese sind unsichtbar und verändern doch zu einem winzigen Bruchteil die Welt  – das bewundernde Staunen in Arendts Gedankenlyrik äußert sich daher in einem hymnischen Ton, der mit der Melancholie der Emigrationsgedichte und Nekrologe kontrastiert.3 Für diese Arbeit wurden nur die Gedichte über das Denken und die Dichtung ausgewählt, die Hannah Arendts eigener Vorstellungswelt entsprechen. Sie hat auch Poeme über andere Denker verfasst, wie etwa über Goethe (Goethes Farbenlehre)4 oder über Plato (Kentaur. A propos Plato’s Seelenlehre).5 Hier soll 1 | Schlussverse aus Arendts Gedicht: Und keine Kunde. In: Gedichte, S. 61. 2 | Vgl. den zweiten Teil, 2.2.1 Anlass des kreativen Prozesses: Passionen und Staunen, S. 237. 3 | Vgl. Arendts Gedichte, deren Motor das Staunen ist, die gleichzeitig das Leben und die Welt preisen. Da sie den Umfang dieser Arbeit überschreiten, können sie leider nicht einzeln behandelt werden. Arendt, Hannah in Gedichte: Ich lieb die Erde, S. 66, Schlagend hat einst mein Herz, S. 79, Stürzet ein ihr Horizonte, S. 82, Palenville, S. 62. 4 | Vgl. Arendt, Hannah: Goethes Farbenlehre. In: Gedichte, S. 73. 5 | Vgl. Arendt, Hannah: Kentaur. In: Gedichte, S. 64.

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allerdings hervorgehoben werden, wie Arendt eigene Bilder entwickelt, die den Denkprozess selbst darstellen, oder welche Wirkung die Dichtung auslöst. Die Gedichte über das Denken sind vor ihren Analysen in Vom Leben des Geistes der 1970er-Jahre entstanden, wie Herr der Nächte (1947) oder Nur wem der Sturz im Flug sich fängt (1952). Was die Wirkungskraft der Dichtung betrifft, ist festzuhalten, dass die Gedichte parallel zu ihrer Narrationstheorie in der Vita Activa in den 1950er-Jahren entstanden sind, das betrifft Und keine Kunde von 1952 und Dicht verdichtet das Gedicht von 1953. Diese lyrischen Beispiele bestehen in ihrer Abstraktion ganz aus metaphorischen Bildern, die aus dem Innenleben stammen und ihren Anlass nicht in der äußeren Realität haben. Die Gedichte über das Zeiterleben ziehen ihre Kraft dagegen aus der Opposition zwischen Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit. Auch sie sind abstrakt gehalten. Die Katharsis ergibt sich aus dem Dichtungsprozess selbst: Arendt versucht, das stehende Jetzt einzufangen, das nunc stans, das aus der Erinnerung an die Toten (Aufgestiegen aus den stehenden Teichen der Vergangenheit), aus der Zweisamkeit in der Gegenwart (Park am Hudson) oder aus Liebe (Unermessbar Weite nur, Ach wie die Zeit sich eilt) hervorgeht. Die Tonalität der Gedichte spiegelt sich in einer Vielfalt der Stimmungen, die in Gelassenheit, wenn nicht gar Freude enden. In dieser Lyrik erzeugt Arendt Bilder, die sie in den 1970er-Jahren unter der Theorie des Denkens auf dem Pfad der Nichtzeit modellhaft zusammenfassen sollte. Bereits sehr früh, Anfang der 1920er-Jahre, hatte Arendt dichterische Versuche unternommen, das Empfinden der Zeitlosigkeit wiederzugeben. Im Winter 1923 / 1924 stellt sie in Traum die Last der Vergangenheit einem Tanz in der zeitlosen Gegenwart gegenüber.6 In Abschied betont sie die Opposition zwischen einer positiven Gegenwart, den »schwebenden Tagen«, und einer Zeitlosigkeit, die mit »Leere« assoziiert wird.7 In einem Text, der eine Vorlesung an der Universität Berkeley in Kalifornien abschließt, benutzt Arendt 1955 das Bild der Wüste für eine Welt, in der das Politische, das menschliche Zwischen abhanden gekommen sei, in der es sogar Sandstürme gebe, die den totalitären Bewegungen entsprechen, aber auch Oasen: »Die Oasen sind all jene Felder des Lebens, die unabhängig oder großenteils unabhängig von politischen Bedingungen existieren. Was schief gegangen ist, ist die Politik, das heißt wir, insofern wir im Plural existieren – und nicht das, was wir tun und herstellen können, insofern wir im Singular existieren: in der Abgeschiedenheit wie der Künstler, in der Einsamkeit wie der Philosoph, in der eigentlich weltlosen Beziehung zwischen Mensch und Mensch, wie sie in der Liebe und manchmal in der Freundschaft gegeben ist. […] Wären diese Oasen nicht intakt, wüssten wir nicht, wie wir atmen sollen.«8 Nur in diesen Oasen zu leben bezeichnet Arendt 6 | Vgl. Arendt, Hannah: Traum. In: Gedichte, S. 11. 7 | Vgl. Arendt, Hannah: Abschied. In: Gedichte, S. 14. 8 | Arendt, Hannah: Von der Wüste und den Oasen. In: Arendt, Hannah: Was ist Politik? (Hg. Ludz, Ursula), München, 2003, S. 182 f.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

als Eskapismus – sie findet es zweifelhaft, wenn man sich nicht um die Welt und den Menschen in ihr sorgt: Der Mensch muss sich politisch engagieren. Dennoch bezeichnet Arendt die Kunst und die Philosophie, die Liebe und die Freundschaft als Oasen. Auf ihre Gedankenlyrik übertragen bedeutet das, dass sie vitale, künstlerische Freiräume kreiert, die auf Mitmenschlichkeit beruhen.

2.1 Z u D enken und D ichten 2.1.1 »Herr der Nächte« / »Tag in Tagen« »Herr der Nächte – Dunkelgolden Glänzt Du abends aus dem Strome, wenn ich von dem Hügel laufend lechze mich zu betten in die Kühle. Herr der Nächte – Voller Unduld harr ich Deines Traums, der Nacht. Tag an Tag reiht sich zur Kette, die doch jeder Abend sprengt. Herr der Nächte – Schlag die Brücke von den Ufern übern Strom. Dass ich, wenn ich von dem Hügel laufend lechze mich zu betten in die Kühle, noch im letzten Sprung mich fange auf der Brücke, zwischen Ufern, zwischen Tagen Überm Glanze Deines Golds.« 9

Das Gedicht entstand im Juli 1947, als Hannah Arendt ihre Sommerferien in Hanover, New Hampshire, verbrachte. Sie wurde regelmäßig von ihrer Freundin, Julie Braun-Vogelstein, in deren Landhaus eingeladen. Arendt beschreibt die

9 | Arendt, Hannah: Herr der Nächte. In: Gedichte, S. 41

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Landschaft als »sehr schön, ganz lieblich und unaufregend«,10 ihren Aufenthalt dort neben der persönlichen Arbeit als »sehr erholsam: Es ist kühl, so dass man gerne in der Sonne sitzt. Wir gehen täglich spazieren.«11 Diese Sommerabendspaziergänge, die sich während einiger Jahre wiederholten, mögen sie zu diesem Gedicht angeregt haben. Sie schickt eine Abschrift an Heinrich Blücher, der in New York geblieben war, mit der selbstironischen Bemerkung: »Und damit Du auch was vom Hausdichter hast, kommt das Folgende«,12 worauf ihr Blücher freundlich-ermutigend antwortet: »Das Gedicht ist sehr schön, wenngleich ich es nicht ganz verstehe; aber es hat einen nächtlichen Reiz und prägt sich stark ein. Es ist so viel von Dir darin, man sieht Dich richtig laufen.«13 Diese am 21. Juli 1947 an Blücher geschickte Fassung unterscheidet sich sowohl von der handschriftlichen Version in ihrem Notizheft, das allgemein auf 1947 datiert ist,14 wie auch von der letzten Variante in der maschinenschriftlichen Sammlung von 1954:15 Die erste und zweite Strophe sind in eine zusammengefasst, den »Herrn der Nächte« spricht sie in der ersten Strophe noch mit »er« an, und in der zweiten Strophe benutzt sie in der Zeile 8 statt »Unduld« das geläufige »Ungeduld«, bevor sie es in der späteren Fassung aus Rhythmusgründen ändern sollte. Daraus lässt sich schließen, dass die Kopie für Blücher älter ist als die handschriftliche Version in ihrem Notizheft, die sie 1954 in ihre maschinenschriftliche Sammlung übernimmt. Es gibt schließlich noch eine dritte, nochmals überarbeitete Fassung vom Juni 1950, die sie neben dem Gedicht auf der gegenüberliegenden Seite notiert hat: In dieser Handschrift tauscht sie die erste mit der zweiten Strophe aus und ändert die Eingangsverse dieser zwei Strophen  – statt »Herr der Nächte« heißt es in der ersten Strophe »Tag in Tagen« und in der zweiten »Nacht in Nächten«. Auf diese Weise entsteht eine zeitliche Abfolge, in der zuerst die Ungeduld am Tage bis zum Einbruch der Nacht dargestellt wird, dann das Laufen auf den Hügel in der Nacht:

10 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, Hanover (New Hampshire), August 1945, S. 137. 11 | Ebenda, Arendt an Blücher, Hanover (New Hampshire), 8.7.1946, S. 141. 12 | Ebenda, Arendt an Blücher, Hanover (New Hampshire), 21.7.1947, S. 150. 13 | Ebenda, Blücher an Arendt, New York, ca. 25.7.1947, S. 153. 14 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 84 / F older: Miscellany: Notebooks Volume II, 1942-1950, Heft ohne Nummerierung. 15 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 85 / M iscellany: Poetry and stories 1942-1954, Blatt 022958.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung »Tag in Tagen – Voller Unduld harr’ ich Deines Traums: der Nacht. Tag an Tag reiht sich zur Kette, die doch jeder Abend sprengt. Nacht in Nächten – Dunkelgolden glänzt Du abends aus dem Strome, wenn ich von dem Hügel laufend lechze, mich zu betten in die Kühle. Herr der Nächte – Schlag die Brücke von den Ufern überm Strom. Dass ich, wenn ich von dem Hügel laufend lechze mich zu betten in die Kühle, noch im letzten Sprung mich fange, auf der Brücke, zwischen Ufern, zwischen Tagen, überm Glanze Deines Golds.«16

Formal gesehen wird die Harmonie der Erfahrung nicht durch gereimte Endungen, sondern durch den syntaktisch ähnlichen Auf bau der Strophen sowie durch das Metrum bestimmt. So sind etwa Strophe eins und zwei parallel angelegt: jeweils sechs Verse mit ähnlichem Auf bau, was die Längen der Zeilen betrifft, etwa dass jeweils die dritte und sechste Zeile am längsten ist. Das Metrum besteht aus regelmäßigen Trochäen, in der ersten Strophe beispielsweise aus 2-2-4-2-2-4-Hebungen, die immer auf der ersten Silbe betont sind und Dynamik vermitteln. Die zweite Strophe ist fast identisch aufgebaut, nur die Zeile »wenn ich von dem Hügel« ist drei-hebig, so dass man hier von einer freien Form sprechen kann. Die dritte Strophe hat zwölf Verse, so als ob zwei Strophen zusammengefasst worden sind. Auch besteht das Metrum aus regelmäßigen Trochäen mit 2-2-4-Hebungen, mit der Ausnahme von 1-3-Hebungen in der Zeile »Dass ich, / Wenn ich von dem Hügel«, in der Arendt wohl die Situation des lyrischen Ichs hervorheben wollte. 16 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 84 / F older Miscellany, Notebooks Volume II, 1942-1950, Heft ohne Nummerierung.

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Insgesamt vermittelt die formale Gestaltung einen flüssigen Rhythmus, der die Bewegung des Laufens des lyrischen Ichs unterstützt. Ein Tag: Die Tage reihen sich aneinander in einer Kette, die für das gleichförmige Vergehen der Zeit spricht. Dennoch werden sie von den Abenden unterbrochen, die jedes Mal zu einem besonderen Ereignis werden, denn der Abend »sprengt« den Ablauf der Zeit. Die Nacht wird als Traum des Tages dargestellt, als ob der Tag von der Nacht träumt. Das lyrische Ich erwartet die Nacht: »es harrt« auf diesen Traum der Nacht. Eine Nacht: Ohne den Mond zu benennen, weist Arendt auf seinen Abglanz hin, im Bild des dunkelgoldenen Glänzens des Stromes. Während für den Tag die Lichtverhältnisse unerwähnt bleiben, leuchtet nun die Nacht, die vom Mond personifiziert wird. Das lyrische Ich befindet sich auf einem Hügel, sieht die Spiegelung des Mondes im Wasser und läuft dem Fluss entgegen, um sich in der Kühle auszuruhen. In der dritten Strophe kommt es zu einer Steigerung: nach »Tag in Tagen« und »Nacht der Nächte« wird der »Herr der Nächte« direkt angesprochen. Es scheint, als ob der Mond dieser »Herr der Nächte« sei – sein Abglanz im Strom –, an den sich das lyrische Ich wendet. Dieser Abglanz bildet eine Brücke zwischen den Ufern. Die Aussage aus der zweiten Strophe wird wiederholt und gibt ihr auf diese Weise nochmals Gewicht: Das Ich läuft vom Hügel zum Fluss, um sich in der Kühle zu betten, doch dann will es sich im Sprung über dieser Lichtbrücke des Stroms fangen. Dabei werden nun die Ufer und die Tage miteinander gleichgesetzt: Auf der einen Seite unterbricht der Abend die Tage voneinander (erste Strophe), auf der anderen Seite verbindet das Mondlicht diese Tage, bildet eine Brücke zwischen den Ufern und stellt eine andere Verbindung her (dritte Strophe). Der Sprung des lyrischen Ichs entspricht dem Abend, der die Kette der Tage sprengt: So findet Arendt Bilder für Bewegungen, die etwas unterbrechen, besonders den geläufigen Ablauf der Zeit, die zum Stillstand gebracht wird. Der Traum der Nacht wird zum Symbol für die Zeitlosigkeit. Es ist, als ob das innere Zeitgefühl zu einer Ausdehnung der Gegenwart führt. Die Zeiterfahrung, die Arendt hier ausdrückt, entspricht dem nunc stans des Mittelalters, dem stehenden Jetzt: Die Bewegungsabläufe werden unterbrochen, sowohl das Vergehen der Tage wie auch das Laufen des Ichs. Der Sprung über goldfarbenem Licht, der in der Luft schwebend angehalten wird, ist ein außerordenliches, fast hymnisches Bild für extreme Lebendigkeit. Da dieses Bild alle Realitätserfahrung ausschließt, kann es als Metapher für den Denkprozess außerhalb der Zeit mit dem Erlebnis extremer Klarheit interpretiert werden.17

17 | Barbara Hahn bietet eine Interpretation des Gedichtes an, die nur die letzte Strophe betrifft: Da Arendt das Gedicht an Blücher schickt und sie Liebe der Poesie vorbehalten hat (das Phänomen der Liebe nicht in ihr veröffentlichtes, gedankliches Werk eingeschrieben wurde), interpretiert Barbara Hahn im Gedicht die Brücke als Symbol des Zwischens, des

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Die Begriffe, die Hannah Arendt in dem Gedicht verwendet – wie Strom, Brücke, das Anhalten der Bewegungsabläufe –, finden in den 1970er-Jahren auch Eingang in ihr Denktagebuch, als sie das Denken analysiert, wie später auch in Vom Leben des Geistes. So benutzt sie etwa den Begriff Strom im Zusammenhang mit der Zeit, die das Selbst verändert, wobei das Ich beim Denken alterslos sei: »Die Erfahrung des denkenden Ich ist nur: Alterslosigkeit, etwas ganz anderes. Man könnte sagen: Das Ich, sofern es denkt, hält sich als identisch durch die Lebensalter, die das Selbst verändern, hindurch. […] Wenn man Erinnerung als Andenken versteht, könnte man sagen: Das Selbst ist in den Strom der Zeit und der Veränderung gerissen: Als Identität etabliere ich mich nur im Denken, allerdings als eigenschaftslose Identität.«18 Aus dieser Perspektive erscheint der Fluss im Gedicht als Vergänglichkeit der Zeit, während der zeitfreie Raum im Bild der Lichtbrücke über den Fluss dargestellt wird. Das Selbst läuft in der Zeit auf den Fluss zu, bei seinem Sprung wird es zum denkenden Ich und hält die Zeit an. Im Unterschied zu den Nekrologen wird kein Andenken an die Vergangenheit dargestellt, sondern das Ich befindet sich hier tatsächlich eigenschaftlos in der reinen Gegenwart. Auch in Vom Leben des Geistes wird das Denken und seine Wirkung behandelt, wiederum in Bildern von Bewegungsabläufen, die angehalten werden. Sokrates habe das Denken mit drei Eigenschaften beschrieben: reizen, gebären und lähmen. Die vom Denken hervorgerufene Lähmung bedeute eine Unterbrechung aller Tätigkeiten. Die Folge des Denkens habe daher eine lähmende Nachwirkung.19 Auf das Gedicht angewandt würde das bedeuten: Das lyrische Ich wird von dem Bild des kühlen Flusses gereizt  – von einem Denkgegenstand  –, es beginnt zu laufen, das heißt, zu denken, was dem Gebären entsprechen würde. Das Innehalten im Sprung korrespondierte mit der Lähmung, in der das Denken verweilt. Da aber im Gedicht dieses Innehalten einer Erleuchtung und Klarheit gleichkommt, auch wenn es kein Ergebnis zeitigt, also der Sprung zurück auf die Erde nicht geschieht, wird diese Lähmung nicht als negativ empfunden. Das Thema des Gedichts entspricht interpretativ eher dem Denken in der Zeit als ontologischen Vorstellungen nach Heideggers Modell. Es gibt ein lyrisches Ich, das den Bewegungsablauf bestimmt, und kein Sein eröffnet sich dem Ich plötzlich. Eine Parallele zu Heideggers lyrischen Bildern erscheint etwa in der Plötzlichkeit des sprengenden Abends und im Bild des Sprunges. Da allerdings Arendt das Gedicht vor ihrem Wiedersehen mit Heidegger 1950 geschrieben hat, kann man nur schließen, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht hat, diese aber anders interpretierte. Aus dem Briefwechsel mit Heidegger und einer Notiz Arendts im Denktagebuch sind die Abweichungen der beiden Denker klar ersichtlich: Im FebVerstehens, der Liebe zu Blücher. Vgl. Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher, Berlin, 2005, S. 80 f. 18 | Denktagebuch: Heft 27: Juli 1970, Eintrag 72, S. 788. 19 | Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 175.

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ruar 1950 hatte Heidegger ihr bei ihrem Wiedersehen einige Gedichte mitgegeben, darunter auch den folgenden Zweizeiler: »Im Jähen, Raren, blitzt uns Seyn / Wir spähen, wahren – schwingen ein.«20 Arendt notiert in ihr Denktagebuch ein Jahr später, dass das Seyn bei Heidegger mit elitären Vorstellungen der eigenen Person verbunden sei, die aus sogenannten einmaligen Erfahrungen stammen: »Wesentlich ist die Vorstellung von der Seltenheit des Lebenden. Damit ist die Brücke geschlagen zu dem Seltenen in der moralischen Wertschätzung und zu der Verachtung alles Durchschnittlichen. Wesentlicher: Damit ist die Brücke geschlagen zu einer ›neuen‹ Art Wahrheit: Sie braucht sich nicht mehr am Durchschnittlichen, Alltäglichen, jedermann Bekannten, jederzeit Überprüf baren zu erweisen. Die Wahrheit kann ›rar‹, ›jäh‹, wie der ›Blitz‹ sein. Hier liegt die eigentliche Verbindung zwischen Nietzsche und Heidegger. Wenn Leben Sein ist, dann ist das ›Lebendigste‹ das Seiendste. Wenn das Leben nur eine sehr seltene Art des Toten ist, dann ist das Seltenste das Lebendigste und Seiendste (›Im Jähen, Raren zeigt sich Sein, / Wir spähen, wahren, schwingen ein.‹) Dann ist alles Durchschnittliche Décadence, Neigung zu der Allgemeinheit des Toten.«21 Arendt zitiert Heidegger aus dem Gedächtnis und ersetzt das Verb »blitzen« durch »zeigen«. Das »Seyn« als Wahrheit des Seienden bei Heidegger kann daher nicht mit dem »Herrn der Nächte« bei Arendt gleichgesetzt werden. Arendt geht vom Menschen aus, dem Denkgegenstände eignen. Sie stellt einen zeitlichen Prozess dar. Heidegger dagegen geht nicht vom Menschen, sondern vom Sein aus, das nur von wenigen erkannt werden kann. Auf Versuche, das stehende Jetzt darzustellen, kommt Arendt in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes zu sprechen. Diese Erfahrung ist traditionell überliefert: »Die Zeitregion, in der dies geschieht, ist die Gegenwart des denkenden Ichs, eine Art fortdauernder ›Heutigkeit‹ (hodiernus, ›von heute‹, nannte Augustinus Gottes Ewigkeit), das ›stehende Jetzt‹ (nunc stans) der mittelalterlichen Meditation, eine ›fortdauernde Gegenwart‹ (Bergsons présent qui dure), oder ›die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft‹.«22 Ihre frühen Bemühungen, Bilder für die Zeitlosigkeit beim Denken darzustellen, sah sie im Alter selbst als gescheitert an, denn in Vom Leben des Geistes schreibt sie, dass die räumliche Darstellung eine zeitliche Erfahrung nicht angemessen wiedergeben kann: »Die Gegenwart [erscheint] als ein brüchiges Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft: sobald man sie festzumachen versucht, ist sie entweder ein ›nicht mehr‹ oder ein ›noch nicht‹. So gesehen, erscheint die fortdauernde Gegenwart wie ein ausgedehntes ›Jetzt‹ – ist ein Widerspruch in sich, als könnte das denkende Ich den Augenblick in die Länge ziehen und sich damit eine Art räumliche Wohnstätte schaffen. Dich diese scheinbare Räumlichkeit einer zeitlichen Erscheinung ist ein 20 | Heidegger Briefwechsel: Heidegger an Arendt: Fünf Gedichte, S. 79. 21 | Denktagebuch: Heft 6: September 1951, Eintrag 19, S. 142. 22 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 251.

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Irrtum, er entsteht durch die herkömmlichen Metaphern im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeit. Wie Bergson als erster entdeckte, sind alle diese Ausdrücke ›der Sprache des Raums entlehnt. Wenn wir die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit der Raum, der sich uns darstellt.‹ Daher gilt: ›Die Dauer drückt sich immer als Ausdehnung aus‹, und die Vergangenheit wird als etwas hinter uns Liegendes verstanden, die Zukunft als etwas vor uns Liegendes.«23 Die innere Zeiterfahrung des stehenden Jetzt ist real, allerdings ist sie nur begrenzt darstellbar. Arendt sollte in Vom Leben des Geistes zu dem Schluss kommen, dass das Denken, bei dem sich etwas Unsichtbares in dem Menschen mit dem Unsichtbaren in der Welt beschäftigt, nur metaphorisch wiedergegeben werden kann:24 Dementsprechend wäre in Herr der Nächte das Unsichtbare in dem Menschen das lyrische Ich, das läuft und springt – das Denken – und das Unsichtbare in der Welt wäre der Ablauf der Tage, die vergehen – die Zeit – und von den Nächten unterbrochen werden – das stehende Jetzt. Das Gedicht würde demnach Arendts Theorie gemäß den Denkprozess metaphorisch umsetzen. Es beruht in ihrem Sinne weniger auf Kommunikation, also auf der Mitteilbarkeit von Tatsachen, sondern ist Metapher für das Unbeschreibliche, Unsagbare des Denkens. Eine besondere Eigenschaft des Denkens ist nach Arendt gerade seine außerordentliche Lebendigkeit: Im Rennen und Springen über einem goldenen Glanz kreiert Arendt ein Bild von extremer Klarheit. So hat sie bereits sehr früh, 1947, das Erlebnis des Denkens in der für sie einzig möglichen Sprachform, der metaphorischen Lyrik, wiedergegeben, bevor sie sich am Ende ihres Lebens theoretisch damit auseinandersetzt hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass selbst die metaphorische Beschreibung nur eine Annäherung sein kann. Es mag vielleicht sein, dass die lyrische Beschäftigung mit dem Denken und der Zeit sie zu der späteren Aussage geführt hat, dass Dichtung auf dem Pfad der Nichtzeit geboren wird. Während ein Gedicht erschaffen wird, befindet sich der Künstler auf dem Pfad der Nichtzeit, so dass das Gedicht möglicherweise das Erlebnis des Dichtens selbst wiedergibt. Arendt hat das Essentielle, das Allgemeingültige des Erlebnisses beim Dichten gesucht: Das wäre hier die Leuchtkraft der Erfahrung des nunc stans. Da es für den Prozess des Denkens und Dichtens keine Bilder gibt, kann Arendt die Wahrhaftigkeit dieser Erfahrung nur metaphorisch und experimentell lösen: die Lebendigkeit des Denkens durch körperliche Bewegungen sowie durch deren Stillstand und auch durch die Empfindung der Kühle. Arendt zitiert als Modell für die Zeitlosigkeit in der 1960er-Jahren Kaf kas Parabel Er. Vielleicht ist sie darauf aufmerksam geworden, weil Kafka – ähnlich wie sie in ihrem Gedicht – einerseits das Vergehen der Zeit thematisiert, andererseits ein Bild des Sprungs gebraucht. Die Zeit des im Sprung sich fangenden Ichs ist nicht dieselbe Zeit, die durch den Ablauf der Tage gegeben ist. Der Ablauf der Tage 23 | Ebenda, S. 252. 24 | Vgl. den zweiten Teil, 1.2.2 Ausdruck des Unsichtbaren durch die Metapher, S. 172.

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entspricht der realen Zeit, die von Arendt in ihrem Zeitkonzept laut Er Kräften entspricht. Das sich im Sprung zwischen den Tagen befindende Ich entspricht Kafkas Bild: Es springt aus dem Zusammenprall zwischen Vergangenheit und Zukunft und befindet sich außerhalb der Zeit. Es ist also möglich, dass Arendt auf Kafkas Parabel besonders aufmerksam wurde, da beide das Bild des Springens gebrauchen, um zur Dimension der Zeitlosigkeit zu gelangen.

2.1.2 »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt« »Nur wem der Sturz im Flug sich fängt, gehen die Gründe auf. Ihm steigen sie herrlich ans Licht. Die Erde, wem der Flug misslingt, öffnet die Abgründe weit. Ihn nimmt sie zurück in den Schoss.« 25

Dieses Gedicht von 1952 nimmt das Bild des in einer starken Bewegung SichFangens aus dem vorherigen Gedicht auf. Die zeitliche, immanente Dimension wird hier im Bild der Erde nur angerissen, und es scheint um den reinen Denkprozess zu gehen, der nun im Universum angesiedelt ist. Arendt hatte inzwischen das reale Fliegen erfahren, da sie ihre letzte Europareise nicht mehr per Schiff, sondern per Flugzeug unternommen hat. Sie unterrichtet Blücher 1949 aus Paris von diesem Erlebnis: »Fliegen war ganz unbeschreiblich herrlich. Man ist mitten im Himmel, d. h. bewegt sich so selbstverständlich in der Luft wie ein guter Schwimmer im Wasser. Man hat keine Angst, kein Schwindelgefühl, weil das Nach-vorne-gezogen-werden, bzw. das Fliegen selbst einem ein anderes Bezugssystem verleiht; selbst ich kann ganz friedlich auf die Erde runtersehen, ohne Angst zu fallen oder Sucht zu springen; weil die Erde als fester Bezugspunkt nicht mehr existiert.«26 Die Erfahrung des Fliegens, die »ein anderes Bezugssystem verleiht«, die angstfrei vonstatten geht, kann also als mögliche Metapher für das Bewegungssystem des Denkens interpretiert werden. Die Unsichtbarkeit des Denkens ist nach Arendt schwer zu beschreiben, da räumliche Bilder nur begrenzte Entsprechungen liefern. Während sie in Tag in Tagen noch die reale Erfahrung der Zeit auf der Erde wiedergegeben hat, aus der sich das Ich löste, um durch einen Sprung in einen zeitlosen Raum zu gelangen, ermöglicht es die Erfahrung des Fliegens, das die geläufige Raum-Zeit-Erfahrung aufhebt, ein Bild zu entwickeln, das die Erfahrung des Denkens wiedergibt: Im inneren Vorgang werden auf die gleiche Weise Distanzen blitzschnell überwunden. Aus diesem

25 | Arendt, Hannah: Nur wem der Sturz im Flug sich fängt. In: Gedichte, S. 54. 26 | Blücher-Briefwechsel: Arendt an Blücher, 18.11.1949, S. 169.

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Grund ist das Fliegen als äußerer Vorgang mit dem Denken als innerem Vorgang verwandt. Hannah Arendt muss das Gedicht einige Zeit im Gedächnis mit sich getragen haben, bevor sie es niedergeschrieben hat, denn in den beiden untereinander stehenden Versionen im ersten handschriftlichen Manuskript finden sich fast keine Abweichungen:27 Nur in der zweiten Zeile gibt es eine Korrektur – zuerst »gehen die Abgründe auf«, dann wurde »gehen« durchgestrichen und »steigen« darüber gesetzt, bevor dieses auch durchgestrichen und eine gepunktete Linie unter »gehen« gesetzt wurde – es sollte also beibehalten werden; das »Ab« bei Abgründe wurde durchgestrichen. Daraus lässt sich Folgendes entnehmen: Beim misslingenden Flug der zweiten Strophe öffnen sich die Abgründe weit, beim sich fangenden Flug der ersten Strophe dagegen kommt es zur Doppelbedeutung von Abgrund und Grund: Die Gründe, das heißt, sowohl der Grund der Erde wie auch der Grund eines Gedankendings steigen ans Licht. In der maschinenschriftlichen Abschrift 28 gibt es eine weitere Variante: Für die zweite Strophe: »öffnet die Abgründe weit« verweist Arendt mit einem Pfeil handschriftlich auf »hält noch den Abgrund bereit«. Somit kann gemutmaßt werden, dass das Wort »öffnen« zu sehr an »eröffnen«, Klarsicht herankommt, was in der ersten Strophe beibehalten werden soll, während der Terminus »bereithalten« ein Zurückkehren zur Norm darstellt. Weiterhin ist das Fallen beim Begriff »bereithalten« weniger gefährlich als beim weit geöffneten Abgrund. Hannah Arendt sollte sieben Jahre später in Princeton eine weitere, noch kürzere Fassung des Gedichts schreiben. 1959 notiert sie in ihr Denktagebuch: »Der Sturz im Flug gefangen – Der Stürzende, er fliegt. Dann öffnen sich die Gründe, Das Dunkle steigt ans Licht.« 29

Da Hannah Arendt nach 1954 ihre Gedichte nicht mehr maschinenschriftlich gesammelt hat, gibt es davon nur diese eine handschriftliche Version. Zumindest lässt es aber die Vermutung zu, dass sie sich mit der Problematik, wie das Denken metaphorisch darzustellen sei, weiterhin auseinandergesetzt hat. Das Gedicht weist auf die erste Strophe der längeren, früheren Fassung hin: »die Gründe steigen ans Licht« werden im späteren Gedicht nochmals als Dunkles näher definiert. Es kann sich beim »Öffnen der Gründe« um einen unklaren, verdunkelten 27 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 8, S. 12 (März 1952). 28 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd., In: Box 85 / F older: Miscellany: Poetry and stories, 1942-1954, Blatt 022960. 29 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 23, S. 21 (Princeton 1959). Und in: Gedichte, S. 83.

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gedanklichen Gegenstand handeln, der den Geist beschäftigt und der er erhellen möchte. Hannah Arendt sollte in einem weiteren Gedicht ähnliche Motive aufnehmen, in Unermessbar, Weite nur … von 1951. In diesem Gedicht werden die Denkgegenstände, mit denen sich das lyrische Ich befasst, klar benannt: Es gibt eine »unergründliche Tiefe«, die das Ich als Fallendes »als Grund empfängt«, es gibt eines »Abgrunds Steile unserer Welt«, es gibt das Fliegen das einer »Sehnsucht« gleichkommt, so »dass der Brand aufleuchte«. Diese eindeutigeren Kategorisierungen verweisen auf Geschichtlichkeit, wie zu zeigen sein wird.30 Hier dagegen geht es um das reine Denken, um die Erfahrung des Intellekts, der auf Abstraktion beruht. Beim ersten Gedicht vom März 1952, das Arendt maschinenschriftlich kopiert und zu einem Teil ihrer Sammlung gemacht hat, liegt die formale Harmonie nicht im Reim oder im Versmaß, sondern in der Zeilenlänge. Die ersten Zeilen der zwei Strophen sind länger als die beiden jeweils folgenden. Es ist eine Opposition in den Bewegungsabläufen zwischen der ersten und der zweiten Strophe erkennbar: In der ersten Strophe kann sich das Denken im Sturz fangen und es fliegt, es sieht die Gründe von oben herrlich im Licht. Der Schluss liegt nahe, dass das Denken gelingt. In der zweiten Strophe fällt das Denken in den Abgrund und die Erde nimmt es auf. Das Denken misslingt, aber es findet eine Heimkehr statt. Das würde bedeuten, dass im Denken kühne Gedanken gelingen, symbolisiert durch die Helligkeit des Lichts. Wenn das Denken wieder in normale Bahnen gelenkt wird, bleibt es positiv, da eine Form der Erdung stattfindet. Eine Passage aus Hannah Arendts Vom Leben des Geistes über Sokrates’ Auffassung vom Denken, also etwa zwanzig Jahre später verfasst, gibt Aufschlüsse, die für das Gedicht nutzbar sind. Sie bezieht sich auf Sokrates’ Metapher des Windes für den Denkprozess: »Die Winde sind unsichtbar, doch ihre Wirkungen zeigen sich uns, und wir spüren irgendwie ihre Berührung.« Und sie zitiert Heidegger, der hinzufügte, Sokrates habe sich in den »Zugwind des Denkens gesetzt«: »Sokrates hat Zeit seines Lebens, bis in seinen Tod hinein, nichts anderes getan, als sich in den Zugwind dieses Windes zu stellen und sich darin zu halten. Darum ist er der reinste Denker des Abendlandes. Deshalb hat er nichts geschrieben. Denn wer aus dem Denken zu schreiben beginnt, muss unweigerlich den Menschen gleichen, die vor allzu starkem Zugwind in den Windschatten flüchten.«31 Dieses Nichtresultathafte und damit Lebendige des Denkens findet sich in Arendts Gedicht wieder. Das Denken kann »fliegen«, ist vital, erfasst einen Sinn, so dass Leuchtkraft entsteht. Dann kommt das Denken wieder zur Ruhe und steigt hinab – bis der Prozess wieder von vorn beginnt: »Der Sinn von Sokrates’ Tun lag in diesem selbst. Oder anders gesagt: denken und völlig lebendig sein ist dasselbe, 30 | Vgl. den dritten Teil, 2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur«, S. 360. 31 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 174.

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und daraus folgt, dass das Denken immer wieder neu anfangen muss; es ist eine Tätigkeit, die das Leben begleitet und sich mit Begriffen wie Gerechtigkeit, Glück, Tugend beschäftigt, die uns die Sprache selbst als Ausdruck für den Sinn alles dessen bleibt, was im Leben geschieht und uns zustößt, dieweil wir leben.«32 Die Leuchtkraft, »die Gründe, die ans Licht steigen«, erscheinen, wenn der Sinn einer Sache geklärt wurde. Die Erde, die das denkende Ich wieder in den Schoß aufnimmt, kann als Schwierigkeit interpretiert werden, der man beim Denken begegnet: »Denken heißt praktisch: Jedesmal, wenn man in seinem Leben auf eine Schwierigkeit stößt, muss man neu überlegen.«33 Das hieße nach Arendts Flugmetapher, dass das Denken wieder zum Flug anhebt. Die Leuchtkraft des Denkens (erste Strophe) wie auch das Nichtresultathafte, das mögliche Scheitern des Denkens (zweite Strophe), hat Arendt im Umgang mit Karl Jaspers kennengelernt. In ihrer Laudatio auf Jaspers stellt sie fest, dass der Terminus »Helle« im Zusammenhang mit ethischen Hintergründen sein Werk definiere: »Was immer der Helle standhält, sich in ihrem Licht nicht in Dunst auflöst, gehört hier zur ›humanitas‹; und die Verantwortung vor der Menschheit für jeden Gedanken auf sich nehmen heißt: in dieser Helle leben und in ihr sich und alles, was denkt, bewähren.«34 Der Sinn also, der beim gelingenden Flug des Denkens aufleuchtet, ist humanistisch begründet. Aber auch das Scheitern des Denkens findet sich in Jaspers’ Werk. Diese Differenzierung ist wesentlich, denn beim ersten Teil ihres Gedichts, als die »Gründe ans Licht steigen«, sollte man der Versuchung widerstehen, dies als göttliche Erleuchtung mit klarem Ergebnis zu interpretieren, sondern stattdessen eine Klarheit des Geistes annehmen, der einen bestimmten Denkgegenstand behandelt. Für Arendt wie Jaspers gibt es eine Grenze. Der Mensch ist nicht Gott. Es gibt transzendente Empfindungen, aber keine religiöse Erkenntnis. Der Mensch ist »Herr seiner Gedanken«, erlebt kein von außen kommendes Sein. Im Scheitern macht der Mensch die Erfahrung, dass er das Sein weder wissen noch machen kann. Sie schreibt über Jaspers: »In dem Scheitern des Denkens (und nicht des Menschen) erfährt der Mensch, der als wirklicher und freier mehr ist als Denken, was Jaspers ›Chiffre der Transzendenz‹ nennt. Dass Transzendenz als Chiffre nur im Scheitern erfahren wird, ist selbst ein Zeichen für die Existenz, die ›sich bewusst (ist) nicht nur sich als Dasein nicht geschaffen zu haben und als Dasein dem sicheren Untergang ohnmächtig preisgegeben zu sein, sondern selbst als Freiheit, sich nicht sich allein zu verdanken.‹«35 Dem32 | Ebenda, S. 178. 33 | Ebenda, S. 176. 34 | Arendt, Hannah: Laudatio auf Karl Jaspers (1958). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 87 35 | Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie? (1946), Frankfurt  /  M ain, 1990, S. 43 f. | Arendt schreibt im Dezember 1952 über die Gottesfrage in ihr Denktagebuch: »An-denken als Andacht also auf Gott bezogen. […] Gott ist in der Tat das einzige, worüber ich nicht denken kann.« Denktagebuch: Heft 12: Dezember 1952, Eintrag 13, S. 277.

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gemäß ist in dem Gedicht das Scheitern des Denkens, der »misslingende Flug«, nicht dramatisch, sondern erklärt die Rückkehr »in den Schoß der Erde«. Der Unterschied zwischen Heidegger und Jaspers besteht darin, dass das Scheitern bei Heidegger ein »Abfall« wäre, bei Jaspers dagegen ein »Abgleiten« – das entspricht dem Abgleiten der Metaphorik ihres Gedichts. So kann man schließen, dass der Flug in der ersten Strophe beim Denken die Erleuchtung eines Denkgegenstandes bedeutet und das Abgleiten in der zweiten Strophe das Scheitern des Denkens in allgemeinen, aber auch in transzendentalen Fragen. Nach Hannah Arendts Reflexionen über die Dichtung ist die Sprache des Gedichts rein metaphorisch. Da das Denken unsichtbar ist, müssen Bilder des Raumes gefunden werden, welche die Empfindung des Denkens wiedergeben. Diese Bilder entsprechen nicht der Sprache der Kommunikation, die realitätsbehaftet ist. Arendt versucht dagegen, das Unsagbare darzustellen, und schafft eigenständige Bilder, die sie in Tag in Tagen angerissen und nun fortgeführt hat: Zuerst befindet sich das lyrische Ich auf einem Hügel und läuft zu einem Fluss, in dessen Wasser sich der Mond spiegelt, Symbol des zeitfreien Orts zwischen den Tagen. Das Ich springt über den Fluss, aus dem Zusammenprall zwischen Vergangenheit und Zukunft heraus, und befindet sich in einem zeitlosen Raum: Es denkt. Hier könnte man nun mit dem zweiten Gedicht ansetzen: Der Sprung ist hoch, das lyrische Ich fliegt im Universum, im reinen Denkprozess. Der Sinn des Gedachten entspricht den Gründen, die das lyrische Ich, ans Licht steigend, von oben herab erkennt. Doch das Denken scheitert nach einem gewissen Moment und das Ich gleitet wieder hinab und wird von der Erde sanft aufgenommen. Die Erde wird zum Symbol für den Ablauf der Zeit in der Realität. Die zeitliche Dimension wird im Bild der Erde nur angedeutet, im Unterschied zum ersten Gedicht, das mit der Beschreibung der Vergänglichkeit beginnt und erst am Ende im Sprung zum zeitlosen Raum des Denkens gelangt. Für das Gedicht gilt Arendts Aussage über die Nichtumkehrbarkeit einer guten Metapher: Das Denken ist wie Fliegen, aber Fliegen ist nicht wie Denken. Der zeitfreie Raum ist im Universum, in den Lüften angesiedelt. Im Zeitmodell, das Arendt in Vom Leben des Geistes entwickelt, springt der denkende Mensch aus der Gegenwart heraus und entwickelt eine dritte Diagonalkraft, die ins Unendliche reicht – die Unendlichkeit des Universums. Es ist daher möglich, dass Arendts lyrische Auseinandersetzung mit dem Denken und der Empfindung beim Denken zu ihrem späteren Zeitmodell geführt hat. Im Gedicht ist auf zwei Ebenen eine ethische Dimension feststellbar: im Bild des Lichts der Gründe – im Denken, das die Existenz im Jaspers’schen Sinne erhellt. Und im Scheitern des Denkens – es geht um Bescheidenheit und nicht um Allwissenheit. Bestünde das Gedicht nur aus der ersten Strophe, liefe man Gefahr, es transzendental auszulegen, als eine Erleuchtung. Indem Hannah Arendt das Phänomen des Denkens nicht direkt benennt, enthüllt das Gedicht den Sinn von selbst. Es geht nicht um eine eindeutige Lebensweisheit, sondern um Mitteilung, was das Denken kann und wo seine Grenze

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

liegt. Es kann sich in einen zeitlosen Raum erheben, es kann Klarheit schaffen – es kann aber auch scheitern. Und vor allen Dingen ist das Denken Ausdruck von Vitalität – nur solange der Mensch denkt, »springt und fliegt«, nur solange ist er wirklich ganz und gar lebendig. Arbeiten, Denken, Lieben zeitigen nach Arendt keinen Resultate und sind Ausdruck des Lebens selbst, wie sie anhand eines Zitats von Höderlin klarmacht: »›Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste‹ – weil Denken Lebendigsein ist, so wie Arbeit Leben ist. Arbeiten – Denken – Lieben sind die drei Modi des schieren Lebens.«36

2.1.3 »Und keine Kunde« »Und keine Kunde von jenen Tagen, die ineinander sich brennend verzehrten und uns versehrten: Des Glückes Wunde wird Stigma, nicht Narbe. Davon wär’ keine Kunde, Wenn nicht Dein Sagen ihm Bleiben gewährte: Gedichtetes Wort ist Stätte, nicht Hort.« 37

Während Tag in Tagen und Nur wem der Sturz im Flug sich fängt Bilder für den Denkprozess und indirekt das Dichten liefern, also Arendts Theorie der Kreation vorwegnehmen, künden die beiden folgenden Gedichte Und keine Kunde sowie Dicht verdichtet das Gedicht programmatisch von Arendts Theorie der Narration, die sie etwa zur gleichen Zeit theoretisch in der Vita Activa entwickelt hat. Ihr geht es nicht darum aufzuzeigen, was beim Dichten passiert, sondern was Narration erzeugt: Unvergänglichkeit. Es gibt zwei Anlässe für die Entstehung des Gedichts: Erstens nimmt Hannah Arendt in der Schlusszeile Bezug auf ein Gedicht, das Heidegger ihr zugeschickt hat; und zweitens ist die Aussage des Gedichts übergreifend und arbeitet auf, was Dichtung kann, was sie in den Andenkengedichten, etwa in ihren Nekrologen, vollbracht hat. 36 | Denktagebuch: Heft 20: August 1954, Eintrag 28, S. 493. Arendt zitiert nach: Friedrich Hölderlin: Sokrates und Alcibiades In: Sämtiche Werke (Hg. Beissner, Friedrich), Bd. 1, Stuttgart, 1946, S. 260. 37 | Arendt, Hannah: Und keine Kunde. In: Gedichte, S. 61.

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Zuerst zu Heidegger: Am 6. Mai 1950 schickt Heidegger Arendt eines seiner Konvolute mit Gedichten zu, von denen einige ihrer Begegnung gewidmet sind, wie Das Geheimnis wächst und Der Wieder-Blick.38 Darunter befindet sich außerdem ein Gedicht mit dem Titel Sprache. In diesem Gedicht nimmt er auf ihre Gespräche Bezug sowie auf eine ontologische Bestimmung des Schmerzes. Hier von Bedeutung ist die letzte Strophe, auf die sich Arendt bezieht: »Du ›Ach!‹ Des Ungesprochenen ärmste Sage, aber Hort dem Wort: die erste Antwort und die letzte Frage.« 39

Hannah Arendt geht über Heideggers Lyrik hinaus, wenn sie die Wirkungskraft der Narration in den Blick nimmt: Während er das »Wort« als »Hort« deutet, weist sie ihn zurecht, dass »gedichtetes Wort« »Stätte« ist und »nicht Hort«, also weit über das Sammeln hinausgeht. Es findet einen Ort dauerhaften Sinns. Faktisch gesehen tut das Heidegger: Er umkreist in seinen Gedichten immer wieder ihre Begegnung Anfang des Jahres 1950, er schafft damit etwas Unvergängliches und bewahrt. Darauf weist ihn nun Arendt in ihrem Gedicht hin. Und keine Kunde ist 1952 entstanden. Im Denktagebuch führt sie im September 1952 den denkenden Dialog des Ichs aus, eine Theorie, die sie später in den Essay Über den Zusammenhang von Denken und Moral weiterentwickeln sollte. Sie stellt fest: »Denken und Reden: Insofern das Denken immer in der Einsamkeit dialogisch ist, ist es per definitionem Zweifel. Der Zweifel hat die Zwei, die beiden Möglichkeiten dauernd in der Unterschiedenheit und Unentschiedenheit festzuhalten; zwischen ihnen geht der Dialog hin und her, bis aus ihm – gleich dem Reiben der Platonischen Feuersteine – der Funke des Gedankens herausspringt.«40 Diese beiden miteinander diskutierenden Stimmen erscheinen im Gedicht: Ist des »Glückes Wunde« »Stigma« oder »Narbe«? Es ist »Stigma«. Ist »gedichtetes Wort« »Stätte« oder »Hort«? Es ist »Stätte«. In einem inneren Dialog scheint das lyrische Ich die Antwort abzuwägen. Das angedeutete Resultat der Dauerhaftigkeit der Dichtung weist auf Arendts eigene dichterische Versuche hin, Erlebnisse oder Personen dem Verlöschen zu entreißen, unvergänglich zu machen, wie man an ihren Emigrationsgedichten oder Nekrologen ablesen kann. In ihrem Totalitarismus-Buch von 1951 gibt es eine Stelle, in der sie das Vergessen beklagt, dem die Toten der Konzentrationslager zum Opfer fallen: Die einzige Spur, die sie hinter38 | Vgl. den ersten Teil, 2.2 Martin Heidegger, S. 92. 39 | Heidegger-Briefwechsel: Eintrag 63: Heidegger an Arendt: Fünf Gedichte, Gedicht: Sprache, S. 109. 40 | Denktagebuch: September 1952, Heft 10, Eintrag 19, S. 246.

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ließen, sei in der Erinnerung derjenigen, sie sie kannten und liebten und zu deren Welt sie gehörten. Die Aufgabe der totalitären Polizei sei es gewesen, diese Spur auszulöschen. Die Lager und Gefängnisse stellten nicht nur Stätten der Ungerechtigkeit und des Verbrechens dar, sondern organisierte Höllen des Vergessens, »weder Leichnam noch Grab geben Kunde davon, dass ein Mord geschah oder dass jemand starb. Erst wenn ein Mensch aus der Welt der Lebenden so ausgelöscht ist, als ob er nie gelebt hätte, ist er wirklich ermordet.«41 Arendt verwendet hier den Begriff »Kunde«, wie sie ihn zweimal in ihrem Gedicht an prägnanter Stelle gebraucht: In der ersten Zeile und später alleinstehend in dem mittleren Vers. Auch die Tage, die »sich brennend verzehrten / und uns versehrten«, weisen auf die Ungeheuerlichkeit der Vernichtung und das eigene Überleben hin. Aus diesem Grund wird ersichtlich, dass Arendt hier ihre eigene dichterische Tätigkeit anspricht, Bleibendes gegen das Vergessen zu schaffen. Die Richtigstellung Heideggers in der letzten Strophe erscheint sekundär. Die Strophen der ersten handschriftlichen Fassung des Gedichts sind nahezu identisch mit der getippten Abschrift  – ursprünglich standen die nun jeweils durch einen Doppelpunkt angekündigten Doppelzeilen »des Glückes Wunde / wird Stigma nicht Narbe« am Ende der ersten und »gedichtetes Wort / ist Stätte, nicht Hort« am Ende der dritten Strophe in Klammern. Was also wie eine nachträgliche Erklärung klang, wird nun zur Hauptaussage des Gedichts. Weiterhin gab es noch eine vierte, erklärende Strophe, die Arendt nicht in ihre maschinenschriftliche Kopie übernommen hat: »Wenn nicht das Gesichtete, im Leiden Verdichtete, wenn nicht das Gedankte, im Lauten Verrankte, erst dichtend gesprochen, dann singend gesonnen – dem Leiden entronnen – ins Bleiben gefügt wär.« 42

Diese Strophe ist wohl deshalb entfallen, weil sie die Aussagen aus dem ersten Teil des Gedichts auf allzu explizite Weise wiederholt. So ist hier die Rede von dem Leiden, dem entronnen wurde – eine große Nähe zur »Wunde« in der ersten Strophe, die viel eindrücklicher ist, als der Begriff »Leid«. Auch die Wiederholung des »Bleibens« durch Dichtung ist eine Doppelung. Die Strophe ist etwas preziös, wie etwa der Stabreim  – »dichtend gesprochen, / dann singend geson41 | Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, (1951), München, 2001, S. 900 f. 42 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 12, S. 30 (Dezember 1952).

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nen«  – oder die erzwungenen Reime  – »wenn nicht das Gedankte / im Lauten verrankte« – zeigen. Der einzig neue Aspekt, den Arendt hier einbringt, ist der Anteil des formalen Dichtens. Der akustische, musikalische Aspekt der Dichtung wird hervorgehoben, wie er im kreativen Prozess vonstattengeht: »erst dichtend gesprochen« bedeutet also die inhaltliche Verdichtung des Gesehenen, des Erlebten, des Gedachten. Dann wird »singend gesonnen«, also musikalisch gefügt in Vokale und Konsonanten, Versmaße, Reime, Strophen etc. Arendt würde diesen Aspekt der Dichtung in einem anderen Gedicht, Dicht verdichtet das Gedicht, zur Anwendung bringen.43 Zusätzlich ist noch eine weitere, spätere und noch kürzere Fassung des Gedichts nachweisbar, entstanden nach 1954 und daher nicht mehr als maschinenschriftliche Version existent. Im Januar 1956 notiert Arendt die folgende Abwandlung: »Des Glückes Wunde heisst Stigma, nicht Narbe. Hiervon gibt Kunde Nur Dichters Wort. Gedichtete Sage ist Stätte, nicht Hort.« 44

In diesem Resumee wird auf den fiktionalen Aspekt der Dichtung angesprochen und das real Erlebte, »die Kunde jener Tage, die sich brennend ineinander verzehrten«, bleibt ausgeklammert. Der Unterschied zwischen »gedichtetem Wort« (erste Fassung) und »gedichteter Sage« (Fassung hier) hebt das Erzählerische, Narrative hervor und das Erlebte der früheren Fassung wird zurückgenommen. Diese zweite Version, Ausdruck reiner Poesie ohne Anteil des Erlebens, besitzt weniger Tiefe als die erste, die von dem Schmerz und dem Willen, etwas Bleibendes zu schaffen, geprägt ist. Formal gesehen wird die Prägnanz des Gedichts durch kurze Zeilen aus zweihebigen Daktylen und Trochäen erzeugt. Die erste Strophe aus sieben Zeilen mit zweihebigem Rhythmus und Auftakt zu Beginn stimmt den Leser ein. Die zweite Strophe hebt das Thema des Gedichts, die Kunde, hervor, indem sie nur aus einem Vers besteht. Dieser Vers besteht als einziger aus drei Hebungen. Die dritte Strophe gibt das Resultat in vier Zeilen wieder, die erneut einen zweihebigen Rhythmus annehmen. Manchmal ist das Gedicht gereimt, manchmal nicht. Daraus lässt sich ein Formwille ableiten, der den Leser vor allem durch den Rhythmus einnehmen soll. Insgesamt wirkt das Gedicht wie ein gestalteter poetologischer Aphorismus. 43 | Vgl. den dritten Teil, 2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht«, S. 340. 44 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 22, S. 2 (Januar 1956). Auch in: Gedichte, S. 77.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Durch die Wir-Perspektive schließt sich das lyrische Ich in eine Gemeinschaft ein, die Leid ertragen musste, ähnlich wie bei den Emigrationsgedichten. Wie erwähnt, richtet sich das Ich in einem Selbstgespräch an ein Du, das ein Dichter ist. Die erste Strophe beginnt ungewöhnlich mit »und«, so als ob zuvor bereits etwas erzählt worden wäre, auf das sich das lyrische Ich nun bezieht. Dies müssen schmerzvolle Erfahrungen gewesen sein, da sie das geläufige Zeiterleben verändert haben: »Jenen Tage, »die ineinander / sich brennend verzehrten«, sind ein Ereignis im Unterschied etwa zu den Tagen in Herr der Nächte, die lose miteinander verbunden sich in einer Kette reihen, sich verflüchtigen und Vergänglichkeit symbolisieren. Hier dagegen verzehren sich die Tage ineinander, viele Einzelereignisse führen zu einem globalen Ereignis, das alles überschattet, verbrennt und weitreichende Folgen hat. Der Brand weist auf die Zerstörungskraft dieser Erfahrung hin. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass es hier um die Shoa, die Judenverfolgung geht. Diese Tage »versehrten« die Überlebenden, sie führten nicht wie für andere zur Vernichtung, es blieb bei einer »Verwundung«. Das führt zu einem Paradox: »Des Glückes Wunde« meint das Glück, überlebt zu haben, auch wenn Verletzungen zurückbleiben. Dabei hinterlässt diese Wunde keine »Narbe«, sondern ein »Stigma«. In diesem Zusammenhang gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten: Entweder verweist das Stigma auf Jesu Wundmale bei der Kreuzigung und ist damit Symbol seines Leids. Dieses Stigma ist aber auch ein Zeichen des Wunders und der Erlösung, denn die Male beginnen wieder zu bluten, als Christus den Frauen am Ölberg erscheint. Oder das Stigma bezieht sich auf die Brandzeichen der Opfer in den Konzentrationslagern. Das würde bedeuten, dass das Überleben einem Wunder gleichkommt, wenn auch die Brandzeichen, wie bei den Überlebenden der Lager, weiterbestehen. Das Stigma ist die materialisierte Kunde dieser Tage. Doch das genügt nicht. Des Dichters Aufgabe liegt darin, von diesem Stigma zu berichten: Durch die Wiederholung der ersten Zeile – »Davon wär’ keine Kunde« – in einem mittleren, alleinstehenden Vers legt Hannah Arendt den Schwerpunkt auf das Berichterstatten. Eine endgültige Aufarbeitung ist nicht möglich, aber etwas Erlösung kann durch die Narration und deren herstellende Verdinglichung, Auf bewahrung, erreicht werden: »Wenn nicht Dein Sagen / ihm Bleiben gewährte«. Hier erscheint Arendts Poetologie in aphoristischer Kürze: Das Befreiende des Berichtens, der Erhalt der schrecklichen Tage. Arendts Standardwerk, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, berichtet, was den Opfern widerfahren ist. Die letzten zwei Zeilen beziehen sich auf Heideggers Vers »gedichtetes Wort ist Hort«: Nach Arendt sind Gedichte Zeugnisse, daher Stätten, wie Grabstätten, materialisierte Symbole des Erinnerns. Ein Hort dagegen kommt von horten, sammeln. Das wären wahllose, möglicherweise rein ästhetische Zeugnisse. Das Gedicht geht von dem konkreten Leid aus, stellt dieses aber nicht dar, spart es aus. Bilder der Konzentrationslager oder der Flucht drängen sich spontan auf, sie gehen dem Gedicht voran. Diese Bilder hat Arendt in ihrem Totalitarismus-Buch anhand von Fakten beschrieben. Celan hat sie metaphorisch in

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seiner Todesfuge wiedergegeben. Dem Grauen darf man nicht entweichen. Damit grenzt sich Arendt auch von Adornos Aussage ab, dass man nach Auschwitz kein Gedicht mehr schreiben könne. Im Gegenteil: Dichtung ist gerade in diesem Fall notwendig, da sie Andenken an eine Zeit bewahrt, die nicht vergessen werden darf. Das Gedicht lässt sich nach Hannah Arendts eigenen theoretischen Aussagen zur Dichtung in folgende Kategorie einordnen: Es geht um eine Poetologie der Narration, die folglich nur in sprachlich kommunikativer Form dargestellt werden kann. Der ethische Inhalt bezieht sich auf das zentrale Ereignis des Schreckens, das Anlass für die Berichterstattung gibt. Auf das Ereignis wird nicht narrativ Bezug genommen, sondern nur in verkürzter sprachlicher Form angespielt (»die Tage, die sich brennend verzehrten«). Hervorgehoben werden die Auswirkungen, das Leid. Diese Tage als Ereignis bilden einen Einschnitt in den Kreislauf der Natur, sie unterbrechen den regelmäßigen Ablauf. Dadurch werden sie zum Anlass des Dichtens: Der Sinn dieser Tage muss erhellt werden. Der Sinn besteht in der Erlösungskraft der Dichtung, da sie Erklärungen findet und Bleibendes schafft. Die sprachliche Form kann daher nur kommunikativ sein: Die Innenwelt des lyrischen Ichs wird diskursiv, erklärend wiedergegeben. Das lyrische Ich wendet sich an seine Mitwelt in einer verständlichen Sprache, die von Tatsachen ausgeht. Es benutzt auch rationale Differenzierungen, welche die Poetik erklären: statt »Hort« »Stätte«, statt »Narbe« »Stigma«. Die zentrale Aussage, die Leuchtkraft des Gedichts, liegt in der Feststellung, dass Dichtung bewahrt. Und in diesem Falle erreicht Hannah Arendt ihr Ziel auf zwei Ebenen: inhaltlich in der poetologischen Aussage und in der Tatsache, dass das Gedicht selbst entstanden, materialisierte Erscheinung ist. Arendt hat das Thema zwar auch theoretisch in der Vita Activa behandelt, also etwas Dauerhaftes hergestellt, dennoch ist die hier verdichtete, bildliche Darstellung sehr viel eindrücklicher.

2.1.4 »Dicht verdichtet das Gedicht« »Dicht verdichtet das Gedicht, schützt den Kern vor bösen Sinnen. Schale, wenn der Kern durchbricht, weis’ der Welt ein dichtes Innen.« 45

Es ist möglich, dass auch dieses poetologische Gedicht Hannah Arendts vom August 1953 eine Antwort auf ein Gedicht Heideggers ist. Am 11. März 1950 schickte er ihr ein Konvolut von Gedichten zu, darunter eines über die Rezeption von Lyrik:

45 | Arendt, Hannah: Dicht verdichtet das Gedicht. In: Gedichte, S. 63.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung »Weß Ohr ist wach für das Gedicht? Bang herrscht noch das Gestell. Zuvor kommt Wüste, bis es bricht. Lang ruht Gedicht im Quell.« 46

Den Terminus »Gestell« verwendet Heidegger in seiner seinsgeschichtlichen Interpretation der Technik. Die Wahrheit muss »entbergt« werden, da sie von der modernen Technik verdeckt wird. Das Bergen wird vollbracht durch die poiesis: als künstlerisches Hervorbringen und als handwerkliches Herstellen. Das Gestell selbst ist ein negativer Begriff: »Indem es im Wesen des Gestells liegt, Nähe zu verweigern, ereignet sich dadurch die ›Verwahrlosung des Dinges als Ding‹ und damit auch die ›Verweigerung von Welt‹.«47 Der Mensch wird herausgefordert, zu bestellen, zu entbergen, zur Ursache vorzudringen: »Diesen Anspruch des fortgesetzten Bestellens, der an den Menschen ergeht, nennt Heidegger das Gestell.«48 Im Gedicht Heideggers ist der Ursprung vom Gestell verdeckt und kann nur durch Lyrik wieder hergestellt, entborgen werden. Die Opposition zwischen »Wüste« / »Gestell« und »Quelle« / »Ursprung« wird von Arendt in ihrem eigenen Gedicht aufgenommen: Ihr Gegensatzmodell von Innen und Außen, »Kern« und »Schale« nimmt seine Opposition zwischen »Wüste« und »Quelle« auf. Ihr Bild für das »Gestell« weist auch auf den Vorgang des Entbergens hin, also auf ein Außen, dessen Inneres hervorgebracht wird. Sie geht auf Heideggers Gedankenwelt ein, ohne seine philosophischen Termini zu gebrauchen. Einig scheinen sich beide zu sein, dass Lyrik Wahrheit auf pointierte Weise wiedergeben, auf den Ursprung hinter den Dingen verweisen kann. Nur verstehen Arendt und Heidegger unter der Wahrheit etwas anderes. Während es Arendt um den Sinn einer Geschichte geht (das Gedicht »schützt den Kern vor bösen Sinnen«), die sich hinter den äußeren Handlungen verbergen, geht es Heidegger in seiner Seinsgeschichte um das Sein (das Äußere herrscht vor, das Gestell »herrscht bang«), das hinter allem waltet. Arendt geht es um Sinn im Immanenten, Heidegger um Ontologie im Transzendenten. Ihr Gedicht wirkt wie eine dialogische Antwort auf sein Gedicht: in der äußeren Darstellung – beide Male geht es um Vierzeiler; in der Thematik – was Lyrik kann; in den Motivabwandlungen – »Wüste«, »Quell« für Heidegger und »Schale«, »Kern« für Arendt. Wenn man die Verse der beiden Gedichte jeweils miteinander verbindet, scheint Arendt beruhigende Antworten auf einen sorgenvollen Heidegger zu geben: Er fragt: »Wess‹ Ohr ist wach für das Gedicht?« Sie antwortet: »Dicht verdichtet das Gedicht« – jemand ist da, der die Flut der Gedichte, die er ihr zukommen lässt, annimmt und ihren Sinn erkennt. Er schreibt: »Bang herrscht 46 | Heidegger-Briefwechsel: Eintrag 54: Heidegger für Arendt, 11.3.1950, S. 89. 47 | Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Hg. Vetter, Helmuth), Hamburg, 2004, S. 233 f. 48 | Ebenda, S. 233.

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noch das Gestell.« Sie antwortet tröstlich: Das Gedicht »schützt den Kern vor bösen Sinnen«, also das Gestell, das Äußere kann dem Sinn des Inneren nichts anhaben. Er führt fort: »Zuvor kommt Wüste, bis es bricht.« Sie wandelt seine Analogie ab, aber behält die Reimform bei: »Schale, wenn der Kern durchbricht«. Und Heideggers Synthese schließlich, »Lang ruht Gedicht im Quell«, spielt darauf an, dass der Ursprung, die Wahrheit in der Quelle liegt, so als ob nach langer Zeit in der Wüste die Sprache zu sprudeln beginnt. Arendt kommt zu einer ähnlich erlösenden Replik: Der Kern »weis’ der Welt ein dichtes Innen.« Allerdings ist ihre Antwort für das Innen die Welt, weist also auf Vielfältigkeit des Lebens hin, das verdichtet wird; seine These für den Quell ist das Sein, da das Gedicht lange im Gestell ruhte, bevor es zur Sprache wurde. Die handschriftliche Fassung im Denktagebuch 49 und die maschinenschriftliche Fassung50 sind fast identisch. Nur in der letzten Strophe besteht ein Unterschied: Was in der Handschrift »das dichte Innen« heißt, hat Arendt in der Typoskriptabschrift in »ein dichtes Innen« abgewandelt. Es geht also nicht um den eindeutigen Sinn des »das«, sondern um Sinnfülle, die allgemeiner in »ein« ausgedrückt wird. Hannah Arendts vierzeiliger Aphorismus vermittelt durch vierhebige Trochäen Dynamik. In der ersten Strophe – »Dicht verdichtet das Gedicht« – stimmt der dreifache, identische Stabreim (es handelt sich um das gleiche Etymon) den Leser in die allgemeine Idee ein. Arendts Analogie für die Verdichtung des Sinns in einem Gedicht ist die einer Frucht mit »Kern« und »Schale«, etwa eine Kastanie, die aufspringt. Durch dichterische Sprache, durch die Form (die »Schale«) wird der Inhalt des Gedichts (der »Kern«) geschützt. Die »Schale«, die Form schützt vor »bösem Sinnen«, vor der Missdeutung eines Gedichts: Sprachlich sinnvolle Bilder müssen gefunden werden. Der »Kern«, der Sinn des Inhalts ist »dicht«. Damit gibt Arendt die Bewegung beim Lesen eines Gedichts wieder: Der »Kern« bricht durch die »Schale« und weist dem Leser den Sinn des Inhalts. Lyrik befähigt also zum Verständnis durch besondere sprachliche Form, durch bestimmte Metaphern. Wesentlich sind in diesem Vorgang die Mittel der Verkürzung und Verdichtung – die Pointierung eines Erlebnisses oder eines Gedankens, der mitteilbar wird und weitere Bilder und Gedanken auslöst, die nicht mehr dargestellt zu werden brauchen. In der Vita Activa kommt Arendt auf das Mittel der Verdichtung in der Lyrik zu sprechen: »Die gewissermaßen menschlichste und unweltlichste der Künste ist die Dichtkunst, deren Material die Sprache selbst ist und deren Produkt dem Denken, das es inspirierte, am nächsten bleibt. Die Dauerhaftigkeit des Gedichts entsteht gleichsam durch Verdichtung: es ist, als wäre ein in äußerster Dichte und Aufmerksamkeit gesprochenes Sprechen in sich bereits ›dichterisch‹. Das andenkende 49 | DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, H. 18, S. 5 (August 1953). 50 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In:Box 85 / F older Miscellany: Poetry and stories, 1942-1954, Blatt 022963 (1953).

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Erinnern – Mnemosyne, die Mutter aller Musen und Künste – vermag sprachlich so zu konzentrieren, dass das Gedachte sich in etwas verwandelt, was sich unmittelbar dem Gedächtnis einprägt, und auch Rhythmus und Reim, die technischen Mittel der Dichtkunst, stammen aus dieser äußersten Konzentration.«51 Arendt fomuliert hier theoretisch, was sie im Gedicht bildlich wiedergibt: Also sowohl der Inhalt – das andenkende Erinnern, der »Kern« – wie auch die Form – Rhythmus und Reim, die »Schale« – verdichten und konzentrieren. Nach Aussagen Arendts in ihrem Denktagebuch erscheint der Sinn eines Geschehens nicht direkt, sondern ist verborgen unter einer Schale: »Sinn ist, was nie erscheint, sich nicht einmal manifestiert. Also geht Denken immer auf das, was unter der Oberfläche ist, oder in die Tiefe. Die Tiefe ist seine Dimension. Es aus der Tiefe in die Höhe zu heben, ist die Aufgabe der Dichtung, aller Kunst.«52 Also gibt es ein Entbergen, nur geht es um das Entbergen eines Sinns im Zusammenhang mit weltlichen Erscheinungen, im Unterschied zu Heidegger, dem es um ein Entbergen des Seins geht. Den Sinn kann man nach Arendt durch Denken ausmachen und hier spielt besonders die Fähigkeit der Einbildungskraft eine tragende Rolle. Die Fähigkeit der Einbildungskraft, um den »dichten Kern«, den Sinn zu begreifen, erläutert Arendt in ihrem Essay Verstehen und Politik von 1953, der also im gleichen Jahr wie das Gedicht entstanden ist: König Salomon (Altes Testament) habe ein »verstehendes Herz« gehabt, das heißt ein menschliches Herz, das ebenso entfernt von gefühlsmäßiger Sentimentalität (Gefühl) wie von papierener Theorie (Nachdenken) sei und das es möglich gemacht habe, mit anderen, fremden Menschen in derselben Welt zu leben. Die Gabe des »verstehenden Herzens« besteht nach Arendt in der Einbildungskraft: »Im Unterschied zur Phantasie, die etwas erträumt, ist die Einbildungskraft mit der besonderen Dunkelheit des menschlichen Herzens und der allem Wirklichen eigenen besonderen Verdichtung befasst. Wann immer wir von der ›Natur‹ oder dem ›Wesen‹ eines Dinges sprechen, meinen wir eigentlich jenen Kern, über dessen Existenz wir niemals so sicher sein können wie hinsichtlich der Dunkelheit und Verdichtung.«53 Daraus kann man schließen, dass der »Kern« die Natur oder das Wesen eines Menschen oder einer Angelegenheit verdunkelt und dicht ist, so dass man diese Komplexität nur in der metaphorischen, lyrischen Form wiedergeben kann. Der Dichter muss wie auch der Rezipient von Dichtung dabei die Gabe des »verstehenden Herzens«, der Einbildungskraft oder der erweiterten Denkungsart besitzen, um diese Natur zu erschaffen oder wahrnehmen zu können: »Wahres Verstehen ermüdet nicht beim unendlichen Dialog und Zirkelschluss, weil es darauf vertraut, dass die Ein51 | Arendt, Hannah: Vita Activa (1958), München, 2001 S. 205. | Vgl. auch den zweiten Teil, 2.2.2 Kreativer Akt: Denken und Sinnen im Bereich der Zeitlosigkeit, S. 243. 52 | Denktagebuch: Heft 16: September 1969, Eintrag 53, S. 740. 53 | Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000, S. 110-127, hier S. 127.

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bildungskraft zumindest einen Schein des immer furchteinflößenden Lichts der Wahrheit wahrnimmt.«54 Und weiter zitiert Arendt in diesem Zusammenhang gerade einen Lyriker, William Wordsworth, der in der Einbildungskraft das Fundament für mitmenschliche Wahrnehmung erkennt: »Im Gegenteil, Einbildung ist, wie Wordsworth sagte, ›ein anderer Ausdruck für klarstmögliche Einsicht, für Weite des Geistes und für Vernunft in ihrer höchsten Stimmungslage‹.«55 Während Hannah Arendt in Und keine Kunde das Ziel der Dichtung aufzeigt: Unvergängliches zu schaffen,56 verweist sie hier auf die Wirkung der Dichtung: das Setzen eines Sinnes.57 In beiden Gedichten fasst Arendt prägnant ihre Narrationstheorie zusammen, »verdichtet« sie.

2.2 Z u Z eitlosigkeit und V ergänglichkeit 2.2.1 »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit« »Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit Sind der Erinn’rungen viele. Nebelgestalten ziehen die sehnsüchtigen Kreise meiner Gefangenheit Vergangen, verlockend, am Ziele. Tote, was wollt Ihr? Habt Ihr im Orkus nicht Heimat und Stätte? Endlich den Frieden der Tiefe? Wasser und Erde, Feuer und Luft sind Euch ergeben, als hätte Mächtig ein Gott Euch. Und riefe Euch aus stehenden Wässern, aus Sümpfen, Mooren und Teichen Sammelnd geeinigt herbei. Schimmernd im Zwielicht bedeckt Ihr mit Nebel der Lebenden Reiche, Spottend des dunklen Vorbei. Spielen wollen auch wir; ergreifen und lachen und haschen Träume vergangener Zeit. Müde wurden auch wir der Strassen, der Städte, des raschen Wechsels der Einsamkeit. 54 | Ebenda, S. 127. 55 | Ebenda, S. 127. Arendt zitiert Wordsworth’ Gedicht: The Prelude, Buch 14. Originaltext: »The spiritual Love acts not nor can exist / Without imagination, which, in truth, / Is but another name for absolute power / And clearest insight, amplitude of mind, / And reason in her most exalted mood.« 56 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1.3 Ziel der Dichtung: Unvergänglichkeit, S. 221. 57 | Vgl. den zweiten Teil, 2.1.4 Wirkung der Dichtung: Sinnsetzen, S. 227.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung Unter die rudernden Boote mit liebenden Paaren geschmückt auf Stehenden Teichen im Wald Könnten auch wir uns mischen – leise, versteckt und entrückt auf Nebelwolken, die bald Sachte die Erde bekleiden, das Ufer, den Busch und den Baum, Wartend des kommenden Sturms. Wartend des aus dem Nebel, aus Luftschloss, Narrheit und Traum Steigenden wirbelnden Sturms.« 58

Das Gedicht wurde im Februar 1943 verfasst und gehört in den Zyklus der Emigrationslyrik. Es folgt auf den Nekrolog auf Walter Benjamin, ist also das zweite Gedicht, das nach einer langen Pause von sechzehn Jahren entstanden ist. Verfolgung, Selbstmorde und schließlich das Wissen um die Konzentrationslager weckten in Arendt große Not und traurige Erinnerungen. So schreibt sie in ihrem Artikel Wir Flüchtlinge, dass sie nachts der Toten gedenkt und sich an die geliebten Gedichte erinnert.59 Elisabeth Young-Bruehl hat als Erste das Gedicht in ihrer Biographie über Arendt veröffentlicht: »The Origins of Totalitarism wurde während der verzweifeltsten Zeit im Leben der Blüchers geplant. Die Nachrichten aus Europa in den ersten Monaten des Jahres 1943 waren unglaublich. Viele Jahre später erinnerte sich Hannah Arendt an die Zeit und an ihre Reaktion auf die Berichte über Hitlers Endlösung der Judenfrage: ›Und erst haben wir es nicht geglaubt. […] Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen. Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist etwas anderes gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet.‹«60 Das Bild »der stehenden Teiche« mit Toten, die in Booten sitzen und somit in Arendts Vorstellung wieder lebendig werden, gehört in den Bereich der Zeitlosigkeit. Sie erinnert sich nicht konkret zurück, sondern entwickelt ein originales Bild, in dem alle Verstorbenen sich treffen. Damit gehört dieser lyrische Text thematisch zu den Gedichten, die zeitliche Dimensionen wiederzugeben versuchen, in diesem Fall Zeitlosigkeit.

58 | Arendt, Hannah: Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit. In: Gedichte, S. 34 f. 59 | Vgl. den dritten Teil, 1.2.1 »W.B.«, S. 295. 60 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 265.

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Die erste handschriftliche61 und die zweite maschinenschriftliche Fassung62 weisen keine Unterschiede auf. Auf der gegenüberliegenden Seite im Manuskript hatte Arendt zwei weitere Strophen entwickelt, die sie nicht übernommen hat. Es ist möglich, dass sie erste Versuche darstellen, denn es kommen bereits die Motive »Erde«, »Nebel«, »Boote«, »Tote«, »Sümpfe«, »Moore« und »Teiche« darin vor. Die zwei Ebenen, die Wirklichkeit und der Traum, werden hier miteinander vermischt, während in der Endfassung in der sechsten Strophe eine Vermischung aktiv abgewiesen wird: Der zeitlose, traumhafte Raum endet in einem Sturm, der zur Jetztzeit der Wirklichkeit führt. Das Gedicht ist streng komponiert: Die sechs Strophen bestehen aus Kreuzreimen mit regelmäßig wechselnden Lang- und Kurzzeilen. Die Reime sind manchmal reich, etwa die jeweils vier Silben in »Vergangenheit« – »Gefangenheit« oder die drei Silben in »geschmückt auf« – »entrückt auf«. Der Rhythmus ist von freien Daktylen bestimmt, wie sie Rilke in seinen Elegien nutzt, die einen beschwörenden Klang bewirken. Das antike, griechische Versmaß verwendet Arendt in den langen Zeilen mit sechs bis sieben Hebungen wie in den kurzen, darauffolgenden Zeilen mit drei Hebungen. Der daraus entstehende feierliche Ton wird durch Enjambements gestützt, und zwar zum einen von der zweiten in die dritte Strophe, als »Gott ruft«, und zum anderen von der fünften in die sechste Strophe, als die Möglichkeit erwähnt wird, dass sich die Lebenden mit den Toten mischen könnten. Das Gedicht erinnert auch an Hölderlins Hymnen. Syntaktisch ist es am griechischen Satzbau orientiert, etwa in der dritten und vierten Zeile: »Nebelgestalten ziehen die sehnsüchtigen Kreise meiner Gefangenheit / Vergangen, verlockend, am Ziele.« Im klassischen Satzbau müsste es heißen: »Wie Nebelgestalten ziehen die Erinnerungen sehnsüchtig ihre Kreise um meine Gefangenheit. Sie sind entweder vergangen oder verlockend oder am Ziele.« Die nachgestellten Partizipien, die extremen Verkürzungen, der Wegfall von Präpositionen und Konjunktionen, wie die Versfügung lassen eine beschwörende Stimmung aufkommen. Auch der Gebrauch griechischer Begriffe weist auf eine Nähe zu Hölderlin hin: Arendt benutzt den Terminus »Orkus« statt Hölle oder Unterwelt; oder sie verweist auf »einen Gott«, also einen unter vielen wie in der griechischen Mythenwelt. Insgesamt hat sie formal einen feierlichen, geheimnisvollen Ton angeschlagen. Es ist, als ob es drei Welten gäbe: das der Lebenden, das der Toten und ein Reich im Zwielicht dazwischen, das Arendt hier beschreibt, ein Reich der Erinnerung im Stillstand der Zeitlosigkeit. Erweckt wird dieses Reich durch Nebel, die emporziehen, ein Sturm beschließt seinen Untergang. Die Toten werden personifiziert, vom lyrischen Ich angesprochen, das sich selbst in ein Wir der lebenden Hinterbliebenen einreiht. Die Toten besuchen die Lebenden, lassen sie nicht 61 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 84 / F older: Miscellany, Notebooks Volume II, 1942-1950, Heft ohne Nummerierung, (Februar 1943). 62 | LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 85 / F older: Miscellany, Poetry and Stories, 1942-1954, Blatt 022953 (1943).

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

in Ruhe. Die Haltung des lyrischen Ichs ist gespalten: Auf der einen Seite spricht es die Sehnsucht aus, zum Totenreich zu gelangen, auf der anderen wehrt es die Toten ab. Schließlich wird das Leid des lyrischen Ichs durch die Präsenz der Toten zu groß. Das Ergebnis ist eine Absage an jegliche Todessehnsucht und neu erstarkter Lebenswille. Eine psychoanalytische Deutung des Gedichts als Bilder aus dem Unterbewusstsein erscheint naheliegend. Da Arendt jedoch die Freud’sche Psychoanalyse als Scharlatanerie abgetan hat, würde eine solche Interpretation ihr nicht gerecht werden. Daher soll als Leitfaden ihre Theorie des Andenkens dienen, als Erinnerung an die Vergangenheit, die zu einem zeitlosen Raum beim Denken führt. In der ersten Strophe reißt Arendt das Thema an: Viele Erinnerungen tauchen in einem zeitlosen Raum auf, den sie einen »stehenden Teich der Vergangenheit« nennt. Kein fließendes Gewässer, kein Strom wie in Tag in Tagen, der den Ablauf der Zeit darstellt, sondern ein unbeweglicher Teich, der für den Zeitstillstand spricht. Die Toten werden als »Nebelgestalten« bezeichnet. Aus vielen Einzelerinnerungen entsteht ein Reich, in dem sich die Toten wie Geister zusammenfinden. Das lyrische Ich ist in diesem Reich gefangen: Die Gestalten ziehen Kreise um das Ich und gleichzeitig wird es von den Erinnerungen an die Toten umkreist. Dadurch entsteht Sehnsucht nach den Verstorbenen. Die Spannung zwischen dem Verlust der Menschen im Leben (»vergangen«) und der Sehnsucht nach den Toten (»verlockend, am Ziele«) führt zu einer allgemeinen Todessehnsucht. In der zweiten Strophe spricht das lyrische Ich die Toten direkt an, um diese und damit die Todessehnsucht abzuwehren. Die Toten sollen den zwielichten, zeitlosen Raum, den sie mit den Lebenden teilen, verlassen und in das Reich der Toten, den »Orkus«, zurückkehren. Das Reich der Toten ist das Gegenteil des Reichs der Lebenden: Im Orkus ist »Heimat« und »Stätte«, »Frieden der Tiefe«. Das bedeutet ohne Emigration und Wanderung, ohne oberflächlichen Krieg wie im Reich der Lebenden. Der »Orkus« bietet Sicherheit, fern von den zerstörerischen Erlebnissen der Flucht. Auch die natürlichen Elemente sind den Toten ergeben, »Wasser und Erde, Feuer und Luft«. Die Natur kann ihnen nichts mehr anhaben, sie sind körperlich nicht mehr verletzbar. Dann fügt Arendt eine erstaunliche Zeile ein, die man nicht erwarten würde: »… als hätte mächtig ein Gott Euch.« Allerdings relativiert der Vers diese Gottesvorstellung durch den Konjunktiv – Arendt wird später vom metaphysischen Irrtum der Zwei-Welten-Theorie schreiben, die beim Denken entsteht. Indem Arendt drei Reiche darstellt, das der Lebenden, welches sie kennt, das der Toten, welches sie nicht kennt, aber imaginiert als Ruhe unter der Obhut eines Gottes, und schließlich das zwielichtige Reich, das aus Erinnerung eine Welt erschafft, in der die Toten die Lebenden rufen, relativiert sie bewusst und bleibt in der Dimension einer intentionalen Wahrnehmung. Das Enjambement in die dritte Strophe geschieht über die Gottesvorstellung: »Und riefe …«. In diesem Zwischenreich der Zeitlosigkeit ruft ein Gott die Toten sammelnd wieder zurück in den Orkus. Die Zeitlosigkeit dieses Zwischenreichs wird mit verschiedenen Bildern von stehenden Gewässern umschrieben: nicht

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mehr nur »Teiche«, sondern auch »Sümpfe« und »Moore«. Das Schwere, Schlierige wird betont; das »Zwielicht« und der »Nebel« bedecken Himmel und Luft des Reichs der Lebenden. Die Toten erscheinen wie Geistergestalten, die sich über die Lebenden und deren Vergänglichkeit lustig machen – »spottend des dunklen Vorbei.« Wie in der zweiten Strophe geht Arendt dialektisch vor: Dort bestand die Opposition zwischen der Unsicherheit der Welt der Lebenden und der Sicherheit der Welt der Toten. Hier nun wird eine zeitliche Gegensätzlichkeit hergestellt: die Vergänglichkeit der Welt der Lebenden gegen den Bereich der Zeitlosigkeit der Toten. Indem die Toten in den Bereich der Lebenden einzudringen vermögen, erscheint die Vergänglichkeit als Illusion: »The past is never dead, it is not even past«, wie Arendt häufig Faulkner zitierte. Nach der fast aggressiven Abwehr der Toten wandelt sich der Ton, wird herzlicher: Die Sehnsucht nach den Verblichenen dominiert. Sie werden nun positiv in Gruppen, in einem Beisammen wahrgenommen. Da dieses Zwischenreich ohne feste Zeitdimension und ohne festen Ort existiert, vereinen sich die Toten aus verschiedenen Zeitphasen und unterschiedlichen Ländern in Ruhe, Leichtigkeit und Glück: »Spielen wollen auch wir; ergreifen und lachen und haschen / Träume vergangener Zeit.« In der realen Welt haben sich diese Träume nicht verwirklicht. Arendt agiert hier erneut dialektisch: Das »Spielen« wird ersetzt durch Müdigkeit: »Müde wurden auch wir der Straßen, der Städte, des raschen Wechsels der Einsamkeit.« Die Toten sind also Menschen, die aufgrund der Zeitumstände verstorben sind. Das deutet darauf hin, dass Arendt die Nachricht von den Konzentrationslagern lyrisch verarbeitet hat, wie Elisabeth Young-Bruehl als Erste beobachtet hat. Es werden diejenigen Freunde und Verwandten angesprochen, welche die Flucht nicht überlebt haben. Die Sehnsucht nach Ruhe, danach, bei den Toten zu verweilen, und die Müdigkeit, die aus der Unruhe des Lebens resultiert, führen zu einer latenten Todessehnsucht. Dieser Todeswunsch steigert sich in der fünften Strophe: Die Toten sitzen in geschmückten Booten und sind nicht nur beisammen, sondern einander in Liebe verbunden: »Unter die rudernden Boote mit liebenden Paaren geschmückt auf stehenden Teichen«. Das Verlangen, sich darin zu verlieren, ist groß: »Könnten auch wir uns mischen – leise, versteckt und entrückt auf Nebelwolken …«. Für das Sterben erzeugt Arendt ein harmonisches Bild des Übergangs. Dennoch verbleibt sie im Konjunktiv – die Lebenden »könnten« sich mischen, tun es aber nicht. Arendt greift im Anschluss erneut den Nebel aus der Eingangsstrophe auf, der zu den Erinnerungen und dem Zwischenreich führte. Dieser Nebel muss zerstieben, damit man wieder in die Gegenwart, ganz in die Welt der Lebenden kommt. Das geschieht in der letzten und sechsten Strophe über ein Enjambement: »Nebelwolken« bedecken nun »Ufer, Busch und Baum« nicht nur des Zwischenreichs, sondern auch der Erde. Das lyrische Ich wünscht sich einen Sturm herbei, der die Nebel auflöst: Der Sturm rüttelt aus den Chimären des zeitlosen Zwischenreiches auf. Das bedeutet eine Absage an jegliche Todessehnsucht. Der Tod ist keine Lösung, dieses Zwischenreich ist nur eine Vorstellung, ein »Traum«, »Narrheit«

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und »Luftschloss«. Der Sturm weckt auf, nachdem die Nebel verschleiert haben. Die Nebel haben in der Eingangsstrophe die Erinnerungen geweckt und dieses zeitlose Reich erzeugt, der wirbelnde Sturm zerstört die Nebel und damit dieses Zwischenreich in der Endstrophe. Das lyrische Ich gelangt wieder ins Leben, in die reale Gegenwart. Dreißig Jahre nachdem sie das Gedicht konzipiert hat, sollte Hannah Arendt dieses Zwischenreich des Denkens und auch des Traums in Vom Leben des Geistes näher erörtern: Das Denken hält alle anderen Vorgänge an, das Nahe ist weit entfernt, das Ferne faktisch gegenwärtig. »Beim Denken ist man nicht dort, wo man wirklich ist; man ist nicht von Sinnesgegenständen umgeben, sondern von Vorstellungsbildern, die sonst niemand sehen kann. Es ist so, als hätte man sich in ein sehr fernes Land zurückgezogen, das Land des Unsichtbaren, von dem man überhaupt nichts wüsste, wenn man nicht dieses Vermögen des Erinnerns und Vorstellens hätte. Das Denken hebt zeitliche und räumliche Entfernungen auf. Man kann die Zukunft vorwegnehmen, man kann sie denken, als wäre sie schon Gegenwart, man kann die Vergangenheit erinnern, als wäre sie gar nicht entschwunden.«63 Der Denkprozess entspricht dem Zwischenreich im Gedicht: Man befindet sich in einem fernen Land aus Erinnerung und Vorstellung. Dabei besteht dieses Land nicht nur aus realen Erinnerungen, sondern zum Denken kommt die Imagination hinzu – die verstorbenen Personen kommen in der Vorstellung zusammen. Der Denkprozess beruht auf dem Gedächtnis: »Mnemosyne, das Gedächtnis, ist die Mutter aller Musen, und das Erinnern, die häufigste und auch grundlegendste Denkerfahrung, hat mit Dingen zu tun, die abwesend, den Sinnen entschwunden sind.«64 Und das im Gedächtnis verbliebene, das Abwesende – Person, Ereignis, Gebäude – erscheint nicht, wie es sinnlich wahrgenommen wurde, sondern wird durch die Einbildungskraft in Vorstellungsbilder verwandelt. Ohne Einbildungskraft wären keine Denkvorgänge möglich. Das Reich der Zeitlosigkeit entsteht also durch Einbildungskraft: Das Denken hebt die zeitlichen und räumlichen Entfernungen auf, Zeit und Raum werden vom Denken außer Kraft gesetzt: »Zeit und Raum sind in der Alltagserfahrung nicht einmal denkbar ohne Kontinuum, das sich vom Nahen zum Fernen erstreckt, vom Jetzt in die Vergangenheit und Zukunft, vom Hier zu jedem Punkt unter der Sonne, links und rechts, vorwärts und rückwärts, nach oben und unten; daher kann man mit gewisser Berechtigung sagen, dass nicht nur Entfernungen, sondern Zeit und Raum selbst beim Denken außer Kraft gesetzt sind.«65 Als Beispiel für diese Erfahrung gibt Arendt die Praxis der Kontemplation im Christentum an, einer Erfahrung, die in der mittelalterlichen, metaphysischen Tradition als nunc stans bezeichnet wurde. Der »stehende Teich der Vergangenheit« ist dieses stehende 63 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 91. 64 | Ebenda, S. 90. 65 | Ebenda, S. 91.

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Jetzt als Bereich der Zeitlosigkeit, in dem Zeit und Raum durch das Denken außer Kraft gesetzt und die Vergangenheit imaginär zum Stehen gebracht wurde. Gleichzeitig grenzt sich Arendt von religiösen Vorstellungen ab: »Als hätte ein Gott Euch« ist im Konjunktiv gehalten, das Reich der Toten ist wie das Zwischenreich ein Land der Imagination. Die Erfahrung des Denkens selbst führt zur metaphysischen Täuschung,66 wie sie anhand von Platons Theorie der Seelenwanderung ausmacht: »Während man denkt, ist man sich seiner Körperlichkeit nicht bewusst – und aufgrund dieser Erfahrung schrieb Plato der Seele Unsterblichkeit zu, wenn sie einmal den Körper verlassen hat.«67 Die geistige Tätigkeit kann dem Irrtum einer Zwei-Welten-Theorie, zwischen Sein und Erscheinung, unterliegen: »Da Sein und Erscheinung für die Menschen dasselbe sind, bedeutet dies, dass man aus der Erscheinung nur in die Erscheinung flüchten kann. Und das löst das Problem nicht, denn diese betrifft die Möglichkeit des Denkens, überhaupt zu erscheinen, und die Frage lautet, ob Denken und andere unsichtbare und unhörbare Geistestätigkeiten zum Erscheinen bestimmt sind oder ob sie vielmehr in der Welt nie eine wirkliche Heimat finden können.«68 Auch die Einteilung des ontologischen Denkens in Sein und Seiendes oder Erscheinendes, von Grund und Oberfläche, ist eine Fehleinschätzung.69 Die alte metaphysische Einteilung zwischen wahrem Sein und bloßer Erscheinung reicht von Parmenides (der Philosoph muss die Welt der Erscheinungen verlassen, um zu sehen, was wirklich ist; er wird über die Tore von Tag und Nacht hinaufgetragen, um auf den göttlichen Pfad zu gelangen – Fragmente der Vorsokratiker) über Platon (Das Höhlengleichnis) bis zu Heidegger (aletheia als das Entborgene). Diese uralte unerschütterliche Überzeugung, dass das Sein vor der Erscheinung sowie der Grund vor der Oberfläche Vorrang habe, beruht darauf, dass Grund und Ursache miteinander verwechselt werden: »Hier wird nach einer Ursache und nicht nach einem Untergrund gefragt, doch der springende Punkt ist, dass unsere philosophische Tradition aus dem Grund, aus dem sich etwas erhebt, die Ursache gemacht hat, die es hervorbringt, und dieser dann einen höheren Grad von Wirklichkeit zugeschrieben hat, als dem, was bloß dem Auge erscheint. Die Auffassung, der Ursache komme ein höherer Rang zu als der Wirklichkeit […], gehört vielleicht zu den ältesten und hartnäckigsten metaphysischen Irrtümern. Kein Mensch kann inmitten von ›Ur-

66 | In ihrem Denktagebuch äußert sich Arendt explizit zum Mensch-Gott-Verhältnis: Der Mensch setze das Du Gottes mit dem Selbst gleich: »In dem Dialog mit uns selbst, das Denken ist, glauben wir mit Gott zu sprechen. Das sogenannte Du Gottes ist nur das blasphemisch verabsolutierte Du des denkenden Dialogs mit uns selbst.« Denktagebuch: Heft 9: Paris, August 1952, Eintrag 26, S. 220. 67 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 90. 68 | Ebenda, S. 33. 69 | Vgl. auch Ebenda, S. 135-137.

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sachen‹ leben oder in der Umgangssprache ein Sein vollständig erfassen.« 70 Im Gedicht spielt Arendt einerseits auf die metaphysische Vorstellung eines Reichs der Toten beherrscht von einem Gott an, relativiert dieses Reich aber andererseits als Vorstellung. Das imaginäre Zwischenreich, in dem die Toten die Lebenden aufsuchen, wird durch die Erinnerung und die Einbildungskraft herauf beschworen. Dieses Reich entspricht nicht dem wahren Sein hinter den Erscheinungen, sondern wird vom Individuum erzeugt, selbst wenn die Bilder der Toten so real erscheinen wie eine Heimsuchung. Das lyrische Ich wägt in seiner Ansprache an die Toten konsequent ab: Es könnte ihrem Rufen folgen, das würde jedoch Suizid bedeuten. Also entscheidet es sich dagegen, für das Leben. Ein Sturm kann dieses imaginäre Reich auch wieder zerstäuben. Transzendentale Vorstellungen über Zeit und Raum hinweg existieren im Denken, aber um zu überleben, muss der Mensch vernünftig sein. Er darf sich nicht vom Tod verführen lassen und soll der Immanenz verhaftet bleiben. Diese Verpflichtung benennt Arendt in ihrem Denktagebuch ganz klar: »Gegeben scheint uns überhaupt nur: die Erde, um eine Stelle zu gewähren, an der wir im Universum unsere Zelte aufschlagen können (also der Raum); das Leben als die Spanne für unser Verweilen (also die Zeit); und die Vernunft, um erst uns zu leiten, uns hier für eine Weile häuslich einzurichten, und dann, wenn das Wohnen endlich besorgt ist, im Verwundern enden, dass überhaupt so etwas wie Erde, Universum, Leben und Mensch existieren. Mehr ›Zweck‹ dürfte aus der ganzen Veranstaltung beim besten Willen nicht herauszulesen sein.« 71 In Vom Leben des Geistes beschreibt Arendt den Ort des Denkens als Nirgendwo: Dies führt zu metaphysischen Trugschlüssen wie der Zwei-Welten-Theorie (»als hätte ein Gott Euch«), der nichttheoretischen Beschreibung des Denkens als Sterben (die Todessehnsucht),72 der Vorstellung, dass man beim Denken zu einer anderen noumenalen73 Welt gehört (das Zwischenreich), die nur andeutungshaft gegenwärtig ist (die Toten die erscheinen), sowie schließlich zu der Empfindung des Lebens als etwas Fremdem (die Müdigkeit der Emigration und die daraus entstehende Sehnsucht nach der Vergangenheit). Das alles sind authentische Erfahrungen, die beim Denken entstehen. Denken und Träumen sind eng miteinander verbunden: Das Denken führt zur Traumhaftigkeit der Wirklichkeit selbst – etwa Descartes’ Zweifel an der Wirklichkeit, Valérys Feststellung, »manchmal denke ich, manchmal bin ich«: »Und es stimmt, dass das denkende Ich, was immer es erreichen mag, niemals zur Wirk70 | Ebenda, S. 35. 71 | Denktagebuch: Heft 6: September 1951, Eintrag 9, S. 130. 72 | Vgl. dazu den Eintrag im Denktagebuch: Handeln wird mit der Geburt in Verbindung gesetzt, weil man einen Anfang setzt, Denken dagegen mit dem Sterben, weil Denken antizipieren, vorwegnehmen kann. | Vgl. Denktagebuch: Heft 27: August 1970, Eintrag 66, S. 785. 73 | Im Gegensatz zur immanenten Welt der Phänomene, die analysiert werden können.

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lichkeit als Wirklichkeit durchdringen oder sich überzeugen wird, dass überhaupt etwas wirklich existiert und das Leben, das menschliche Leben, mehr als ein bloßer Traum ist.« 74 Dafür gibt Arendt als schönes Beispiel die chinesische Parabel des Taoisten Tschuang Tsu an: Dieser »träumte einmal, er sei ein Schmetterling, der glücklich war mit sich selbst, umherflatterte und tat, was ihm gefiel. Er wusste nicht, dass er Tschuang Tsu war. Auf einmal wachte er auf, und nun war er unverkennbar der Tschuang Tsu aus Fleisch und Blut. Aber er wusste nicht, ob er Tschuang Tsu sei, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder ob er ein Schmetterling sei, der träumte, er sei Tschuang Tsu. Aber zwischen Tschuang Tsu und einem Schmetterling muss es doch irgendeinen Unterschied geben.« 75 Arendt vermeidet die radikale Vermischung von Realität und Traum in ihrem Gedicht, die drei Welten werden bewusst getrennt, auch wenn es in der fünften Strophe fast dazu kommt, als die Lebenden sich gerne zu den verstorbenen Paaren auf den Teichen gesellen würden. Es ist möglich, dass die im Gedicht beschriebene Denkerfahrung zu Arendts Zeitkonzept mit beigetragen hat. Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit ist einige Monate nach dem Nekrolog für Benjamin entstanden, dessen Thesen über den Begriff der Geschichte Arendt sehr gut kannte: Sie übergab das gerettete Manuskript in New York an Adorno. In der neunten These wird ein Engel, der Angelus Novus, beschworen, der von einem Sturm aus der Vergangenheit in die Zukunft geweht wird. Der Sturm in Arendts Gedicht, der das lyrische Ich in die reale Zeit und Gegenwart zurückruft, könnte dem gegenwärtigen Sturm Benjamins entsprechen, in dem der Engel fortlaufend weitergeweht wird.76 Ein Sturm kommt auch zwanzig Jahre später explizit in Arendts Zeitkonzept anhand Kafkas Er vor: Die Lücke beim Denken zwischen Vergangenheit und Zukunft ist zeitlos, sie ist das nunc stans. Der Denkprozess besteht aus einer Diagonalkraft, die von dieser Gegenwart ausgeht: »Sie [die Diagonalkraft] ist die Ruhe des Jetzt in der von der Zeit bedrängten, umhergeschleuderten Existenz des Menschen; irgendwie ist sie, um die Metapher abzuwandeln, die Ruhe im Zentrum des Sturms, die zwar

74 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 194. 75 | Ebenda, S. 194. 76 | Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München, 2001, S. 324. Und Arendt, Hannah: Walter Benjamin (1967). In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten,(Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 179-236, hier S. 197. | Das Bild des Sturms verwendet Arendt auch in ihrem Heidegger-Essay: Sie schließt den Essay mit der Bemerkung ab, dass ein Sturm durch Heideggers Denken ziehe. Denken komme aus dem Uralten, das als ein Vollendetes dem Uralten anheimfalle. Das Denken in der Zeitlosigkeit befasst sich auch mit dem Uralten, der Antike und kann lebendig wie ein Sturm sein. Vgl. Arendt, Hannah: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt (1969). In: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 178.

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etwas völlig anderes ist als der Sturm, aber doch zu ihm gehört.« 77 Die Existenz des Menschen wird metaphorisch als Sturm bezeichnet. Für die Interpretation des Gedichts bedeutet das, dass das lyrische Ich aufgrund von Emigration und Leid ein bewegtes Leben, eine Existenz im Sturm führt. Nachts beim Denken und Erinnern allerdings kreiert es zeitlosen Raum, das nunc stans, in der die Ruhe des Jetzt außerhalb des existentiellen Sturms herrscht. Die Toten, die herauf beschworen werden, sind in einem Zustand glücklicher Ruhe. Doch die reale Zeit, der Sturm, zerstört am Ende diese Nebelbilder. In Vom Leben des Geistes bemerkt Arendt, dass die Erinnungsfähigkeit »vor dem Ruin durch die historische und biographische Zeit« 78 die Vergangenheit zu retten vermag. Damit steht das Gedicht als Emigrationsgedicht in der Reihe ihrer Lyrik als Andenken. Und da sie in Vom Leben des Geistes den Sturm direkt als Metapher anführt, lässt das den Rückschluss zu, dass auch die Bilder des Zwischenreichs wie des Totenreichs ihrer Dichtungstheorie gemäß zur Sprache als Metapher gehören. Das Gedicht ist eine lange Metapher für das Denken und das Andenken. Die beschworenen Bilder sind rein metaphorisch zu verstehen, da sie aus dem Denkprozess entstanden sind. Die Einbildungskraft kreiert aus Erinnerungen an Naturbilder und an Verstorbene reproduktiv eine neue Metapher des Zwischenreichs. Nur die Metapher hat die Kapazität, ein Zwischen- und ein Totenreich wiederzugeben, da niemandem Kenntnis darüber vorliegt, was nach dem Tod kommt. Nur die Metapher kann Empfindungen vermitteln, die unsichtbar sind. Gleichzeitig gilt die Nichtumkehrbarkeit der Metapher: Menschen in Booten sind nicht unbedingt Verstorbene. Arendt beschreibt die innere Anspannung des lyrischen Ichs zwischen der Sehnsucht nach den und dem Widerstand gegen die Toten. Ohne falsche Sentimentalität wird realistisch ein Wechsel zwischen Aggression und Depression dargestellt. Der Tod darf nicht Herr über die Gedanken werden. In der Wahrhaftigkeit des Spannungsverhältnisses packt das Gedicht den Leser.

77 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 205. 78 | Ebenda, S. 206.

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2.2.2 »Park am Hudson« »Park am Hudson Fischer fischen still an Flüssen In der ganzen Welt. Fahrer fahren blind auf Wegen Um die ganze Welt. Kinder laufen, Mütter rufen, Golden liegt die Welt. Geht ein liebend Paar vorüber Manchmal durch die Welt. Fischer fischen still an Flüssen Bis zum Abendrot. Fahrer fahren blind auf Wegen Eilig in den Tod. Kinder selig in der Sonne Spielen Ewigkeit Manchmal geht ein Paar vorüber, Mit ihm geht die Zeit. Fischer fischen still an Flüssen Einsam hängt der Ast. Fahrer fahren blind auf Wegen Rastlos in die Rast. Kinder spielen, Mütter rufen, Ewigkeit ist fast. Geht ein liebend Paar vorüber, Trägt der Zeiten Last.« 79

Das Gedicht ist einige Monate nach Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit im Mai 1943 entstanden. Elisabeth Young-Bruehl zitiert die letzte Strophe des Gedichts in ihrer Biographie über Arendt und bemerkt, dass gemeinsame Spaziergänge des Paares Blücher-Arendt im Riverside Park an der Upper West Side New Yorks zur Entstehung des Gedichts beigetragen haben: »Das Leben ging weiter; sie gingen zur Arbeit, kämpften. Aber selbst wenn sie am Riverside Park spazieren gingen, um ein wenig Abwechslung zu haben, um den Frieden zu genießen, wich ihnen ihre Vision dessen, was in Europa

79 | Arendt, Hannah: Park am Hudson. In: Gedichte, S. 36.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

geschah, was nie hätte geschehen dürfen, nie aus dem Sinn. Im Park schrieb Arendt Gedichte.« 80 Das Gedicht geht über einen einzelnen Spaziergang hinaus. Es weist auf die Welt als Ganzes, die Menschen werden zeitlich synchron an verschiedenen Orten dargestellt. Das Gedicht ist auch ein Liebesgedicht, für welches das Paar am Ende der jeweiligen Strophen steht. Es ist der Liebe zwischen Blücher und Arendt gewidmet: »Die Blüchers rückten zusammen und halfen einander. In Park am Hudson porträtierte Arendt einen weiteren ihrer vielen Spaziergänge, ihrer Ausflüge in die Gemeinsamkeit, bei denen sie über das, was passierte, nachdenken und sprechen konnte. […] [S]eine letzte Strophe kündigt eine Formulierung an, die in dem Buch erschien, über dessen Niederschrift sie beim Laufen nachdachte: ›der Zeiten Last‹. Die Wendung wurde vom britischen Verleger als Titel für Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aufgegriffen.« 81 Hannah Arendt sollte ihr Totalitarismus-Buch Blücher widmen. Das Gedicht erscheint auch wie eine Replik auf ein Gedicht Blüchers, das er einige Jahre zuvor, 1937, in Paris verfasst hat: Sie kannten sich kaum, und schon bittet Blücher sie, der Zeiten Last gemeinsam zu meistern, wie er in der Schlussstrophe schreibt: »Dann werden wir’s bestehen – Von ausgewogener Kraft gehalten. Und in dem äußeren mörderischen Geschehen Die wenigen lebendigen Gestalten Zum letzten Stoss in diesem letzten Kampf bereitzuhalten.« 82

Die erste handschriftliche Fassung vom Mai 194383 und die Schreibmaschinenabschrift, allgemein auf 1943 datiert,84 weisen keine inhaltlichen Unterschiede auf. In der Handschrift sind keine Korrekturen vermerkt, was die Vermutung zulässt, dass Arendt das Gedicht einige Zeit mit sich trug, bevor sie es niederschrieb. Die einzige typographische Abweichung besteht darin, dass sie in der Handschrift alle geraden Zeilen eingerückt hat, während in der Maschinenschrift beim jeweils zweiten Quartett die Einrückung wegfällt. Den Titel Park am Hudson, der 80 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt  /  M ain, 1996, S. 266. 81 | Ebenda, S. 267. | Vgl. zum Titel auch Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher, Berlin, 2005, S. 43. 82 | LOC: Family Papers, 1898-1975, nd. In: Box 7 /  F older: Writings, Blücher, Heinrich: Poetry. 83 | Vgl. LOC: Speeches and Writings File, 1923-1975, nd. In: Box 84 /  F older: Miscellany, Notebooks Volume II, 1942-1950, Heft ohne Nummerierung, (Mai 1943) 84 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File, 1923-1975, nd. In: Box 85 /  F older: Miscellany, Poetry and stories, 1942-1954, Blatt 022954, (1943).

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auf einen echten geographischen Ort verweist, hat sie erst in der maschinenschriftlichen Fassung hinzugefügt. Das ist etwas schade, denn der allgemeine Gehalt des Gedichts wird damit eingeschränkt.85 Formal gesehen ist das Gedicht in Liedform geschrieben: Verschiedene Motive werden in den drei Strophen jeweils etwas abgewandelt wiederholt. Die Alliterationen, die immer aus der gleichen Wortwurzel bestehen – »Fischer fischen«, »Fahrer fahren«, »Rastlos in die Rast« – wie auch die Anaphern – die drei Strophen beginnen immer gleich: Fischer, Fahrer, Kinder – tragen zur Musikalität bei. Sie wird weiterhin verstärkt durch den regelmäßigen Wechsel zwischen Lang- und Kurzzeilen, den Rhythmus zwischen vierhebigen und dreihebigen Trochäen, den Refrain der letzten vier Zeilen ohne Einrückung. Die Langzeilen sind durchgehend von weiblichen, die Kurzzeilen von männlichen Kadenzen bestimmt, welche die Sätze abschließen. Wenn man die Sätze von Lang- zu Kurzzeile ohne Unterbrechung liest, so ergibt sich ein Enjambement mit siebenhebigen Trochäen. In der Reimform lässt sich ein paralleles Phänomen beobachten: Die Kurzzeilen bestehen aus identischen Reimen, die Langzeilen reimen sich nicht. Wenn man Langund Kurzzeilen, die einen Satz bilden, zusammenlesen würde, wäre das Gedicht immer gereimt: In Strophe eins ist der Reim identisch, denn die Kurzzeilen enden alle auf »Welt«; in Strophe zwei gibt es zwei Reimpaare – »Abendrot« und »Tod« sowie »Ewigkeit« und »Zeit«; in Strophe drei wird vier mal die gleiche Reimendung verwendet – »Ast«, »Rast«, »fast« und »Last«. Stilfiguren, Metrum, Reim und Stabreim unterstützen das Singende des Gedichts. Die festen Zeit- und Raumschemata werden damit formal aufgelöst. Die Synchronizität von zeitlichen Abläufen, die an sich hintereinander chronologisch erscheinen sollten, werden durch die musikalische Kreation gestützt. Das Gedicht ist aus Wiederholungen von Einzelwahrnehmungen des lyrischen Ichs aufgebaut, die in den Plural gesetzt und damit verallgemeinert werden: die Fischer, die Fahrer, die Mütter, die Kinder. Nur das Paar existiert in der Einzahl. Sie befinden sich in der ganzen Welt: an Flüssen, auf Wegen, in der Sonne. Die drei Strophen sind parallel strukturiert: Die drei Menschengruppen stehen jeweils in einem anderen Verhältnis zur Zeit. Die ersten zwei Zeilen der ersten Strophe beschreiben eine Idylle: »Fischer fischen still an Flüssen / In der ganzen Welt.« Die Fischer befinden sich in einem Zustand kontemplativer Ruhe; sie angeln, warten auf etwas, dessen Zeitpunkt sie nicht kennen. Sie sind völlig in die Gegenwart und in die Natur integriert. In der zweiten Strophe wird dieses Warten weiter verdeutlicht: »Bis zum Abendrot«, bis sich der natürliche zeitliche Naturablauf reali-

85 | Der reale Park am Hudson heißt Riverside Drive und ist unterhalb einer stark befahrenen Straßenzeile gelegen. Im Gedicht von 1943 beschreibt Arendt den realen Ort. 1954, als sie die Gedichte mit der Maschine kopiert und in einem Konvolut zusammengefasst hat, fügte sie den geographischen Titel hinzu. Fünf Jahre später sollte sie gemeinsam mit Blücher in den Riverside Drive ziehen, ins Haus Nr. 370.

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siert hat. Und in der dritten Strophe wird deren abgesonderte Einheit mit der Natur nochmals konkretisiert: »Einsam hängt der Ast«. In Opposition zu den Fischern erscheinen die Autofahrer, die versuchen, die Zeit zu konterkarieren, einzuholen: »Fahrer fahren blind auf Wegen / Um die ganze Welt.« Während die Fischer für die Einheit mit der Natur und den natürlichen Zeitablauf stehen, sind die Fahrer Abbild einer gehetzten Zivilisation, die die Zeit erzwingen wollen. Schneller als die Zeit sein zu wollen, macht sie blind. Das impliziert, dass sie in ihrer Hast die Welt nicht mehr wahrnehmen, innerlich tot sind. Aber auch die reale Eile führt dazu, dass sie nicht aufpassen und sterben: »Eilig in den Tod«. Diese Rastlosigkeit wird in der dritten Strophe wiederholt und variiert: »Fahrer fahren blind auf Wegen / Rastlos in die Rast.« Sie kommen niemals wirklich irgendwo an. Die Kinder und Mütter schließlich werden in Verbindung zur Ewigkeit gesetzt, also neben neben dem natürlichen Ablauf und dem Erzwingen der Zeit einer dritten Zeitkategorie zugeordnet. Das Licht der Sonne symbolisiert Ewigkeit: »Kinder laufen, Mütter rufen, / Golden liegt die Welt.« Arendt ergeht sich nicht in metaphysischen Spekulationen, sondern spricht die kindliche Wahrnehmung der Zeit an: »Kinder selig in der Sonne / Spielen Ewigkeit.« Kinder und Mütter sind nicht ganz in der gleichen Welt angesiedelt, denn die Mütter rufen, sind also besorgt, determiniert in der Zeit, während die Kinder sich ganz verloren in Vorstellungswelten befinden, in denen die Zeit aufgehoben zu sein scheint. Sie spielen Ewigkeit, »Ewigkeit ist fast«. Am Ende erscheint das Paar, das durch Liebe verbunden ist, einem seltenen Phänomen: »Geht ein liebend Paar vorüber / Manchmal durch die Welt.« Diese Liebe verändert wiederum die Zeitwahrnehmung. Die gemeinsam verbrachten Jahre weisen auf Dauer hin und sind nicht nur eine Momentaufnahme wie bei anderen Gruppen. Die Vergangenheit des Paares reicht in die Gegenwart mit hinein: »Manchmal geht ein Paar vorüber, / Mit ihm geht die Zeit.« Sie geben Zeugnis von der Zeit: »Geht ein liebend Paar vorüber, / Trägt der Zeiten Last.« Hier ist in der Zeit Dauerhaftigkeit. Es werden also vier Zeiterfahrungen von vier Menschengruppen dargestellt. Das Aneinanderreihen dieser Erfahrungen in jeweils einer Strophe erzeugt beim Leser ein eigenes Zeitgefühl der Synchronizität, des Überall-gleichzeitig-Seins. Das ist nur beim Denken möglich. Arendt erschafft auch hier einen zeitlosen Raum. In der Realität am Riverside Drive Park mag sie wohl einen Fischer sehen, Autos, die oben vorüberfahren, ein paar Kinder und deren Mütter. Beim Denken aber erweitert sie in ihrer Imagination diese Einzelbilder: Über die ganze Welt hinweg, über verschiedene Zeitwahrnehmungen. Aus dem Mosaik entsteht Unendlichkeit und Zeitlosigkeit. Die Wiederholung während dreier Strophen, wie in einem Musikstück, verstärkt diesen Effekt. Zwei Dichter, die Arendt schätzte, haben ähnliche Versuche unternommen, verschiedene Zeitdimensionen lyrisch umzusetzen:

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Rilkes Duineser Elegien kannte sie bereits, als sie das Gedicht verfasst hat. In ihrer Interpretation der Elegien hebt sie das Zeitverhältnis seiner Figuren hervor: Sie beleuchtet, wie Tier, Held, Sterbender, Kind, Liebender in einer gegensatzfreien Gegenwart leben, während es einen beobachtenden Dritten gibt, der reine Dauer kennt. In ihrem Gedicht dagegen gibt es den natürlichen Ablauf der Zeit beim Fischer, erzwungene Zeit beim Fahrer, Dauerhaftigkeit beim Paar und reine Gegenwart, die der Ewigkeit gleicht, beim Spiel des Kindes. Diese Letztere wird als Illusion entlarvt. Arendt bleibt der Realität verhaftet. Im Unterschied zu Rilke beschreibt sie nicht nur deskriptiv das Zeitverhältnis der Figuren, sondern es gelingt ihr, im Gedicht durch Musikalität Zeitlosigkeit zu erzeugen. Hermann Broch hingegen kannte Arendt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber er sollte sie faszinieren, gerade weil er ähnliche lyrische Versuche unternahm: Seine experimentelle Dichtung gibt das Simultane oder sogar das Plurale der Wahrnehmung selbst wieder. Weiterhin führt seine Perspektive zu einer Verbundenheit mit der Welt, die sie gleichfalls in ihrem eigenen Gedicht wiederzugeben versucht, indem sie gleichzeitig mit den Figuren an verschiedenen Orten in der Welt ist. Im Unterschied zu Broch wiederum entwickelt sie keine Kosmologie. Der Begriff »Welt« kommt in der ersten Strophe gleich fünf Mal vor, um die Synchronizität der Figuren wiederzugeben. Diese Figuren in der Welt – still fischende Fischer, spielende Kinder, besorgte Mütter, ein liebendes Paar – sind, mit Ausnahme der Fahrer, idyllische Erscheinungen, die einen bestimmten Weltbezug symbolisieren, den sie in der Vita Activa zehn Jahre später zum Ausdruck bringen sollte. Die Bedingtheiten der menschlichen Existenz werden dort folgendermaßen definiert: das Leben selbst (die Figuren in der Zeit), Natalität (die Kinder), Mortalität (die Fahrer), Pluralität (sie beschreibt eine Menschengruppe), Weltlichkeit (die Figuren machen aus der Erde eine Welt) und die Erde (die Synchronizität der Figuren an verschiedenen Orten in der ganzen Welt). Arendts erster Entwurf zur Vita Activa bestand aus vier Teilen: Liebe kam zu Arbeiten, Herstellen und Handeln hinzu. Man könnte die vier Menschengruppen auch nach diesem Schema einteilen: Arbeiten für die Fahrer, sie eilen zur Arbeit, verdienen Geld, hinterlassen aber nichts (»In der Arbeit […] ist der Mensch immer isoliert und von Sorge und Angst getrieben«),86 Handeln für die Mütter gegenüber ihren Kindern (»Im Handeln unter Anspruch der Gerechtigkeit gestellt […] ist der Mensch mit anderen zusammen in der politischen Verantwortung«)87 und schließlich der ausgesparte Teil der Vita Activa, die Liebe, symbolisiert in dem Paar (»In der Liebe, nur in ihr, gibt es wirklich Gegenseitigkeit, die auf dem Einanderbedürfen beruht. Ein Mensch sein heißt zugleich eines anderen Menschen bedürfen.«).88 Nur das Herstellen findet hier keinen Platz, da Fischer nichts hinterlassen (»Im Herstellen, in

86 | Denktagebuch: Heft 9: April 1952, Eintrag 3, S. 203. 87 | Ebenda, S. 203. 88 | Ebenda, S. 203.

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der Freiheit der Spontaneität, ›eine Reihe von sich aus anfangen‹89, ist der Mensch allein und vom Werk als Schöpfung beflügelt.«).90 Da das liebende Paar jeweils am Ende der Strophen plaziert ist, kommt ihm besondere Bedeutung zu: In Vom Leben des Geistes, am Ende ihres Lebens, fasst Arendt das Phänomen der Liebe, des »Manchmal geht ein Paar vorüber, / mit ihm geht die Zeit«, unter der Kapazität des Willens zusammen. Anhand der Schriften von Scotus und Augustinus kommt sie darauf zu sprechen, wie die Liebe sich durch die verbindende Kraft des Willens verwandelt. Nach Augustinus gebe es keine stärkere Bindekraft als die Liebe, von Bedürfnissen und Begierden gereinigt, nach Scotus stehe die Unvergänglichkeit der Liebe im Vermögen des Willens: »Nach der Verwandlung des Willens in Liebe ist seine Ruhelosigkeit gestillt, aber nicht ausgelöscht; die Stetigkeit der Liebe macht sich nicht als Stillstand der Bewegung bemerkbar – so wie das Ende des Kriegswütens als die Ruhe des Friedens empfunden wird –, sondern als die Heiterkeit einer in sich ruhenden, sich selbst erfüllenden, nie endenden Bewegung. Das ist nicht die Ruhe und Wonne nach einer vollkommen gelungenen Handlung, sondern die Stille des Aktes, der in seinem Ziele ruht.«91 Man kann hier vermuten, dass aus dieser Beobachtung Arendts Erfahrung ihrer Liebe zu Blücher spricht, die bis ans Ende ihres Lebens währen sollte. Diese Bedeutung der Liebe Blüchers für Arendt analysiert Ingeborg Nordmann anhand ihres Briefwechsels: »Der einzige Briefwechsel, der geradezu existentielle Bedeutung für Hannah Arendt hatte und daher weder Provisorium war noch eine Unterbrechung duldete, war der mit ihrem Mann Heinrich Blücher. Hier scheint es auch keinen Unterschied zwischen mündlich und schriftlich zu geben, als hätte die Liebe den Zwischenraum zwischen zwei Menschen vollständig überbrückt. Der Liebesbrief folgt einem eigenen Gesetz: ›In einem dieser alten Briefe, die für mich immer aktuell bleiben werden‹, schreibt Arendt, ›bemerkst Du, dass Liebesbriefe immer eine gewisse Monotonie haben. Sicher, aber was für eine erstaunliche Monotonie. Eine Monotonie wie das Rauschen des Meeres. Je mehr man ihm lauscht, desto mehr möchte man hören. Eine so elementare Monotonie, dass sie in ihrem »grandiosen Rahmen alle Variationen einer ganzen Welt, eines ganzen Lebens Raum gibt«. So lese ich Deine Liebesbriefe, und darum muss ich sie so viele Male lesen.‹«92 In Bezug auf Hannah Arendts Reflexionen über Dichtung sind Aspekte festzuhalten: Erstens ist das Gedicht Resultat des nichtzeitlichen Denkens, das Raum 89 | Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B562M, dort heißt es genau (Ausgabe Weischedel): »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anfangen.« (Anmerkung von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann: Denktagebuch, S. 937.) 90 | Ebenda. 91 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 375. 92 | Nordmann, Ingeborg: Briefeschreiben in finsteren Zeiten, In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 67-78, hier S. 71.

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und Zeit überwinden kann  – die verschiedenen Figuren an verschiedenen Orten (überall in der Welt) zu verschiedenen Zeiten (Fischer im Abendrot, Kinder in der goldenen Sonne, Fahrer in der Vergänglichkeit und ein Paar in der Dauer). Aus diesem nichtzeitlichen Denken wiederum ist ein Gedicht entstanden, das durch technische Hilfsmittel zeitlos und allgemeingültig wird. Zweitens verwendet Arendt für das Gedicht die metaphorische Sprache, das heißt, für das innere Erleben der Zeitlosigkeit werden Bilder kreiert. Gleichzeitig ist die Sprache auch kommunikativ, denn die Bilder entsprechen der faktischen Realität, zielen auf Verständlichkeit im Miteinander. Aus dem Gedicht spricht Lebensbejahung, die aus dem Staunen über die Welt stammt, wie Arendt es auch an den Gedichten von Auden, Rilke und Mandelstam schätzte.

2.2.3 »Unermessbar, Weite, nur« I »Unermessbar, Weite, nur, wenn wir zu messen trachten, was zu fassen unser Herz hier ward bestellt. Unergründlich, Tiefe, nur, wenn wir ergründend loten, was uns Fallende als Grund empfängt. Unerreichbar, Höhe, nur wenn unsere Augen mühsam absehn, was als Flamme übersteigt das Firmament. Unentrinnbar, Tod, nur, wenn wir zukunftsgierig eines Augenblickes reines Bleiben nicht ertragen. II Komm und wohne in der schrägen, dunklen Kammer meines Herzens, dass der Wände Weite noch zum Raum sich schliesst. Komm und falle in die bunten Gründe meines Schlafes, der sich ängstigt vor des Abgrunds Steile unserer Welt.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung Komm und fliege in die ferne Kurve meiner Sehnsucht, dass der Brand aufleuchte in die Höhe einer Flamme. Steh und bleibe. Warte, dass die Ankunft unentrinnbar zukommt aus dem Zuwurf eines Augenblicks.« 93

Das Gedicht zeigt zuerst die beunruhigende Unendlichkeit der Welt (Teil I), die nur durch die verankernde Endlichkeit der Liebe (Teil II) überwunden werden kann. Barbara Hahn erkennt im zweiten Teil des Gedichts einen persönlichen Bezug zu Heidegger, da sie die frühere, handschriftliche Fassung des veröffentlichten Denktagebuchs94 benutzt, wo die beiden Teile noch durch Notizen voneinander getrennt publiziert wurden.95 Arendt hat erst 1954 in der maschinenschriftlichen Sammlung beide Teile untereinander gesetzt. Die Strophen des ersten Teils nehmen thematisch und formal Bezug auf die Strophen des zweiten Teils, auch wenn ursprünglich der eine Teil im Mai, der andere im Juni 1951 entstanden ist. Arendt verwendet in dem Gedicht nicht nur Heideggers Terminologie wie »Zuwurf eines Augenblicks« oder »Flamme«, sondern auch Motive seines Denkens wie etwa seine Fokussierung auf den Tod, der sie mit Widerspruch begegnet. Das Gedicht ist im ersten Teil eine Absage an Heideggers Ontologie, in der Arendt nur eine beunruhigende Unendlichkeit erkennt. Im zweiten Teil fordert sie ihn zur Gemeinsamkeit in der endlichen Welt auf. Martin Heidegger schickte Arendt 1950 ein Gedicht zu, dessen Motive der Höhe, Tiefe, Weite und Flamme sie variiert: »Du Wurf der Flamme Frühgefreyte! Dies das Tor, an dessen Tiefe jäh empor zur stillen Weite – dass Es riefe – Wiederfinden sich verlor.« 96 93 | Arendt, Hannah: Unermessbar, Weite, nur. In: Gedichte, S.  49 / 5 0. 94 | Vgl. Denktagebuch: Heft 4: Juni 1951, Eintrag 13, S. 91. 95 | Vgl. Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher, Berlin, 2005, S. 92 f. 96 | Heidegger-Briefwechsel: Eintrag 50, Heidegger an Arendt, 5 Gedichte, Februar 1950, Heidegger Gedicht: Du, S. 79.

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Hannah Arendt wird als Flamme vom Sein geschickt und wieder fortgeholt: Sie wird als »Flamme« apostrophiert; das Sein als »Es« taucht auf; »Wiederfinden« und »Verlieren« finden in fatalistischer Haltung statt. Das Motiv des »Tores«, das Höhe, Tief und Weite besitzt, wirkt einigermaßen inkohärent. Doch es scheint, als ob es sie zu ihrem eigenen Gedicht angeregt hat. Heidegger hat weiterhin Gedichtzeilen verfasst, die auf einen Zirkelschluss zwischen Tod und Sein verweisen: »… erst wieder Tod / entspricht / im Ringe / dem Frühgedicht / des Seyns«97. In ihrem Gedicht antwortet Arendt auf diese Verse, indem sie gerade die Linearität der Spanne von der Geburt bis zum Tod betont: »Unentrinnbar, Tod, nur« bedeutet, dass der Tod nur präsent wird, wenn der Mensch »zukunftsgierig / eines Augenblickes reines Bleiben nicht ertragen«, also sich ständig in die Zukunft projiziert und nicht in der Gegenwart leben kann. So könnte man einige Motive aus den Gedichten, die Heidegger an Arendt geschickt hat, in ihrem Gedicht weiterverfolgen und vermuten, dass sie bewusst eine Kontrafaktur hergestellt hat. Die erste handschriftliche Fassung im Denktagebuch zeigt viele Korrekturen – Hannah Arendt hat das Gedicht vorrangig beim Schreiben entwickelt.98 In Teil I, der im Mai 1951 entstanden ist, hatte sie zuerst »weil« zu Beginn der jeweils zweiten Zeile der vier Strophen geschrieben, dann durchgestrichen und mit »wenn« ersetzt. In der zweiten Strophe hat sie die zweite Zeile »wenn wir zu leben trachten« stimmiger zum Motiv der »Tiefe« aus der vorhergehenden Zeile zu »wenn wir ergründend loten« korrigiert. In Teil II, verfasst im Juni 1951, finden sich viele Korrekturen in der ersten Strophe: Bevor sie sich für »dass der Wände Weite noch zum Raum sich schließt« entscheiden konnte, was eine logische Beziehung zur »Kammer meines Herzens« aus der vorherigen Zeile herstellt, hatte sie statt »Wände« zuerst »Lichtung« geschrieben, es aber wieder durchgestrichen (also den Bezug zu Heidegger entfernt) und darüber »Wellen« geschrieben. (Erst in der letzten, maschinenschriftlichen Fassung erscheint das Motiv der »Wände« passend zur »Kammer«; erst dort hat sie den Begriff »Wellen« durchgestrichen.99) Bevor sie auf den Begriff »Raum« kam, hatte sie »Haus« als Variante notiert. Auch in der zweiten Strophe sucht Arendt nach der stimmigen, zu Teil I passenden Terminologie: Zuerst steht dort »Komm und liege«, was sie zu »Komm und falle« korrigiert: Damit ist die Beziehung zur zweiten Strophe des ersten Teils unter der Thematik der »unergründlichen Tiefe« eindeutig hergestellt, denn in die Tiefe fällt man. Ebenso verhält es sich mit »in die bunten Gründe meines Schlafes«. Zuerst schrieb sie »in die steigenden Gründe«: Das »steigende« wurde durchgestrichen, damit es mit dem »Fallen« der ersten Zeile korrespondiert. In der dritten Strophe war die 97 | Ebenda, Februar 1950, Heidegger Gedicht: Entsprechung, S. 80. 98 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, Heft 4, Mai 1951, S. 24 und Juni 1951, S. 27. 99 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 85 /  F older: Miscellany, Poetry and stories, 1942-1954, Blatt 022958 (1951).

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»Kurve« zu Beginn nicht »fern«, sondern »weit«. Und in der vierten Strophe korrigiert sie den Heidegger-Bezug aus seinem Gedicht, das »wiederfinden und verlieren« der Person: Sie schreibt thematisch zuerst wie er »geh und bleibe«, um es dann zu »steh und bleibe« zu korrigieren. Diese Ambivalenz merzt Arendt aus, um die Gegenwart als Dasein im Hier festzuhalten. Dagegen ist die letzte Zeile ihres Gedichts wieder ganz der Heidegger’schen Sprache verhaftet: Zuerst schreibt sie »aus dem Wurf des Augenblicks«, bevor sie den Vers abwandelt und präziser »aus dem Zuwurf« und allgemeiner »eines Augenblicks« notiert. Die maschinenschriftliche, abgetippte Fassung, in der sie beide Teile direkt hintereinander setzt, zeigt außer der Korrektur von »Wellen« zu »Wände« keine weiteren Verbesserungen. Insgesamt ist es also möglich, dass das Du, an das sich Arendt richtet, Heidegger meint. Es sollte aber, solange das Gedicht nicht direkt namentlich an ihn adressiert ist, als ein allgemeines Du verstanden werden, als ein grundsätzlicher Aufruf an den Mitmenschen zum Beisammensein. In diesem Sinne ist das Gedicht gedanklich eher auf der Linie Jaspers’ als auf der Heideggers. Formal gesehen ist das Gedicht streng komponiert: Die beiden Teilen bestehen jeweils aus vier Strophen zu je drei Versen, wobei jede Strophe einen Satz bildet, dessen Verslänge zunimmt. Das innere Gliederungsprinzip stellt inhaltlich im ersten Teil vier Dimensionen dar – Weite, Tiefe, Höhe und Zeit –, die auf Unendlichkeit beruhen. Das erste Wort der jeweiligen Strophe beginnt immer einleitend mit der Vorsilbe »un-«: »unermessbar«, »unergründlich«, »unerreichbar«, »unentrinnbar«. Im zweiten Teil wendet sich das lyrische Ich in der Endlichkeit an ein Du, was wiederum in den ersten Zeilen angekündigt wird: drei Mal »komm …« gefolgt von »… wohne«, »… falle« bzw. »… fliege«, um schließlich zur zentralen Stelle in der letzten Strophe zu kommen: »Steh und bleibe.« Nicht festes Versmaß und Reim, sondern der Rhythmus der anaphorischen Anfänge prägt das Gedicht: »un-« in der ersten und »wenn« in der zweiten Zeile in allen vier Strophen des ersten Teils sowie der Imperativ »komm« in der ersten und »in« der zweiten Zeile in den ersten drei Strophen des zweiten Teils. Die letzte Strophe unterscheidet sich von den vorhergehenden durch die Darstellung der Ankunft, das »Komm« zuvor hat also sein Resultat im »Steh und bleibe« erbracht: Der Imperativ wird allerdings beibehalten. Die klare gedankliche und syntaktische Gliederung entspricht der Aussage: Die Unendlichkeit im ersten Teil, die Wiederaufnahme der Motive im zweiten Teil, die, an ein Du gerichtet, um Endlichkeit im Beisammensein bittet, um dann in der letzten Strophe die Ankunft in der Zeit darzustellen. Das lyrische Ich nimmt im Gedicht unterschiedliche Perspektiven ein: Im ersten Teil fügt es sich in ein »Wir« ein, die menschliche Kondition im Allgemeinen wird angesprochen. Der zweite Teil reduziert sich zu einem Ich, das sich an ein bestimmtes Du wendet. Die Bewegung verläuft vom Makrokosmos der Welt zum Mikrokosmos zwischen zwei Personen. Jede Strophe behandelt eine bestimmte Dimension: die drei räumlichen Ausdehnungen Höhe, Weite, Tiefe in den ersten drei Strophen und in der vierten das Maß der Zeit. Höhe und Tiefe entsprechen der gleichen Dimension, da sie in die gleiche Richtung verlaufen. Die Weite dagegen

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impliziert nicht Breite und Tiefe, sondern Flächigkeit, wie darzustellen sein wird. Diese Phänomene entsprechen nicht geometrischen Bildern, sondern Dimensionen der menschlichen Bedingtheit in der Welt, die in ihrer Unendlichkeit nicht erfasst werden kann: Man soll sich in der Begrenztheit einrichten, im Hier und Jetzt. Die erste Strophe scheint eine Metapher für das Leben zu liefern: Statt »Herz« kann man den Begriff »Leben« einsetzen. Es geht darum, zu erfassen, wofür das Herz des Einzelnen bestellt ist, welches Schicksal er auf sich nehmen soll, was die individuellen Gegebenheiten seines Lebens bedeuten. Das Schicksal kann man nicht »messen«, »fassen«, berechnen. Logische Kalkulation bleibt ohne Ergebnis. Nicht der Verstand, nur das Herz, kann annäherungsweise begreifen, was es mit dem konkreten Leben des einzelnen Menschen, mit seinem Schicksal auf sich hat. Aber in seiner Totalität kann es nicht aufgeschlüsselt werden. Die zweite Strophe scheint eine Metapher für das Denken zu liefern: Statt »Grund« kann man das Wort »Denken« einsetzen. Das Denken geht in die Tiefe. Auch der Denkprozess ist unendlich, bewegt sich »unergründlich«. Es gibt keine festen Ergebnisse, kein Resultat kann ganz »ausgelotet« werden. Nicht alles kann rational ergründet werden. Stattdessen soll man das Sich-fallen-Lassen akzeptieren. Ein Grund empfängt den Menschen. Bestimmte Ergebnisse kommen nicht auf rationalem Wege zustande, können nicht allein »ausgelotet« werden. Die dritte Strophe scheint eine Metapher für Transzendenz zu liefern: Statt »Flamme« kann man auch den Begriff des »Transzendentalen« einsetzen. Metaphysisches reicht in »unerreichbare Höhe«, ist durch den Sehsinn nicht vollständig erkennbar, die Augen »sehen [es] mühsam ab«. Der Kosmos, das »Firmament« wird wahrgenommen, aber das Transzendentale, »die Flamme« reicht zu hoch. Man hat also in Ansätzen metaphysische Erfahrungen, eine Ahnung von Ursprung und Höhe, aber keine festen Antworten. Die vierte Strophe scheint eine Metapher für die Zeit zu liefern, präziser: für die »Gegenwart«, die man für »eines Augenblickes reines Bleiben« einsetzen kann. Die Gegenwart weist auf die Natalität des Menschen hin, der sich immer wieder neu erschafft in Opposition zum Tod, der ein definitives Ende markiert: »unentrinnbar, Tod, nur«. Wissen zu wollen, was nach dem Tod des Menschen kommt, ist »zukunftsgierig«, destruktiv. Wenn man nur auf den Tod hinlebt, beginnt das Ende der persönlichen Zeit. Das Leben selbst, die Gegenwart wird vernachlässigt, unerträglich. Im ersten Teil erscheint Hannah Arendt in der Rolle einer Erzieherin: Dem Menschen, der versucht, das eigene Leben rational zu definieren, der im Denken Resultate zu fassen glaubt, der Transzendentes oberflächlich schaut und der meint, durch das Phänomen des Todes Antworten zu erhalten, sind Grenzen gesetzt. Das offene Mysterium des Lebens wird dabei zerstört. Arendt folgt dem Rhythmus des Lebens, des Denkens mit dem Herzen, des transzendentalen Erfühlens und des Gegenwärtigseins. Sie wendet sich gegen eine Ontologie, die hinter allen Erscheinungen verbissen das Sein als etwas Statisches sucht.

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Die Aussage des zweiten Teils des Gedichts sagt aus, dass wahre Freiheit in der Einschränkung liegt: Ein begrenztes lyrisches Ich wendet sich an ein begrenztes Du, das angesprochen wird. Damit erhält das Gedicht Dialogcharakter, erhebt es Anspruch auf Kommunikation entsprechend der Jaspers’schen Lehre. Durch Kommunikation entsteht eine gemeinsame Welt: kann sich des Lebens »Weite« zum »Raum« schließen, der »Abgrund« beim Denken geebnet werden, die »Flamme« des Transzendenten aufleuchten und die »Ankunft« in der Gegenwart erwartet werden. Der zweite Teil des Gedichts ist inhaltlich und formal parallel zum ersten Teil aufgebaut. Während im ersten Teil das lyrische Ich darauf hinweist, was vermieden werden soll, fordert es im zweiten Teil das Du dazu auf, sich zu ihm in einer begrenzten Welt zu bekennen. In der ersten Strophe des ersten Teils wurde auf die Unermesslichkeit des Lebens hingewiesen. Nur das Herz kann den Sinn erahnen, weshalb der Mensch auf der Erde ist. Die erste Strophe des zweiten Teils antwortet auf diese Feststellung: Das lyrische Ich fordert das Du auf, in dessen »schräge dunkle Kammer des Herzens« zu kommen und dort zu »wohnen«, also dauerhaft zu verweilen. Das »Unermessbare« und die »Weite« des Lebens werden auf einem gemeinsamen »Raum« beschränkt. Nur das Phänomen der Liebe, das Vorhandensein eines Gegenübers, kann dieser »Wände Raum« schaffen. In der zweiten Strophe des ersten Teils wird das unergründliche Denken angesprochen, dass einem Fallen gleicht. Der Grund, der die Menschen empfängt, kann nicht durch das Denken allein erreicht werden, sondern ist auch von Empfindungen geprägt. Diesen Grund nimmt Arendt in der zweiten Strophe des zweiten Teils auf: Das lyrische Ich bittet das Du, diese Bewegung des Fallens mit ihm zu teilen, so dass das Ich sich nicht mehr »vor des Abgrunds Steile der Welt« zu fürchten braucht. In gemeinsamen Gesprächen also wird das maßlose Denken begrenzt, es findet einen realen Bezug zum Gegenstand. Zum Denken gehört auch Träumen, wie die »bunten Gründe meines Schlafes« zeigen, auf die das lyrische Ich zu sprechen kommt. Die Bilder des Tagesbewusstseins verwandeln sich also des Nachts in Abgründe, wenn das lyrische Ich allein und isoliert ist. Dagegen sind die Träume, die »Gründe bunt«, wenn es tagsüber seine Gedanken mit jemandem teilt. Auch das kann nur durch Liebe geschehen. In der dritten Strophe des ersten Teils wird die Ahnung einer transzendenten Macht im Bild einer »Flamme« dargestellt. In der dritten Strophe des zweiten Teils nimmt Arendt wörtlich die Flamme wieder auf, wobei sie hier »eine Flamme« unterstrichen, also betont hat. Daraus lässt sich schließen, dass es im ersten Teil mehrere Flammen gab. Nun fordert das lyrische Ich das Du auf, mit ihm zu »fliegen«, gemeinsam der »Sehnsucht« nach dem Transzendenten zu folgen. Nur zu zweit kann man sich Metaphysischem annähern: Der Ursprung, der »Brand« leuchtet auf, aus dem sich die Flamme bildet. Nur die Liebe kann diesen Brand entfachen. In der vierten Strophe des ersten Teils wird die Fixierung auf die Zukunft und damit auf den Tod kritisiert. In der vierten Strophe des zweiten Teils lädt nun das

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lyrische Ich das Du ein, bei ihm einzukehren, denn nur auf diese Weise kann die Erstarrung aufgelöst werden: Die »unentrinnbare Ankunft« kommt vom Gegenüber, vom liebenden Menschen in der Gegenwart – aus dem »Zuwurf eines Augenblicks«. Das ist nur möglich, wenn zwei Menschen in Liebe wirklich miteinander verbunden sind. So wird das Gedicht zu einem Liebesgedicht, das die Vereinzelung des Menschen in einer Welt von unendlichen und unfassbaren Dimensionen – Leben, Denken, Transzendentes, Zeit – kritisiert, um den Mitmenschen in Liebe aufzufordern, gemeinsam diese Dimensionen in ihren Grenzen zu ergründen: das Leben in des Herzens Kammer, das Denken in den bunten Gründen, das Transzendente in der Sehnsucht und die Zeit in der Ankunft der Gegenwart. Vielfältige Hintergründe aus Arendts Schriften können das Gedicht zusätzlich erhellen: Die jeweils ersten Strophen haben als Thema einerseits das Geschick – »was zu fassen unser Herz hier ward bestellt« – und andererseits »Glaube, Liebe, Hoffnung« – »Komme und wohne / in der schrägen, dunklen Kammer meines Herzens«. Arendts Definition des Geschicks meint nicht ein von Gott gesandtes Schicksal, sondern die ineinandergreifenden Handlungen der Menschen, die füreinander zum Geschick werden: »Geschichte und Geschick: Geschichte gibt es nur, weil, was wir tun, Anderem zum Geschickten wird. Und insofern wir nie aufhörende Spontaneität sind, wird uns auch das von uns selbst Getane zum Geschick.«100 Dieses Geschickte kann man an der Oberfläche nicht wahrnehmen, in der Weite nicht messen. Nur in der ausgezeichneten Beziehung der Liebe kann sich eine eigene Welt, ein eigener Raum bilden – in der »schrägen, dunklen Kammer des Herzens«. Dieser Vorgang ist allerdings nicht rational erforschbar: Es bedarf für die Liebe auch Hoffnung und Glaube: »Die Liebe macht den Glauben fest, entzieht ihn der ständigen Korrigierbarkeit und ist gerade darum so gefährlich. Liebe ist nicht blind und macht nicht blind; das Gegenteil ist eher wahr; aber Liebe verschreibt sich der Dunkelheit des Herzens, das auch ihr sich nur augenblicksweise erhellt und erleuchtet. Das Aufleuchten der Dunkelheit des Herzens ist der ›coup de foudre‹. Wo immer ein solches Aufleuchten stattfindet, das heißt, wo immer sich das Herz im wahrsten Sinn öffnet, ist Liebe. Ohne Hoffnung ist weder Glaube noch Liebe möglich. Die Hoffnung ist die Zuversicht, dass der Glaube auch morgen noch standhalten wird, oder das bebende Abwarten, ob die Herzen sich nicht verschließen.«101 Die hoffende Aufforderung des lyrischen Ichs, das sich an das Du wendet, beruht also auf dem Glauben, dass ein gemeinsamer Raum geschaffen werden kann. Wie schwierig die Realisierung dieser gemeinsamen Welt ist, zeigt sich an der Einschränkung »schräg und dunkel«: Man weiß nicht, wie es um das Herz des anderen bestellt ist, denn »die Unmöglichkeit der wissenden Sicherheit um einen Menschen beruht auf der Fähigkeit der Frei100 | Denktagebuch: Heft 3: April 1951, Eintrag 15, S. 65. 101 | Ebenda, Heft 4: September 1951, Eintrag 3, S. 126.

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heit. Beides zusammen, die Freiheit und Dunkelheit des Herzens macht die Erforschung des Menschen unmöglich und erzeugt als höchste Tugenden im Personalen Glaube, Liebe, Hoffnung.«102 Diese Einschränkung durch die Ignoranz weist auf die das »Unermessbare« im Gedicht hin. Dieses »Unermessbare« bezieht sich im Gedicht auf die Dimension der »Weite«; doch was versteht Arendt darunter? In einem Eintrag im Denktagebuch steht der Begriff »Tiefe« synomym für den Verstehensprozess und die erweiterte Denkungsart. »Tiefe« wird von »Weite« unterschieden, dessen Bedeutung in der »Entwurzelung« und Oberflächlichkeit liegt: »Die Entwurzelung bringt mit sich die Dimension der Weite, die als solche Flachheit bereits in sich hat als Flächigkeit. Aber diese Dimension ist gleichzeitig der eigentliche Ort des Öffentlichen und damit der Ort, in welchem Größe sich zeigen muss, die auf Tiefe verweist.«103 Die »Weite« ist demnach ein negativer Begriff, der auf Oberflächliches verweist – wie man auch aus der ersten Strophe entnehmen kann: Oberflächlich kann man nicht ermessen, warum man auf dieser Welt ist. Die jeweils zweiten Strophen beziehen sich auf das Denken, das in die Tiefe geht: Die Dimension der Tiefe wird im ersten Teil des Gedichts als negativ definiert, solange sie nicht begrenzt zu werden vermag, wozu im zweiten Teil aufgefordert wird. Dazu gibt es einen erhellenden Eintrag in Arendts Denktagebuch: Als Synonym für Begrenzung verwendet Arendt den Begriff der »Verwurzelung«, der mit dem Verstehensprozess zusammenhängt: »Verstehen erzeugt Tiefe und nicht Sinn. Politisch ist dies dasselbe wie: in der Welt ein Heim finden, sich zu Hause fühlen. Es ist der Prozess der Verwurzelung.«104 Die »bunten Gründe« stehen also für die Empfindung von Heimat, wenn ein Phänomen wirklich verstanden wird, so dass es in die Tiefe reicht. Zum Verstehensprozess gehören sowohl die erweiterte Denkungsart als auch die Fähigkeit, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, so dass es zur Versöhnung kommen kann: »Entwurzelung heißt, an der Oberfläche leben, und damit ist das Parasit-sein ebenso verbunden wie die ›Oberflächlichkeit‹. Die Dimension der Tiefe wird durch Wurzel-schlagen erzeugt, d. h. Verstehen im Sinn von Versöhnung. In der Oberflächlichkeit der Oberfläche […] verschwindet die Tiefe nicht einfach, sondern enthüllt sich nur als das bodenlose Loch, der Abgrund, der sich unmittelbar unter der Oberfläche öffnet.«105 Der Abgrund, den Arendt in ihrem Gedicht beschreibt, vor dem sie sich fürchtet, bedeutet, dass etwas nicht in der Tiefe verstanden wurde, dass man sich nicht verwurzelt hat – man begreift nicht wirklich, man bleibt an der Oberfläche haften, und damit öffnet sich ein Abgrund. Die Welt verstehen bedeutet Verwurzelung. Grenzerscheinungen, die nicht mehr nachvollziehbar sind, versiegeln die Oberfläche: »Wenn wir sagen: Wir können nicht mehr verstehen, meinen wir: Wir können kei102 | Ebenda, S. 125. Arendt hat die Metapher des Herzens gern verwendet, die für Liebe und Güte steht. 103 | Denktagebuch: Heft 19: September 1953, Eintrag 3, S. 451 f. 104 | Denktagebuch: Heft 14: März 1953, Eintrag 17, S. 332 (Unterstreichung von Arendt). 105 | Ebenda, S. 332.

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ne Wurzeln schlagen, sind zur Oberfläche verdammt. Die Oberflächlichkeit ist in der totalitären Herrschaft organisiert, welche das sinnlose Unglück und das sinnlose Leiden erzeugt, die genau der sinnlosen Jagd nach Glück entsprechen, die in den anderen Teilen der Welt um sich greift.«106 In diesem Zusammenhang wird verständlich, dass Arendt Tiefe an sich nicht ablehnt, wie aus dem zweiten Teil des Gedichts zu entnehmen, diese jedoch im Verstehensprozess begrenzt werden soll. Gleichzeitig beruht dieser Verstehensprozess nicht auf rein rationalen Denkfähigkeiten, sondern auf emotionaler Intelligenz: »Tiefe ist die Emotion, die wir durch Wurzeln erfühlen und erst in der Größe wahrnehmen.«107 Im Gedicht wird Tiefe »unergründlich«, wenn sie rational »ausgelotet« wird, der »Grund empfängt« den Denkenden oder »Fallenden«, wenn er liebend, also in der erweiterten Denkungsart verstehend die Welt wahrnimmt, in den »bunten Gründen«, den Denkresultaten. Die jeweils dritten Strophen beziehen sich auf das Erlebnis des Transzendenten, das nicht durch den Sehsinn wahrgenommen werden kann – der Blick folgt »mühsam« mehreren hochaufleuchtenden Flammen, die ins Unendliche reichen. Der Ursprung des Brandes einer Flamme leuchtet allerdings im Beisammensein auf. Liebe und Transzendenz gehören für Arendt zusammen: Beides erscheint erstens als eine von außen kommende Macht und entspricht zweitens einem bestimmten Denkmodus, dem nichtdiskursiven Andenken ohne Zwischen, auf Glauben beruhend. Zuerst zur Liebe: Im September 1952 unterscheidet sie in ihrem Denktagebuch zwischen Objekt und Subjekt: Homo faber, der herstellende Mensch, ist Subjekt und stellt Objekte her. Sein Wille konstituiert das eigene Subjektsein. Nur »[i]n der Liebe vergeht der Wille so, wie im Denken das Herstellen vergeht. In der Liebe löst sich das ›Subjekt‹, ebenso wie im Denken das ›Objekt‹; sie vergehen im wörtlichsten Sinne. Daher kehrt das Bild des Feuers und der Flamme immer wieder.«108 Für das Andenken im Liebesprozess, das sich im Bild der Flamme oder des Blitzes kundtut, übernimmt Arendt Metaphern Heideggers. Das Denken-an bezieht sich immer auf ein Phänomen, das daher wie von einer von außen stammenden Macht herrührt: »Im Denken-an bleibt die Fremdheit bestehen, so dass, wenn Präsenz überhaupt erscheint, sie notwendigerweise zum Blitz, von außen wird. Somit scheint es, als könne das Denken-an Existenz der Essenz erfahren, gerade weil es (darauf) verzichtet, sich der Essenz gesondert zu bemächtigen. 106 | Ebenda, S. 332. 107 | Denktagebuch: Heft 19: September 1953, Eintrag 3, S. 451. | Vgl. auch Arendts spätere Aussagen: ebenda, Heft 24: Eintrag 14, 1963-1964, S. 622: Denken hat immer mit einem Gegenüber zu tun, auch mit sich selbst, wenn man etwa abwägt: »Ohne Denken keine Wahrheit, und Denken nur im Dialog meiner selbst, wobei das Selbst durch einen anderen vertreten werden kann. Der Dialog des Denkens. Wo er fehlt, gibt es keine Tiefe mehr, sondern Verflachung. Das gesamte öffentliche Leben unserer Zeit drängt auf Verflachung. Aus dieser Verflachung kommt das Unheil – und nicht aus der Tiefe, die wir verloren haben.« 108 | Denktagebuch: Heft 11: September 1952, Eintrag 1, S. 250.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Diese Existentialität der Essenz nennt Heidegger das Wesen.«109 In der Liebe läuft der Denkprozess ohne ein Zwischen ab, ist blitzartig. Die Empfindung der von außen kommenden Macht beruht nicht auf Fakten, sondern nur auf dem Glauben, dass das Unsichtbare, das Wesen, die Essenz oder das Sein erkannt wird. Auf diese Weise funktionieren alle Offenbarungsreligionen, die Gott zu erkennen vermeinen: »Denken ist die einzige reine Tätigkeit, die wir kennen, weil der Gedanke, der immer ein Gedankenblitz ist – dies die Wahrheit der Offenbarungsreligionen, dass jeder Gedanke und jede Wahrheit nur im Blitz offenbaren, was immer sei offenbarend erhellen – niemals ein eigentliches Resultat dieses Tuns ist – wie das Getreide das Resultat von Säen, Mähen, Ernten.«110 Beides – der Gedanke an das Transzendente wie der an den geliebten Menschen – offenbart sich nur im Glauben, es gibt kein »Zwischen« einer tangiblen Welt: Es handelt sich nicht um ein Denken über etwas, sondern um ein Denken an etwas (Andenken), das nicht diskursiv und daher ohne Willen über das Transzendente oder über den anderen, den geliebten Menschen erfahrbar wird: »Es ist so, das Denken, das wahrhaft a-sozial ist, unabhängig von anderen Menschen und unabhängig vom alter, durch das jegliches Zwischen notwendig bestimmt und limitiert ist. Es ist substantielles Denken, sofern es nicht in Prädikaten und Relationen denkt. So denkt der reine Glaube. Er entspricht, da er unabhängig vom Zwischen ist, der Liebe, in der auch das Zwischen durchschlagen wird, verbrannt im Kontakt des Blitzes. Glaube und Liebe sind unpolitisch, weil sie entweder (im An-denken) das Zwischen gar nicht kennen oder im Blitz es durchschlagen.«111 »Die ferne Kurve der Sehnsucht« im Gedicht betrifft sowohl das Transzendente wie die Liebe und beide zusammen sind erfahrbar im »Brand einer Flamme«: Beide beruhen wiederum auf Glauben und äußern sich im Andenken. Die jeweils letzten Strophen des Gedichts beziehen sich auf die Dimension der Zeit: Sie sind eine Absage an die Todesfixiertheit, an das Ende, da damit nicht nur Gegenwärtigsein zerstört wird, sondern auch Beisammensein, das die Gegenwart zu erweitern vermag. Gründend auf dieser Aussage kann man Arendts Zeit- und Weltkonzept jenem Heideggers gegenüberstellen: Nach Arendt vollzieht 109 | Denktagebuch: Heft 12: Dezember 1952, Eintrag 14, S. 279 (Unterstreichung von Arendt). 110 | Denktagebuch: Heft 11: Palenville, September 1952, Eintrag 1, S. 249. 111 | Denktagebuch: Heft 12: Eintrag 13, Dezember 1952, S. 277 (Unterstreichung von Arendt). | Barbara Hahn stellt den engen Zusammenhang zwischen der Liebe und dem Gedankenblitz bei Arendt her: »Sie reißen die sprachliche Lücke zwischen dem Gedankenblitz und dem ›coup de foudre‹ der Liebe auf. ›Coup de foudre‹ – in Hannah Arendts Texten immer französisch, womöglich deshalb, weil in dieser Sprache Blitz und Donner zusammenfallen. Der ›coup de foudre‹ ist beides, Blitz- und Donnerschlag. In Hannah Arendts Schreibweise wären Denken und Lieben dann zwei Modi, die sich bedingen, durchdringen. Und Gedichte deren einzig mögliche Artikulation.« Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher. Berlin, 2005, S. 94.

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sich ein ewiger Kreislauf der Natur, der durch die Geburt des Menschen unterbrochen wird, dessen Leben auf einer Linie hin zu seinem Tod verläuft. Bei Heidegger dagegen bezieht sich der Begriff der Geburt auf das Ende, den Tod. So schreibt Arendt: »Heideggers Geworfenheit interpretiert die Geburt bereits vom Tode her, weil er die Todeskategorie der Verlassenheit in dem Geborenwerden sucht. Geboren werde ich gerade vom Menschen, als Mensch unter Menschen.«112 Im Gedicht wird ein Du angesprochen, das heißt, Arendt spricht einen Menschen an, um gegen das Phänomen der Verlassenheit anzugehen. Und sie wehrt sich dagegen, die Geburt, die auf Menschlichkeit verweist, mit dem Tod gleichzusetzen, der mögliches Alleinsein bedeutet. In diesem Sinne ist eine Notiz von Arendt zu lesen, die auf Distanz zu Heideggers Auffassung des Nichts geht. Arendt definiert im Unterschied zu Heidegger Welt als das von Menschen Gemachte und das sich zwischen Menschen Begebende: »Heidegger hat unrecht: ›In die Welt‹ ist der Mensch nicht ›geworfen‹; wenn wir geworfen sind, so – nicht anders als Tiere – auf die Erde. In die Welt gerade wird der Mensch geleitet, nicht geworfen, da gerade stellt sich seine Kontinuität her.«113 Der Mensch wird von seinen Eltern oder anderen Personen in die Welt und eine Kontinuität eingeführt, die sich in einer Linie darstellen lässt, nicht in einem Zirkelschluss Geburt-Tod.114 In diesem Sinne ist die Interpretation der Welt als Nichts, also vom Tode her gesehen, ein Trugschluss. Im Gedicht weist Arendt Heidegger zurecht. Das einzige Phänomen, das nach Arendt »geworfen« wird, ist der Augenblick in der Zeit, da für sie die Zukunft einer Kraft gleicht. Am Ende ihres Lebens wird Arendt ihr eigenes Zeitkonzept konkretisieren: Das Erlebnis der Zeit besteht aus zwei Kräften, eine aus der Vergangenheit – das Bewusstsein der Vergänglichkeit, die uns nach vorne treibt – und eine aus der Zukunft – das Bewusstsein der Veränderlichkeit. Dies entspricht der Erfahrung des Denkens und nicht des Handelns: »Die Kafkasche Zeitkonstruktion – die Vergangenheit, die mich nach vorne stößt, die Zukunft, die auf mich zukommt – gilt nur für die denkende Erfahrung, die das Handeln gerade ausgeschlossen hat. Das Handeln greift in die Zukunft und hält sie offen.«115 Wenn Arendt also in ihrem Gedicht zum Handeln auffordert – »Steh und bleibe« –, so geht es ihr um eine reale Ankunft im Augenblick und nicht um eine Prophetie, die sich aus der Zukunft he112 | Denktagebuch: Heft 11: Oktober 1952, Eintrag 11, S. 262. 113 | Denktagebuch: Heft 21: Palenville, August 1955, Eintrag 68, S. 549. 114 | Die Natalität, die Tatsache, dass man geboren wird und kraft des Willens immer wieder etwas Neues anfangen kann, ist für Arendt ausschlaggebend. Sie setzt im Unterschied zu vielen Philosophen, die vom Tod ausgehen, bei der Gebürtlichkeit an: »Es ist, als ob die Menschen seit Plato das Faktum des Geborenseins nicht ernst nehmen können, sondern nur das des Sterbens. Im Geborensein etabliert sich das Menschliche als ein irdisches Reich, auf das hin ein Jeder sich bezieht, indem er seinen Platz sucht und findet, ohne jeden Gedanken daran, dass er selbst eines Tages wieder weggeht. Hier ist seine Verantwortung, Chance, usw.« Denktagebuch: Heft 19: November 1953, Eintrag 24, S. 463. 115 | Denktagebuch: Heft 27: Januar 1970, Eintrag 37, S. 766.

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raus verwirklicht. In dem Monat, in dem sie diese Gedanken in ihrem Denktagebuch festhielt, kommt sie Heideggers Vorstellung zu sprechen, dass die Zukunft ins Heute rage: »Ad Zeit: Heidegger: Die Zukunft ist ›nicht, was erst auf das Heute folgt, sondern sie ist jenes, was in das Heute hineinragt. So ist denn das Heute kein für sich bestehender Zeitabschnitt, der überallhin abgeriegelt wäre. Das Heute hat seine Herkunft im Gewesenen und ist zugleich dem ausgesetzt, was auf es zukommt.‹116 (700 Jahre Meßkirch)«117 Diese Vorstellung beruht auf einem zyklischen Zeitbegriff nach Nietzsche, der die Fähigkeit des Willens ausschaltet. In Vom Leben des Geistes bemerkt sie abschließend: Die »Unschuld des Werdens« und »die ewige Wiederkunft« sind kein geistiges Vermögen des Menschen, sondern nach Heidegger eine Tatsache, die daraus resultiert, dass der Mensch in die Welt »geworfen« ist, das heißt, nicht gefragt wurde, ob er hier sein möchte. Aus diesem Grund trägt der Mensch nach Heidegger auch keine Verantwortung dafür, dass er so oder so beschaffen ist und unter diesen oder jenen Umständen handelt und sich in dieser oder jener Umgebung befindet. Das Sein impliziert die Verneinung von »moralischen Tatsachen«, Zweck und Absicht werden gestrichen, Kausalität wird verabschiedet: »Nach der Verabschiedung von Ursache und Wirkung hat die geradlinige Struktur der Zeit keinerlei Sinn mehr, deren Vergangenheit stets als die Ursache der Gegenwart verstanden wird, in deren Gegenwart die Absicht und die Vorbereitung der Zukunftspläne ihren Ort hat und deren Zukunft das Ergebnis beider ist. Außerdem zerbröckelt dieser Zeitbegriff unter dem Gewicht der nicht weniger tatsachennahen Einsicht, dass ›alles vergeht‹, dass die Zukunft nur etwas bringt, was gewesen sein wird, und dass deshalb alles Seiende ›wert ist zu vergehen‹.«118 Nietzsche wie Heidegger folgern daraus, den Willen und das wollende Ich abzulehnen. In den letzten Strophen des Gedichts unternimmt Arendt also den Versuch, das Du dazu zu bewegen, sich von der anonymen Kraft des Seins freizumachen, da es von dem zyklischen Zeitablauf der Menschen willenlos gemacht wird. Es fordert das Du dazu auf, Verantwortung für die gemeinsame Menschenwelt auf sich zu nehmen, in der Zeit geradlinig verläuft, Handlungen Kausalität besitzen und die Gegenwart Bedeutung hat. Das Gedicht gibt das Erlebnis der Zeit auf zwei Ebenen wieder: Arendt unterscheidet reale Zeit, die linear vergeht und Vergänglichkeit impliziert, und inneres Erleben der Zeit, das Momente der Zeitlosigkeit kennt. Während der erste Teil des Gedichts abstrakt gehalten wurde und in der Darstellung der unfassbaren Unend116 | Arendt zitiert Heidegger: 700 Jahre Messkirch: Festansprachen zum 700jährigen Meßkircher Stadtjubiläum, 22. bis 30.7.1961 (Hg. Stadt Meßkirch, Meßkirch: Heuberg, nd.,) S. 9. Anmerkung Denktagebuch, S. 1144: Nach Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann kritisiert hier Hannah Arendt Heideggers Auffassung unter Hinweis auf die Kafkasche Zeitkonstruktion. 117 | Denktagebuch: Heft 27: Januar 1970, Eintrag 39, S. 767. 118 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 398 f.

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lichkeit Ewigkeit und Tod widerspiegelt, die kritisch gesehen werden, ist der zweite Teil konkret an ein Du in einer endlichen Zeit gerichtet: In dieser endlichen, begrenzten Zeit gibt es das subjektive Erleben der Zeitlosigkeit wie das der Dauerhaftigkeit. In der letzten Strophe überschneiden sich beide Konzepte Arendts: das der Dauerhaftigkeit – »Steh und bleibe« – und das der Zeitlosigkeit – »aus dem Zuwurf eines Augenblicks«. Da Arendt das Gedicht 1951 verfasst hat, also vor der Vita Activa, in der sie die Dauerhaftigkeit des Kunstwerks hervorhebt, wie auch vor Vom Leben des Geistes, in der sie die Zeitlosigkeit in der Gegenwart darstellt, kann vermutet werden, dass die metaphorische Darstellung im Gedicht zu ihren theoretischen Schlussfolgerungen geführt hat. Das Gedicht entspricht dem Zyklus der Gedankenlyrik, das heißt, Arendt schafft für komplexe, philosophische Sachverhalte metaphorische Bilder. Leben, Denken, Transzendenz und Zeit werden nicht direkt benannt. Für die vier Aspekte findet Arendt in jeweils einer Strophe Bilder, die Bewegungsabläufen verpflichtet sind und damit die Vitalität von Welt und Leben offenbaren. Das Leben ist im Fluss, ist ein Werden. Sie geht nicht von einem unendlichen Sein aus, sondern vom endlichen Menschen. Als Liebesgedicht sagen die Verse aus, dass nur Liebe zur Welt und zum Mitmenschen den Aspekten des Lebens, Denkens, der Transzendenz und der Zeit gerecht werden. Um das zu realisieren, appelliert das Gedicht indirekt an Verantwortlichkeit und Willen.

2.2.4 »Ach, wie die Zeit sich eilt« »Ach, wie die Zeit sich eilt, unverweilt Jahr um Jahr an ihre Kette reiht. Ach, wie bald ist das Haar weiss und verweht. Doch, wenn die Zeit sich teilt jählings in Tag und Nacht, wenn uns das Herz verweilt – spielt es nicht mit der Zeit Ewigkeit.«119

119 | Arendt, Hannah: Ach, wie die Zeit sich eilt. In: Gedichte, S. 53.

Dritter Teil. Produktion – Arendts eigene Dichtung

Das Gedicht ist 1951, im selben Jahr wie Unermessbar, Weite, nur … entstanden und befasst sich ausschließlich mit den Zeitkonzepten der Vergänglichkeit als Linie und der Zeitlosigkeit im Jetzt. Ausgangspunkt scheint der unabdingbare Alterungsprozess des Menschen zu sein: Arendt war zu diesem Zeitpunkt 45 Jahre alt, auf der Höhe ihrer Kraft, aber mit den ersten äußeren Zeichen des Verfalls. Im gleichen Jahr erschien ihr bekanntestes Werk über Elemente und Ursprünge des totaler Herrschaft, an dem sie mehr als zehn Jahre gearbeitet hatte und dem Erfolg bestimmt war. Elisabeth Young-Bruehl hat in ihrer Biographie das Jahr 1951 daher als neuen Lebensabschnitt unter dem Titel »In der Welt zu Hause« positiv gekennzeichnet. Barbara Hahn führt ihr Kapitel über Arendt und Lyrik, »Gedanken. Gedichte«, mit diesem Gedicht ein. Ach, wie Zeit sich eilt sowie Unermessbar, Weite, nur …, das sie ans Ende des Kapitels setzt, beginnen für sie mit einem plötzlichen Schlag, der in den Raum der Zeitlosigkeit führe. Tatsächlich ist die Unterbrechung zwischen Tag und Nacht »jählings«, so dass Hahn daraus schließt, dass es sich um einen coup de foudre handeln müsse, der auf Liebe hinweise: »Der ›coup de foudre‹ der Liebe führt aus der Welt in die Weltlosigkeit. Aus einer Sprache im Akkusativ in eine poetische Sprache. Gedankenblitze und der ›coup de foudre‹ der Liebe treffen sich im Gedicht.«120 Das »verweilende Herz« im Gedicht kann tatsächlich als Metapher für die Dauerhaftigkeit der Liebe verstanden werden, die dann jedoch in Opposition zum coup de foudre stünde, der schlagartige Verliebtheit und die daraus entstehende Illusion repräsentiert. Es scheint eher so zu sein, dass Arendt den Pfad der Zeitlosigkeit in der Gegenwart betritt, definiert als den Moment zwischen Tag und Nacht. Das Bewusstsein der Dauer der Liebe erinnert in diesem Sinne – falls man Biographismus betreiben möchte – eher an Blücher, die beständige Liebe, als an Heidegger, die ständig unterbrochene, in Frage gestellte und unmögliche Liebe. An wen das Gedicht adressiert ist, wissen wir nicht. Es besitzt Kunstautonomie und der biographische Hintergrund ist daher von geringer Bedeutung. Ein Vergleich der Quellen zwischen der Handschrift vom August 1951 im Denktagebuch121 und der maschinenschriftlichen Version von 1954122 zeigt nur eine Korrektur: Während in der Handschrift in der letzten Strophe das Wort »Ewigkeit« eine letzte Schlusszeile bildet und die Frage mit einem Fragezeichen endet, fügt Arendt in der definitiven, getippten Fassung die »Ewigkeit« direkt an die vorhergehende Zeile an, so dass es »mit der Zeit Ewigkeit« lautet, ohne Fragezeichen. Wahrscheinlich wollte Arendt die formale Symmetrie erhalten: Da beide Strophen 120 | Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher, Berlin, 2005, S. 83. 121 | Vgl. DLA: Teilnachlass A: Arendt, Hannah: Notebooks 1950-1973, H. 5, S. 45, (August 1951). 122 | Vgl. LOC: Speeches and Writings-File 1923-1975, nd. In: Box 85 / F older: Miscellany, Poetry and stories 1942-1954, Blatt 022960, (1951).

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aufeinander Bezug nehmen und die erste Strophe aus neun Zeilen besteht, sollte die zweite Strophe wohl nicht eine Zeile länger sein. Das fehlende Fragezeichen verweist auf eine rhetorische Frage, da Arendt die Antwort kennt: Die Erfahrung der Zeitlosigkeit existiert. Formal gesehen besteht das Gedicht aus zwei Strophen mit je neun Zeilen, die fast alle gleich lang sind. Die Kurzzeilen sind grundsätzlich stark betont und daher aussagekräftiger. Der Rhythmus aus einhebigen Daktylen endet in den jeweiligen Schlusszeilen zweihebig in den Pointen. Einige Zeilen sind in unregelmäßiger Reihenfolge gereimt (Strophe eins: »eilt« und »unverweilt«, »Jahr« und »Haar«; Strophe zwei: »teilt« und »unverweilt«, »Zeit« und »Ewigkeit«). Da das Gedicht nur aus Kurzzeilen besteht und über Enjambements drei Sätze bildet, versucht Arendt eine lineare, in kurzen Spiralen ablaufende Zeitkette sichtbar zu machen. Die Wirkung ist die einer vertikalen Verschraubung, die bis auf die Schlusszeilen das Ergebnis horizontal in Linien beendet. Das Gedicht ähnelt Tag in Tagen:123 »Tag an Tag reiht sich zur Kette« entspricht in seinem Ablauf der ersten Strophe, nur dass hier die Kette mit »Jahr um Jahr« globaler gefasst ist. Während das erste Gedicht ganz der metaphorischen Sprache verpflichtet ist, in der Parallele zwischen einer Dynamik des Denkens und der des Laufen, besteht das Gedicht hier aus einer rein diskursiven, eher kommunikativen Beschreibung, einem gestalteten Aphorismus gleich. Die lineare Zeit vergeht und der biologische Alterungsprozess im »weißen, verwehten Haar« wird zum materialisierten Ausdruck der Vergänglichkeit. In Opposition steht das Erlebnis der Zeitlosigkeit der zweiten Strophe. Wie in Tag in Tagen gibt es die Gegenpole von Tag und Nacht: Während im ersten Gedicht die Nacht – »Herr der Nächte« – den Moment der Zeitlosigkeit bildet, so liegt in Ach, wie die Zeit sich eilt dieser Augenblick in der kurzen Zeit des Übergangs von Tag zu Nacht, in der Dämmerung oder der blauen Stunde: wenn sich die Zeit »jählings« in »Tag und Nacht« teilt. Das Jähe spricht für eine begrenzte Zeitspanne, für reine Gegenwart. Die Zeit scheint stehenzubleiben und vermittelt den Eindruck der Ewigkeit. Es kann sich auch um eine Sinnestäuschung handeln, denn Arendt geht von dem subjektiven Erlebnis des »verweilenden Herzens« aus, das mit der Zeit Ewigkeit »spielt«: Zwei Zeitkonzepte kommen zum Tragen: Die reale, objektive Zeit des Selbst in der linearen Zeit und das subjektive Zeiterleben des Ichs. Wenn sie nur das zweite Zeitkonzept lyrisch wiedergeben würde, gäbe es weder Ursache und Wirkung noch Anfang und Ende. Das »verweilende Herz« kann auch als Metapher für Dauerhaftigkeit verstanden werden: Es ist das Sinnbild für Treue. »Treue ist das Zeichen der Wahrheit«, übertitelt Elisabeth Young-Bruehl in ihrer Arendt-Biographie eines der Kapitel.124 Tatsächlich gibt es nicht nur einen Wahrheitsbezug, sondern auch einen Zeitbezug im Begriff der Treue. So notiert 123 | Vgl. den dritten Teil, 2.1.1 »Herr der Nächte« /  «Tag in Tagen«, S. 323. 124 | Vgl. das fünfte Kapitel »Treue ist das Zeichen der Wahrheit (1941-1948)« in: YoungBruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt / M ain, 1996, S. 238 f.

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Arendt in ihr Denktagebuch, dass nur die Treue der Vergangenheit Dauerhaftigkeit verleiht: »Treue: ›true‹: wahr und treu. Als wäre das, dem man die Treue nicht halten kann, auch nie wahr gewesen. Daher das große Verbrechen der Untreue, wenn sie nicht gleichsam unschuldige Untreue ist; man mordet das Wahr-gewesene, schafft das, was man selbst in die Welt gebracht hat, wieder ab, wirkliche Vernichtung, weil wir in der Treue und nur in ihr Herr unserer Vergangenheit sind: Ihr Bestand hängt von uns ab. So wie es von uns abhängt, ob Wahrheit in der Welt ist oder nicht. Wenn es die Möglichkeit der Wahrheit und des Wahrgewesenseins nicht gäbe, wäre Treue Starrköpfigkeit; wenn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand, ganz und gar wesenlos.«125 Das »verweilende Herz« in der Gegenwart erinnert sich der Vergangenheit und bleibt ihr treu, bleibt der Wahrheit der Vergangenheit treu, so dass sie zeitlos wird. Hannah Arendt stellt lyrisch zum ersten Mal bewusst die lineare Zeit dar, im Unterschied zur Zeitlosigkeit, die sie wiederholt metaphorisch wiedergegeben hat. Verschiedene Aussagen können das Gedicht erhellen. So notiert sie 1965, also einige Jahre später, in ihr Denktagebuch folgende Beobachtung: »Unser Zeitbewusstsein richtet sich genau nach der Zahl von Jahren, die wir gelebt haben. Je jünger man ist, desto länger ist ein Jahr, aber auch eine Stunde oder ein Tag. Wenn ich fünf Jahre alt bin, ist ein Jahr ein Fünftel meiner Lebenszeit; wenn ich fünfzig bin, aber nur ein Fünfzigstel. Das ändert sich erst, wenn man alt wird und beginnt, statt von der Geburt vom Tode her zu rechnen. Da werden die Jahre unmerklich länger.«126 Sie nimmt diese Beobachtung in Vom Leben des Geistes wieder auf und fügt hinzu, wie die endliche Lebensspanne von der objektiven Zeit abhängt: »Diese innere Uhr der Lebewesen, die Geburt und Tod unterliegen, steht der ›objektiven‹ Zeit gegenüber, nach der die Länge eines Jahres immer die gleiche ist. Dies ist die Weltzeit und ihr liegt die – von allen religiösen und wissenschaftlichen Vorstellungen unabhängige – Anschauung zugrunde, die Welt habe weder Anfang noch Ende – eine Anschauung, die nur natürlich sein dürfte für Wesen, die stets in eine Welt eintreten, die schon vor ihnen da war und nach ihnen weiter da sein wird.«127 Das Staunen über Welt und Zeit  – wie schnell die Jahre vergehen  – kommt in der ersten Strophe zur Sprache. Arendt sollte später, im Alter von 64, also neunzehn Jahre nachdem das Gedicht entstanden ist, auf das Motiv des Staunens zurückkommen: »Wenn wir in die Welt geboren werden, sind wir erst einmal ausschließlich mit Erscheinendem konfrontiert, mit sinnlich Wahrnehmbarem. Da wir als Fremde in sie hineingeboren werden, als Neuankömmlinge von der Welt her gesehen, sind wir vor Erstaunen überwältigt, und unsere Fragen gelten dem Bekanntwerden in ihr. […] Unser Staunen nimmt ab mit dem Maße, wie wir mit der Welt bekannt werden. Wenn wir uns gerade einigermaßen in ihr eingerich125 | Denktagebuch: Heft 2: Oktober 1950, Eintrag 9, S. 38 (Unterstreichung von Arendt). 126 | Denktagebuch: Heft 24: Mai 1965, Eintrag 55, S. 641. 127 | Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Anfang der 1970er Jahre), München, 1998, S. 31.

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tet haben, mit ihr vertraut sind, sind wir mit dem Tod konfrontiert, der nochmals alles in Frage stellt, aber nun das Ganze ›überhaupt‹, nicht mehr das Einzelne, mit dem wir uns vertraut gemacht haben. […] Das Alter: Die Probe aufs Exempel für das ganze Leben? Oder: Wenn man das Leben als eine Reihe von Rätselaufgaben versteht, die man so oder anders löst, das Alter als die letzte und höchste Rätselaufgabe?«128 Das Staunen über Vergänglichkeit beginnt zu dem Zeitpunkt, zu dem man sich bewusst wird, dass man biologisch altert, also dem Zeitpunkt, als sie das Gedicht verfasst hat. Die Zeitlosigkeit in der zweiten Strophe beschreibt die Erfahrung, die sie in ihrem Zeitkonzept anhand von Kafkas Parabel Er zuerst 1961 in dem Vorwort Zwischen Vergangenheit und Zukunft veröffentlichen sollte und die einige ihrer Gedichte bisher erhellt haben. Auf dem Fundament dieser Theorie ruht ein späterer Eintrag in ihrem Denktagebuch, der die Zweiteilung von linearer Zeit und Zeitlosigkeit nochmals aus der Eigenperspektive des Menschen zusammenfasst. Arendt stellt fest, dass sich der Mensch durch zwei innere Vorgänge definiert: durch einen der Reflexion, dem Selbst, das der ersten Strophe entspricht, und durch einen der Apperzeption, dem Ich, das in der zweiten Strophe rhetorische Fragen stellt. Sie schreibt: »Das Ich im Inneren: Das Ich der Reflexion ist das Selbst, eine Reflexion des erscheinenden Menschen, also sterblich, zeitlich, alternd, veränderlich, usw. Dagegen das Ich der Apperzeption, das denkende Ich, das alterslos und zeitlos ist (Kafkas Parabel). Also tragen wir in uns etwas Zeitloses, wenn auch dies Zeitlose vom Zeitlichen in der Existenz gehalten wird. Der Funktionsapparat ist sterblich, nicht die Tätigkeit des Denkens, die aus ihm entspringt. Das Ich der Apperzeption gerade erscheint nie – es ist der Grund für die Annahme der Unsterblichkeit der Seele. Ich meine hier nicht ein Bewusstseinsphänomen – ich bin mir einer Zeitlosigkeit bewusst, was natürlich eine Illusion sein kann. Sondern: Das Ich der Reflexion, wenn es über das Ich der Apperzeption reflektiert, sieht die Zeitlosigkeit von außen und sagt gleichsam – ›gee, how do you manage?‹«129 Ihre staunende Frage hier endet mit der gleichen rhetorischen Frage wie am Schluss der zweiten Strophe: Wie kann es sein, dass dieses Ich der Apperzeption Zeitlosigkeit erleben kann? Während das Gedicht Tag in Tagen die zeitlose Erfahrung des Ichs der Apperzeption darstellt, wiedergegeben in der Metapher von Tag und Nacht, nimmt in dem Gedicht hier das alternde Selbst der Reflexion dasselbe Motiv auf und denkt darüber nach, wie dieses andere Ich der Apperzeption Zeitlosigkeit erfahren kann. Im ersten Gedicht handelt sich um beschreibendes Denken »in«, beim zweiten um diskursives Denken »über«; beim ersten um Sprache als Metapher, beim zweiten um Sprache als Kommunikation. In gewisser Hinsicht gehören beide Gedichte thematisch zusammen. Indem auf Dauerhaftigkeit und Treue gegenüber der Ver128 | Denktagebuch: Heft 27: Mai 1970, Eintrag 55, S. 780 f. 129 | Denktagebuch: Heft 24: Eintrag 66, Februar 1966, S. 647 f. (Unterstreichung von Arendt).

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gangenheit im »verweilenden Herzen« angespielt wird, kommt hier die essentielle Dimension der Wahrheit gegenüber der Vergangenheit zum Ausdruck.

Z usammenfassung : G edanken in der P oesie Während die Andenken-Gedichte mehr dem diskursiven Denken-über verpflichtet sind und daher in die Sprache als Kommunikation fallen, wird in der Gedankenlyrik das Denken und das Erleben der Zeit direkt dargestellt, so dass die Sprache als Metapher hier vollständig ausgeschöpft wird. Das Erlebnis der Transzendenz erscheint in Verbindung mit der Erfahrung der Zeitlosigkeit. In allen ihren Gedichten nimmt Arendt jedoch keine Position einer blinden Bejahung ein, sondern schränkt ihre Aussagen über Transzendenz immer ein, es könne sich auch um Illusionen des denkenden Ichs handeln. Durchgehend verbleibt das lyrische Ich in einer subjektiven Perspektive: In Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit heißt gegenüber den Toten, »als hätte ein Gott euch«. Es wird der Eindruck vermittelt, als gäbe es einen Gott, aber es gibt keine Sicherheit über seine Existenz. Ein Sturm führt das lyrische Ich wieder zurück in die Realität. Man kann von Gott nichts Bestimmtes sagen. In Unermessbar, Weite, nur … wird um Endlichkeit im Dasein gebeten, also wird der Unendlichkeit des Transzendenten, die man nicht erfassen kann, direkt abgesagt. In Park am Hudson empfinden die Kinder eine Zeitlosigkeit, die sich der Ewigkeit annähert. Aber auch hier grenzt Arendt ein: »Ewigkeit ist fast.« Und in Tag in Tagen wie in Ach, wie die Zeit sich eilt unterscheidet Arendt zwischen zwei inneren Vorgängen des lyrischen Ichs: einem vergänglichen, reflektierenden, sich in einer linearen Zeit befindenden, und einem, das sich in in den Bereich der Zeitlosigkeit begeben kann. Zeitlosigkeit darf nicht als Ewigkeit missverstanden werden, denn »das Herz spielt mit der Zeit Ewigkeit«. Die subjektive Perspektive des Menschen steht im Vordergrund. Zeitlosigkeit ist nicht metaphysische Ewigkeit, sondern besteht in der Fähigkeit des Menschen, sich in der Gegenwart denkend auf den Pfad der Nichtzeit, der Zeitlosigkeit zu begeben. In diesem Bereich kann das Denken sich frei bewegen, sich in die Vergangenheit begeben oder sich in die Zukunft projizieren. Nach Arendts Theorie ist Dichtung selbst das Resultat dieses nichtzeitlichen Denkens. Daraus kann man schließen, dass ihre lyrische Betätigung, also ihre Praxis zu ihrem Zeitkonzept führte. Damit erhellen die Gedichte ihre Theorie: Sie sind schöne Beispiele für das Denken in der Zeitlosigkeit. Der Anlass, den Pfad der Zeitlosigkeit zu betreten, ist neben dem reinen Denken (Tag in Tagen, Nur wem der Sturz im Flug sich fängt) häufig die Liebe. Auch diese ist unsichtbar, eine Empfindung und kann daher nur metaphorisch wiedergegeben werden. Sie transzendiert die drei Zeitformen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Um Erinnerungen geht es in Aufgestiegen aus dem stehenden Teich der Vergangenheit: Geliebte Personen aus der Vergangenheit treffen sich in einem neuen, zeitlosen Raum. Um Gemeinschaft in der Gegenwart geht es in Park am

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Hudson: Die Liebe eines Paares hat dauerhaften Bestand. Um Projektionen in die Zukunft geht es in Unermessbar, Weite, nur …: Ein liebendes lyrisches Ich wendet sich an ein Du, um sich zu ihm und zu seiner Welt in der Begrenztheit zu bekennen. Liebe steht in Verbindung mit der Wahrheit: Der Vergangenheit treu zu bleiben – nur dann ist sie wahr –, zeugt von essentieller Dauerhaftigkeit in der Liebe. In Park am Hudson steht zentral ein Paar am Ende der Strophen, mit dem »die Zeit geht« und das »der Zeiten Last trägt«. In Unermessbar, Weite, nur … geht es um Verwurzelung, Tiefe einer Beziehung, um Behausung im Herzen. In Ach, wie die Zeit sich eilt »verweilt das Herz«. Arendt schrieb Liebesgedichte und hinterließ damit materialisierte Zeugnisse dieser besonderen Beziehungen. Sie verfasste diese Gedichte zeitgleich mit ihrer Narrationstheorie, die sie Mitte der fünfziger Jahre entwickelt hat. Das Besondere soll gerühmt und bewahrt werden, nur auf diese Weise kann Sinn erhalten werden: Dem Beisammensein der Liebenden soll durch Herstellung Dauer verliehen werden. In zwei Gedichten reflektiert Arendt, was Lyrik kann und soll: In Und keine Kunde fasst sie zusammen, dass die Wirklichkeit sich verflüchtigen würde, wenn sie nicht dauerhaft durch Dichtung verdinglicht würde, und Dicht verdichtet das Gedicht bezieht sich auf die Sinnfülle in der Verdichtung durch Lyrik. Wahrheit steht zentral im Mittelpunkt ihres Schaffens: Eine Wahrheit, die sich durch Treue gegenüber der Realität äußert, die dauerhaft gemacht werden soll. Die meisten der besprochenen Gedichte haben die metaphorische Sprache zum Gegenstand, die Denkprozesse und Zeitempfinden wiederzugeben vermag. Es finden sich allerdings auch drei Gedichte, die mit Arendts Theorie der kommunikativen Sprache korrespondieren und poetisch formulierte Aphorismen darstellen: Sie sind aus dem mitteilenden, diskursiven Denken entstanden und bringen Differenzierungen hervor, die nur durch Reflexion möglich sind. Es handelt sich um die zwei poetologischen Gedichte Und keine Kunde sowie Dicht verdichtet das Gedicht. Und ganz ähnlich verhält es sich mit Ach, wie die Zeit sich eilt, das auf erklärender Sprache beruht und auf ihre spätere Theorie des Denkens in der Nichtzeit verweist, die unter anderem zur Kreierung von Poesie führt. Arendts lyrische Produktion geht also weit über verarbeitende Erlebnislyrik hinaus, besitzt immer auch einen philosophisch fundierten Hintergrund. Hannah Arendt machte sich bereits zum Zeitpunkt ihrer lyrischen Produktion Gedanken darüber, was Dichtung ist.

Nachwort

»Manchmal denke ich, dass wir alle in unserem Leben nur einen einzigen wirklichen Gedanken haben, und alles, was wir tun, Ausarbeitungen und Variationen eines Themas sind.«1 Die zentrale Motivation Hannah Arendts, ob in ihren historischen, politischen, philosophischen oder dichterischen Schriften, liegt immer in der Wahrheit. Um der Wahrheit willen hat sie die historische Untersuchung Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft geschrieben und sich nicht gescheut, die totalitären Strukturen nicht nur des Nazismus, sondern auch des Stalinismus aufzudecken. Um der Wahrheit willen hat sie in ihrer politischen Reportage über Eichmann nicht nur den willigen Funktionär des Bösen kritisiert, sondern auch jene, die unter dem tragischen Zwang standen und mit ihm kooperierten. Arendt selbst bezeichnete sich im Gaus-Interview als politische Theoretikerin,2 dennoch hat sie sich auch mit philosophischen, darunter metaphysischen Fragen sowie mit Dichtung beschäftigt. Ihre Methode in allen Gebieten kann als anthropologisch bezeichnet werden: Ihr Denken wies jedes fertige Gedankenkonstrukt zurück, das Menschen zwingt, sich ihm gewaltsam anzupassen. Dichtung war für Arendt von elementarer Bedeutung: »Nur von Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten).«3 In der Literatur fand sie jene realitätsnahen Modelle, die in philosophischen oder politischen Theorien nicht erscheinen. Ihre Kontakte mit Schriftstellern und Lyrikern nahmen daher in ihrem Leben einen besonderen Raum unter dem Motto der Wahrheit ein: So bezeichnete sie die Gedichte Hilde Domins als »die einzig wirklich schönen und

1 | Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt  /  M ain, S. 450. | Vgl. Vorwort, S. 15. 2 | Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (28.10.1964). In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 44-70, hier S. 44. 3 | Denktagebuch: Heft 19: Februar 1954, Eintrag 35, S. 469. | Vgl. den zweiten Teil, 1. Zwei sich ergänzende Sprachmodelle, S. 133.

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wahren Emigrationsgedichte«4 und ihr Vorschlag für das Motto von Robert Gilberts Lyrikband ist kennzeichnend: »einfach sagen, was man für wahr hält«.5 Sie war mit Walter Benjamin befreundet, der als Kritiker zwischen dem Sachgehalt und dem Wahrheitsgehalt eines Werkes unterschied.6 Und sie gab nicht nur Benjamis Illuminationen in der amerikanischen Fassung heraus, sondern auch Kafkas Tagebücher, dessen Aphorismus über Wahrheit sie über ihren Essay über Politik stellte: »Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine; aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.« 7 Wie definierte Hannah Arendt nun Wahrheit? Aus ihren Kriterien für literarische Werke kann man schließen, dass Wahrheit auf einer empathischen Haltung beruht, die den anderen mit einschließt, während Lüge auf doktrinäres Denken zurückzuführen ist, das Theorien den Vorzug vor der Wirklichkeit gibt. Ausschlaggebend ist die Wahl der Sprache, ob es sich nun um kommunikative oder metaphorische Sprache handelt. Kommunikation, auf Jaspers’ existentiellem Wahrheitsbegriff basierend, geht von der menschlichen Gemeinschaft aus: Es gibt eine Sprache des Gemeinsinns, die auf Tatsachen basiert, die von allen gleich wahrgenommen werden. Sie beruht auf Vernunft – will das Beste für die Gemeinschaft – und auf Freiheit – sie toleriert die Perspektiven der verschiedenen Individuen. Dies ist die einzig mögliche Sprache, die das Grauen der Konzentrationslager tatsächlich wiederzugeben vermag. Die Aufgabe des Menschen ist es, von der Wirklichkeit totalitärer Herrschaft zu berichten: Nur wenn man von den Gräueln spricht und sie mitteilt, folgen Konsequenzen im Handeln, kann eine Voraussetzung geschaffen werden, dass diese nicht wieder geschehen. Metaphorisches Sprechen lehnt Arendt im Unterschied zu Adorno nicht ab: Ihr ist bewusst, dass unsichtbare Sachverhalte, die das Innenleben des Menschen betreffen, nur metaphorisch wiedergegeben werden können: Emotionen, die Reaktionen auf äußere Phänomene sind, sowie Empfindungen, die von metaphysischen Spekulationen herrühren. Nur die Metapher kann sich sprachlich diesen unsichtbaren Phänomenen annähern. Hier gilt als Kriterium ebenfalls der Gemeinsinn, wenn auch begrenzter als in der kommunikativen Sprache: Emotionen und Spekulationen gründen nicht auf äußeren Tatsachen, sondern auf inneren Erfahrungen, die Menschen teilen, auch wenn jeder Mensch wohl eigene, individuelle Me4 | Arendt an Domin, New York, 28.1.1960 In: Hilde Domin, Begleitheft zur Ausstellung der Stadt-und Universitätsbibliothek, Frankfurt / M ain, 1988, S. 18. Vgl. den ersten Teil, 2.7 Hilde Domin, S. 121. 5 | LOC: General Corrrespondence, 1938-1976, In: Box 11 / F older: Gilbert, Robert, 19461975, Arendt an Gilbert, 11.2.1971, Blatt 006649. 6 | Vgl. den zweiten Teil, 1.2.3 Beispiele für poetisches Denken: Heidegger und Benjamin, S. 181. 7 | Arendt, Hannah: Verstehen und Politik (1953). In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft (Hg. Ludz, Ursula), München, 2000. Vgl. den ersten Teil, 1.4 Franz Kafka, S. 59.

Nachwor t

taphern erfinden würde. Dies ändert nichts an der Wahrheit der Gefühle, die sich im Denken äußern. »Treue ist das Zeichen der Wahrheit.« Treue bedeutet Kontinuität in der Zeit, sie weist auf Beständigkeit hin, was gewesen ist, wird nicht verleugnet, sondern tradiert: Die Kapazität der Erinnerung spielt daher eine essentielle Rolle in Arendts Äußerungen über Ästhetik. Es geht ihr um Andenken, Andenken an die Emigrationszeit, an verstorbene Freunde und an die Liebe zu bestimmten Menschen. In ihrer Theorie der Kreativität analysiert Arendt das Verhältnis des Menschen zur Zeit: Wo ist der Mensch beim Denken? Die Entdeckung einer Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart, die einem Pfad gleich ins Unendliche führen kann, erzeugt Befreiung: Der Mensch ist während des kreativen Schaffensprozesses in einem Bereich der Zeitlosigkeit, in der er die Vergangenheit wachrufen und wahr werden lassen kann. In der Verdinglichung zu einem Kunstwerk vollzieht sich Dauer: In ihrer Theorie der Narration stellt Arendt fest, dass Handlungen und Worte, die der Unsterblichkeit würdig sind, erhalten werden müssen. Deren Sinnhaftigkeit erhellt die Welt noch nach Jahrhunderten und ist daher allen anderen menschlichen Erzeugnissen überlegen. Nur wenn die Geschichten wahr oder wahrhaftig sind, können sie diese Unsterblichkeit erlangen. Arendt hätte nicht auf diese Weise von Dichtung sprechen können, hätte sie nicht selbst dichterische Versuche unternommen. Ihr Bemühen, Wahrheit lyrisch zu vermitteln, dürfte dazu beigetragen haben, dass sie für sich ästhetische Kriterien dafür definierte, was Metapher, Narration und Kreation bedeutet. Die lebenslange Interaktion zwischen kreativem Schaffen und theoretischen Beobachtungen führt zu einer Intensität, die selten bei einem Denker erscheint.

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Teilnachlass A: Haas, Willy • Korrespondenz, 1947.

Teilnachlass A: Heidegger, Martin – Verschiedenes, Widmungen Arendt hatte Lotte Köhler gebeten, ihre Exemplare der Heidegger-Bücher dem Deutsche Literaturarchiv Marbach zu übergeben. Die Bücher enthalten Widmungen Heideggers und Marginalien Arendts. • Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Vittorio Klostermann, Frankfurt / Main, 1971. • Heidegger, Martin: Zum 80. Geburtstag von seiner Heimatstadt Messkirch, Vittorio Klostermann, Frankfurt / Main, 1969.

Teilnachlass A: Jaspers, Karl »Hannah-Buch«: 4 Kästen, zum Teil Typoskript zum Teil Manuskript, 1 Kasten Anhang (1960er Jahre). • Kasten 2: Mappe 4: Teil III. Die Polemik gegen Hannah Arendt. • Kasten Anhang: Anhang II. Literaten zum Buch über Hannah Arendt.

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1975 Arendt, Hannah: Remembering Wystan H. Auden (Rede am National Institute of Arts and Letters, New York, 14.11.1973). In: The New Yorker (20.1.1975), S. 39 f. und S. 45 f. Zitiert nach: Arendt Hannah: Ich erinnere an Wystan H. Auden. In: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten (Hg. Ludz, Ursula), München, 2001, S. 318-328 (Übersetzung von Usula Ludz).

Veröffentlichungen aus dem Nachlass Arendts 1923-1961 Arendt, Hannah: »Heureux celui qui n’a pas de patrie« Poèmes de pensée (Hg. Biro, Karin), Paris, 2015. Arendt, Hannah: »Ich selbst, auch ich tanze.« Die Gedichte, München, 2015.

1950-1959 Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass (Hg. Ludz, Ursula), München, 2003.

1965-1966 Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik (Hg. Kohn, Jerome), München, 2006 (Übersetzung aus der amerikanischen Originalfassung Some Questions of Moral Philosophy von Ursula Ludz).

1970-75 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes (Erster und zweiter Teil: »Das Denken«, »Das Wollen«) (Hg. McCarthy, Mary), München, 1998. (Übersetzung aus der amerikanischen Originalfassung, The Life of the Mind, von Hermann Vetter). Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie (Dritter Teil von Vom Leben des Geistes) (Hg. Beiner, Ronald), München, 1981. (Übersetzung aus der amerikanischen Originalfassung, Judging, von Ursula Ludz).

1975 Arendt, Hannah: Die Sonning-Preisrede, Kopenhagen, 1975. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 3-12 (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz).

Arendts Denktagebuch Arendt, Hannah: Das Denktagebuch 1950-1973 (Hg. Ludz, Ursula / Nordmann, Ingeborg), München, 2002.

Bibliographie

Korrespondenzen Arendts Hannah Arendt / Walter Benjamin: Briefwechsel 1936-1940. In: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente (Hg. Schöttker, Detlev / Wizisla, Erdmut), Frankfurt / Main, 2006, S. 122-141. Hannah Arendt / Heinrich Blücher: Briefe 1936-1968 (Hg. Köhler, Lotte), München, 1999. Hannah Arendt / Kurt Blumenfeld: »… in keinem Besitz verwurzelt.« Die Korrespondenz (Hg. Nordmann, Ingeborg / Pilling, Iris), Hamburg, 1995. Hannah Arendt / Hermann Broch: Briefwechsel 1946 bis 1951 (Hg. Lützeler, Paul Michael), Frankfurt / Main, 1996. Hannah Arendt / Hilde Domin: Briefwechsel 1960-1963 (Hg. Wild, Thomas). In: Sinn und Form, H. 1, Januar / Februar 2010, S. 340-355. Hannah Arendt / Martin Heidegger: Briefe 1925-1975 (Hg. Ludz, Ursula), Frankfurt / Main, 2002. Hannah Arendt / K arl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969 (Hg. Köhler, Lotte / Saner, Hans), München, 2001. Hannah Arendt / Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967-1975 (Hg. Fahlke, Eberhard / Wild, Thomas), Frankfurt / Main, 2004. Hannah Arendt / Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975 (Hg. Brightman, Carol), München, 1997 (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz / Hans Moll).

Inter views mit Arendt »Fernsehgespräch mit Günther Gaus«. (Transkription: Gaus, Günther: »Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache«. In: Gaus, Günther: Zur Person: Porträts in Frage und Antwort, Bd. 2, München, 1964, S. 13-32). Zitiert nach: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 44-70. »Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto« (Konferenz über und in Präsenz von Hannah Arendt, Toronto Society for the study of social an political thought, November 1972). Zitiert nach: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk (Hg. Ludz, Ursula), München, 1998, S. 71113 (Übersetzung von Ursula Ludz).

3. Z usät zlich benut z te liter arische W erke Für die bibliographischen Angaben zu den Werken der folgenden Autoren siehe »4. Sekundärliteratur: Über Arendt und andere Autoren«, ab S. 395.

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Theodor W. Adorno, Wystan H. Auden, Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin, Heinrich Blücher, Bertolt Brecht, Hermann Broch, Hilde Domin, Robert Gilbert, Ludwig Greve, Martin Heidegger, Rolf Hochhuth, Randall Jarrell, Karl Jaspers, Uwe Johnson, Ernst Jünger, Franz Kafka, Robert Lowell, Mary McCarthy, Rainer Maria Rilke, Rahel Varnhagen. Blixen, Karen: Contes d’hiver, Paris, 2005. Blixen, Karen: La ferme africaine, Paris, 2001. Blixen, Karen: Sept contes gothiques, Paris, 2006. Blixen, Tania: Schicksalsanekdoten, Frankfurt / Main, 1960. Goethe, Johann Wolfgang von: Die Gedichte nach der Ausgabe letzter Hand, München, 1999. Heine, Heinrich: Werke in einem Band, Salzburg, 1954. Hölderlin, Friedrich: Gedichte, Stuttgart, 2003. Hölderlin, Friedrich: Hyperion, Stuttgart, 2002. Homer: Ilias (Hg. Hampe, Roland), Stuttgart, 1979. Homer: Odyssee (Hg. Hampe, Roland), Stuttgart, 1979. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart, 1961. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Paderborn, nd. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, 1963. Kant, Immanuel: Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart, 1974. Kazin, Alfred: Une vie plus intense. Les romanciers et conteurs américains de Hemingway à Mailer, Paris, 1976. Levi, Primo: Si c’est un homme, Paris, 2006. Nietzsche Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Stuttgart, 1965. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart, 1964. Pasternak, Boris: Œuvres (Hg. Aucouturier, Michel), Paris, 1990. Riezler, Kurt: »Das Homerische Gleichnis und der Anfang der Philosophie«. In: Riezler, Kurt: Die Antike, Bd. 12, 1936, S. 243-271. Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe, 2 Bände, Weimar, 1983. Trakl, Georg: Werke, Entwürfe, Briefe (Hg. Kemper, Hans Georg / Max, Frank Rainer), Stuttgart, 1992. Waldmüller, Monika: Die Wandlung. Eine Monatsschrift (Hg. Sternberger, Dolf, unter Mitwirkung von Jaspers, Karl / K rauss, Werner / Weber, Alfred), Marbach / Neckar, 1988. Wiese, Benno von: Ich erzähle mein Leben, Frankfurt / Main, 1982. Zadjalowa, Zoe (Hg.): The dark side of moon: The incredible story of what really happened in Poland during the russian occupation 1939-1945, New York, 1947.4. Sekundärliteratur

Bibliographie

4. S ekundärliter atur (thematische , darin alphabe tische O rdnung) Referenzwerke Literatur Baasner, Rainer / Zens, Maria: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Berlin, 2005. Bantel, Otto: Grundbegriffe der Literatur, Frankfurt / Main, 1967 Biti, Vladimir: Literatur-und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe, Hamburg, 2001. Glaser, Hermann / Lehmann, Jakob / Lubos, Arno: Wege der deutschen Literatur, Frankfurt / Main, 1989. König, Christoph / Müller, Hans-Harald / Röcke, Werner (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin / New York, 2000. Ricœur, Paul: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg, 2005. Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa, Opladen, 1990. Weber, Dietrich (Hg.): Deutsche Literatur der Gegenwart I, Stuttgart, 1976. Wilpert, Gero von (Hg.): Lexikon der Weltliteratur, München, 1997. Wilpert, Gero von (Hg.): Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, 1969.

Philosophie Aster, Ernst von: Geschichte der Philosophie, Stuttgart, 1980. Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart, 1995. Schischkoff, Georgi: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart, 1991. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt / Main, 1987. Vetter, Helmuth (Hg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg, 2004. Volpi, Franco; Nida-Rümelin, Julian (Hg.): Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart, 1988.

Lyrik Asmuth, Bernhard: Aspekte der Lyrik, Opladen, 1984. Holznagel, Franz-Josef / Kemper, Hans-Georg / Mayer, Mathias / Sorg, Bernhard / Schnell,Ralf / Korte, Hermann (Hg.): Geschichte der deutschen Lyrik, Stuttgart, 2004. Kayser, Wolfgang: Kleine deutsche Versschule, Tübingen, Basel, 2002. Korte, Hermann: Geschichte der deutschen Lyrik seit 1945, Stuttgart, 1989. Lamping, Dieter: Moderne Lyrik, Göttingen, 1991. Ludwig, Hans-Werner: Arbeitsbuch Lyrikanalyse, Tübingen, 1994. Paul, Otto: Deutsche Metrik, München, 1950. Weissenberger, Klaus: Die deutsche Lyrik, 1945-1975, Düsseldorf, 1981.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

Über Arendt im Allgemeinen Es wurde nur gedruckte Literatur zu Hannah Arendt aufgenommen, keine Veröffentlichungen aus dem Internet.

Biographien Courtine-Denamy, Sylvie: Hannah Arendt, Paris, 1997. Kristeva, Julia: Le génie féminin. Hannah Arendt, Bd. 1, Paris, 1999. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt / Main, 1996.

Einführungen in das Werk Arendts Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg, 1998. Heuer, Wolfgang: Hannah Arendt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg, 2001. Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt, Frankfurt / Main / New York, 1994. Sontheimer, Kurt: Hannah Arendt, München, 2005. Wild, Thomas: Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung, Frankfurt / Main, 2006.

Gespräche mit Personen, die Arendt persönlich gekannt haben  Domin, Hilde: Heidelberg, 8.11.2005. Köhler, Lotte: New York, 18.11.2004, 29.11.2004, 16.12.2004. Kohn, Jerome: New York, 15.11.2004, 13.12.2004. Young-Bruehl, Elisabeth: New York, 17.12.2004.

Über Arendt und Literatur Arendt und Lyrik Blumenthal-Barby, Martin: »The Odium of Doubtfulness«; or The Vicissitudes of Metaphorical Thinking. In: New German Critique 106 (2009), S. 61-81. Ette, Ottmar: Hand-Schrift und Körper-Leib. Alteritätserfahrung, autobiographisches Schreiben und Leibhaftigkeit in einem frühen Gedicht Hannah Arendts. In: Literarische Begegnungen (Hg. Leinen, Frank), Berlin, 2002, S. 153-187. Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher, Berlin, 2005. Hahn, Barbara: Wie aber schreibt Hannah Arendt? In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. von Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 92101. Schestag, Thomas: Die unbewältigte Sprache. Hannah Arendts Theorie der Dichtung, Basel / Weil am Rhein, 2006.

Bibliographie

Arendt und Narration Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz (Hg. Diner, Dan), Frankfurt / Main, 1988, S. 150-174. Hahn, Barbara: Vom Ort der Literatur zwischen Vergangenheit und Zukunft. Über Hannah Arendt. In: Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Theorie der Literatur nach 1945 (Hg. Hahn, Barbara), Würzburg, 2007, S. 87-98. Herzog, Annabel: The poetic nature of political disclosure. Hannah Arendt’s storytelling. In: Clio 30 / 2 (2001), S. 169-194. Hill, Melvyn A.: The fictions of mankind and the stories of men. In: Hannah Arendt. The recovery of the public world (Hg. Hill, Melvyn A.): New York, 1979, S. 275300. Kristeva, Julia: Life is a narrative, Toronto / Buffalo / London, 2001. Lauber, Johanna: Hannah Arendt und die deutsche Literatur: »Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen«, Norderstedt, 2009. Levet, Bérénice: Le Musée imaginaire d’Hannah Arendt, Paris, 2011. Noor, Ashraf: Hannah Arendt: Geschichte, Repräsentation und die Phänomenologie der Erfahrung. In: »Erfahrung und Zäsur«. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne (Hg. Noor, Ashraf ), Freiburg / Breisgau, 1999, S. 161-212. Vowinckel, Annette: Geschichtsbegriff und historisches Denken bei Hannah Arendt, Köln / Weimar / Wien, 2001.

Arendt und Übersetzungsfragen Weigel, Sigrid: Per-sonare, poetische Differenz und Selbstübersetzung: Der Sound von Hannah Arendts Denken und Schreiben. In: Hannah Arendt zwischen den Disziplinen (Hg. Baer, Ulrich / Eshel, Amir), Göttingen, 2014, S. 91-101. Weigel, Sigrid: Sounding Trough  – Poetic Difference  – Self-Translation: Hannah Arendt’s Thoughts and Writings Between Different Languages, Cultures, and Fields. In: »Escape to life.« German Intellectuals on Exile after 1933 (Hg. Goebel, Eckhart / Weigel, Sigrid), Berlin, 2012, S. 55-79.

Arendt und Die verborgene Tradition Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt. »Die verborgene Tradition.« In: Freibeuter 24 (1985), S. 103-117. Ritter-Santini, Lea: La passion de comprendre. Hannah Arendt: La pensée se fait littérature. In: Mélanges offerts à Claude David (Hg. Bandet, Jean-Louis), Bern / Frankfurt / Main / New York, 1992, S.  343-365. Weissberg, Lilane: Der Staat und die Dichter. Hannah Arendts Reflexionen über eine verborgene Tradition.In: Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden: eine Spurensuche in den Ursprungs-Transit- und Emigrationsländern (Hg. Kotowski, Elke-Vera), Berlin, 2015, S. 100-116.

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Arendt und Menschen in finsteren Zeiten Geißler, Rolf: Menschenwelt. Hannah Arendt und die Dichtung. In: Hannah Arendt. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin … (Hg. Klein-Rüsteberg, Karl Heinz), Essen, 1997, S. 25-40. Gottlieb, Susannah Young-ah: »Seit jener Zeit«. Hannah Arendt und ihre Literaturkritik. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 138-149.

Arendt und ihr Denktagebuch Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der: Annäherung an das Unausgesprochene. Aus Hannah Arendts Denktagebuch. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der), Göttingen, 2007, S. 11 f. Lütkehaus, Ludger: »Die Gedanken kommen zu mir …«. Das Denktagebuch Hannah Arendts«. In: Schweizer Monatshefte 83, H. 4. (2003), S. 49 f . Thürmer-Rohr, Christina: Verstehen und Schreiben – unheimliche Heimat.. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 92-101. Weigel, Sigrid: Dichtung als Voraussetzung der Philosophie. Hannah Arendts Denktagebuch. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 125-137. Weigel, Sigrid: Hannah Arendts Passagenwerk. In: Weimarer Beiträge 50, H. 1 (2004), S. 117-121.

Über Arendt und andere Autoren Knott, Marie Luise: Bei Schocken Books. In: Hannah Arendt  – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 19-28.

Arendt und Theodor Adorno 1. Werke von Theodor Adorno Adorno, Theodor / Horkheimer, Max: Dialektik der Auf klärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor / Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 5 (Hg. Schmid-Noerr, Gunselin), Frankfurt / Main, 1987. Adorno, Theodor: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt / Main, 1964. 2. Über Arendt und Theodor Adorno Benhabib, Seyla: Arendt und Adorno. Die Flüchtigkeit des Partikularen und das Benjaminsche Moment. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), S. 655-678.

Bibliographie

Gandesha, Samir: Schreiben und Urteilen. Adorno, Arendt und der Chiasmus der Naturgeschichte. In: Arendt und Adorno (Hg. Auer, Dirk / Rensmann, Lars / Schulze-Wessel, Julia), Frankfurt / Main, 2003, S. 199-233. Schöttker, Detlev: Deutungskonkurrenzen. Zur Holocaustdebatte zwischen Celan, Adorno und Hannah Arendt. In: Merkur 62 (2008), S. 578-587. Söllner, Alfons: Der Essay als Form politischen Denkens. Die Anfänge von Hannah Arendt und Theodor Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 79-91. 3. Über Theodor W. Adorno Gmünder, Ulrich: Kritische Theorie, Stuttgart, 1985.

Arendt und Günther Anders 1. Werke von Günther Anders Anders, Günther: Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt (Hg. Oberschlick, Gerhard) München, 2011. Anders, Günther: Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941 bis 1966, Berlin, 1969. Anders, Günther: Tagebücher und Gedichte, München, 1985. 2. Über Arendt und Günther Anders Dries, Christian: Günther Anders und Hannah Arendt – eine Beziehungsskizze. In: Anders, Günther: Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt (Hg. Oberschlick, Gerhard), München, 2011, S. 71-116.

Arendt und Wystan H. Auden 1. Werke von Wystan H. Auden Auden, Wystan H.: As I walked out one evening. Songs, Ballads, Lullabies, Limericks, and other light verse, New York, 1995. Auden, Wystan H.: Gedichte. Poems, Wien, 1973. Auden, Wystan H.: Selected Poems, New York, 1979. 2. Über Arendt und Wystan H. Auden Gottlieb, Susannah Young-ah: Regions of sorrow: anxiety and messianism in Hannah Arendt and W.H. Auden, Stanford, 2003.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

Hahn, Barbara: Korrespondieren. Wystan Hugh Auden. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Berlin, 2007 (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), S.  181-185. Haliburton, David: Friendship and Responsibility: Arendt to Auden. In: Literary paternity and literary friendship (Hg. Richter, Gerhard), Chapel Hill / London, 2002, S. 255-277. Pachet, Pierre: Die Autorität der Dichter in einer Welt ohne Autorität. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der), Göttingen, 2007, S. 62-69.

Arendt und Ingeborg Bachmann 1. Werke von Ingeborg Bachmann Bachmann, Ingeborg: Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Essays, Frankfurt / Main, 1968. Bachmann, Ingeborg: Sämtliche Erzählungen, München, Zürich, 2006. Bachmann, Ingeborg: Sämtliche Gedichte, München, Zürich, 1998. 2. Über Arendt und Ingeborg Bachmann Mahrdt, Ingeborg: Denken und Schreiben – »Ansiedlungsversuche« in der Welt. Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt. In: Ingeborg Bachmann: Weiter lesen und weiter schreiben (Hg. Slibar, Neva), Ljubljana, 2010, S. 38-57. Wandruszka, Marie Luise: Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt. Unter Mördern und Irren.In: Sprachkunst 38 (2007), S. 55-66. Wild, Thomas: Ingeborg Bachmann: »Eine äußerst harte Überprüfung von Wort und Welt …«. Wie schreiben nach dem Bruch? In: Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin, 2009, S. 120146. 3. Über Ingeborg Bachmann Höller, Heinz: Ingeborg Bachmann, Reinbek bei Hamburg, 1999. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann, Wien, 1999.

Arendt und Walter Benjamin 1. Werke von Walter Benjamin Benjamin, Walter: Ausgewählte Schriften 1: Illuminationen, Frankfurt / Main, 1977. Benjamin, Walter: Ausgewählte Schriften 2: Angelus Novus, Frankfurt / Main, 1988. Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, 2 Bände, Frankfurt / Main, 1983.

Bibliographie

2. Über Arendt und Walter Benjamin Clift, Sarah: Narrative Life Span, in the Wake. Benjamin und Arendt. In: Clift, Sarah: Committing the Future to Memory, New York, 2014, S. 8-40. Honohan, Iseult: Arendt and Benjamin on the Promise of History: A Network of Possibilities or One Apocalyptic Moment? In: Clio (1990), S. 311-330. Knott, Marie Luise: Korrespondieren. Walter Benjamin. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 129-139. Mahrdt, Helgard: Unausrottbar ist das Poetische solange es noch das Wundern gibtHannah Arendt über Walter Benjamin. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der), Göttingen, S. 3149. Palmier, Jean-Michel: Hannah Arendt / Walter Benjamin: Une rencontre insolite. In: Magazine Littéraire: Hannah Arendt – philosophie et politique, (2005), S. 33-36. Ritter, Naomi: Hannah Arendt: Benjamin / Brecht. Zwei Essays. In: Brecht Heute 3 (1973). Schöttker, Detlev / Wizisla, Erdmut: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt / Main, 2006. Schöttker, Detlev / Wizisla, Erdmut: Hannah Arendt und Walter Benjamin. Stationen einer Vermittlung. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, S. 42-57. Schöttker, Detlev / Wizisla, Erdmut: Hannah Arendt und Walter Benjamin. Konstellationen, Debatten, Vermittlungen. In: Arendt und Benjamin (Hg. Schöttker, Detlev / Wizisla, Erdmut.), Frankfurt / Main, 2006, S.  11-44. Weber, Thomas: Der seltsamste Marxist? In: Das Argument 45, H. 250 (2003), S. 282-290. Weissberg, Liliane: On Friendship in Dark Times: Hannah Arendt reads Walter Benjamin. In: Literary paternity, literary friendship (Hg. Richter, Gerhard), Chapel Hill / London, 2002, S.  278-293. 3. Über Walter Benjamin Materialien zu Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« (Hg. Bulthaup, Peter), Frankfurt / Main, 1975. Tiedemann, Rolf: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt / Main, 1965. Tiedemann, Rolf: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt / Main, 1983. Witte, Bernd: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg, 2000.

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»Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung

Arendt und Heinrich Blücher Heuer, Wolfgang: Der Sokrates an ihrer Seite. In: Du 10 (2000), S. 8 f. Köhler, Lotte: Vorwort zum Blücher-Briefwechsel. In: Hannah Arendt / Heinrich Blücher: Briefe 1936-1968 (Hg. Köhler, Lotte), München, 1999, S. 7-28. Neumann, Bernd: Hannah Arendt / Heinrich Blücher, Berlin, 1998. Nordmann, Ingeborg: »Tapferkeit vor dem Freund«. Briefeschreiben in finsteren Zeiten. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 67-78.

Arendt und Bertolt Brecht 1. Werke von Bertolt Brecht Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. 1938-1942 (Hg. Hecht, Werner), Frankfurt / Main, 1974. Brecht, Bertolt: Die Gedichte, Frankfurt / Main, 2003. Brecht, Bertolt: Frühe Stücke, Frankfurt / Main / Wien / Zürich, 1964. Brecht, Bertolt: Geschichten, Frankfurt / Main, 1962. Brecht, Bertolt: Liebesgedichte, Frankfurt / Main, 2006. Brecht, Bertolt: Me-ti. Buch der Wendungen, Frankfurt / Main, 1969. Brecht, Bertolt: Stücke 1935-1945, Frankfurt / Main / Wien / Zürich, 1965. 2. Über Arendt und Bertolt Brecht Heller, Erich: Hannah Arendt und die Literatur. Mit besonderer Berücksichtigung des Dichters Bert Brecht. In: Merkur 30 (1976), S. 996-1000. Knott, Marie Luise: Die Brecht-Mappe. In: Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 210-217. Knott, Marie Luise: Die ›verlorene Generation‹ und der Totalitarismus. Hannah Arendt liest Brecht. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der), Göttingen, 2007, S. 50-61. Knott, Marie Luise: Lesen. Bertolt Brecht. In: Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 140-145. Ritter, Naomi: Hannah Arendt, Benjamin / Brecht, zwei Essays. In: Brecht Heute 3 (1973), S. 253-255. 3. Über Bertolt Brecht Fassmann, Kurt: Brecht, München, 1963. Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt / Main, 2004.

Bibliographie

Arendt und Hermann Broch 1. Werke von Hermann Broch Broch, Hermann: Gedichte, Frankfurt / Main, 1986. Broch, Hermann: Der Tod des Vergil, Zürich, 1954. Broch, Hermann: Die Erzählung der Magd Zerline, Frankfurt / Main, 1967. Broch, Hermann: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie, Frankfurt / Main, 1994. Broch, Hermann: Die Schuldlosen, Frankfurt / Main, 1994. Broch, Hermann: Schriften zur Literatur 1. Kritik, Frankfurt / Main, 1983. Broch, Hermann: Quelques remarques à propos du Kitsch, Paris, 2012. 2. Über Arendt und Hermann Broch Gani, Djéhanne: Hermann Broch (1886-1951) et Hannah Arendt (1906-1975): un exil en correspondances.In: Les penseurs allemands et autrichiens à l’épreuve de l’exil (Hg. Azuélos, Daniel), Paris, 2010, S. 69-88. Knott, Marie Luise: Korrespondieren. Hermann Broch. In: Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 33-41. Lützeler, Paul Michael: Nachwort des Herausgebers des Broch-Briefwechsels. In: Hannah Arendt / Hermann Broch: Briefwechsel 1946-1951 (Hg. Lützeler, Paul Michael), Frankfurt / Main, 1996, S. 227-250. Olay, Csaba: Hannah Arendt und Hermann Broch: Roman und Moderne.In: Hermann Brochs literarische Freundschaften (Hg. Kiss, Endre / Lützeler,Paul Michael / Racz, Gabriella), Tübingen, 2008, S. 306-329. Rizzo, Roberto: Hannah Arendt / Hermann Broch, Briefwechsel 1946-1951. In: Arbitrium 16 (1998), S. 371-374. Schindler, Roland: Hannah Arendt und Hermann Broch: Briefwechsel 1946-1951. In: Das Argument 39, H. 2 (1997), S. 574-577. Weigel, Robert: Hannah Arendt und Hermann Broch. Briefwechsel 1946-1951. In: Modern Austrian Literature 31 (1998), S. 144-146. Wohlleben, Doreen: Der Aeneas-Mythos. Ethisch-poetische Korrespondenzen und Divergenzen bei Hannah Arendt und Hermann Broch. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der) Göttingen, 2006, S. 70-83. 3. Über Hermann Broch Durzak, Manfred: Hermann Broch, Reinbek bei Hamburg, 2001. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch, Frankfurt / Main, 1986.

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Arendt und Hilde Domin 1. Werke von Hilde Domin Domin, Hilde: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten, München / Zürich, 1986. Domin, Hilde: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München / Zürich, 1992. Domin, Hilde: Sämtliche Gedichte (Hg. Herweg, Nicola  /  Reinhold, Melanie), Frankfurt / Main, 2009. 2. Über Arendt und Hilde Domin Hahn, Barbara: Widmen. Hilde Domin. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 97-100. Wild, Thomas: Hilde Domin: ›Auf dem Atlantik‹, sagte eine, ›bau ich mein Haus …‹. Zwischen Rückkehr nach Deutschland und Aubruch zum Schreiben. In: Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin, 2009, S. 61-87. 3. Über Hilde Domin Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt / Main (Hg.): Hilde Domin. Begleitheft zur Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt / Main. 12. Januar-27. Februar 1988, Frankfurt / Main, 1988.

Arendt und Robert Gilbert 1. Werke von Robert Gilbert Gilbert, Robert: Meckern ist wichtig, nett sein kann jeder, Berlin, 1982. Gilbert, Robert: Mich hat kein Esel im Galopp verloren. Gedichte aus Zeit und Unzeit. (mit einem Nachwort von Hannah Arendt), München, 1972. 2. Über Arendt und Robert Gilbert Knott, Marie Luise: Korrespondieren. Robert Gilbert. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 168-174. 3. Über Robert Gilbert Gilbert, Marianne: »Das gab’s nur einmal«. Verloren zwischen Berlin und New York, Zürich, 2007.

Bibliographie

Arendt und Ludwig Greve 1. Werke von Ludwig Greve Greve, Ludwig: Die Gedichte (Hg. Tgahrt, Reinhard / Pfäfflin, Waltraud) In: Mainzer Reihe, Neue Folge, Bd. 3, Mainz, 2006. 2. Über Arendt und Ludwig Greve Hahn, Barbara: Widmen. Ludwig Greve. In: Hannah Arendt  – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 190-196.

Arendt und Martin Heidegger 1. Werke von Martin Heidegger Siehe unter 1. Archive: Deutsches Literaturarchiv Marbach, S. 384. Heidegger, Martin: Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, Frankfurt / Main, 1983. Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt / Main, 2003. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen, 2001. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Frankfurt / Main, 1985. Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze, Frankfurt / Main, 2006. Martin Heidegger / Karl Jaspers: Briefwechsel 1920-1963 (Hg. Biemel, Walter / Saner, Hans), Frankfurt / Main / München, 1990. 2. Über Arendt und Martin Heidegger Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München, 2006. Hahn, Barbara: Antworten. Martin Heidegger. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 43-53. Hahn, Barbara: Gemeinsam unterwegs zur Sprache? Hannah Arendt und Martin Heidegger über Dichten und Denken.In: Hannah Arendt zwischen den Disziplinen (Hg. Baer, Ulrich / Eshel, Amir), Göttingen, 2014, S. 137-150. Hahn, Barbara: Korrespondieren. Martin Heidegger. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 43-53. Ludz, Ursula: Das nie-vergessene Unvergessbare. Anmerkung zur Liebesgeschichte Hannah – Martin. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste (Hg. Heuer, Wolfgang / Lühe, Irmela von der), Göttingen, 2007, S. 84-94.

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Lütkehaus, Ludger: Hannah Arendt – Martin Heidegger: eine Liebe in Deutschland, Marburg, 1999. Lütkehaus, Ludger: ›Ich will, dass Du seiest, was Du bist‹. Hannah Arendt – Martin Heidegger: eine Liebe in Deutschland. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167 München, 2005, S. 28-41. Neumann, Bernd: Noch einmal: Hannah Arendt, Martin Heidegger und Günther Anders. In: The angel of history is looking back (Hg. Neumann, Bernd), Würzburg, 2001, S. 107-126. Nordmann, Ingeborg: Die Liebe. Die Falle. Die Treue. In: Du 10 (2000), S. 12 f. Taminiaux, Jacques: Arendt, disciple de Heidegger? In: Études Phénoménologiques 2 (1985), S. 111-136. Taminiaux, Jacques: Heidegger et Arendt lecteurs d’Aristote. In: Cahiers de Philosophie 4 (1987), S. 41-52. Taminiaux, Jacques: La fille de Thrace et le penseur professionnel. Arendt et Heidegger, Paris, 2006. Weissberg, Liliane: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin. In: Hölderlin in der Moderne (Hg. Vollhardt, Friedrich), Berlin, 2014, S. 114-125. 3. Über Martin Heidegger Anders, Günther: Über Heidegger (Hg. Oberschlick, Gerhard), München, 2001. Faye, Jean-Pierre: Le piège. La philosophie heideggerienne et le nazisme, Paris, 1994. Figal, Günter: Martin Heidegger. Zur Einführung, Hamburg, 2003. Hausmann, Frank-Rutger: »Martin Heidegger, Hugo Friedrich und Stéphane Mallarmé«. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 30, H.  3 / 4 (2006). Safranski: Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München / Wien, 1994. Thomä, Dieter (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart, 2005.

Arendt und Rolf Hochhuth 1. Werke von Rolf Hochhuth Hochhuth, Rolf: Der Stellvertreter, Reinbek bei Hamburg, 2001. 2. Über Arendt und Rolf Hochhuth Wild, Thomas: Rolf Hochhuth: ›Fast ein Bericht …‹ Die kontroverse Kraft des Faktischen. In: Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin, 2009, S. 147-173

Bibliographie

Wild, Thomas: Kreative Konstellationen  – Hannah Arendt und die deutsche Literatur der Gegenwart. Ein Überblick und eine Wirkungsanalyse am Beispiel Rolf Hochhuths. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 162-173.

Arendt und Randall Jarrell 1. Werke von Randall Jarrell Jarrell, Randall: The complete poems, New York, 1969. Jarrell, Randall: The woman at the Washington Zoo. Poems and translations, New York, 1960. Jarrell, Randall: Pictures from an institution, London / Boston, 1954. 2. Über Arendt und Randall Jarrell Hahn, Barbara: Lesen. Randall Jarrell. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 57-61. Hahn, Barbara: Widmen. Randall Jarrell. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara) Berlin, 2007, S. 62-65. 3. Über Randall Jarrell: Randall Jarrell’s Letters. An autobiographical and literary selection (Hg. Jarrell, Mary), London, 1985.

Arendt und Karl Jaspers 1. Werke von Karl Jaspers Jaspers, Karl: Chiffren der Transzendenz, München, 1970. Jaspers, Karl: Die großen Philosophen, München, 2007. Jaspers, Karl: Philosophie 1: Philosophische Weltorientierung, Berlin / Heidelberg / New York, 1973. Jaspers, Karl: Philosophie 2: Existenzerhellung, Berlin / Heidelberg / New York, 1973. Jaspers, Karl: Philosophie 3: Metaphysik, Berlin / Heidelberg / New York, 1973. Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin / New York, 1971. Martin Heidegger-Karl Jaspers: Briefwechsel 1920-1963 (Hg. Biemel, Walter / Saner, Hans), Frankfurt / Main / München, 1990.

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2. Über Arendt und Karl Jaspers Barnouw, Dagmar: Alternate History: Hannah Arendt, Karl Jaspers, and the germanjewish past. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 19 (1989), S. 233251. Haberditzel, Sybille: Hannah Arendt / Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969. In: Das Argument 28 (1986), S. 423-425. Heuer, Wolfgang: Politisches Urteilen in unsicheren Zeiten. Zu Hannah Arendts Briefwechsel mit Karl Jaspers. In: Merkur 39, S. 1096-1100. Hahn, Barbara: Schreib-Terzett. Mit den Stimmen von Hannah Arendt, Martin Heidegger und Karl Jaspers. In: Literaturmagazin 34 (1994), S. 141-163. Hahn, Barbara: Vollkommene Rückhaltlosigkeit. In: Hahn, Barbara: Die Jüdin Pallas Athene, Berlin, 2002, S. 241-287. Hirsch, Maria: Hannah Arendt-Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969. In: Neue Deutsche Hefte 33 (1986), S. 413-416. Köhler, Lotte / Saner, Hans: Vorwort Jaspers Briefwechsel. In: Arendt, Hannah / Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926-1969 (Hg. Köhler, Lotte / Saner, Hans), München, 2001, S. 17-33. Lüdkehaus, Ludger: Hannah Arendt / Karl Jaspers. Briefwechsel 1926-1969. In: L80 39 (1986), S. 142-146. Mächler, Robert: Zeugnisse einer Wahlverwandtschaft. Zum Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers. In: Schweizer Monatshefte 66 (1986), S. 338341. Nordmann, Ingeborg: Vom Wagnis der Öffentlichkeit. Zum Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers. In: Freibeuter 28 (1986), S. 137-143. Saner, Hans: Fragmente aus Karl Jaspers ›Vom unabhängigen Denken‹. Hannah Arendt und ihre Kritiker. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 27-43. Saner, Hans: Philosophie beginnt zu zweien. In: Du 10 (2000), S. 14 f. 3. Über Karl Jaspers Fuchs, Franz Josef: Seinsverhältnis. Karl Jaspers’ Existenzphilosophie. Existenz und Kommunikation, Frankfurt / Main, 1984. Saner, Hans: Jaspers, Reinbek bei Hamburg, 1999.

Arendt und Uwe Johnson 1. Werke von Uwe Johnson Johnson, Uwe: Eine Reise nach Klagenfurt, Frankfurt / Main, 1974. Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, 4 Bände, Frankfurt / Main, 1970.

Bibliographie

Johnson, Uwe: Mutmassungen über Jakob, Frankfurt / Main, 1974. 2. Über Arendt und Uwe Johnson Fahlke, Eberhard: Zu den Texten im Anhang des Johnson-Briefwechsels: »Wenn die eigene Gegend ins Unsichtbare und Lesbare verwandelt wird«. In: Hannah Arendt / Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967-1975 (Hg. Fahlke, Eberhard / Wild, Thomas), Frankfurt / Main, 2004, S. 171-189. Hahn, Barbara: Widmen. Uwe Johnson. In: Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 157-159. Neumann, Bernd: Uwe Johnson und Hannah Arendt. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.In: Treue als Zeichen der Wahrheit: Hannah Arendt: Werk und Wirkung (Hg. Rüsteberg, Karl-Heinz), Essen, 1997, S. 69-81. Neumann, Peter Horst: Trauer als Text. ›Eine Reise nach Klagenfurt‹ und Uwe Johnsons Nekrologe auf Günter Eich und Hannah Arendt. In: Johnson- Jahrbuch 2 (1995), S. 240-252. Wild, Thomas: Nachwort Johnson-Briefwechsel: ›Ein Brief von Ihnen ist immer eine Freude. Ein Ersatz für ein Gespräch ist es allerdings nicht‹. In: Hannah Arendt / Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967-1975, Frankfurt / Main, 2004, S. 301-332. Wild, Thomas: Uwe Johnson: ›Die Vergangenheit haben Sie in der Tat haltbar gemacht …‹. Lektionen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. In: Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin, 2009, S. 88-119. 3. Über Uwe Johnson Fahlke, Eberhard: Die Katze Erinnerung. Uwe Johnson. Eine Chronik in Briefen und Bildern, Frankfurt / Main, 1994.

Arendt und Ernst Jünger 1. Werke von Ernst Jünger Jünger, Ernst: Strahlungen I, München, 1995. Jünger, Ernst: Strahlungen II, München, 1995. 2. Über Arendt und Ernst Jünger Hahn, Barbara: Überliefern. Ernst Jünger. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara): Berlin, 2007, S. 54-56.

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Arendt und Franz Kafka 1. Werke von Franz Kafka Kafka, Franz: Amerika, Frankfurt / Main, 1989. Kafka, Franz: Das Schloß, Frankfurt / Main, 1991. Kafka, Franz: Der Prozeß, Frankfurt / Main, 1991. Kafka, Franz: Erzählungen, Stuttgart, 1995. Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt / Main, 1973. 2. Über Arendt und Franz Kafka Knott, Marie Luise: Hannah Arendt liest Franz Kaf ka 1944. In: Text und Kritik: Hannah Arendt (Hg. von Arnold, Heinz Ludwig), Bd. 166 / 167, München, 2005, S. 150-161. Knott, Marie Luise: Lesen. Franz Kaf ka. In: Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara): Berlin, 2007, S. 86-90. Knott, Marie Luise: Überliefern. Franz Kaf ka. In: Hannah Arendt. Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 29-32. Liska, Vivian: The gap between Hannah Arendt and Franz Kaf ka. In: Arcadia 38, H. 1 (2003), S. 329-333. Neumann, Bernd: Das Diapositiv des Kulturgeschichtlichen als ästhetisches Integral: Franz Kaf kas Romane im Diskurs mit Hannah Arendts Gedankengängen. In: Sandberg, Beatrice / Lothe, Jacob (Hg.): Franz Kaf ka: Zur ethischen und ästhetischen Rechtfertigung (Hg. Sandberg, Beatrice / Lothe, Jacob), Freiburg / Breisgau, 2002, S. 175-196. 3. Über Franz Kafka Anders, Günther: Kaf ka. Pro und contra. Die Prozeß-Unterlagen, München, 1991. Wagenbach, Klaus: Franz Kaf ka, Reinbek bei Hamburg, 2002.

Arendt und Robert Lowell 1. Werke von Robert Lowell Lowell, Robert: Gedichte. Englisch und deutsch (Hg. und übertragen von Manfred Pfister), Stuttgart, 1982. Lowell, Robert: Notebook 1967-1968, New York, 1969. Lowell, Robert: Selected Poems, New York, 1977.

Bibliographie

2. Über Arendt und Robert Lowell Hahn, Barbara: Lesen. Robert Lowell. In: Hannah Arendt  – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 197-199. Hahn, Barbara: Widmen. Robert Lowell. In: Hannah Arendt  – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 101-105. 3. Über Robert Lowell Meyers, Jeffrey: Manic power. Robert Lowell and his circle, London 1987.

Arendt und Mar y McCarthy 1. Werke von Mary McCarthy McCarthy, Mary: Ein Sohn der neuen Welt, München, 1971. McCarthy, Mary: La vie d’artiste, Paris, 1967. McCarthy, Mary: Le Groupe, Paris, 1968. McCarthy, Mary: Saying good-bye to Hannah. 1907-1975. In: McCarthy, Mary: Occasional prose, San Diego, 1976. McCarthy, Mary: »Wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, Essays, München, 1962. 2. Über Hannah und Mary McCarthy Brightman, Carol: Einleitung McCarthy Briefwechsel: Eine Romanze in Briefen. In: Hannah Arendt / Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975 (Hg. Brightman, Carol), München, 1997, S. 7-37. Hahn, Barbara: Widmen. Mary McCarthy. In: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 175-179. Lüdke, Martin: Wahrer Adel. Zu den Briefwechseln Arendt und McCarthy, Nabokov und Wilson. In: Merkur 50, H. 562-573 (1996), S. 441-449.

Arendt und Rainer Maria Rilke 1. Werke von Rainer Maria Rilke Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte, Frankfurt / Main, 1998. Rilke, Rainer Maria: Elisabeth Barrett Browning: Übertragung der Sonette aus dem Portugiesischen. In: Rilke, Rainer Maria: Gesammelte Werke, Bd. 6, Leipzig, 1927, S. 7-50.

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Rilke, Rainer Maria: Malte Laurids Brigge, Frankfurt / Main, 1996. 2. Über Arendt und Rainer Maria Rilke Knott, Marie Luise: Zitieren. Rainer Maria Rilke. In: Hannah Arendt  – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (Hg. Knott, Marie Luise / Hahn, Barbara), Berlin, 2007, S. 66-73. 3. Über Rainer Maria Rilke Holthusen, Hans Egon: Rilke, Reinbek bei Hamburg, 2004.

Arendt und Rahel Varnhagen 1. Werke von Rahel Varnhagen Varnhagen, Rahel: Gesammelte Werke, 10 Bände (Hg. Feilchenfeldt, Kurt / Schweikert, Uwe / Steiner, Rahel E.), München, 1983. 2. Über Arendt und Rahel Varnhagen Christophersen, Claudia: Ein Leben wird gestaltet. Rahel Varnhagens Goethe- Verehrung aus der Sicht von Hannah Arendt. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, Wolfgang / Lühe, Irmela von der), Göttingen, 2007, S. 15-30. Christophersen, Claudia: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint«. Hannah Arendt über Rahel Varnhagen, Königstein / Taunus, 2002.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Lettre Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns Januar 2017, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

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Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie September 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1

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