Wissen und Geschlecht: Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik [1. Aufl.] 9783839410301

Die Forderung nach einem bewussten Umgang mit Geschlecht in der Schule scheint in ein unlösbares Dilemma verstrickt: Wie

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German Pages 306 Year 2015

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Inhalt
Einleitung
Teil I: Einführung in die Problem- und Fragestellung
1. Geschlechtsbezogene Schulforschung zwischen der Sensibilisierung für Geschlechterasymmetrien und der Konstruktion von bipolaren Sichtweisen
1.1 Zur Ausbildung von »Geschlechterrevieren des Wissens« in der Schule
1.2 Geschlechtsbezogene Perspektiven in den Didaktiken der Naturwissenschaften
1.3 Die interaktiven Strukturen im Klassenraum
1.4 Mädchen stärken – Jungen sensibilisieren: Die Geschlechtsidentität als Zielscheibe einer geschlechtsbewussten Pädagogik
1.5 Die Kritik an der Reifi zierung von Geschlecht
2. Zum Verständnis von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion – ein theoretischer Ausweg aus der Problematik der unkritischen »Verdoppelung« der Grundstruktur der Zweigeschlechtlichkeit?
2.1 Hagemann-Whites frühe Kritik
2.2 Das Konzept des »doing gender«
2.3 Der Diff erenzansatz in der geschlechtsbezogenen Schulforschung
2.3.1 Der Ansatz der »Pädagogik der Vielfalt« und seine »Kritik des Einheitsdenkens«
2.3.2 Irigarays Kritik einer »Ökonomie des Gleichen« bei Freud
2.3.3 Der »Unbestimmbarkeit von Weiblichkeit« Rechnung tragen
2.4 »Trägt das Sehen von Geschlechterdiff erenzen zur Konstruktion oder zur Überwindung bei?« – die Angst vor dem Wirklichkeitsverlust
Teil II: Identifizierung und Überschreitung: Die geschlechtliche Identifizierung – eine »präsente« Erfahrung?
1. Zum Verständnis der »Geschlechtsidentität« in dem Diskurs einer geschlechtsbewussten Pädagogik in der Schule
2. »Das Unbehagen der Geschlechter«
2.1 Butlers Reformulierung des Inzesttabus als Macht
2.2 Das Verhältnis zwischen Identifi zierung und Begehren in Butlers Konzeption des melancholischen Geschlechts
2.3 Zum melancholischen Charakter des Ichs
2.4 Die Struktur der »Nachträglichkeit« in der Beziehung zum Objekt und der performative Charakter der Geschlechtszugehörigkeit
2.5 Die Unabschließbarkeit der Trauer und der Bezug zum Anderen des anderen in der Konstitution des Ichs
2.6 Die geschlechtliche Identifi zierung: eine »präsente« Erfahrung?
Teil III: Identifizierung und Überschreitung: Der relativen Stabilität der Diskurse der Zweigeschlechtlichkeit Rechnung tragen …
1. Das Symbolische und das Soziale: Butlers Diskussion des »Gesetzes« bei Lacan
1.1 Das Inzestgesetz und die Konstitution des Subjekts bei Lacan
1.2 Imaginärer Widerstand und die Autorität des Symbolischen: Butlers dekonstruktive Auslegung des Gesetzes
1.3 Das Symbolische und das Soziale im Kontext erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung
1.4 Von der Dekonstruktion der Innerlichkeit der Psyche zur Performanz der Geschlechtsidentität
2. Die normativen Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit als eine Wiederholungspraxis
2.1 Iterabilität und Idealität
2.1.1 Die ideale Form der reinen Präsenz als Voraussetzung der Selbstidentität einer idealen Einheit in der Wiederholung
2.1.2 Die Dekonstruktion der zeitlichen Einheit von Wahrgenommenem und Wahrnehmung
2.1.3 Die Diff erenz in der Selbstbeziehung: Temporalisation und Verräumlichung
2.1.4 Verräumlichung der temporalen Selbstbeziehung: Die Verwebung des »vorausdrücklichen« Sinns mit der »ausdrückenden« Schicht der Bedeutung
2.1.5 Verräumlichung der temporalen Selbstbeziehung: Die Dekonstruktion des Ausdrucks als Telos der Sprache
2.1.6 Die Urschrift als der paradoxe Ursprung der Idealisierung
2.2 Zur relativen Stabilität geschlechtsbezogener Normen und Praktiken: Sedimentierungen von Geschlecht als »nicht-anwesendes Zurückbleiben«
2.2.1 Von der Suche nach einer originalen Erlebnisschicht zu Derridas Verallgemeinerung des Textbegriff s
2.2.2 Die Sedimentierung von Geschlecht als »nicht-anwesendes Zurückbleiben« und die relative Stabilität des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit
Teil IV: Zur Notwendigkeit einer kritischen und offenen Auseinandersetzung mit der Produktion von Wissen über Geschlecht in der geschlechtsbezogenen Schulforschung
1. Die Förderung der besonderen Interessen und Fähigkeiten von Mädchen im Physikunterricht. Die IPN-Studie und ihr Einfl uss auf die geschlechtsbezogene Didaktik der Naturwissenschaften
2. Zur Ausblendung der Grenzen des Berechenbaren in der empirischen Forschung
Ausblick: »Mit dem Unberechenbaren rechnen«. Eine Herausforderung für die Weiterentwicklung feministischer Perspektiven in der Schule
Literatur
Danksagung
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Wissen und Geschlecht: Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik [1. Aufl.]
 9783839410301

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Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht

2008-12-10 09-02-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2196798402888|(S.

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Theorie Bilden Band 16

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Stephanie Maxim (Dr. phil.) lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechtsbezogene Pädagogik, Theorien der Differenz und Alterität sowie Bildungs- und Erziehungsphilosophie.

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Stephanie Maxim

Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik

2008-12-10 09-02-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2196798402888|(S.

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Für Herbert Sokolowski, der in seiner Tätigkeit als Lehrer die Fähigkeit besessen hat, die Schule dem Denken gegenüber zu öffnen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1030-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-12-10 09-02-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2196798402888|(S.

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Inhalt

Einleitung .......................................................................................................... 9

Teil I: Einführung in die Problem- und Fragestellung 1. Geschlechtsbezogene Schulforschung zwischen der Sensibilisierung für Geschlechterasymmetrien und der Konstruktion von bipolaren Sichtweisen ................................... 21 1.1 Zur Ausbildung von »Geschlechterrevieren des Wissens« in der Schule .............................................................................................. 22 1.2 Geschlechtsbezogene Perspektiven in den Didaktiken der Naturwissenschaften.......................................................................... 26 1.3 Die interaktiven Strukturen im Klassenraum........................................ 29 1.4 Mädchen stärken – Jungen sensibilisieren: Die Geschlechtsidentität als Zielscheibe einer geschlechtsbewussten Pädagogik ..................................................32 1.5 Die Kritik an der Reifizierung von Geschlecht .......................................37 2. Zum Verständnis von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion – ein theoretischer Ausweg aus der Problematik der unkritischen »Verdoppelung« der Grundstruktur der Zweigeschlechtlichkeit? ......... 41 2.1 Hagemann-Whites frühe Kritik .............................................................. 41 2.2 Das Konzept des »doing gender«............................................................ 44 2.3 Der Differenzansatz in der geschlechtsbezogenen Schulforschung .... 49 2.3.1 Der Ansatz der »Pädagogik der Vielfalt« und seine »Kritik des Einheitsdenkens« ....................................... 50 2.3.2 Irigarays Kritik einer »Ökonomie des Gleichen« bei Freud ....... 56 2.3.3 Der »Unbestimmbarkeit von Weiblichkeit« Rechnung tragen ... .......................................................................... 71 2.4 »Trägt das Sehen von Geschlechterdifferenzen zur Konstruktion oder zur Überwindung bei?« – die Angst vor dem Wirklichkeitsverlust ..................................................74

Teil II: Identifizierung und Überschreitung: Die geschlechtliche Identifizierung – eine »präsente« Erfahrung? 1. Zum Verständnis der »Geschlechtsidentität« in dem Diskurs einer geschlechtsbewussten Pädagogik in der Schule ............................85 2. »Das Unbehagen der Geschlechter« .......................................................91 2.1 Butlers Reformulierung des Inzesttabus als Macht ..............................91 2.2 Das Verhältnis zwischen Identifizierung und Begehren in Butlers Konzeption des melancholischen Geschlechts .............................................................................................. 97 2.3 Zum melancholischen Charakter des Ichs...........................................102 2.4 Die Struktur der »Nachträglichkeit« in der Beziehung zum Objekt und der performative Charakter der Geschlechtszugehörigkeit ............................................................... 105 2.5 Die Unabschließbarkeit der Trauer und der Bezug zum Anderen des anderen in der Konstitution des Ichs .....................109 2.6 Die geschlechtliche Identifizierung: eine »präsente« Erfahrung? .................................................................... 117

Teil III: Identifizierung und Überschreitung: Der relativen Stabilität der Diskurse der Zweigeschlechtlichkeit Rechnung tragen … 1. Das Symbolische und das Soziale: Butlers Diskussion des »Gesetzes« bei Lacan .......................................129 1.1 Das Inzestgesetz und die Konstitution des Subjekts bei Lacan .....................................................................................................131 1.2 Imaginärer Widerstand und die Autorität des Symbolischen: Butlers dekonstruktive Auslegung des Gesetzes ...................................152 1.3 Das Symbolische und das Soziale im Kontext erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung........................ 159 1.4 Von der Dekonstruktion der Innerlichkeit der Psyche zur Performanz der Geschlechtsidentität ..............................................169 2.

Die normativen Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit als eine Wiederholungspraxis .................. 179 2.1 Iterabilität und Idealität .......................................................................... 179 2.1.1 Die ideale Form der reinen Präsenz als Voraussetzung der Selbstidentität einer idealen Einheit in der Wiederholung ....................................................................... 181 2.1.2 Die Dekonstruktion der zeitlichen Einheit von Wahrgenommenem und Wahrnehmung ..............................191

2.1.3 Die Differenz in der Selbstbeziehung: Temporalisation und Verräumlichung .........................................194 2.1.4 Verräumlichung der temporalen Selbstbeziehung: Die Verwebung des »vorausdrücklichen« Sinns mit der »ausdrückenden« Schicht der Bedeutung .................... 197 2.1.5 Verräumlichung der temporalen Selbstbeziehung: Die Dekonstruktion des Ausdrucks als Telos der Sprache ....... 203 2.1.6 Die Urschrift als der paradoxe Ursprung der Idealisierung .... 206 2.2 Zur relativen Stabilität geschlechtsbezogener Normen und Praktiken: Sedimentierungen von Geschlecht als »nicht-anwesendes Zurückbleiben« ...............................................208 2.2.1 Von der Suche nach einer originalen Erlebnisschicht zu Derridas Verallgemeinerung des Textbegriffs .....................209 2.2.2 Die Sedimentierung von Geschlecht als »nicht-anwesendes Zurückbleiben« und die relative Stabilität des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit ................. 222

Teil IV: Zur Notwendigkeit einer kritischen und offenen Auseinandersetzung mit der Produktion von Wissen über Geschlecht in der geschlechtsbezogenen Schulforschung 1. Die Förderung der besonderen Interessen und Fähigkeiten von Mädchen im Physikunterricht. Die IPN-Studie und ihr Einfluss auf die geschlechtsbezogene Didaktik der Naturwissenschaften ........237 2. Zur Ausblendung der Grenzen des Berechenbaren in der empirischen Forschung ................................................................243 Ausblick: »Mit dem Unberechenbaren rechnen«. Eine Herausforderung für die Weiterentwicklung feministischer Perspektiven in der Schule ...................................................261 Literatur...........................................................................................................283 Danksagung....................................................................................................303

Einleitung

Seit Anfang der 90er Jahre ist im Diskurs der geschlechtsbezogenen Schulforschung ein gewisses Unbehagen an einem allzu unbefangenen Umgang mit den Begriffen der »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« zu beobachten. Im Zuge des so genannten Paradigmenwechsels von der Frauen- zur Geschlechterforschung geriet auch das im Kontext der neuen Koedukationsdebatte produzierte Wissen über den Zusammenhang von Geschlecht und Schule in den Fokus feministischer Kritik. Von vielen, die sich in der neuen Koedukationsdebatte engagiert haben, wird die geschlechtsbezogene Perspektive in der Schulforschung und -pädagogik inzwischen als ambivalent empfunden. Einerseits erweist sich der binäre und hierarchisierende Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit immer noch als weitgehend erfolgreich, so dass es notwendig erscheint, trotz der egalisierenden Wirkungen, die mit der Einführung der Koedukation verbunden waren, danach zu fragen, inwieweit Schule dazu beiträgt, diesen Diskurs zu stabilisieren. Andererseits hat die Frage danach, welche Differenzen zwischen Jungen und Mädchen im Schulalltag zu beobachten sind und inwieweit diese durch bestimmte Strukturen im Schulalltag stabilisiert oder gar hervorgebracht werden, eine Reihe von pädagogischen Strategien auf den Plan gerufen, in denen selbst mit stark dichotomisierenden Bildern von Geschlecht gearbeitet wird. In der geschlechtsbezogenen Schulforschung konzentrieren sich die Bedenken zum größten Teil auf der Sorge, dass die Suche nach Geschlechtsunterschieden ungewollt dazu führt, stereotype Vorstellungen von Geschlecht zu verstärken und Widersprüche in männlichen und weiblichen Sozialisationsverläufen nicht wahrzunehmen. Aus dieser Sicht befindet sich die geschlechtsbezogene Schulforschung in einem ausweglosen Dilemma: Auf der einen Seite erscheint eine geschlechtsdifferenzierende Perspektive, die die Unterschiede von Jungen und Mädchen in den Blick nimmt, unerlässlich, um den machtvollen Wirkungen des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit nachgehen und Strategien hiergegen entwickeln zu können. Auf der anderen Seite läuft dieser Ansatz aber immer Gefahr, durch die eigene Praxis vereinheitlichende und polarisierende Vorstellungen von Geschlecht zu entwerfen und damit selbst den Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit zu festigen. Auch die von West und Zimmerman vertretene Auffassung von Geschlecht als »doing gender«, die sich in der geschlechtsbezogenen Schul-

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forschung wachsender Beliebtheit erfreut, schaff t hier nur sehr bedingt Abhilfe. Zwar führt diese Konzeption von Geschlecht dazu, dass in empirischen Untersuchungen nicht mehr nach Geschlechtsunterschieden gefragt wird, sondern nach spezifischen Praktiken, mit denen Zweigeschlechtlichkeit in alltäglichen Interaktionen relevant gemacht wird. Letztendlich wird eine geschlechtsbewusste pädagogische Praxis aber auch hier als eine »Gratwanderung« zwischen einer »Dramatisierung« von Geschlecht, die einen geschlechtsdifferenzierenden Blick impliziert, der den anderen typisiert, einengt und damit möglicherweise stereotypes Verhalten überhaupt erst provoziert, und einer »entdramatisierenden« Betrachtungsweise, die Gefahr läuft unter dem Deckmantel der vermeintlichen Gleichheit die bestehenden Geschlechterverhältnisse fortzuschreiben, begriffen. Obwohl die Etablierung feministischer Fragestellungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften von Anfang an mit einer wissenschaftskritischen Sichtweise verbunden war, bleibt in der geschlechtsbezogenen Schulforschung – auch nach ihrer Öffnung gegenüber der seit Anfang der 90er Jahre stattfi ndenden Grundlagendebatte über die Kategorie Geschlecht – ein zentrales Axiom der empirischen Wissenschaften undiskutiert. Bei aller Verschiedenheit der unterschiedlichen Ansätze wird die Annahme, dass sich empirische Forschung auf eine Wirklichkeit oder Realität bezieht, die sich durch ein gegenwärtiges »Dasein« auszeichnet oder als ein gegenwärtiges »Dasein« erlebt wird, als selbstverständlich betrachtet. In dem gemeinsam geteilten Streben, Wissen – sei es als intersubjektiv überprüf bares Wissen oder als sozialwissenschaftliche Explikation so genannten Alltagswissens – über einen empirischen »Tatbestand« zu erlangen, unterscheidet sich in dieser Hinsicht auch der neuere Ansatz des »doing gender« nicht von anderen Konzeptionen von Geschlecht und deren empirischen Erforschung. Zwar gilt es in der geschlechtsbezogenen Schulforschung als selbstverständlich, Vorstellungen von Geschlecht als gesellschaftlich vermittelt aufzufassen, und es wird in der Regel sehr schnell zugestanden, dass empirische Beschreibungen der Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit als Interpretationen zu verstehen sind, die in ihrem möglichen Bedeutungsgehalt nicht abgeschlossen werden können. Dies hat aber nicht dazu geführt, den epistemologischen Rahmen zu überdenken, in dem die »Wirkungsmächtigkeit« des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit begriffen wird. Ganz gleich, ob in der Schulforschung nach Geschlechtsunterschieden oder den Praktiken der Unterscheidung zwischen zwei Geschlechtern gesucht wird, in den diesbezüglichen Studien wird vorausgesetzt, sie bezögen sich in ihren empirischen Untersuchungen auf einen objektiven Tatbestand, der als realer in einer einfachen Gegenwart gegeben sei, bzw. auf eine Erfahrung, die einem Subjekt – zumindest im Augenblick des Erlebens – voll präsent ist und die eine originale Erlebnisschicht bildet, der sich die empirische Forschung in der Produktion und Darstellung ihrer Ergebnisse so weit wie möglich anzunähern versucht. Die vorliegende Arbeit untersucht, in welcher Weise die hiermit verbundene Konzeption von Geschlecht als eine einfache Anwesenheit den Diskurs

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der Zweigeschlechtlichkeit und die mit ihm verbundenen Hierarchisierungen unterstützt und wie die geschlechtsbezogene Schulforschung in einem solchen Denkschema eingebunden bleibt. Hierbei steht die Erwartung im Hintergrund, dass eine kritische Arbeit an dem epistemologischen Verständnis von Geschlecht einen anderen Blick auf die oben skizzierte Problematik der Reifizierung eröffnet. Auf die Entwicklung dieser Problem- und Fragestellung haben die frühen Schriften von Judith Butler einen erheblichen Einfluss ausgeübt. In »Das Unbehagen der Geschlechter« und »Körper von Gewicht« erörtert Butler, in welcher Weise das Verständnis der Kategorie »Frau(en)« in der feministischen Theorie durch vortheoretische Annahmen geprägt ist, die dem modernen Konzept der Zweigeschlechtlichkeit ihre innere Stabilität verleihen und es sichern. Hierbei argumentiert sie, dass eine feministische Theorie, die einen Teil des Geschlechts als eine anatomische Gegebenheit begreift, die ahistorisch und unveränderlich ist, sich der Möglichkeit beraubt, die diskursiven Mittel zu untersuchen, mit denen der anatomische Unterschied als vordiskursiv und natürlich gegeben hervorgebracht wird. Dieses Motiv prägt auch ihre Kritik an einer unhinterfragten Übernahme der Subjekt/ObjektDichotomie im feministischen Diskurs. Aus Butlers Sicht verschleiert die Annahme eines vordiskursiven »Ichs«, »das seiner Welt einschließlich der Sprache, wie einem Objekt gegenübertritt« (Butler 1991: 211), den normativen Status der Vorstellung von einer inneren Kohärenz des Subjekts und der Kontinuität einer Person. In einer solchen Setzung werde verkannt, dass es gerade die Regulierungsverfahren des Geschlechts seien – die Produktion bestimmter Körper- und Sexualpraktiken als vorgeblichen Ausdruck einer einheitlichen Geschlechtsidentität –, die den Glauben hervorbrächten, dass es sich bei dieser Vorstellung »um ein deskriptives Merkmal der Erfahrung« (ebd.: 38) handelt. Von einer solchen theoretischen Perspektive aus betrachtet – dies wird später zu zeigen sein – scheint der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit paradoxerweise unumgänglich die binäre Gegenüberstellung des heterosexuellen Paares zu überschreiten, so dass sich die Frage stellt, inwieweit die Unterdrückung dieser Überschreitung in den unterschiedlichen Wissenssystem über Geschlecht ein zentraler Machtmechanismus darstellt, der den Wahrheitsanspruch dieses Diskurses in modernen Gesellschaften absichert. Nun waren bestimmte Dimensionen dieser Thesen selbst im deutschsprachigen Kontext, in dem sich erst Anfang der 90er Jahre eine breite Debatte über die Grundlagen des Verständnisses der Kategorie Geschlecht in den Sozialwissenschaften entwickelte, nicht völlig neu. Schon 1984 hat Hagemann-White die Klassifikation der Zweigeschlechtlichkeit als eine naturgegebene Tatsache kritisch in den Blick genommen und die Frage verfolgt, ob Erfahrungen von Männlichkeit und Weiblichkeit weit weniger eindeutig dem einen oder anderen Pol zuzuordnen sind als es geschlechtsbezogene Sozialisationstheorien bisweilen nahe legen (vgl. Hagemann-White 1984; vgl. z.B. auch Tyrell 1986). Relativ originell und bis heute heftig umstritten ist jedoch die Art und Weise, in der Butler diese Fragen konsequent in

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einem epistemologischen Rahmen verfolgt, in dem die Frage nach den kontextuellen Bezügen des theoretischen Rahmens des Verständnisses von Geschlecht im Vordergrund steht. In ihrer Analyse des Zusammenhangs von Geschlecht und Sexualität arbeitet sie sich unentwegt an den diskursiven Grenzziehungen zwischen dem Diskursiven und dem Außerdiskursiven ab, ohne diese Unterscheidung einfach aufzulösen, und untersucht, wie der Dualismus dieser Unterscheidung mit dem Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit zusammenhängt und diesen absichert. Nach Butler muss eine Analyse des Geschlechts die epistemologische Darstellung von Geschlecht, in der das »Ich« und der »Körper« als dem Diskurs vorgängig gesetzt wird, in das »Gebiet der Verfahren der Bezeichnung« (Butler 1991: 112) verschieben, um den normierenden Effekten nachgehen zu können, die mit solchen Ausschlüssen aus dem Bereich des Diskursiven verbunden sind. Diese Auffassung hat ihr vor allem in der deutschsprachigen Rezeption den Vorwurf eingebracht, sie verleugne die soziale Wirklichkeit der Zweigeschlechtlichkeit und damit auch, dass Zweigeschlechtlichkeit »›in‹ den Individuen präsent ist, d.h. eine gelebte Präsenz hat« (Lorey 1996: 151 Hervorh. i. Orig. S.M.). Damit geht die Befürchtung einher, dass Butlers Verschiebungen des begrifflichen und theoretischen Rahmens des Verständnisses der Zweigeschlechtlichkeit eine Analyse der machtvollen Wirkungen dieses Diskurses nicht mehr zulasse. Demgegenüber werde ich im Verlauf dieser Arbeit der Frage nachgehen, inwiefern gerade in dem Bereich der schulischen Bildung Strategien der Destabilisierung und Enthierarchisierung des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit ein Denken erfordern, das über den Gegensatz von Präsenz und Nicht-Präsenz und damit auch der Entgegensetzung des Realen und des Fiktiven hinausgeht. Ihren Anfang nimmt diese Untersuchung mit einer kurzen Skizze der zentralen Arbeitsgebiete der geschlechtsbezogenen Schulforschung und der Kritik, die bislang an dem dort vertretenen Wissen über den Zusammenhang von Schule und einer geschlechtstypischen Persönlichkeitsentwicklung geübt wurde. Insofern in der Literatur der feministischen Schulforschung regelmäßig aktualisierte Aufarbeitungen der neuen Koedukationsdebatte und deren Weiterentwicklung vorgelegt wurden (Faulstich-Wieland 1991; Faulstich-Wieland/Nyssen 1998; Faulstich-Wieland 2004), ging es mir hierbei nicht darum erneut eine umfassende Chronologie dieser Debatte zu verfassen. Auch spielt in dieser Untersuchung der immer noch schwelende Streit darüber, ob eine zumindest teilweise Aufhebung des koedukativen Prinzips Benachteiligungen von Mädchen entgegenwirkt oder Geschlechterstereotypen verstärkt, kaum eine Rolle. Vielmehr habe ich mich darauf beschränkt diejenigen in diesem diskursiven Zusammenhang hervorgebrachten »Wissensbestände« und pädagogischen Strategien zu skizzieren, die mir interessant erschienen, um die Frage weiterzuentwickeln, in welcher Weise es möglich ist der »Wirkungsmächtigkeit« des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit im Kontext der Institution Schule nachzugehen, ohne diesen erneut unkritisch zu reifizieren. In der geschlechtsbezogenen Schulforschung ist diese Diskussion stark von dem Begriff der »sozialen Konstruktion von Ge-

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schlecht« geprägt worden. Deshalb stelle ich in dem einführenden Teil auch die unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen vor, die sich dort mit der Rede von der sozialen Konstruktion verbinden und diskutiere, inwieweit sich in ihnen ein kritischer Umgang mit dem binären Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit abzeichnet. In der Auseinandersetzung mit dem differenzorientierten Ansatz der »Pädagogik der Vielfalt« schließt diese Diskussion eine längere Lesung von Luce Irigarays Kritik an Freud ein, in der sich bereits abzeichnet, wie der moderne Diskurs über die Herausbildung einer männlichen oder weiblichen Psyche unumgänglich über das binäre Prinzip hinausschießt, das ihn strukturiert. Diese Überschreitung wird in der geschlechtsbewussten Pädagogik nicht systematisch zur Kenntnis genommen. Zwar gibt es inzwischen eine dezidierte Kritik an einem »mechanistischen« Verständnis von Sozialisation, demzufolge sich die Persönlichkeit von Mädchen und Jungen relativ ungebrochen entlang normativer Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit entwickelt. Diese beschränkt sich jedoch darauf, auf die wachsende Pluralität von Geschlechtsrollenvorstellungen in der Gesellschaft hinzuweisen und hebt die Eigenaktivität von Jungen und Mädchen in der individuellen Aneignung des Systems der Zweigeschlechtlichkeit hervor. Betrachtet man die zahlreicher werdenden pädagogischen Maßnahmen, die darauf zielen, Jungen und Mädchen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität gezielt zu unterstützen, drängt sich hingegen der Eindruck auf, diese handelten auf der Grundlage weitgehend klar umrissener Selbstbilder und einheitlicher Vorstellungen von dem jeweils eigenem Geschlecht. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der zweite Teil dieser Arbeit mit Judith Butlers Vorschlag, die Geschlechtsidentität als eine Art von gesellschaftlich verursachter Melancholie zu begreifen, und erörtert das Verhältnis zum Anderen, das jede Konzeption des Selbst und der Geschlechtsidentität grundlegend strukturiert. Bereits Irigarays Lesung von Freud hat eine erste kritische Sicht darauf geworfen, wie der hierarchisierende Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit eingebunden ist in eine Logik, die von einem »Apriori des Gleichen« ausgeht und das Andere nicht als dasjenige, das über sie hinausgeht, zulassen kann, sondern nur als ein Anderes, das sich als aus dem Gleichen abgeleitet erweist. Diese Thematik soll auch im zweiten Teil dieser Arbeit fortgesetzt werden. Während Irigaray jedoch das, was in Freuds Erzählung der Genese der Geschlechtsidentität implizit über die binäre Logik der Zweigeschlechtlichkeit hinausschießt, mit einer eigentlichen »Weiblichkeit« und »sexuellen Differenz« gleichsetzt, begreift Butler die Möglichkeit der Überschreitung der Normen der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität als etwas, das sich der binären Klassifikation der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität radikal entzieht und gleichzeitig sowohl deren Möglichkeitsbedingung als auch deren Widerstandspotenzial darstellt. Butlers Verständnis der geschlechtlichen Identifizierung als Melancholie bezieht sich auf Freuds Unterscheidung zwischen der Melancholie und der Trauer. Nach Freud mündet die Trauer um ein verlorenes Liebesobjekt darin, dass dieser Verlust anerkannt wird. Sei ein erlittener Verlust dem Ich jedoch nicht be-

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kannt, versuche es das Objekt am Leben zu erhalten, indem es wesentliche Züge von ihm übernehme. Diese Form der Verlustverarbeitung bezeichnet Freud als Melancholie. Butler bezieht Freuds Verständnis der Melancholie auf den Ödipuskomplex, der in der Psychoanalyse als die Schlüsselstelle der geschlechtlichen Entwicklung gilt und um den unbewussten Verlust eines Liebesobjektes kreist. Hierbei macht sie nicht nur deutlich, in welcher Weise Freuds Konzeption der Geschlechtsidentität angebunden bleibt an die Norm der Heterosexualität, sondern behauptet in diesem Zusammenhang auch, dass geschlechtliche und sexuelle Identifizierungen notwendigerweise mit Inkongruenzen verbunden sind, die das binäre Schema der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität überschreiten. An Butlers Vorschlag anknüpfend, die Geschlechtsidentität als eine Art von gesellschaftlich verursachter Melancholie zu verstehen, soll in diesem Teil der Arbeit gezeigt werden, dass Identifizierungen nicht einfach als die Übernahme oder die Nachahmung charakteristischer Eigenschaften eines anderen begriffen werden können, wie es der Diskurs der geschlechtsbezogenen Schulforschung teilweise nahe legt, sondern die Idee, ein Ich entstehe dadurch, das es sich mit einem anderen/etwas anderem identifiziert, davon abhängt, dass sich die Identifikation auf eine Erfahrung des anderen bezieht, in der das Andere nicht vollkommen assimilierbar ist und für das Ich Anderes bleibt. Diese Alterität im Bezug zum anderen kann in dem Beharren darauf, dass der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit im Modus der Präsenz in den Erfahrungen der Individuen lebendig sei, nicht zur Kenntnis genommen werden. In der geschlechtsbewussten Pädagogik wird eine Selbstreflexion der »Eigenbiographie und deren Zusammenhang mit Selbstkonzepten der pädagogisch Handelnden« (Thies/Röhner 2000: 165f.) als eine wichtige Bedingung für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Mädchen vorausgesetzt. Angehende Lehrkräfte, so die einhellige Auffassung, »müssen zunächst einmal ein Bewusstsein davon entwickeln, dass sie als mögliche Identifikationspersonen für Mädchen bzw. Jungen entscheidende Bedeutung in deren Sozialisationsprozess gewinnen.« (Kraul/Horstkemper 1999: 311) Butlers Vorschlag, geschlechtliche Identifizierungen als eine Art von Melancholie zu verstehen, lenkt den Blick auf die phantasmatische Dimension, die das Unternehmen, das eigene »Selbstkonzept« zu reflektieren, notwendigerweise strukturiert und macht deutlich, dass Identifizierungen keine Ereignisse sind, von denen man sagen kann, sie haben stattgefunden. Dies bedeutet keinesfalls, dass Butler damit einen Voluntarismus vertritt, in dem das Geschlecht zu einer Frage der Wahl und der aktiven Aneignung eines Subjekts wird, oder dass sie abstreitet, dass der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit »eine Reihe von Wirkungen materialisieren kann« (Butler 1995: 249). Aber sie setzt in ihrer Analyse der Strukturen der Normen der Zweigeschlechtlichkeit die Stabilität dieses Diskurses nicht seiner Instabilität entgegen und geht der Frage nach, wie die Zwänge, denen die Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit unterliegen und »ohne die ein bestimmtes lebendes und begehrendes Wesen seinen Weg nicht gehen kann« (ebd.: 132), gedacht werden können, ohne sie erneut zu essentialisieren. Diese Problematik bil-

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det den Schwerpunkt des dritten Teils. Im Anschluss an eine dekonstruktive Auslegung des Gesetzes stellt Butler in ihrer Diskussion der Struktur der sozialen Regulierung der Zweigeschlechtlichkeit den Begriff der Iterabilität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Aus dieser Sicht erwirkt die laufende und ritualisierte Wiederholung der körperlichen Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität den Eindruck des biologischen Geschlechts als einer natürlichen Gegebenheit, die die Grundlage der »kulturellen Lebenstüchtigkeit« der Individuen bildet. Auf dem ersten Blick unterscheidet sich diese Konzeption von Geschlecht nicht wesentlich von dem in der geschlechtsbezogenen Schulforschung vertretenen Ansatz des »doing gender«, in dem das Geschlecht als eine sozial regulierte Tätigkeit verstanden wird, die aufgrund ihrer laufenden Wiederholung den Eindruck der angeborenen, eindeutigen und lebenslangen Geschlechtszugehörigkeit erzeugt. Und ebenso wie auch bei Butler wird in der ethnographischen Erforschung des »doing gender« davon ausgegangen, dass die Wissensbestände und Normen, auf die in solchen Praktiken zurückgegriffen wird, hierdurch gleichzeitig auch rekonstituiert werden. Für die Weiterentwicklung der Frage der Reifizierung ist es für die feministische Schulforschung jedoch interessant, dass Butler an dieser Stelle danach fragt, was diese temporale Struktur der Regulierung der Zweigeschlechtlichkeit für die Möglichkeit ihrer Transformation bedeutet. Hierbei erweisen sich mindestens zwei Aspekte ihrer Diskussion der Rolle und Struktur der Wiederholung im Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit als aufschlussreich: Erstens untersucht sie in einer Auseinanersetzung mit den Schriften Jacques Lacans, wie diese zeitliche Dimension die Stabilität des psychoanalytischen Gesetzes tangiert und gegenüber einer Reformulierung öffnet. Im Anschluss an Jacques Derrida argumentiert Butler hierbei, dass die Gründung des Gesetzes von Beginn an eine selbsterhaltende Wiederholung erfordert und damit auf einer performativen und deutenden Gewalt beruht, deren Grund nicht eingeholt werden kann. Hiermit erschließt sie vielleicht eine Perspektive auf die Grenzen der Reformulierung der Zweigeschlechtlichkeit, die diese weder essenzialisiert noch die Zwänge übergeht, die den Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit aufrechterhalten. Diese schwierige Thematik scheint auf den ersten Blick weit entfernt von den Problem- und Fragestellungen, die den Diskurs der feministischen Schulforschung bewegen; letztendlich kann sich aber auch die pädagogische Geschlechterforschung ihr nicht entziehen. Zum einen, weil ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Geschlecht auf der Ebene der Zielsetzungen einer geschlechtsbewussten Pädagogik immer wieder die Frage aufwirft, wo die Grenzen der sozialen Reformulierung der Zweigeschlechtlichkeit liegen. Zum anderen, weil die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit eine starke Diskursformation darstellt, die nach wie vor in bestimmten Zusammenhängen eingesetzt wird, um eine geschlechtliche Arbeitsteilung zu legitimieren, weswegen meiner Ansicht nach diese Thematik in der Diskussion um eine geschlechtssensibilisierende Bildung von LehrerInnen und SchülerInnen nicht ausgeklammert werden darf. Desweiteren, und dies ist der zweite Aspekt in Butlers Denken, der sich für die

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Weiterentwicklung des Verständnisses der Problematik der Reifizierung als interessant erweisen dürfte, unterstreicht sie in ihrer Analyse des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit, dass die Wiederholung diesen nicht nur stabilisiert, sondern gleichzeitig auch die permanente Möglichkeit seiner Destabilisierung darstellt. Obwohl Butler später auch das Werk von Pierre Bourdieu herangezogen hat, um die Zeitlichkeit der sozialen Konstruktion zu verstehen, erinnern vor allem ihre Arbeiten zur Konstruktion von Geschlecht an Derridas Verständnis von Iterabilität, demzufolge es keine reine Wiederholung gibt, sondern die Wiederholung unumgänglich mit einer Differenz zum zu Wiederholenden verbunden ist. Demnach wäre es falsch die Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit als kulturelle Handlungen zu verstehen, die »mit sich selbst identisch bleiben würden, wenn sie in der Zeit wiederholt werden« (Butler 1995: 325), und deren Identifi zierung durch ihre empirischen Variationen hindurch von einer übergeordneten idealen Einheit abgesichert werden könnte, die ihr Wiedererkennen garantiert. Dieser wichtige Aspekt ihres theoretischen Denkens wird häufig in seiner Bedeutung für ihren Vorschlag verkannt, das geschlechtlich bestimmte Ich als den Effekt einer kulturellen Bezeichnungspraxis zu verstehen, die nicht auf ein ursprüngliches Signifikat verweist, sondern performativ funktioniert. Nicht zufällig wird zumindest in der deutschsprachigen Rezeption dieser Verschiebung des epistemologischen Rahmens oft mit dem Hinweis begegnet, dass der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit »mehr als Sprache« sei und als eine gelebte Erfahrung begriffen werden müsse, die in den Individuen präsent ist (Lorey 1996: 143ff.). Während mit diesem Hinweis zumeist ein epistemologisches Verständnis von sozialer Wirklichkeit verbunden bleibt, das zumindest unter der Hand doch wieder eine ursprüngliche, ungeteilte Erlebnisschicht einführt, die den eigenen theoretischen und empirischen Untersuchungen als objektiver Bezugspunkt dient und in ihnen so weit wie möglich repräsentiert werden soll, folgt Butler Derridas Denken, demzufolge nicht nur die Sprache, sondern auch »das ganze Feld dessen, was die Philosophie Erfahrung nennen würde« (Derrida 1988 [1972]: 335) in ihrem Ursprung einer Wiederholungstruktur unterliegen, die von Anfang an eine »Nicht-Präsenz« in sie einführt. Mit der Behauptung einer ursprünglichen Wiederholung durchkreuzt Derrida die Logik des Ursprungs, die das wissenschaftliche Unternehmen maßgeblich prägt, und untergräbt die Unterscheidung zwischen der Realität und ihren Repräsentationen sowie die Idee einer präsenten Erfahrung, die erst nachträglich in eine unbestimmte Repräsentativität verwickelt wird. Das zweite Kapitel des dritten Teils soll auf der Grundlage von Derridas Auseinandersetzung mit Husserl in diese Problemstellung einführen, um anschließend entlang des ethnographisch orientierten Ansatzes des »doing gender« deutlich machen zu können, in welcher Weise dies die in der geschlechtsbezogenen Schulforschung dominierende Konzeption von »Wirklichkeit« als einer »präsenten Struktur« verschiebt. Hieran anknüpfend beschäftigt sich der vierte Teil dieser Arbeit mit der vom Kieler Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) durchgeführten »Interessenstudie Physik« (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998), die

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auf die Entwicklung einer geschlechtsbezogenen Perspektive in der Didaktik der Naturwissenschaften einen erheblichen Einfluss ausgeübt hat. Mit dieser Diskussion soll die Aufmerksamkeit auf die notwendigen Spielräume in der Produktion von Wissen über Geschlecht – und damit letztendlich auf die politische oder strategische Dimension der in der Koedukationsdebatte kursierenden empirischen Wissensbestände – gelenkt werden, die in der geschlechtsbezogenen Schulforschung, aufgrund des in ihr vorherrschenden Verständnisses der Geschlechterverhältnisse als empirisch rekonstruierbare »reale Tatbestände«, nicht systematisch zur Kenntnis genommen werden können. Während der Entwicklung und des Schreibens dieser Arbeit ist mir häufig in der ein oder anderen Form die Frage gestellt worden, ob es tatsächlich notwendig sei, die Arbeiten von Freud, Butler, Lacan und Derrida in dieser Ausführlichkeit zu erörtern. Da ich der Auffassung bin, dass in der pädagogischen Geschlechterforschung die Rezeption dekonstruktiver Texte gerade erst beginnt, denke ich, dass die Ausführlichkeit meiner Argumentationen zu ihrer Verständlichkeit beiträgt und es deshalb nicht sinnvoll gewesen wäre sich in einer verkürzten Weise auf diese AutorInnen zu beziehen. Darüber hinaus liegt der zwingendere Grund dieses Vorgehens jedoch gerade in dem Motiv dieser Arbeit begründet, die Diskussion um eine geschlechtsbewusste Pädagogik, ihren möglichen Beitrag zu einer »gerechteren« Schule und die mit ihr verbundenen Gefahren, einzubinden in ein Denken, dass sich darum bemüht, den Spuren desjenigen nachzugehen, was dem Diskurs über männliche und weibliche Identitäten entgeht und auf ein grundlegendes Nicht-Wissen-Können in Bezug auf den anderen verweist. Eine solche Arbeit ist aber nur insoweit möglich, wie sie den Blick auf die jeweiligen theoretischen Bezugsrahmen und deren Unabgeschlossenheit lenkt, in die der Glaube an die Wahrheit der Zweigeschlechtlichkeit eingebunden ist.

Teil I: Einführung in die Problem- und Fragestellung

1. Geschlechtsbezogene Schulforschung zwischen der Sensibilisierung für Geschlechterasymmetrien und der Konstruktion von bipolaren Sichtweisen

Die Entwicklung der aus der neuen Koedukationsdebatte entstandenen geschlechtsbezogenen Schulforschung muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der bundesrepublikanische Übergang in ein koedukatives Bildungssystem auf der Ebene der formalen Bildungsabschlüsse nicht nur zu einer Angleichung der Geschlechter, sondern sogar zu einem leichten Bildungsvorsprung der Mädchen geführt hat, ohne dass dieser von der Mehrzahl der betreffenden Frauen beruflich ebenso erfolgreich umgesetzt werden konnte wie von ihren männlichen Altersgenossen. Dies hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Nach wie vor unterscheiden sich trotz der so genannten Bildungsexpansion der Durchschnitt der männlichen und weiblichen Erwerbsverläufe nicht nur hinsichtlich der Art der Tätigkeit, sondern auch hinsichtlich des Einkommens, der Aufstiegschancen und der (Lebens) arbeitszeit beträchtlich voneinander. Auch der vielerorts konstatierte Wandel der Geschlechternormen scheint die relative Stabilität der geschlechtsspezifischen Segmentierung des Arbeitsmarktes und die hiermit verbundene Hierarchisierung nicht tief greifend erschüttert zu haben. »Erfolgreich in der Schule, diskriminiert im Beruf«, so lautete 1984 das Fazit einer Bilanz über die Geschlechtsspezifi k der Bildungsentwicklung der vorhergehenden zwanzig Jahre im Jahrbuch der Schulentwicklung (vgl. Faulstich-Wieland/ Nyssen 1998: 163). 1998 fällt diese Bilanz nicht wesentlich anders aus. »Die Trennlinie zwischen den Geschlechtern«, so stellen Faulstich-Wieland und Nyssen fest, »wird manifest im Übergang vom allgemeinbildenden zum berufsbildenden Ausbildungssystem bzw. im Übergang zur Hochschule« (ebd.: 170). In der beruflichen Ausbildung seien junge Frauen in schulischen Ausbildungsgängen überrepräsentiert, die in der Regel zwar einen höheren allgemeinbildenden Schulabschluss erforderten, die sich im Gegenzug später jedoch nicht in entsprechende Verdienstmöglichkeiten umsetzen lassen würden und zudem mit einem höheren Arbeitsplatzrisiko verbunden seien.

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Darüber hinaus präsentiere sich der duale Ausbildungsmarkt relativ ungebrochen geschlechtsspezifisch und weise für Frauen ein deutlich engeres Spektrum von beruflichen Möglichkeiten auf als für männliche Jugendliche. Ein ähnliches Bild ergebe sich für den Übergang von dem teilweise geschlechtsspezifisch segmentierten Studium in den Beruf. Auch wenn die Hälfte der Studienplätze inzwischen von Frauen eingenommen werden und sich dies in einer höheren Erwerbsquote niederschlage, verdienten sie häufig weniger als männliche Studienabgänger, seien häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen und arbeiteten in Positionen, die unter ihren formalen Voraussetzungen lägen (vgl. ebd.: 170ff.). In der feministischen Schulkritik wird der Beitrag der Schule zur Reproduktion dieser Sozialstrukturen vor allem in der Verstärkung geschlechtsspezifischer Interessens- und Persönlichkeitsmuster gesehen, die neben außerschulischen Faktoren dazu führe, dass Frauen weitaus weniger häufig in einkommensstarken und prestigeträchtigen Berufszweigen anzutreffen seien. Neben der Analyse der Darstellung der Geschlechterverhältnisse in Schulbüchern und der Untersuchung der Geschlechterverhältnisse in der personalen Struktur der Schule kristallisierte sich schon mit Beginn der neuen Koedukationsdebatte der Zusammenhang von Geschlecht, Schule und Fachinteresse sowie der von interaktiven Strukturen im Klassenraum und der Entwicklung des Selbstvertrauens von Schülerinnen und Schülern als zwei Arbeitsgebiete heraus, die die Geschlechterforschung in der Schule bis heute stark prägen.

1.1 Zur Ausbildung von »Geschlechterrevieren des Wissens« in der Schule Diese Entwicklung ist umso weniger verwunderlich, als sich die Debatte um die Koedukation zu einem nicht unerheblichen Teil an der Behauptung der Benachteiligung von Mädchen im naturwissenschaftlich-technischen Fachgebiet im koedukativen Schulsystem und den damit verbundenen Berufsfindungsprozessen entzündet hat (vgl. Baumert 1992: 83ff.; vgl. Kreienbaum/ Metz-Göckel 1992: 13ff.). Hierbei war zwar die These, Mädchenschulen wirkten geschlechtlich konnotierten Interessenentwicklungen entgegen, von Beginn an umstritten. Die Ausbildung von »Geschlechterrevieren des Wissens« (Kreienbaum 1992: 48ff.) an koedukativen Schulen gilt jedoch nach wie vor – abgesehen davon, dass vorliegende Daten in den letzten Jahren weniger verallgemeinernd interpretiert werden (vgl. z.B. Roeder/Gruehn 1997: 884; Kessels 2002: 16ff.) – als belegt und wird aktuell wie folgt begründet: Zu der Frage der Entwicklung von fachspezifischen Leistungsunterschieden zwischen den Geschlechtern bieten die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), die Third International Mathematics and Science Studies (TIMSS) sowie die OECD- Vergleichsstudie PISA aktuelle Daten, die auf großen repräsentativen Stichproben beruhen (vgl. hierzu erweiternd: Faulstich-Wieland 2004: 651ff ). Die Internationale Grundschul-

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Lese-Untersuchung (IGLU), die in Deutschland im Frühjahr 2001 mit rund 9000 SchülerInnen durchgeführt wurde, untersuchte das Leseverständnis von Kindern am Ende der vierten Jahrgangsstufe. Erweitert wurde diese Studie in Deutschland um eine Untersuchung der erreichten Fähigkeiten in Mathematik, Naturwissenschaften, Orthographie und Aufsatz (IGLU-E), die auf der Basis von rund 6000 SchülerInnen (Bos/Lankes u.a. 2003: 12f.) durchgeführt wurde. Hierbei erreichten Mädchen international betrachtet im Leseverständnis signifi kant bessere Werte. In Deutschland fällt diese Differenz jedoch vergleichsweise klein aus (ebd.: 115), so dass die AutorInnen der Studie hier von einem »recht ausgeglichen(en)« Leistungsniveau zwischen den Geschlechtern ausgehen (ebd.: 114). Demgegenüber konstatieren sie in dem Bereich der Orthographie den »bekannte[n] Vorsprung der Mädchen« mit signifi kanten Unterscheidungen in den Durchschnittswerten (ebd.: 42) und illustrieren diesen mit einer prozentualen Gegenüberstellung der Geschlechter auf den unterschiedlichen Kompetenzstufen. Demnach zeigt sich nur auf der mittleren Kompetenzstufe III ein nahezu ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, auf der höchsten Kompetenzstufe IV hingegen ergibt sich ein Verhältnis von 61,5 % zu 38,5 % zugunsten der Mädchen, auf den niedrigen Kompetenzstufen I und II nahezu umgekehrte prozentuale Verhältnisse zuungunsten der Jungen. Hierbei bleibt jedoch leider die geschlechtsunabhängige Verteilung der Schülerinnen und Schüler über den unterschiedlichen Kompetenzstufen unklar (ebd.: 250). Strukturell betrachtet ergaben sich ähnliche geschlechtsspezifische Unterschiede – in diesem Fall zugunsten der Jungen – in den Teilstudien zum naturwissenschaftlichen (ebd.: 174) und mathematischen Verständnis (ebd.: 218/219). Auch hier bezogen sich signifi kante Differenzen vornehmlich auf den unteren und oberen Leistungsbereich. Die Ergebnisse aus TIMSS II und III sowie PISA sprechen dafür, dass sich diese Tendenzen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich in der Sekundarstufe I und II fortsetzen. So stellen Köller und Klieme in einer Auswertung der auf Deutschland bezogenen TIMSS-Daten aus 7. und 8. Klassen zwar fest, dass »sich über die gesamten Jahrgänge 7 und 8 keine Geschlechtsdifferenzen« im Fach Mathematik finden (Köller/Klieme 2000: 374), dies ergebe sich jedoch aus der durchschnittlich höheren Bildungsbeteiligung der Mädchen. Schlüsselte man die Daten nach Schulformen auf, erhielte man »die bekannten Befunde: Auf allen Schulformen der Sekundarstufe I zeigten sich Vorteile zugunsten der Jungen.« (Ebd.: 375) Dies gälte auch für das Fach Physik (ebd.: 377). Im Fach Biologie hingegen differierten die Ergebnisse zwischen den einzelnen Bundesländern so stark, dass sich kein einheitliches Bild abzeichne (ebd.: 377f.). Bei der Interpretation der Datensätze aus der Sekundarstufe II sind aufgrund des Kurssystems die geschlechtsspezifische Verteilung über die Grund- und Leistungskurse zu berücksichtigen. Nach TIMSS III-Germany belegen 26 % der Gymnasiastinnen im Fach Mathematik einen Leistungskurs, 62 % einen Grundkurs und 11,2 % wählen das Fach ganz ab. Dem gegenüber belegen 46 % aller Gymnasiasten einen Leistungskurs in diesem Fach, 44,5 % einen Grund-

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kurs und 9,2 % wählen es ab (ebd.: 384). Betrachtet man allerdings die gesamte in TIMSS untersuchte Population so relativiert sich erwartungsgemäß, aufgrund der höheren Bildungsbeteiligung der Mädchen, das Bild der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der voruniversitären mathematischen Grundausbildung erheblich. Demnach sind es 12,5 % der Frauen und 13 % der Männer, die einen Leistungskurs Mathematik besuchen, bezogen auf das Grundkursniveau ergibt sich sogar ein Verhältnis zwischen 35 % Frauen zu 15 % Männer (ebd.: 383). Hierbei zeichnet sich im Leistungsniveau ein Unterschied zugunsten der Männer ab, der im erreichten Mittelwert der Testleistung insgesamt 30 Punkte beträgt (zum Vergleich: Männer erreichten durchschnittlich ca. 480 Punkte, Frauen ca. 450 Punkte) (ebd.: 384f.). Dieser Unterschied ist zum größten Teil auf geschlechtsspezifische Differenzen in den Leistungskursen zurückzuführen (25 Punkte Unterschied in den Mittelwerten der erreichten Punktzahlen), denn nur in diesem Bereich lässt sich der Geschlechtseffekt statistisch absichern (ebd.: 384). Im Vergleich zum Mathematikunterricht in der Oberstufe fallen die Differenzen im Physikunterricht der Sek II größer aus (ebd.: 401). Dieses Fach wird nur von 4 % aller in der Oberstufe befindlichen Frauen als Leistungskurs sowie von 24 % als Grundkurs gewählt. Bei den Männern entscheiden sich 22 % für einen Leistungskurs Physik und 39 % für einen Grundkurs. Dies bedeutet, dass 6,2 % der Männer der in TIMSS untersuchten Population in der Sek II einen Leistungskurs besuchen gegenüber 1,9 % der Frauen sowie 7,9 % der Männer einen Grundkurs besuchen und 7,2 % der Frauen (ebd.: 393f.). Dabei bezogen sich die Unterschiede in der erreichten Punktzahl sowohl auf den Grundkurs- als auch auf den Leistungskursbereich. Im Grundkurs betrug die Differenz etwa 48 Punkte, im Leistungskurs etwa 45 Punkte (ebd.: 395). Obwohl sich die Diskussion um mögliche Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern lange Zeit vornehmlich auf den mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich konzentriert hat, gelten im Gegenzug Mädchen in dem Bereich der Sprachentwicklung als überlegen. In ihrer Auswertung der diesbezüglichen Daten, die in der PISA-Studie zur Lesekompetenz 15-jähriger Schülerinnen erhoben wurden, bemerken Stanat und Kunter, dass im Vergleich zu dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich die Anzahl der vorliegenden Arbeiten »erheblich kleiner« und die Befunde »weniger eindeutig« seien (Stanat/Kunter 2002: 29). Bezüglich der in PISA erhobenen Daten konstatieren sie sowohl für die internationalen als auch für die nationalen Daten, dass die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen »im Lesen deutlich größer und konsistenter sind als in der Mathematik.« (ebd.: 39) Neben tendenziell fachspezifischen Leistungsunterschieden gilt die Entwicklung der Interessenausprägung als ein Indikator geschlechtsspezifischer Unterschiede im schulischen Wissenserwerb. Hierbei stellt sich die Datenlage jedoch als schwierig dar. Für die Sekundarstufe I existieren kaum aktuelle Daten, die auf einer repräsentativen Stichprobe beruhen (vgl. Roisch 2003: 123ff.); für die Sekundarstufe II gelten meistens die Statistiken über das Kurs-

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wahlverhalten als ein Indiz für geschlechtsbezogene Divergenzen von Fachinteressen (vgl. exemplarisch: Kauermann-Walter/Kreienbaum/Metz-Göckel 1988, Heinrichs/Schulz 1989, Faulstich-Wieland 1998, Hoppe/Kampshoff/ Nyssen 2001). Aufgrund ihrer großen repräsentativen Stichprobe kommt der bereits in den Jahren von 1984 bis1989 vom Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften der Universität Kiel (IPN) durchgeführten Quer- und Längsschnittstudie zu den Interessensprofi len von SchülerInnen der Sekundarstufe I im Fach Physik ein bedeutende Rolle zu. An der Studie, in der auch Daten zu dem allgemeinen Interesse an anderen Fächern erhoben wurden, nahmen rund 8000 Jugendliche der Jahrgänge 5-10 teil (Häußler/Hoffmann 1995: 108). In der Studie lagen fremdsprachliche Fächer und das Fach Biologie auf den ersten beiden Plätzen in der Beliebtheitsskala von Schülerinnen, während bei den Schülern die Fächer Mathematik, Physik und Biologie auf den ersten drei Plätzen rangierten. Bekunden im 5. und 6. Jahrgang noch etwa 60 % der Mädchen Interesse an dem Fach Mathematik, so fällt dieser Anteil im Laufe der Jahre auf etwa 40 %. Demgegenüber ist bei den Jungen im Verlauf der Sekundarstufe I ein sinkendes Interesse an den Fremdsprachen zu verzeichnen (Hoffmann zit.n. Faulstich-Wieland 2004a: 654f.). Mit TIMSS III liegen bezogen auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich für das Wahlverhalten von SchülerInnen in der Oberstufe repräsentative und aktuelle Daten vor (s.o.). Über das Wahlverhalten in den weiteren Fächern erweist sich die von Roeder und Gruehn 1997 vorgenommene Auswertung der aus den Anfang der 90er Jahre stammenden Statistiken zum Kurswahlverhalten in den Ländern Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen sowie Rheinland-Pfalz als informativ (Roeder/Gruehn 1997). Gemäß der weit verbreiteten These, sprachliche Fächer seien eine Domäne der Mädchen, mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer – mit Ausnahme der Biologie – eine Domäne der Jungen, führen Roeder und Gruehn eine Vier-Felder-Chi-Quadrat-Analyse für die Fächergruppe Mathematik, Physik, Chemie sowie für die Fächergruppe Deutsch, Englisch, Französisch durch. Für die Leistungskurswahlen kommen sie hierbei zu dem Ergebnis, dass »die Zusammenhänge zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Kurswahlverhalten für diese beiden Fächergruppen durchweg höchst signifikant [sind] und, wie die Phi – Koeffizienten zeigen, von niedriger bis mittlerer Stärke.« (Ebd.: 882) Für die Grundkurswahlen ergäben sich ebenfalls »hochsignifikante Zusammenhänge«, die »aber – nach Ausweis der Phi-Koeffizienten – sehr schwach« seien (ebd.: 883). Trotz dieser markanten Unterschiede lassen sich diese beiden Fachrichtungen jedoch nicht umstandslos dem einen oder anderen Geschlecht zuschreiben. So weisen Roeder und Gruehn in der Interpretation ihrer Daten explizit darauf hin, dass sich trotz dieser Unterschiede, deren mögliche Bedeutung für die späteren Berufs- und Studienwahlen sie keineswegs leugnen (ebd.: 891), »die Existenz eines praktisch allen Schülern gemeinsamen Kernlehrplans« (ebd.: 891) ausmachen ließe. Vor allem die Korrelationskoeffizienten für die Rangreihen der Grundkurswahlen belegten »eine weitgehende Übereinstimmung im Wahlverhalten der beiden Geschlechter.« (Ebd.: 884)

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»Markante Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind eben doch, wie die in Tabelle 1 enthaltenen Wahlhäufigkeits- und Ranginformationen dokumentieren, nur bei wenigen Fächern festzustellen. Offensichtlich sind die hohen Korrelationen nicht nur durch den technischen Aspekt zu erklären, daß schon die Transformation der Prozentwerte in Rangplatzziffern vorhandene Unterschiede ausgleicht, sondern auf tatsächlich vorhandene Gemeinsamkeiten im Lehrplan von Schülerinnen und Schülern verweist. So ist beispielsweise auch für Gymnasiasten Biologie mit Abstand die beliebteste Naturwissenschaft, und es werden von ihnen Deutsch und Englisch vergleichsweise sehr häufi g als Leistungsfächer gewählt.« (Ebd.: 884)

1.2 Geschlechtsbezogene Perspek tiven in den Didak tiken der Natur wissenschaf ten Schon sehr früh konzentrierten sich die Bemühungen, geschlechtsstereotypen Interessenentwicklungen entgegenzuwirken, auf den naturwissenschaftlichen und mathematischen Bereich sowie die Informatik. Neben geschlechtsstereotypen Einstellungsmustern von LehrerInnen und SchülerInnen galt und gilt hierbei in der feministischen Schulforschung ein jungenzentriertes Lehrangebot als ein wesentlicher Katalysator solcher Tendenzen. Diese Annahme hat inzwischen auch Eingang in bildungspolitische Überlegungen gefunden: »Die unreflektierte Übertragung der Lehrpläne, Verhaltensmuster und Methoden von Jungenschulen auf koedukative Schulen bei deren Einführung, […], ist bis heute nicht grundlegend verändert worden. Die Lehrplanstruktur begünstigt nach wie vor Jungen, die darüber hinaus von den Lehrkräften häufig als die interessanteren Schüler angesehen werden.« (Bildungskommission NRW 1995: 128)

Eine von Brigitte Klimek erstellte Übersicht über die bildungspolitischen Aktivitäten der einzelnen Bundesländer 1 zeigt, dass mit Ausnahme von Bayern und einigen der neuen Bundesländer die Koedukationsdebatte inzwischen in allen Bundesländern auf bildungspolitischer Ebene aufgenommen wurde (vgl. Klimek 2002: 263-313). Bei ihrer Zusammenstellung der entsprechenden Passagen in den Richtlinien und Lehrplänen fällt nicht nur die bereits angesprochene Konzentration auf den naturwissenschaftlichen und mathematischen Bereich auf, sondern auch, dass ausgerechnet innerhalb derjenigen Passagen, die auf den Abbau von geschlechterstereotypen 1 | Da Klimek sich in ihrer Dissertation hauptsächlich mit der Entwicklung der Debatte um die höhere Mädchenbildung beschäftigt, basiert ihre Übersicht ausschließlich auf den Rahmenplänen für das Gymnasium. Vermutlich würde jedoch eine Analyse der ministeriellen Erlasse für die Haupt- und Realschulen nicht zu wesentlich anderen Ergebnissen führen.

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Vorstellungen und Verhaltensmustern zielen, selbst ein Bild von Mädchen und ihren Fähigkeiten gezeichnet wird, welches, wie Klimek in ihrer Dissertation feststellt, ironischerweise immer noch den »Auffassungen von Weiblichkeit« entspricht, »die schon den Bildungskonzepten aus der Entstehungszeit des höheren Mädchenschulwesens zugrunde liegen« (ebd.: 308). Neben methodischen Vorschlägen wie etwa einer zeitweisen Aufhebung der Koedukation in bestimmten Fächern, der Überprüfung der Lehrmaterialien auf klischeehafte Darstellungen von Männern und Frauen oder der Sensibilisierung von LehrerInnen für die Geschlechterproblematik wird in den Richtlinien der meisten Bundesländer unter einer bewussten Gestaltung des koedukativen Unterrichts verstanden, die »unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Interessen und Bedürfnisse« von Mädchen und Jungen »ernst« zu nehmen und ihnen im Unterricht zu ermöglichen sich »bei aller Verschiedenheit als gleichberechtigt und gleichwertig wahr(zu)nehmen« (Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg zit.n. ebd.: 273). Ähnliche Formulierungen findet man in den Lehrplänen der Bundesländer Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und SchleswigHolstein. Worin die spezifischen »Lebenserfahrungen, Interessen und Bedürfnisse« von Mädchen und Jungen bestehen sollen, wird bemerkenswerterweise – soweit überhaupt – überwiegend in den Ausführungen zu den naturwissenschaftlichen-technischen Fächern sowie dem Fach Mathematik konkretisiert. Hierbei scheint als belegt zu gelten, dass Mädchen und Jungen sowohl methodisch als auch inhaltlich unterschiedliche Zugangsweisen zu diesen Disziplinen aufweisen. »Mädchen und Jungen zeigen ein unterschiedliches Verhalten und haben einen unterschiedlichen Zugang zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen. Die Unterrichtenden müssen sich dieser Problematik bewußt sein und sie bei ihrem Verhalten im Unterricht sowie bei der Organisation von Lernprozessen berücksichtigen.« (Niedersächsisches Kultusministerium zit.n. ebd.: 293)

Soweit diese Unterschiede, die in dieser Deutlichkeit nicht nur vom niedersächsischen Kultusministerium formuliert worden sind, in den Lehrplänen mit Inhalt gefüllt werden und es nicht der Phantasie des Lehrpersonals überlassen bleibt, sich auszumalen, worin die immer wieder postulierten geschlechtsspezifischen Zugänge zu den Fächern Physik, Chemie, Informatik und Mathematik bestehen sollen, erfährt man folgendes über das spezifische Verhältnis von Mädchen zu den so genannten ›harten‹ Wissenschaften und zur Informatik: 1.) Mädchen wird der Zugang zu diesem Bereich erleichtert, wenn sie weniger abstrakt und durch Anknüpfen an ihren Alltagserfahrungen an diese Fächer herangeführt werden. 2.) Physik, Chemie und Mathematik werden für die meisten Mädchen erst interessant, wenn man sie an ihre ›ureigenen‹ Interessengebiete bindet, nämlich die Natur und das Soziale.

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3.) Mädchen bevorzugen kooperative Lehr- und Lernformen. Dies liest sich beispielsweise im nordrhein-westfälischen Lehrplan Mathematik für die gymnasiale Oberstufe folgendermaßen: »Mangelnde Einbettung der Mathematik in Sinnzusammenhänge und in verstehbare Anwendungsbezüge beeinträchtigen tendenziell stärker bei Schülerinnen die Lernmotivation und den Lernerfolg als bei Schülern. Lernen im Kontext und die Verwendung kooperativer Lernverfahren eignen sich, den Schülerinnen in ihren Lerninteressen entgegenzukommen. Auf diese Weise kann der Mathematikunterricht an den Lernbedürfnissen der Mädchen orientiert werden, ohne die Jungen zu benachteiligen.« (Ministerium für Schule und Weiterbildung; Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen zit.n. ebd.: 298)

Trotz der relativierenden Formulierung »tendenziell stärker« scheinen Jungen deutlich weniger auf ein kontextorientiertes Lernen angewiesen zu sein als Mädchen. Auch der Lehrplan Physik für die Unter- und Mittelstufe legt nahe, dass es vor allem Mädchen sind, die nicht in der Lage sind, mit einer abstrakten Darbietung des Unterrichtstoffes zurechtzukommen. So heißt es im Lehrplan Physik für die Unter- und Mittelstufe: »Sowohl Schülerinnen als auch Schüler sind besonders ansprechbar, wenn es um Tätigkeiten auf der praktisch-konstruktiven Ebene geht; diese Komponente sollte im Unterricht nicht zu kurz kommen. Darüber hinaus interessieren sich besonders Mädchen für Naturerscheinungen und für Phänomene, die mit den Sinneswahrnehmungen zu tun haben; der Bezug zum Menschen, die praktische Anwendbarkeit der Physik, gesellschaftliche Aspekte und Fragen des Umweltschutzes sind für sie von großer Bedeutung. Das legt nahe verstärkt Naturphänomene sowie humanbiologische und medizinische Anwendungen als Kontexte zu wählen und humanitären, sozialen und philosophischen Aspekten einen größeren Raum zu geben. Von Wichtigkeit ist, daß die Mädchen im Physikunterricht an eigene Erfahrungen anknüpfen können und dazu ermuntert werden, ihre spezifische Sicht der Dinge darzustellen […].« (Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen zit.n. ebd.: 297)

Zwar werden zu Beginn dieser Passage sowohl Jungen als auch Mädchen angesprochen, die weiteren Ausführungen suggerieren jedoch abermals, dass es für die Heranführung an physikalische Problemstellungen für Mädchen wichtiger als für Jungen sei, »an eigene Erfahrungen anknüpfen (zu) können«. Hierfür spricht auch, dass in den nordrhein-westfälischen Lehrplänen der Fächer des mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Aufgabenfeldes für die Sekundarstufe II explizit von »spezifischen Arbeits-, Denk- und Frageansätze(n) der Mädchen« die Rede ist, die zu »berücksichtigen« seien (Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen zit.n. ebd.: 298). Ein ähnlich defizitäres Bild des ›weiblichen‹ Abstraktionsvermögens drängt sich bei der

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Lektüre der naturwissenschaftlichen Lehrpläne der Länder Niedersachsen (vgl. ebd.: 293f.) und Hamburg (vgl. ebd.: 288) auf. Darüber hinaus finden sich auch hier wie schon in den nordrhein-westfälischen Lehrplänen zur naturwissenschaftlichen Bildung Hinweise darauf, worin sich »mädchenspezifische Interessen« von denen der Jungen unterscheiden sollen. Neben der »Einbettung in praktische Anwendungen« (Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Freie und Hansestadt Hamburg zit.n. ebd.: 288), die in Hamburg explizit und ohne Umschweife als »mädchenspezifisches Interesse« definiert wird, gilt auch hier der Bezug auf natürliche Phänomene und soziale Fragestellungen als besonders motivationsfördernd für Mädchen. In niedersächsischen sowie in saarländischen Rahmenrichtlinien (vgl. ebd.: 302) wird überdies sogar betont, dass Mädchen »eher über ein die Sinne unmittelbar ansprechendes Erleben (z.B. Naturphänomene) erreichbar [seien S.M.] und weniger über erstaunliche technische Errungenschaften.« (Niedersächsisches Kultusministerium zit.n. ebd.: 294). Wie Klimek hierzu anmerkt, können derlei Formulierungen durchaus als eine Wiederbelebung der »Vorstellung, daß ›das Helfende‹ dem weiblichen Gemüt entgegenkommt, Mädchen eher emotional denn rational an Probleme herangehen und so auch durch entsprechende Stoffe weitaus mehr angesprochen werden« (ebd.: 302), betrachtet werden. Ergänzt wird dieses Bild vom schwach ausgebildeten weiblichen Abstraktionsvermögen und dem besonders stark ausgeprägten weiblichen Interesse an der Natur und dem Sozialen durch die Aufforderung der Berücksichtigung der »im Mittel stärker ausgeprägten sozialen und kooperativen Kompetenzen« von Mädchen im Unterricht (Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes SchleswigHolstein zit.n. ebd.: 304).

1.3 Die interak tiven Struk turen im Klassenraum Als ein weiterer wichtiger Aspekt einer geschlechtsdifferenten Persönlichkeitsentwicklung in der Schule gelten in der geschlechtsbezogenen Schulforschung die interaktiven Strukturen im Klassenraum. Hierbei spielt die Annahme, dass Mädchen in der Schule ein wesentlich geringeres Selbstbewusstsein entwickeln als Jungen, eine wesentliche Rolle. Aufgekommen ist diese These durch Studien aus den USA und Großbritannien, die bereits in den 70er Jahren eine erhebliche Benachteiligung von Mädchen im Unterricht feststellten. Jungen, so lässt sich die gängige Rezeption der damaligen empirischen Schulforschung im englischsprachigen Ausland zusammenfassen2, würden im Unterricht nach mehr Aufmerksamkeit verlangen und auch mehr Zuwendung – sowohl negative als auch positive – erhalten als 2 | Einen guten Überblick über die in diesem Zusammenhang damals aktuelle und häufig angeführte Literatur liefern der Aufsatz von Schnorrenberg/Völkel (1988), die Studie von Enders-Dragässer/Fuchs (1989), teilweise auch Horstkemper (1987).

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Mädchen3. Darüber hinaus beurteilten LehrerInnen die Leistungen von Schüler anders als die von Schülerinnen. Während Mädchen trotz teilweise besserer Schulleistungen von LehrerInnen als fleißig, aber im Großen und Ganzen unauff ällig und uninteressant wahrgenommen werden würden, gälten Jungen als phantasievoll und kreativ4. Gute Leistungen würden keinesfalls gleichermaßen anerkannt. Schulerfolge von Jungen würden in der Regel als ein Zeichen von Intelligenz betrachtet, Schulerfolge von Mädchen hingegen auf ihren Fleiß und ihre Anpassungsfähigkeit zurückgeführt.5 Dementsprechend unterschiedlich sei die Wertschätzung, die Mädchen und Jungen in der Schule erfahren würden. Schüler erhielten nicht nur mehr positive bestärkende Rückmeldungen als Schülerinnen, sondern würden auch häufiger mit hohen Leistungserwartungen konfrontiert werden. Diese Ergebnisse übten in der BRD einen wesentlichen Einfluss aus auf die Kritik an der unreflektierten Umsetzung des koedukativen Prinzips und bildeten die Vorlage für eigene empirische Untersuchungen. Bis Mitte der 90er Jahre beschränkte sich die empirische Basis für die Behauptung der Dominanz von Jungen im Unterricht jedoch hauptsächlich auf die Studien von Heidi Frasch und Angelika Wagner (1982), Uta Enders-Dragässer und Claudia Fuchs (1989) sowie die Studie über körperliche Gewalt gegen Mädchen in der Schule von Monika Barz, die jedoch keine Interaktionsstudie ist, sondern auf Interviews mit Lehrerinnen und Schülerinnen beruht (1984). Die von Angelika Wagner im Rahmen des DFG-Projekts »Unterrichtsstrategien und ihre Auswirkungen auf Schülerverhalten« geleitete Untersuchung, die die asymmetrische Aufmerksamkeitsverteilung im Unterricht auch für den deutschen Schulalltag bestätigte, ist bezogen auf diese Fragestellung nicht nur die erste, sondern bislang auch die einzige quantitativ vorgehende Studie (Frasch/Wagner 1982). Ebenso langfristig einflussreich, wenngleich inzwischen häufig kritisiert, ist die 1985 bis 1987 von Enders-Dragässer und 3 | Diese Behauptung wurde in der Regel unter Verweis auf Jackson/Lahaderne: Inequequalities of teacher – pupil contacts. In: Psychology in the School, 1967, 4, S. 204-211; Meyer/Thompson: Sex differences in the distribution of teacher approval and disapproval among sixth-grade children. In: Journal of Educational Psychology, 1956, 47, S. 385-396; Good/Broophy: Teachers communication of differential expectations of children‹ s classroom performance: some behavioral datas. In: Journal of Educational Psychology, 61 (1970), S. 365-374 getroffen. Später gilt die 1982 in Großbritannien erschienene Studie »Frauen kommen nicht vor. Sexismus im Bildungswesen« (in dt. Übersetzung 1985) von Dale Spender als Beweis der so genannten zwei Drittel/ein Drittel Aufmerksamkeitsthese. 4 | Eine These, die vor allem mit der britischen Studie »Gender and Schooling. A Study of Sexual Division in the Classroom« von Michelle Stanworth (1984) begründet wurde. 5 | Die gängige Referenz hierzu ist der 1978 in der »Womens Studies International Quarterly« von Clarricoates veröffentlichte Artikel »›Dinosaurs in the Classroom‹ – a Re-examination of some aspects of the ›Hidden‹ Curriculum in Primary Schools«.

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Fuchs im Auftrag des Hessischen Instituts für Bildungsplanung und Schulentwicklung (HIBS) durchgeführte Interaktionsstudie (Enders-Dragässer/ Fuchs 1989: 49). Auf der Basis von nur sechs mit Video aufgezeichneten und nur teilweise transkribierten Unterrichtsstunden (aus dem Forschungsbericht lässt sich nicht entnehmen, wie groß das erhobene Datenmaterial tatsächlich ist) und einigen thematisch geordneten Ausschnitten aus qualitativen Interviews mit den Lehrerinnen versuchen die Autorinnen zu belegen, dass Jungen erstens den Unterricht dominieren, zweitens Mädchen und Lehrerinnen nicht nur diejenigen sind, die hierunter leiden, sondern drittens auch diejenigen sind, die deshalb gezwungenermaßen einen sozialen Umgangstil entwickeln, ohne den ein geordneter Unterrichtsablauf überhaupt nicht mehr möglich wäre. Über die bekannte Aufmerksamkeitsthese hinaus zeigt sich nach Enders-Dragässer/Fuchs die Dominanz von Jungen im Unterricht darin, dass sie in erheblichen Ausmaß das Lernklima – zum Nachteil von Schülerinnen und Lehrerinnen – bestimmten (vgl. ebd.: 148 und 150). Dies gehe sogar soweit, dass LehrerInnen »in aller Regel ihren Unterricht mit Blick auf die Jungen [planen], um ›Störungen‹ der Jungen vorzubeugen oder wenigstens in Grenzen zu halten.« (Enders-Dragässer 1989: 24)6 Eine weitere einflussreiche Arbeit hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen und Jungen in der Schule stellte Marianne Horstkempers Längsschnittstudie über Mädchensozialisation in der Schule dar (Horstkemper 1987), die sich auf die Sekundarstufe I bezog. Hierin fanden die britischen und amerikanischen Studien insoweit eine Bestätigung, als dass Horstkemper zu dem Schluss kam, dass in dem Untersuchungszeitraum von drei Jahren7 »der Zuwachs an Selbstvertrauen bei Jungen durchgängig auf höherem Niveau erfolgt als bei Mädchen« (ebd.: 214). So zeigten Jungen ein ausgeprägteres Selbstwertgefühl, weniger Schulangst und mehr Vertrauen in die eigenen Leistungen (ebd.: 108ff.). Wie auch in der englischsprachigen Diskussion vermutet Horstkemper, dass diese Unterschiede darauf zurückzuführen seien, dass Jungen im Unterricht mehr Beachtung erfahren als 6 | Dementsprechend werden Jungen von ihnen als verhaltensauff ällig, laut, störend, unkonzentriert und gewalttätig beschrieben. Jungen zeichneten sich dadurch aus, dass sie »länger als die Mädchen reden, unterbrechen, dazwischenschreien usw.« (Ebd.: 24) Ihre Kommentare seien oft »abschätzig und spöttisch« (ebd.: 25). Auf diese Weise stärkten sie »ihr Durchsetzungsvermögen und ihr Selbstwertgefühl zu Lasten der Mädchen« (ebd.: 25). Im Gruppenverband agierten Jungen konkurrenzorientiert und sexistisch. So zeigten sie »die Tendenz, die Kompetenz von Schülerinnen und Lehrerinnen in Frage zu stellen.« (Enders-Dragässer/Fuchs 1989: 148) Entsprechend der differenzorientierten Forschungsvorgabe wird das Verhalten von Mädchen im Klassenraum als »kooperativ«, »selbstdiszipliniert« und extrem gruppenorientiert (ebd.: 25/26) charakterisiert und zu einem weiblichen Interaktionsstil hochstilisiert. 7 | Befragt wurden in drei aufeinander folgenden Jahren in sieben hessischen Gesamtschulen jeweils drei Jahrgangskohorten der Klassen 5-9 (vgl. ebd. 91f.).

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Mädchen, ihr intellektuelles Leistungsvermögen von LehrerInnen höher eingeschätzt und ihre Interessen stärker berücksichtigt werden (ebd.: 219). Dementsprechend verstanden sich Maßnahmen einer geschlechtsbezogenen Pädagogik bis in die 90er Jahre hinein vornehmlich als »Mädchenförderung«, mit dem Ziel, das Selbstbewusstsein von Mädchen – vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Unterrichtsbereich – zu stärken und einengenden geschlechtsstereotypisierenden Einstellungs- und Verhaltensmustern entgegenzuwirken (vgl. z.B. Nyssen 1996), etwa durch eine Überarbeitung der in Unterrichtsmaterialien vermittelten Bilder von Geschlecht, eine Anpassung der Curricula an den vermeintlichen Interessen von Mädchen, eine teilweisen Auf hebung der Koeduaktion in bestimmten Fächern und die Thematisierung der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse im Unterricht. Obwohl es meines Wissens nach nur eine neuere Interaktionsstudie gibt, die sich schwerpunktmäßig der Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen im Unterricht widmet (Thies/Röhner 2000), bildet die Sensibilisierung des Lehrpersonals für die Interaktionsformen im Klassenraum immer noch einen wichtigen Baustein in diesem Maßnahmenkatalog. Die Sensibilisierung von LehrerInnen für die eigenen geschlechtsstereotypen Einstellungs- und Verhaltensmuster und deren Auswirkungen auf die interaktiven Strukturen im Unterricht stellt eine Forderung dar, die in keiner Programmatik einer geschlechterbewussten Aus- und Fortbildung von LehrerInnen fehlt (z.B. Hoeltje/Liebsch/Sommerkorn 1995: 85; Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 1998: 135f.; Kraul/Horstkemper 1999: 310ff.; Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 2002: 18f.). Auch finden sich immer wieder verstreut, z.B. im Rahmen von Schulversuchen, Analysen von Unterrichtsstrukturen, die der Frage nachgehen, wie Lehrer und Lehrerinnen durch ihr Verhalten im Klassenzimmer geschlechtsstereotype Einstellungsmuster und Verhaltensweisen bei Schülern und Schülerinnen unbewusst fördern und unterstützen (vgl. z.B. Volmerg u.a. 1996; Brehmer 1997; Kraul/Horstkemper 1999).8

1.4 Mädchen stärken – Jungen sensibilisieren: Die Geschlechtsidentität als Zielscheibe einer geschlechtsbewussten Pädagogik Erst Anfang der 90er Jahre geriet hierbei auch die männliche Sozialisation als eine problematische in den Blickwinkel des pädagogischen und wissenschaftlichen Interesses. Galten die Jungen in der neuen Koedukationsdebatte zunächst als die Gewinner der Ausklammerung der ›Geschlechterfrage‹ aus 8 | Ebenfalls wird diese Fragestellung in Teilauswertungen in dem von Hannelore Faulstich-Wieland geleitetem DFG- Projekt zu den »sozialen Konstruktionen von Geschlecht in schulischen Interaktionen in der Sekundarstufe I« häufig berührt (Faulstich-Wieland u.a. 2004; Faulstich-Wieland/Willems 2002; Güting 2004; Budde 2005)

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dem pädagogischen Diskurs und wurden – wenn überhaupt – als dominant, konkurrenzorientiert und gewalttätig beschrieben (vgl. z.B. Barz 1984; Enders-Dragässer/Fuchs 1989), führte die zunehmende Rezeption von Schriften aus dem Bereich der außerschulischen Jungenarbeit (Sielert 1989; Winter/ Willems 1991) und der viel beachtete – eher journalistisch inspirierte – Beitrag zur männlichen Sozialisation von Dieter Schnack und Rainer Neutzling zu einer differenzierteren Ausgestaltung dieses Bildes (Schnack/Neutzling 2000 (1990)). Danach stehen Jungen unter einem permanenten Anspruch, männliche Überlegenheit beweisen zu müssen (ebd.: 40), dürfen kaum Ängste und Schwächen zeigen (ebd.: 54f.) und sind, aufgrund der Unterrepräsentanz von Männern im erzieherischen Bereich, darauf angewiesen, auf stereotype Männlichkeitsideale zurückzugreifen (Willems/Winter 1991: 7). Mit der zunehmenden Berücksichtigung beider Geschlechter wurde die Forderung, die »sozialen Kompetenzen« von Mädchen und Jungen zu erweitern, um geschlechtsstereotypen Einengungen entgegenzuwirken und sie damit in der »Entwicklung der Geschlechtsidentität [zu] unterstützen« (Bildungskommission NRW 1995: 132f.), zu einem zentralen Anliegen der geschlechtsbezogenen Schulforschung (Brehmer 1997; Welz/Dussa 1998; Kraul/Horstkemper 1999: 3ff.; Kaiser 2000: 207; Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 2002)9. Trotz der in der Koedukationsforschung inzwischen üblichen Ablehnung einer »defizitorientierten« Pädagogik sind die meisten der diesbezüglichen Maßnahmen aber darauf ausgerichtet, unterschiedliche »Mängel« weiblicher und männlicher Sozialisation auszugleichen. So besteht eine weitgehende Übereinstimmung darin, dass Mädchen einen »meist kooperative[n] und integrative[n] Interaktionsstil« (Pfister 1998: 36) aufweisen, der es ihnen erschwere, »deutlich zu sein, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen oder eigene Interessen zu verfolgen« (ebd.: 42), und einer besonderen Förderung in der Entwicklung des »Selbstbewusstseins und der Selbstbehauptung« bedürften (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 2002: 149). Für Jungen hingegen sei es wichtig zu lernen, »eigene Gefühle« und die der anderen wahrzunehmen und damit umzugehen, »die eigenen Grenzen [zu] erkennen«, »in Konflikten nach Gleichheits- und Verschiedenheitslösungen [zu] suchen statt dominieren zu wollen«, »in Konkurrenz- und Leistungsvergleichsituationen zurückstecken 9 | Dabei wird das Widerspruchspotenzial dieser Verknüpfung kaum thematisiert. Zwar zeichnen sich hinsichtlich der Zielsetzung des Abbaus stereotyper Einstellungs- und Verhaltensmuster zwei unterschiedliche Verständnisweisen ab. Es gibt allerdings kaum eine offene Auseinandersetzung darüber, ob der Akzent darauf liegen kann und sollte, Mädchen und Jungen »ein positives Verständnis von männlicher und weiblicher Identität« (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW 2002: 16; vgl. auch Pfister 1998: 14; Portmann 1999: 62; Rendtdorff 2000: 57) zu vermitteln oder ob ein Abbau »der bestehende[n] Geschlechterhierarchie zugunsten einer egalitären Individualisierung bei gleichzeitiger multipler Gruppenzugehörigkeit« (Faulstich-Wieland 1998b: 50; vgl. auch Faulstich-Wieland 1998a: 37) erreicht werden soll.

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[zu] können« (Kaiser 2003: 37; vgl. auch: Pfister 1998; Mücke 1997; Boldt 2004). Mit dieser unterschiedlichen Schwerpunktsetzung für die Erziehung von Jungen und Mädchen wird eine sozialisationstheoretische Auffassung von der Entwicklung der Geschlechtsidentität fortgeschrieben, die die Koedukationsforschung von Beginn an stark geprägt hat. Unterstützt von den – durchaus nicht unumstritten gebliebenen – Ergebnissen der Interaktionsforschung im Klassenraum (Enders-Dragässer/Fuchs 1989; aktuell: Thies/ Röhner 2000), denen zufolge Mädchen im Klassenraum kooperativer als Jungen agierten und deren konkurrenz- und dominanzorientiertem Verhalten ausgleichend entgegenwirkten, ist dieser Diskurs stark bestimmt worden von der Annahme, dass das moderne System der Zweigeschlechtlichkeit zu der Ausbildung einer distanzorientierten männlichen und einer beziehungsorientierten weiblichen Psyche führt 10. Die »Durchsetzungskraft« der Mädchen stärken – die Jungen in ihrem »sozialen Verhalten« fördern, dieser dichotomisierende Zuschnitt einer geschlechtsbewussten Pädagogik prägt alle drei schulischen Modellprojekte, die sich bislang ausdrücklich der Identitätsentwicklung unter der Prämisse der »Erweiterung sozialer Kompetenzen« gewidmet haben (Brehmer 1997; Welz/Dussa 1998; Kaiser 2003). In dem von 1991 bis 1994 vom Gleichstellungsministerium NordrheinWestfalen geförderten Modellprojekt »Erweiterung sozialer Kompetenzen von Jungen und Mädchen« bezog sich diese Forderung auf die Erweiterung der Lebens- und Berufsperspektiven von Jungen und Mädchen (Brehmer 1997). In dem Berliner Schulversuch »Konfliktbewältigung für Mädchen und Jungen« (1994/95 bis 1996/97) stand der Zusammenhang zwischen dem geschlechtlichen Rollenverständnis von Jungen und Mädchen und ihrem je spezifischen Konfliktverhalten im Vordergrund (Welz/Dussa 1998). In dem auf zwei Jahren angelegten Modellprojekt »Soziale Integration in einer jungen- und mädchengerechten Grundschule« (1997/98 bis 1999/2000) in Niedersachsen ging es vor allem darum, Mädchen darin zu fördern »die eigenen Interessen und Vorstellungen öffentlich einzubringen und durchzusetzen« (Kaiser 2003: 35) und Jungen in der Entwicklung ihrer Selbstwahrnehmung und der Empathie für andere zu unterstützen (ebd.: 36f.). Neben der Arbeit auf der curricularen Ebene wurde hierbei methodisch in allen Projekten auch auf Ansätze aus der außerschulischen Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen zurückgegriffen, in denen mit geschlechtshomogenen Gruppen gearbeitet wird. Unter Mädchen- und Jungenarbeit in der Schule, die über die genannten Modellprojekte hinaus zunehmend Eingang in Schulen findet, wird die Einrichtung einer wöchentlichen geschlechtshomogenen Gruppenarbeit verstanden, in der die allgemeine Zielsetzung, Mädchen und Jungen in ihrer Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen, in Form von ge10 | Auf diese Sichtweise haben die 1978 von Nancy Chodorow entwickelte Theorie der »Reproduktion von Mütterlichkeit« und Carol Gilligans hieran anschließende Konzeption einer weiblichen Moral der Fürsorge (Gilligan 1984) einen erheblichen Einfluss ausgeübt.

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meinsamen Gesprächsrunden, Spielen und Projekten erreicht werden soll. Konzeptionell schließt die Gestaltung dieser Stunden zu einem großen Teil an die Theorie und Praxis der sozialpädagogischen Mädchen- und Jungenarbeit oder gewaltpräventiven Ansätzen an, in denen häufig Materialien aus der allgemeinen gestaltpädagogischen und interaktionspädagogischen Arbeit verwendet werden (vgl. Kaiser u.a. 2003: 116; Welz/Dussa 1998). Während sich die feministische Mädchenarbeit, die ihre vordringlichste Aufgabe darin sieht, in koedukativen Einrichtungen oder in autonomen feministischen Mädchenzentren Partei für Mädchen zu ergreifen und Räume zu schaffen, über die Mädchen »selbstbestimmt« verfügen können (Möhle/Reiter 1995: 29), relativ einheitlich präsentiert, kursieren in ihrem Pedant, der Jungenarbeit, inzwischen unterschiedliche Ansätze wie »antisexistische«, »reflektierte«, »kritische«, »emanzipatorische« oder »identitätsorientierte« Jungenarbeit. Da diese jedoch in ihren theoretischen Annahmen und Zielsetzungen weitgehend übereinstimmen 11, werden sie in der schulischen Jungenarbeit auch selten differenziert verwendet (vgl. Boldt 2004; Kaiser 1997). Konzeptionen von Jungenarbeit weisen zumeist in unterschiedlichen Formulierungen zwei Schwerpunkte auf. Der eine besteht im Anschluss an Winter und Böhnisch darin, dass Jungen lernen sollen, »zu sich zu kommen«, »Bezogenheit zu sich selbst und zu ihrer Umwelt her[zu]stellen und auf[zu]nehmen«, »Körperlichkeit neu wahr[zu]nehmen und im Gegensatz zur Funktionalisierung des Körpers die Aufmerksamkeit auf innere Körperempfindungen wie Gefühle und Zärtlichkeit zu lenken« sowie die Möglichkeit erhalten sollen »verschiedene Bilder von Männlichkeit und verschiedene Lebensentwürfe kennen [zu] lernen« (Boldt 2004: 25f.). Den Hintergrund dieser Zielsetzung bildet die Annahme, dass die männliche Sozialisation – bei allen individuellen Abweichungen – maßgeblich durch »Lösungsmuster und Handlungsanweisungen« geprägt sei, die sich mit den »Prinzipien« »Außen«, »Gewalt«, »Benutzung«, »Stummheit«, »Alleinsein«, »Körperferne«, »Rationalität« und »Kontrolle« beschreiben lassen (Willems/Winter 1991: 11ff.). Einigkeit herrscht auch darüber, dass Jungen aufgrund der weitgehenden Abwesenheit von Männern in der Erziehung gezwungen seien, auf idealtypische Bilder von Männlichkeit als Identifi kationsmodell zurückzugreifen, so dass das »männliche Leitungsprinzip« als ein wichtiges Element in der Jungenarbeit betrachtet wird (vgl. Winter 1991; Sielert 1989; Kindler 1993). Der andere Schwerpunkt, und in diesem Feld liegen zumeist die Unterschiede der oben genannten Richtungen begründet, bezieht sich auf die bewusste Auseinandersetzung mit dem System der Zweigeschlechtlichkeit, seiner hierarchischen Struktur und der »eigenen Verstrickung« der Jungen und Erzieher hierin (Zieske 1997: 67). 11 | Eine Ausnahme bildet das reaktionäre Konzept der »maskulinistischen Jungenarbeit«, das darauf zielt, Jungen zu ihren »biogenetischen« Wurzeln zurückzuführen (vgl. Haindorf 1996:38ff.). Soweit ich sehen kann, hat dieser Ansatz in der schulischen Jungenarbeit aber bislang keinen Eingang gefunden und wird in der theoretischen Diskussion explizit abgelehnt.

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Im Unterschied zu den teilweise offenen Angeboten in der feministischen Mädchenarbeit in sozialpädagogischen Einrichtungen werden Mädchen- und Jungenstunden in der Schule stark von den Erzieherinnen und Erziehern vorstrukturiert. So laufen Mädchen- und Jungenstunden je nach Lehrkraft zwar unterschiedlich ab (Kaiser u.a. 2003: 128); in den Berichten aus den Modellprojekten wird jedoch vorgeschlagen, feste Abläufe, mit gleich bleibenden, sich wiederholenden Elementen wie Begrüßungsrituale, Interaktionsübungen, Gesprächsrunden und Spielphasen zu etablieren (Kaiser u.a. 2003: 123; Nitschke/Dohmas 1998: 66; Biermann/Boldt 1999: 17). Hierbei steht die Idee im Vordergrund, auf diese Weise Mädchen und Jungen einen »spielerischen« und »kreativen« Zugang zu ihren spezifischen Erfahrungen als Junge oder Mädchen zu eröffnen und ihre Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten zu erweitern. Astrid Kaiser unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass insbesondere die Arbeit mit Grundschulkindern nicht auf einer kognitiven Ebene ansetzen könne, sondern »symbolisches Lernen« ermöglichen müsse, da »die Geschlechterbilder in der Gesellschaft ebenfalls durch komplexe symbolisch vermittelte Muster in die Persönlichkeitsstrukturen schon kleiner Kinder eingeprägt [würden] und daher durch einfache kognitive Reflexion nicht so schnell auflösbar [seien]« (Kaiser u.a. 2003: 124). Bei der Lektüre der inzwischen recht umfangreichen Listen von möglichen Spielen und Übungen wird allerdings deutlich, dass diejenigen, die diese Materialien zusammenstellen und entwickeln, selbst kaum einen Zweifel daran entwickelt haben, genau wissen zu können, worin »die Geschlechterbilder in der Gesellschaft« bestehen und wie sie trotz ihrer »Komplexität« und der »Komplexität ihrer Aneignung« symbolisch vermittelt werden. So sollen Mädchen beispielsweise in Atemübungen das Fauchen einer Tigerin imitieren, um »positiv besetztes aggressives Verhalten [zu] erproben« (ebd.: 124), in Begrüßungsritualen »den eigenen Namen laut aus[…] rufen und dabei durch körpersprachliche Unterstützung wie Aufstampfen mit dem Fuß der eigenen Stärke Nachdruck […] verleihen« (Kaiser/Nacken/ Pech 2001: 70) oder »Sumo- Ringerinnen« spielen, um zu erfahren, »dass es auch Spaß bereiten kann, sich dick und hässlich zu gestalten und so mit anderen Mädchen physisch Kräfte zu messen« (ebd.: 72). Ebenso wie Kaiser, Pech und Nacken zumindest implizit von einem recht eindeutig strukturierten kulturellen System ausgehen, in denen »Sumo-Ringerinnen« selbstredend »Hässlichkeit« für die Mädchen symbolisieren, legen die Materialien zur Jungen- und Mädchenarbeit darüber hinaus häufig nahe, Mädchen und Jungen agierten auf der Grundlage von relativ eindeutigen Selbstbildern, Erfahrungen und gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Dieser Eindruck drängt sich besonders bei der Lektüre der »Übungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung« in der Jungenarbeit auf, die so konzipiert sind, dass die Jungen in Spielen, wie »Meine besten fünf und meine schlechtesten zwei Eigenschaften« (Boldt 2004: 53) oder »Ich bin, Ich kann, Ich habe…« (Vugt 1998: 105) dazu aufgefordert werden, sich selbst und andere zu charakterisieren, ohne dass die damit verbundenen Ambivalenzen und Unsicherheiten, die mit solchen Charakterisierun-

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gen verbunden sind, thematisiert werden. Diese Vorgehensweise, in der man sich und andere in der Form von feststellenden Aussagen beschreiben soll, prägt auch einen großen Teil derjenigen Übungen, die sich ausdrücklich mit der Geschlechterthematik beschäftigen. So besteht das Spiel »Soziometrische Linien« darin, dass sich die teilnehmenden Jungen entlang einer auf den Boden gezeichneten Linie zu einzelnen Aussagen, wie z.B. »Jungen und Mädchen verhalten sich gleich«, »Das können wir Jungen besser als die Mädchen« usw. positionieren und sich anschließend darüber austauschen sollen (Boldt 2004: 50). In »Schattenrisse« werden mit Hilfe einer Tapetenrolle Schattenrisse der Jungen erstellt, die dann in einem weiteren Schritt »mit Eigenschaften und Verhaltensweisen von Jungen beschriftet werden.« Mögliche Aufgabenstellungen, empfiehlt Boldt, könnten dabei lauten: »Welche Eigenschaften soll der »ideale« Junge haben?« »Welcher Jungentyp gefällt Dir überhaupt nicht? Wie sollte ein Junge sein, wenn ihn die Mädchen toll finden sollen?« (ebd.: 51). Die mit diesen Konzeptionen verbundene Idee, Männer und Frauen handelten auf der Grundlage weitgehend unbewusster, aber fest umrissener Vorstellungen von sich selbst und von dem, was Männlichkeit und Weiblichkeit in dieser Gesellschaft bedeuten, durchzieht auch die für die Jungenarbeit zentrale Forderung, Erzieher hätten sich mit ihrem eigenen »Mannsein« selbstreflexiv auseinanderzusetzen, um idealtypischen Entwürfen von Männlichkeit ein »lebendiges Vorbild« (Sielert 1989: 71) entgegenzusetzen: »Wichtige Bedingungen für einen geschlechterdifferenten Blickwinkel ist die Klärung des eigenen Standpunktes. Der Einzelne muß sich also seiner eigenen Geschlechtsidentität mit seiner Sozialisationsgeschichte und seiner eigenen Position innerhalb der patriarchalen Gesellschaft bewußt sein. […] Konkret für die Jungenarbeit bedeutet dies, – daß ich mir meiner eigenen Geschichte und Identität als Mann bewußt bin. – daß ich die Widersprüchlichkeit meiner gesellschaftlichen Position kenne. – daß ich die positiven Seiten an meinem eigenen Mann-Sein sowie der Jungen benenne, aber auch die negativen Seiten, die Brüche und Mißerfolge männlicher Lebensbewältigung thematisieren kann.« (Zieske 1997: 63)

Betrachtet man die hier vorgeschlagene Form der Selbstreflexion, so erscheint das geschlechtlich geprägte Selbst als ein gesellschaftlich geprägtes Unbewusstes, das für das Individuum aber dennoch eine schlicht gegenwärtige und volle Bedeutung besitzt, die es in pädagogischer Arbeit aufzudecken und zu bearbeiten gilt.

1.5 Die Kritik an der Reifizierung von Geschlecht Der Begriff der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit ist, soweit ich sehen kann, 1992 von Regine Gildemeister und Angelika Wetterer in die deutsch-

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sprachige Geschlechterforschung, die sich damals noch fast ausschließlich als Frauenforschung verstand, eingeführt worden (Gildemeister/Wetterer 1992). In dem inzwischen vielfach diskutiertem Beitrag »Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung« beklagten die beiden Soziologinnen die damalige »Rezeptionssperre« des deutschsprachigen Diskurses gegenüber der amerikanisch-englischsprachigen Debatte um den »konstruierten« Charakter der Zweigeschlechtlichkeit. Nach Gildemeister und Wetterer impliziert die unhinterfragte Akzeptanz der Unterscheidung zwischen einem biologischen Geschlecht (sex) und einem sozialen Geschlecht (gender) einen »verlagerten« und »latenten« Biologismus (ebd.: 206/207) und führt in der feministischen Theoriebildung dazu, dass diese »die unexplizierte Prämisse der Fragestellung«, nämlich die Annahme einer Grundstruktur der Zweigeschlechtlichkeit, »reifiziert und verdoppelt« (ebd.: 220). Damit bezieht sich der Begriff der Reifizierung vor allem auf die Auslagerung eines Teils des Geschlechts in einen vorgeblich vordiskursiven Raum, den Gildemeister und Wetterer als »einen verlagerten Biologismus« bezeichnen und auf die damit einhergehende »stillschweigende Parallelisierung« von sex und gender, die für sie einen »latente[n] Biologismus« darstellt. Parallel zu der Anfang der 90er Jahre entstehenden Grundlagendebatte über die Kategorie Geschlecht in den Sozialwissenschaften entwickelte sich in diesem Zeitraum auch in der schulischen Geschlechterforschung ein Problembewusstsein darüber, dass solche vereindeutigenden und polarisierenden Vorstellungen von Geschlecht, wie sie in der Entgegensetzung einer beziehungsorientierten weiblichen und einer distanzorientierten männlichen Psyche zum Ausdruck kommen, dem vorherrschenden Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit unkritisch verhaftet bleiben. Mit dieser Einschätzung sind vor allem zwei Frage- und Problemkomplexe der Geschlechterforschung angesprochen, die diese Diskussion wesentlich strukturiert haben: 1.) Inwieweit hat die deutschsprachige Frauenforschung in ihrer Suche nach Geschlechterdifferenzen und ihrer stark differenzorientierten Ausrichtung dem System der Zweigeschlechtlichkeit mehr Macht zugestanden als notwendig, indem sie dessen »Widersprüche« und »Ambivalenzen« ignoriert und sich damit unreflektiert in eine »Tradition des Denkens in zweigeschlechtlich strukturierten Denkmustern« (Gildemeister/Wetterer 1992: 203) eingeschrieben hat, die eine Hierarchisierung der Geschlechterverhältnisse überhaupt erst ermöglicht? Stabilisiert die Suche nach Geschlechterdifferenzen die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit, indem in ihr von vornherein Zweigeschlechtlichkeit vorausgesetzt wird? Und stellt selbst noch die Unterscheidung zwischen sex und gender einen Teil eines solchen stabilisierenden Diskurses dar? 2.) Was bedeutet es für die theoretische und empirische Erfassung der »Wirkungsmächtigkeit« des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit, wenn man nicht mehr nach Geschlechterdifferenzen, sondern nach deren sozialen oder diskursiven Herstellung fragt? Welche Rolle kann die Kategorie des

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»Subjekts« in dieser Sichtweise auf Geschlecht noch spielen? Und inwiefern muss dies die theoretische Sicht auf die Körper verschieben? In der schulischen Geschlechterforschung schlug sich diese Debatte anfangs in der Form nieder, dass der nur wenige Jahre zuvor populär gewordene Differenzansatz, der darauf abhebt spezifische Erfahrungen und Fähigkeiten von Mädchen und Frauen im pädagogischen Diskurs sichtbar zu machen und aufzuwerten (Enders 1987; Prengel 1987), hinsichtlich seines deterministischen Sozialisationsverständnisses kritisiert wurde. In diesem Zusammenhang entstand vor allem darüber eine Auseinandersetzung, wie man sich sowohl in der empirischen Rekonstruktion der Geschlechterverhältnisse als auch auf der Ebene pädagogischen Handelns auf die Kategorie Geschlecht beziehen kann, ohne selbst stereotypisierende Bilder von Geschlecht zu entwerfen. So wiesen 1992 Nyssen und Schön unter Bezug auf Gudrun-Axeli Knapp auf »die Gefahr von Geschlechterstereotypisierungen« in der feministischen Schulforschung hin und riefen dazu auf, diese Problematik nicht zu unterschätzen (Nyssen/Schön 1992: 866). Hierbei kritisierten sie vor allem die »mechanistische« Konzeption des Verhältnisses zwischen »objektiver Struktur und individueller Aneignung« (ebd.: 865) in der feministischen Koedukationsforschung. »Einigen Schriften feministischer Schulforscherinnen«, beklagten Nyssen und Schön, »liegt ein Sozialisationsverständnis zugrunde, das in Schülerinnen gleichsam ›black boxes‹ sieht, in die Inhalte, Ziele, Normen ›hineingegeben‹ werden, was dann die Anpassung der Mädchen und damit ihre Benachteiligung bewirkt.« (Ebd.: 865) Eine solche theoretische Sichtweise impliziere die Annahme, dass sich das »männliche Prinzip« »widerspruchsfrei« durchsetze, und reproduziere damit unkritisch den »Objektstatus, den Frauen im Patriarchat innehaben (sollen)« (ebd.: 865). Deshalb plädieren sie dafür, die »Ambivalenzen« und »Widersprüche« in den Sozialisations- und Aneignungsprozessen von Geschlecht (ebd.: 865) empirisch und theoretisch zur Kenntnis zu nehmen. Statt pauschaler Aussagen über »die Mädchen bzw. die Jungen« sei es notwendig, »eine stärkere Differenzierung innerhalb der Gruppen der Mädchen (und Jungen)« (ebd.: 866) vorzunehmen und der individuellen Bandbreite subjektiver Aneignungen des Geschlechtersystems Rechnung zu tragen, indem man die »aktive« Dimension von Sozialisation berücksichtige. Diese Fokussierung blieb charakteristisch für das Verständnis der Problematik der Reifizierung in dem Diskurs der schulischen Geschlechterforschung. (vgl. Tzankoff 1992: 131f., Tzankoff 1995, Hilgers 1994: 117). Auch in dem 1994 erschienen und inzwischen viel zitierten Artikel von Eva Breitenbach, der sich kritisch mit der »empirischen Basis« der feministischen Schulforschung auseinandersetzte, wird ihre Kritik an den eigentlich recht »dürftigen« empirischen Belegen für eine generelle Bevorzugung von Jungen durch die koedukative Schule und deren Dominanz im Unterricht schnell mit der Forderung verbunden, den »forschenden Blick auf die Eigentätigkeit des Subjekts zu richten« (Hervorh. i. Orig.) (Breitenbach 1994: 188). In ihrer Diskussion des in der Koeduaktionsdebatte einflussreichen Differenzansatzes

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plädiert sie dafür, »die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit selbst zu einer theoretischen Grundlage von Forschung zu machen« (ebd.: 187) und die Suche nach Geschlechterdifferenzen durch die Frage zu ersetzen, wie Geschlechtlichkeit von Jungen und Mädchen angeeignet wird (ebd.: 187). Diese Forschungsperspektive, mit der die Auffassung verbunden ist, dass nicht nur die Geschlechtsidentität (gender), sondern das System der Zweigeschlechtlichkeit als solches als eine sozial bedingte Kategorie betrachtet werden müsse, ist inzwischen zu einer ebenso umstrittenen wie populären Strategie geworden, um Stereotypisierungen von Mädchen und Jungen durch die eigene Forschungspraxis zu vermeiden. Dabei ist allerdings in vielen Beiträgen nicht immer nachvollziehbar, was unter einer »sozialen Konstruktion« verstanden wird und in welcher Weise mit dieser theoretischen Sichtweise tatsächlich ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der verfolgten Fragestellungen verbunden ist.

2. Zum Verständnis von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion – ein theoretischer Ausweg aus der Problematik der unkritischen »Verdoppelung« der Grundstruktur der Zweigeschlechtlichkeit?

Zurzeit zeichnen sich in der geschlechtsbezogenen Schulforschung zwei unterschiedliche Richtungen des Verständnisses von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion ab, die jedoch oftmals nicht auseinander gehalten werden. Die eine weist eine hohe Affinität zu Carol Hagemann-Whites und Helga Bildens frühen sozialkonstruktivistischen Konzeption auf (vgl. Hagemann-White 1984; Bilden 1991), in deren Mittelpunkt die Frage nach der subjektiven Verarbeitung des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit steht. Die andere Richtung knüpft an dem von Candace West und Don H. Zimmerman in die Geschlechterforschung eingeführten Begriff des »doing gender« an. Auf den Ansatz des »doing gender« wird in der Literatur häufig in einer Weise rekurriert, die nahe legt, seine theoretische Erneuerungskraft bestände darin, dass Geschlecht nun als eine soziale Konstruktion verstanden werden würde. Hierbei wird jedoch ignoriert, dass auch die Vertreterinnen des Differenzansatzes, die in der pädagogischen Geschlechterforschung meist an Annedore Prengels Konzeption einer »Pädagogik der Vielfalt« anschließen, den Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit als historisch und kulturell bedingt betrachten. Im Folgenden werde ich diese drei theoretischen Konzeptionen von Geschlecht vorstellen und diskutieren, was sie zum Verständnis der Problematik der Reifizierung beizutragen haben.

2.1 Hagemann-Whites frühe Kritik Hagemann-White war eine der ersten, die mit Blick auf die längst recht ausdifferenzierte amerikanische Debatte um die soziale Konstruktion von Geschlecht Anstoß an der für die deutsche Frauenbewegung und die mit ihr verbundene

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feministische Theoriediskussion charakteristischen ontologisierenden Auffassung von Geschlecht nahm (im erziehungswiss. Kontext vgl. Hagemann-White 1988a). So konstatiert sie Ende der 80er Jahre, die deutsche Frauenbewegung habe in ihrem theoretischen Verständnis von Geschlecht in weiten Teilen die alltagstheoretische Annahme übernommen, dass die Geschlechtszugehörigkeit »eindeutig, naturhaft und unveränderbar« (ebd.: 228) sei und damit den Eindruck erzeugt, dass »wir es mit einem elementaren Gegensatz von zwei grundverschieden gearteten Wesen zu tun haben« (ebd.: 225). Demgegenüber plädiert sie schon 1984 im Anschluss an die feministische Kulturanthropologie dafür, die Zweigeschlechtlichkeit als eine kulturelle Setzung zu betrachten (Hagemann-White 1984). In ihrer inzwischen zum Klassiker avancierten Expertise »Sozialisation: Weiblich – männlich?« unterzog sie den polarisierenden Zuschnitt der empirischen Geschlechterforschung einer kritischen Betrachtung. Auf der Grundlage einer von ihr vorgenommenen Metaanalyse von quantitativ orientierten Forschungsarbeiten zu Geschlechtsunterschieden im Verhalten von Jungen und Mädchen kam sie zu dem Schluss, dass »die empirische Forschung insgesamt keine Belege für eindeutige, klar ausgeprägte Unterschiede zwischen den Geschlechtern liefert« (ebd.: 42). Empirisch ließen sich weder für den Bereich der kognitiven Fähigkeiten noch für den Bereich des Sozialverhaltens bedeutende Unterschiede nachweisen (vgl. ebd.: 9-48). Einzelne empirische Untersuchungen, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kämen, stützten sich häufig auf kleine Datenmengen oder dramatisierten die Differenz der gefundenen statistischen Mittelwerte (vgl. ebd.: 14). Vor diesem Hintergrund vertrat Hagemann-White die These, dass Mädchen und Jungen keine stabile Geschlechterpersönlichkeit besäßen. Stattdessen entwickelten sie aber eine geschlechtsspezifische Verarbeitung des (Selbst-)Erlebens, die nach Maßgabe einer objektiv gegebenen symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit gebildet werde. Demnach müssten die Kategorien Mann und Frau als Symbole in einem sozialen Sinnsystem begriffen werden, das im Kindheits- und Jugendalter von Mädchen und Jungen unterschiedlich angeeignet werde (ebd. 78ff.). Für Hagemann-White steht hiermit die Frage, wie Kinder sich das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit aneignen und wie diese Aneignungsweisen sich geschlechtsspezifisch unterscheiden, im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses: »Unabhängig von der Art, wie konkrete Eltern- und Beziehungspersonen die eigene Haltung zur Geschlechterordnung definieren, erzwingt unsere Kultur eine Selbstzuordnung als Mädchen oder Junge im Unterschied zum jeweils anderen Geschlecht als Bedingung der Möglichkeit von Identität. Das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit muß insoweit reproduziert, fortgeschrieben werden, um begriffen werden zu können; und dessen Aneignung muß strukturell verschieden sein, je nachdem, ob das Subjekt dieser Aneignung den eigenen Ort als weiblich oder männlich annimmt. In dem Prozeß der Aneignung des Systems und nicht in den Merkmalen der Personen werden wir die Entstehung von Geschlechtsunterschieden und ihre Aufrechterhaltung sehen müssen.« (Hagemann-White 1988: 234)

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Problematischerweise geht Hagemann-White trotz ihrer wiederholten Warnungen vor einer Dichotomisierung von Geschlecht durch die Geschlechterforschung der Struktur des Binarismus jedoch nicht explizit nach und ihre Sichtweise auf die »symbolische Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit« bleibt ebenso unkritisch binär verfasst, wie in den von ihr kritisierten Studien1: »Als Mädchen oder Frau zu leben, ist in dieser Gesellschaft von Grund auf ein anderes Dasein als das von männlichen Individuen; die Geschlechter sind so unterschiedlich, daß sie selbst dann, wenn sie scheinbar Gleiches tun, es doch verschieden erfahren und verarbeiten. Diese Verschiedenheit ist in der Aneignung und Fortschreibung des symbolischen Systems der Zweigeschlechtlichkeit aus einem jeweils anderen kulturellen Ort heraus begründet.« (Ebd.: 231)

Von der Annahme ausgehend »ein relativ deutliches Bild dessen, was ›Frau‹ und ›Mann‹ jeweils symbolisch vertreten« (Hagemann-White 1984: 80), zu besitzen, konzipiert sie einen kulturellen männlichen Ort, der relativ bruchlos und widerspruchsfrei durch Forderungen wie die Sorge für das Allgemeinwohl, Abgrenzung, Unabhängigkeit und Selbstbehauptung, Mut und Risikobereitschaft, Freiheit, Konkurrenz- und Leistungsbereitschaft (ebd.: 91ff.) gekennzeichnet ist. Die symbolische Position des Weiblichen charakterisiert sie dementsprechend als einen »kulturellen Ort«, für den Forderungen wie Fürsorge (insbesondere Sorge für die Angehörigen) (Hagemann-White/ Hermesmeyer-Kühler 1987: 16), Beziehungs- und Personenorientierung und Abhängigkeit (Hagemann-White 1984: 96ff.) kennzeichnend sein sollen. Obgleich Hagemann-White selbst immer wieder vor der Verallgemeinerung solcher Charakterisierungen warnt (Hagemann-White 1998: 44f.) verfolgt sie weder in ihrer Diskussion psychoanalytischer Erklärungsansätze des Erwerbs einer psychischen Geschlechtszugehörigkeit (ebd.) noch in ihrer Konzeption der mit der Zweigeschlechtlichkeit verbundenen Symbolbildungen die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind eine bestimmte Eigenschaft oder Verhaltensweise als männlich oder weiblich zu klassifizieren. Damit setzt sie sowohl in ihren empirischen Beschreibungen geschlechtsspezifischer Aneignungen der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit als auch ihrem theoretischem Verständnis dieser Ordnung und ihrer Aneignung unkritisch den binären Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit wieder ein, den sie mit diesem Ansatz zu destabilisieren beabsichtigte. Auch, wenn sie unterstreicht, dass »gender« als ein »kulturelles Regelsystem für Prozesse« verstanden werden müsse, »in denen die Individuen, die mit Geschlechtlichkeit verquickten gesellschaftlichen Strukturen alltäglich mitherstellen« (Hagemann-White 1988: 227) bleibt in ihrem Ansatz unklar, inwiefern dies die »Symbolische Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit« in ihrer Kohärenz tangiert. Stattdessen legt ihre Darstellung der »Symbolischen Ordnung« 1 | Dies gilt meiner Ansicht nach auch für spätere Publikationen von Hagemann-White (vgl. z.B.: Hagemann-White 1998).

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nahe, dass Männlichkeit und Weiblichkeit als relativ feststehende »kulturelle Ordnung« begriffen werden können, deren Bedeutungen im Allgemeinen bruchlos angeeignet werden. In der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung ist ihre Theorie dann häufig auch in diesem Sinn aufgegriffen und eingesetzt worden, um die – auch im Differenzansatz beliebte – These, Mädchen und Jungen wüchsen in »zwei unterschiedliche[n] Kulturen« auf (Kreienbaum/Metz-Göckel 1992: 28), die sowohl ihre »Verhaltensweisen als auch Verhaltensdeutungen« (Kreienbaum 1992: 26) maßgeblich prägten, theoretisch zu fundieren.

2.2 Das Konzept des »doing gender« Das zweite inzwischen recht populär gewordene Verständnis von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion operiert mit dem Begriff des »doing gender«. Der Begriff des »doing gender«, den Zimmermann und West in Auseinandersetzung mit Garfinkels 1967 veröffentlichten ethnomethodologischen Studie über die Transsexuelle Agnes und Goffmans im Jahre 1977 erschienenem Essay »The Arrangement Between the Sexes« entwickelt haben (West/Zimmerman 1987), hebt den performativen und interaktiven Charakter von Geschlecht hervor. In Abgrenzung zu sozialisationstheoretischen Beschreibungen, in denen Gender, also das »soziale Geschlecht«, häufig kaum weniger eindeutig und determiniert erscheint als das biologisch/anatomische Geschlecht, dringen West und Zimmermann darauf von einer statischen Sichtweise abzurücken, in der Männlichkeit oder Weiblichkeit als Merkmale oder Eigenschaften von Personen konzeptualisiert wird. Stattdessen schlagen sie vor, Geschlecht als eine sozial regulierte interaktive Praxis zu begreifen, in der die Geschlechtszugehörigkeit als eine alltägliche Routine erworben werden muss (ebd.: 126). »When we view gender as an accomplishment, an achieved property of situated conduct, our attention shifts from matters internal to the individual and focuses on interactional and, ultimately, institutional arenas. In one sense, of course, it is individuals who ›do‹ gender. But it is situated doing, carried out in the virtual or real presence of others who are presumed to be oriented to its production. Rather than as a property of individuals, we conceive of gender as an emergent feature of social situations: both as an outcome of and a rationale for various social arrangements and as a means of legitimating one of the most fundamental devisions of society.« (Ebd.: 126)

Obwohl sowohl Goffman als auch West/Zimmerman den sozial ritualisierten Charakter von Interaktionen betonen, »d.h. die Standardisierung des körperlichen und sprachlichen Verhaltens, die im Prozeß der Sozialisation erworben wird« (Goffman 1994: 59) ist in der deutschsprachigen Rezeption dieser paradigmatische Wechsel von der Vorstellung von Geschlecht als einem körperlichen und (sozial-)psychologischen Merkmal hin zu einer

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Verortung von Geschlecht auf die interaktive Ebene häufig wiederum als eine in der Sozialisationsforschung längst fällige Anerkennung der Eigenaktivität des Subjekts verstanden worden. Damit wird jedoch ignoriert, dass der entscheidende Unterschied zwischen dem Ansatz des »doing gender« und sozialisationstheoretischen Ansätzen darin besteht, dass letztere darauf zielen Geschlecht als einen Erwerb bestimmter Verhaltenseigenschaften oder psychologischer Merkmale von Personen zu beschreiben, während der ethnomethodologische bzw. ethnographische Blick auf den situativen Herstellungsprozess von Geschlecht gerichtet ist, der als in eine situationsübergreifende institutionelle Dimension eingebunden verstanden wird. Die Ethnographie konzentriert sich darauf zu erforschen, auf welche Art und Weise Geschlechterklassifi kationen in bestimmten Interaktionen relevant werden und wie Geschlechtszugehörigkeiten in bestimmten sozialen Kontexten (wieder-)hergestellt und bestätigt werden, während sich sozialisationstheoretische Beschreibungen auf die Frage der Subjektwerdung konzentrieren. Der Schwerpunkt der ethnographischen Suche nach den alltäglichen Praktiken des »doing gender« liegt darauf ihre unbewussten Ordnungsstrukturen »als empirisches Wissen« zu mobilisieren (Amman/Hirschauer 1997: 20) und zu explizieren. Eine an dieser Programmatik ausgerichtete Ethnographie interessiert sich also nicht für das explizite Wissen der Beforschten, sondern für diejenigen Wissensbestände, die die Handlungen der Agierenden »implizit« steuern (Kelle 2000: 120). Wie Kelle kritisch angemerkt hat, besteht in der feministischen Schulforschung eine Tendenz dazu diesen Unterschied zu einer sozialisationstheoretischen Perspektive nicht zu bemerken und mit dem Begriff des »doing gender« zu operieren, ohne dass hiermit tatsächlich ein Wechsel der bisherigen Forschungspraxis und des damit verbundenen Fragefeldes verbunden ist (Kelle 2000: 117). Empirisch nennenswert umgesetzt worden ist der Ansatz des »doing gender« in der pädagogischen Geschlechterforschung in Deutschland bislang lediglich in einer ethnographischen Schulstudie von Georg Breidenstein und Helge Kelle (Breidenstein/Kelle 1998) und in dem unter der Leitung von Hannelore Faulstich-Wieland stehenden DFG Projekt »Soziale Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen in der Sekundarstufe I« (Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004). Entsprechend dem verschobenen Blickwinkel, der mit dieser Sicht auf Geschlecht verbunden ist, gingen Georg Breidenstein und Helga Kelle von 1993 bis 1996 in zwei Schulklassen der Laborschule Bielefeld der Frage nach, »wie neun- bis zwölfjährige Kinder von der Unterscheidung in ›Mädchen‹ und ›Jungen‹ im Alltag ihrer Schulklasse Gebrauch machen.« (Breidenstein/Kelle 1998: 13) Im Zentrum des Forschungsinteresses stand hierbei, »unter welchen Vorzeichen und mit welchen Effekten […] die Geschlechterunterscheidung« innerhalb der SchülerInnengruppe zur Anwendung kommt und »welchen sozialen ›Sinn‹« sie für die Mädchen und Jungen ergibt (ebd.: 16). Im Unterschied zu Breidenstein und Kelle, deren Schwerpunkt auf der Beobachtung der Interaktionen innerhalb der Gleichaltrigengruppe lag, liegt der Fokus der Schulstudie von Faulstich-Wieland u.a., in der über drei Jahre hinweg drei gymnasiale

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Schulklassen beobachtet wurden, darauf, Aufschluss darüber zu gewinnen, »welche Erfahrungen Mädchen und Jungen im Feld der Schule machen und inwiefern diese zur Aufrechterhaltung oder Veränderung traditioneller Geschlechterverhältnisse beitragen.« (Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004: 14) Damit rückten nicht nur die schulischen Bedingungen der Interaktionen von SchülerInnen (und auch LehrerInnen) in den Vordergrund der ethnographischen Beobachtung, sondern diese Studie fühlt sich auch stärker der Frage der Reproduktion sozialer Ungleichheit im koedukativen Schulsystem verpflichtet. So konstatieren Hannelore Faulstich-Wieland, Martina Weber und Katharina Willems, im Anschluss an die bisherigen Ergebnissen der feministischen Schulforschung, dass bei Mädchen in der Phase der Adoleszenz »ein geringerer Zuwachs von Selbstvertrauen als bei Jungen« zu beobachten sei, »Unterschiede in mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen in diesen Altersstufen« festgestellt wurden, Jungen »starkem Druck ausgesetzt« seien, »der im schulischen Kontext für sie nicht thematisierbar« sei, und die stärksten Einbrüche der Zustimmung von Schülerinnen zur Koedukation in den Jahrgängen 7 bis 9 zu verzeichnen seien (ebd.: 21f.). In diesem »Forschungsstand« sieht das DFG Projekt seine übergreifende Fragestellung begründet, »in welchen Prozessen diese Veränderungen entstehen und inwiefern die Schule und insbesondere die dort stattfindenden Interaktionen dazu beitragen« (ebd.: 22). Aufgrund dieser Verortung zeichnet sich die Studie durch ein relativ breites Spektrum von Fragestellungen aus, das von der Erforschung von Männlichkeitskonstruktionen in der Schulklasse bis hin zu der Frage reicht, ob Strategien, die von SchülerInnen eingesetzt werden, um den an sie gestellten Anforderungen der Institution Schule zu begegnen, – zumindest teilweise – mit Konstruktionen von Geschlecht korrelieren. Ebenso wie Breidenstein und Kelle plädieren sie hierbei dafür, Differenzen zwischen den Geschlechtern nicht auf der Ebene von bestimmten Verhaltensweisen, Eigenschaften oder Fähigkeiten zu suchen, sondern Geschlecht als »die in den Interaktionen immer zugleich dargestellte wie zugeschriebene Geschlechtszugehörigkeit« (ebd.: 23) zu begreifen. In der Darstellung der Forschungsergebnisse wird aber auch deutlich, dass allein die Verschiebung des Analysefokus darauf, wie Geschlechterdifferenz in sozialen Praktiken »aktualisiert« oder »ruhengelassen« wird, kein anderes Licht auf die Gefahr einer unkritischen Wiederholung des binarisierenden Denkens durch die eigene Forschungspraxis zu werfen vermag. Obwohl in beiden ethnographischen Studien davon ausgegangen wird, dass nicht nur die ethnographische Beobachtung, sondern auch die beobachteten Interaktionen immer schon den Interpretationen der beteiligten Akteure unterliegen, gehen weder Breidenstein und Kelle noch Faulstich-Wieland u.a. der Frage nach, was dies für den ontologischen Status ihres Untersuchungsgegenstandes und dessen empirischen Erforschung bedeutet. Zwar unterstreicht Faulstich-Wieland bezüglich der Frage der Methoden der Erhebung, dass es keine »›objektive[n]‹ Aspekte der Interaktion [gebe], die jenseits verstehender Interpretationen liegen und von ihnen freigehalten werden können« (ebd.: 33). In Diskussionen des bishe-

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rigen Forschungsstandes der schulischen Geschlechterforschung (vgl. z.B. Faulstich-Wieland 1995; Faulstich-Wieland 1998; Faulstich-Wieland 1999) und in der Konzeption der Fragestellungen ihres eigenen Forschungsvorhabens (Faulstich-Wieland u.a. 2004: 9ff.) legt sie jedoch nahe, dass der forschende Blick auch in dieser Studie auf die Rekonstruktion des »tatsächlichen Verlauf[s]« der sozialen Praktiken und der damit verbundenen Konstruktionen von Geschlecht gerichtet bleibt (ebd.: 15). Damit wirft aber auch die Rekonstruktion des »doing gender« oder »undoing gender«, unter dem das »Ruhen lassen« von Geschlechterunterscheidungen bzw. -differenzen verstanden wird, immer wieder selbst die Frage danach auf, ob sie in der Darstellung ihrer Ergebnisse »Tatsachen« rekonstruiert oder selbst »Stereotypen« produziert. Im Umgang mit der Frage, wie die Problematik der Vereinheitlichung und Reifizierung bei der Rekonstruktion der Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit zukünftig berücksichtigt werden kann und muss, lassen sich allenfalls Hinweise auf die Notwendigkeit einer stärkeren Kontextualisierung der Forschungspraxis und der in ihr getroffenen Aussagen (Hagemann- White 1994: 301, Tzankoff 1995: 121, Faulstich-Wieland 1999: 125f., Kelle 2000: 127) ausmachen. Die methodologischen und machttheoretischen Fragen aber, die mit dem Akt der Begrenzung eines Kontextes zusammenhängen, werden nicht näher in Betracht gezogen. Diese fehlende Auseinandersetzung mit der Frage, welches Verständnis von sozialer Wirklichkeit mit der Konzeption von Geschlecht als »doing gender« verbunden ist, führt dazu, dass aus der Sicht der theoretischen Perspektive des »doing gender« – und diese Sichtweise deckt sich teilweise mit der ihrer KritikerInnen – die geschlechtsbezogene Schulforschung in ein unauflösbares Dilemma verstrickt bleibt: »Die Koedukationsforschung und -praxis kann dem Dilemma nicht entgehen, dass sie beides erarbeiten muss, eine Theorie der Differenzen zwischen den Geschlechtern, und eine Theorie der Gleichheit der Geschlechter, und sie muss auch praktisch mit beiden umgehen können, gerade in der Schule. Um Mädchen oder Jungen zu fördern ist es notwendig, sich mit geschlechtsbezogenen Dimensionen der sozialen Lage, der Interessen, Kompetenzen und Defizite, der Interaktionen auseinander zu setzen. Dies führt in eine Betonung der Differenzen. Damit werden nicht nur diejenigen Kinder und Jugendlichen erneut übersehen oder übergangen, die von vornherein nicht in die Raster geschlechtlicher Typisierung passen, sondern es werden insgesamt alle Kinder und Jugendlichen in geschlechtsbezogene Raster einsortiert, geschlechtlich markiert. Aus dieser grundlegenden Widersprüchlichkeit führt kein Weg. Es scheint vielmehr darum zu gehen, zwischen der Betonung und der Vernachlässigung der Differenzen eine Balance zu finden.« (Breitenbach 2002: 155)

Ähnlich sieht es Faulstich-Wieland: »Für die Schulforschung befinden wir uns damit in der schwierigen Situation, empirisch vor allem auf Differenzen zu schauen, deren Herstellung jedoch kei-

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neswegs geklärt ist (vgl. Breitenbach 2002). Zugleich geraten Veränderungsvorschläge immer in die Gefahr, Reifizierungen von Geschlecht und d.h. Verfestigungen von Geschlechterstereotypen zu bewirken (vgl. Koch- Priewe 2002).« (Faulstich-Wieland 2004 (a): 649)

Dementsprechend pessimistisch werden die Möglichkeiten eines kritischen Umgangs mit den vorherrschenden Diskursen der Zweigeschlechtlichkeit in der Schule eingeschätzt und als eine Zwickmühle begriffen, in der jede Strategie zum Scheitern verurteilt scheint: »In der schulischen Praxis finden wir (mindestens) zwei Formen des Umgangs mit Genderfragen: Zum einen gibt es eine Reihe von Lehrkräften, die für ihre Tätigkeit in Anspruch nehmen, ›gender free‹ zu agieren, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu machen, alle gleich zu behandeln. Sie sehen zwar häufig, dass es Geschlechtsunterschiede gibt, z.B. in den Interessen und Leistungen. Deren Ursachen vermuten sie jedoch am allerwenigsten in Interaktionen, an denen sie aktiv beteiligt sind, sondern eher in der Familie bzw. in der Gesellschaft allgemein (vgl. Ziegler u.a. 1998). Zum anderen gibt es zunehmend Lehrerinnen und Lehrer – noch immer freilich mehr Lehrerinnen –, die Benachteiligungen ausgleichen wollen und bewusst auf Genderdifferenzen achten. Beide Gruppen tragen letztlich bei zur Reproduktion des Geschlechterverhältnisses, wie Zinnecker es pessimistisch auch für die Zukunft prognostizierte. Die erste Gruppe bleibt in ihrem Handeln ebenso in die doing gender Prozesse involviert wie die Schülerinnen und Schüler selbst und reproduziert dabei die ›normalen‹ Geschlechterbilder. Die zweite Gruppe dramatisiert die Differenzen in doppelter Hinsicht: Zum einen erlaubt die klare Unterscheidung der Geschlechter nur schwer die Wahrnehmung der Differenzierungen innerhalb der Gendergruppen. Zum anderen erzwingt sie mindestens teilweise ein stereotypes doing gender durch die Schülerinnen und Schüler«. (Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004: 223f.)

Damit »Prozesse« der Darstellung oder Zuschreibung von Geschlechtszugehörigkeit im Schulalltag »überhaupt erkannt werden« schlägt FaulstichWieland vor, Beobachtungen »im konkreten Unterrichtsgeschehen« »eher von Dramatisierungen leiten [zu] lassen«, in »der Reaktion auf das Verhalten von Mädchen und Jungen […] jedoch u.U. mehr auf Entdramatisierung zu setzen« (Faulstich-Wieland 2001: 239). Unter Dramatisierung und Entdramatisierung versteht sie hierbei das »Aufgreifen oder Ruhenlassen von (routinemäßigen) Geschlechterunterscheidungen« (Hirschauer 1994: 678 zit.n. Faulstich-Wieland 2000: 199). »Es wäre jedoch naiv zu glauben, dies allein [die Rückbindung pädagogischen Handelns an »Selbstreflexionen des eigenen doing gender« S.M.] verändere die Geschlechterverhältnisse. Gerade die feministischen Lehrerinnen, diejenigen, die sich bewusst mit den Diskursen auseinandergesetzt haben, müssen nicht selten feststellen, dass sich die Schülerinnen dagegen verwahren, als benach-

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teiligt zu gelten. Umgekehrt sind Selbstreflexionen ohne Genderkompetenzen allerdings auch kaum leistbar. Gefragt ist eine Balance von Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht.« (Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004.: 224)

Dieser Vorschlag hebt darauf ab, mit der »Dramatisierung im Blick auf Geschlechterverhältnisse« »strukturelle Ungleichheiten« aufzudecken und mit einer entdramatisierenden Umgangsweise »der Heterogenität der Kinder und Jugendlichen und damit den Einzelnen gerecht zu werden.« (FaulstichWieland 2006: 10f.) Insofern die Identifizierung »struktureller Ungleichheiten« zwischen den Geschlechtern aber nicht ohne ein binäres Klassifikationsschema auskommt und die Produktion eines solchen Wissens eben darauf zielt, LehrerInnen zu sensibilisieren für mögliche sexuelle Diskriminierungen im Unterricht und im alltäglichen Umgang in der Schule, dies aber immer auch eine Abstraktion von dem Einzelfall erfordert, bleibt die Problematik der Reifizierung in diesem Vorschlag erhalten, ohne dass sich ein anderes Verständnis von ihr abzeichnet. Zwar wird zu Recht davon ausgegangen, dass mit dem verschobenen Blick auf die Herstellung von Geschlechterunterscheidungen und -differenzen einer ungewollten Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit durch die Geschlechterforschung entgegengearbeitet wird. Die Problematik der Reifizierung lässt sich aber nicht in dieser Weise auf die Gefahr der Naturalisierung reduzieren. Vielmehr hat sich diese Debatte ja gerade an der Frage entzündet, inwiefern die Klassifi kation dessen, was Männlichkeit und Weiblichkeit in dieser Gesellschaft bedeuten, ungewollt zu einer Naturalisierung beiträgt, indem es die binäre Zuordnung unkritisch unterstützt. Deshalb kommt die Geschlechterforschung nicht um eine Auseinandersetzung mit dem identifizierenden Denken umhin, das mit der Klassifi kation von Geschlechterdifferenzen und auch der binären Unterscheidung zwischen »doing gender« und »undoing gender« verbunden ist.

2.3 Der Dif ferenzansat z in der geschlechtsbezogenen Schulforschung Obwohl die Vertreterinnen des Differenzansatzes explizit an einer ausgearbeiteten Kritik identifizierenden Denkens anschließen, schenken sie der Problematik der Reifizierung kaum Beachtung. Der Differenzansatz geht zurück auf eine Diskussion, die in den 80er Jahren den westdeutschen Feminismus auf unterschiedlichen Ebenen wesentlich geprägt hat. In dieser Debatte wurde darum gestritten, ob das auf klärerische Postulat der Gleichheit einer männlichen Bedeutungsökonomie verhaftet bleibt, in der Frauen als das konstruierte »Andere« ausgeschlossen bleiben, wenn es nicht durch eine alternative Konzeption der Geschlechterdifferenz ergänzt wird, die sich an der so genannten »weiblichen Lebensrealität« orientiert und dieser Rechnung trägt. Wie stark die schulische Geschlechterforschung in ihrer

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theoretischen Diskussion immer noch diesem Streit um »Gleichheit« oder »egalitäre Differenz« verhaftet bleibt, lässt sich auch an Eva Breitenbachs Einschätzung ablesen, die Koedukationsforschung und -praxis bleibe in dem Dilemma verstrickt, gleichzeitig eine Theorie der Differenzen und eine Theorie der Gleichheit erarbeiten zu müssen.

2.3.1 Der Ansat z der »Pädagogik der Vielfalt« und seine »Kritik des Einheitsdenkens« In der feministischen Schulkritik schlug sich der Streit um die Differenz in der Befürchtung nieder, dass eine einseitige Förderung von Mädchen, die ausschließlich dem Gleichheitspostulat folgt, letztendlich eine »Angleichung an männliche Maßstäbe (darstellt) und damit dem Erhalt der tradierten Geschlechterhierarchie« dient (Kahlert/Müller-Balhorn 1994: 81). So beklagt sich Annedore Prengel, die renommierteste Vertreterin dieser Position, die den Differenzbegriff im Rahmen ihres bildungstheoretischen Konzeptes einer »Pädagogik der Vielfalt« am weitesten ausgearbeitet hat 2 und deren Arbeit das differenzorientierte Denken in der pädagogischen Geschlechterforschung maßgeblich bestimmt, dass die »Mehrheit der Vorschläge, Forderungen und Projekte der gesamten Feministischen Pädagogik« (Prengel 1995: 114) dem Gedanken einer »Assimilationspädagogik« folgen würden. Diese ziele darauf Frauen und Mädchen durch eine »kompensatorische Erziehung« die Aneignung männlicher Lebensräume zu ermöglichen ohne das hiermit verbundene Wertesystem kritisch zu hinterfragen. Emanzipation sei »hier zugleich Eroberung männlicher Privilegien und Anpassung an männliche Werte.« (Ebd.: 115/116) »Mädchen und Frauen eignen sich typisch männliche Kompetenzen wie Abgegrenztheit, Selbstsicherheit, psychisches und körperliches Durchsetzungsvermögen, Aggressivität, Konkurrenzfähigkeit und technisch-naturwissenschaftliche Sachbezogenheit an. Sie erobern öffentliche und mit Macht ausgestattete gesellschaftliche Rechte und Räume, die bisher den Männern vorbehalten waren.« (Ebd.: 114/115)

Stattdessen sei es notwendig »weibliche Lebensweisen und -zusammenhänge«, die durch die »Geschichte der Frauen« und der hiermit verbundenen »Unterdrückungserfahrungen« geprägt seien, wertschätzen zu lernen. Hierbei gehe es um spezifische »weibliche« Sozialisationserfahrungen, wie »Erfahrungen weiblicher Körperlichkeit«, »Mütterlichkeit«, »Lesbischer 2 | Einen neueren bildungstheoretischen Ansatz einer differenzorientierten Pädagogik der Geschlechter, den ich in einem späteren Kapitel behandeln werde, findet man in den Arbeiten der Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Barbara Rendtdorff, die vorschlägt Geschlecht als den »Erste[n] Repräsentant[en] von différance« oder den »Erste[n] Repräsentant[en] der Gespaltenheit des Subjekts« zu verstehen (Rendtdorff 2000: 55).

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Liebe« sowie der Anerkennung des »weibliche[n] Arbeitsvermögen[s] und »weibliche[r] Denkformen« (ebd.: 118). Für VertreterInnen der »egalitären Differenz« bedeutet dies jedoch nicht die Perspektive der Gleichheit aufzugeben, sondern »kulturelle Differenzen« im Sinne einer Anerkennung verschiedener »Existenzweisen« weiter auszuarbeiten. Dem an Differenztheorien häufig gerichteten Vorwurf der Essenzialisierung von Geschlecht begegnet Prengel mit einer Zurückweisung »von allen Idealisierungen und Biologisierungen von Weiblichkeit« (ebd.: 117). Vielmehr begreife sie »Lebensweisen von Frauen«, einschließlich der hiermit verbundenen »Körpererfahrungen als gesellschaftliche Erfahrungen, […], die sich historisch und kulturell unterscheiden und sich ständig verändern.« (Ebd.: 118) Die Forderung »Lebensweisen von Frauen« »begrifflich« zu fassen und »gesellschaftlich sichtbar« zu machen beziehe sich also immer auf Lebensweisen, die als »gesellschaftlich vermittelt« verstanden werden würden (ebd.: 118). Deshalb sei die in der amerikanischen Diskussion übliche Unterscheidung zwischen »sex« als biologischem und »gender« als gesellschaftlichem Geschlecht abzulehnen. Die »Anerkennung von Weiblichkeit« unterscheide »sich klar von biologistischen Fixierungen aller Art«. (Ebd.: 118) Ebenso unterstreicht Prengel, dass der von ihr vertretene Differenzbegriff von der »Undefinierbarkeit und Pluralität des weiblichen Geschlechts« (ebd.: 137) ausgehe. Insofern die differenztheoretische Sichtweise auf einer »Kritik des Einheitsdenkens« basiere, müsse auch die Kategorie der »Weiblichkeit« als eine gedacht werden, die sich jeglicher Vereinheitlichung und Fixierung entziehe und prinzipiell »unbestimmbar« sei (ebd.: 128). Unter Berufung auf die frühen Arbeiten der Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray schreibt Prengel: »Aus der Sicht der Kritik des Einheitsdenkens läßt sich weibliche Identität nicht entwerfen. Heterogenität wird postuliert, aber sie ist nicht mit einem Inhalt zu füllen. Denn der denkbare Inhalt wäre so sehr an patriarchale Weiblichkeitsbilder gebunden, daß er eben nicht heterogen dazu verfasst wäre.« (Ebd.: 128)

Entgegen aller Verlautbarungen, die »Pädagogik der Vielfalt« gehe »aus von der ›Unbestimmbarkeit der Menschen‹« und könne »darum nicht diagnostizieren, ›was jemand ist‹, noch ›was aus ihm oder ihr werden soll‹« (Prengel 1995: 191), wird der Behauptung der »Unbestimmbarkeit der Menschen« in differenztheoretisch orientierten Arbeiten aber weder in der Produktion und Auslegung empirischer Daten noch in dem Verständnis von Handeln im pädagogischen Feld ein gezielter Stellenwert eingeräumt (vgl. Thies/ Röhner 2000). Vielmehr steht im Kern dieses pädagogischen Konzeptes die Auffassung, die Fremdheit des anderen ließe sich ohne jegliche Kosten zumindest »aspekthaft und perspektivisch« (Prengel 1995: 56) beschreiben in einer konstatierenden Sprache, die es erlauben soll, unter bestimmten »Bedingungen« kulturelle »Verschiedenheit präzise zu fassen« (ebd.: 30). »Der Begriff Verschiedenheit«, schreibt Prengel in ihrem Entwurf der Pädagogik der Vielfalt«, »spricht die gegebene Mannigfaltigkeit der Welt, der Personen und Sachen an; er beschreibt eine Welt, in der sich jedes Blatt vom anderen

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unterscheidet. Solche umfassende Verschiedenheit entzieht sich der definierenden Bestimmbarkeit.« (Prengel 1995: 30). Unter bestimmten Umständen seien genaue Aussagen über »Verschiedenheit« aber dennoch möglich. Und zwar: »Wenn wir in alltäglichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen von Verschiedenheit sprechen, stellen wir ebenfalls eine Beziehung zwischen Personen, Gegenständen Sachverhalten usw. her. Da wir, wie gesagt, die real existierende umfassende Verschiedenheit, die Mannigfaltigkeit, nicht mit unserer Wahrnehmung zu fassen, geschweige denn auf den Begriff zu bringen vermögen, nehmen wir Verschiedenheit immer auf eingeschränkte Weise zur Kenntnis. Auch die Feststellung von Verschiedenheit geschieht in eingegrenzter Hinsicht, sie unterliegt der Auswahl eines Merkmals und ist Folge eines impliziten Vorgangs des Vergleichens. […] Ohne die Gleichheit eines Kriteriums, auf das wir uns beziehen, sind genaue Aussagen über Verschiedenheit nicht möglich.« (Ebd.: 31)

Die Versicherung, dass das vergleichsentscheidende Merkmal, obgleich es »klar definiert werden« müsse, »immer auch umstritten« (ebd.: 33) sei, reicht Prengel aus, um diese Abstraktion von der »real existierende[n] umfassende[n] Verschiedenheit« zu rechtfertigen und als nicht weiter relevant zu betrachten. Ist auf diese Weise die Frage der begriffl ichen Unbestimmbarkeit »der Mannigfaltigkeit der Welt« erst einmal aus dem Weg geräumt, eröffnet dies Tür und Tor für jede Art der Spekulation über kollektive Deutungs- und Verhaltensmuster »kultureller Natur«: »Inhaltliche Beschreibungen von Phänomenen der Differenz sind darum stets nur annäherungsweise und unvollkommen möglich. Phänomenbeschreibungen können dennoch vorherrschende Tendenzen in Mehrheiten oder Minderheiten von Kollektiven betreffen. So lassen sich keine definierenden Aussagen für wirklich alle Angehörigen einer Gruppierung treffen, sehr wohl jedoch aufschlussreiche Hypothesen im Hinblick auf den Hauptstrom an Deutungs- und Verhaltensmustern in einem Kollektiv in einer weit oder eng gefassten gesellschaftlichen Situation. Generalisierende große Zeiträume und weite Regionen umfassende Aussagen können dabei nützliche Erkenntnisse bereitstellen, sie müssen, um möglich zu werden, die Mikroebene der Kleingruppen und Individuen zeitweilig bewusst ausblenden und das darf nicht mit Essentialisierung verwechselt werden.« (Ebd.: 183)

Nun kann man natürlich immer Hypothesen über dieses oder jenes Phänomen aufstellen; ob solche generalisierenden Aussagen, die »große Zeiträume und weite Regionen« umfassen, aber letztendlich mehr Aufschluss über ihren Verfasser als über ihr Objekt geben und in wessen Nutzen die Erfindung solcher Zuschreibungen steht, sei dahin gestellt. Obwohl Prengel erklärt, dass »die Theorie von Luce Irigaray (in ihrer frühen Phase) für die in dieser Studie [»Pädagogik der Vielfalt« Anm. S.M.] zur Diskussion stehenden Fragen grundlegend war, weil sie als eine der ersten Aufmerksam-

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keit weckte für die Bedeutungen der vereinheitlichenden Wirkungen des Gleichheitsprinzips, der zwischenmenschlichen Heterogenität, der NichtDefinierbarkeit des ›Anderen‹« (ebd.: 55), beschränken sich ihre Ausführungen zu Irigaray auf wenige Abschnitte (ebd.: 53f.; ebd.: 128f.) und man kann nicht sehen, wie Prengels Aufruf, »Phänomene der Differenz« »annäherungsweise« zu beschreiben, mit der von Irigaray vertretenen Warnung vor einer Positivierung der Weiblichkeit zusammenpasst. Wenn Prengel ihre »soziokulturelle Zugehörigkeit zum Geschlecht der Frauen« als ein gelebtes »Frau-Sein« begreift, das begriffl ich erfasst und unterschiedlich »interpretiert« und »konstruiert« werden kann (vgl. ebd.:118; ebd.: 138 u. Prengel 2000: 93), dann entgeht ihr nicht nur, dass die Bildung eines begriffl ichen Rahmens eigentlich gerade darauf zielt, Interpretationsmöglichkeiten einzuschränken und zu regulieren, sondern völlig unbeachtet bleibt auch der Zusammenhang zwischen dem Auf bau eines solchen begrifflichen Systems der Zweigeschlechtlichkeit und der hierarchischen Struktur der Zweigeschlechtlichkeit, wie er sich bei Irigaray abzeichnet. Stattdessen legt Prengel ein Verständnis der Geschlechterdifferenz zugrunde, das unterstellt, es handele sich hierbei um kulturelle Unterschiede, die man in der Vielfalt ihres Daseins zwar nicht vollkommen begreifen könne, die durch einen Vergleich, der sich auf einen »klar definiert[en]« Maßstab (ebd.: 33) beziehen soll, aber auf »eingeschränkte Weise zur Kenntnis« (ebd.: 31) gebracht werden könnten. Zwar geht Prengel davon aus, dass »in der Wirklichkeit« »alle realen Dinge in ständiger Veränderung begriffen sind« (ebd.: 30f.) und sich das »Anderssein« des anderen nicht identifizieren lässt. Letztendlich geht sie hierüber in ihrer Annahme, »das Anderssein« des anderen zumindest »aspekthaft und perspektivisch« (ebd.: 56) erfassen zu können, jedoch hinweg. Demgegenüber wird in Irigarays Auseinandersetzung mit Freud deutlich, wie die Methode des Vergleichens, die Prengel vorschlägt, eingebunden bleibt in ein Denken des Gleichen, das den binären und hierarchisierenden Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit maßgeblich konstituiert. In Auseinandersetzung mit bestimmenden Texten der westlichen Philosophie behauptet Irigaray in ihrer Habilitationsschrift »Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts«, dass der philosophische Diskurs – für Irigaray der konstituierende Diskurs aller anderen Diskurse (Irigaray 1979: 76) – von einer Bedeutungsökonomie beherrscht werde, in der »Männlichkeit« den zentralen und einzigen wertverleihenden Bezugspunkt darstelle. Ähnlich wie Jacques Derridas Schriften zielen auch ihre frühen Arbeiten darauf herauszuarbeiten, in welcher Weise die logozentrische Ausrichtung der Philosophie, in ihrem nach absoluter Wahrheit strebenden identitätsorientierten Denken, innerhalb einer »Ökonomie des Gleichen« operiert, die versucht das Andere immer auf das Selbe zurückzuführen. Hierbei liegt ihr Hauptinteresse darauf, zu zeigen, dass die bisherigen Theorien des Subjekts, die seit dem 17.Jh. eine tragende Rolle in der Erkenntnistheorie – und später auch in der Psychologie – spielen, ausschließlich »dem ›Männlichen‹ entsprochen« (Irigaray 1980: 169) hätten. In den »selbstrepräsentativen Systemen des ›männlichen Subjekts‹« sei die sexuelle Differenz verdrängt und

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bedroht worden (Irigaray 1979: 76). Das Weibliche werde in dieser Systematik nicht zugelassen und sofern es in Erscheinung trete, sei es aus einer männlichen Logik heraus entwickelt worden und diene lediglich der Repräsentation des männlichen Selbst. Als negatives Spiegelbild männlicher Selbstpräsenz verweise der manifeste Diskurs der Weiblichkeit immer nur auf den Diskurs des männlichen Seins und werde, entsprechend der Logik des Seins, von diesem Diskurs als Nicht-Sein markiert. Die rhetorische Figur der Frau als des negativen Abbilds des männlichen Subjekts erlaube es diesem sich zu verdoppeln und damit zu reflektieren. Entgegen allem Anschein zeichneten sich die vorherrschenden Diskurse somit durch eine Bedeutungsökonomie der »sexuellen Indifferenz« aus, in der es – aufgrund der Kohärenz dieser Systematik – für das Weibliche keinen möglichen Ort geben könnte. Insofern das Weibliche aber nicht vollkommen in der ihr zugewiesenen Funktion aufgehe, sei es als dasjenige zu betrachten, das sich der Logik des Selben radikal entziehe und ihr irreduzibel äußerlich bleibe (vgl. Irigaray 1980: 176). Um also das Weibliche zum Sprechen zu bringen, d.h. eine andere »Syntax« in der Sprache zu etablieren, sei es notwendig sich aus der »männlich bestimmten Logik« zu entwinden. Dies erfordere jedoch einen Diskurs zu führen, der auf dem Wege einer mimetischen Durchquerung des herrschenden Diskurses diesen wiederholen müsse ohne selbst zu ontologisieren: »Denn von der oder über die Frau zu sprechen kann immer hinaus laufen auf oder verstanden werden als eine Wiederaufnahme des Weiblichen ins Innere einer Logik, die es in der Verdrängung, unter der Zensur, genauer in der Verkennung festhält. Mit anderen Worten, es gilt nicht, eine neue Theorie auszuarbeiten, deren Subjekt oder Objekt die Frau wäre, sondern der theoretischen Maschinerie selbst Einhalt zu gebieten, ihren Anspruch auf Produktion einer viel zu eindeutigen Wahrheit und eines viel zu eindeutigen Sinns zu suspendieren. Was voraussetzt, daß die Frauen es den Männern im Wissen nicht einfach gleichtun wollen. Daß sie nicht beanspruchen, mit ihnen durch die Konstruktion einer Logik des Weiblichen zu rivalisieren, die zum Modell wieder das Onto-Theo-Logische nähme, sondern daß sie viel eher versuchen, diese Frage der Ökonomie des Logos zu entwinden. Daß sie die Frage also nicht in der Form: ›Was ist die Frau?‹ stellen. Sondern daß sie – die Weise interpretierend-wiederholend, in welcher im Inneren des Diskurses das Weibliche sich determiniert findet: als Mangel, als Fehlen, oder als Mime und verkehrte Wiedergabe des Subjekts – kundtun, daß dieser Logik gegenüber von Seiten des Weiblichen ein ver-rückender Exzeß möglich ist.« (Irigaray 1979.: 80)

In »Speculum« beginnt Irigaray eine solche Durchquerung des philosophischen Diskurses mit einer ausführlichen Lesung des Freud’schen Diskurses über die Weiblichkeit. Hierbei will Irigaray zeigen, wie Freuds Sexualtheorie eingeschlossen bleibt in einem Wissenschaftsdiskurs und einer Logik, die sich auf die »sexuelle Indifferenz« stützen (ebd.: 70). So definiere Freud die Sexualität der Frau »niemals durch die Beziehung zu einem anderen als

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dem männlichen Geschlecht« (ebd.: 71). Damit folge er, obwohl seine Theorie dazu beitrage, »die philosophische Ordnung des Diskurses zu erschüttern«, den Spuren einer Tradition, die von »einem Apriori des Gleichen« ausgehe (ebd.: 74). »So stellt Freud, indem er den Akzent auf das Nachträgliche, die Überdeterminierung, den Wiederholungszwang, den Todestrieb usw. setzt, oder indem er in seiner Theorie oder Praxis auf den Einschlag der unbewußt genannten Mechanismen in der Sprache des Subjekts hinweist, eine gewisse Konzeption des Gegenwärtigen, der Präsenz in Frage. Gleichwohl definiert er darin, selbst Gefangener einer gewissen Ökonomie des Logos, die sexuelle Differenz gemäß dem Apriori des Gleichen; denn um seine Beweisführung abzustützen, rekurriert er auf die überkommenen Verfahren der Analogie, des Vergleichs, der Symmetrie, der dichotomischen Oppositionen usw. Die Partei für eine »Ideologie« ergreifend, die er nicht mehr in Frage stellt, behauptet er, daß das »Männliche« das Modell der Sexualität sei, daß jede Repräsentation des Wunsches nicht umhin könne, an diesem sich zu eichen, diesem sich zu unterwerfen.« (Ebd.: 74)

Auf diese Weise sei Freud entgangen, in welcher Weise sein Diskurs des Begehrens an der Logik der »klassischen Philosophie« angebunden bleibe (Irigaray 1980: 32). In »Speculum« stellt Irigaray sich der Aufgabe, dieses Verdrängte in Freuds Texten, das sich in seiner Konzeption der Sexualität offenbare, zu entfalten. Im folgenden Kapitel werde ich einige wichtige Stellen dieser Lesung vorstellen. Zum einen, weil in ihr deutlich wird, wie die von Prengel vorgeschlagene Methode des Vergleichs eingebunden bleibt in einem Denken des Gleichen, das den Wahrheitsanspruch der Konstruktion einer binären und hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit unterstützt. Zum anderen, weil sie sich dazu eignet darin einzuführen, wie der naturalisierende und psychologisierende Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit mit der Logik der Identität und einem Denken zusammenhängt, in dem dasjenige, das der Opposition von Sein oder Nicht-Sein entgeht, unterdrückt werden muss. Damit bietet Irigarays Lesung von Freud eine erste kritische Folie für die später näher auszuarbeitende Frage an, in welcher Weise ein an dem Wert der Präsenz orientierter Wirklichkeitsbegriff unkritisch der binären Logik der Zweigeschlechtlichkeit und der mit ihr verbundenen Hierarchisierung verhaftet bleibt und warum die Problematik der Reifizierung in der Geschlechterforschung erfordert an diesem theoretischen Rahmen zu arbeiten. Aus diesem Grund konzentriert sich meine Diskussion von Irigaray auf drei Aspekte: 1.) Wie begründet Irigaray die These der sexuellen Indifferenz bei Freud und was ist mit der Behauptung gemeint, Freuds Konzeption des Geschlechts und der Sexualität folge einer »Ökonomie des Gleichen«, die versuche das Andere auf das Selbe zurückzuführen? 2.) Welche Rolle spielen nach Irigaray der Vergleich und die Analogie in Freuds Diskurs über die weibliche Geschlechtsidentität?

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3.) Abschließend werde ich Irigarays Argument erörtern, demzufolge das, was innerhalb von Freuds Erzählung über die Logik des Gleichen hinausschießt und sich nicht ontologisieren lässt mit einer Figur der Weiblichkeit identifiziert werden kann, der eine Heterogenität innewohnt, die sich jeglichem Versuch der Identifizierung entzieht.

2.3.2 Irigarays Kritik einer »Ökonomie des Gleichen« bei Freud Der Ödipuskomplex bei Freud In der Psychoanalyse ist die Persönlichkeitsentwicklung sowie die sexuelle Ausrichtung und Geschlechtsidentität bekanntlich wesentlich durch den Ödipuskomplex strukturiert. Aus Freuds Sicht gestaltet sich die männliche ödipale Phase – im vereinfachten Fall – folgendermaßen: Während der Junge für die Mutter eine Objektbesetzung entwickle, die dem Anlehnungstypus3 entspräche, bemächtige er sich des Vaters durch Identifizierung 4. Dementsprechend markiere »die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der Mutter und die Wahrnehmung, daß der Vater diesen Wünschen ein Hindernis ist« (Freud 1975 [1923]: 299) den Eintritt in den Ödipuskomplex, für den – aufgrund der Rivalitätseinstellung – eine ambivalente Haltung des Jungen gegenüber dem Vater und eine »nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter« (ebd.: 299) charakteristisch sei. Später hält Freud es auch für 3 | Unter »Anlehnung« versteht Freud, dass sich die Sexualtriebe »zunächst an die Befriedigung der Ichtriebe an(lehnen)« (Freud 1975 (1914): 54) und »sich erst später von den letzteren selbstständig (machen)« (ebd.: 54). Er geht deshalb davon aus, dass »die Personen, welche mit der Ernährung, Pflege, dem Schutz des Kindes zu tun haben, zu den ersten Sexualobjekten werden, also zunächst die Mutter oder ihr Ersatz.« (ebd: 54) Obwohl Freud in seiner Beschreibung des Ödipuskomplexes sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Verlaufsform der sexuellen Besetzung der Mutter eine Vorrangstellung einräumt, schließt er eine Objektbesetzung des Vaters nach dem »Anlehnungstypus« nicht aus: »Man liebt: 1) […] 2) Nach dem Anlehnungstypus: a) die nährende Frau, b) den schützenden Mann und die in Reihen von ihnen ausgehenden Ersatzpersonen.« (Ebd.: 56) (Zum Unterschied zwischen der Objektwahl des »narzisstischen Typus« und des Anlehnungstypus (vgl. Freud 1975 (1914) und Laplanche/Pontalis 1972: 348-350.) 4 | Diese Identifizierung, der Freud als »erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums« (Freud 1975 [1923]: 298) einen besonderen Stellenwert einräumt, geht im Gegensatz zu vielen späteren Identifizierungen nicht aus dem Verlust einer Objektbesetzung hervor, sondern erfolgt direkt und unmittelbar. Obwohl er einräumt, dass diese Identifizierung beide Elternteile betriff t, – was für die Frage der individuellen Entwicklung einer geschlechtlich bestimmten Identität ja nicht unerheblich ist – siegt letztendlich aber doch seine androzentristische Sichtweise und er beschränkt sich »der einfacheren Darstellung wegen« (ebd.: 299 Fußnote1) auf die Identifizierung mit dem Vater und tituliert sie als eine Identifizierung »mit dem Vater der persönlichen Vorzeit« (ebd.:298f.).

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möglich, dass diese Ambivalenz gegenüber dem Vater auf die Bisexualität zurückzuführen sei (ebd.: 301). Wenn der Junge aufgrund der Kastrationsdrohung, die er erst ernst nimmt, wenn er erkennt, dass das weibliche Geschlecht den Penis nicht besitzt, das Inzestverbot und die Vorrangstellung des Vaters anerkennt, gebe er, bei einem positiven Ausgang, die Mutter als Liebesobjekt auf und verstärke seine Identifizierung mit dem Vater. Seine Geschlechtsidentität gilt in diesem Fall als »gefestigt«, der Ödipuskomplex als »zerstört«, was für Freud bedeutet, dass er nicht lediglich verdrängt wurde und im Unterbewussten fortbesteht (Freud 1972 [1924]: 248), sondern dass die verbotene Elternbeziehung – ein Verbot, das der Vater vertritt – als Über-Ich internalisiert5 wurde. Während also der Kastrationskomplex den Ausgang des männlichen Ödipuskomplexes einleitet, soll die Erkenntnis »der bereits vollzogenen Kastration« den weiblichen positiven Ödipuskomplex überhaupt erst ermöglichen. Denn auch hier nimmt Freud an, dass die erste Objektbesetzung sich auf die Mutter richtet (Freud 1972 [1925]: 259), so dass die heterosexuelle Ausrichtung der positiven Verlaufsform erst mühsam hergestellt werden muss. Bekanntermaßen bedient sich Freud der Konstruktion des Penisneides, der sich auf den Wunsch nach einem (männlichen) Kind6 verschiebt, um die sexuelle Hinwendung des Mädchens zum Vater zu erklären (vgl. ebd.: 260-264). Die Lösung verläuft dann mit Ausnahme eines allerdings entscheidenden Unterschiedes analog zum männlichen Komplex, die Objektbesetzung wird aufgegeben und infolgedessen die Identifizierung mit der Mutter verstärkt. Da mit dem Wegfall der Kastrationsangst jedoch das Hauptmotiv für die Überwindung des Ödipuskomplexes fehlt, geht Freud davon aus, dass der Ödipuskomplex vom Mädchen nur langsam verlassen wird und überwiegend der Verdrängung anheim fällt. Die Folgen, Freud »zögert es auszusprechen«, sind beträchtlich:

5 | Freud weist in der betreffenden Textstelle darauf hin, dass es sich bei dem Terminus der »Zerstörung« um eine idealtypische Beschreibung handelt: »Ich sehe keinen Grund, der Abwendung des Ichs vom Ödipuskomplex den Namen einer ›Verdrängung‹ zu versagen, obwohl spätere Verdrängungen meist unter der Beteiligung des Über-Ichs zustande kommen werden, welches hier erst gebildet wird. Aber der beschriebene Prozeß ist mehr als eine Verdrängung, er kommt wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung und Auf hebung des Komplexes gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf die niemals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalen und Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht vielmehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat, dann bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später seine pathogene Wirkung äußern.« (Freud 1972 (1924): 248) 6 | Bezeichnenderweise ist es der Penisträger, auf den Freud die Wünsche des Mädchen gerichtet sehen will: »Erst mit dem Einmünden des Peniswunsches wird das Puppenkind ein Kind vom Vater und von da an das stärkste weibliche Wunschziel. Das Glück ist groß, wenn dieser Kinderwunsch später einmal seine reale Erfüllung findet, ganz besonders aber, wenn das Kind ein Knäblein ist, das den ersehnten Penis mitbringt« (Freud 1969 (1933) [1932]): 559).

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»Das Über-Ich wird niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern. Charakterzüge, die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß es weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung zur Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des Lebens, sich öfter in seinen Entscheidungen von zärtlichen und feindseligen Gefühlen leiten läßt, fänden in der oben abgeleiteten Modifi kation der Über-Ichbildung eine ausreichende Begründung.« (Ebd.: 265f.)

Neben dem anatomischen Unterschied spielt die Annahme von einer natürlich gegebenen Bisexualität eine zentrale Rolle in Freuds Erklärungsmodell der Genese der Geschlechtsidentität und der Entwicklung eines heterosexuellen Begehrens. Unter Bisexualität versteht Freud die Existenz einer primären weiblichen und männlichen psychischen Anlage, deren Begehren jeweils, wie in der späteren Lektüre von Butler deutlich werden wird, immer schon auf das entgegengesetzte Geschlecht gerichtet ist. Für Freud wird die Geschlechtsidentität damit keinesfalls erschöpfend durch den Ödipus-Komplex generiert. Vielmehr beeinflusst in seiner Theorie die Stärke dieser Anlagen durchaus die Entscheidung darüber, welche der beiden geschlechtlichen Dispositionen in dieser Entwicklungsphase verstärkt und verfestigt wird. Das Postulat einer derart gestalteten primären Bisexualität verkompliziert die Konzeption des Ödipuskomplexes beträchtlich. Denn es bietet nicht nur ein Erklärungsmuster für einen positiv gelösten Ausgang (d.h. der Entwicklung einer gleichgeschlechtlichen Identifizierung), sondern zwingt Freud auch zu der Annahme, dass die Beschreibung eines »einfachen positiven Ödipuskomplexes«, derer er sich »der Einfachheit halber« für gewöhnlich bedient, eine »Vereinfachung und Schematisierung« darstellt, in der unterschlagen wird, dass dieser in abgeschwächter Form immer auch von einem »negativen Ödipuskomplex« begleitet wird (vgl. Freud 1975 [1923]: 300-301), unter dem er die Entwicklung eines homosexuellen Begehrens und die Identifizierung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil versteht. »Dieses Eingreifen der Bisexualität«, konstatiert Freud, »macht es so schwer die Verhältnisse der primitiven Objektwahlen und Identifizierungen zu durchschauen, und noch schwieriger, sie faßlich zu beschreiben.« (ebd.: 301) Trotz dieser Problematik geht er jedoch davon aus, dass die Entwicklung des »einfachen positiven Ödipuskomplexes« in der Regel die stärkere sei und den umgekehrten Komplex überdecke. Irigarays These der sexuellen Indifferenz Aus Irigarays Sicht tritt die eigentliche »sexuelle Indifferenz« dieser Schilderung der sexuellen Entwicklung schon in Freuds Konzipierung der kindlichen Lust in den frühen Phasen der Libidoentwicklung in Erscheinung. Diese, so behauptet er in der Vorlesung »Die Weiblichkeit«, »scheinen beide Geschlechter in gleicher Weise durchzumachen.« (Freud 1969 (1933 [1932]): 549) Mit dem Eintritt in die so genannte phallische Phase, also der Phase, die nach Freud in der infantilen Sexualentwicklung auf die orale und anale Stufe folgt und in der eine – wenn auch noch unvollkommene – Zentrierung

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der Partialtriebe auf die Genitalzone stattfi nden soll, würde sich sogar eine noch größere Übereinstimmung ausmachen lassen als zuvor. »Mit dem Eintritt in die phallische Phase treten die Unterschiede der Geschlechter vollends gegen die Übereinstimmungen zurück. Wir müssen nun anerkennen, das kleine Mädchen sei ein kleiner Mann. Diese Phase ist beim Knaben bekanntlich dadurch ausgezeichnet, daß er sich von seinem kleinen Penis lustvolle Sensationen zu verschaffen weiß und dessen erregenden Zustand mit seinen Vorstellungen vom sexuellem Verkehr zusammenbringt. Das nämliche tut das kleine Mädchen mit ihrer noch kleineren Klitoris. Es scheint, daß sich bei ihr alle onanistischen Akte an diesem Penisäquivalent abspielen, daß die eigentliche weibliche Vagina noch für beide Geschlechter unentdeckt ist.« (Ebd.: 549)

Ohne Zweifel wirft diese Darstellung eine Reihe von Fragen auf, wenn man wie Freud von einer zwar bisexuellen, aber dennoch letztendlich zweigeschlechtlichen Organisation der Sexualität ausgeht: »Warum will Freud, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, daß nur die Klitoris betroffen sein soll? Und warum soll in der phallischen Phase einzig die Klitoris als erogene Zone anerkannt sein? Warum wird beim kleinen Mädchen ein Zeitpunkt ›phallische‹ Phase genannt, in dem die Entdeckung seiner eigenen erogenen Sensibilität so partiell, so armselig ist oder vielmehr sein soll? Warum die weiblichen Geschlechtsorgane um Teile beschneiden, die nicht notwendig weniger erotisierbar sind, und nur die übriglassen, die ihre Entsprechung, ihre Daseinsberechtigung im männlichen Geschlecht haben oder haben sollen? Oder eben nur jene, die der Vorstellung, die der Mann vom sexuellen Begehren haben kann, angemessen sind?« (Irigaray 1980: 34)

Folgt man Irigarays ziemlich beeindruckender Analyse von Freud, so sichert sein vergleichendes Vorgehen, das auf eine Analogie zwischen der »männlichen« und »weiblichen« Sexualität hinausläuft, in der die »angeblich männliche Lust« zum »Paradigma aller Lust« (ebd.: 32) und damit zum allgemeingültigen Maßstab erhoben wird, die Repräsentation des männlichen Selbst, das in der westlichen Philosophie immer vom Prinzip des Selben aus gedacht worden sei. Wie ist die Struktur dieser philosophischen Figur des mit sich selbst identischen Subjekts jedoch zu verstehen? Was bedeutet der strenge Anspruch der Selbstidentität für die Ausbildung subjektiven Selbstbewusstseins? Die grundlegende Problematik dieses komplexen philosophischen Unterfangens lässt sich losgelöst von allen unterschiedlichen Ausarbeitungen der Konzeption des Subjekts vielleicht folgendermaßen skizzieren: Um sich der eigenen Identität zu versichern, um überhaupt etwas über sich selbst wissen zu können, muss das (männliche) Selbst die Fähigkeit besitzen aus sich selbst herauszutreten, um zum Objekt seiner Beobachtung zu werden. Denn die Struktur des Wissens, die wesentlich von der Vorstellung des Sehens geprägt ist, verlangt nach einem Ort, einer anderen Perspektive,

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von dem aus das Objekt des Wissens ins Licht rücken kann. Ohne einen solchen reflektierenden Abstand kann das Subjekt keinen bewussten Bezug zu sich selbst herstellen. Nun wirft dieses Erfordernis offensichtlich die Schwierigkeit auf, dass das Subjekt zu sich selbst nur als ein Anderer Bezug finden kann und damit mit dem Anspruch absoluter Selbstidentität in einen Konflikt gerät. Dieses grundlegende Paradox wird in der Philosophie, dies ist Irigarays Kritik, die auch Derridas Arbeiten motiviert, zwar artikuliert, letztendlich aber in dem Versuch dieses notwendige Andere auf das Selbe zurückzuführen, unterdrückt. Irigarays Anliegen ist es, diese Ökonomie in Freuds Konzeption der Sexualität offen zu legen. Demnach erfordert das »Begehren nach dem Selben« der »überkommenen Verfahren« der »Analogie, [des] Vergleich[s], [der] Symmetrie, [der] dichotomischen Oppositionen etc.« (Irigaray 1980: 32), um ein Anderes zu konstituieren, in dem das »männliche« Selbst sich repräsentiert sehen kann ohne sich im Anderen zu verlieren. Nur, wenn es ihm gelingt das Andere unter die eigenen Attribute zu stellen und so gut wie möglich zu beherrschen kann aus Sicht von Irigaray die Teleologie des Selben aufrechterhalten werden. »Wir müssen nun zugeben: DAS KLEINE MÄDCHEN IST ALSO EIN KLEINER MANN, ein kleiner Mann, der eine schwierigere und kompliziertere Entwicklung als der Knabe durchlaufen wird, um eine normale Frau zu werden … Ein kleiner Mann mit einem zu kleinen Penis. Ein benachteiligter kleiner Mann. Ein kleiner Mann, dessen Libido ein größerer Zwang angetan wird und dessen Fähigkeit zur Triebsublimierung dennoch geringer bleibt. Dessen Ansprüche die Natur weniger sorgfältig Rechnung getragen hat und der gleichwohl nicht teilhat an der Kultur. Ein kleiner Mann, der narzißtischer ist aufgrund der Minderwertigkeit seiner Genitalorgane (?). Keuscher, weil er sich des ungünstigen Vergleichs schämt. Neidischer und eifersüchtiger, weil er weniger gut ausgestattet ist. Ohne Interesse für die sozialen Angelegenheiten, an denen die Männer teilnehmen. Ein kleiner Mann, der keinen anderen Wunsch haben kann, als ein Mann zu sein oder zu bleiben. […] Die ›Differenzierung‹ in zwei Geschlechter geht aus dem Apriori des Selben hervor: Der kleine Mann, der das kleine Mädchen ist, muß ein Mann werden, dem bestimmte – einem morphologischen Paradigma folgende – Attribute fehlen, Attribute, die geeignet sind, die Reproduktion, Spekulation und Spiegelung des Selben zu bestimmen und abzusichern. Ein Mann minus der Möglichkeit, sich als Mann zu (re-)präsentieren = eine normale Frau.« (Ebd.: 30)

Um eine Frau zu werden oder wie Freud bemerkenswerterweise formuliert, um »aus ihrer männlichen in die ihr biologisch bestimmte weibliche Phase« (Freud 1969 (1933 [1932]): 550) eintreten zu können, stößt das Mädchen, das bislang irrigerweise davon ausgeht ein kleiner Mann zu sein, auf zwei Aufgaben, die sich innerhalb der sehr viel kohärenteren männlichen Entwicklung nicht stellen. Mit »der Wendung zur Weiblichkeit soll die Klitoris ihre Empfindlichkeit und damit ihre Bedeutung ganz oder teilweise an die Vagina abtreten« (ebd.: 549f.). Neben dem Wechsel der erogenen Zone, soll

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darüber hinaus der Austausch ihres ersten Liebesobjektes gegen den Vater ihr »biologisches Schicksal« verfestigen. Doch zunächst lenkt Irigaray die Aufmerksamkeit auf eine Textstelle, die die männliche Entwicklung betriff t und der sie ebenfalls einen hohen Beweiswert einräumt, um ihre These von der »sexuellen Indifferenz« der Freud’schen Psychoanalyse zu untermauern. Um eine dominierende heterosexuelle Ausrichtung seiner vorgeblich bisexuellen Anlagen zu erreichen bleibt es dem Jungen nicht nur erspart zu einem Liebesobjekt des anderen Geschlechts zu wechseln, sondern »durchs ganze Leben hindurch«, so Freud, soll die Mutter das erste Liebesobjekt bleiben. »Das erste Liebesobjekt des Knaben ist die Mutter, sie bleibt es auch in der Formation des Ödipuskomplexes, im Grunde genommen durchs ganze Leben hindurch.« (Freud 1969 (1933 [1932]): 550) »Wenn der Mann während seines ganzen Lebens an sein erstes Liebesobjekt, seine Mutter, fi xiert bleibt«, fragt Irigaray, »was wird dann die Funktion der Frau in seiner Sexualökonomie sein?« (Irigaray 1980: 36) »Wenn die Frau, um dem Begehren des Mannes zu genügen, die Rolle seiner Mutter spielen, sich mit ihr identifizieren muß« (ebd.: 36) bedeutet dies im Grunde genommen, so der zentrale Gedanke ihrer scharfsinnigen Argumentation, die kulturelle Auslöschung des Unterschieds zwischen weiblicher Sexualität und Mutterschaft. Aus dieser Sicht artikuliert der Ödipuskomplex nicht den Unterschied zwischen den Geschlechtern, weil es innerhalb dieser Erzählung keine Beziehung zwischen den Geschlechtern gibt. Vielmehr reduziert sich der unterliegende Strang der Erzählung auf eine einzige Thematik, die auf unterschiedlichen Ebenen wiederkehrt: Die Beziehung zwischen dem Sohn-Liebhaber und der Mutter-Frau. Die Geschichte des Mädchens/der Frau, dem/der die ganze »Arbeit des Werdens der Sexualität« (ebd.: 36) zukommt, besteht im Grunde genommen darin eine Mutter zu werden, die dem männlichen Ödipus sein erstes Liebesobjekt ersetzt und ihn zurückkehren lässt zu seinem »ursprünglichen Begehren«. Über den Penisneid soll das Mädchen zum Vater gelangen und damit vom Penisneid zum Kinderwunsch. Verschiebt es später diese Besetzung auf einen anderen Mann, muss es, innerhalb dieser Logik, »um dem Begehren des Mannes zu genügen, die Rolle seiner Mutter spielen« (ebd.: 36). »Es ginge also für die Frau darum, auf ihr erstes Liebesobjekt zu verzichten, um sich dem des Mannes anzugleichen, keinen anderen Wunsch zu haben als jenen, dem nie aufgegebenen Liebesobjekt des Mannes so ähnlich wie möglich zu sein, da seine Lust an den erfolgreichen Verlauf dieser Operation gebunden ist. Es wäre also nur ein Liebes- oder Lustobjekt im Spiel, keine wechselseitige Beziehung, kein Spielen zwischen zwei Begehren. Das erklärt übrigens, warum Freud von einem ›Objekt‹ der Lust sprechen kann.« (Ebd.: 37)

Für Irigaray folgt Freud damit einem monistischen Modell des Begehrens, das immer vom Penis/Phallus aus und im Hinblick auf ihn gedacht wird,

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angefangen mit der Behauptung einer phallischen Phase, in der das »Primat des Phallus« (Freud 1972 [1923]: 238) für beide Geschlechter gleichermaßen das Verhältnis zu ihren Genitalien bestimmt, bis hin zu der Konzeption des weiblichen Begehrens als eines, das darauf zielt dem Vater ein (männliches) Kind zu gebären. Die Position der kastrierten Frau als das notwendig Andere in der Konstitution männlicher Selbstrepräsentation In welcher Weise soll nun aber diese Ordnung des Begehrens die Selbstrepräsentation des männlichen Selbst so absichern, dass es sich nicht als ein Anderes in der Repräsentation verliert? Um »das Wunsch-Diskurs-Gesetz- des männlichen Begehrens« (Irigaray 1980: 50) zu durchlaufen, um also den von Freud gesetzten Entwicklungsschritt zu vollziehen, der das Mädchen in die ihm »biologisch bestimmte« (Freud (1969 (1933 [1932]): 550) Phase des Begehrens nach dem Vater versetzen soll, muss es die frühe Liebesbeziehung zur Mutter aufgeben. »Es geht also für die Frau«, kommentiert Irigaray, »um die Abschaff ung der Repräsentation und des Signifi kanten einer bestimmten Zeit in ihrer Libidoökonomie, und zwar nicht der unwichtigsten, denn in ihr werden die Spuren ihrer Frühzeit durch ihre Neuprägung gelöscht.« (Irigaray 1980: 51). Die präödipale Vorzeit des Mädchens für die eine, wie Freud selbst einräumt, intensive, lang dauernde und inhaltsreiche Bindung mit der Mutter charakteristisch sei, müsse, wie Freud wiederum selbst anmerkt, unerbittlich verdrängt werden (vgl. ebd.: 40 und 51)7. Was aber kann aus seiner Sicht stark genug sein eine solche Verdrängung hervorzurufen? Was soll das Mädchen dazu bewegen eine solch reichhaltige Liebesbeziehung aufzugeben und sie durch die Beziehung zum Vater zu ersetzen? »Wir werden jetzt unser Interesse auf die eine Frage richten, woran denn diese mächtige Mutterbindung des Mädchens zugrunde geht. Wir wissen, das ist ihr gewöhnliches Schicksal; sie ist dazu bestimmt, der Vaterbindung den Platz zu räumen. Da stoßen wir auf eine Tatsache, die uns den weiteren Weg weist. Es handelt sich in diesem Schritt der Entwicklung nicht um einen einfachen 7 | Leider geht Irigaray nicht der Frage nach, was es für ihre Behauptung des phallozentrischen Charakters von Freuds Sexualökonomie bedeutet, dass Freud in demselben Text an einer anderen Stelle davon spricht, dass »fast alles, was wir später in der Vaterbeziehung finden […]« schon in der Mutterbeziehung vorhanden war und »[…] nachher auf den Vater übertragen worden« (Freud zit.n. Irigaray 1980: 40) ist. Könnte dies nicht implizit bedeuten, dass entgegen Freuds späterer Vermutung, das Mädchen müsse die präödipale Phase unerbittlich verdrängen, um der ihr »vorbestimmten« biologischen Entwicklung zu folgen, dass diese Verdrängung nicht vollkommen funktionieren können darf, so dass das Begehren nach dem Vater nicht im Gegensatz zu dem Begehren nach der Mutter stehen kann? Und dass Freuds Darstellung damit weniger kohärent einer phalluszentrierten Ökonomie folgen kann, als Irigarays Zuschnitt von Freud zugibt?

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Wechsel des Objekts. Die Abwendung von der Mutter geschieht im Zeichen der Feindseligkeit, die Mutterbindung geht in Haß aus. Ein solcher Haß kann sehr auff ällig werden und durchs ganze Leben anhalten.« (Freud 1969 (1933 [1932]): 552) »Ich meine die Diskussion dieser Möglichkeiten [Freud hat zuvor einige mögliche Erklärungen diskutiert, warum die Liebe der Tochter in Haß umschlagen soll S.M.] könnte sehr interessant werden, aber da stellt sich plötzlich ein Einwand ein, der unser Interesse in eine andere Richtung drängt. Alle diese Momente, die Zurücksetzungen, Liebesenttäuschungen, die Eifersucht, die Verführung mit nachfolgendem Verbot, kommen doch auch im Verhältnis des Knaben zur Mutter zur Wirksamkeit und sind doch nicht imstande, ihn dem Mutterobjekt zu entfremden. Wenn wir nicht etwas finden, was für das Mädchen spezifisch ist, beim Knaben nicht oder nicht so vorkommt, haben wir den Ausgang der Mutterbindung nicht erklärt. Ich meine, wir haben dies spezifische Moment gefunden, und zwar an erwarteter Stelle, wenn auch in überraschender Form. An erwarteter Stelle sage ich, denn es liegt im Kastrationskomplex. Der anatomische [Geschlechts] Unterschied muß sich doch in psychischen Folgen ausprägen. Eine Überraschung war es aber, aus den Analysen zu erfahren, daß das Mädchen die Mutter für seinen Penismangel verantwortlich macht und ihr diese Benachteiligung nicht verzeiht.« (Ebd.: 555)

Wie Irigaray anmerkt, eröff net dieser Rückgriff auf das Anatomische eine Erklärung für eine »psychische Ökonomie«, »in der keine andere Mimesis denkbar wäre als die einer so verstandenen ›Natur‹« (Irigaray 1980: 56). Demnach lässt der »Anblick eines weiblichen Genitales« nur den einen Schluss zu, dass das »so hoch geschätzte Glied nicht notwendig mit dem Körper beisammen sein muß.« (Freud 1969 (1933 [1932]): 555 Hervorh. i. Orig. S.M.) Und dieser vorgeblich von Anfang an als Mangel und Faktum begriffene »anatomische [Geschlechs]Unterschied« (ebd.: 555) soll, so beschreibt es Freud, mit dem Augenblick seiner Betrachtung in einen psychischen Unterschied umschlagen, so dass man hier durchaus von einem mimetischen Verhältnis zwischen Anatomie und Psyche sprechen kann: »Auch der Kastrationskomplex des Mädchens wird durch den Anblick des anderen Genitales eröff net. Es merkt sofort den Unterschied und – man muß es zugestehen auch seine Bedeutung. Es fühlt sich schwer beeinträchtigt, es äußert oft, es möchte ›auch so etwas haben‹ und verfällt nun dem Penisneid, der unvertilgbare Spuren in seiner Entwicklung und Charakterbildung hinterlassen, auch im günstigsten Fall nicht ohne schweren psychischen Aufwand überwunden werden wird.« (Ebd.: 555f.)

Welche Rolle, so fragt Irigaray, spielt bei dieser Konstruktion des weiblichen Genitales als des verstümmelten Abbilds des männlichen Vorbildes oder besser als der Negation des männlichen Eigentums, sprich des Mangels, die Struktur des Blicks, die Freuds Beschreibung der Szene der Kastration beherrscht? Und welche Rolle spielt in dieser Beschreibung eines »solche[n] sze-

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nische[n] Wiederentdecken[s] im Sprechzimmer des Psychoanalytikers Freud« (Irigaray 1980: 57) die Position des Analytikers und Erzählers dieser Szene? »Gleichwohl sollte man sich hier die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen dem Blick, den Blicken einerseits und der sexuellen Differenz andererseits stellen, denn, wie er uns sagt, muß man sehen, um zu glauben. Also nicht sehen, um wieder zu sehen? Sicher … Aber schließlich … Oder haben sich hier die Macht und die Differenz (?) gänzlich in den Blick, in die Blicke verlagert? Wird Freud deshalb sehen, ohne gesehen zu werden? Ohne beim Sehen gesehen zu werden? Ohne über die Macht seines Blickes befragt zu werden? Rührt daher der Neid auf die Allmacht dieses Blicks, dieses Wissens? Über das Geschlecht? Der Neid, über die Eifersucht auf das Penis-Auge, den phallischen Blick? Er wird sehen können, daß ich ihn nicht habe, darüber entscheiden, in einem AugenBlick. […] Der Einsatz in diesem Spiel wäre somit von Anfang an der Blick. Und man sollte es tatsächlich nicht vergessen, daß jedenfalls für Freud die ›Kastration‹, das Wissen von der und über die Kastration sich dem Blick verdanken. Der Blick, schon immer im Einsatz …« (ebd.: 57).

Tatsächlich kann man an dieser Schlüsselstelle der psychoanalytischen Erzählung des Erwerbs einer männlichen und weiblichen Psyche sehen, wie Freud sich hier implizit von einer Struktur des Wissens leiten lässt, die einen Wert von Präsenz für sich in Anspruch nimmt, der aus der Unterstellung eines Zusammenfalls von geistiger Auffassung und Sehen resultiert. Das Wissen über die Minderwertigkeit des eigenen Geschlechts soll sich angeblich unmittelbar mit dem Anblick der ›kastrierten Mutter‹ einstellen. Ein Urteil, in dem der Wert des Phallus von keiner anderen Repräsentation abzuhängen scheint, sondern vielmehr losgelöst von solchen Zusammenhängen qua unmittelbarer geistiger Auffassung festzustehen scheint. Ein spontanes Urteil, das Freud mit der Analysandin teilt. Ein Urteil, das ihm direkt einsichtig ist, weswegen sich ihm die Frage nach den Bedingungen ihrer Erzählung in der psychoanalytischen Behandlung an dieser Stelle nicht stellt. Was sich dem Blick aus der Sicht von Freud bietet, »die Tatsache ihres Penismangels« (Freud 1969 (1933 [1932]): 556) und der hieraus angeblich resultierende Penisneid, diese Konzeptionen des weiblichen Körpers fungieren für Irigaray als »Repräsentanten des Negativen« in einer phallozentrischen Dialektik (Irigaray 1980: 64), die von dem Begehren nach dem Selben bestimmt ist. Ebenso wie Freuds Beschreibung der kindlichen Sexualökonomie in der präödipalen Phase, dies macht Irigaray deutlich, ist der »Kastrationskomplex« durch einen einzigen Wert und ein einziges Begehren nach diesem Wert strukturiert. Demnach bestätigt der weibliche Neid auf den Penis die narzisstische Besetzung des männlichen Geschlechts und stabilisiert eine Sexualökonomie, in der der Frau kein eigenes Begehren zukommt. »Für Freud freilich«, so schreibt Irigaray, »löst sich die sexuelle Differenz letztlich im Mehr oder Weniger eines Geschlechts auf: dem Penis. Und das ›andere‹ des Geschlechtlichen ist darauf reduziert, ›es nicht zu haben‹.« (Ebd.: 63)

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In welcher Weise dient jedoch diese Darstellung »weiblicher Sexualität« in den Termini der »Umkehrung« und des »Negativen« dem System »männlicher Selbstpräsentationen«? Inwiefern steht das »Werden der Frau« im Dienst der Projektion und Repräsentation des Selbstbildes des Mannes? »Wenn die Frau andere Begehren hätte als solche, die zum ›Penisneid‹ gehören, dann wäre der Spiegel, der dem Mann sein Bild – obwohl umgedreht – widerspiegeln soll, in seiner Einheit, in seiner Einheitlichkeit in Frage gestellt. In seiner Simplizität, Flachheit. Der ganze Spiegelungs- und Spekulationsprozeß, den sein Begehren – das Begehren – ins Spiel bringt wäre nicht mehr planbar.« (Ebd.: 62)

Die Figur der Frau als der »spiegelverkehrten« Darstellung des Mannes, dies legt Irigarays Gebrauch der Metapher des Spiegels nahe, liefert den narzisstischen Phantasien des Mannes eine Projektion und Repräsentation von ihm selbst, in der er zwar Gefahr läuft sich zu verlieren, denn es handelt sich ja um ein Negativbild, aus der er letztendlich aber gestärkt hervorgeht. Über den Weg der Kastrationsdrohung, die durch die Frau repräsentiert wird, findet das männliche Subjekt zum Über-Ich, einer Instanz, von der Freud betont, dass sie »allen Ansprüchen genügt, die an das höhere Wesen im Menschen gestellt werden« (Freud 1975 [1923]: 304). Diese dialektische Bewegung in der Freud’schen Darstellung der Sexualentwicklung bezeichnet Irigaray als die »›Auf hebung‹ des Negativen durch (und für) die männliche Sexualität in der Sublimation(?) des Penis, wobei das Geschlecht, Geschlechtliche in vom PHALLUS beherrschte Repräsentationen, Ideen, Gesetze erhoben, aufgehoben wird« (Irigaray 1980: 64). Mit der Instanz des »Über-Ichs«, das »aus dem Scheintod des Begehrens nach der Mutter hervorgeht« (ebd.: 101) erhielte das männliche Subjekt eine Instanz der »Selbstbeobachtung« und »Selbstprüfung«, die ihn in seinem Urteil und Selbstbild – zumindest oberflächlich betrachtet – unabhängig mache von »dem Blick des anderen, der durch die Differenz des Blickwinkels notwendigerweise bedrohlich ist« (ebd.: 102). Insofern das Über-Ich nach Freud »ein Residuum der ersten Objektwahlen des Es« bildet (Freud 1975 [1923]: 301), womit eine Idealisierung dieser Objekte einhergeht, fasst Irigaray diese selbstreflexive Instanz als einen »Schutzschirm« auf, der »dem Subjekt seinen ›eigenen‹ Blick zurückwirft« (Irigaray 1980: 102) und ihm die Kraft verleiht über sich selbst zu richten: »Besser als eine Mutter ist also die Ausarbeitung der Idee von der Mutter, eines Mutterideals, die Transformation der realen ›natürlichen‹ Mutter in ein Ideal der Mutterfunktion, ein Ideal, das ihnen niemand jemals wegnehmen kann. […] Besser als der Gehorsam gegenüber einzelnen und daher partiellen, von bestimmten Individuen – den Vätern zum Beispiel – erteilten Befehlen ist die Bildung des ›Gewissens‹, das, indem es das Wesen und die Universalität der ›Dinge‹ erfasst, dem Mann das adäquate Verhalten in jeder Situation vorschreibt, SelbstVorschrift ist; transzendierende, im ›Innern‹ verankerte Gesetze, die den Mann

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zum Richter und Kläger über den Gang seines Schicksals, ja das der ›Welt‹ machen.« (Ebd.: 101f.)

Hierbei verberge die im Szenario des ödipalen Dramas kursierende »Idee von der Frau«, sprich die Unterwerfung ihres »Geschlechts« unter das Primat des Phallus (der ihr zugeschriebene Status der Kastrierten) und die Auslöschung »ihres Begehrens« in der Identifizierung von »Weiblichkeit« und »Mütterlichkeit«, das Begehren »nach dem Geschlecht einer Frau« (ebd.: 102 Hervorh.i. Orig. S.M.). Dieser »metaphorische Schleier des ewig Weiblichen« (ebd.: 102) sichere das »männliche« Geschlecht, das einzige Geschlecht, das in dieser Bedeutungsökonomie im Spiel sei, und damit auch das »Recht des Blicks über alles …« (ebd.: 102). Während die Negation des Weiblichen dem Mann einen reflexiven Abstand zu sich selbst garantieren soll, bleibt die Frau durch die »Auslöschung eines eigenen Begehrens« und die Identifizierung der Figur der Mutter mit der der Frau in dem Zirkel ihrer Identität, ohne eine Möglichkeit der Repräsentation, gefangen. Freud lässt dem Mädchen aus Sicht von Irigaray kein mögliches Objekt, das ihm/ihr ähnlich genug ist, sich in ihm widerzuspiegeln, aber verschieden genug einen reflexiven Abstand zu einem weiblichen Selbst zu ermöglichen. Vielmehr muss sie die Position des Objektes einnehmen und akzeptieren, dass es für sie innerhalb dieser Lustökonomie keine mögliche Subjektposition gibt, die nicht schon durch das Begehren nach dem Phallus bestimmt ist: Um den Schritt der Wende zum Vater, der nach Freud ja gleichzeitig die Abwendung von der Mutter einschließt, vollziehen zu können, muss das Mädchen zunächst die ›Minderwertigkeit‹ ihres eigenen (anatomischen) Geschlechts bejahen: »Denn für das Mädchen, die Frau geht es darum, ›ihre narzißtische Wunde‹ ›gleichsam als Narbe‹ anzuerkennen. Sie muß sich dieser ›Benachteiligung‹, die das anatomische Schicksal für sie vorgesehen hat, beugen, sie muß sich mit dem daraus entstehenden ›Minderwertigkeitsgefühl‹ einrichten und soll dank der ›mit dem Penisneid verknüpften narzißtischen Kränkung‹ in den Ödipuskomplex ›eintreten‹.« (Ebd.: 108)

Insofern das Mädchen damit »keinerlei ›narzißtisches Interesse‹ hat, sein Begehren nach dem Vater zu verdrängen« (ebd.: 109), verlässt es den Ödipuskomplex laut Freud nur langsam und mit dem bekannten Ausgang. Innerhalb dieses Szenarios, das ist ein wichtiger Punkt in Irigarays Interpretation, bleibt dem Mädchen nur der Vater, um eine »Befriedigung und Stärkung des weiblichen Narzissmus«8 zu bewirken, »ganz nach seinem Wohlwollen und stets im Namen des Phallus natürlich.« (Ebd.: 109) Denn von der ödipalen 8 | Hierzu steht nicht im Widerspruch, dass Freud der erwachsenen Frau einen starken »weiblichen Narzissmus« zuschreibt (vgl. Freud 1975 (1914): 55f.). Denn auch die spätere »körperliche Eitelkeit des Weibes« und ihr ausgezeichnetes Liebesbedürfnis, das Freud der Frau zuschreibt interpretiert er als eine »Wirkung des Penisnei-

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Liebe zur Mutter, die in dieser Phase der weiblichen Entwicklung ja idealerweise verworfen werden soll, hat es keine narzisstische Befriedigung mehr zu erwarten. Im Gegenteil: Um das Telos der ihr »vorbestimmten« Sexualfunktion zu erfüllen, muss es die bislang »inhaltsreiche« und »intensive« libidinöse Bindung an die Mutter aufgeben und sogar in ihr Gegenteil verkehren. So wie der Sohn an eine lebenslange Liebe für die Mutter gebunden sein wird, ist es – zumindest teilweise – der Hass, der laut Freud fortan die Beziehung der Tochter zur Mutter bestimmen soll (vgl. Freud 1969 (1933 [1932]): 552). Mit diesem erzwungenem Objektwechsel bleibt ihr nach Irigaray aber keine Möglichkeit mehr ein Verhältnis zu ihrem eigenem Geschlecht herzustellen. Und auch die weitere Entwicklung, die Freud für sie vorgesehen hat, das Ersetzen des Penisneides durch den Wunsch nach einem (männlichen) Kind, und das Begehren dem Mann die Mutter zu ersetzen, verhindert eine solche Möglichkeit. Denn damit bleibt der Tochter – strukturell betrachtet – weder ein Bezugspunkt zu etwas anderem, in dem es sich repräsentiert sehen könnte, noch die Möglichkeit eine vorstellende oder repräsentierende »Beziehung zu ›ihrem‹ Ursprung« (Irigaray 1980: 50) herzustellen. Hierbei geht Irigaray davon aus, dass die frühe Mutter-Kind Beziehung durch die Phantasie einer früheren Einheit mit der Mutter geprägt sei und dass diese Phantasie die Matrix jedes späteren Begehrens bilde. So sieht sie in der von Freud behaupteten unersättlichen Lust nach der (verlorenen) Mutterbrust9 eine Metapher für einen ursprünglichen Verlust der »materiellen Kontiguität mit dem Innern des Körpers der Mutter« (Irigaray 1980: 48 im Original hervorgeh.), auf den sich jede spätere Ökonomie der Lust – sei es oral, anal oder phallisch – »beziehen muß« (ebd.: 48)10. Aufgrund der singulären Konzeption der Lust garantiere die Freud’sche Konstruktion »Mutter-Frau«, die ja durchaus einem stark verbreiteten kulturellen Denkmuster folgt, aber nur dem »männlichen Subjekt« ein »repetierendes-repräsentierendes« Verhältnis zu seinem vorgeblichen »Ursprungs-Ort« herzustellen. Die Frau hingegen bleibe aufgrund der ihr zugeschriebenen Funktion der Mutter in der Rolle eines Objektes, dem der Bezug zu seinem »eigenen« Ort verwehrt bleiben muss. Während die phalluszentrierte Ökonomie der Lust es dem Jungen ermöglichte zu phantades«, »eine späte Entschädigung für die ursprüngliche sexuelle Minderwertigkeit« (Freud 1969 (1933 [1932]): 562). 9 | »Der Vorwurf gegen die Mutter, der am weitesten zurückgreift«, behauptet Freud, »lautet, daß sie dem Kind zu wenig Milch gespendet hat, was ihr als Mangel an Liebe ausgelegt wird. Nun hat dieser Vorwurf in unseren Familien eine gewisse Berechtigung. […] Aber was immer der wirkliche Sachverhalt gewesen sein mag, es ist unmöglich, daß der Vorwurf des Kindes so oft berechtigt ist, als man ihm begegnet. Es scheint vielmehr, daß die Gier des Kindes nach seiner ersten Nahrung überhaupt unstillbar ist, daß es den Verlust der Mutterbrust niemals verschmerzt.« (Freud 1969 (1933) [1932]: 553) 10 | Zu einer Kritik der zeitlichen Erzählstruktur einer solchen Phantasie der »ursprünglichen« Einheit mit der Mutter vor dem Eintritt in die Sprache vgl. Butler (Butler 1991: 121f.).

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sieren die frühere Kontiguität mit der Mutter wiederherzustellen (erneut in sie einzudringen), sich aus ihr zurückzuziehen (und damit den Abstand zu gewinnen »zu sehen, zu erkunden, was hier geschieht«) und sich hier zu reproduzieren (einer Reproduktion, aus der er, insofern er sich in seinem Sohn wieder erkennen kann, als derselbe hervorgeht), wird das Mädchen, das in der phallischen Phase ebenfalls der Phantasie nachgeht der Mutter »ein Kind zu machen« und ihr »eines zu gebären« nicht nur gezwungen sich von der Mutter als Liebesobjekt abzuwenden, sondern auch auf den Platz der Statthalterin »männlicher« Ursprungsphantasien verwiesen (vgl. ebd.: 94): »Als Knabe möchte man, von Beginn der phallischen Phase an, zum Ursprung zurückkehren, sich zum Ursprung wenden. Und das heißt: die Mutter besitzen, in die Mutter, den Ursprungsort eindringen, um hier den Zusammenhang mit ihr wiederherzustellen, um zu sehen, zu erkunden, was hier geschieht. Und auch, um sich hier zu reproduzieren. Ist man als Mädchen zur Welt gekommen, sieht das Problem anders aus. Für sie, die keinen Penis hat, bleibt der Ursprungsort unerreichbar: Es ist keine Rückkehr in ihn, keine Hinwendung zu ihm möglich. Das Mädchen, die Frau wird auf andere Weise eine Ökonomie des Urbegehrens (nach dem Ursprung) fi nden: sie wird der Ort der Erneuerung des Ursprungs, seiner Re-Produktion, der Reproduktion. Sicher, auf diese Weise erneuert sie nicht ›ihren‹ Ursprungsort, ›ihren‹ Ursprung.« (Ebd.: 49)

Insofern Frauen innerhalb dieses Schemas den statthaltenden Platz »männlicher Ursprungsphantasien« einnehmen, bleibt es ihnen – weil sie innerhalb dieser Anordnung gesehen werden, aber sich selbst nicht in einem Anderen, von ihnen Verschiedenem sehen können – verwehrt ein Verhältnis zu dem zu entwickeln, was Irigaray das »Urbegehren (nach dem Ursprung)« (ebd.: 50) nennt, das eine Erneuerung und Repräsentation des eigenen Ortes zuließe. Indem Frauen darauf verwiesen würden die »Stelle« der Mutter einzunehmen, also dieselbe Stelle (eine Position, die streng betrachtet innerhalb der Identitätslogik nur »durch eine Art Tötung ihrer Mutter und durch Auslöschen der Beziehung der Frau zur Mutterschaft« (ebd.: 94) erreicht werden kann), blieben sie zumindest idealerweise in einem Schema der Identifi kation eingeschlossen, das im Gegensatz zu der Konzeption männlicher Subjektivität keine Repräsentation des »eigenen Selbst« erlaube. Das Überschreiten der Ökonomie des Gleichen in der Figur der kastrierten Frau In diesem durch nur »ein einziges Geschlecht« und »ein einziges Begehren« bestimmten Repräsentationssystem, in dem die »Frau« auf den Platz der Mutter verwiesen bleibt, gibt es also nach Irigaray keinen »möglichen Ort der Weiblichkeit«. Vielmehr bilde das, was innerhalb dieses Diskurses als Weiblichkeit in Erscheinung trete, lediglich eine Spiegelfläche für das »männliche Subjekt« und bleibe auf die Figur der Umkehr und des Negierens beschränkt. Der »Spiegel« selbst bleibe – zumindest idealerweise – »blank und frei von entstellenden Reflektionen. Unberührt von Kopien

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eines eigenen Selbst. Ein Anderer nur deshalb, weil er lediglich im Dienst des Subjekts selbst steht, dem er seine Oberfläche präsentiert, unschuldig und unwissend über sich selbst.« (Ebd.: 172) In dieser Funktion des Spiegels, die dem »Weiblichen« zugeschrieben wird, offenbart sich aber, wie Irigaray zeigt, auch die potenzielle Krise des phallozentrischen Systems, weswegen sich der »Spiegel« auch nur idealerweise auf seine Funktion des bloßen Reflektierens, ohne eigenen Beitrag, reduzieren lässt. Denn der Penisneid und die Kastrationsdrohung spielen eine äußerst ambivalente Rolle in dem ödipalen Szenario, der Schlüsselstelle der psychischen Entwicklung in der Psychoanalyse. Zwar soll der Penisneid dem Mann versichern, dass er den »Phallus« hat, die Kastrationsdrohung jedoch, repräsentiert durch die »Anatomie« der Frau, führt nicht nur zu dem »Verlassen« des Ödipuskomplexes und damit zu der Instanz des Über-Ichs, sie stellt auch eine permanente Bedrohung des so entstehenden »männlichen Selbst« dar: »Die Möglichkeit, daß er den Penis verlieren könnte, daß man ihn ihm abschneiden könnte, fi ndet ihre reale Begründung in der (biologischen) Tatsache des Kastriertseins der Frau. Die Angst ihn nicht, ihn nicht mehr zu haben, repräsentiert sich in der anatomischen Amputation der Frau, in ihrem Gekränktsein darüber, kein Geschlecht zu haben, und in ihrem entsprechenden ›Verlangen‹ es sich anzueignen. Die Repräsentation des weiblichen Genitales unterstützt somit das für die Kastrationsangst charakteristische Empfinden, ihn nicht mehr zu haben. Das Verlangen der Frau, ihn haben zu wollen, bestätigt dagegen den Mann in der Gewissheit, daß er ihn noch immer hat: so wie es ihn allerdings auch an das Risiko erinnert – notwendige Klausel für die Fortsetzung des Spiels –, daß sie ihn ihm wegnehmen könnte.« (Ebd.: 63)

Wenn jedoch die Figur der Frau gleichzeitig als die Bestätigung des Besitzes und als die notwendige Erinnerung an die Möglichkeit des Verlustes fungiert, schießt sie auch notwendigerweise über die »Ökonomie des Gleichen« hinaus, in der das Andere immer auf das Selbe zurückgeführt wird. Zum einen, weil die vermeintliche Einheit des männlichen Subjekts immer schon bedroht ist, wenn die Bestätigung nicht ohne diese Drohgebärde zu haben ist 11. Zum anderen, und hierauf liegt bei Irigaray das größere Gewicht, weil sie Freuds Konzeption des weiblichen Genitals als das schreckerzeugende Negativbild des männlichen Genitales als eine Metapher versteht, die sich nicht vollkommen von der dem männlichen Blick inhärenten Logik vereinnahmen lässt und deshalb in der den Wissenschaftsanspruch niemals aufgebenden Psychoanalyse ein »Rätsel« hinterlässt, zu dem Freud sich in zahlreichen Texten bekannt hat: dem »Rätsel« der Weiblichkeit, das die Psychoanalyse nicht aufzuklären vermag. »Das Mädchen«, so schreibt Irigaray 11 | In Körper von Gewicht argumentiert Judith Butler konsequenterweise, dass der Penisneid als eine Voraussetzung der Kastrationsdrohung betrachtet werden müsse und damit der Penisneid nicht eine einfache Umkehrung der Kastrationsangst darstelle (vgl. Butler 1995: 141).

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in ihren Ausführungen zum Kastrationskomplex, »wird dem Blick nichts bieten können. Was sie bietet, anbietet, ist die Möglichkeit eines Nichts-zuSehen. Jedenfalls das Nichts einer Penis-Form oder eines Penis-Substituts. Stattdessen Fremdes, Unheimliches, in dem der Blick sich verliert.« (Ebd.: 57) Dieses »Unheimliche«, so Irigaray weiter, ist aber »nicht durch einen Augen-Blick zu meistern.« Und zwar, weil, so verstehe ich Irigaray, das weibliche Genital, innerhalb von Freuds Schema des Ödipus, etwas repräsentieren muss, das die Wirksamkeit der Kastrationsdrohung gewährleistet und sich nicht restlos in den männlichen Narzissmus und die ihm zugrunde liegende Bedeutungsökonomie integrieren lassen darf. Denn wie wirkungsvoll wäre der Schreck in dieser Geschichte, wenn er sich auf einen Anblick bezöge, der sich vollkommen in das phallozentrische Selbstbild integrieren/ assimilieren ließe? Dementsprechend fungiert die Figur der Frau für Irigaray als (Vorstellungs-)repräsentanz der Todestriebe: »In dem sich fortzeugenden Begehren nach dem Selben wird der Tod zum einzigen Repräsentanten des Außerhalb, des Heterogenen, eines anderen: Die Frau übernimmt die Funktion des Repräsentanten des Todes (des Geschlechts), der Kastrierung, über die der Mann sich, sofern es sich machen läßt (Hervorh. i. Orig. S.M.), die Herrschaft, die Unterwerfung gewährleisten wird, indem er im Koitus über die (Todes-)Furcht triumphiert, indem er sich die Lust erhält, trotz oder dank dem Schrecken vor der Berührung mit dieser Abwesenheit, dieser Abtötung des Geschlechts, die die Frau herauf beschwört.« (Ebd.: 30f.)

Aber das Phantasma der Kastration darf sich nicht vollkommen beherrschen lassen, setzt es doch das Spiel der »männlichen« Selbst(-reflektion) überhaupt erst in Gang und erhält es. Dies ist der Grund dafür, dass der »Penisneid« zwar erhält, »was sich in dieser Spekulation und Spiegelung verlieren könnte«, dass die Figur der Frau aber gleichzeitig »an diesen Rest, der in den Spiegeln verschwindet« (ebd.: 67), erinnert. Und diese Erinnerung, die innerhalb der Freud’schen Darstellung der Sexualität unterdrückt werden muss, kann nicht vollkommen ausgelöscht werden. Problematischerweise setzt Irigaray dieses irreduzible Außen der phallozentrischen Ordnung jedoch mit einer »eigentlichen« Weiblichkeit und »sexuellen Differenz« gleich, die sie als dasjenige betrachtet, das innerhalb des phallozentrischen Bedeutungssystems verdrängt werden muss. »Die Sexualität der Frau ist […] das am wenigsten reduzierbare Unheimliche.« (Ebd.: 58) In ihrem Versuch Freuds Diskurs über die Weiblichkeit erneut mimetisch zu durchqueren, das heißt die in diesem Diskurs der Psyche der Frau zugewiesene Mimesis ihrer angeblichen Anatomie kritisch zu wiederholen, beschreibt sie die weibliche Sexualität dementsprechend als einen unaufhörlichen »Verweis des (der) Einen auf das (die) Andere«, einen »Stil« oder eine »Schrift« der Frau, deren »Eigentliches« darin bestehe, dass es »niemals in der möglichen Selbstidentität irgendeiner Form innehält.« (Irigaray 1979: 81) Aus diesem Grund weist Irigaray zumindest in ihren frühen Schriften »Speculum« und »Das Geschlecht das nicht eins ist« jeglichen

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Versuch zurück »Weiblichkeit« begrifflich zu fassen und definitorisch zu bestimmen. Eine Zurückweisung, die sie selbst in ihren späteren positivierenden Beschreibungen der weiblichen Sexualität immer wieder zu durchbrechen scheint und die vielleicht schon in ihrer Konzeption der »ursprünglichen Kontiguität« mit der Mutter angelegt waren.

2.3.3 Der »Unbestimmbarkeit von Weiblichkeit« Rechnung tragen … Damit schlägt Irigarays kritischer Diskurs über die Weiblichkeit bei Freud in ein prekäres Unternehmen um. In ihrem eindrucksvollen Stil skizziert sie in »Speculum« die Asymmetrie in Freuds auf den ersten Blick symmetrischer Darstellung der Entwicklung der Geschlechtsidentität und deckt hierbei auf, dass sich unter dieser scheinbaren Symmetrie ein analogisierendes Vorgehen verbirgt, in dem der Wert der Weiblichkeit durch den der Männlichkeit bestimmt wird. Mit dieser Analyse der diskursiven Stilmittel Freuds, der Analogie, des Vergleichs, der Dichotomie usw. lenkt sie den Blick auf die Verbindung zwischen dem Phallozentrismus und den philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen. Hierbei zeigt sie, wie Freuds Konzeption der Geschlechterdifferenz, obwohl seine Theorie der Psyche in Aspekten wie dem der Nachträglichkeit den in der Philosophie und den Wissenschaften bestimmenden Wert der (Selbst-)Präsenz empfindlich stört, einer »Ökonomie des Gleichen« verhaftet bleibt. In ihrer Analyse entfaltet sie aber auch den Widerstand, den dieses Konzept implizit in sich birgt und der sich bei Freud in seiner Weigerung die so genannten »Anlagen« der Männlichkeit und Weiblichkeit inhaltlich zu bestimmen niederschlägt. Ohne Zweifel folgen Freuds Ausführungen zur Weiblichkeit einem dominanten phallozentrischen Diskurs, in dem das binäre Paar des Geschlechts durch den männlichen Pol bestimmt ist. Innerhalb dieser Binarität bildet der weibliche Pol eine Funktion des Männlichen, indem er dessen Bestätigung dient. Und, zieht man die Identifizierung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit bei Freud in Betracht, kann man Irigaray durchaus zustimmen, dass hier eigentlich nur ein Begehren und ein Geschlecht im Spiel sind. Insofern diese Bestätigung unumgänglich gleichzeitig die Bedrohung der Einheit männlicher psychischer und körperlicher Integrität einschließt, untergräbt sie jedoch paradoxerweise auch den vorgeblich alles bestimmenden Wert der Männlichkeit. Diese beiden Momente, Bestätigung und Drohung, können nicht getrennt voneinander gedacht werden. In dem Untergraben der Einheit männlicher Subjektivität übersteigt die Figur der Frau die ihr zugewiesene Funktion. In diesem Sinn lässt sich in der Figur der kastrierten Frau die Spur eines der »Ökonomie des Gleichen« irreduziblen Außens entdecken, das sogar die (Un-)möglichkeitsbedingung des Diskurses des binären Paars des Geschlechts darstellt. An dieser Stelle der Analyse wird Irigarays weitere Auslegung aber auch problematisch. Denn mit welchem Recht verfolgt Irigaray diese Spur, in ihrem Bemühen diesen Diskurs mimetisch nachzuahmen, unter dem Banner des ›eigentlich‹ Weiblichen,

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dessen sich der Phallozentrismus bedient ohne dieser Anleihe Rechnung zu tragen? Wenn dasjenige, das über die Figur der Frau hinausschießt, das ›Eigentliche‹ der weiblichen Sexualität darstellen soll und diese ›Bewegung‹ den Wert des Phallus nur insoweit bestätigt, wie sie diesen Wert untergräbt, wie würde man dann angesichts der Abhängigkeit der männlichen Subjektkonstitution von der Kastrationsangst die hiermit verbundene Krise in dieser Figur bezeichnen? Folgt Irigarays Strategie der Aneignung dieser Kraft des Heterogenen nicht in einem entscheidenden Schritt zu weit dem Logos des Geschlechterdiskurses? Inwiefern stößt die Strategie der Mimesis hier an ihre Grenze? Inwiefern kann man zwar den Spuren dieser Kraft folgen, der Art und Weise, wie sie in Konzepten wie denen der Zweigeschlechtlichkeit arbeitet und hier gleichzeitig Möglichkeiten und deren Widerstände verantwortet? Aber inwiefern stellt Irigarays Identifizierung der Weiblichkeit mit einem dem Denken des Selben irreduziblen Heterogenen auch einen Versuch dar dieses Andere der Ökonomie des Gleichen erneut zu okkupieren und zu beherrschen? Es würde eine andere Arbeit erfordern in »Speculum« entlang von Irigarays Lesung von Platon zu verfolgen, ob es ihr gelingen kann den »Ort der Ausbeutung« der Frau, die ihr zugewiesene Funktion der »nährenden Materie«, der Statthalterin »männlicher« Ursprungsphantasien und des eigenschaftslosen Spiegels kritisch einzunehmen oder ob ihr Versuch, eine »mögliche Operation des Weiblichen in der Sprache« offen zu legen, strukturell betrachtet scheitern muss und dem philosophischen Diskurs der Aneignung des Anderen als des Selben unkritisch verhaftet bleibt. Betrachtet man die Entwicklung der differenztheoretischen Position in der feministischen Schulforschung, stellt sich diese Frage aber sowieso etwas anders dar. Denn während Irigarays Strategie eine doppelte ist, nämlich in der mimetischen Nachahmung des philosophischen Diskurses, dasjenige als Weiblich zu besetzen und zu entfalten, das dem begrifflichen Rahmen männlicher Subjektivität widersteht und sich der Identitätslogik des Begrifflichen entzieht, geht diese kritische Dimension in den differenzorientierten Ansätzen in der geschlechtsbezogenen Pädagogik völlig verloren. Wie eingangs bereits angemerkt, sieht Prengel ihre wiederholte Zusicherung, »weibliche Identität« nicht als »›andere‹ Identität« zu entwerfen und »nicht mit einem Inhalt zu füllen« (Prengel 1995: 128), darauf beschränkt kein allgemeines und statisches Leitbild von Weiblichkeit zu entwerfen. Um den »Lebensweisen von Frauen« Wert zu verleihen, sei es hingegen notwendig sie begrifflich zu erfassen: »Wenn solche – immer als gesellschaftlich vermittelt verstandenen – Lebensweisen von Frauen einschließlich ihrer körperlichen, auch körperlich-sexuellen Erfahrungen begrifflich gefaßt und gesellschaftlich sichtbar gemacht werden, so kann ihnen auch gesellschaftlichen Wert verliehen werden. Sie werden damit gleichberechtigt.« (Ebd.: 118)

Prengels begriffliche Erfassung der »als gesellschaftlich vermittelt verstandenen Lebensweisen von Frauen« lässt dementsprechend wenig Distanz zu

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den »gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen« erkennen, die diese »Lebensweisen« hervorgebracht haben sollen. Die Forderung der Aufwertung der »Orientierung der Mädchen an ästhetischen Werten, an Beziehungen untereinander, zu Kindern, zu Männern, ihre Unsicherheit, ihre Fähigkeit zum Selbstzweifel und zur Anerkennung von anderen« (ebd.: 115) erscheint affirmativ und wirft die Frage danach auf, inwiefern hier eine feministische Aneignung des männlichen Diskurses über die Weiblichkeit stattgefunden haben soll, die diesen transzendiert. Irigarays proklamierte Weigerung, »Weiblichkeit« »begrifflich zu erfassen«, hängt damit zusammen, dass der Terminus des Begriffs philosophisch betrachtet immer schon in ein Identitätsdenken eingebunden ist, das nach Irigaray einen sexuellen Monismus erzeugt, der nur in dem, was über die Logik des Prinzips der Identität hinausschießt, erschüttert werden kann. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, danach zu fragen, inwieweit die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung in ihrem theoretischen Denken und ihrer empirischen Arbeit unkritisch einem Wissenssystem verhaftet bleibt, das den Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit stärkt, indem es demjenigen, was sich nicht innerhalb des Binarismus von Männlichkeit und Weiblichkeit systematisieren lässt, kaum Beachtung schenkt. In der »Pädagogik der Vielfalt« wird Irigarays doppelte Strategie der Mimesis aber letztendlich darauf reduziert die vermeintlich problemlos begrifflich zu erfassenden soziokulturellen Bedeutungen von Weiblichkeit aufzuwerten. Die Frage, wie das Identitätsdenken in der Konstruktion eines binären und hierarchischen Geschlechterverhältnisses eingesetzt und überschritten wird, wird von Prengel in der Entwicklung ihres eigenen methodischen Vorgehens nicht systematisch berücksichtigt. Stattdessen rechtfertigt sie dichotome und generalisierende Aussagen, wie z.B. eine »Gewinnseite der Mädchensozialisation ist, daß sie für sich und andere liebevoll sorgen können«, die »Verlustseite der männlichen Sozialisation besteht darin, Schmerz und Leid verdrängen zu müssen, Wohlbefinden und Gemeinsamkeit nicht herzustellen« (Prengel 1994a: 67f.), damit, dass es sich hierbei nur um eine »perspektivische und aspekthafte« Beschreibung handele, die sich ihrer strategischen Ausblendung der »Kleingruppen und Individuen« bewusst sei. Völlig abgesehen von der ethischen Dimension, die dieses Vorgehen in pädagogischen Zusammenhängen erhält, erscheint diese Anerkennung der Kontextgebundenheit von Wissen auch nicht hinreichend, um Irigarays Kritik einer »Ökonomie des Gleichen« Rechnung zu tragen. Während Irigaray in ihrer Lesung von Freud in der Figur der Frau den Spuren dessen folgt, was sich nicht innerhalb des Gegensatzes von Sein oder Nicht-Sein begreifen lässt, will Prengel – bei aller Betonung der Differenzialität und der Unabgeschlossenheit kultureller Differenzen – die »soziokulturellen Lebensweisen von Frauen« schlicht als (unterschiedlich interpretierbares) »Frau-Sein« verstanden wissen (vgl. Prengel 2000: 93). Wenn die Wirklichkeit »der Lebensweisen von Frauen« aber, wie Prengel selbst behauptet, immer schon »interpretierte Wirklichkeit« ist und sich die Bedeutungen von Weiblichkeit nicht abschließend bestimmen lassen, dann stellt sich die Frage, wie man dem

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in dem theoretischen Verständnis der »sozialen Wirklichkeit« von Frauen Rechnung trägt. Das bloße Postulieren einer »Unbestimmbarkeit von Weiblichkeit« und ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Befangenheit reicht hierfür sicherlich nicht aus. Vielmehr verweist Irigarays Interpretation der Figur der kastrierten Frau darauf, dass diese innerhalb der Erzählung des Ödipuskomplexes, in der ein binäres und hierarchisierendes Verhältnis zwischen den Geschlechtern konstruiert wird, etwas repräsentieren muss, das nicht nur über das binäre Paar von Männlichkeit und Weiblichkeit hinausgeht, sondern das auch ein Wissensmodell erschüttert, in dem die gesellschaftlichen Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und ihre Verkörperungen schlicht als ein gegenwärtiges Dasein begriffen werden, das sich dem wissenschaftlichen Blick immer nur »ausschnitthaft« und »perspektivisch« darbietet.

2.4 »Träg t das Sehen von Geschlechterdif ferenzen zur Konstruk tion oder zur Über windung bei?« – die Angst vor dem Wirklichkeitsverlust »Trägt das Sehen von Geschlechterdifferenzen zur Konstruktion oder zur Überwindung bei« fragt Astrid Kaiser in ihrem Beitrag zu dem im Jahr 2000 erschienen Sammelband »Zur De-Konstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung« (Kaiser 2000). In dieser Formulierung deutet sich eine Angst vor dem Verlust des grundlegenden begrifflichen Rahmens der eigenen empirischen Forschung an, die kennzeichnend für diese Auseinandersetzung in der feministischen Schulforschung ist. Sie lässt sich ablesen an den vielen Plädoyers, sich nicht verunsichern zu lassen von der neuen Grundlagendebatte in den Sozialwissenschaften (Glumpler 1995: 137f.) und die empirische »Differenz der Geschlechter« nicht als ein »Artefakt der Frauenforschung« zu betrachten (Röhner 1996: 109), sondern als eine »Wirklichkeit«, die es weiterhin »zu sehen« gilt (Kaiser 2000). Dieses Phänomen stellt nicht ein spezifisches Kennzeichen der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung dar, sondern prägt auch weite Teile der Geschlechterforschung in den Sozialwissenschaften. Ganz gleich, ob die Geschlechtsidentität als die soziale Interpretation einer biologischen Tatsache aufgefasst wird oder ob Geschlecht als eine soziale Konstruktion oder hegemonialer Diskurs begriffen wird, unterscheiden sich diese Ansätze in ihrem Beharren auf der Realitätsmächtigkeit des gesellschaftlichen Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit nicht voneinander. Häufig wird der dekonstruktive Versuch, den Zusammenhang zwischen dem Vokabular des Seins, des Realen sowie dem Wert der Präsenz, den diese Begriffe für sich in Anspruch nehmen, und dem phallozentrischen System der Zweigeschlechtlichkeit zu verfolgen, als eine Leugnung der machtvollen Wirkung dieses Systems denunziert. In der geschlechtsbezogenen Schulforschung liegt dies teilweise sicherlich an ihrer starken empirischen Orientierung. In wissenschaftlichen Begriffen begreifen und messen lässt sich der

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Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit nämlich nur, solange man die Gewissheit des Realen nicht verliert. Bei dieser Sorge, bestimmte Versionen der »Deontologisierung« von Geschlecht könnten dazu beitragen die »gelebte Realität« der Zweigeschlechtlichkeit zu verleugnen, die die deutschsprachige Grundlagendebatte erheblich geprägt hat, kann man aber keinesfalls von zwei sich gegenüberstehenden theoretischen Lagern wie dem Essenzialismus vs. Antiessenzialismus sprechen. Vielmehr verlaufen die Streitlinien quer zu solchen Zuordnungen. So polemisiert beispielsweise Andrea Maihofer, die an Michel Foucaults diskurstheoretischen Überlegungen anschließt, gegen Stefan Hirschauer, Regine Gildemeister, Angelika Wetterer und Judith Butler. Ausgerechnet Hirschauer wiederum, der mit seiner konstruktivistischen Auslegung von Geschlecht den prozesshaften Charakter von Geschlecht betont, erhebt gegen Butler den Vorwurf der »Irrealisierungsrhetorik« und beklagt in den Arbeiten von Gildemeister/Wetterer und Lindemann eine erneute Tendenz der Reontologisierung. Diese Kette ließe sich durchaus noch fortführen. Bei aller Verschiedenheit der besorgten KritikerInnen und den unterschiedlichen Gegenständen der Kritik – ganz zu schweigen von dem sehr unterschiedlichen theoretischen Niveau, auf dem solche Auseinandersetzungen ausgetragen werden – verbindet diese jedoch die Sorge um das »Sein« der Zweigeschlechtlichkeit. Hierbei geht es nicht immer nur um die Frage der Abgrenzung von sex und gender 12, sondern es geht vor allem um ein Insistieren darauf, dass die Zweigeschlechtlichkeit als ein kulturelles Phänomen zu begreifen sei, das »›in‹ den Individuen präsent ist, d.h. eine gelebte Präsenz hat« (Lorey 1996: 151 Hervorh. i. Orig.S.M.). So weist Hirschauer Butler darauf hin, dass Geschlechter »sozial-wirklich« existieren (Hirschauer 1995: 72). Maihofer wiederum, die das Konzept von »Geschlecht als einer gesellschaftlich -kulturellen Existenzweise« in die Debatte eingeführt hat, wirft Butler vor, dass die Grundlagendebatte nicht dazu führen dürfte, Geschlecht auf eine den Individuen äußerliche ideelle Vorstellung zu reduzieren und knüpft an Foucaults Diskursbegriff an, um der »Konsistenz« des Geschlechts als einer historisch entstandenen, aber doch gelebten »körperlichen und seelischen Materialität« (Maihofer 1995: 84), Rechnung zu tragen. Wie viele andere AutorInnen, die sich an der Grundlagendebatte beteiligen, will sie damit sicherstellen, dass deontologisierende Konzeptionen von Geschlecht nicht dazu führen, die Wirkungskraft des modernen Geschlechterdiskurses auf das einzelne Individuum zu unterschätzen oder gar zu verleugnen. »Einzelne Individuen«, so schreibt Maihofer, »sind folglich nicht nur als ›Frauen‹ oder ›Männer‹ identifizierbar, weil sie als ›Frauen‹ und ›Männer‹ in diesen Praxen tatsächlich existieren, sondern Verallgemeinerungen wie die Frau bzw. der Mann oder die Rekonstruktion der hegemonialen ›weiblichen‹ oder ›männ12 | Oftmals wird die Kontingenz der Zweigeschlechtlichkeit erstaunlich schnell eingestanden, um bei der Betrachtung der Frage der Generativität genauso schnell wieder zurückgezogen zu werden.

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lichen‹ Moralauffassung in westlichen Gesellschaften haben in dieser Praktizierung des ›Frau‹- bzw. ›Mann’seins ihre ›empirische‹ Grundlage. Allerdings treffen die Verallgemeinerungen nur in dem Maße zu, wie der hegemoniale Geschlechterdiskurs in der Gesellschaft real verbreitet bzw. im einzelnen Individuum präsent ist.« (Maihofer 1995: 107)

Nun ist es zwar richtig, dass Foucaults Entwurf einer Diskursanalyse keine Reduktion des Diskurses auf die Rolle eines passiven Bedeutungsträgers des Denkens, der Dinge oder der Sprache zulässt, sondern darauf zielt das »Ereignis« und die »Materialität« in das Denken des Diskurses einzuführen. Diskurse, so weit würde ich Maihofers Anschluss an Weedon folgen, werden von Foucault als eine Reihe sehr unterschiedlicher materieller Praktiken verstanden, die von »Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, Körperpraxen« bis hin zu »Wissens(chafts)formen, Institutionen, gesellschaftliche[n] Macht- und Herrschaftsverhältnisse[n], Naturverhältnisse[n], Kunst, Architektur, innere[n] Struktur von Räumen etc.« (ebd.: 80) reichen können. Aber im Unterschied zu Maihofer strebt Foucault eine Analyse der Diskursivierung der »Sexualität« an, deren Konturen sich nicht in der homogenen Einheit des »Augenblicks« eines Ereignisses fi xieren lassen. Foucault betrachtet Diskurse als »Ensembles diskursiver Ereignisse«, die zwar »immer auf der Ebene der Materialität wirksam« sind, aber »nicht zur Ordnung der Körper« (Foucault 1974: 37) gehören. In »Die Ordnung des Diskurses« sagt er hierzu: Das Ereignis ist »keineswegs immateriell […] es hat seinen Ort und besteht in der Beziehung, der Koexistenz, der Streuung, der Überschneidung, der Anhäufung der Selektion materieller Elemente; es produziert sich als Effekt einer materiellen Streuung und in ihr. Sagen wir, daß sich die Philosophie des Ereignisses in der auf den ersten Blick paradoxen Richtung eines Materialismus des Unkörperlichen bewegen müßte.« (Ebd.: 37) Foucaults Verständnis der materiellen Ereignishaftigkeit des Diskurses ist ein schwieriges Thema und verlangt nach einer umfangreicheren Arbeit, man kann seinen Entwurf einer Diskursanalyse jedoch nicht (wie Maihofer dies tut) in Anspruch nehmen, um nachzuweisen, dass hegemoniale Diskurse im Individuum präsent und ihnen nicht einfach äußerlich sind. Zwar begreift Foucault die modernen normativen Formen der Subjektivierung als eine »Technologie der Macht über den Körper«, die nicht lediglich ideeller Natur ist, sondern »ständig produziert (wird) – um den Körper, am Körper, im Körper« (Foucault 1976: 41). Maihofer ignoriert mit ihrer Fokussierung auf die Präsenz des Geschlechterdiskurses in den Individuen jedoch, dass Foucaults Interesse dafür, welche diskursiven Beziehungen ein Aussageereignis ermöglichen, keine Konzeption des Diskurses als einer Aneinanderreihung einfacher gegenwärtiger Ereignisse zulässt. Denn wenn »die verschiedenen, verschränkten, oft divergierenden, aber nicht autonomen Serien [von Ereignissen S.M.] […] den ›Ort‹ des Ereignisses, den Spielraum seiner Zufälligkeit, die Bedingungen seines Auftretens« (Foucault 1974: 36) bilden, dann kann eine diskursive Praxis nicht behandelt werden, als unterliege sie einem linearen Modell der Temporalisierung:

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»Wenn die diskursiven Ereignisse in homogenen, aber zueinander diskontinuierlichen Serien behandelt werden müssen – welcher Status ist dann dem Diskontinuierlichen zuzusprechen? Es handelt sich dabei ja nicht um die Aufeinanderfolge der Augenblicke der Zeit und nicht um die Vielzahl der verschiedenen denkenden Subjekte. Es handelt sich um die Zäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen. Eine solche Diskontinuität triff t und zersetzt auch noch die kleinsten Einheiten, die immer anerkannt worden sind und nur schwer zu bestreiten sind: den Augenblick und das Subjekt.« (Ebd.: 37)

Damit ist Foucaults Denken der »Realität des Diskurses« eines, das in seiner Entgegensetzung der Begriffe »des Ereignisses, der Serie, der Regelhaftigkeit [und] der Möglichkeitsbedingung« gegenüber denen der »Schöpfung«, der »Einheit«, »der Ursprünglichkeit« und »der Bedeutung« (ebd.: 35), den Wert der Präsenz in den »Philosophien des Subjekts und der Zeit« (ebd.: 38) zumindest potenziell angreift. Obwohl es Foucault gerade darum geht, nach den Prinzipien der Einschränkung und den Möglichkeitsbedingungen bestimmter diskursiver Formationen zu fragen, verweist sein Denken des Diskurses auch auf eine grundlegende Offenheit der jeweiligen Bedeutungen eines diskursiven »Ereignisses« und der hiermit verbundenen Erfahrungen, der nicht damit genüge getan ist, »Verallgemeinerungen, wie die Frau, bzw. der Mann oder die Rekonstruktion der hegemonialen ›weiblichen‹ oder ›männlichen‹ Moralauffassungen in westlichen Gesellschaften« als »Tendenzaussagen, Feststellungen punktueller gesellschaftlicher Dominanzen, kultureller oder kulturübergreifender Normalitäten« (Maihofer 1995: 107; Hervorh. i. Orig.) zu begreifen. Nach Maihofer wird in der »Vorstellung des ›Geschlechts‹ als historisch entstandenen Denk-, Gefühls- und Körperpraxen […] sowohl das Imaginäre der Realität des Geschlechts als auch die spezifische ›Materialität und Realität‹ des Imaginären des Geschlechts erfasst, ohne daß Geschlecht nur das eine oder das andere bzw. beide dasselbe wäre.« (Ebd.: 108) Wenn man Diskurse jedoch wie Foucault als Praktiken betrachtet, die nicht aus einer Aneinanderreihung gegenwärtiger »Augenblicke« bestehen, dann stellt sich die Frage, ob »Verallgemeinerungen, wie die Frau, bzw. der Mann« ihre »›empirische‹ Grundlage« anders als Maihofer meint, nicht in einer »Praktizierung des ›Frau‹- bzw. ›Mann’seins« haben, die im Modus der Präsenz gedacht werden kann (ebd.: 107), und in welcher Weise sich »das Imaginäre des Geschlechts« und »die ›Materialität und Realität‹ des Imaginären« der Terminologie des »Erfassens« entziehen. Inwiefern fordert gerade Maihofers eigenes Misstrauen, Geschlecht innerhalb einer Opposition von Imagination und Realität zu denken oder das Reale und das Imaginäre zusammenfallen zu lassen, dazu heraus, ein Modell der Erfahrung zu überdenken, welches in seiner Betonung der »Präsenz« implizit davon ausgeht, Geschlechterdiskurse schlügen sich zumindest für den Bruchteil eines Augenblicks in ungeteilten Erfahrungen nieder? In der pädagogischen Geschlechterforschung ist dieses Modell gleich dreifach problematisch: Erstens – und dies ist ein Problem, das die feministische Geschlechterforschung im allgemeinen betriff t – weil es hiermit einer

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Wissensformation über Geschlecht folgt, die den Glauben an die Wahrheit der Zweigeschlechtlichkeit stabilisiert, indem die notwendigen Überschreitungen des binären Prinzips bei der Klassifizierung der Bedeutungen des »›Frau‹- bzw. ›Mann’seins« (ebd.: 107) ausgeblendet werden. Zweitens führt dieses Modell in der geschlechtsbezogenen Schulforschung zu der Vorstellung, LehrerInnen und SchülerInnen agierten auf der Grundlage relativ eindeutiger Selbstbilder und gesellschaftlicher Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. In dieser Sichtweise erscheint der Geschlechterdiskurs als ein gesellschaftlich Unbewusstes, das aber dennoch eine gegenwärtige Struktur besitzt, die in ihrer Bedeutung bewusst gemacht und pädagogisch bearbeitet werden kann. In den Ansätzen zur Mädchen- und Jungenarbeit ist deutlich geworden, wie stark diese Auffassung die bisherigen Konzeptionen einer Sensibilisierung von Lehrkräften und SchülerInnen für ihre eigene Verstricktheit in das Geschlechtersystem prägt. In einer solchen Bildungsarbeit scheinen immer wieder diejenigen polarisierenden Bilder von Geschlecht reproduziert zu werden, die kritisch zu bearbeiten die Absicht war. Drittens impliziert die Konzeption von Erfahrung als Präsenz in der Pädagogik eine ethische Dimension, weil sie ein pädagogisches Denken hervorbringt, das den anderen als zumindest »aspekthaft« begreif bar versteht und in pädagogische Strategien mündet, die in einer sehr direkten und unmittelbaren Weise darauf zielen, auf die Persönlichkeitsstrukturen von Kindern und Jugendlichen Einfluss zu nehmen. Das Beharren auf der Präsenz des Geschlechterdiskurses in den Individuen und der Realität einer geschlechtlichen Existenzweise, wie es von Maihofer, Lorey und Hirschauer vertreten wird, wird in der pädagogischen Geschlechterforschung immer häufiger aufgegriffen und als ein Konzept begrüßt, das es ermöglicht, Geschlecht gleichzeitig als gesellschaftlich produziert und als eine real existierende Seinsweise zu begreifen (z.B. Hartmann 2000: 256, Kaiser 2000: 218). Den Hintergrund bildet hierbei nicht nur die Sorge, die Grundlagendebatte um die Kategorie Geschlecht könnte dazu führen, die »Wirkungsmächtigkeit« des Systems der Zweigeschlechtlichkeit aus den Augen zu verlieren sondern auch ein theoretisches Verständnis von Realität und Konstruktion, das darum fürchtet, die »Realität« als festen Bezugspunkt der empirischen Forschung zu verlieren. Hierbei wird unter Konstruktion häufig etwas verstanden, was den Blick auf die wahre Realität verstellt und eine teilweise fiktive Sichtweise auf diese liefert. So basiert Astrid Kaisers Frage, ob »das Sehen von Geschlechterdifferenzen zur Konstruktion oder zur Überwindung« beiträgt u.a. auf der Annahme, Geschlechterforschung sei eine Angelegenheit des Sehens von Realitäten, das Sehen sozialer Wirklichkeit aber (leider) immer schon ein Prozess, der in »Konstruktionen« eingebunden sei, wobei sie unter »Konstruktion« eine Art von Interpretation zu verstehen scheint, die dem Gesehenen Eigenschaften hinzufügt, die der Imagination des Beobachters entstammen und nicht real sind13. 13 | Besonders deutlich tritt diese Vorstellung in ihrer Diskussion der Methodologie ihres eigenen Forschungsprojektes zu Tage: »Nicht nur bei der Katego-

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Vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Schwierigkeiten, die sich für die schulische Geschlechterforschung aus der Vorstellung ergeben, der Geschlechterdiskurs sei in den Individuen als gelebte Erfahrungen präsent, werde ich im Folgenden in Auseinandersetzung mit Judith Butlers Analyse des Geschlechts der Frage nachgehen, ob man der »Existenz der Zweigeschlechtlichkeit« wirklich nur Rechnung tragen kann, wenn man sie an ein Konzept des Seins bindet, das als eine einfache Anwesenheit gedacht wird oder ob diese Auffassung nicht selbst einem Wissenssystem angehört, das den Glauben an der Wahrheit der Zweigeschlechtlichkeit als so unumstößlich erscheinen lässt. Ist es nicht vielmehr erforderlich, Geschlechterpraktiken als ein Dasein zu begreifen, das nicht vollkommen in Strukturen des Seins/der Präsenz aufgeht, diese also übersteigt und deshalb nicht angemessen innerhalb der Entgegensetzung von Präsenz und Nicht-Präsenz sowie die der Realität und Fiktion thematisiert werden kann? Diese Frage bildet den übergreifenden Rahmen der beiden folgenden Teile, die sich mit den Schwierigkeiten beschäftigen, die damit verbunden sind die Praktiken des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit zu rekonstruieren.

rienbildung und Interpretation von Daten sind Konstruktionen wirksam. Bereits während der Erhebung von Daten können Konstruktionen unterlaufen und den erwünschten Dekonstruktionen zuwiderlaufen. Gerade bei der präferierten teilnehmenden Beobachtung gibt es erhebliche Wahrnehmungsprobleme. […] Da es bei der Beobachtung nicht um ein schlichtes Wahrnehmen dessen, »was ist«, sondern um ein hochselektives Vorgehen von kaum zu bewältigender Komplexität handelt, läuft die beobachtende Person immer Gefahr, den Anschluß zu verlieren, weil sich die Ereignisse in rascher Geschwindigkeit weiterentwickeln. […] Bei der Entwicklung von Beobachtungskriterien besteht wiederum die Gefahr, etwas theoretisch einzubringen, was dann gemessen werden soll, also zu konstruieren statt zu dekonstruieren.« (Kaiser 2000: 212)

Teil II: Identifizierung und Überschreitung: Die geschlechtliche Identifizierung – eine »präsente« Er fahrung?

Judith Butlers Untersuchungen feministischer, philosophischer und psychoanalytischer Konzeptionen von Geschlecht und Sexualität zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass in ihnen beharrlich die Frage verfolgt wird, in welcher Weise bei den Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit normative Zwänge und Regeln und deren Überschreitung ineinander greifen. In ihrer Diskussion von Freud hat Butler vorgeschlagen, geschlechtliche Identifizierungen als gesellschaftlich verursachte Melancholie zu begreifen, die durch die unentwegte Wiederholung von normativen (Körper-)praktiken, die performativ funktionieren, angeleitet werden. Indem Butler in Das Unbehagen der Geschlechter einen Zusammenhang herstellt zwischen Freuds Konzept der Melancholie und dem Ödipuskomplex als einer zentralen Struktur des Erwerbs der Geschlechtsidentität, legt sie eine narrative Schicht offen, die die Wirksamkeit und Starrheit der Regulierungsverfahren des Geschlechts und der Sexualität in Frage stellt. Aus ihrer Sicht müssen Identifizierungen, die durch das normative Regulierungsschema der Zweigeschlechtlichkeit hervorgebracht werden, dieses Schema zwangsläufig auch übersteigen, wobei sich die Überschreitung selbst nicht in diesem binären Rahmen präsentieren lässt. Der Schwerpunkt des nächsten Kapitels liegt darauf, in der Auseinandersetzung mit Butlers Lesung von Freud nachzuvollziehen, warum der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität nicht einfach »›in‹ den Individuen präsent ist, d.h. eine gelebte Präsenz hat« (Lorey 1996: 151), sondern die mit ihm verbundenen Erfahrungen in ihrer Bedeutung dem Subjekt nicht voll gegenwärtig sein können und es auch zu keinem anderen Zeitpunkt waren. Den Hintergrund dieser Diskussion bildet die in der geschlechtsbezogenen Schulforschung breit vertretene Forderung, geschlechtsbewusste Pädagogik habe Jungen und Mädchen durch besondere Maßnahmen und/oder durch die geschlechtsbewusste Einstellung der Erziehenden in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität zu unterstützen. Obwohl ein weitgehender Konsens darüber besteht, eine solche Erziehung nicht an neuen festgelegten Leitbildern von Männlichkeit und Weiblichkeit oder einem androgynen Ideal auszurichten, sondern Mädchen und Jungen dahingehend zu fördern, »individuelle Unterschiede ohne Benachteiligungserfahrungen leben zu können«, wird in diesem Zusammenhang immer wieder unterstrichen, es gehe hierbei nicht um »Gleichmacherei« (Bildungskommission NRW 1995: 131). Vielmehr solle durch einen bewussten Umgang mit der Kategorie Geschlecht in der Schule, »ein positives Verständnis von männlicher und weiblicher Identität […] erreicht werden.« (Ebd.: 131; vgl. auch Welz/Dussa 1998: 13) Was hierunter

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verstanden wird, bleibt häufig ebenso schemenhaft1, wie die Frage, was überhaupt unter der Rede von der »Geschlechtsidentität«, einer »geschlechtsbezogenen« Identifizierung sowie dem »Identifizieren« als einem psychischen Vorgang begriffen wird (vgl. z.B. Kraul/Horstkemper 1999; Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) u.a. 2002). Die Diskussion von Butlers Analyse der Darstellung des Ödipuskomplexes bei Freud muss auf der Folie der nachfolgenden Skizze des konzeptuellen Verständnisses der »Geschlechtsidentität« in der schulischen Geschlechterforschung betrachtet werden.

1 | Wird dies konkretisiert, dann zumeist von Vertreterinnen des Differenzansatzes, denen es um eine Aufwertung vermeintlich spezifischer weiblicher Erfahrungen und Verhaltensweisen wie der »Fürsorge« oder der Orientierung von Mädchen an anderen (Prengel 1995: 115) geht.

1. Zum Verständnis der »Geschlechtsidentität« in dem Diskurs einer geschlechtsbewussten Pädagogik in der Schule

Soweit die Forderung, Mädchen und Jungen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität zu unterstützen, in dem Diskurs über eine geschlechtssensibilisierende Pädagogik in der Schule überhaupt in einen theoretischen Zusammenhang gestellt wird, findet man neben der Bezugnahme auf kognitive Theorien zur psychosozialen Entwicklung vor allem Anknüpfungen an feministische Auslegungen der psychoanalytischen Theorie. Eine besondere Rolle spielt hierbei die 1978 von Nancy Chodorow entwickelte Theorie der »Reproduktion von Mütterlichkeit« als das »zentrale und bestimmende Element der sozialen Organisation und Reproduktion der Geschlechter« (Chodorow 1985: 19). Diese Theorie hat einen erheblichen Einfluss darauf ausgeübt, dass die geschlechtsbezogene Pädagogik stark bestimmt worden ist, von der Annahme, das moderne System der Zweigeschlechtlichkeit führe zu der Ausbildung einer distanzorientierten männlichen und einer beziehungsorientierten weiblichen Psyche (vgl. z.B. Kreienbaum/Metz-Göckel 1992a: 76; Pfister 1998: 25f.; Thies/Röhner 2000: 28f.). Nancy Chodorows Theorie der Reproduktion von »Mütterlichkeit« Ausgehend von der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in modernen westlichen Gesellschaften untersucht Chodorow in Auseinandersetzung mit Freud, in welcher Weise die weitgehende Zuständigkeit von Frauen für die Pflege und Erziehung von Kindern zu spezifischen weiblichen und männlichen psychologischen Strukturen führt und Frauen die Aufgabe des »Mutterns« immer wieder aufs neue übernehmen lässt. Unter »Muttern« versteht sie einen Beziehungszustand, der sich durch »Empathie, die Wahrnehmung des Kindes als Erweiterung des Selbst, gegenseitige primäre Liebe, primäre Identifi kation und das Gefühl der Einheit« (Chodorow 1985: 116) auszeichnen soll. Dass Chodorows Ansicht nach »nur Mädchen – und nicht auch Knaben – mütterlich werden« (ebd.: 121) führt sie darauf zurück, dass sich die ersten Objektbeziehungen von Jungen und Mädchen, d.h., unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen also meistens die zur Mut-

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ter, systematisch voneinander unterschieden. Während Frauen ihre Söhne als gegengeschlechtlich wahrnähmen und daher eher bereit wären, diese als separate Wesen zu akzeptieren, identifizierten sie sich stärker mit ihren Töchtern. Mütter empfänden Töchtern gegenüber ein stärkeres Gefühl der Einheit und Kontinuität als gegenüber ihren männlichen Nachkommen. Als Folge dieser mütterlichen Einstellung durchlebten Mädchen eine längere präödipale Phase als Jungen und setzten sich dementsprechend länger mit Themen auseinander, die typisch für die frühe Mutter-Kind-Beziehung seien. Dadurch bleibe jedoch nicht nur »die Exklusivität dieser Beziehung bestehen, [sondern] ebenso die Intensität, Ambivalenz und Unsicherheit über Grenzen, die das Kind durch die fortwährende Beschäftigung mit Fragen der Abhängigkeit und Individuation weitererlebt« (ebd.: 128).

Diese enge Mutter-Tochter-Beziehung schaff t für Chodorow die Grundlage für die Entwicklung spezifisch weiblicher Merkmale, die ihrer Ansicht nach das »Muttern« überhaupt erst ermöglichen. Schon in diesem Lebensabschnitt bauten Mädchen eine grundlegend andere Beziehungsstruktur zu sich und ihrer Umwelt auf: »Weil sie von Frauen bemuttert werden, empfinden sich die Mädchen im Vergleich zu den Knaben weniger als separate Wesen und entwickeln durchlässigere Ich-Grenzen. Mädchen lernen, sich selbst mehr in Beziehung zu anderen zu definieren. Ihre verinnerlichte Objektbeziehungsstruktur wird komplexer und facettenreicher« (ebd.: 123).

Auch der Ödipuskomplex ändert nach Chodorow nur wenig an dieser »beziehungsorientierten« Ausrichtung der »weiblichen« Psyche. Zwar geht sie davon aus, dass Mädchen keinesfalls vollkommen in ihrer Beziehung zur Mutter aufgehen und ihre Hinwendung zum Vater notwendig ist, um sich zumindest teilweise von der Mutter zu individuieren. »Der Wunsch des Mädchens, sich von der Mutter zu befreien, verursacht den Penisneid« (ebd.: 161), so Chodorow, »und nicht, weil es angeboren und offensichtlich besser ist, männlich zu sein« (ebd.: 161). Letztendlich gebe das Mädchen den Kampf um die Liebe der Mutter aber nicht zugunsten des Vaters auf, sondern begebe sich in eine triadische Beziehung. Diese Interpretation des Ödipus-Komplexes verleitet Chodorow zu der Schlussfolgerung, dass die innere Objektwelt von Frauen komplexer strukturiert sei als die der Männer: »Frauen und Männer entwickeln Persönlichkeiten, die von jeweils unterschiedlichen Grenzerfahrungen und unterschiedlich konstruierten inneren Objektwelten bestimmt werden und mit verschiedenen Beziehungsthemen beschäftigt sind. Deshalb ist die weibliche Persönlichkeit weniger auf Verdrängung innerer Objekte und festen, stabilen Ich-Abspaltungen aufgebaut, sondern stärker auf die Erhaltung und Kontinuität äußerer Beziehungen«. (Ebd.: 220).

II. 1. Z UM V ERSTÄNDNIS

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Entsprechend der Ausgangsthese, dass Mütter ihre Söhne »von Anfang an« als »geschlechtliche Gegenstücke« erlebten und bereits in der präödipalen Phase diese »Differenziertheit« betonten (ebd.: 144), kreist auch Chodorows Skizze der Entwicklung der männlichen Psyche um die Thematik der Einheit und Differenz bzw. der Verbundenheit und Distanz zur Mutter, ohne dass sie der Ambivalenz dieses Spannungsfeldes nachgeht. So lässt sich ihre Darstellung des Verlaufs des Ödipuskomplexes beim Jungen folgendermaßen zusammenfassen: Das distanzierende und sexualisierende Verhalten der Mutter gegenüber dem Sohn bewirke im Vergleich zur Tochter einen früheren Eintritt in die ödipale Phase. Da der Sohn von der Mutter in einem stärkerem Maß als separates Wesen akzeptiert werde und wurde, und sie ihm darüber hinaus in einem viel stärkeren Ausmaß zur Verfügung stehe als der Vater der Tochter, könne er sie zu seinem exklusiven ödipalen Objekt machen. Im Gegensatz zur Tochter benötige der Junge auch keine dritte Person zur Abgrenzung von ihr. Während die Tochter in einer triadischen Beziehungsstruktur verbleibe, gebe der Sohn seine Liebe zur Mutter zugunsten des Vaters auf und erkenne damit den Vater als den Stärkeren an. Die innerpsychische Objektwelt der Männer sei deshalb »stärker festgelegt und einfacher« (ebd.: 220). Als Folge des Ödipus-Komplexes würden Beziehungsfragen stärker verdrängt: »Wir können also die männliche Persönlichkeit eher in Begriffen von Beziehungsleugnung und Leugnung der Verbundenheit (und Verleugnung der Weiblichkeit) definieren, während die weibliche Persönlichkeit eine grundlegende Definition des Selbst in Beziehung zu anderen einschließt« (ebd.: 220).

Dementsprechend dichotom fällt Chodorows Schlussfolgerung aus: »Das grundlegende weibliche Selbstgefühl ist Weltverbundenheit, das grundlegende männliche Selbstgefühl ist Separatheit« (ebd.: 220).

Diese sozialisationstheoretische Vorstellung, Mädchen und Jungen entwickelten im Verlauf ihrer frühkindlichen Sozialisation qualitativ unterschiedliche Modi des Selbst- und Weltverhältnisses ist in differenzorientierten Ansätzen, wie dem von Carol Gilligan (Gilligan 1984), der in der deutschsprachigen Geschlechterforschung in der Pädagogik intensiv rezipiert wurde, ebenso aufgegriffen worden wie von Autorinnen wie Hagemann-White. In der geschlechtsbezogenen Schulforschung findet man die Vorstellung von einer beziehungsorientierten weiblichen Psyche in der Interaktionsforschung ebenso wieder (Enders-Dragässer/Fuchs 1989; Thies/Röhner 2000) wie in der schulischen Jungen- und Mädchenarbeit (Kaiser und MitarbeiterInnen 2003). Geschlechtsstereotype Rollenvorstellungen und deren subjektive Aneignung/Geschlecht als eine regulierte Handlungspraxis Neben oder manchmal auch in Verbindung mit dieser Konzeption der Entstehung eines geschlechtlichen Selbst stößt man in der geschlechtsbezogenen

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Schulforschung häufig auf ein leicht modifiziertes Rollenmodell, in dem die Eigenaktivität des Subjekts bei der Aneignung von »Geschlechtsrollenorientierungen« (Horstkemper/Zimmermann 1998: 8) besonders unterstrichen und auf die derzeitige Pluralität und »Brüchigkeit« von »Geschlechtsrollenorientierungen hingewiesen wird (ebd.: 7). Hierbei kann es durchaus auch vorkommen, dass solche rollenorientierten Vorstellungen von der Entwicklung von Geschlechtsidentität völlig unvermittelt angekoppelt werden an das neuere Theorem des »doing gender«: »Aus der Vielzahl von Verhaltensangeboten, vorgelebten Modellen aus der realen und auch der medialen Welt wählen Kinder je spezifische Aspekte aus und kombinieren sie mit ihrem eigenen Bild. Mädchen und Jungen können und müssen auf diese Weise ihre eigene geschlechtliche Identität komponieren. Aus einer solchen theoretischen Perspektive ist Geschlecht nicht etwas, was sie haben oder sind, sondern etwas, was sie tun.« (Ebd.: 8)

Das hierbei zu Tage tretende voluntaristische Verständnis der Aneignungen des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig aus der Theorie des »doing gender«, in der Geschlecht eigentlich als eine reglementierte Handlungs- und Körperpraxis gedacht wird und mit der Konzentration auf das Situative solcher Praktiken – zumindest in der ethnographischen Forschung – eine subjektbezogene Betrachtung aufgegeben wird. Soweit in der geschlechtsbezogenen Schulforschung Bezug genommen wird auf empirische Beschreibungen bestehender geschlechtsstereotyper Vorstellungen und deren subjektiver Aneignung, bestätigen diese immer noch weitgehend die Mitte der 80er Jahre von Hagemann-White getroffene Charakterisierung eines »kulturellen männlichen Ortes«, der durch Forderungen wie die Sorge für das Allgemeinwohl, Abgrenzung, Unabhängigkeit und Selbstbehauptung, Mut und Risikobereitschaft, Freiheit, Konkurrenzund Leistungsbereitschaft (Hagemann-White 1984: 91ff.) gekennzeichnet sein soll (vgl. z.B. Pfister 1998; Kaiser und MitarbeiterInnen 2003) und die eines »kulturellen weiblichen Ortes«, der vor allem durch Forderungen wie Fürsorge (Hagemann-White/Hermesmeyer-Kühler 1987: 16), Weibliche Attraktivität, Beziehungs- und Personenorientierung und Abhängigkeit (Hagemann-White 1984: 96ff.) bestimmt sein soll (vgl. z.B. Pfister 1998, Faulstich-Wieland 1999a; Thies/Röhner 2000; Kaiser und MitarbeiterInnen 2003). Hierbei wird hinsichtlich der Frage, wie solche Orientierungsmuster angeeignet werden und wie sie zum Auf bau einer mehr oder weniger kohärenten Geschlechtsidentität führen, zumeist angenommen, dass neben der Dominanz geschlechtstypisch konnotierter Praktiken des Kinderspiels und der medialen Verbreitung von Geschlechtsrollenstereotypen1, das Verhalten

1 | Aufgrund der Unterrepräsentanz von Männern im Erziehungsbereich wird diesen vor allem in Bezug auf die Jungensozialisation eine wichtige Rolle zugespro-

II. 1. Z UM V ERSTÄNDNIS

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der Erwachsenen in zweierlei Hinsicht zur Reproduktion beiträgt2. Zum einen seien diese als »Vorbilder« »entscheidend«. »Kinder«, so erläutern Astrid Kaiser u.a., »lernen durch die erwachsenen Vorbilder in ihrer Umwelt, was männlich und was weiblich sein soll« (Kaiser und MitarbeiterInnen 2003: 24). Zum anderen behandelten Erwachsene Mädchen und Jungen unterschiedlich und unterstützten mit ihren geschlechtstypisierenden Erziehungsvorstellungen (Faulstich-Wieland 1999a: 55ff.) sowie mit ihren divergenten Erwartungshaltungen und Rückmeldungen (vgl. z.B.: Thies/Röhner 2000) die Entwicklung geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Selbstverhältnisse, wie sie von Hagemann-White teilweise auch in Anschluss an Chodorow beschrieben worden sind. Dem »Unbehagen« in der Bestimmung geschlechtsbezogener Erfahrungen und Vorstellungen nachgehen Obwohl in solchen Theorien von der Reproduktion und der Aneignung geschlechtsstereotypisierender Vorstellungen durchaus in einigen Beiträgen dezidiert auf ihre inneren Ambivalenzen eingegangen (vgl. z.B. FaulstichWieland 1999a) sowie immer wieder auf die Individualität der jeweiligen Aneignungen verwiesen wird, ist in dem Diskurs der geschlechtsbezogenen Schulforschung bislang der Frage, was dies für die theoretische Vorstellung der »Geschlechtsidentität« bedeutet, keine Aufmerksamkeit geschenkt worden. Wie tangieren solche »inneren Ambivalenzen« das zweigeschlechtliche Schema des Geschlechtsrollenmodells, das angeeignet werden soll? Was macht die Stabilität von geschlechtsstereotypen Vorstellungen aus, wenn ihre individuellen Aneignungen immer mit der Möglichkeit der Abweichung verbunden sind? Inwieweit ist die Vorstellung, Kinder identifizierten sich nach dem Vorbild eines personalen oder idealen Modell, angemessen, wenn Identifizierungen immer auch die Dimension der »Be- und Verarbeitung« enthalten? Und was ist mit »Be- und Verarbeitung« in diesem Zusammenhang gemeint? Auf welcher Basis kann man dann noch davon ausgehen, dass Kinder und Erwachsene über »eine klare Vorstellung ihrer Geschlechtsidentität« (Thies/Röhner 2000: 25) verfügen? In einem Praxishandbuch für die Jungenarbeit berichtet Uwe Sielert von einem studentischen Seminar unter seiner Leitung, in dem er die TeilnehmerInnen bittet, »etwas über ihr Selbstbild als Mann, bzw. als Frau auszusagen« (Sielert 1989: 15). Den TeilnehmerInnen wurde die Aufgabe gestellt, chen und davon ausgegangen Jungen seien darauf angewiesen sich entlang von solchen Idealbildern orientieren (vgl. z.B. Pfister 1998: 28). 2 | Ein anderes Licht auf diese Thematik werfen die bisherigen empirischen Beschreibungen des »doing gender«, die in ihrer Konzentration auf das Situative einer Interaktion dazu tendieren, den Einsatz unterschiedlicher Orientierungsmuster von Geschlecht, die im Bezug auf die männliche Sozialisation als heterogen beschrieben werden, als Strategien zur Lebensbewältigung zu begreifen, die situationsabhängig eingesetzt werden (vgl. dazu Breidenstein/Kelle 1998; Faulstich-Wieland/Weber/ Willems 2004; Budde 2005).

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je nach Geschlecht die Sätze »Ich bin ein Mann, ich bin…«, bzw. »Ich bin eine Frau, ich bin …« zu beenden. Vielen Studierenden bereitete es offensichtlich Unbehagen, dieser Aufgabenstellung nachzukommen. Ihnen war »so gut wie nichts eingefallen oder sie haben alle spontanen Einfälle sofort wieder verworfen, weil doch alle Eigenschaften auch Frauen haben könnten, Männer sich nicht so festlegen sollten« (ebd.: 15). Der geäußerte Unmut wird von Sielert anschließend als Unwillen, sich mit dem »Verständnis des eigenen Geschlechts« zu beschäftigen, interpretiert und als eine Behinderung für eine kritische Betrachtung dieses Selbstverständnisses gewertet. Das nächste Kapitel geht den Schwierigkeiten und dem Unbehagen nach, das die Studierenden in Sielerts Seminar damit hatten, ihr Selbstbild als Mann oder Frau zu bestimmen. In »Das Unbehagen der Geschlechter« zeigt Butler, dass dieses Unbehagen in den Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit ebensowenig vermeidbar wie beherrschbar ist. Hierbei wird deutlich, dass der Vorstellung, Männer und Frauen handelten auf der Grundlage »klarer« Selbstbilder und »klarer« Vorstellungen von Geschlecht, wie sie etwa Thies und Röhner vertreten, eine phantasmatische Dimension innewohnt, die zwar in den Diskursen der Zweigeschlechtlichkeit meistens unterdrückt wird, die aber dennoch notwendig ist, sollen diese Diskurse ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren.

2. »Das Unbehagen der Geschlechter«

2.1 Butlers Reformulierung des Inzesttabus als Macht Butler entwickelt ihren Vorschlag, Geschlecht als eine Art von Melancholie zu betrachten im Kontext ihrer Interpretation von Freuds Darstellung des Ödipuskomplexes, in der sie das für die Psychoanalyse zentrale Gesetz des Inzestverbots der Foucaultschen Kritik der Repressionshypothese1 unterzieht. Hierbei wird nicht nur deutlich, wie Freuds Beschreibung der Entstehung der Geschlechtsidentität und der Entwicklung eines vornehmlich heterosexuellen Begehrens eine Reihe von naturalisierenden Vorurteilen impliziert, deren Genealogie innerhalb der Erzählung des Ödipuskomplexes ungeklärt bleibt und verdeckt wird. Sondern darüber hinaus zeigt Butler auch, dass das Inzestverbot als »eine produktive Macht« verstanden werden 1 | In Der Wille zum Wissen hat Foucault die Frage aufgeworfen, ob die Beziehung zwischen »Sexualität« und Macht tatsächlich erschöpfend beschrieben ist, wenn sie als ein Unterdrückungsverhältnis charakterisiert wird oder ob es sich bei dieser stark durch die Psychoanalyse beeinflussten Diskursformation um eine Sichtweise handelt, der die Wandlungen von Machtformationen in modernen Gesellschaften entgeht und selbst ein Teil dieser Machtformationen bildet. Während die Argumentationsfigur der Repression eine originäre – der Kultur vorhergehende – Form des »Sexus« voraussetzt, die in den Gesellschaften des Abendlandes reglementiert und zum Schweigen gebracht wird, strebt Foucault eine rein relationale Analyse der Diskursivierung der »Sexualität« an, deren Bezugspunkt nicht in der Freilegung der Wahrheit eines prädiskursiven Referenten liegt. Im Mittelpunkt seines Vorhabens von »Sexualität und Wahrheit« steht stattdessen die Frage, aufgrund welcher diskursiven Modalität und aufgrund welcher Machtmechanismen das Auftauchen des Erkenntnisgegenstandes »Sexualität« möglich wurde. Foucault interessiert hierbei insbesondere, welche spezifischen Verbindungen sich zwischen den Formationen der Macht und denen mit einem Wahrheitswert aufgeladenen Diskursen über die »Sexualität« ausgebildet haben (vgl. Foucault 1977:8). Dieser Fragestellung liegt die Auffassung zugrunde, dass der Diskurs nicht auf die Rolle eines passiven Bedeutungsträgers des Denkens, der Dinge oder der Sprache reduziert werden darf. Vielmehr seien Diskurse selbst »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1973: 74).

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muss, die entgegen der ihr zugeschriebenen Funktion ein Feld von möglichen Identifizierungen und Begehren hervorbringt, die sich der Klassifi kation der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität entziehen. Ihre Reformulierung des Inzesttabus setzt an den von Freud behaupteten primären Bindungen des Kindes an die Eltern an, die mit der Annahme eines dominanten positiven Komplexes einhergehen. Wenn man Freuds eigenem Plädoyer für die Annahme eines »vollständigen Ödipuskomplexes« folgt, so argumentiert Butler, wird das Primat der mütterlichen Objektwahl, das im Fall der männlichen Verlaufsform bedeutet, dass die heterosexuelle Objektwahl bereits getroffen worden ist, »zunehmend suspekt« (Butler 1991: 96). Der »negative Ödipuskomplex«, der für Freud ein neues Erklärungsmuster für das ambivalente Verhalten des Jungen gegenüber dem Vater liefert, ist von ihm eingeführt worden, um dem Postulat der ursprünglichen Bisexualität Rechnung zu tragen. Setzt man jedoch einen bisexuellen Komplex libidinöser Anlagen voraus, so erscheint Butlers Argumentation überzeugend, dass es dann »keinen Grund [gibt], die ursprüngliche sexuelle Liebe des Sohnes zum Vater zu verneinen.« (Ebd.: 95) Und setzt man die Möglichkeit2 einer gleichzeitigen Objektbesetzung von Vater und Mutter voraus, so stellt sich auch die Frage, auf welcher Grundlage sich entscheidet, ob der Ödipuskomplex tendenziell eher negativ oder positiv verläuft. Freud selbst hält die »relative[n] Stärke der beiden Geschlechtsanlagen« (Freud 1975 [1923]: 300) für ausschlaggebend, wogegen Butler zu Recht einwendet, dass seine Beweislage für die Existenz solcher Anlagen recht dürftig ist. Denn interpretiert man die ambivalente Haltung des Jungen gegenüber dem Vater als Indiz für seine »weiblichen Anlagen«, was Freuds Text nahelegt, so spricht dies eher dafür, dass sein Konzept der Bisexualität von einer originär heterosexuellen Organisation des Begehrens ausgeht3, als dass es zu 2 | Butler behauptet keinesfalls, dass empirisch betrachtet in jedem Fall eine solche Objektbesetzung stattfindet, sie räumt sogar ein, dass es im Spätkapitalismus zutreffend sein mag, dass die erste sexuelle Besetzung in der Regel die Mutter ist. Da es ihr jedoch um die Eigenlogik der Freud’schen Erzählung geht, ist dies nicht relevant. Denn auch seine Konzeption der Objektbesetzung des Anlehnungstypus schließt keinesfalls aus, dass nicht auch der Vater zum Objekt einer primären Besetzung wird. 3 | Denn der »negative Ödipuskomplex« ist ebenso heterosexuell konzipiert wie die »positive« Verlaufsform. Wie das folgende Zitat deutlich macht, scheint Freud davon auszugehen, dass das Begehren nach einem weiblichen Körper immer aus einer männlichen Identifizierung heraus erfolgt und umgekehrt. »Beim Untergang des Ödipuskomplexes werden die vier in ihm enthaltenen Strebungen sich derart zusammenlegen, daß aus ihnen eine Vater- und eine Mutteridentifizierung hervorgeht, die Vateridentifizierung wird das Mutterobjekt des positiven Komplexes festhalten und gleichzeitig das Vaterobjekt des umgekehrten Komplexes ersetzen; Analoges wird für die Mutteridentifizierung gelten. In der verschieden starken Ausprägung der beiden Identifizierungen wird sich die Ungleichheit der beiden geschlechtlichen Anlagen spiegeln.« (Freud 1975 [1923]: 301)

II. 2. »D AS U NBEHAGEN

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dem Nachweis solcher »ursprünglichen Anlagen« wirklich etwas beiträgt. Seine Darstellung bleibt – was wiederum für das antifundamentalistische Potenzial seiner Theorie spricht – sowohl der Frage nach dem Inhalt solcher Anlagen als auch der nach den Kriterien der Unterscheidung zwischen »primären Anlagen« und »sekundär« erworbener Identifizierung eine Antwort schuldig. Was, so fragt Butler, hindert uns in diesem Fall jedoch daran, »die ›Anlagen‹ der Bisexualität als Effekte oder Produkte einer Reihe von Verinnerlichungen zu verstehen?« (Butler 1991: 97) Und indem sie im weiteren die Implikationen von Freuds Konzept der Melancholie für den Verlauf der ödipalen Phase untersucht, gelingt es ihr, die repressive Fassung des Inzestverbotes im Sinne von Foucaults Begriff der Macht zu reformulieren und zu zeigen, dass Freuds Erzählung des Ödipuskomplexes ein Tabu gegen die Homosexualität einschließt, das die von Freud vorausgesetzten »männlichen« und »weiblichen« Dispositionen hervorbringt und die Ausgangssituation der ödipalen Phase überhaupt erst ermöglicht. Den Ausgangspunkt dieser Auslegung liefern Freuds Schriften »Trauer und Melancholie« von 1917 und »Das Ich und das Es« von 1923. In dem erstgenannten Aufsatz geht Freud der Vermutung nach, dass das Phänomen der Melancholie ebenso wie das der Trauer auf einen realen Objektverlust zurückzuführen ist. Während der Objektverlust von dem Trauernden jedoch aufgrund seines Wissens um diesen Verlust akzeptiert und somit durch eine sukzessive Ablösung der Libido von dem Objekt psychisch verarbeitet werden könne, sei dem Melancholiker oft überhaupt nicht bewusst, dass er einen solchen Verlust erlitten habe, oder, wenn es ihm doch bewusst sei, sei ihm nicht bekannt, was er an dem Objekt verloren hat. Infolgedessen versperre die fehlende Akzeptanz des Objektverlustes den Weg zur erfolgreichen Trauerarbeit und verhindere, dass die frei gewordene Libido auf ein anderes Objekt verschoben werden kann. An dieser Stelle eröffnet Freud eine zweite Analogie, indem er einen Zusammenhang herstellt zwischen der Melancholie und »dem Vorgang der Regression von der narzißtischen Objektwahl zum Narzissmus« (Freud 1975 (1917 [1915]): 204)4. Im Gegensatz zur Trauer werde das verlorene Objekt im Ich wieder aufgerichtet (Introjektion). Da die Melancholie jedoch aus einer durch Ambivalenz gekennzeichneten Beziehung zum Liebesobjekt entstehe, z.B. einer von »Kränkung, Zurücksetzung und Enttäuschung« geprägten Beziehung (ebd.: 205), erfahre die Umsetzung von Objektlibido in narzisstische Libido eine weitere schicksalhafte Wendung: 4 | Die Verwendung des Terminus »Regression« ist darauf zurückzuführen, dass für Freud »die Identifizierung die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt« (Freud 1974 [1921]: 100) darstellt und erst den Weg zur libidinösen Objektbindung eröff net. Das Ersetzen einer libidinösen Objektbesetzung durch eine narzißtische Identifizierung wird von ihm dementsprechend als »regressiv« interpretiert. Später in das »Ich und das Es« gelangt er dann zu der Auffassung, dass mit dieser Umwandlung ebenfalls eine Desexualisierung, »eine Art von Sublimierung« einhergeht (Freud 1975 [1923]: 298).

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»Hat sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzißtische Identifizierung geflüchtet, so betätigt sich an diesem Ersatzobjekt der Haß, indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht und an diesem Leiden eine sadistische Befriedigung gewinnt.« (Ebd.: 205)

Diese Schuldzuschreibung, die sich zuvor gegen das Objekt richtete und nun gegen einen Teil des eigenen Ichs wendet, wertet Freud in späteren Texten als eine weitere Bestätigung für seine »Entdeckung« der Spaltung des Ichs in Ich und Ich-Ideal. So schreibt er in »Massenpsychologie und IchAnalyse«: »Diese Melancholien zeigen uns aber noch etwas anderes, was für unsere späteren Betrachtungen wichtig werden kann. Sie zeigen uns das Ich geteilt, in zwei Stücke zerfällt, von denen das eine gegen das andere wütet. Dies andere Stück ist das durch Introjektion veränderte, das das verlorene Stück einschließt. Aber auch das Stück, das sich so grausam betätigt, ist uns nicht unbekannt. Es schließt das Gewissen ein, eine kritische Instanz im Ich, die sich auch in normalen Zeiten dem Ich kritisch gegenübergestellt hat, nur niemals so unerbittlich und so ungerecht.« (Freud 1974 [1921]: 102)

In »Das Ich und das Es« erfährt diese Konzeption der Melancholie eine Ausweitung, die sie für Butlers Vorhaben interessant macht. Freud äußert hier die Vermutung, dass die für die Melancholie charakteristische Umwandlung einer libidinösen Objektbesetzung in eine Ichveränderung kein Sonderfall ist, sondern als ein allgemeiner Modus der Aufgabe von Liebesobjekten in Betracht gezogen werden muss. Dies würde bedeuten, dass »der Charakter des Ichs« als »ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen« (Freud 1975 [1923]: 297) begriffen werden kann. Obwohl Freud an dieser Stelle mit einer Diskussion des Ödipuskomplexes, in dessen Mittelpunkt ja gerade die Aufgabe von Liebesobjekten steht, fortfährt, beschäftigt er sich nicht mit der Frage, in welcher Weise eine solche der Melancholie ähnliche Verarbeitungsweise in die Genese der Sexualität und Geschlechtsidentität eingreifen würde. Stattdessen konstatiert Freud etwas verwundert am Ende seiner Darstellung des Ödipuskomplexes, dass dessen Resultate sich nicht mit einer melancholischen Verarbeitungsweise von Objektverlusten in Einklang bringen lassen: »Diese Identifizierungen entsprechen nicht unseren Erwartung, denn sie führen nicht das aufgegebene Objekt ins Ich ein, aber auch dieser Ausgang kommt vor und ist bei Mädchen leichter zu beobachten als bei Knaben.« (Ebd.: 300)

Demgegenüber insistiert Butler darauf, dass die melancholische Identifizierung innerhalb des Ödipuskomplexes sogar schon vor dem Inzesttabu eine tragende Rolle spielen muss und Entscheidendes zur Bildung der Geschlechtsidentität beiträgt. Nimmt man nämlich Freuds Postulat der primären Bise-

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xualität und damit die Annahme eines vollständigen Ödipuskomplexes beim Wort, so ist es, wie ich bereits eingangs erläutert habe, nicht einzusehen, warum sich das Begehren des Jungen ausschließlich auf die Mutter richten sollte. Vielmehr erfordert die ausschließlich heterosexuelle Ausrichtung des Jungen, die Freud implizit entgegen seinen eigenen Prämissen vorauszusetzen scheint, die Verneinung der Möglichkeit eines homosexuellen Begehrens. Butler geht deshalb davon aus, dass dem Inzesttabu ein Tabu der Homosexualität vorausgehen muss, das nicht nur die Aufgabe des gleichgeschlechtlichen Elternteils als Liebesobjekt, sondern die Verwerfung des homosexuellen Begehrens als solchen erfordert. Setzt man voraus, dass die »Identifizierung überhaupt die Bedingung [ist], unter der das Es seine Objekte aufgibt« (Freud 1975 [1923]: 297), so resultiert aus der präventiven Verneinung des homosexuellen Begehrens eine Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Liebesobjekt. Mit anderen Worten: Die Zurückweisung des homosexuellen Begehrens bleibt in der Form der Wiederaufrichtung des Liebesobjektes in der Psyche bewahrt. »Daher«, so Butler, »›… bemächtigt sich der Knabe (des Vaters) durch Identifizierung‹« (Butler 1991: 95). Die »Knabe-Vater-Identifizierung«, die laut Freud durch den positiv gelösten Ödipuskomplex lediglich verstärkt wird und neben der Objektbesetzung der Mutter bereits beim Eintritt vorhanden ist, ist für Freud eine primäre und geht nicht aus einer vorhergehenden Objektbesetzung hervor. Für Butler hingegen stellt diese Identifizierung das Ergebnis einer Prohibition dar, die innerhalb der Logik dieser Erzählung älter sein muss als das Inzesttabu. Demnach schaff t das Verbot der Homosexualität erst die »primären Anlagen«, die Freud bereits voraussetzt, und die Ausgangskonstellation des Ödipuskomplexes. Erst in diesem Akt bildet sich überhaupt die Möglichkeit geschlechtsspezifischer Dispositionen aus. »Der Ödipuskomplex setzt voraus, daß heterosexuelles Verlangen bereits errungen worden ist, daß die (eigentlich nicht notwendige) Unterscheidung zwischen heterosexuell und homosexuell durchgesetzt worden ist. In diesem Sinne setzt das Inzestverbot das Verbot der Homosexualität voraus, denn es geht bereits von der Heterosexualisierung des Begehrens aus. Um zu dieser Einsicht zu gelangen müssen wir in der Tat von der Annahme ausgehen, daß das Männliche und Weibliche nicht Dispositionen sind, wie Freud manchmal argumentiert, sondern Errungenschaften, und zwar solche, die gemeinsam mit dem Erlangen von Heterosexualität entstehen.« (Butler 1994: 171)

Dieser Auffassung zufolge unterdrückt das Inzestverbot nicht eine bereits vorab gegebene Sexualität und kanalisiert auf diese Weise die Geschlechtsidentität. Vielmehr ist es die differenzielle Beziehung zwischen dem Inzesttabu und der heterosexuellen Norm, die eine distinkte Sexualität und Geschlechtsidentität produziert. Damit weist Butler nicht nur darauf hin, dass die »primären« geschlechtlichen Anlagen, die Freuds Diskurs bestimmen, erst durch die Ausbildung eines heterosexuellen Begehrens gebildet werden, sondern auch das Verbot der Homosexualität richtet sich aus ihrer Sicht nicht auf ein bereits bestehendes Begehren. Entscheidend für die Aus-

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bildung einer heterosexuellen Orientierung und einer Geschlechtszugehörigkeit ist also nicht, ob eine libidinöse Besetzung des gleichgeschlechtlichen Elternteils tatsächlich bestanden hat und aufgegeben wurde, sondern die Zurückweisung dieser Möglichkeit: »Wenn das Annehmen von Weiblichkeit und das Annehmen von Männlichkeit durch das Erringen einer immer fragilen Heterosexualität vor sich geht, besteht die Macht dieser Leistung in der Verpflichtung zur Abwendung von homosexuellen Bindungen. Oder vielleicht schärfer formuliert, die Heterosexualität verpflichtet zur Prävention der Möglichkeit homosexueller Bindung, zu einer bestimmten Verwerfung des Möglichen.« (Ebd.: 171)

Während Freud die Bisexualität als ursprüngliche libidinöse Anlagen voraussetzt, argumentiert Butler, dass der Versuch der Unterscheidung zwischen einem sexuellen Zustand »vor dem Gesetz« und »nach dem Gesetz« immer schon eingebunden ist in die »Sprache eines ›nachher‹«, weswegen man nicht wissen kann, was »vor dem Gesetz« liegt. Da innerhalb der Psychoanalyse das Inzestverbot als das begründende Moment der Gründung des Subjekts betrachtet wird, impliziere jede Beschreibung einer Sexualität vor dieser Reglementierung notwendigerweise die Perspektive des »nachher« und bewirke somit »ein Einsickern des Gesetzes in den Schauplatz seiner Abwesenheit« (Butler 1991: 116). Demnach erweise sich das homosexuelle Begehren selbst als ein Teil der »vielfältige(n) Konfiguration der Macht« (ebd.: 118) und müsse paradoxerweise als ein produzierter Effekt des Verbotes betrachtet werden. Während sich jedoch Foucault in »Der Wille zum Wissen« in erster Linie auf den produktiven Charakter von Normen konzentriert, verweist Butler darüber hinaus auch auf die notwendig repressive Dimension dieser Kraft. Deshalb hebt sie mit Nachdruck hervor, dass die kulturelle Hegemonie der Heterosexualität auf die Herstellung eines sexuellen Bereiches angewiesen ist, der gerade produziert werden muss, um verworfen zu werden, der als ihr konstitutives Außen jedoch ganz und gar zum kulturellen Diskurs gehört, in dem diese Differenz gebildet wird. Ihr Anliegen besteht zum einen darin, zu zeigen, wie die Annahme einer ›originären Sexualität‹ vor jeder kulturellen Ausformung dazu beiträgt die Geschichte dieser Konstruktionen zu verschleiern. Zum anderen verfolgt sie, wie die marginalisierten Formen der Sexualität die heterosexuelle Ausrichtung heimsuchen und anfechten. Der begriffliche Rahmen der Psychoanalyse und die ihr inhärente Eigenlogik bieten Butler eine Möglichkeit der Darstellung der psychischen Struktur der Heterosexualität, die dies deutlich zum Vorschein bringt. Sofern die Annahme eines heterosexuellen Begehrens auf der Zurückweisung eines homosexuellen Begehrens beruht, das im Ich melancholisch aufbewahrt bleibt, ist die disjunktive Entgegensetzung von Homo- und Heterosexualität eine kulturelle Fiktion, die zwar unerlässlich ist um die Vorstellung einer naturgegebenen Heterosexualität zu konstruieren, die jedoch niemals vollkommen funktionieren kann. Denn streng genommen erfolgt die heterosexuelle

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Identifizierung nicht durch einen vollkommenen Ausschluss der Homosexualität, sondern »durch eine Identifizierung mit einer verwerflichen Homosexualität, die sich sozusagen niemals zeigen darf« (Butler 1995: 154). Da die Verneinung der Möglichkeit eines homosexuellen Begehrens einen Verlust darstellt, der niemals anerkannt werden darf, – denn dies würde ja bedeuten gerade diejenige Norm zu durchbrechen, die diese Aufgabe erzwungen hat – kann er auch nicht betrauert werden. Letztendlich bildet also die melancholische Auf bewahrung des homosexuellen Begehrens den Kern der heterosexuellen Orientierung. Demnach, so Butler, ist der Heterosexismus darauf angewiesen mit einem Feld des Sexuellen zu operieren, das zwar verworfen werden muss, aber niemals vollkommen ausgelöscht werden kann, da die heterosexuelle Norm ja gerade nur vermittels dieses Gebiets artikuliert werden kann (vgl. ebd.: 154). Auf diese Weise produziert das Verbot aber immer auch eine widerständige Kraft, die sich potenziell gegen es selbst wenden kann.

2.2 Das Verhältnis z wischen Identifizierung und Begehren in Butlers Konzeption des melancholischen Geschlechts Wie ist jedoch die psychische Geschlechtsidentität beschaffen, wenn Butlers Vermutung zutreffen sollte, dass die Geschlechtsidentität zumindest teilweise durch ein melancholisch auf bewahrtes Begehren gebildet wird? In der, wie Butler selbst einräumt, stark schematisierenden Figur der melancholischen Geschlechtsidentität wird man, zumindest teilweise zu einem Mann oder zu einer Frau, indem man die Möglichkeit der Liebe zu einer Person des eigenen Geschlechts verleugnet. Legt man eine melancholische Verarbeitung von Verlusten zugrunde, birgt das Verbot der Homosexualität also zwei Dimensionen in sich, die nicht voneinander zu trennen sind. Zum einen deutet Butler das melancholische Festhalten des verbotenen gleichgeschlechtlichen Liebesobjektes als die Ausbildung eines heterosexuellen Begehrens, dessen homosexueller Kern niemals anerkannt werden darf, zum anderen als Basis der Geschlechtsidentität. Das Liebesobjekt, das nicht begehrt werden darf, wird als Teil des Ichs aufrechterhalten. Aus dieser Sicht verkörpert die Geschlechtsidentität »den unbetrauerten Verlust der homosexuellen Besetzung« (Butler 1994: 172): »Wenn man in dem Maße ein Mädchen ist, in dem man kein Mädchen will,5 wird das Verlangen nach einem Mädchen das Mädchensein in Frage stellen; innerhalb dieser Matrix löst homosexuelles Begehren Panik um die Geschlechtsidentität aus.« (Ebd.: 172) 5 | Deutsche Übersetzung geändert. Im Original heißt es: »If one is a girl to the extent that one does not want a girl, then wanting a girl will bring being a girl into question; within this matrix, homosexual desire thus panics gender.« (Butler 1997: 136)

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Wie Butler jedoch selbst bemerkt, wird die Geschlechtsidentität nur »teilweise« durch die Zurückweisung homosexueller Bindungen erreicht (vgl. ebd.: 172), so dass es nicht ausreicht die melancholische Auf bewahrung einer Identifizierung mit einer verwerflichen Homosexualität als eine fundierende Geste zu beschreiben, die die psychische Struktur der Geschlechtsidentität ermöglicht und markiert. Ein »›Mann‹ zu werden«, schreibt Butler, in Anspielung auf die psychoanalytische Figur der Kastrationsdrohung, »erfordert die Zurückweisung von Weiblichkeit«, und diese zurückgewiesene Identifizierung kennzeichnet ihrer Ansicht nach »das Verlangen nach dem Weiblichen« (vgl. Butler 1994: 173). Interessanterweise bildet diese Ablehnung innerhalb von Butlers genealogischer Beschreibung gleichzeitig diejenige normative Forderung, durch die die Heterosexualisierung erzwungen wird, und diejenige Zurückweisung, durch die die geschlechtsbezogene Identifizierung neben der Ausbildung eines heterosexuellen Begehrens gekennzeichnet sein soll. Wenn »ein Mann durch die Zurückweisung des Weiblichen heterosexuell wird« (ebd.: 173), so stellt nicht nur, wie eben dargestellt, das Verfehlen eines heterosexuellen Begehrens eine Bedrohung der Geschlechtsidentität dar, sondern umgekehrt scheint das Verbot der Homosexualität seine Durchsetzungskraft aus der Drohung der Verfehlung der ›richtigen‹ Geschlechtsidentität zu beziehen. Diese Abhängigkeit zwischen dem Inzesttabu und dem Verbot der Homosexualität spricht dafür, dass die Regulierung der Sexualität und des Geschlechts sich nicht auf eine einzige gesetzgebende Instanz – bei Freud das Inzesttabu, bei Lacan das phalluszentrierte symbolische Gesetz – beschränken lässt. Aber auch wenn die von Butler beschriebene Beziehung zwischen dem Inzesttabu und der heterosexuellen Norm darauf hinzuweisen scheint, dass Normen durch ein Netz von Beziehungen untereinander getragen werden, die sich der Linearität einer einfachen kausalen Kette (wie etwa die Heterosexualisierung bringt die Geschlechtszugehörigkeit hervor) widersetzen, sieht es auf den ersten Blick so aus, als würde sie sich in eine zirkuläre Erklärung verstricken, der zufolge Identifizierung und Begehren entstehen, indem sie sich gegenseitig ausschließen und einander ersetzen. Die Zurückweisung des verbotenen sexuellen Begehrens bildet die Geschlechtsidentität und die Zurückweisung der ›falschen‹ Geschlechtsidentität produziert ein ›ordnungsgemäßes‹ Begehren6. »Wenn ein Mann durch die Zurückweisung des Weiblichen heterosexuell wird, wo lebt dann diese Zurückweisung außer in einer Identifizierung, die diese heterosexuelle Karriere zu verneinen sucht? In Wirklichkeit ist das Begehren des Weiblichen von dieser Zurückweisung gekennzeichnet: Er will die Frau, die er 6 | Wobei die Entwicklung einer bestimmten Geschlechtsidentität und eines bestimmten Begehrens, wie Butler in »Körper von Gewicht« zeigt, immer schon voraussetzt, dass ein bereits geschlechtlich bezeichneter Körper existiert, dessen Markierung durch die Entwicklung eines entsprechenden Begehrens und einer entsprechenden Geschlechtsidentität bestätigt werden muss.

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nie sein wollte; ja, er würde nicht im Traum sie sein wollen: deshalb will er sie.« (Ebd.: 173)

Nun hebt Butlers Rückgriff auf das Schema der Melancholie aber gerade darauf ab, dass das Verhältnis zwischen Identifizierung und Begehren nicht als ein ausschließender Gegensatz bestimmt werden kann. Insofern in der Melancholie das Begehren nicht ausgelöscht, sondern umgelenkt und aufbewahrt wird, spricht ihre Lesung von Freud zwei unterschiedliche Ebenen an: Erstens liefert das Konzept der Melancholie eine Erklärung dafür, wie die Ausbildung einer bestimmten Geschlechtsidentität mit der Ausbildung einer heterosexuellen Orientierung in Freuds Beschreibung des Ödipuskomplexes zusammenhängt. Während Freud, trotz seiner Behauptung von bisexuellen Anlagen auszugehen, letztendlich einen heterosexuellen Ausgang zugrunde legt, arbeitet Butler heraus, wie die Binarität des Geschlechts durch die Produktion eines vordiskursiven Bereichs, wie des der Bisexualität und des natürlich gegebenen Geschlechtskörpers, ermöglicht und unterstützt wird und zeigt, dass die Regulierungen des Geschlechts und der Sexualität nicht von einem singulären Gesetz aus gedacht werden können. Zweitens, und dies soll im Folgenden näher erörtert werden, unterstützt das Konzept der Melancholie Butlers Annahme, dass Normen zwangsläufig entgegen ihrer Zielsetzung ein Feld sexueller Identifizierungen erzeugen, die das dualistische Schema der Heterosexualität und das binäre Konzept der disjunktiven Zweigeschlechtlichkeit übersteigen. Interessant an dieser These ist, dass Butler hierbei hervorhebt, dass sich diesbezügliche Inkongruenzen nicht auf ›kulturell geläufige‹ oder ›offensichtliche‹ Verstöße wie den der Homosexualität beschränken, sondern sich auch auf den abschweifenden Charakter einer scheinbar der Norm entsprechenden Geschlechtsidentität und Sexualität beziehen. In »Körper von Gewicht« schreibt sie zu den möglichen Abweichungen vom psychoanalytischen Schema der ödipalen Identifizierungen und deren Klassifikation: »Was passiert, wenn die primären Verbote gegen den Inzest Verschiebungen und Substitutionen erzeugen, die den oben umrissenen Modellen nicht entsprechen? Tatsächlich kann eine Frau die phantasmatischen Erinnerungsspuren ihres Vaters bei einer anderen Frau finden oder ihr Begehren nach der Mutter in einem Mann substituieren, wobei an diesem Punkt eine gewisse Überkreuzung des heterosexuellen und homosexuellen Begehrens zugleich wirksam ist. […] Wenn sich aber ein Mann mit seiner Mutter identifizieren kann und aus dieser Identifizierung heraus ein Begehren erzeugen kann (ein zweifellos komplizierter Prozeß, dem ich hier nicht gerecht werden kann), hat er die psychologische Beschreibung einer stabilen Geschlechtsentwicklung bereits durcheinander gebracht. Wenn derselbe Mann nun einen anderen Mann begehrt oder eine Frau, ist sein Begehren, dann homosexuell, heterosexuell oder gar lesbisch?« (Butler 1995: 138)

Wenn man die Identifi kation als eine Phantasie versteht, ein verlorenes Objekt zu substituieren, und es möglich ist, aus solchen Phantasien heraus

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erneut einen Ort des Begehrens zu konstituieren, so argumentiert Butler in diesem Text wenige Zeilen später, »folgt daraus, daß wir nicht in der Lage sind, uns entweder mit einem gegebenen Geschlecht zu identifizieren oder irgendjemanden dieses Geschlechts zu begehren« (Butler 1995:138 Hervorh. i. Orig.). Nun gesteht Butler durchaus zu, dass die Angst vor der Strafandrohung, mit der ein homosexuelles Begehren belegt ist, größer sein kann als das Verlangen ein verbotenes Objekt wiederzuerlangen. Doch selbst wenn wir aus diesem Grund »eine Person begehren, die uns davor bewahren wird, das Begehren, für das wir straf bar sind, jemals zu sehen« (ebd.: 139), entsteht dieses Begehren, so scheint Butler ihre Position zu begründen, aus einer Identifi kation heraus, die zumindest teilweise auf den erzwungenen Verzicht desjenigen Liebesobjektes zurückzuführen ist, das nicht in den Blick geraten darf. Als Schauplatz der Regulierung des Begehrens, so Butler, schließt die Identifi kation das Begehren nicht einfach aus. Insofern eine Identifizierung als eine Ablenkung des Begehrens verstanden werden kann, in dem Sinn, dass das Ich phantasiert das Objekt zu substituieren, wird nicht das Begehren aufgegeben, sondern sein Objekt, so dass man sagen kann, dass das Begehren in der Identifizierung Begehren bleibt, »wenn auch nur in seiner verworfenen Form« (ebd.: 139). »Während das Objekt selbst aufgegeben wird«, schreibt Freud, hat »sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann […] in die narzißtische Identifizierung geflüchtet« (Freud 1975 (1917 [1915]): 205). Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Vorstellung von einem disjunktiven Verhältnis zwischen Begehren und Identität als eine Konzeption, in der das ambivalente Verhältnis zwischen Identifi kation und Begehren geleugnet wird. Butler insistiert deshalb darauf, dass sich die Identifi kation und das Begehren innerhalb eines binären Geschlechterschemas nicht eindeutig verorten lassen und dass selbst innerhalb einer heterosexuellen Beziehung die Position, von der aus man begehrt, und das Objekt des Begehrens nicht diametral bestimmt sein müssen. Problematischerweise bleibt in ihrer Argumentation jedoch mehr oder weniger ungeklärt, wie die »Bewahrung des Begehrens« die melancholische Identifizierung gleichzeitig konstituiert und destabilisiert. Und soweit sich eine Begründung abzeichnet (s.o.), ist diese prekär, weil sie – entgegen ihrer deklarierten Absicht – zumindest implizit Freuds frühere Annahme voraussetzt, dass Objektbesetzungen von einem bereits konstituierten und weitgehend kontinuierlich strukturierten Ich ausgehen und gegebenenfalls in es zurückgezogen werden7. Denn wenn man argumentiert, dass die Ich7 | 1914 führt Freud in »Zur Einführung des Narzissmus« zum ersten Mal eine Unterscheidung zwischen einer Ichlibido und einer Objektlibido ein. Unter Ichlibido versteht Freud die libidinöse Besetzung der eigenen Person, unter Objektlibido die Besetzung eines äußeren Objektes (Freud 1975 (1914)). Für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang ist es wichtig, dass er dem Ich die Rolle der lebenslangen Auf bewahrung der Libido zuspricht, also das Ich als ein »Reservoir« betrachtet, von dem aus sowohl die libidinöse Besetzung von äußeren Objekten erfolgt als auch die Aufgabe einer Objektbesetzung. In der Vorlesung »Zur Einführung in die

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libido durch den Wunsch markiert sein soll ein verlorenes Objekt wiederzugewinnen und hieraus schließt, dass die erneute Objektbesetzung weiterhin durch diesen Wunsch geprägt ist, versteht man eine Objektbesetzung als eine Umsetzung von Ichlibido in Objektlibido und setzt eine relativ kontinuierliche Struktur dieses »Reservoirs« voraus. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welcher Weise die »Bewahrung« des Begehrens das sich identifizierende Ich hervorbringt und in seiner Selbstidentität untergräbt und inwiefern Identifizierungen aus diesem Grund notwendigerweise über das binäre Schema der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität hinausgehen. Obwohl Butlers Analyse des Geschlechts und der Sexualität deutlich macht, dass normative Identifizierungen nur scheinbar einer Logik des Ausschlusses folgen, und es gerade die Möglichkeit der Abweichung ist, die die normative Position konstituiert und damit auch anficht, bleibt in ihrer Diskussion der Melancholie weitgehend unklar, wie diese Anfechtung in die Ausbildung der subjektiven Geschlechtszugehörigkeit und der sexuellen Orientierung eingreift und diese als einheitliche dem Subjekt präsente Erfahrungen unterminiert. In den folgenden Kapiteln sollen diese Fragen ausgehend von Butlers Auseinandersetzung mit der Genese des Ichs weiterverfolgt werden.

Psychoanalyse« (Freud 1969 (1916-17 [1915-17])) beschreibt er dieses Verhältnis folgendermaßen: »Um es kurz zu fassen, wir machten uns von dem Verhältnis der Ichlibido zur Objektlibido eine Vorstellung, die ich Ihnen durch ein Gleichnis aus der Zoologie veranschaulichen kann. Denken sie an jene einfachsten Lebewesen, die aus einem wenig differenzierten Klümpchen protoplasmatischer Substanz bestehen. Sie strecken Fortsätze aus, Pseudopodien genannt, in welche sie ihre Leibessubstanz fortfließen lassen. Sie können diese Fortsätze aber auch wieder einziehen und sich zum Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze vergleichen wir nun der Aussendung von Libido auf die Objekte, während die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann, und wir nehmen an, dass unter normalen Verhältnissen Ichlibido ungehindert in Objektlibido umgesetzt und diese wieder ins Ich aufgenommen werden kann.« (ebd.: 401f.). Während Freud 1914 noch davon ausgegangen war, dass das Ich als ursprüngliches Reservoir der Libido anzusehen ist, revidiert er diese Annahme nach der ›Entdeckung‹ des Es: »Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist. Das Es sendet einen Teil dieser Libido auf erotische Objektbesetzungen aus, worauf das erstarkte Ich sich dieser Objektlibido zu bemächtigen und sich dem Es als Liebesobjekt aufzudrängen sucht.« (Freud 1975 (1923): 312f.). Ob die ersten Objektbesetzungen vom Ich oder vom Es ausgehen, bleibt in Freuds weiteren Schriften widersprüchlich (vgl. ebd.: Editorischer Anhang II zu »Das Ich und das Es«). Unabhängig davon scheint Freud jedoch daran festzuhalten, dass die sekundären Objektbesetzungen vom Ich ausgehen und nur in Ausnahmefällen der narzißtisch gewordenen Libido der Rückweg zu den Objekten versperrt bleibt.

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2.3 Zum melancholischen Charak ter des Ichs Wie bislang dargestellt mündet die Melancholie in eine Reihe von Selbstvorwürfen, die das Über-Ich, das in Freuds Topographie der Psyche als Anwalt des Es zu verstehen ist8, gegen das Ich richtet. Anscheinend bildet sich in der Melancholie ein Ich aus, das sich selbst anstelle des anderen zum Objekt seiner Liebe und seines Hasses nimmt. Hierbei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass diese Substitution dem auf diese Weise entstehenden reflexiven Selbstverhältnis verborgen bleibt. In der Erzählung der Melancholie weiß das Ich nicht, dass es sich hierbei um Gefühlsregungen handelt, die sich nicht auf es selbst, sondern auf das verlorene Objekt beziehen. Dieser Bezug zu etwas anderem als es selbst, der in der Melancholie nur verstellt bewusst werden kann, stellt paradoxerweise gleichzeitig die Möglichkeit und die Unmöglichkeit des Selbstbezugs des Ichs dar, so dass man sagen kann, dass die Identifizierung paradoxerweise nur insoweit möglich ist, wie sich das Objekt der Bemächtigung durch das Ich entzieht. Anders formuliert kann man auch sagen, dass sich das Ich nur auf sich selbst beziehen kann, wenn es selbst auch nach dem Modell eines Objekts, das immer eine Differenz zum betrachtenden Subjekt impliziert, formiert worden ist. Wie Butler wiederholt argumentiert hat, ist nicht abzusehen, in welcher Form das Ich vor der Wendung der Libido vom Objekt zu sich selbst überhaupt existieren soll. Denn die Erzählung der Melancholie, in der die Widerständigkeit gegen eine vollständige Assimilierung des Objekts in der Identifizierung deutlich zu Tage tritt, widersetzt sich jedem Versuch ihre Protagonisten in einer chronologischen Reihenfolge auftreten zu lassen9. Wenn »der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist« (Freud 1975 [1923]: 8 | In »Das Ich und das Es«, in dem Freud seine bisherige Topik der Psyche (Ubw, Vbw, Bw) durch die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Es ersetzt, ordnet er das Über-Ich weder eindeutig dem Ich noch dem Es zu (vgl. Freud 1975 [1923]: 292ff.). Insofern das Über-Ich als Residuum der ersten verdrängten Objektbesetzungen zu betrachten ist und damit selbst Verdrängtes beinhaltet, scheint es dem Es näher zu stehen als dem Ich. Und insofern es »als unbewußtes Schuldgefühl über das Ich« herrscht (ebd.: 302), kommt Freud zu dem Schluss, dass das Über-Ich das Es gegenüber dem Ich vertritt: »Das Ichideal ist also der Erbe des Ödipuskomplexes und somit Ausdruck der wichtigsten Libidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des Ödipuskomplexes bemächtigt und gleichzeitig sich selbst dem Es unterworfen. Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist, tritt ihm das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es gegenüber. Konflikte zwischen Ich und Ideal werden, darauf sind wir nun vorbereitet, in letzter Linie den Gegensatz von Real und Psychisch, Außenwelt und Innenwelt, widerspiegeln.« (Ebd.: 303) 9 | Dies gilt in gewisser Weise auch für die beiden weiteren Ebenen, auf denen Freud die Genese des Ichs behandelt: das Ich als der durch die Einflüsse der Außenwelt und dessen Wahrnehmung veränderte Teil des Es (vgl. Freud 1975 [1923]: 293) und das Ich als ein körperliches (ebd.: 294). In diesen beiden Fällen lassen sich die

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297), ist unklar, von welchem Ort aus die Libidobesetzung ihren Ausgang genommen hat und zu wem sie zurückkehrt. Die Umlenkung der Libido vom Objekt auf ein das Objekt substituierendes Ich begründet für Butler nicht nur ein sexuell und geschlechtlich bestimmtes Selbstverhältnis, sondern bringt das Ich erst hervor (vgl. Butler 2001: 158). Freuds Darstellung der Melancholie mündet in einer Szene, in der das Ich zum Objekt seiner eigenen Liebe, Beobachtung und Verurteilung wird. Diese Selbstbindung scheint dem Ich überhaupt erst eine Form zu geben, in der es sich selbst ›als etwas‹ wahrnehmen kann. Für Butler handelt es sich bei der Melancholie um die Artikulation einer Ambivalenz, die zwar möglicherweise als das Resultat des Verlustes verstanden werden kann (vgl. Butler 2001: 162), die letztendlich der psychischen Topographie jedoch vorhergeht und durch sie artikuliert wird (vgl. ebd.: 163). Ihre Argumentation legt nahe, dass die unbewusste Szene einer Ablösung von einer Verhaftung mit einem »äußeren Objekt«, also einem Bezug zu einem in der »äußeren Realität« angesiedelten Objekt, versetzt bzw. umgelegt oder vielleicht besser umgeschrieben wird in ein rein innerliches Drama. Diese Transformation ist aus Freuds Sicht die Möglichkeitsbedingung der Ablösung von der Beziehung zu dem »äußeren Objekt« und aus Butlers Sicht die Möglichkeitsbedingung der »Erfindung« eines psychischen Innenraumes. »Die ›Flucht‹ der Liebe ins Ich ist dieser Versuch, die Auf hebung* gleichsam im Inneren zu horten, sie der äußeren Realität zu entziehen und eine innere Topographie zu eröff nen, in der die Ambivalenz vielleicht anders artikuliert werden kann. Der Rückzug der Ambivalenz eröff net so die Möglichkeit einer psychischen Transformation, ja der Erfindung einer psychischen Topographie.« (Butler 2001: 164)

Demzufolge wird der zuvor äußerliche Objektbezug und der Kampf um ihn repräsentiert durch die Instanz des gespaltenen Ichs, das nun – im Gegensatz zu der ersten Szene, in der unklar ist, von wem oder was die Libido überhaupt ausgeht – beide Rollen übernimmt: den des Ausgangsortes von Liebe und Hass und den des Objekts. D.h., der Ausgangspunkt der Libido wird erst in dieser Szene »nachträglich« bestimmt. »Das Ich soll zwar der Ausgangspunkt für eine Libido sein, die dann ins Ich zurückgezogen wird, aber nunmehr sieht es so aus, als könne das Ich erst mit einem solchen Rückzug Objekt für das Bewußtsein werden, etwas, das sich überhaupt repräsentieren läßt, ob nun als Ausgangspunkt oder als Ort einer Rückkehr. Die Wendung ›ins Ich zurückgezogen‹ ist in der Tat erst das rückwirkende Erzeugnis des melancholischen Prozesses, den sie zu beschreiben vorgibt.« (Ebd.: 165/166) diesbezüglichen Vorgänge und Verhältnisse ebensowenig in eine lineare Zeitfolge bringen wie in der Melancholie.

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Die Topographie des Ichs und des Über-Ichs, hier folgt Butler ganz und gar Freud, wird für Butler auf diese Weise zu einem Abbild für eine Ambivalenz, die dem Bewusstsein ansonsten entzogen bleiben müsste. Dies bedeutet nicht nur, dass Freuds Topographie der Psyche die Melancholie nicht erklären kann, sondern auch, dass der Bezug auf die Psyche als einen in seine verschiedene Teile gegliedertern Innenraum, in dem die Liebe zum Objekt zurückgezogen wird, erst innerhalb der Figur der Melancholie hervorgebracht wird (vgl. ebd.: 159). »Die Wendung vom Objekt zum Ich ist die Bewegung, die zwischen beiden zu unterscheiden erlaubt, die die Teilung, die Trennung oder den Verlust markiert, mit dem die Ichbildung überhaupt erst beginnt. So gesehen scheitert die Wendung vom Objekt zum Ich an der erfolgreichen Ersetzung des Objekts durch das Ich, aber sie scheitert nicht an der Markierung und Fortschreibung der Teilung zwischen beiden. Die Wendung bringt somit die Teilung zwischen Ich und Objekt, innerer und äußerer Welt erst hervor, die sie schon vorauszusetzen scheint.« (Ebd.: 159f.)

Demnach handelt es sich bei der Erzählung der Melancholie auch um eine Erzählung, die von der fragilen Grenzziehung zwischen einer »inneren« und einem »äußeren« Räumlichkeit und der ebenso schwankenden Differenzierung zwischen einem Ich und einem Objekt berichtet. Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für Butlers Modell der melancholischen Geschlechtsidentität und inwiefern schärft dies den Blick für die fundamentalen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind eine Identifizierung als gleichgeschlechtlich zu klassifizieren? Problematischerweise beschränkt Butler sich darauf hervorzuheben, dass die Formierung des Ichs als Ersatzobjekt für das verloren gegangene Objekt als eine Verräumlichung zu verstehen ist, die die Vorstellung von der »Innerlichkeit« der Psyche erst hervorbringt. Wenn das Ich aber erst im Zuge der Aufgabe und des (nicht ganz erfolgreichen) Ersetzens einer Verhaftung an ein dem Ich »äußerliches« Objekt entsteht, muss man danach fragen, welche Rolle in diesem Szenario die libidinöse »Besetzung« oder »Verhaftung« 10 spielt. Wenn das Ich nicht als ein ursprünglicher Ort zu betrachten ist, von dem die Libido ausgeht, welcher Status kommt dann dem Objekt zu, auf das die libidinöse Bindung gerichtet sein soll?

10 | Während Freud – vermutlich aufgrund seines energetischen Modells der Psyche – von einer libidinösen Besetzung spricht benutzt Butler in »Psyche der Macht« weitestgehend den Begriff der »Verhaftung«.

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2.4 Die Struk tur der »Nachträglichkeit« in der Beziehung zum Objek t und der per formative Charak ter der Geschlechtszugehörigkeit Als aufschlussreich erweist sich hinsichtlich dieser Frage ein Vergleich zwischen der Melancholie und der Trauer: Sowohl in der Trauer als auch in der Melancholie steht der Kampf um die Anbindung/Besetzung oder Ablösung der Libido von einem Objekt im Mittelpunkt. Als einen der charakteristischsten Unterschiede zwischen der Trauer und der Melancholie bestimmt Freud das fehlende Bewusstsein über den Objektverlust in der Melancholie (vgl. Freud 1975 (1917 [1915]): 199). Während oberflächlich betrachtet in der Trauer ein geordneter Rückzug der Libido vom Objekt zu erfolgen scheint, dem kein unüberwindbarer Widerstand entgegengesetzt wird, entwickelt sich in der Melancholie ein vernehmbarer und unlösbarer Konflikt um die Anbindung an das geliebte Objekt, der sich als ein Konflikt zwischen dem Ich und dem Über-Ich manifestiert. Die Lösungsversuche, die in der Trauer stattfinden, unterscheiden sich überraschenderweise aber von den melancholischen eigentlich nur in einem Punkt. Im Gegensatz zur Melancholie soll es in der Trauer möglich sein den psychischen Widerstand gegen die Aufgabe des geliebten Objektes zu brechen und die Libido von ihm abzuziehen. Ebenso wie in der Melancholie finden die Ablösungskämpfe in der Trauer laut Freud zunächst im Bereich des Ubw statt, und zwar werde die Lösung der Libido vollzogen, indem »die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt« und jede »einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, […] eingestellt« und letztendlich »überbesetzt« werde (ebd.: 199). Wobei unter »Einstellung« und »Überbesetzung« zu verstehen ist, dass das Ich das Ergebnis der »Realitätsprüfung« (ebd.: 198) akzeptiert und auf das Objekt verzichtet, »indem es das Objekt für tot erklärt« (ebd.: 211). Auf diese Weise könnten sich in der Trauer die Vorgänge der Ablösung »auf dem normalen Wege durch das Vbw zum Bewußtsein fortsetzen.« (Ebd.:210) In der Melancholie hingegen bleibe dieser Weg, »vielleicht infolge einer Mehrzahl von Ursachen oder des Zusammenwirkens derselben« (ebd.: 210) versperrt. Die unzähligen Einzelkämpfe um die Aufrechterhaltung oder Ablösung der Libidoposition blieben dem Bewusstsein entzogen, bis die bedrohte Objektbesetzung zugunsten der Identifizierung aufgegeben worden sei. Auch in der Melancholie wird also die libidinöse Objektbesetzung aufgegeben, allerdings durch den Rückzug der Liebe »auf die Stelle des Ichs«. »Die Liebe hat sich so durch ihre Flucht ins Ich der Auf hebung entzogen. Nach dieser Regression der Libido kann der Vorgang bewußt werden und repräsentiert sich dem Bewußtsein als ein Konflikt zwischen einem Teil des Ichs und der kritischen Instanz.« (Ebd.: 210)

Demnach ermöglicht erst die Ersetzung des Objekts durch das Ich ein Bewusstsein über den ambivalenten Charakter der libidinösen Verhaftung mit

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dem Objekt und den bedrohten Status dieser Bindung. Allerdings – und dies ist entscheidend – verschoben auf ein anderes Objekt, nämlich die Beziehung zwischen dem Ich und dem Über-Ich. Denn bemerkenswerterweise wird der Vorgang ja gerade nicht (wie Freud behauptet) »bewusst«, sondern bewusst wird eine Repräsentation dieses Vorgangs, wobei der repräsentierende Status des Ichs und des Über-Ichs unbewusst bleibt. Der ambivalente Charakter des Objektbezuges wird also nicht unmittelbar als Ambivalenz des Objektbezuges bewusst, sondern als Ambivalenz eines Selbstbezuges. Man kann auch sagen, dass das Ich und das Über-Ich in diesem Szenario als Repräsentanten einer verlorenen libidinösen Objektbesetzung fungieren. Wenn »das Ich erst mit einem solchen Rückzug Objekt für das Bewußtsein werden« (Butler 2001: 165f.) kann, gilt dann nicht auch, dass die Verhaftung mit einem anderen erst, wenn sie droht verloren zu gehen, Objekt für das Bewusstsein werden kann? Obgleich Butler recht hat, dass das Ich als Ausgangspunkt der Libido erst als ein nachträglicher Effekt der melancholischen Wiederaufrichtung des libidinösen Objekts zu verstehen ist, wobei das Ich sich nach dem Modell eines Objektes formiert, stellt sich doch die Frage, was in diesem Fall kennzeichnend für das Modell des Objektes sein soll, das der Ausbildung des Ichs vorherzugehen scheint. Denn wie Butler, im Hinblick auf Foucaults Kritik an der Repressionshypothese und eine mögliche psychoanalytische Reformulierung von Foucaults Machtmodell selbst bemerkt, »verbietet die Sanktion kein bestehendes Begehren, sondern erzeugt vielmehr gewisse Arten von Objekten und schließt andere aus dem Feld gesellschaftlicher Produktion aus.« (Ebd.: 29) Wenn die Ausbildung der Topographie der Psyche erstens als eine Repräsentation zu verstehen ist und zweitens diese Repräsentation beschrieben wird als die Ersetzung einer libidinösen Verhaftung an ein Objekt durch das Ich und das Über-Ich, dann bedeutet dies innerhalb eines traditionellen Verständnisses von Repräsentation, dass der Repräsentation eine libidinöse Verhaftung an ein Objekt vorhergeht. Wie ist diese lineare zeitliche Anordnung jedoch zu verstehen, wenn die »libidinöse Verhaftung an ein Objekt« nicht vor ihrer Repräsentation und nur als Repräsentiertes bewusst werden kann? Diese Frage führt zu dem Vergleich zwischen der Trauer und der Melancholie zurück. Als einer der zentralen Unterschiede zwischen der Melancholie und der Trauer gilt also, dass in der Melancholie der Ablösungskampf um das Objekt nicht unmittelbar bewusst werden kann, weil der Verlust dem Bewusstsein nicht bekannt sei. In dieser Version erscheint die Ersetzung des Objekts durch das Ich als eine Folge der Sperre zwischen Verlust und Bewusstsein. Vergleicht man jedoch den »Bewusstwerdungsprozess« der Trauer mit dem der Melancholie, so fällt auf, dass diese sich eigentlich nur bezüglich ihres Ausgangs voneinander unterscheiden. Im Gegensatz zur Trauer endet die Melancholie nicht mit einer »Realitätsprüfung«, die mit Abschluss der Trauer zur Anerkennung des Verlustes und damit also zur Deklaration des Todes des geliebten Objektes führt. Genaugenommen scheinen die unbewussten Ablösungskämpfe in der Trauer aber denselben Umweg zu durchlaufen wie in der Melancholie. Auch in der Trauer kann der

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Tod des Objekts nicht unmittelbar anerkannt werden. »Die Realitätsprüfung hat gezeigt«, so beginnt Freud seine Schilderung des Vorgangs der Trauer, »daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben« (Freud 1975 (1917 [1915]): 198). Erst nachdem »unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie […] die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt« (ebd.: 199) wurde, siege im Normalfall »der Respekt vor der Realität« (ebd.: 198f.). Bevor der Verlust des Objekts in der Trauer anerkannt werden kann, erfährt es ebenso wie in der Melancholie seine imaginäre Ersetzung. Und ebenso wie in der Melancholie wird das ›ersetzte‹ Objekt im Akt der Ersetzung zur Zielscheibe von tödlichen Aggressionen. Innerhalb von Freuds Diskussion der Trauer siegt das Realitätsgebot erst, wenn das Objekt für tot erklärt wurde. Und in der Melancholie wird das sich mit dem Objekt identifizierende Ich zur Zielscheibe von Herabsetzung, die im Extremfall zum Tod des Ich führen können. Was bedeutet es für die oben angesprochene Frage des Objektstatus, dass offenbar auch der Trauernde sich des Verlustes einer libidinösen Verhaftung mit einem Objekt nur über den Umweg der imaginären Wiederaufrichtung bzw. Ersetzung und der damit verbundenen Ambivalenz gegenüber dem Objekt bewusst werden kann? Wenn »das Ich sich nur dann töten kann, wenn es durch die Rückkehr der Objektbesetzung sich selbst wie ein Objekt behandeln kann« (ebd.: 206), ist diese Struktur der ›Ersetzung‹ dann die allgemeine Form, in der überhaupt etwas bewusst als ein Objekt wahrgenommen werden kann? Muss dem Objekt eine gewisse ›Ersetzbarkeit‹ anhaften, damit es als Objekt betrachtet werden kann? Kann in der Trauer das Objekt der libidinösen Verhaftung vielleicht erst nach dessen imaginärer Ersetzung für tot erklärt werden, weil dies die einzige Möglichkeit darstellt, Bewusstsein über den anderen als Objekt zu erlangen? In diesem Fall wäre der bewusste Bezug auf die libidinöse Verhaftung an ein Objekt immer schon in die Sekundarität einer repräsentativen Struktur eingebunden und weder die Verhaftung noch der Verlust dieser Verhaftung könnten dem Bewusstsein unmittelbar präsent sein.11 Selbst in der Trauer, in 11 | Das Ich, so wie Freud es beschrieben hat, besteht aus einem Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Schichten, die in unterschiedlichen Weisen den Kontakt zu einer dem Ich äußerlichen Innen- und Außenwelt einschließen und durch diesen Bezug formiert worden sind. In seiner Topographie der Psyche bildet das Ich so etwas wie eine vielfach differenzierte semipermeable Zone zwischen dem Es und der Außenwelt. In »Der Wunderblock« bekräftigt Freud seine bereits in »Jenseits des Lustprinzips« geäußerte Vermutung, »das unerklärliche Phänomen des Bewußtseins entstehe im Wahrnehmungssystem an Stelle der Dauerspuren.« (Freud 1975 (1925 [1924])) Innerhalb der Metaphorik des Wunderblocks setzt die Lesbarkeit der Schrift den Kontakt zwischen dem aus Zelluloid und Wachspapier bestehendem Deckblatt und der dahinter liegenden Wachstafel voraus. Das Deckblatt wird von Freud mit dem System W-Bw und seinem Reizschutz verglichen, die Wachstafel mit dem Unbewussten. Damit wäre die Wahrnehmung äußerer Reize bei Freud jedoch nicht, wie man auf-

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der der Verlust dem Subjekt ja bekannt sein soll, bedarf es der imaginären Wiederaufrichtung der Bindung an das Objekt durch die Erinnerung, bevor die Erwartungen an das Objekt gelöscht werden können. Der Verlust des Objekts wird nicht bei der Kenntnisnahme des Todes des Objekts realisiert, sondern erst nachträglich. Und in der Melancholie erlangt das Bewusstsein erst Kenntnis von der ambivalenten Verhaftung, nachdem das Objekt ersetzt worden ist durch die Phantasie des Ichs das Objekt zu sein. Dies bedeutet jedoch, dass es weder eine Erfahrung des Verlustes noch eine Erfahrung der Verhaftung gibt, die dem Subjekt einfach präsent sind. Sondern die Nachträglichkeit, die dem bewussten Bezug auf einen Verlust oder eine Verhaftung inhärent ist, ist konstitutiv für die Kenntnisnahme des Verlustes oder der Verhaftung. ›Nachträglich‹ meint deshalb auch nicht, dass es sich hierbei um eine ehemals präsente Erfahrung handelt, die dem Bewusstsein lediglich verzögert präsent wird. Vielmehr gibt es keine bewusste Erfahrung der Bindung oder des Verlustes ohne diese Nachträglichkeit, d.h. die Bindung und der Verlust sind keine präsenten Wahrnehmungen. Der Nachtrag bezieht sich nicht auf einen zurückliegenden originären psychischen Eindruck, der dem Bewusstsein radikal entzogen bleibt, weswegen es sich konsequenterweise auch nicht wirklich um eine Repräsentation handelt. Vielmehr bezieht sich der Nachtrag auf einen Eindruck, der sich der Opposition der Anwesenheit oder Abwesenheit entzieht. So bezieht sich in der Trauer der Nachtrag auf ein ›Ereignis‹, das den Verlust durchaus ankündigt (der Widerstand, von dem Freud berichtet, der gegen die Aufgabe des Objektes rebelliert), ohne aber selbst Erfahrung eines Verlustes zu sein. Die Bedeutung des Verlustes wird dieser Szene tatsächlich erst nachträglich zugeschrieben, wobei dieser Bezug aber nicht ausgelöscht werden kann. Somit kann die Erfahrung des Verlustes nicht als die eines reinen Verlustes totalisiert werden, denn sie bezieht sich ja gerade auf die Geschichte des Widerstandes, das Objekt aufzugeben, ohne dass diese Geschichte selbst wiederum jemals im Modus der Präsenz existiert hätte12. grund anderer Textstellen glauben könnte, unmittelbar von einem Bewusstsein begleitet, sondern wäre immer schon involviert in das repräsentative System der Erinnerung, jedoch ohne dass dieses sich – wie für ein repräsentatives System eigentlich notwendig – aus einer ursprünglich präsenten Wahrnehmung ableitet (vgl.hierzu: Derrida 1972). 12 | In Freud und der Schauplatz der Schrift behandelt Derrida ausführlich die Rolle der »Nachträglichkeit« in der Metaphorik, die Freud einsetzt, um die Systematik des Psychischen zu beschreiben. Hierbei wird nicht nur deutlich, dass die »Wahrnehmung« der aufgenommenen Reize erst durch das System des Unbewussten, das bei Freud als Bewahrungsort der »Dauerspuren« fungiert und dem System Wahrnehmung-Bewusstsein ein unbegrenztes Aufnahmevermögen sichern soll, ermöglicht wird (und dadurch als Wahrnehmung im phänomenologischen Sinn untergraben wird). Derrida zeigt hier auch, dass die im Unbewussten festgehaltenen Spuren nicht – wie Freuds Konzept des Unbewussten es manchmal nahelegt – als dauerhafte Spuren gedacht werden dürfen, die zwar veränderlich sind, aber nicht ausgelöscht werden können. Die Periodizität mit der das ubw bei Freud mit dem Sys-

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Wenn es jedoch richtig ist, dass der bewusste Bezug zu einer libidinösen Besetzung eine Struktur der »Nachträglichkeit« voraussetzt, dann untergräbt dies immer schon das Wissen darüber, was man verloren hat und an wen oder was man gebunden ist. Wenn man, wie Butler, die »gleichgeschlechtliche Identifizierung«, zumindest teilweise, als den Versuch versteht, das Objekt einer verworfenen Verhaftung zu substituieren, so orientiert sich dieser Versuch nicht an dem Bild einer zuvor präsenten Wahrnehmung des anderen. Vielmehr schließt die für die Melancholie charakteristische »Bewahrung« der Verhaftung durch die Wiederaufrichtung des anderen im Ich/als Ich notwendigerweise eine performative Dimension mit ein. Streng genommen wird nicht das Objekt, sondern das Begehren nach dem Objekt in der melancholischen Identifizierung »bewahrt« und die Identifi kation stellt keinen Akt dar, in dem ein Ich nach dem Vorbild der Attribute des verlorenen Objekts gebildet wird. Insofern die Kenntnisnahme der Verhaftung immer schon einer substituierenden Struktur unterliegt, muss die Einverleibung auch als ein produktiver Prozess verstanden werden, in dem der Verhaftung erst nachträglich und gerade durch die Möglichkeit des Verlustes eine Bedeutung zukommt. Deshalb darf die aus dem Verbot resultierende Einverleibung von Personen, denen dasselbe Geschlecht zugeschrieben wird, nicht einfach als die Imitation des eigenen Geschlechts verstanden werden.

2.5 Die Unabschließbarkeit der Trauer und der Bezug zum Anderen des anderen in der Konstitution des Ichs In dem Vergleich zwischen der Trauer und der Melancholie ist deutlich geworden, dass die Konstitution des Selbst einer temporalen Struktur unterliegt, die es verhindert, dass sich in der Identifizierung das Ich seines Objektes vollkommen bemächtigt. In den nachfogenden Kapiteln soll weiter verfolgt werden, inwiefern diese Alterität in der Figur des Selbst nicht nur die ›Wirkungsmächtigkeit‹ normativer Schemata begrenzt, sondern auch das in der geschlechtssensibilisierenden Bildung von LehrerInnen angestrebte tem w-bw in Kontakt tritt, die »Unterbrechung und Wiederherstellung des Kontaktes zwischen den verschiedenen Tiefen der psychischen Schichten« (Derrida 1972: 342), erschaffen bei Derrida erst den Raum, in dem sich die Spuren als Erinnerungen einschreiben können. Der Kontakt eröff net einen Zugang zu den Spuren. Aber die Auflösung des Kontaktes der beiden Systeme eröff net den Raum, in dem die von außen stammenden Reize sich ins Psychische einschreiben können. Die Möglichkeit der Spur liegt in dieser Differenz begründet. »Die Spuren erzeugen also den Raum ihrer Niederschrift nur«, schreibt Derrida, »indem sie sich die Periode ihrer Tilgung setzen. Von Anfang an, in der ›Gegenwart‹ ihres ersten Eindrucks werden sie durch die doppelte Kraft der Wiederholung und der Auflösung, der Lesbarkeit und der Unlesbarkeit gebildet.« (Ebd.: 343f.)

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Unternehmen, sich seines Selbstbildes als Mann oder als Frau zu vergewissern und dieses kritisch zu reflektieren. Den Ausgangspunkt dieser Diskussion bildet die Frage, unter welchen Bedingungen gesellschaftlich erzwungene Verluste betrauert oder nicht betrauert werden können, die der Psyche gemeinhin verborgen bleiben müssen (vgl. Butler 2001: 174). Diese von Butler in »Psyche der Macht« aufgeworfene Frage geht auf ihre Parallelisierung der Struktur der Melancholie und der normativen Regulierung des psychischen Lebens zurück, die auf der These beruht, dass das Psychische und das Soziale in westlichen modernen Gesellschaften durch eine quasi melancholische Beziehung gekennzeichnet sind. In der Melancholie basiert die Wendung der früheren Aggressionen gegen das Liebesobjekt auf das eigene Ich auf der Unbewusstheit des Verlustes. Wie Butlers Erörterung der Heterosexualität gezeigt hat, sind auch Normen darauf angewiesen, dass die Verluste, die sie erzwingen, verworfen bleiben. So wie bei Freud das Inzesttabu weder direkt oder bewusst angenommen werden kann noch von außen auf ein Subjekt einwirkt, sondern die Konstituierung des Über-Ichs mit einer Verwerfung der ödipalen Wünsche einhergeht, bleibt bei Butler der Zugang zu der ›Bindung‹, auf die sich das (homosexuelle) Verbot bezieht, radikal dem Bewusstsein entzogen. In dem selbstreflexiven Zirkel der Psyche tritt die heterosexuelle Norm nicht als ein Ideal auf, das von dem Über-Ich explizit vertreten wird und die Forderung erlässt, von einem bereits bestehenden homosexuellen Begehren abzulassen. Vielmehr muss diese Forderung verworfen werden, wenn die heterosexuelle Norm ihren Anspruch auf ›Natürlichkeit‹ nicht verlieren soll. Was sich in der Melancholie ›dem Bewusstsein präsentiert‹, ist ja gerade nicht ein Ideal und eine Aggression, deren Herkunft sich ohne weiteres bestimmen ließe13. Freud zufolge ›ersetzt‹ das Über-Ich zwar in gewisser Weise die autoritäre Funktion früherer äußerer Instanzen; insofern sich das Über-Ich an deren Stelle setzt, entzieht es sich aber auch dem Bewusstsein. Das Über-Ich wird in Freuds Topographie der Psyche als Vertreter des Es betrachtet und nicht als der der Außenwelt, dessen Vertretung dem Ich zugeschrieben wird. Deshalb nimmt Butler an, dass »die innere Gewalt des Gewissens« auf den »gesellschaftlichen Ausschluß von Trauer« (Butler 2001: 13 | So weist Freud in seiner Abhandlung über die Melancholie darauf hin, dass die Maßstäbe und Selbsturteile des Melancholikers auf der Ebene der Präsentation weniger der Gewalt eines Gesetzes folgen als vielmehr einer reinen Willkür zu entspringen scheinen: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich, er macht sich Vorwürfe, beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe. […] Das Bild dieses – vorwiegend moralischen – Kleinheitswahnes vervollständigt sich durch [...] eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt. […] Es ist auch nicht schwer zu bemerken, daß zwischen dem Ausmaß der Selbsterniedrigung und ihrer realen Berechtigung nach unserem Urteil keine Entsprechung besteht.« (Freud 1975 (1917 [1915]): 200f.)

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171) zurückzuführen ist. Vor diesem Hintergrund führt sie die Gewalt, die dem Selbstreflexiven des Gewissens anhaftet, darauf zurück, dass der Verlust nicht unmittelbar angenommen werden kann und sich der Kampf um die Verhaftung an das Objekt dem Bewusstsein als eine Frage der eigenen Selbstachtung präsentiert. Einen Verlust nicht betrauern zu können, zieht in dem Konzept der Melancholie ja nicht, wie man angesichts der damit verbundenen Identifizierung vielleicht erwarten könnte, eine Stärkung des sich auf diese Weise konstituierenden Ichs nach sich, sondern geht mit einer Verarmung des Ichs einher. In gewisser Weise überträgt sich der Verlust der äußeren Beziehung auf die so entstehende Innerlichkeit. Der Verlust des Sozialen geht auch mit einem Ichverlust einher. Der eine Teil des Ichs folgt dem Wunsch das Objekt am Leben zu bewahren, der andere Teil des Ichs wendet sich mit den ungerechtfertigsten Beurteilungen gegen sich selbst. Wie schon Freud geht Butler davon aus, dass zwischen der Stärke der Wirkungskraft des Gewissens und der Intensität, mit der normative Vorgaben, Gebote, Verbote usw. an das Individuum herangetragen werden, kein linearer Zusammenhang besteht: Nach Freud beherbergt das Über-Ich »die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit« (Freud 1975 [1923]: 289f.) und fungiert als »Residuum der ersten Objektwahlen des Es« (ebd.: 301), wobei die hieraus resultierenden Identifizierungen die primäre Identifizierung verstärken sollen (vgl. ebd.: 299)14 und damit eine differenzierte Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung hervorbringen. Der hiermit einhergehenden Spaltung des Über-Ichs vom Ich schreibt Freud die Vertretung der »bedeutsamsten Züge der individuellen und der Artentwicklung« (ebd.: 303) zu 15. Demnach 14 | Wie ich eingangs bereits erläutert habe, lassen sich die Identifi zierungen, die aus dem Ödipuskomplex resultieren, zu Freuds eigenen Überraschung nicht vollkommen in Einklang bringen mit seiner Annahme, dass Identifi zierungen als substituierte Objektbesetzungen zu betrachten sind. Die hiermit verbundenen Widersprüche sind darauf zurückzuführen, dass Freuds Diskussion des Ödipuskomplexes trotz seiner Unterstellung einer natürlichen bisexuellen Anlage auf einem heterosexuellen Konzept von Identifizierung und Begehren beruht, demzufolge das Begehren nach einem Mann immer von einer weiblichen Position aus erfolgt und umgekehrt. Zwar gibt es in Freuds Werk einige Hinweise darauf, dass er die Sublimierung teilweise auf eine aufgegebene homosexuelle Beziehung zurückführt, in seiner Darstellung des Ausgangs des Ödipuskomlexes erscheint das Über-Ich jedoch nicht nur als ein »Residuum der ersten Objektwahlen des Es«, sondern auch als eine direkte Identifizierung mit dem Vater, die nicht auf die Aufgabe einer vorhergehenden Objektbesetzung zurückzuführen ist. 15 | Die enge Verbindung zwischen dem Es und dem Über-Ich ergibt sich nicht nur daraus, dass das Über-Ich die verdrängten ödipalen Inhalte einschließt und das Ich bei Freud ohnehin als ein durch die äußere Wahrnehmung modifizierter Teil des Es zu betrachten ist. Vielmehr sieht Freud in der Bildung des Ichideals und dem ödipalen Drama auch einen phylogenetisch erworbenen Verlauf, der »individuell wiedererlebt« wird (vgl. ebd.:303).

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kommt den im ödipalen Verlauf erworbenen und vom Über-Ich vertretenen Identifizierungen lebenslang eine besondere psychische Bedeutung zu. Interessanterweise scheint das Über-Ich/Ichideal16 aber auf eine nahezu performative Weise zu entstehen. Denn in Freuds Darstellung entsteht das Ichideal, indem es den ödipalen Konflikt verdrängt. Demzufolge würde das Ichideal zwar diejenige Kraft darstellen, die den Ödipuskomplex auflöst, gleichzeitig existiert das Ichideal aber auch nur kraft dieser Verdrängung, entsteht also gleichsam durch die Verdrängung, die es vollzieht. Dies bedeutet unter anderem, dass das Über-Ich nicht nur als Unterkunft der ersten Objektbesetzungen dient, sondern auch die verbietende Dimension der Vater- Mutterbeziehung einschließt. »Das Über-Ich ist aber nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen des Es, sondern es hat auch die Bedeutung einer energischen Reaktionsbildung gegen dieselben. Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich nicht in der Mahnung: ›So (wie der Vater) sollst du sein‹, sie umfaßt auch das Verbot: ›So (wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten.‹ Dies Doppelangesicht des Ichideals leitet sich aus der Tatsache ab, daß das Ichideal zur Verdrängung des Ödipuskomplexes bemüht wurde, ja diesem Umschwung erst seine Entstehung verdankt.« (Ebd.: 301f.)

Die hieraus resultierende selbstreflexive Perspektive soll nicht nur die Strukturen und Schwierigkeiten der frühesten sozialen Beziehungen repräsentieren, also die Beziehungen des Ödipuskomplex, sondern auch übertragbar sein auf spätere Gebote und Verbote, die an das Ich von anderen Personen herangetragen werden (Freud 1975 [1923]: 304). Hierbei stellt Freud fest, dass die Stärke des Gewissens keineswegs mit der Stärke der herangetragenen Verbote korreliert. »Da die Eltern, besonders der Vater, als das Hindernis gegen die Verwirklichung der Ödipuswünsche erkannt werden, stärkte sich das infantile Ich für diese Verdrängungsleistung, indem es dies selbe Hindernis in sich aufrichtete. Es lieh sich gewissermaßen die Kraft dazu vom Vater aus, und diese Anleihe ist ein folgenschwerer Akt. Das Über-Ich wird den Charakter des Vaters bewahren, und je stärker der Ödipuskomplex war, je beschleunigter (unter Einfluß von Autorität, Religionslehre, Unterricht, Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Über-Ich als Gewissen, vielleicht als unbewußtes Schuldgefühl über das Ich herrschen.« (Ebd.: 302)

Wenn man in Betracht zieht, dass Freud davon ausgeht, dass der ödipale Konflikt nicht von einer bereits bestehenden gewissenhaften Instanz verdrängt wird, sondern dass sich diese erst durch den Prozess der Verdrän16 | In »Das Ich und das Es« unterscheidet Freud noch nicht zwischen dem Ichideal und dem Über-Ich und benutzt diese beiden Bezeichnungen synonym.

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gung formiert, so erscheint es einleuchtend, dass die Rigidität des Gewissens von der Stärke und dem Tempo der Verdrängung des Ödipuskomplexes abhängt. In diesem Fall besteht die Kraft der Verdrängung nicht nur in der »Anleihe«, sondern auch darin, dass diese »Anleihe« bzw. die verdrängende Instanz selbst unbewusst bleibt. Wenn das Gewissen also nicht nur die Verdrängung bestimmter Wünsche durchführt, sondern dadurch auch als verdrängende Instanz (re-)konstituiert wird, liegt es nahe, dass ›die Entsagung‹ nicht nur zur Befriedigung, sondern paradoxerweise gleichzeitig auch zu einer Steigerung des Gewissens führt. Insofern die Melancholie nicht nur auf den Tod, sondern auch auf andere Arten von Verlusten zurückgeführt werden kann, und sich ebenso auf Verluste beziehen kann, die durch gesellschaftliche Ideale erzwungen wurden, wirft Butler vor diesem Hintergrund die Frage auf, ob es sich hierbei um Vorwürfe handelt, die das Ich vor dem Verlust, wenn es dazu in der Lage gewesen wäre, an das Ideal gerichtet hätte. »Ist die psychische Gewalt des Gewissens nicht eine abgelenkte Anklage der gesellschaftlichen Formen, die bestimmte Arten von Verlusten zu unbetrauerbaren gemacht haben? Ein Verlust in der Welt, der nicht offen erklärt werden kann, führt so zu Wut und zu Ambivalenz und wird zu jenem Verlust ›im‹ Ich, der namenlos und diff us ist und zu öffentlichen Selbstvorwürfen führt.« (Butler 2001: 173)

Innerhalb dieser Perspektive beruht die mit der Melancholie einhergehende Ambivalenz auf dem Verlust. An anderen Stellen legt Butler jedoch nahe, dass es sich um Vorwürfe handelt, die das Ich zuvor gegen den anderen erhoben hat und die es nun gegen sich selbst wendet (vgl. ebd.: 169). Dieselbe zwiespältige Haltung findet man bei Freud. In »Trauer und Melancholie« schreibt er zu dieser Frage: »Die Melancholie hat aber, wie wir […] gehört haben, etwas mehr zum Inhalt als die normale Trauer. Das Verhältnis zum Objekt ist bei ihr kein einfaches, es wird durch den Ambivalenzkonflikt kompliziert. Die Ambivalenz ist entweder konstitutionell, d.h. sie hängt jeder Liebesbeziehung dieses Ichs an, oder sie geht gerade aus den Erlebnissen hervor, welche die Drohung des Objektverlustes mit sich bringen.« (Freud: 1975 (1917[1915]): 210)

Wenn jedoch, wie der Vergleich zwischen der Trauer und der Melancholie gezeigt hat, die Möglichkeit der Ersetzung des Objekts die Bedingung dafür ist, dass das Objekt für das Subjekt eine Bedeutung erlangt, dann würden diese beiden Möglichkeiten einander nicht ausschließen. Soweit das Ich nicht nur keinen ursprünglichen Ort darstellt, von dem die libidinöse Besetzung ausgeht, sondern auch das Objekt der Verhaftung nur ›nachträglich‹ über den Umweg seiner Substituierung einen Objektstatus erhält, scheint die Möglichkeit des Verlustes konstitutiv für jede Liebesbeziehung. Damit scheint aber die in der Melancholie zu Tage tretende Gewalt gegenüber dem

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Objekt kennzeichnend zu sein für jede Bedeutung, die einer Verhaftung für das Individuum zukommen kann. Betrachtet man die unterschiedlichen psychischen Formen der Substitution des Liebesobjekts, die darauf abzielen sich des Objekts zu bemächtigen und die von Freud als Strategien der Melancholie und der Trauer beschrieben werden (der melancholische Wunsch, das geliebte Objekt durch Identifizierung zu ersetzen; der trauernde Wunsch, sich dem Realitätsgebot nicht beugen zu müssen und das verlorene Objekt – wenn auch nur vorläufig – in der Erinnerung festzuhalten) als Strukturen der Bildung des Ichs, scheint der Kraft der Gewalt jedoch auch so etwas wie ein irreduzibler Widerstand entgegenzustehen. Denn das sich bildende Ich kann in diesem Szenario nur insoweit Bestand haben, wie das Objekt der Verhaftung der vollkommenen Assimilierung durch das Ich entzogen bleibt. Dies wird in Butlers Auseinandersetzung mit der Frage deutlich, ob »die psychische Gewalt des Gewissens […] eine abgelenkte Anklage der gesellschaftlichen Formen [ist], die bestimmte Arten von Verlusten zu unbetrauerbaren gemacht haben?« (Butler 2001: 173) Soweit Butler davon ausgeht, dass es sich bei den Selbstvorwürfen des Melancholikers um umgewendete Aggressionen handelt, die sich – wenn es die Situation erlaubt hätte – gegen das Ideal gerichtet hätten, betrachtet sie das Ich als ein »Instrument der Eindämmung« (Butler 2001: 176) von Aggression und die Melancholie als eine »Rebellion, die niedergeworfen wurde.« (Ebd.: 177) »Niedergeworfen«, weil die sich gegen das Ideal richtende Aggression in der Selbstanklage verharrt, »rebellisch«, weil sie den vorgeblich rein idealen Charakter des Ideals bzw. des Gesetzes bestreitet (ebd.: 177f.)17. Vor diesem Hintergrund diskutiert Butler, ob die Trauer die Möglichkeit bietet, das rebellische Potenzial der Melancholie »herauszudestillieren«, indem in ihr die Aggressionen gegen das Gewissen gewendet werden. In der Melancholie, so stellt Freud den Extremfall dar, können die Selbstanklagen das Ich in den Tod treiben. In der Trauer entgeht das Ich diesem Schicksal, indem es sich seiner Erinnerungen und Erwartungen an das Objekt erinnert und der Realitätsprüfung nachkommt und es für tot erklärt. Um überleben zu können, so schließt Butler hieraus, muss im Fall der Melancholie die für sie charakteristische Selbstaggression erneut umgewendet werden gegen das verlorene Objekt (ebd.: 178ff.). Das heißt: An die Stelle der Gewissensprüfung soll die Realitätsprüfung treten. Von dieser Umwendung und der damit verbundenen Loslösung von dem Objekt verspricht Butler sich bis zu einem gewissen Grad die Entbindung des Ichs aus dem Gewissen. Denn die trauernde Rückverfolgung der Spur der erzwungenen Verluste würde zu den sozialen und gesellschaftlichen Reglementierungen zurückführen, die dem psychischen Geschehen verborgen bleiben, weil sie durch es ersetzt worden sind. Inwieweit ist eine solche Rekonstruktion aber möglich? Interessanter17 | Wie ich in Teil III weiter ausführen werde, stellt die Einverleibung des anderen nicht nur die Anrufung eines vorhergehenden Gesetzes dar, sie ist gleichzeitig auch ein Prozess, in dem die Autorität des Gesetzes rekonstituiert wird.

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weise sieht Butler sich gezwungen einzuräumen, dass die für die Melancholie charakteristische Ambivalenz von Liebe und Hass auch für den Fall der Trauer gelten. Während nämlich ihr Vorschlag das widerständige Potenzial der Trauer zu untersuchen, zunächst nahe legt, dass sich in der Trauer der Wunsch zu leben gegen die tödlichen Aggressionen des Über-Ichs durchsetzt, stellt sie wenig später klar, dass der Wunsch zu leben keinesfalls im reinen Interesse des Ichs steht. Vielmehr untergräbt der Lebenswille, dem in Bezug auf das Objekt sowieso eine mörderische Dimension anhaftet, paradoxerweise ebenfalls das Ich, wenn auch in einer anderen Weise als die aggressiven Aktivitäten des Über-Ichs. Insofern das Ich von Freud als der Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen betrachtet worden ist, käme eine Auslöschung dieser Bindung an einen anderen einer Auslöschung des Ichs gleich. »In der Trauer triumphiert die Lebensforderung nicht über die Todesverlockung; im Gegenteil werden die ›Todestriebe‹ in den Dienst der Lösung vom Objekt gestellt, wird das Objekt ›erschlagen‹, um leben zu können. Insoweit überdies das Objekt als Idealität im Gewissen wohnt und das Ich in dieser topographischen Szenerie angesiedelt ist, werden notwendigerweise sowohl das Gewissen wie das Ich durch jenen mörderischen Lebensanspruch unterhöhlt.« (Ebd.: 180)

Vielleicht ist die Melancholie dann aber mehr als eine »niedergeworfene Rebellion« und die Trauer als eine Strategie des Widerstandes notwendigerweise begrenzt. »Wir verstehen«, so schreibt Freud in »Das Ich und das Es«, »es ist die Erhaltung des Objekts, die die Sicherheit des Ichs verbürgt« (Freud 1975 [1923]: 320). Offensichtlich hängt die Existenz des Ichs sowohl in der Trauer als auch in der Melancholie davon ab, dass die Bindung an einen anderen nicht aufgegeben wird. In beiden Fällen würde die vollkommene Auflösung dieser Bindung gleichzeitig die Auflösung des Ichs bedeuten. In der Trauer bleibt die Bindung erhalten, indem die Erinnerung nicht vollkommen ausgelöscht wird. In der Melancholie bleibt die Bindung dadurch bewahrt, dass sie ersetzt und repräsentiert wird durch die Beziehung zwischen dem Ich und dem Über-Ich. Der vollkommene Abschluss der Trauer würde das Ich ebenso gefährden wie die vollkommene Assimilation des Objekts in der Identifizierung. Wenn in der Trauer die libidinöse Bindung an das Objekt nicht gelöst werden kann ohne die Erinnerung an diese Bindung, dann ist der Prozess des Trauerns notwendigerweise mit einer Reaktualisierung der Erinnerung verbunden, die in eine Erinnerung an die Ablösung von dieser Bindung übergehen kann. Wenn die Geschichte dieser Bindung und dieses Verlustes jedoch nicht erinnerungsfähig bleibt und verleugnet wird, geht sie in den Zustand der Melancholie über. Ähnlich sieht es Butler, wenn sie schreibt, dass »die Trauer nur unter der Bedingung der Verinnerlichung des verlorenen anderen je abgeschlossen werden kann« (Butler 2001: 181). Wenn die Trauer jedoch nur zu dem Preis der Melancholie abgeschlossen werden kann, lässt sich das Widerstandspotenzial der Melancholie nicht gegen das der Trauer ausspielen. Die Einverleibung des anderen in der Melancholie bestreitet nicht nur, wie

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Butler hervorhebt (vgl. ebd.: 180), den idealen Charakter des Gesetzes, sondern verweist auch auf eine grundlegende Abhängigkeit vom anderen, die notwendigerweise einen irreduziblen Widerstand gegen jeden Versuch, sich kohärent entlang von Normen zu identifizieren, hervorbringt. Denn der Zustand der Melancholie besteht ja gerade nicht darin, dass die Bindung an das Objekt gelöst wird und das Objekt durch ein einheitliches Ich ersetzt wird. Vielmehr reproduziert sich in der melancholischen Identifizierung die gesamte Struktur der Verhaftung. Butler, deren Auslegung der Melancholie ohne Zweifel ebenfalls auf die in der Figur der Melancholie zu Tage tretende Alterität abhebt, schreibt zu der konstitutiven Abhängigkeit des Ich von der Bindung zu einem anderen: »Statt den anderen nimmt das Ich sich selbst zum Objekt. Tatsächlich nimmt es zuerst sich zum Objekt unter der Bedingung, daß es den anderen bereits zum Objekt genommen hat und daß der andere zum Modell wird, mit dessen Hilfe das Ich sich als Objekt für sich selbst abgrenzt – eine Art Mimesis, wie sie Mikkel Borch-Jacobsen beschrieben hat, in der die mimetische Aktivität das Ich als Objekt nach dem Modell des anderen hervorbringt. Die Mimesis innerhalb der Melancholie vollzieht diese Aktivität als Einverleibung des anderen ›ins Ich‹.« (Butler 2001: 176)

In der Melancholie äußert sich der unbewusste Kampf um die Verhaftung als überkritischer Selbstbezug, in dem der Verweis auf diese Verhaftung dem Bewusstsein verborgen bleibt. Und gerade dieser Verweis, der im ›Selbstbezug‹ nicht anerkannt werden darf, ermöglicht und untergräbt den ›Selbstbezug‹. Einerseits erzeugt die Melancholie, in der nicht nur der Versuch der Substitution des Objekts durch das Ich erfolgt, sondern gleichzeitig auch eine Formierung des so entstehenden Ichs als Objekt, einen bewussten Selbstbezug. Genau genommen handelt es sich aber nicht um einen Selbstbezug, weil dieses Szenario die Geschichte der Identifizierung, die die einer Verhaftung ist, in sich einschließt. Das Ich bezieht sich nicht einfach auf sich als es selbst, sondern es kann sich nur auf sich selbst beziehen, indem es sich bereits auf etwas anderes bezogen hat (vgl. hierzu auch Bennington 1994: 151ff.). Dieser Bezug geht dem Selbstbezug voraus und stellt seinen Status als Selbstbezug in Frage. Dies bedeutet aber nicht nur, dass der Selbstbezug nur insoweit möglich ist, wie sich diese Abhängigkeit dem Bewusstsein entzieht, sondern selbst, wenn diese Abhängigkeit nicht verleugnet werden würde (und deshalb ist der Vergleich zwischen der Trauer und der Melancholie interessant), gibt es keine Geschichte dieses Bezuges, die sich schlicht rekonstruieren ließe: Die Identifizierung birgt keine Geschichte der Verhaftung in sich, in der die Bedeutung der Verhaftung dem Subjekt zu irgendeinem Zeitpunkt eindeutig und bewusst gegeben war. Wenn man wie Butler die Identifizierung als einen unbewussten Wunsch versteht, die libidinöse Verhaftung an ein Objekt nicht aufzugeben, und wenn, wie die Diskussion um die »Nachträglichkeit« gezeigt hat, diese Verhaftung niemals in einer rein gegenwärtigen Erfahrung

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bestanden hat, dann ist die Identifizierung nicht einfach nur ein reproduktiver Akt, in dem sich ein Ich durch die Assimilierung der Attribute des anderen formiert, sondern in gewisser Weise auch ein produktiver Prozess, in dem diese Attribute dem Objekt nachträglich zugeschrieben werden. Damit lässt sich die Identifizierung aber ebenso wenig in ihrer Bedeutung für das Subjekt vereinheitlichen und festlegen wie die Verhaftung oder der Verlust dieser Verhaftung, auf die oder den die Identifizierung sich bezieht. Wenn es richtig ist, dass sich das Ich der Beziehung zum ›verlorenen‹ Objekt nur insoweit bemächtigen kann, wie dieses sich ihm entzieht (die Identifizierung bezieht sich nicht auf eine einst präsente Erfahrung der Verhaftung und der Selbstbezug ist nur insoweit möglich, wie ihm die Geschichte der Verhaftung verborgen bleibt), dann bildet dieser Entzug die Möglichkeit und die Grenze des Ich. Insofern das psychische Geschehen jedoch zumindest teilweise als eine Verkörperung sozialer Normen betrachtet werden kann, stellt sich die Frage, inwiefern sich in diesem Entzug auch die Möglichkeit und die Grenzen normativer Macht abzeichnen.

2.6 Die geschlechtliche Identifizierung: eine »präsente« Er fahrung? Butlers Versuch, die Geschlechtszugehörigkeit als eine Wirkung melancholischer Identifizierungen zu durchdenken, eröffnet einen Blick darauf, wie die Ausbildung der Geschlechtsidentität und einer sexuellen Orientierung notwendigerweise eingebunden ist in die Möglichkeit ihrer Überschreitung. Die für die Melancholie charakteristische Bewahrung der Verhaftung ist nicht nur hinsichtlich der Ausbildung einer heterosexuellen Orientierung interessant, weil sie den homosexuellen Kern in der heterosexuellen Orientierung entblößt, sie radikalisiert auch den Blick auf die fundamentalen Schwierigkeiten, eine Identifizierung als männlich oder weiblich zu klassifizieren. Obwohl Freud seine Unsicherheit darüber eingesteht, auf welcher Grundlage wir überhaupt darüber entscheiden, worin männliche oder weibliche »Anlagen« bestehen, und seine Version des »vollständigen« Ödipuskomplexes die Identifizierung des Kindes mit beiden Elternteilen vorsieht, bleibt er der binären Konzeption der Geschlechtsidentität und der sexuellen Orientierung, durch die sich die modernen Normen des Geschlechts und die Norm der Heterosexualität auszeichnen, weitgehend verhaftet. Aus Freuds Sicht wird die Wahl eines weiblichen Objekts immer aus einer männlichen Identifi kation heraus getroffen und umgekehrt. Dies bestätigt zwar Butlers Argument, dass innerhalb der Logik des Ödipuskomplexes – die durchaus der vorherrschenden kulturellen Logik entsprechen mag – die Genese der Geschlechtsidentität einhergehen muss mit der Produktion eines heterosexuellen Begehrens. Letztendlich hält sie dieses Modell aber selbst für eine »starke und überzogene Konstruktion des Bezugs zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Sexualität« (Butler 2001: 128), in der die Möglichkeit »einer Terminologie, die eine reiche psychische Welt des Verhaftetseins und des

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Verlustes zuließe, die sich nicht auf einen vorgegebenen Begriff der sexuellen Differenz reduzieren läßt« (ebd.:155/156), unterdrückt wird. Wenn aus der Sicht von Freud trotz der Verdrängung des Ödipuskomplexes die spätere Objektwahl in Anlehnung an die Vorbilder der ersten inzestuösen Objektbesetzungen erfolgt, die Verdrängung also nicht vollkommen funktioniert, so dass es beispielsweise möglich ist, dass der Mann in seinen späteren Objektwahlen weiterhin »nach dem Erinnerungsbild der Mutter« (Freud 1972 [1905]: 131) sucht und, wie Butler gezeigt hat, das Inzesttabu ein Verbot der Homosexualität einschließt, stellt sich tatsächlich die Frage, warum es dann nicht möglich sein sollte, dass die Verhaftungen mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil ebenfalls nicht vollkommen verdrängt werden können und unbewusst bei der heterosexuellen Objektwahl eine Rolle spielen. Warum sollte es also nicht möglich sein, dass beispielsweise eine Frau »ihr Begehren nach der Mutter in einem Mann« substituiert (Butler 1995: 138) und wenn der so genannte vollständige Ödipuskomplex eine Identifi zierung mit beiden Elternteilen enthält, wie kann man dann mit Sicherheit sagen, sie begehre diesen Mann aus einer weiblichen Identifizierung heraus? Und wenn die geschlechtlichen Identifizierungen immer vielschichtiger sind, als es das disjunktive Schema von Männlichkeit und Weiblichkeit anerkennt, was gibt uns dann die Gewissheit, dass ihre frühkindliche Identifizierung mit der Mutter ausschließlich auf deren so genannten weiblichen Charaktereigenschaften gerichtet waren? Das Konzept der Melancholie unterstützt dieses Feld von Fragen ganz entschieden und der Vergleich zwischen der Trauer und der Melancholie liefert meiner Ansicht nach eine Sicht auf die Struktur der Verhaftung und des Verlustes, die erklärt, warum die Verhaftung oder der Verlust keine einheitlichen Erfahrungen sind, die sich in ihrer Bedeutung für das Subjekt determinieren ließen. Ebenso wie die Erfahrung des Verlustes oder der Verhaftung nicht einfach eine gegenwärtige Struktur besitzt, ist die von Autorinnen wie Maihofer oder Lorey erhobene Behauptung, »hegemoniale Geschlechterdiskurse« müssten als »gelebte Erfahrungen« betrachtet werden, die im Individuum »präsent« seien, streng betrachtet eine theoretische Illusion, in der der vereinheitlichende und performative Charakter eines »weiblichen« oder »männlichen« Selbstbezuges unterdrückt wird. Vereinheitlichend, weil auch die Identifi kation mit jemanden des »gleichen« Geschlechts eine Geschichte der Verhaftung in sich einschließt, die nur insoweit von Bedeutung für das Subjekt sein kann, wie die in der Struktur der Verhaftung enthaltene Differenz zum anderen erhalten bleibt. Deshalb kann Butler die Geschlechtsidentität nur »teilweise« (Butler 1994: 172) auf die Zurückweisung des gleichgeschlechtlichen Liebesobjektes zurückführen. Performativ, weil die Identifi kation nicht als ein Akt verstanden werden kann, in dem sich ein Ich nach der Maßgabe der Attribute des anderen formiert, sondern in gewisser Weise als ein Vorgang betrachtet werden muss, in dem diese Attribute dem anderen erst zugeschrieben werden. Die Identifizierung schließt nicht nur eine Verhaftung in sich ein, deren Auslöschung dem Tod des Ichs gleichkäme, sondern auch die Geschichte einer Verhaf-

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tung, deren Bedeutung dem Subjekt zu keinem Zeitpunkt unmittelbar ohne den aufschiebenden Bezug zu etwas anderem gegeben war. Wenn sich Maihofer positiv auf Chodorows Konzept männlicher und weiblicher Persönlichkeit bezieht, um zu illustrieren, wie der »hegemoniale Diskurs der Geschlechterdifferenz« »geschlechtsspezifisch unterschiedliche(r) Identitäten« konstituiert (Maihofer 1995: 100), stellt sie selbst implizit an zwei entscheidenden Stellen in Frage, dass die von Chodorow behaupteten Persönlichkeitsstrukturen der »Distanz« und der »Verbundenheit« im Modus der Präsenz gelebt werden können. So schreibt sie an einer Stelle: »In der Regel wird ein Individuum jedoch schon aufgrund des sozialen Zwanges eine eindeutige – entweder ›weibliche‹ oder ›männliche‹ – heterosexuelle Geschlechtsidentität entwickeln und zwar in Übereinstimmung mit seinem sogenannten ›realen‹ biologischen Körper und entsprechend den Normen des hegemonialen bürgerlichen Geschlechterdiskurses. Diese ›Vereindeutigung‹ ist allerdings weder je total noch je endgültig. Es existieren immer Inkonsistenzen, Widersprüche, Ambivalenzen bzw. Möglichkeiten der Aktualisierung und Verstärkung anderer Aspekte der eigenen Person.« (Ebd.: 106)

Was bedeutet dies für Chodorows Konzeption, dass »Vereindeutigungen« »weder je total noch je endgültig« sein können, also immer – zu jedem Augenblick – »Inkonsistenzen, Widersprüche, Ambivalenzen« möglich sind? Was bedeutet dies für die Dichotomie, die Chodorows Erzählung zugrunde liegt? Inwiefern ist diese auf das Mittel der Vereindeutigung angewiesen, ohne dass dieses Mittel jemals vollkommen erfolgreich sein kann? Und inwieweit folgt Chodorows Methode einem ›Wissenschaftsstil‹, der eng mit dem Diskurs ›männlicher‹ Subjektivität verbunden ist und die Behauptung männlicher Autonomie überhaupt erst ermöglicht? Aus Maihofers Sicht »rekonstruiert« Chodorow lediglich einen »hegemonialen Diskurs der Geschlechterdifferenz«, der die »gegenwärtige Subjektkonstituierung« dominiert, und zeigt hierbei, dass Jungen eine »autonom« orientierte Identität ausbilden, während Mädchen »beziehungsorientiert« bleiben (Maihofer 1995: 100). Um zu dieser eindeutigen Zuordnung kommen zu können, muss Chodorow aber systematisch alle weiteren möglichen und teilweise auch notwendigen Identifizierungen ausblenden, die nicht in ihr disjunktives Schema einer weiblichen und einer männlichen »sozialen Geschlechterpersönlichkeit« (Chodorow 1985: 207) passen. Der logische Auf bau ihrer Darstellung erzwingt sogar, so würde ich behaupten, dass beide Geschlechter die Fähigkeit besitzen müssen in beiden der von Chodorow zugrunde gelegten Modi des Selbst- und Weltbezugs zu agieren bzw. sie zu repräsentieren. Wenn beispielsweise, wie Chodorow, unterstellt »nur Mädchen – und nicht auch Knaben – mütterlich werden« (ebd.: 121) und Mädchen sich so kohärent mit der Mutter identifizieren, wie es ihre dichotome Darstellung nahelegt, wie kann sich dann überhaupt zwischen Vater und Tochter eine Beziehung entwickeln? Wenn die Tochter aufgrund ihrer spezifischen Beziehung zur Mutter nur die Erfahrung der Verbunden-

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heit machen konnte und in diesem Modus agiert, der Vater jedoch aufgrund seiner eigenen frühkindlichen Sozialisation nichts anderes als Distanz repräsentiert und die Beziehungsqualität des »Mutterns« nicht zu bieten hat, wie können die beiden dann überhaupt einen Bezug zueinander herstellen? Um den Vater als ein mögliches Liebesobjekt erkennen zu können, muss das Mädchen die Fähigkeit besitzen, einen Abstand zu ihm einzulegen. Mit anderen Worten: Sie muss ihn als etwas anderes als sich selbst erfahren haben, um ihn überhaupt begehren zu können, und diese Erfahrung ist innerhalb von Chodorows Schema männlich konnotiert. Nun könnte man hiergegen zu Recht einwenden, dass zumindest für den ersten Teil dieser Behauptung gilt, dass Chodorow genau hierauf hinaus will: Das Mädchen braucht den Vater, um sich überhaupt individuieren zu können, und Individuation symbolisiert Männlichkeit. Der entscheidende Punkt ist aber, dass innerhalb der zeitlichen Struktur von Chodorows Erzählung die für die Entwicklung und den Bestand des Begehrens notwendige Erfahrung des Abstandes die Erfahrung der Verbundenheit bereits voraussetzt und damit die ›Reinheit‹ dieser Unterscheidung in Frage stellt. Dies kann man deutlich an der Beziehung zwischen Mutter und Sohn sehen. Der männliche Sozialisationsverlauf ist durch den von der Mutter mittels Distanzierung und Sexualisierung eingeführten Abstand zum ersten Liebesobjekt charakterisiert. Damit impliziert die hieraus resultierende Individuierung und das hiermit verbundene Selbstgefühl der Separatheit aber unumgänglich die vorhergehende Erfahrung der Bindung. Diese Erfahrung mag verleugnet werden, sie kann aber nicht ausgelöscht werden. Ähnliche Strukturen kann man in der Beziehung zwischen Vater und Tochter entdecken: Muss zwischen den beiden nicht auch die Möglichkeit der Verbundenheit bestanden haben, damit die Tochter den Vater überhaupt begehren kann? Wie könnte die Tochter andernfalls den Wunsch nach Unabhängigkeit entwickeln, wenn sie keine Möglichkeit besitzen würde, dem Vater näher zu kommen? Innerhalb von Chodorows Darstellung müssen nicht nur alle Beteiligten jeweils auch die Möglichkeit besitzen, eine ›gegengeschlechtliche‹ Identifizierung zu repräsentieren bzw. im Modus des anderen Geschlechts zu agieren (die Mutter muss dem Sohn gegenüber im Modus der Distanz agieren können und damit die Möglichkeit besitzen, etwas anderes als reine Weiblichkeit oder »Muttern« zu repräsentieren; der Vater wiederum darf die frühkindliche Erfahrung der Verbundenheit mit der Mutter nicht vollkommen verdrängt haben, damit er überhaupt eine Beziehung zu seiner Tochter unterhalten kann; die Tochter muss sich distanzieren können, damit sie überhaupt begehren kann usw.), sondern innerhalb der Logik dieser Erzählung sind diese beiden Modi immer schon in einer Weise aufeinander bezogen, die es ihnen nicht erlaubt selbstidentische Einheiten zu bilden. Sicherlich würde Chodorow ohne weiteres eingestehen, dass Frauen und Männer keineswegs ausschließlich in dem einen oder anderen Modus agieren, und wahrscheinlich würde sie darauf beharren, dass sie lediglich kulturelle Tendenzen festgestellt hat. Also unterschiedliche quantitative Stärken eines ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Selbstbezuges. Ist es jedoch möglich das Selbstgefühl der

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Weltverbundenheit, das bei Chodorow für Weiblichkeit steht, und das der Separatheit als eindeutig voneinander zu unterscheidende Qualitäten zu erleben? Mit anderen Worten: Was Chodorow als weibliche und männliche Erfahrungen beschreibt, kann dem Individuum als solches nicht unmittelbar präsent sein, wobei die Vermittlung zum eigenen Geschlecht für beide Geschlechter unterschiedlich ausfällt: Sich selbst als männlich zu erfahren ist eine Erfahrung, die innerhalb von Chodorows Darstellung wesentlich durch die Verleugnung der vorhergehenden Verbundenheit mit der Mutter strukturiert ist. Diese Bezugnahme bildet den Kern der männlichen Identifizierung und kann – obgleich sie verleugnet werden muss – nicht ausgelöscht werden. Sich selbst als weiblich zu erfahren ist innerhalb der Bestimmungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Chodorow zugrunde legt, jedoch nur innerhalb des als männlich bestimmten Modus der Distanz möglich und damit ebenso unmöglich wie ein unmittelbar männlicher Selbstbezug. Wenn sich der weibliche Bezug zur Welt durch seine Nähe zum Objekt auszeichnet, kann die weibliche Psyche – soweit sie innerhalb dieser Logik überhaupt besteht – keinen reflexiven Selbstbezug kennen. (Womit Chodorow interessanterweise zumindest implizit mit Freuds Behauptung des beim Weibe schwächer ausgebildeten Über-Ichs übereinstimmt und in diesem Sinn den Freud’schen Diskurs als einen hegemonialen tatsächlich konsequent rekonstruiert.) Sich selbst als etwas Bestimmtes zu erfahren, erfordert einen Abstand zu sich selbst einzulegen – eine männliche Tätigkeit. Innerhalb dieser Logik ist das weibliche Selbstbild immer ein Bild aus einer männlich bestimmten Perspektive. Tatsächlich legt die zeitliche Struktur von Chodorows Erzählung nahe, dass die weibliche Erfahrung der Verbundenheit vor der männlichen Erfahrung der Distanz liegt und diese ebenso ermöglicht wie in ihrer Selbstidentität untergräbt. Die Erfahrung der Verbundenheit erhält so aber den Status einer prädiskursiven Erfahrung, von der nur innerhalb des männlichen Modus der Distanz berichtet werden kann, die selbst aber keine Möglichkeit der Artikulation besitzt. So sieht es auch Maihofer, wenn sie schreibt: »Der frühen Kritischen Theorie und dem späten Foucault zufolge sind Subjektsein und ›Mann‹ sein konstitutiv auf engste miteinander verbunden. Das Verhältnis zu sich selbst als Subjekt seiner selbst impliziert nämlich in sich eine Struktur von ›Männlichkeit‹ zu errichten. Das heißt Subjektsein und ›Mann‹ sein konstituieren sich in einem, stärken und reproduzieren sich wechselseitig. (…) Für Frauen bedeutet das die Unmöglichkeit, Subjekt des eigenen Geschlechts zu sein, mit eigener geschlechtlicher Identität und Würde. Außerdem bedeutet es, daß Frauen, um Subjekte zu sein, in sich ein männliches Verhältnis errichten müssen.« (Maihofer 1995: 103)

Wenn es innerhalb dieser Logik jedoch streng betrachtet kein weibliches Selbstverhältnis gibt und sich das männliche Selbstverhältnis nur durch die Verleugnung einer Bindung konstituiert, die nicht vollkommen ausgelöscht werden kann und dennoch nur im Modus des ihr vorgeblich Entgegenge-

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setzten zum Vorschein kommen kann, ist es dann legitim zu behaupten, dass es sich hierbei um eine Diskursformation handelt, die »im einzelnen Individuum präsent« ist? Damit soll nicht die ›Wirkungskraft‹ geleugnet werden, die diesem System zukommt, aber es soll im Verlauf dieser Arbeit der Frage weiter nachgegangen werden, inwiefern es eines anderen Verständnisses des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit als einer ›gelebten‹ Praxis bedarf als desjenigen einer ›Wirklichkeit‹, in der die hiermit verbundenen Erfahrungen letztendlich doch als ungeteilte und gegenwärtige psychische Strukturen begriffen werden. Dass die begriffliche Unterscheidung zwischen einem beziehungsorientierten und einem distanzorientierten Selbstverhältnis logisch betrachtet immer schon dadurch verunreinigt wird, dass das eine durch das andere hindurch artikuliert wird, schließt keinesfalls aus, dass Maihofer in einer bestimmten Weise darin Recht haben mag, dass Chodorow in ihrer Bestimmung des Selbstbezuges als »männlich« einen »hegemonialen Diskurs der Geschlechterdifferenz« rekonstruiert, der die »gegenwärtige Subjektkonstituierung« dominiert (Maihofer 1995: 100). Obwohl gerade Freuds Diskurs über die Psyche die Idee eines sich selbst bewussten Subjekts angreift, liefert er mit seiner Interpretation des geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Ausgangs des Ödipuskomplexes, demzufolge Frauen ein eher schwaches Über-Ich ausbilden, durchaus einen diskursiven Kontext, der Maihofers Bestimmung der hegemonialen Bedeutung von »Mann“sein als »Subjektsein« untermauert. Eine solche Bestimmung wird jedoch zwangsläufig von einem Unbehagen bewohnt werden, das weder von Chodorow noch von Maihofer berücksichtigt wird. Dieses erschöpft sich nicht darin, dass eine reine Unterscheidung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Selbstverhältnis kaum möglich erscheint, sondern gründet auch darin, dass man niemals vollkommen wissen kann, an wen oder was man verhaftet ist und mit wem oder was man sich identifiziert. Wenn es richtig ist, dass die Bildung des Ichs davon abhängt, dass es sich selbst anstatt des anderen zum Objekt nimmt und der Erfahrung der Verhaftung an ein Objekt eine ›Nachträglichkeit‹ anhaftet, die nicht auf eine vorhergehende präsente Erfahrung des Verhaftung verweist, sondern konstitutiv ist für die ›Struktur‹ des Objekts, dann haftet jedem Versuch der Bestimmung solcher Erfahrungen eine Unabgeschlossenheit an, die sich nicht in dem binären Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit und dem der Hetero- und Homosexualität systematisieren lässt. Damit erscheint das von Uwe Sielert beklagte ›Unbehagen‹ seiner Studierenden weniger als ein ›Hindernis‹, das eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem »Verständnis des eigenen Geschlechts« behindert, als vielmehr als etwas, ohne das das Anliegen ein ›Verhältnis zu sich selbst zu unterhalten‹ nicht denkbar wäre. Sielerts Vorgehensweise unterstützt aber diejenigen Studierenden, die meinen sicher wissen zu können, was Männlichkeit und Weiblichkeit in dieser Gesellschaft bedeutet und eröffnet den übrigen keinen Zugang zu der Frage, in welcher Weise die Schwierigkeit, die sie damit hatten, sich selbst in ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimm-

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ten Geschlecht näher zu bestimmen, die dominante moderne Vorstellung von Geschlecht tangiert, der zufolge die Geschlechtszugehörigkeit schon durch die Geburt in einen eindeutig männlich oder weiblich markierten Körper lebenslang feststeht und sich durch die Entwicklung angeborener psychischer Dispositionen und/oder sozialisierter psychischer Eigenschaften verfestigt. In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion darüber, mit welchen Maßnahmen angehende und praktizierende LehrerInnen in der Aus- und Fortbildung für die ›Geschlechterfrage‹ sensibilisiert werden können, wird viel Wert darauf gelegt, dass hierbei die »Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis […] für Lehrende wie Lernende unabdingbar« sei (Kraul/Horstkemper 1999: 311). Wenn eine solche Auseinandersetzung nicht unkritisch der ›Alltagsvorstellung‹ von Geschlecht verhaftet bleiben soll, erscheint es notwendig eine Ebene der Reflexion des binären Schemas der Zweigeschlechtlichkeit zu erschließen, die es erlaubt der phantasmatischen Dimension nachzugehen, die damit verbunden ist, sich seiner eigenen Einbindung in den Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit bewusst zu werden. Dies setzt meiner Ansicht nach einen theoretisch bestimmteren Umgang mit der Frage der Stabilität und Instabilität des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit in der geschlechtsbezogenen Schulforschung voraus und damit auch eine Untersuchung darüber, welcher Zusammenhang zwischen dem metatheoretischen Rahmen besteht, der in ihr zugrunde gelegt wird, und der binären Konzeption eines männlichen und weiblichen Körpers und einer männlichen und weiblichen Psyche.

Teil III: Identifizierung und Überschreitung: Der relativen Stabilität der Diskurse der Zweigeschlechtlichkeit Rechnung tragen ...

Nach Judith Butler kann das in der Psychoanalyse grundlegende Gesetz des Inzesttabus die Identifizierungen, die es erzwingt, nicht restlos determinieren (vgl. Butler 1991: 113ff.; 1995: 134ff.). Dies war eine zentrale Thematik der vorhergehenden Diskussion. Vielmehr bringt es Identifizierungen hervor, die in ihrer sexuellen und geschlechtlichen Bestimmung nicht losgelöst von ihrer Überschreitung gedacht werden können und paradoxerweise sogar nur insoweit Bestand haben, wie sie sich der binären Terminologie der Zweigeschlechtlichkeit und der Opposition der Hetero- und der Homosexualität entziehen. Diese Diskussion wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie tangiert die Überschreitung des binären Prinzips in der Identifizierung, die innerhalb von Freuds Erzählung des Ödipuskomplexes irreduzibel ist, das normative System der Zweigeschlechtlichkeit, durch das Identifizierungen – zumindest teilweise – hervorgebracht werden? Was macht die relative Stabilität der Normen der Zweigeschlechtlichkeit aus, wenn ihre Wirkungskraft notwendigerweise begrenzt ist? Welche Möglichkeiten ergeben sich aus dieser Begrenzung für eine Destabilisierung und Enthierarchisierung des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit? Und in welcher Weise sind die Möglichkeiten der Reformulierung der sozialen Regulierung des Geschlechts dennoch begrenzt? Der vorhergehende Teil ist von der Frage ausgegangen, inwiefern eine geschlechtsbezogene Pädagogik, die den Begriff der Identität so einsetzt, als entwickelten Mädchen und Jungen tatsächlich eine Geschlechtsidentität, die eine – wenngleich unbewusste – so doch gegenwärtige Struktur besitzt, die es aufzudecken gilt und auf die man sich in pädagogischen Maßnahmen gezielt beziehen kann, dem Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit mehr Macht zugesteht als notwendig und die theoretischen Vorannahmen bestärkt, in denen der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit eingebunden ist. Der Fokus des nächsten Teils liegt darauf, entlang der oben aufgeworfenen Fragen näher zu untersuchen, in welcher Weise sich das ›Wirken‹ des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit nicht nur in dem, was er erzwingt, sondern auch in der Reproduktion der Normen, mit denen er operiert, der Opposition der An- oder Abwesenheit entzieht und ein verändertes Verständnis davon erfordert, worauf sich der Diskurs der geschlechtsbezogenen Schulforschung bezieht. Erst ein solches verändertes Verständnis von Referenzialität ermöglicht es aus meiner Sicht im abschließenden Teil dieser Arbeit eine Diskussion darüber zu führen, inwieweit sich hieraus eine andere Perspektive hinsichtlich der Problematik der Reifizierung ergibt. Denn die Diskussion um die Problematik der Reifizierung ist bislang in der pädagogischen Ge-

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schlechterforschung maßgeblich davon geprägt worden, dass selbst noch in dem Ansatz des »doing gender«, Geschlecht als ein entweder gegenwärtiger Tatbestand (Zweigeschlechtlichkeit wird in einer bestimmten sozialen Situation konstruiert: »doing gender« findet statt) oder nichtgegenwärtiger Tatbestand (die Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit werden in einer bestimmten Situation »ruhen gelassen«: es handelt sich um eine Phase des »undoing gender«) konzipiert wird.

1. Das Symbolische und das Soziale: Butlers Diskussion des »Gesetzes« bei Lacan

Auch dieser Teil beginnt wiederum mit einer Erörterung von Butlers Diskussion des Status des Inzestgesetzes in der psychoanalytischen Konzeption von Geschlecht. In »Körper von Gewicht« untersucht Butler in der Auseinandersetzung mit Jacques Lacans Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen, ob der irreduzible Widerstand, der jeden Versuch, sich kohärent entlang von Normen zu identifizieren, prägt, das psychoanalytische Gesetz des Inzesttabus selbst unberührt lässt. Im Anschluss an eine dekonstruktive Auslegung des Gesetzes kritisiert sie, dass in einem lacanianischen Verständnis der Subjektgenese dem Widerstand, der den Bereich der geschlechtlichen Identifizierungen prägt, keine Kraft zugestanden wird gegen diejenigen Gesetze, die das Geschlecht regulieren sollen, zu opponieren. Im Unterschied zu Lacan, der das Symbolische als eine gesetzgebende Instanz betrachtet, die nicht vollkommen in den Strukturen des Sozialen aufgehen kann, weil sie das Soziale erst inauguriert, plädiert Butler dafür die symbolischen Zwänge, denen die Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit unterliegen, als soziale Normen zu betrachten, die einem Wiederholungszwang unterworfen und damit reformulierbar sind. Diese Argumentation ist nicht nur für die feministische Theoriebildung im Allgemeinen, sondern auch für den Diskurs der geschlechtsbezogenen Schulforschung in mindestens zweifacher Weise interessant: Erstens eröffnet sie eine Perspektive auf die geschlechtliche Markierung des Körpers, in der dieser weder als ein biologisch bestimmter vorausgesetzt noch – wie Butler häufig vorgeworfen wird – die körperliche Dimension von Geschlecht verleugnet wird. Im Gegenteil: Wenn Butler darauf dringt die Zweigeschlechtlichkeit als eine »sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden oder rituellen Praxis zu verstehen« (Butler 1995: 32), dann hebt sie gerade darauf ab, an die Stelle einer Konzeption von Konstruktion, in der entweder unter der Hand ein vorgängiges biologisches Geschlecht unterstellt wird oder die soziale Konstruktion zu einem einfachen Ursprung erklärt wird, den Körper nicht als einen »Ort oder Oberfläche« vorzustellen, in den oder auf den sich soziale Bedeutungen einschreiben, sondern »als ein[en] Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so

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daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen.« (Butler 1995: 31, Hervorh. i. Orig.) Hierbei geht Butler durchaus davon aus, dass die Prozesse solcher Materialisierungen durch die fortlaufende Wiederholung von sozialen Normen reguliert werden; die Konstitution solcher Normen selbst – und hier schließt Butler zumindest implizit an Derrida an – sieht sie aber einem Gesetz unterworfen, das der Unterscheidung von Konvention und Naturgesetz vorausgehen muss: dem der Iterabilität. Mit dieser theoretischen Perspektive zeigt Butler vielleicht eine Möglichkeit auf, den Zwang als eine Bedingung der sozialen Konstruktionen von Geschlecht zu thematisieren, ohne den Bereich der Zwänge erneut zu essentialisieren. In der geschlechtsbezogenen Schulforschung schwingt in der Diskussion um das Verständnis von Geschlecht als einer Konstruktion häufig die Frage mit, inwieweit eben doch die körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen die Grenze der sozialen Reformulierung des Geschlechts bilden (vgl. z.B. Pasero/Faulstich-Wieland/Hoeltje/Jansen-Schulz 1998: 266f.) Problematischerweise neigen die VertreterInnen des »doing gender« oder auch Autorinnen wie Hagemann-White oder Bilden aber dazu, die begriffl iche Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Natürlichen keiner eingehenden Analyse zu unterziehen. Stattdessen insistiert Hagemann-White darauf, dass verschiedene anthropologische und ethnologische Studien die kulturelle Relativität der Zweigeschlechtlichkeit belegen würden und untermauert dies mit biologischen Studien, die darauf abheben die biologische Kohärenz der Zweigeschlechtlichkeit in Frage zu stellen (Hagemann- White 1984). Damit gerät die sozialkonstruktivistische Position immer wieder unter Druck die Grenzlinie zwischen dem Sozialen und dem Natürlichen zu benennen oder sie läuft Gefahr in ihrer Argumentation das Soziale in die Position eines einfachen Ursprungs zu erheben. Ich glaube, dass es auch für die geschlechtsbezogene Schulforschung – und nicht nur für die feministische Grundlagenforschung – wichtig ist diese schwierige Thematik der Grenzziehung zwischen dem Sozialen und der Natur nicht auszublenden. Zum einen, weil die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit zu einer der zentralen Begründungsfiguren der modernen Erzählung der Zweigeschlechtlichkeit gehört und teilweise immer noch sehr erfolgreich für die Legitimation der vorherrschenden Arbeitsteilung herangezogen wird und deshalb sowohl in der Programmatik einer »geschlechtssensibilisierenden« LehrerInnenausbildung als auch als ein Bildungsgegenstand in der Schule eine Rolle spielen sollte. Zum anderen, weil die Ausklammerung dieser Problematik in dem Diskurs der pädagogischen Geschlechterforschung dazu führt, dass hier zwar manchmal erstaunlich schnell zugestanden wird, dass unsere Auffassungen von Geschlecht bis hin zu unserem Verständnis der körperlichen Zweigeschlechtlichkeit historisch und kulturell bedingt seien, unter der Hand aber doch wieder ein Teil des Geschlechts in einen vorgeblich vordiskursiven Raum ausgelagert wird, der dann dem Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit selbst (nicht aber seinen konkreten kulturellen Ausgestaltungen) einen universellen Status verleiht. Ein Beispiel hierfür stellt

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die bildungstheoretische Position von Barbara Rendtorff dar, die auf der Basis eines lacanianischen Verständnisses des Inzestgesetzes, die Annahme des »Geschlechtlichsein« als einen unumgänglichen Entwicklungsschritt auf dem Weg der »Subjektwerdung« betrachtet. Die Konstruktion von Geschlecht als eine laufende Wiederholung von Normen zu begreifen verschiebt noch in einer zweiten Hinsicht den Blick auf die soziale Regulierung der Zweigeschlechtlichkeit und die Temporalität, in die sie eingebunden ist. Insofern Butlers Verständnis von Wiederholung an Derrida anschließt, der unter Iterabilität nicht die Wiederholung des Gleichen versteht, sondern die Wiederholung von Anfang an die Differenz des zu Wiederholenden gebunden sieht, hat Butlers Hinweis darauf, dass die sozialen Normen der Zweigeschlechtlichkeit auf ihre Wiederholung angewiesen sind, den interessanten Effekt, dass in diesem Fall die Wiederholung normativer Praktiken diese paradoxerweise nur stabilisieren kann, weil die Wiederholung mit einem Spielraum der möglichen Veränderung verbunden sein muss. Eine solche Sichtweise unterscheidet sich nicht nur grundlegend von der statischen Konzeption der Symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit, wie man sie bei Hagemann-White findet, die vorschlägt Männlichkeit und Weiblichkeit als objektive »Positionen« zu begreifen, die von den Subjekten angeeignet werden, sondern ermöglicht, wie ich in der späteren Diskussion von Derrida zeigen werde, auch ein anderes Verständnis von Referenzialität in der Geschlechterforschung. Ich werde im Folgenden Butlers Konzeption von Geschlecht vorstellen, indem ich zunächst skizziere, in welcher Weise bei Lacan das Inzestgesetz und die sexuelle Differenz bei der Konstitution des Subjekts in ineinander greifen, um eine Grundlage für die Diskussion der Kritik von Butler an Lacan sowie für die Auseinandersetzung mit Barbara Rendtdorffs Schriften zu schaffen. Danach werde ich in einer Diskussion von Rendtorffs Verständnis von Geschlecht der Frage nachgehen, inwiefern der bei Lacan dem Sozialen vorgeordnete Status des Gesetzes fragwürdig erscheint und letztendlich dazu beiträgt den Status der Zweigeschlechtlichkeit als einer naturalen Tatsache zu verfestigen. Hieran anschließend steht Butlers Verständnis der Materialisierung von Geschlecht im Vordergrund, das auf die zentrale Rolle der Iterabilität in der Regulierung der Zweigeschlechtlichkeit hinweist.

1.1 Das Inzestgeset z und die Konstitution des Subjek ts bei Lacan Der Status des Inzestgesetzes in der Psychoanalyse Die Diskussion des Status des Gesetzes in der Psychoanalyse und dessen Verhältnis zum Feld der Identifizierungen rührt an einen der ›Knotenpunkte‹ der psychoanalytischen Theorie. Im Inzesttabu, dem fundamentalen Gesetz des Ödipuskomplexes, offenbart sich nicht nur die unauflösbare Verwobenheit des psychoanalytischen Konzepts des Subjekts mit dem des Geschlechts, sondern das Inzesttabu wird auch als das »grundlegende Gesetz«

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verstanden, mit dem die Kultur, »insofern sie mit der Natur in einen Gegensatz tritt, beginnt« (Lacan 1996 [1986]: 84). Die »Sonderung des Über-Ichs vom Ich«, als Resultat des (männlichen) Ödipuskomplexes, stellt für Freud »die bedeutsamsten Züge der individuellen und der Artentwicklung« (Freud 1975 [1923]: 302f.) dar. »Als Ersatzbildung für die Vatersehnsucht«, so Freud in Das Ich und das Es, enthält das Ichideal »den Keim aus dem sich alle Religionen gebildet haben.« (ebd: 304) Die den Ödipuskomplex strukturierende Rivalität mit dem Vater, die zwei mögliche Verbrechen einschließt, den Vater zu töten und das Begehren nach der Mutter, fallen nach Freud mit den beiden zentralen Tabuvorschriften des totemistischen Systems zusammen, das aus seiner Sicht die erste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen darstellt. Nach dieser Hypothese in »Totem und Tabu« lässt sich die 1923 vorgenommene topographische Beschreibung der Psyche als Ich, Es und Über-Ich auf die phylogenetische Vererbung des »Vaterkomplexes« zurückführen, die im Ödipuskomplex individuell nacherlebt wird. Jegliche soziale Organisation, wie die Religion, die Moral und das soziale Empfinden, nimmt nach Freud ihren Anfang in dem gemeinsamen Mord des »Urvaters«, der in der Vorzeit der Menschheitsgeschichte die »Urhorde« regiert habe und in dem Besitz aller Frauen gewesen sei. Mit dem gemeinsamen Mord an dem Vater bricht jedoch nicht eine gesetzlose Zeit an, sondern nach Freud markiert ein anderes Verhältnis zum Inzesttabu den Übergang in die Menschheit. Denn der Vater war nicht nur der gehasste Vater, sondern auch »das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen.« (Freud 1974 [1912-13]: 426) »Nun setzen sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an.« (Ebd.: 426)

Die Parallele zum Ödipuskomplex wird offensichtlich, wenn Freud zu dessen Verdrängung schreibt: »Da die Eltern, besonders der Vater, als das Hindernis gegen die Verwirklichung der Ödipuswünsche erkannt werden, stärkte sich das infantile Ich für diese Verdrängungsleistung, indem es dies selbe Hindernis in sich aufrichtete. Es lieh sich gewissermaßen die Kraft dazu vom Vater aus, und diese Anleihe ist ein folgenschwerer Akt.« (Freud 1975 [1923]: 302)

Mit der Introjektion wird der tote Vater jedoch, wie Freud betont, stärker als der lebendige. Insofern mit dem Mord an den Vater die Rivalität im Kampf um den Besitz der Frauen erhalten bleibt, muss die Rivalität nun durch die Identifizierung mit dem Rivalen ersetzt werden. Dieser Ersatz bildet die Grundlage für die psychische Struktur des Gewissens: »Religion, Moral und soziales Empfinden – diese Hauptinhalte des Höheren im Menschen –sind ursprünglich eins gewesen. Nach der Hypothese von Totem und Tabu wurden sie phylogenetisch am Vaterkomplex erworben, Religion und sitt-

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liche Beschränkung durch die Bewältigung des eigentlichen Ödipuskomplexes, die sozialen Gefühle durch die Nötigung zur Überwindung der erübrigenden Rivalität unter den Mitgliedern der neuen Generation. In all diesen sittlichen Erwerbungen scheint das Geschlecht der Männer vorangegangen sein […].« (Freud 1975 [1923]: 304)

Wenn das Inzestverbot aber das »ursprüngliche Gesetz« aller (kulturellen) Gesetze sein soll und den Bereich der Kultur begründet, lässt es sich selbst weder dem Bereich der Natur noch dem der Kultur zuordnen. Lacan sieht hierin eine Parallele zu Lévi-Strauss‹ anthropologischer Studie zu den Strukturen der Verwandtschaft und sagt hierzu: »Das Gesetz hat zur Folge, daß stets der fundamentale Inzest ausgeschlossen ist, der Inzest Sohn-Mutter, auf den Freud die Betonung legt. Wenn alles sonst gerechtfertigt ist, so bleibt trotzdem dieser zentrale Punkt. Es ist, und man sieht es sehr wohl, wenn man den Text von Lévi-Strauss genau liest, der rätselhafteste, einer Reduktion den größten Widerstand entgegensetzende Punkt zwischen Natur und Kultur.« (Lacan 1996 [1986]: 85)

Wie Lévi-Strauss geht auch Lacan in seinen Arbeiten der Frage nach, ob die verschiedenen Formen des sozialen Lebens auf eine allgemeine Struktur zurückzuführen sind, die das unbewußte Gesetz einer jeden sozialen Tätigkeit bilden (vgl. Lévi-Strauss 1981: 68ff.). Die Struktur der Sprache und der Verwandtschaft spielen hierbei eine hervorgehobene Rolle: Erstere, weil alle sozialen Beziehungen in erster Instanz an Sprache gebunden sind. Letztere, weil die Produktion und Regulierung von Subjektivität nach Maßgabe des strukturalistischen Gesetzes durch die symbolische Struktur der Verwandtschaft vermittelt wird. »Nach diesem Grundgesetz (dem Inzesttabu S.M.) überlagert das Reich der Kultur durch die Regelung von Verwandtschaftsbeziehungen das der Natur, das dem Gesetz der Paarung unterliegt. Das Inzestverbot ist nur der subjektive Angelpunkt, der in der modernen Tendenz nackt hervortritt, die der Wahl des Subjekts untersagten Objekte auf Mutter und Schwester zu reduzieren, wobei darüber hinaus noch lange nicht alles erlaubt ist. Hinreichend deutlich ist zu erkennen, daß dieses Grundgesetz mit einer sprachlichen Ordnung identisch ist. Denn keine Macht außer der sprachlichen Benennung von Verwandtschaftsgraden ist imstande das System von Präferenzen und Tabus zu institutionalisieren, das durch Generationen hindurch die Fäden der Abstammung miteinander verflicht und verknotet.« (Lacan 1991 [1953]: 118)

Obwohl der Begriff des Inzestverbots zentral für Lacans Begriff des Gesetzes ist, geht dieser damit über das Inzesttabu hinaus und bezeichnet eine Reihe von fundamentalen Prinzipien, denen alle sozialen Beziehungen unterliegen und die soziale Existenz als solche überhaupt erst ermöglichen (Evans 1996: 99). In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der Ordnung des Symbo-

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lischen zu sehen, der in Lacans Schriften eine wichtige Rolle spielt und sich auf die Austauschgesetze der Verwandtschaft und der Sprache bezieht. Die Ordnung des Symbolischen bei Lacan Lacan unterscheidet zwischen der Ordnung des Imaginären, des Realen und des Symbolischen. Die Ordnung des Imaginären spricht die Ebene der Identifizierungen an, genauer das imaginäre Ich des Spiegelstadiums, dessen Verhältnis zu sich selbst auf der Verkennung seiner Beziehung zu der Fremdheit des anderen beruht. Die Ordnung des Realen ist in dieser Unterscheidung diejenige Kategorie, die sich am wenigsten angemessen in wenigen Sätzen vorstellen lässt. Einerseits erscheint sie in Lacans Theorie als ein psychisches Außen, das jeglicher symbolischer Repräsentation widersteht und nur eine psychische Bedeutung erlangen kann, soweit es in die symbolische Ordnung eingebunden ist. Andererseits geht diese Kategorie aber auch nicht innerhalb der Opposition des Außen und des Innen auf, insofern sie auch Halluzinationen und traumatische Träume einschließt (vgl. Evans 1996: 160) und den grundlegenden Verlust anspricht, um den das psychische Geschehen bei Lacan kreist. Lacan geht davon aus, dass das Unbewusste wie eine eine Sprache strukturiert und damit wesentlich durch die Ordnung des Symbolischen bestimmt ist. Sein Konzeption der Struktur der Sprache basiert im Wesentlichen auf einer Interpretation des Zeichenkonzeptes des Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure sowie auf Roman Jakobsons Kommentar zu Saussure. Nach Saussure ist das Zeichen in erster Linie durch seinen psychischen Charakter gekennzeichnet. In den 1906-1911 gehaltenen Vorlesungen zu den Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft hebt Saussure hervor, dass das Zeichen nicht »einen Namen und eine Sache« in sich vereinige, sondern »eine Vorstellung und ein Lautbild«, das bereits als der »psychische Eindruck« eines physikalischen Lautes verstanden werden muss. Für die Vorstellung schlägt er den Term des Bezeichneten (Signifi kat) vor, für das Lautbild den Term der Bezeichnung bzw. des Bezeichnenden (Signifi kant). Nach Saussure bestehen die Grundeigenschaften des Zeichens in der Beliebigkeit der Verbindung zwischen Signifi kant und Signifi kat und seinem linearen Charakter. Dies bedeute jedoch nicht, dass »die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge«, sondern dass »in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit« zwischen Signifi kant und Signifi kat bestehe (Saussure 1967: 80). Unter dem linearen Charakter des Bezeichnenden versteht Saussure, dass das gesprochene Bezeichnende ausschließlich als eine lineare Aufeinanderfolge der sprachlichen Elemente auftrete, also eine Kette bilde, in der die Elemente nacheinander aufträten und aufgrund dieser zeitlichen Linearität einzig in dieser Dimension messbar seien. Die Radikalität dieses Sprachmodells besteht darin, dass es der Sprache eine andere Funktion als die der materiellen Repräsentation eines ihr vorhergehenden ideellen Gedankens zuweist. Nach Saussure hat die Sprache »nicht die Rolle vermittels der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen« (ebd.:

III. 1. D AS S YMBOLISCHE

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133), indem es das ungegliederte Denken in der lautlichen Materie organisiert. Damit fungiert Sprache aber nicht mehr als Repräsentation, sondern als Artikulation: »Das Denken für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt. Gegenüber diesem verschwommenen Gebiet würden nun die Laute für sich selbst gleichfalls keine fest umschrieben Gegenstände darbieten. Die lautliche Masse ist ebensowenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht eine Hohlform, in die sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seinerseits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeichnungen zu liefern, welche das Denken nötig hat.« (Ebd.: 133)

Solange man die Ebene des Signifi kats und die des Signifi kanten getrennt voneinander betrachte, bilde sich der Wert 1 der bezeichneten Vorstellung und des bezeichnenden Lautes jeweils negativ und differenziell, also durch die Beziehungen, die die Signifi kate untereinander und die Signifikanten untereinander unterhielten: »Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben. Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der anderen Zeichen um dieses herum gelagert ist.« (Saussure 1967: 143f.)

Betrachte man jedoch das Zeichen als Ganzes, lasse sich durchaus ein System von Werten ausmachen, das eine positive Verbindung zwischen der Ebene des Signifi kanten und der des Signifi kats schaffe: »Aber der Satz, daß in der Sprache alles negativ sei, gilt nur vom Bezeichneten und der Bezeichnung, wenn man diese gesondert betrachtet: sowie man das Zeichen als Ganzes in Betracht zieht, hat man etwas vor sich, das in seiner Art positiv ist. Ein sprachliches System ist eine Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der 1 | Der Ausdruck »Wert« ist nicht zu verwechseln mit der »Bedeutung« eines Zeichens. Vielmehr will Saussure mit dieser Bezeichnung den ökonomischen Charakter der Sprache hervorheben und zeigen, dass die Sprache ein System bildet, das nach den Regeln des Tauschs von »Unähnlichem« und des Vergleichs von »ähnlichen Dingen« funktioniert (vgl. ebd.: 137).

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Vorstellungen; aber dieses In-Beziehung-setzen einer gewissen Zahl von lautlichen Zeichen mit der entsprechenden Anzahl von Abschnitten in der Masse des Denkens erzeugt ein System von Werten. Nur dieses System stellt die im Innern jedes Zeichens zwischen den lautlichen und psychischen Elementen bestehende Verbindung her. Obgleich Bezeichnetes und Bezeichnung, jedes für sich genommen, lediglich differentiell und negativ sind, ist ihre Verbindung ein positives Faktum. Und zwar ist das sogar die einzige Art von Tatsachen, die in der Sprache möglich sind« (ebd.: 144).

Wenn Lacan das Unbewusste zwischen dem System der Wahrnehmung und dem Bewusstsein situiert und hervorhebt, dass das Bewusstsein bei Freud als ein Effekt der Verbindung zwischen den vorbewussten Wortvorstellungen und den unbewusssten Vorstellungen zu betrachten sei, und behauptet, dass bereits die unbewussten Denkvorgänge der Struktur des Signifi kanten unterlägen, knüpft er an Saussures Konzeption von Sprache als einer Artikulation an. Streng genommen ist die Objektkonstitution bei Lacan damit nicht in einem repräsentativen System verstrickt, sondern in einem Sprachsystem, dessen zentrales Charakteristikum das der Artikulation ist. Diese Absage an eine repräsentative Konzeption von Sprache erschüttert nicht nur den referentiellen Charakter von Sprache, sondern auch die traditionelle Subjektkonzeption, indem es die Vorstellung untergräbt, Sprache fungiere lediglich als ein Kommunikationsmittel eines ihr vorhergehenden Sinns. Im Unterschied zu Saussure spricht Lacan der Ebene des Signifi kanten aber eine privilegierte Stellung zu und betrachtet den Signifikanten und das Signifi kat als zwei voneinander zu unterscheidende Ordnungen, »die von vornherein getrennt sind durch eine Schranke, die sich der Bedeutung widersetzt.« (Lacan 1991 [1957]: 21) Die bildende und bestimmende Struktur von Sprache liegt für Lacan ausschließlich auf der signifizierenden Ebene der Signifi kanten. Die Ebene des Signifi kats hingegen gehört für ihn zum Register des Imaginären, d.h. zum imaginären Ich und seinem verkannten anderen. Obwohl das zentrale Element von Lacans Konzeption des Unbewussten als einer signifi kanten Struktur die Differenzialität ihrer Elemente ist und er die hieraus resultierende prinzipielle Offenheit der Signifi katswirkungen betont, hält er an der strukturalistischen Annahme fest, dass sich die Signifi kantenketten »nach den Gesetzen einer geschlossenen Ordnung« (ebd.: 26) zusammensetzen. Denn das Symbolische wird von ihm in zweierlei Hinsicht als eine totale Ordnung charakterisiert. 1954 stellt Lacan in seinem Seminar die Hypothese auf, dass das Symbolische von Beginn an als ein Ganzes – in sich selbst vollständig und von keinem anderen Prinzip abhängig – gegeben ist. Von diesem Standpunkt aus betrachtet entsteht das Symbolische nicht sukzessiv, sondern taucht immer schon als »ein Universum von Symbolen« auf (Lacan 1991 [1978]: 42). Unter bezug auf Lévi-Strauss‹ Feststellung, dass das Strukturierungsprinzip der Verwandtschaft in so genannten einfachen Kulturen umfangreicher sei als in so genannten komplexen Kulturen erklärt Lacan:

III. 1. D AS S YMBOLISCHE

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»Ausgehend davon können wir die Hypothese aufstellen, das diese symbolische Ordnung, weil sie sich immer als ein Ganzes setzt, als etwas, das für sich ganz allein ein Universum bildet – und sogar das Universum als solches konstituiert, insofern es verschieden ist von der Welt –, ebenfalls strukturiert sein muß wie ein Ganzes, das heißt, daß sie eine dialektische Struktur bildet, die zusammenhält, die vollständig ist.« (Ebd.: 43)

Zum anderen unterstreicht Lacan hier den umfassenden Ordnungsanspruch des Symbolischen, in dem Bereich, den es konstituiert: »Doch so klein auch die Anzahl der Symbole sein mag, die Sie sich vorstellen können beim Auftauchen der symbolischen Funktion als solcher im menschlichen Leben, sie implizieren die Totalität all dessen, was menschlich ist. Alles ordnet sich in bezug auf aufgetauchte Symbole, auf Symbole, sobald sie einmal erschienen sind. Die symbolische Funktion konstituiert ein Universum, innerhalb dessen alles, was menschlich ist, sich ordnen muß.« (ebd.: 42)

Deshalb bildet das Symbolische für Lacan eine Struktur, die trotz ihrer Kontingenz nur universal existieren kann, wobei die Universalität des symbolischen Systems von ihm als ein Anspruch auf Allgemeinheit verstanden wird, der wie im Fall des Ödipuskomplexes durchaus nicht immer realisiert sein muß. »Es gibt nichts«, sagt Lacan, »was konkret als universal verwirklicht wäre. Und doch, sobald sich irgendein symbolisches System bildet, ist es von nun an rechtmäßig als solches universal.« (Lacan 1991 [1978]: 47) Diesen Anspruch, sieht er, wie es scheint, durch die vorgebliche Ganzheit des Symbolischen und seine totalitäre Wirkungskraft errichtet. Was bedeutet in diesem Zusammenhang dann jedoch »Kontingenz«? Zunächst sicherlich, dass das Symbolische – trotz oder vielleicht sogar gerade aufgrund seiner universalisierenden Funktion – sich nicht auf einen transzendentalen Grund zurückführen lässt (vgl. Butler 2001: 75ff.). Ebenso macht Lacan im Verlauf desselben Seminars deutlich, dass das Symbolische weder eine biologische Ursache hat noch sich sonstwie aus dem Realen ableitet (Evans 1996: 202). Auch ist es ausgeschlossen, dass die Bezeichnung »kontingent« darauf hinweisen soll, dass das Symbolische »zufällig« entstanden sei. Obwohl Lacan einräumt, dass im Spiel Grad-oder-Ungrad, einem Glückspiel, das die determinierende Kraft des Symbolischen in einer scheinbar zufällig ausgewählten Reihe von Symbolen demonstrieren soll, etwas »enthüllt werden konnte, das an reinsten Zufall zu grenzen schien« (Lacan 1991 [1978]: 374) bleibt Lacan konsequenterweise dabei, dass letztendlich die Gesetze der symbolischen Determinierung »vor jeder wirklichen Feststellung des Zufalls liegen« (Lacan 1991 (1966[1956]): 60). Denn offensichtlich kann es keine Metasprache des Symbolischen geben, weil sie sich nur im Diskurs von Lacans großen Andern2 artikulieren könnte. 2 | Der Begriff des »Andern« bezeichnet bei Lacan »den Ort, den der Rückgriff auf das Sprechen evoziert in jeder Beziehung, in die er interveniert« (Lacan 1991

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»Es gibt keinen Andern des Andern. Der Gesetzgeber, also der, der vorgibt, das Gesetz aufzurichten, stapelt hoch, wenn er sich darstellt als einer, der hier Abhilfe wüßte. Nicht aber das Gesetz selbst, oder derjenige, der seine Autorität von ihm ableitet.« (Lacan 1991 [1960]: 188f.)

Deshalb klammert Lacan naturgemäß die Frage nach der Ursache des Symbolischen aus. Aufgrund seines universalen Auftretens liegt es auf der Hand, dass sein Anfang nicht erzählt werden kann. »Denken Sie an den Ursprung der Sprache. Wir stellen uns vor, daß es einen Moment gibt, wo man auf dieser Erde hat anfangen müssen zu sprechen. Wir nehmen also an, daß es ein Auftauchen gegeben hat. Aber von dem Moment an, da dieses Auftauchen in seiner eigenen Struktur erfaßt ist, ist es uns absolut unmöglich, über das, was ihm vorausging, anders zu spekulieren denn mit Hilfe von Symbolen, die immer schon haben angewandt werden können. Was an Neuem erscheint, scheint so sich immer in ununterbrochener Dauer zu erstrecken, endlos, diesseits seiner selbst. Wir können durch das Denken eine neue Ordnung nicht außer Kraft setzen. Das gilt für alles, was Sie wollen, einschließlich des Anfangs der Welt.« (Lacan 1991 [1978]: 12)

Vor diesem Hintergrund hat Butler recht, dass der Begriff der »Kontingenz« bei Lacan zwar als »Grundlosigkeit« verstanden werden kann, indem diese aber gleichzeitig die universale Erscheinungsform des Symbolischen ermöglichen und absichern soll, unterscheidet sich diese Version von »Kontingenz« maßgeblich von einer »Kontingenz«, die auf die Wandelbarkeit und beschränkte Wirkungsmacht solcher Strukturen anspielt (Butler 2001: 77). Vielmehr sieht es so aus, als sei eine Veränderung des Symbolischen bei Lacan – wenn überhaupt – nur als ein radikaler Umsturz denkbar, der sich nicht auf eine Reformulierung der geltenden Ordnung beschränkt.

Das Subjekt als der Effekt eines grundlegenden Verlustes Hierbei spricht Lacan dem Inzestgesetz die Rolle »des Gesetzes als solchen« (Lacan 1996 (1986): 84 Hervorh. i. Orig.) zu, also desjenigen Gesetzes, mit dem das Symbolische entsteht, das also mittels der Heiratsgesetze und der hiermit verbundenen Organisation des Tausches eine signifikante Struktur einführt und damit den Beginn jeglicher kulturellen Entwicklung bezeichnen soll. Demnach bilden das Inzestgesetz und sein Korrelat, der – bei Lacan auf die Mutter gerichtete – Inzestwunsch die signifi kante Struktur, in deren Form sich das Symbolische auf der individuellen Ebene niederschlägt. Insofern die Mutter »den Platz des Dings, von das Ding*«3 (ebd.: 84 Hervorh. i. Orig.) einnehme, stellt der Inzestwunsch aus dieser Sicht das [1958]) und verweist damit auf den Ort, an dem das sprechende Ich sich konstituiert. 3 | ›*‹ : Im Original Deutsch.

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»wesentliche Begehren« (ebd.: 84) dar, das das Unbewusste organisiert und aufrechterhält: »Was wir im Inzestgesetz fi nden, gehört als solches auf die Ebene des unbewußten Verhältnisses zum Ding*. Das Begehren nach der Mutter ist nicht zu befriedigen, weil es das Ende, den Endpunkt, das Auslöschen einer ganzen Welt des Anspruchs bedeutet, der Welt, die das Unbewußte des Menschen zutiefst strukturiert. Das ist so in dem Maße, als die Funktion des Lustprinzips macht, daß der Mensch stets auf der Suche ist nach dem, was er wiederfinden soll, was er aber nicht erreichen kann. Da ist das Wesentliche, diese Triebfeder, dieses Verhältnis, das Gesetz des Inzestverbots heißt.« (Ebd.: 85)

In der Formulierung »den Platz des Dings, von das Ding*« wird deutlich, dass das Verhältnis zur Mutter von Anfang an in einer symbolischen Ordnung eingebunden ist. In einem Seminar zu der Frage der ethischen Dimension in der Psychoanalyse verweist Lacan auf eine Stelle in dem von Freud 1925 verfassten Text »Die Verneinung«, die eine sehr komprimierte Darstellung der grundlegenden Struktur der Subjekt-Objekt Beziehung in Freuds Theorie der Psyche gibt. Hier führt Freud aus, dass »der Gegensatz zwischen Subjektivem und Objektivem […] nicht von Anfang an« (Freud 1975 [1925]: 375) bestehe. Insofern alle psychischen »Vorstellungen« von Wahrnehmungen abstammten und als teilweise modifizierte Wiederholungen derselben betrachtet werden müssten, bilde allein schon »die Existenz der Vorstellung eine Bürgschaft für die Realität des Vorgestellten.« (Ebd.: 75) Der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, so Freud, stelle sich erst dadurch her, dass »das Denken die Fähigkeit besitzt, etwas einmal Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht.« (Ebd.: 375) Folgt man dieser Überlegung, so bildet die Wiederholung des Wahrgenommenen in der Vorstellung die ursprüngliche Bewegung, in der sich die Struktur eines Subjekts gründet, wobei hierbei die Erfahrung eines äußerlichen Objektes entsteht, deren Struktur bereits von dieser Fähigkeit »der Reproduktion des Wahrgenommenen« abhängt. Denn insofern Wahrnehmungen und Vorstellungen bei Freud nicht dasselbe sind, sondern Vorstellungen für ihn vielmehr Wiederholungen von Wahrnehmungen darstellen, die die Wahrnehmung in unterschiedlicher Weise modifizieren können, impliziert die Vorstellung für Freud, obgleich sie in erster Instanz von Wahrnehmungen abstammen, immer schon einen Abstand zu dem Objekt, auf das sie sich bezieht, so dass die Suche nach dem verlorenem Objekt notwendigerweise in eine repräsentative Struktur eingebunden ist, und sich nicht an einer gegenwärtigen Wahrnehmung des Objektes orientiert, sondern an der Reproduktion dieser Wahrnehmung: »Der erste und nächste Zweck der Realitätsprüfung ist also nicht, ein dem Vorgestellten entsprechendes Objekt in der realen Wahrnehmung zu finden, sondern es wiederzufinden, sich zu überzeugen, daß es noch vorhanden ist. […]

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Man erkennt aber als Bedingung für die Einsetzung der Realitätsprüfung, daß Objekte verlorengegangen sind, die einst reale Befriedigung gebracht hatten.« (Ebd.: 375/376)

»Die Freud’sche Welt«, so kommentiert Lacan diese Textstelle, »das heißt die Welt unserer Erfahrung bringt mit sich, daß es sich darum handelt, dieses Objekt, das Ding*, als absolut Anderes des Subjekts wiederzufinden.« (Lacan 1996 (1986): 67) Insofern es »die Natur des Objekts« sei, »als solches verloren zu sein« (ebd.: 67), und (wie Freud bemerkt) die Subjektstruktur gerade erst durch die Diskrepanz zwischen dem in der Psyche Vorgestellten und der realen Abwesenheit des Vorgestellten zustandekommt, kann das Objekt per Definition nur als »absolut Anderes des Subjekts« wiedergefunden werden. Lacan bringt in diesem Zusammenhang in Anspielung auf Kant den Begriff des Dings ins Spiel, um diese radikale Fremdheit zu bezeichnen. »Das Ding* ist ursprünglich, was wir das Signifi kats-Außerhalb nennen möchten. Als Funktion dieses Signifikats-Außerhalb und in einem pathetischen Verhältnis zu ihm bewahrt das Subjekt seine Distanz und konstituiert sich in einer Art Verhältnis oder Primäraffekt, der aller Verdrängung vorausgeht.« (Ebd.: 69)

In Freuds Theorie, dies unterstreicht Lacans Auslegung, ist das »Erleben der Realität« jedoch immer schon eingebunden in eine symbolische Struktur: »In Freuds Text ist die Art und Weise, wie das Fremde, das Feindliche im ersten Erleben der Realität für das menschliche Subjekt auftritt, gegeben im Schrei. Diesen Schrei möchte ich sagen, brauchen wir nicht. […]. Im Deutschen meint das Wort* gleichzeitig le mot und la parole. Französisch hat das Wort mot ein besonderes Gewicht und einen besonderen Sinn. Mot meint wesentlich keine Antwort. Mot, sagt La Fontaine irgendwo, ist, was schweigt, es ist just das, an das sich kein Wort richtet. Die Dinge, um die es geht – und die, wie mir bestimmte Leute entgegenhalten könnten, von Freud auf eine höhere Ebene gestellt würden als jene Welt der Signifi kanten, über die ich ihnen sage, was sie ist, nämlich der tatsächliche Beweggrund für das Funktionieren jenes Vorgangs im Menschen, der als primär angesehen wird –, das sind die Dinge als stumme. Und stumme Dinge sind nicht ganz dasselbe wie Dinge, die keinerlei Verhältnis zu den Worten haben.« (Ebd.: 70)

Bei Freud knüpft die Entstehung des Wunsches, und damit desjenigen psychischen Geschehens, das in der Psychoanalyse als Primärvorgang bezeichnet wird, an das Auftreten körperlicher Bedürfnisse an. Werden diese befriedigt, hinterlassen sie eine Erinnerungsspur des Befriedigungserlebnisses. Tritt das Bedürfnis das nächste Mal auf, wird die erinnernde Vorstellung der Befriedigung wieder besetzt, um die Situation der ersten Befriedigung wieder herzustellen. Eine solche Halluzination nennt Freud Wunsch (vgl. Laplanche/Pontalis1972: 634f./Weber 2000:151ff.). Wenn Lacan den Primär-

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vorgang in der »Welt der Signifi kanten« begründet sieht und nicht in dem Entzug der »realen Befriedigungsobjekte« und damit in der realen körperlichen Abhängigkeit des Kindes, so ist dieses Beharren auf dem primär symbolischen Charakter des unbewussten Primärvorgangs darauf zurückzuführen, dass in Freuds Modell der Psyche unterschieden werden muss zwischen der Wahrnehmung des Befriedigungserlebnisses und dessen halluzinatorischen Wiederbesetzung. Erstens stillt die Wunschvorstellung das Bedürfnis nicht und unterscheidet sich schon in diesem Punkt von dem Befriedigungserlebnis des körperlichen Bedürfnisses. Insofern der Wunsch eine imaginäre Reproduktion des Befriedigungserlebnisses darstellt, die unabhängig von der Anwesenheit des ›realen Wunschobjektes‹ möglich ist, ist der Wunsch gerade durch seine repräsentative Struktur charakterisiert. Zweitens, und dies ist noch wichtiger, um zu verstehen, warum das fehlende Objekt, obgleich ihm sicherlich eine initiale Funktion bei der Entstehung von psychischen Vorstellungen zukommt (vgl. Lacan (1996 (1986): 79), nicht einfach als die Ursache des Primärprozesses betrachtet werden kann, entsteht erst in dieser imaginären Wiederholung so etwas wie eine psychische Struktur. Die Anfänge der Psyche liegen nicht in der Wahrnehmung des Befriedigungserlebnisses und der Wahrnehmung des Fehlens des Objektes des Befriedigungserlebnisses begründet, sondern in der Wiederbesetzung des Erinnerungsbildes der vorangegangenen Befriedigung. Eine psychische Bedeutung kommt der Befriedigung erst in dieser Bewegung zu. In diesem Sinn ist bei Lacan das gesuchte Objekt immer schon in eine Halluzination eingebunden, die sich an die Stelle des Dings setzt, das sich jeder Symbolisierung radikal entzieht: »Alles in allem vermag, wenn nicht etwas sie halluziniert als Referenzsystem, sich keinerlei Wahrnehmungswelt auf gültige Weise zu ordnen, sich auf Menschenart zu bilden. Die Welt der Wahrnehmung wird uns von Freud gegeben als abhängig von solcher grundlegenden Halluzination, ohne die es keinerlei verfügbare Aufmerksamkeit gäbe.« (Ebd.: 67)

Dass sich die Halluzination an die Stelle dessen setzt, was Lacan als das Ding bezeichnet, heißt aber nicht, dass das Ding selbst einfach eine Halluzination ist. Vielmehr ist die Distanz zum Ding ein zentrales Charakteristikum der psychischen Vorstellung. »Sie werden nicht erstaunt sein«, so Lacan, »wenn ich Ihnen sage, daß das Ding auf der Ebene der Vorstellungen nicht nichts ist, aber buchstäblich nicht ist – es erweist sich als abwesendes, fremdes.« (Ebd.: 80) Zwar drehe sich der »gesamte Fortschritt der Anpassung« des Menschen an die Realität »um dieses Ding*«, die Besonderheit der menschlichen Entwicklung bestehe aber darin, dass sich der symbolische Prozess »als unentwirrbar« in die Anpassung »eingewirkt« zeige (ebd.: 74). Diese »ursprüngliche Teilung in der Erfahrung der Realität« (ebd.: 66) erklärt, warum Lacan das Subjekt als eine Funktion eines Unbewussten begreift, das die Struktur einer Sprache hat.

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Das Bedürfnis, der Liebesanspruch und das Begehren In diesem Zusammenhang ist der Term des Begehrens bei Lacan zu betrachten, der zwar an den Freud’schen Begriff des Wunsches anknüpft, letztendlich aber doch über diesen hinausgeht. Und zwar unterscheidet Lacan zwischen den körperlichen Bedürfnissen, dem Anspruch auf Liebe und dem Begehren. Ebenso wie bei Freud das Bedürfnis in der Psyche nur im Wunsch erscheinen kann und die Abwesenheit des Objekts voraussetzt, existiert das Bedürfnis für Lacan auf der psychischen Ebene nur als eine entfremdete Wiederkehr, die über das Bedürfnis hinausgeht. Nach Lacan unterliegen die Bedürfnisse der Artikulation und damit der Ordnung der Signifi kanten. Insofern die Struktur der Artikulation jedoch, wie bei Saussure deutlich geworden ist, etwas anderes als die der Repräsentation ist, geht es hierbei nicht einfach um eine Mitteilung des Bedürfnisses, die aus der realen körperlichen Abhängigkeit des Kindes resultiert. Vielmehr betont Lacan, dass sich das Konzept der Abhängigkeit selbst »auf ein Universum von Sprache« stützt und, dass die Bedürfnisse durch die Notwendigkeit des Umwegs durch die Ordnung des Signifi kanten hindurch einer »Diversifi kation und Übersetzung« unterworfen sind (Lacan 1991 [1960]: 187). Auf dieser Ebene kommt der Term des Anspruchs ins Spiel, der bei Lacan Anspruch auf Liebe ist: »Der Anspruch an sich zielt auf etwas anderes als auf die Befriedigungen, nach denen er ruft. Er ist Anspruch auf eine Gegenwart oder eine Abwesenheit. Das bringt jene ursprüngliche Beziehung zur Mutter zum Ausdruck, die schwanger geht mit jenem Anderen, das diesseits der Bedürfnisse zu situieren ist, die es befriedigen kann. Sie konstituiert er bereits als Inhaber des ›Privilegs‹, die Bedürfnisse zu befriedigen, das heißt der Macht, ihnen das vorzuenthalten, wodurch allein sie befriedigt wären. Dies Privileg des Anderen umreißt so die radikale Gestalt der Gabe dessen, was es nicht hat, das heißt dessen, was man seine Liebe nennt.« (Lacan 1991 [1958]: 127)

Demnach geht der Anspruch über den Ruf nach Bedürfnisbefriedigung hinaus und zielt damit nicht auf ein bestimmtes Objekt, sondern »auf eine Macht, die zwar«, wie Weber schreibt, »die Befriedigung der Bedürfnisse ermöglicht […], die sich aber gerade als Macht von jeder ihrer konkreten Handlungen absetzt, sie transzendiert.« (Weber 2000: 163) Deshalb kann die Bedürfnisbefriedigung dem Anspruch qua Definition nicht gerecht werden: »Auf diesem Weg hebt der Anspruch die Besonderheit von alledem, was gewährt werden kann, auf und verwandelt es in einen Liebesbeweis, wobei selbst die Befriedigungen, die er für das Bedürfnis erwirkt, erniedrigt werden dadurch, daß sie nicht mehr darstellen als das Zerschellen des Liebesanspruchs (…).« (Lacan 1991 [1958]: 127)

Hierbei macht Lacan deutlich, dass sich in der Phantasie, die um die Anoder Abwesenheit dieser Macht kreist, eine Differenz auftut, die auf die

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symbolische Dimension, und das heißt auf die unbewusste differenzielle Struktur dieser Imagination verweist. »So entsteht dann also die Dringlichkeit, daß die dergestalt aufgehobene Besonderheit jenseits des Anspruchs wieder auftaucht. Und tatsächlich erscheint sie auch dort wieder, aber indem sie die Struktur konserviert, die vom Unbedingten des Liebesanspruchs unterschlagen wird. Vermöge einer Umkehrung, die keine einfache Negation der Negation darstellt, taucht die Macht des reinen Verlusts auf aus dem Überrest einer Obliteration. Dem Unbedingten des Anspruchs substituiert das Begehren die ›absolute‹ Bedingung: Diese Bedingung entbindet in der Tat, was im Liebesbeweis gegen die Bedürfnisbefriedigung rebelliert. Daher ist das Begehren weder Appetit auf Befriedigung, noch Anspruch auf Liebe, sondern vielmehr die Differenz, die entsteht aus der Substraktion des ersten vom zweiten, ja das Phänomen ihrer Spaltung* selbst.« (Lacan 1991 [1958]: 127)

Demzufolge muss das Begehren bei Lacan als das »Phänomen« der Spaltung von Bedürfnis und Anspruch betrachtet werden, einer Differenz, in der sich, insofern es sich bei dem Anspruch um eine Mitteilung handelt, die »vom Ort des Anderen aus ergeht«, nicht nur die grundlegende Spaltung des Subjekts offenbart, sondern auch die grundlegende Entfremdung des Objektes in der Liebe. Das »Andere« bezeichnet für Lacan »den Ort, den der Rückgriff auf das Sprechen evoziert«, also die unbewussten signifizierenden Strukturen der Sprache, die nach Lacan dem Subjekt bei ihrem Gebrauch entgehen und durch die es überhaupt erst »seine signifi kante Stellung findet« (ebd.: 125). »Die Bedeutung des Phallus« Aber trotz dieser differenziellen Verfassung des Begehrens als eines, dessen Objekt dem Subjekt radikal entzogen bleiben muss und das Subjekt nur auf Kosten einer grundlegenden Spaltung konstituiert, besteht Lacan darauf, dass das Begehren ein geschlossenes symbolisches Feld bildet, dessen Signifi katswirkungen maßgeblich durch die »sexuelle Beziehung« oder besser den Phallus in seiner Funktion als Herrensignifikant bestimmt sind. »Der Phallus in der Freud’schen Doktrin ist kein Phantasma, wenn man unter Phantasma eine imaginäre Wirkung verstehen muß. Er ist als solcher ebensowenig ein Objekt […], insofern dieser Begriff die Realität hervorhebt, die in einer Beziehung angesprochen wird. Noch weniger wohl ist er das Organ, Penis oder Klitoris, das er symbolisiert. […]. Denn der Phallus ist ein Signifi kant, ein Signifi kant, dessen Funktion in der intrasubjektiven Ökonomie der Analyse vielleicht den Schleier hebt von der Funktion, die er in den Mysterien hatte. Denn es ist der Signifi kant, der bestimmt ist, die Signifi katswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, soweit der Signifikant diese konditioniert durch seine Gegenwart als Signifi kant.« (Ebd.: 125f.)

Die zuvor diskutierte »Umleitung der Bedürfnisse des Menschen, die da-

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durch auftritt, daß dieser spricht« und dass »seine Mitteilung vom Ort des Andern aus ergeht«, betrachtet Lacan als eine der ersten signifizierenden Wirkungen der Präsenz dieses Signifi kanten (ebd.: 126). Aus der hiermit innerhalb seiner Theorie verbundenen Dialektik zwischen dem Bedürfnis, dem Anspruch und dem Begehren ergibt sich, dass »weder das Subjekt noch der Andere (für jeden der Beziehungspartner) sich damit zufrieden geben können, Subjekte des Bedürfnisses oder Objekte der Liebe zu sein, sondern einzig und allein damit, Statthalter zu sein für die Ursache (cause) des Begehrens.« (Ebd.: 127f.) In dieser Formulierung kommt der grundlegende Abstand zum Ausdruck, der bei Lacan das Subjekt markiert und die Möglichkeit seiner Selbstidentität und eines einfachen Ursprungs des Subjekts untergräbt. »Statthalter zu sein für die Ursache (cause) des Begehrens« heißt nicht die Ursache des Begehrens des Anderen zu sein, sondern als Signifi kant dieser Ursache zu fungieren. Als Signifi kant der Ursache des Begehrens des Anderen bleibt aber nicht nur die Ursache selbst immer verborgen, sondern innerhalb dieser Logik kann dem Subjekt eine Bedeutung nur in einem anderen Signifi kanten zukommen. Mit anderen Worten: das Subjekt ist als Effekt der Sprache dem Spiel der Sprache unterworfen. In diesem Spiel schreibt Lacan dem Phallus zwei Funktionen zu: Erstens erhebt er den Phallus in eine Stellung, die die Bewegung des Bedeutens als solche zu repräsentieren scheint. Denn für Lacan ist der Phallus der Signifi kant der Auf hebung des Bedeutbaren in der Signifi kantenfunktion: »Man kann sagen, daß die Wahl auf diesen Signifi kanten fällt, weil er am auffallendsten von alledem, was man in der Realität antriff t, die sexuelle Kopulation ausdrückt wie auch den Gipfel des Symbolischen im buchstäbllichen (typographischen) Sinn dieses Begriffs, da er im sexuellen Bereich der (logischen Kopula) entspricht. Man kann auch sagen, daß er kraft seiner Turgeszens das Bild des Lebensflusses ist, soweit dieser in die (in der) Zeugung eingeht. Alle diese Vorstellungen verschleiern aber immer noch die Tatsache, daß er (der Phallus S.M.) seine Rolle nur verschleiert spielen kann, das heißt seinerseits nur als Zeichen der Latenz, mit der alles Bedeutbare geschlagen ist, sobald es in der Signifi kantenfunktion aufgehoben* ist. Der Phallus ist der Signifi kant dieser Auf hebung* selbst, die er durch sein Verschwinden inauguriert (initiiert).« (Ebd.: 128)

Insofern Lacan die Ebene des Signifi kanten und die des Signifi kats als zwei radikal heterogene Ordnungen betrachtet, die durch eine Sperre voneinander getrennt sind und das Signifi kat als den Niederschlag der Substitution eines Signifikanten durch einen anderen betrachtet, wobei sich das Signifizierte aufgrund der metonymischen Verknüpfung der Signifi kanten nicht fixieren lässt, sondern unter dem Signifizierenden »hinweg gleitet«, lässt sich nachvollziehen, warum innerhalb dieser Theorie jeder beliebige Signifi kant als ein »Zeichen der Latenz« fungiert. Was macht den Phallus dann aber zu dem »Signifikanten dieser Aufhebung«, also zu demjenigen Signifi kanten, der diese Bewegung des Signifizierens als solche repräsentiert? Samuel We-

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ber argumentiert in seiner Einführung in Lacan, dass sich die Bedeutung des Phallus durch die symbolische Figur der Kastration konstituiert und damit als »negative Repräsentation« funktioniere, »ohne sich selbst dabei zu negieren, ohne also die Affirmation einer dialektischen Auf hebung.« (Weber 2000: 182) In diesem Sinne sei der Phallus, »Signifikant der Signifikation schlechthin, Signifi kant der Differenz oder noch genauer: sie (die Kastration S.M.) bildet jene Sperre, die an sich bedeutungslos ist, weil sie die Signifi kation selbst ermöglicht.« (Ebd.: 182) Legt man diese Interpretation zugrunde, so wird auch die zweite Funktion deutlich, die Lacan dem Phallus in dem obigen Abschnitt zuweist: Und zwar soll der Phallus derjenige Signifi kant sein, der durch »sein Verschwinden« die Bewegung der Auf hebung des Bedeutbaren in der Signifi kantenfunktion inauguriert, in seiner Funktion als Herrensignifi kant selbst aber dieser Aufhebung entzogen bleibt. Ähnlich wie Judith Butler in »Körper von Gewicht« unterstreicht aber auch Weber, dass der Phallus nicht losgelöst von einer imaginären Dimension seine »symbolische Funktion« ausüben kann. »Einerseits also erfüllt der Phallus die Funktion des Signifi kanten schlechthin: andererseits aber … ist er ein spezifischer Signifikant, kein transzendentaler. Daher Freuds Festhalten an der Besonderheit der Kastration im Gegensatz zu anderen Erfahrungen der Trennung, wie sie hinsichtlich der Mutterbrust oder der Fäzes gemacht werden. Aber diese Besonderheit des Phallus kann sich nur aussondern vermöge der Fixierung auf ein Signifikat, wie übrigens bei jedem besonderen Signifi kant. Das heißt: die imaginäre Funktion des Phallus geht nie ganz in seiner symbolischen Funktion auf, vielmehr sperrt sie den Weg zu einem solchen Aufgehen, das den Phallus zum reinen Signifikanten erheben und damit gerade seine symbolische Funktion vernichten würde, sofern der Signifi kant nie rein, nie mit sich selbst identisch sein kann, sondern immer in seiner notwendigen Lokalisierung und Materialisierung leicht entstellt sein muß. Das imaginäre Moment des Phallus – als Repräsentant des männlichen Gliedes – rettet daher seine symbolische Funktion im selben Augenblick, indem es jene Symbolik gerade durch das Imaginäre verunreinigt.« (Ebd.: 184)

Wenn der Phallus jedoch unumgänglich durch das Imaginäre »verunreinigt« ist, was sichert dann den privilegierten Status des Phallus? Und wie kann Lacan die signifi kante Offenheit der Signifi kantenketten in Einklang bringen mit der Behauptung der Geschlossenheit ihrer Ordnung? Die Annahme einer sexuellen Position und ihr notwendiges Scheitern Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welcher Weise bei Lacan das Inzestgesetz den Eintritt in das Symbolische reguliert und hierbei eine geschlechtlich verschiedene unbewusste Position im Verhältnis zum Phallus hervorbringt: Lacan betrachtet die sexuelle Beziehung als die Annahme von zwei unterschiedlichen unbewussten Positionen im Verhältnis zum symbolischen Phallus. Der zentrale Unterschied zwischen der Freud’schen und der Lacanschen

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Erzählung des Ödipus besteht darin, dass Lacan im Gegensatz zu Freud keinen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Verlaufsform des Kastrationskomplexes zulässt, womit der Ödipuskomplex sowohl für den Jungen als auch für das Mädchen mit der Anerkennung des durch die symbolische Position des Vaters repräsentierten Gesetzes endet. In »Die Bedeutung des Phallus« hebt Lacan hervor, dass das Subjekt einen Zugang zum Phallus, und d.h. einen Zugang zu der symbolischen Ordnung, der die Artikulation seiner Bedürfnisse unterliegt, nur finden kann, wenn es »das Begehren des Andern als solches« anerkennt, d.h. den anderen anerkennt als ein Subjekt, das selbst der »signifikante[n] Spaltung*« unterworfen ist (Lacan 1986 [1958]: 129). Insofern Lacan davon ausgeht, dass sowohl der Junge als auch das Mädchen »von Anfang an der Auffassung ist, die Mutter ›enthalte‹ den Phallus« (ebd.: 129) – die Rede ist hier von dem imaginären Phallus – besteht in seiner Auffassung von dem Ödipuskomplex ein entscheidender Entwicklungsschritt darin, dass beide erfahren müssen, dass die Mutter den Phallus nicht hat (ebd.: 130). Weil der Anspruch auf Liebe, der auf die Teilhabe an der Macht der Mutter zielt, möchte, dass das Subjekt »ist« (ebd.: 130), versucht das Kind, um das Begehren der Mutter zu befriedigen, Phallus zu »sein« (ebd.: 129). Dieser Versuch, an dem ›Phallus-Haben‹ der Mutter teilzunehmen, ist innerhalb der Logik des Begehrens, die Lacan hier aufbaut, aber notwendigerweise zum Scheitern verurteilt: Denn jeder Versuch sich des Phallus zu bemächtigen, muss an der Unbedingtheit des Liebesanspruchs scheitern. Die »dem Begehren immanente Spaltung«, schreibt Lacan, »macht sich schon dadurch bemerkbar«, dass diese Spaltung opponiert dagegen, dass »das Subjekt sich damit begnügt, das, was es an Realem, was diesem Phallus entspricht, haben kann, dem Anderen zu präsentieren, denn, was es hat, zählt nicht höher als das, was es nicht hat, in Anbetracht seines Anspruchs auf Liebe, der möchte, daß es ist.« (Ebd.: 130) Diese dem Begehren immanente Spaltung kann nur im Begehren des Anderen erfahren werden. Deshalb ist es die Privation bzw. Kastration der Mutter, also das Bemerken, dass die Mutter den Phallus nicht hat, das für Lacan sowohl den Ödipuskomplex des Mädchens als auch den des Jungen einleitet (vgl. Evans 1996). Die ›Unvollständigkeit‹ der Mutter anzuerkennen, also eine Unvollständigkeit, die sich hier nicht auf das ›Fehlen‹ eines körperlichen Organs bezieht, sondern auf das Anerkennen des Begehrens der Mutter als eines, das sich jeder möglichen Befriedigung entzieht, ist bei Lacan durch die Anerkennung ihrer Kastration symbolisiert. Anerkennen, dass die Mutter den Phallus nicht »hat«, bedeutet aber auch die Unmöglichkeit des eigenen Versuchs für die Mutter der Phallus zu »sein« anzuerkennen. Der Verzicht auf diese Identifikation mit dem »imaginären Phallus« bahnt nach Evans Verständnis von Lacans Version des Ödipuskomplexes den Weg, ein Verhältnis zu dem »symbolischen Phallus« aufzunehmen, das für beide Geschlechter verschieden ausfällt (ebd.: 141). Während der Terminus »imaginärer Phallus«, soweit ich sehen kann, den Anspruch auf Macht auf der Ebene des Liebesanspruchs anspricht, bezieht sich der Terminus des »symbolischen Phallus« auf den Status des Phallus als desjenigen Signifikanten, der den »Grund des Begehrens des Anderen« repräsentiert. Die

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Entwicklung des Verhältnisses zu diesem Signifikanten, hängt nach Lacan »von dem Gesetz ab, das der Vater in diese Sequenz einführt« (Lacan 1991 [1958]: 130), wobei er die Anerkennung des irreduziblen Abstandes zum Objekt des Begehrens für die Geschlechter unterschiedlich strukturiert sieht: »Man kann aber, hängt man sich an die Funktion des Phallus, Strukturen herausarbeiten, denen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern unterworfen sind. Diese Beziehungen drehen sich, wie wir sagen, um ein Sein und ein Haben, die dadurch, daß sie sich auf einen Signifi kanten, auf den Phallus beziehen, die ärgerliche Wirkung haben, daß sie einerseits dem Subjekt Realität in diesem Signifi kanten verleihen, andererseits die zu bedeutenden Beziehungen irrealisieren.« (Ebd.: 130)

Damit existieren für Lacan Männlichkeit und Weiblichkeit nur als eine differenzielle Beziehung in der Sprache, die in der Diskrepanz zwischen dem Begehren und dem Anspruch angelegt ist: »Diese Ideale (»die idealen oder typischen Erscheinungsformen des Verhaltens beider Geschlechter« S.M.) erhalten ihre Kraft aus dem Anspruch, den sie zu befriedigen vermögen, und der immer Liebesanspruch ist, mit seinem Komplement der Reduktion des Begehrens auf den Anspruch.« (Ebd.: 130)

Hierbei setzt Lacan eine heterosexuelle Paarbeziehung voraus, in der beide Geschlechter jeweils mit unterschiedlichen Erfolg den Anspruch verfolgen, Phallus für den anderen zu »sein«, also »Signifi kant des Begehrens des Andern« (ebd.: 130): »Findet der Mann die Möglichkeit, seinen Liebesanspruch in der Beziehung zur Frau zu befriedigen, sofern der Signifi kant des Phallus sie als diejenige konstituiert, die in der Liebe das gibt, was sie nicht hat, so wird umgekehrt sein eigenes Begehren nach dem Phallus seinen Signifi kanten hochkommen lassen in seiner übrigbleibenden Divergenz auf ›eine andere Frau‹ hin, die auf verschiedene Weise diesen Phallus bedeuten kann, ob als Jungfrau oder als Hure.« (Ebd.: 131)

An dieser Stelle wird deutlich, dass der Phallus als Signifikant, die Rolle, die Lacan ihm in der Konstitution der Geschlechterbeziehungen zuschreibt, nur spielen kann, wenn er »das Organ, Penis oder Klitoris« symbolisiert (ebd.: 126) und damit zu einem besonderen Signifi kanten in einer Signifikantenkette wird, dessen Signifi katswirkungen sich zwar nicht determinieren lassen, dem aber eine Bedeutung zukommt und der deshalb, wie Judith Butlers Arbeit zeigt, auch prinzipiell reformulierbar ist (vgl. Butler 1995: 85ff.). Denn wie ist es sonst zu verstehen, dass »der Signifi kant des Phallus« den Mann als denjenigen konstituiert, der für die Frau – zumindest imaginär – recht erfolgreich die Rolle des Phallus »sein« spielt, was aufgrund des vermeintlichen ›Erfolgs‹ logischerweise auf beiden Seiten das Ende des Be-

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gehrens bedeuten würde, wenn es sich hierbei nicht schon immer um eine imaginäre Verkennung handeln würde, während umgekehrt »sein eigenes Begehren nach dem Phallus«, laut Lacan, »seinen Signifi kanten hochkommen« lässt? Dieser phallozentrischen Logik entsprechend konstituiert »der Signifi kant des Phallus« die Frau als diejenige, »die in der Liebe das gibt, was sie nicht hat« (Lacan 1991 [1958]: 131), weil ihr Status der Kastrierten das Begehren des Mannes den Phallus zu »haben« schützt und sein durch die Logik des Anspruchs bedingtes notwendiges Scheitern der Phallus für die Frau zu »sein« maskiert. Auf diese Weise wird die Maskerade als derjenige Bereich, in dem die imaginären Identifi kationen reguliert werden, »in denen die Verweigerungen des Anspruchs sich auflösen« (ebd.: 132), zum Refugium der Frau. »Ausgerechnet um dessentwillen, was sie (die Frau S.M.) nicht ist, meint sie, begehrt und zugleich geliebt zu werden. Was indessen ihr eigenes Begehren anbelangt, so findet sie dessen Signifi kanten im Körper dessen, auf den sich ihr Liebesanspruch richtet. Man darf aber gewiß nicht vergessen, daß das Organ, das mit dieser signifi kanten Funktion ausgestattet ist, von hier aus den Wert eines Fetisch annimmt. Aber als Ergebnis bleibt für die Frau, daß in ein und demselben Objekt sowohl eine Liebeserfahrung, die als solche […] sie idealiter dessen beraubt, was dieses ihr gibt, als auch ein Begehren, das hier seinen Signifi kanten findet, konvergieren. Deswegen wird, wie man beobachten kann, das Fehlen der dem Sexualbedürfnis eigenen Befriedigung, anders gesagt: die Frigidität, von der Frau verhältnismäßig gut ertragen, während die dem Begehren innewohnende Verdrängung bei ihr geringer ist als beim Mann.« (Lacan 1991 [1958]: 130f.)

Damit sind der Phallus »haben« und der Phallus »sein« meiner Ansicht nach nicht als zwei disjunktive Positionen im Symbolischen zu verstehen, sondern das »haben« bezieht sich auf die symbolische Ebene des Begehrens während sich das »sein« auf der imaginären Ebene des Liebesanspruchs bezieht. In »Die Bedeutung des Phallus« »hat« der Mann den Phallus, insofern sie ihm suggeriert, dass er der Phallus für sie »ist«, was in letzter Konsequenz jedoch bedeuten würde, dass sich diese Position auf seiten des Mannes durchstreichen würde, wenn er tatsächlich seinen Liebesanspruch erfüllen könnte, denn die vollkommene Erfüllung des Liebesanspruchs bedeutete logischerweise das Erlöschen des Begehrens. Die phantasmatische Vorstellung wiederum, dass er seinen Liebesanspruch erfüllen kann, basiert darauf, dass Lacan eben nicht, wie er eingangs behauptet, den Phallus als Signifi kanten trennt von dem »Organ, Penis oder Klitoris, das er symbolisiert« (ebd.: 126). Und hieraus ergibt sich auch, warum die Frau nicht in dem gleichen Maß dem Phantasma unterliegt ihren Liebesanspruch zu befriedigen wie der Mann und ihr in diesem Text die Position des Phallus »sein« zukommt: Aufgrund der ihr zugeschriebenen Position der Kastrierten bleibt sie »Signifikant des Begehrens des Anderen«, unendlicher Quell des männlichen Begehrens. Hierbei macht Lacan aber auch deutlich, dass die Möglichkeit des Man-

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nes, »seinen Liebesanspruch in der Beziehung zur Frau zu befriedigen« (ebd.: 131) auf einer Verkennung beruht und die Position des Phallus »haben« weder von ihm vollkommen eingenommen werden kann noch ihm allein vorbehalten bleibt: »Man darf freilich nicht glauben, daß die Art Untreue, die hier für die männliche Funktion konstitutiv zu sein scheint, dieser allein eigentümlich sei. Denn betrachtet man die Sache genauer, so findet sich die gleiche Verdoppelung bei der Frau, nur daß der Andere der Liebe als solcher, das heißt insofern er dessen beraubt ist, was er gibt, sich schlecht bemerkbar macht in dem Rückstoß, durch den er sich dem Sein desselben Mannes substituiert, dessen Attribute sie schätzt.« (ebd.: 131)

Wie Irigaray in Auseinandersetzung mit Freud dargelegt hat, ist das Begehren innerhalb dieses Modells ausschließlich männlich konnotiert. Ebenso kann man auch sagen, dass es für Lacan im Symbolischen nur eine männliche und keine weibliche Position gibt. Diese basiert jedoch auf einem grundlegenden »Mangel an Sein«4, wobei dieses vorgebliche Jenseits des Seins, das die einzige Möglichkeit für das (männliche) Subjekt darstellt zu einem immer schon gespaltenen Selbstverhältnis zu gelangen, durch die NichtExistenz der weiblichen Position im Symbolischen vertreten wird5. 4 | Dies bedeutet nicht, dass Frauen bei Lacan kein Selbstverhältnis haben können, aber wenn sie eine Subjektposition übernehmen, wird diese immer männlich strukturiert sein. 5 | 1955 sagt Lacan in seinem Seminar:

»Das Begehren, die zentrale Funktion für jede menschliche Erfahrung, ist Begehren nach nichts Benennbarem. Und es ist dieses Begehren, das gleichzeitig an der Quelle jeglicher Lebendigkeit ist. Wäre das Sein nur das, was es ist, dann gäbe es nicht einmal den Platz, um von ihm zu reden. Das Sein kommt zum Existieren gerade in Abhängigkeit von diesem Mangel. In Abhängigkeit von diesem Mangel in der Erfahrung des Begehrens kommt das Sein zu einem Gefühl von sich in bezug auf das Sein. Von der Verfolgung dieses Jenseits, das nichts ist, kommt es zurück zum Gefühl eines selbstbewußten Seins, das nur sein eigener Reflex in der Dingwelt ist. Denn es ist der Gefährte von Seienden, die da vor ihm sind und die sich in der Tat nicht wissen.« (Lacan 1991 [1978]: 284) Innerhalb von Lacans Modell der Konstitution des Subjekts ist es die Figur der kastrierten Frau, die diesen »Mangel an Sein« repräsentiert. Dies wirft die Frage auf, ob Lacans Version des Gesetzes auf einer versteckten Mystifizierung des »Mangels an Sein« gründet, die dem Gesetz einen dauerhaften nahezu unveränderlichen Status verleiht. Stellt das Nichts – wie die Textstelle »dieses Jenseits, das nichts ist« nahelegt – tatsächlich das radikal Andere des Seins dar oder handelt es sich bei der Bestimmung des Jenseits des Seins als einen »Mangel an Sein«, eine pure Abwesenheit, vielleicht nur um eine einfache Umkehr des metaphysischen Konzeptes der Präsenz

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Die bisherige Lektüre von Lacan hat gezeigt, dass das Symbolische von Lacan als ein Bereich dargestellt wird, der dem Subjekt vorausgeht und dessen grundlegende Spaltung begründet. Zwar muss das Subjekt hier als der Effekt eines Verlustes betrachtet werden, der sich nicht symbolisieren lässt, aber gerade aufgrund des irreduziblen Abstandes des Subjekts zu seinen Objekten betrachtet Lacan diese als immer schon in eine symbolischen Struktur eingebunden. Das Symbolische wird von ihm in linguistischen Begriffen definiert, die, wie Butler schreibt, »sich nicht auf die sozialen Formen der Sprache zurückführen lassen, von denen man auch strukturalistisch sagen könnte, daß sie überhaupt erst die universellen Bedingungen schaffen, unter welchen Sozialität […] möglich wird.« (Butler 2001: 41) Obwohl ein herausragendes Charakteristikum des Symbolischen bei Lacan in der Differenzialität seiner Elemente besteht und er damit die prinzipielle semantische Unabgeschlossenheit der Bewegung des Signifizieren hervorhebt, besteht er also darauf, dass sich das Symbolische nach den Gesetzen einer geschlossenen Ordnung zusammensetzt, die sich weder auf das Soziale noch auf einen naturgegebenen Grund zurückführen lässt. Hierbei spielen neben der linguistischen Dimension die Strukturen der Verwandtschaft eine hervorgehobene Rolle. Denn es ist das Inzestgesetz, das ja nur im Rahmen der Strukturen von Verwandtschaft einen Sinn ergibt, das den Ödipuskomplex als den zentralen Komplex des Unbewussten instituiert und reguliert. Mit dem Ödipuskomplex ist die Frage der ›Subjektwerdung‹ in der Psychoanalyse unumgänglich verknüpft mit der ›Geschlechtwerdung‹. Während für Freud jedoch die Geschlechtsidentität auf die Identifizierung mit dem – im positiven Verlauf – gleichgeschlechtlichen Elternteil zurückzuführen ist, bringt der Ödipuskomplex bei Lacan sowohl bei dem Jungen als auch bei dem Mädchen eine symbolische Identifizierung mit dem Vater hervor. Aus Lacans Sicht ist es die unterschiedliche Beziehung zum Phallus, die durch den Vater als Vertreter des Gesetzes eingeführt wird, die die Annahme einer geschlechtlichen Position hervorbringt (vgl. Evans 1996: 178). Hierbei existieren für Lacan nicht eine männliche und eine weibliche Position im Symbolischen, sondern vielmehr muss Geschlecht als die Einrichtung einer unbewussten Position verstanden werden, die sich auf den Phallus als einen privilegierten Signifi kanten bezieht. Obwohl der Phallus niemals ganz von seiner imaginären Dimension, der Repräsentation des männlichen Gliedes, zu lösen ist, kommt ihm in der Lacanschen Theorie des Seins, das hier durch die Erzählung des Geschlechts hindurch abgesichert wird? Mit anderen Worten: Wird bei Lacan nicht problematischerweise die Abwesenheit zur fundierenden Grundlage des Symbolischen? Inwiefern hypostasiert Lacan die Geschlechterbeziehungen in seinem Konzept des Phallus als eines Signifi kanten, der durch seine »Gegenwart«, die »Signifi katswirkung in ihrer Gesamtheit« (Lacan 1991 [1958]: 126) konditionieren soll? Diesen Fragen kann hier nicht nachgegangen werden. Sie spielen jedoch, zumindest untergründig, in den beiden nachfolgenden Kapiteln, die sich mit dem Status des psychoanalytischen Gesetzes beschäftigen, eine Rolle.

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die Stellung eines Signifi kanten zu, der die Bewegung des Bedeutens als solche zu repräsentieren scheint und der deshalb als einziger Signifi kant vorgeblich seiner Aufhebung in einem anderen Signifi kanten entkommt. Damit ist eine symbolische Position bei Lacan aber nicht dasselbe wie eine soziale Norm und die sexuelle Position wird in einer Weise durch den Phallus bestimmt, die sich – aufgrund der besonderen Stellung des Phallus – der Möglichkeit der Reformulierung entzieht. Dies bedeutet keinesfalls, dass bei Lacan die Annahme einer sexuellen Position das Subjekt determiniert, aber die symbolische Position als solche scheint sich zumindest teilweise dem Sozialen zu entziehen (vgl. Butler 2001: 43). Nach Lacan bringt der Kastrationskomplex eine »Erfahrung tiefer Ungewissheit« hervor, eine »unbewußte[n] Position im Subjekt«, die es diesem überhaupt erst ermöglicht sich mit dem »Idealtypus seines Geschlechts« zu identifizieren, »auf die Bedürfnisse seines Partners in der sexuellen Beziehung« zu antworten und die Bedürfnisse des eigenen »Kindes auf angemessene Weise wahrnehmen« zu können (Lacan 1991 [1958]: 121). Insofern die Genese dieser »Erfahrung tiefer Ungewissheit« jedoch unlösbar eingebunden ist in eine Symbolik des Geschlechts, lässt sich der »Idealtypus« des Geschlechts hier nicht auf eine soziale Norm reduzieren. Aus strukturalistischer Sicht wird die Struktur des Unbewussten von einem Verbot regiert, das zwar nicht dem Bereich der Natur zuzuordnen ist, das jedoch als »das Prinzip des ursprünglichen Gesetzes« betrachtet wird, dem »alle übrigen kulturellen Entwicklungen« entspringen (Lacan 1996 [1986]: 84). Wenn es sich bei dem Symbolischen, wie Lacan behauptet, um eine geschlossene Ordnung handelt, die sich immer als ein Ganzes setzt, dann sieht es so aus, als ob der »Idealtypus« des Geschlechts in ein System eingebunden ist, das sich – wenn überhaupt – nur durch einen radikalen Umsturz wirkungsvoll verändern lässt6. Obwohl die Pointe von Lacans Relektüre des Ödipuskomplexes darin besteht, dass die Position des Phallus »haben« oder »nicht haben« von niemanden vollkom6 | Auch die Lacanianer sind sich durchaus nicht einig, ob für Lacan ein wirkungsvoller Widerstand gegen das Gesetz überhaupt möglich ist. So wirft Rendtdorff, wie ich später noch eingehender erläutern werde, Butler vor, dass ein Aufstand gegen das Gesetz des Vaters undenkbar sei, während Žižek moniert, dass sich bei Lacan eine weitaus radikalere Variante des Widerstands abzeichne als bei Butler und Foucault. Während für diese jeglicher Widerstand letztendlich immanenter Bestandteil der Macht bleibe, zeige Lacans Lesung von Antigone und seine Interpretation des Todestriebes, dass das Symbolische durchaus angreif bar sei. Dies erfordere jedoch einen ethischen Akt, in dem das Risiko der »›Suspension des großen Anderen‹« (Žižek 1999: 32) eingegangen werden müsse. Dies ist jedoch gerade eines der zentralen Kritikpunkte von Butler an Lacan, nämlich, dass Widerstand nur zum Preis des sozialen Todes zu haben sein soll und somit – dies Butlers Auslegung – im Bereich des Psychotischen eingeschlossen bleibe ohne das Symbolische zu tangieren. Für Žižek hingegen eröff net diese Geste die Möglichkeit des Umsturzes. Wirksamer Widerstand gegen das Symbolische ist für ihn nur als ein Akt der »gründlichen Neugestaltung« (Žižek 1999: 33) möglich.

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men eingenommen werden kann, und er ähnlich wie Freud, der auf die Existenz eines »vollständigen Ödipuskomplexes« besteht, darauf hinweist, dass auch die Frau die Position des Phallus »haben« einnimmt, legt seine These von der Totalität des Symbolischen nahe, dass dieser Widerstand auf der Ebene der Identifizierung das Symbolische und die Gesetze, die das Symbolische bestimmen, unberührt lassen. Vor diesem Hintergrund hat Judith Butler die Frage aufgeworfen, inwiefern das Scheitern des Widerstandes von Lacan idealisiert wird und sogar eine Version des Gesetzes hervorbringt, das dem Symbolischen gerade, weil kein Subjekt seinen Forderungen genüge tun kann, eine unbedingte Macht verleiht: »Lacans Theorie muß […] als eine Art ›Sklavenmoral‹ verstanden werden. Die Frage ist, wie seine Theorie zu reformulieren wäre, wenn man sich Nietzsches Einsicht in der Genealogie der Moral aneignet, der zufolge Gott, das unerreichbare Symbolische, durch eine Macht (den Willen zur Macht), die regelmäßig ihre eigene Ohnmacht instituiert, erst unerreichbar gemacht wird?« (Butler 1991: 93)

Im Anschluss an Foucaults Unterscheidung einer produktiven und einer juridischen Macht interessiert Butler, inwiefern die Konstruktion einer solchen Ohnmacht dazu beiträgt die »generativen Kräfte«, von denen die Konstruktion des »Gesetzes« abhängt, zu verschleiern und den Bereich des Verworfenen, den sie zwangsläufig hervorbringen, als »permanente Unmöglichkeit« zu verleugnen (ebd.: 93). Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, ob derlei Überschreitungen einen wirkungsvollen Widerstand bilden können oder ob die Kraft der Macht hiervon unberührt bleibt.

1.2 Imaginärer Widerstand und die Autorität des Symbolischen: Butlers dekonstruk tive Auslegung des Geset zes In »Körper von Gewicht« gibt Butler eine Lesung des Kastrationskomplexes, in der sie – ähnlich wie schon Irigaray – herausarbeitet, dass die Figur der Frau in dieser Erzählung eine Überschreitung symbolisiert, die über den Binarismus des Geschlechts hinausgehen muss, und in der sie sich dafür einsetzt, dass hiermit durchaus die Perspektive eines wirkungsvollen Widerstandes eröff net wird. Das Kastrationsszenario, demzufolge die Kastrationsdrohung beim Jungen erst durch den Anblick eines weiblichen Genitales zur Wirkung kommt (vgl. Freud 1972 [1924]: 247) bzw. dadurch, dass der Junge und das Mädchen entdecken, dass die Mutter den Phallus nicht »hat«, bilden den Ausgangspunkt von Butlers Argumentation, dass Lacans Trennung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären den Status des »Gesetzes« in der Psychoanalyse manifestiert, indem es den imaginären Widerstand auf der Ebene der geschlechtlichen Identifizierungen für gescheitert erklärt. Wie Irigaray argumentiert Butler, dass in diesem Szenario die weibliche Kastration die Kastrationsdrohung symbolisiert:

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»So zu werden wie sie, sie zu werden«, schreibt sie, »das ist die Kastrationsangst und folglich die Angst, ebenso dem Penisneid zu verfallen.« (Butler 1995: 141) Da die Kastrationsdrohung ihre Wirksamkeit aus der Figur der weiblichen Kastration bezieht, die die Möglichkeit des Verlustes repräsentiert, schlössen der Penisneid und die Kastrationsangst einander nicht aus, sondern vielmehr bildete der Penisneid die eigentliche Voraussetzung der Kastrationsangst. Wenn also die Kastrationsdrohung eine Annahme der männlichen Position im Symbolischen erzwingt und wenn der Erfolg der Kastrationsdrohung von der Möglichkeit der Abwesenheit des Phallus abhängt, so Butlers Gedankengang, gründet die Identifi kation mit dem Phallus offensichtlich auf einer grundlegenden Unsicherheit: Wenn der Verlust immer möglich ist, ja sogar möglich sein muss, kann der Phallus von Niemanden jemals besessen werden. Mit anderen Worten: Wenn die Möglichkeit des Verlustes die Struktur der männlichen Identifikation konstituiert, also eine notwendige Möglichkeit ist, so bleibt der Besitz des Phallus immer eine phantasmatische Vorstellung, in der gerade diese Möglichkeit unterdrückt werden muss. Deshalb hebt Butler hervor, dass die Kastrationsangst mehr ist als die Furcht davor, dass der Phallus zukünftig verloren gehen könnte, die Möglichkeit, dass der Phallus ablösbar ist, erschüttere vielmehr den Glauben daran, dass der Phallus jemals besessen wurde. »Die Kastration könnte nicht gefürchtet werden, wenn der Phallus nicht schon ablösbar wäre, schon anderswo, bereits enteignet wäre. Es ist nicht einfach das Gespenst, daß er abhanden kommen könnte, das die obsessive Befaßtheit mit der Kastrationsangst ausmacht. Es ist das Gespenst der Erkenntnis, daß er immer schon verloren war, das Hinschwinden der Phantasie, daß er jemals besessen worden wäre – der Verlust eines Referenten der Sehnsucht« (ebd.: 141).

Und da es sich hierbei nicht um eine bewusste Erkenntnis handeln kann, muss die Angst vor der Kastration vielleicht tatsächlich als »eine Angst vor der Erkenntnis, dass es keinen letzten Gehorsam gegenüber jener symbolischen Macht geben kann« (ebd.: 142), verstanden werden. Denn der imaginäre Versuch sich mit der männlichen Position im Symbolischen zu identifizieren setzt in gewisser Hinsicht schon ein Scheitern voraus. Infolgedessen erfüllt die weibliche Position eine ambivalente Funktion: Einerseits symbolisiert sie die Drohung gegenüber der männlichen Position, zugleich ermöglicht die Annahme der weiblichen Kastration jedoch auch das Phantasma, dass das Männliche den Phallus »hat«. Denn es ist der Mangel, durch den die weibliche Position markiert ist, der die männliche Position bestätigt. In diesem Sinn ist Butlers Interpretation von Lacan zu verstehen, dass die weibliche Position des Phallus »sein« garantiert, dass »das Männliche den Phallus ›hat‹« (ebd.: 142)7. Sofern der Phallus »sein« damit sowohl als 7 | Butler bezeichnet die männliche und die weibliche Position im Symbolischen nicht wie üblich mit »den Phallus haben« oder »nicht haben«, sondern nennt

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Drohung als auch als Garantie fungiert und die Drohung gerade dadurch erzeugt wird, dass die Garantie aufgegeben werden kann, stellt die weibliche Identifizierung nur eine äußerst zerbrechliche Gewähr für das Männliche dar: »Genau deswegen, weil die Garantie zugunsten der Kastrationsdrohung aufgegeben werden kann, muß die weibliche Position in ihrem nochmals bestätigenden Modus eingenommen werden. Diese ›Identifizierung‹ wird somit wiederholt hergestellt, und in der Forderung, die Identifizierung sei andauernd zu wiederholen, steckt die Möglichkeit, die Drohung, ihre Wiederholung werde unterbleiben.« (Ebd.: 142)

Infolgedessen bleibt jedoch der weibliche Versuch sich mit dem Symbolischen zu identifizieren ebenso zum Scheitern verurteilt wie die männliche Identifi kation und kann nur als ein Phantasma Bestand haben. Denn auch wenn es die Figur der Frau ist, die die Kastration symbolisiert, so muss diese Position, so Butler, dennoch von der Frau angenommen werden8, wobei die Struktur der »Annahme« bereits die Möglichkeit der Verweigerung oder des Scheiterns voraussetzt und die Disjunktion der Position des Phallus »haben« oder nicht »haben« erschüttert:

sie den Phallus »haben« oder »sein«. Wie oben dargelegt scheint Butler den Ausdruck »sein« darauf zu beziehen, dass die Figur der Frau bei Lacan gerade, weil sie den Phallus nicht hat, den Schein produziert, dass der Mann den Phallus habe. Damit ist die weibliche Position aber maßgeblich durch das Nicht-Haben charakterisiert, so dass Butlers Umbenennung nicht unbedingt hilfreich ist. Zumal sich der Ausdruck »haben« in »Die Bedeutung des Phallus« auf das Begehren bezieht, während der Ausdruck »sein« die Ebene des Liebesanspruchs kennzeichnet: Er will der Phallus für sie sein und sie will der Phallus für ihn sein (was ihr qua Defi nition nicht gelingen kann, weswegen sie der unendliche Quell des männlichen Begehrens ist und sein »Haben« über den Weg der Drohung garantiert). 8 | Dies wirft die Frage auf, mit welcher Drohung die Annahme der weiblichen Kastration erzwungen wird. Butlers Ansicht nach ist es die Angst vor dem »monströse[n] Aufstieg zum Phallizismus« (Butler 1995: 143), also die Figur der phallizisierten Weiblichkeit, die ein Eingehen auf die symbolische Position des Weiblichen erwirkt, wobei dieser Drohung ebenso wie die der »Unerträglichkeit der entmannten Männlichkeit« das »Gespenst homosexueller Verworfenheit« (ebd.: 344 (Anm.101)) innewohne. Der »verweiblichte Schwule« und die »phallizisierte Lesbe« seien innerhalb des Lacan’schen Schemas zwei unartikulierte und doch organisierende Figuren des kulturell Verworfenen, die die symbolische Forderung männliche und weibliche Attribute anzunehmen strukturierten. Diese binäre Beziehung wird jedoch selbst durch die Verleugnung der der Identifizierung vorausgehenden Alterität erzeugt, so dass die Möglichkeiten die Norm der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität zu überschreiten weit über diese beiden Figuren hinausgeht und sich innerhalb des binären Rahmens nicht vollständig und abschließend systematisieren lassen.

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»Wenn sie als kastriert markiert ist, muß sie diese Markierung nichts desto weniger annehmen, wobei ›Annahme‹ sowohl den Wunsch nach einer Identifizierung als auch deren Unmöglichkeit umfaßt. Denn wenn sie ihre Kastration annehmen, erfüllen muß, auf sie eingehen muß, dann hat hier von Anfang an irgendein Scheitern der Sozialisation stattgefunden, irgendein überschüssiges Auftreten des Körpers außerhalb und jenseits seiner Markierung in bezug auf diese Markierung. Da ist irgendein Körper, auf den/an die die Drohung oder Strafe, die von der Markierung codiert und inszeniert wird, gerichtet ist, in der irgendeine Furcht vor Bestrafung nachdrücklich erzwungen wird und die noch nicht oder jemals eine Figur völligen Einverständnisses ist. Tatsächlich geht es um einen Körper, dem es nicht gelungen ist, seine Kastration in Übereinstimmung mit dem symbolischen Gesetz zu erfüllen, irgendein Locus des Widerstands, irgendeine Form, in der das Begehren den Phallus zu haben, nicht aufgegeben wurde und nach wie vor besteht.« (Ebd.: 144f.)9

Diese Distanz zwischen der symbolischen Forderung den »Idealtypus« des Geschlechts anzunehmen und der strukturellen Unmöglichkeit dieser Forderung vollkommen zu entsprechen, die Lacan ja durchaus eingesteht, bewirkt eine Unabgeschlossenheit der Identifizierung, die nach Butler das Symbolische in eine permanente Krise versetzt. Für Butler zeichnet sich hier ein Widerstandspotenzial ab, das nicht nur den engen binären Rahmen der Terminologie der Heterosexualität und der Homosexualität sowie der Zweigeschlechtlichkeit übersteigt, innerhalb dessen Freud und Lacan die Verfehlung einer eindeutigen Geschlechtsidentität konzipieren. Darüber hinaus lassen sich ihrer Ansicht nach die subversiven Möglichkeiten, die hieraus erwachsen, nicht auf die Ebene der Identifikation, also das Lacansche Register des Imaginären, beschränken, sondern können als eine widerständige Kraft betrachtet werden, die potenziell die juridischen Regulierungsmechanismen des Geschlechts schwächt, wobei es wichtig ist zu verstehen, dass diese Quelle der Destabilisierung ein ungewolltes, aber unvermeidliches Produkt der generativen Wirkungen der Gesetze ist. Derweil Lacans Überlegungen zum Auftreten des Symbolischen nahe legen, dass die phantasmatische Struktur der Geschlechtsidentität, und das 9 | Aus ›lacanianischer Sichtweise‹ mag diese Auslegung des Kastrationskomplexes möglicherweise verfehlt erscheinen. Denn für Lacan liegt das entscheidende Moment dieses Komplexes nicht darin, dass das Subjekt »erfährt, ob es selbst einen realen Phallus hat oder nicht, sondern weil es erfährt, daß die Mutter ihn nicht hat« (Lacan 1991 [1958]: 130) entsteht nach Lacan für beide Geschlechter überhaupt erst die Möglichkeit der Entbindung des Begehrens von dem Anspruch. Insofern Lacans Interpretation von Freud jedoch darin mündet, dass der Vater als Vertreter des Gesetzes die Annahme eines Verhältnisses zum Phallus erzwingt, die im Fall des Mädchens in dem Verzicht auf das Begehren den Phallus zu »haben« besteht, erscheint meiner Ansicht nach Butlers Darstellung durchaus schlüssig, der zufolge hier ein bereits als weiblich markierter Körper daran scheitert seiner Markierung als kastriert vollkommen gerecht zu werden.

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heißt das identifi katorische Scheitern der symbolischen Norm der Zweigeschlechtlichkeit gerecht zu werden, die gesetzgebende Instanz selbst unberührt lässt und der hieraus resultierende Widerstand an das Imaginäre gebunden bleibt (vgl. Butler 1995: 146), kritisiert Butler die radikale Trennung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären in der Theorie Lacans als einen Schnitt, der dem Symbolischen illegitimerweise den Anschein von Unveränderlichkeit verleiht. Während für Butler das Symbolische als eine performative Kraft verstanden werden muss, die untrennbar mit der »brisanten Logik der Wiederholbarkeit« (ebd.: 146), der die Identifizierungen unterliegen, verknüpft ist, präsentiert Lacan das Symbolische als eine autonome Ordnung, die nach den Gesetzen einer geschlossenen Ordnung gebildet wird. Zwar stellt die Bewegung der Wiederholung das zentrale Charakteristikum der Lacanschen Signifi kantenkette dar (Lacan spricht in diesem Zusammenhang auch von der Insistenz des Signifi kanten), gemeint ist hiermit jedoch die beharrliche Wiederkehr und Manifestation des unbewussten Symbolischen in jedem Subjekt (vgl. Evans 1996: 164). Dass aber, wie Butler annimmt, die Begründung und der Erhalt des Symbolischen von diesem Insistieren im so genannten Imaginären abhängen könnte und das zwangsläufige Scheitern auf der Ebene der Identifizierungen auch als eine widerständige Kraft betrachtet werden muss, die – zumindest potenziell – die »idealtypischen« Positionen des Phallus »haben« oder »nicht haben« wirkungsvoll unterminieren können, scheint für Lacan nicht in Betracht zu kommen. Vielmehr legt seine Konzeption des Symbolischen als einer autonomen und geschlossenen Ordnung nahe, dass Žižeks Behauptung richtig ist, dass für Lacan eine Veränderung des Symbolischen nur als ein radikaler Umsturz denkbar ist, der sich nicht auf eine Reformulierung der geltenden symbolischen Ordnung beschränkt (Žižek 1999: 32f.). In ihren älteren Arbeiten, insbesondere in »Körper von Gewicht«, orientiert Butler sich in ihrer Kritik an Lacan an einer dekonstruktiven Auslegung der Autorität juridischer Systeme, die eng mit dem Konzept des Performativen verbunden ist und darauf insistiert, dass die Begründung und Erhaltung eines juridischen Imperativs nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Aus dieser Sicht ist die Begründung des Rechts als eine grundlose Setzung zu betrachten: Im Augenblick seiner Gründung kann das Recht sich nicht auf eine es vorhergehende legitimierende Instanz berufen. Zwar geht die Konstituierung eines Rechts auf eine Reihe ihm vorhergehender Konventionen zurück, aber letztendlich schiebt auch dies den Moment seiner Begründung lediglich auf. Denn der Ursprung dieser Konventionen kann ebenfalls nur auf eine Kette ihnen vorhergehender Konventionen zurückgeführt werden, wobei – suchte man nach einem Anfang der Kette – diese außerhalb der Sphäre des Rechts zu suchen wäre. Grundlosigkeit meint jedoch nicht einfach, dass der Ursprung des Gesetzes in einer grundlosen Setzung besteht, sondern vielmehr, dass es keinen einfachen Anfang bzw. Ursprung des Gesetzes gibt. Denn als ein zukünftiges Recht enthält der Augenblick der Gründung des Rechts das Versprechen seiner Anwendung. Woher sonst sollte die Setzung des Rechts ihre Autorität gewinnen? Derrida schreibt hierzu:

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»Es gehört zur Struktur der (be-)gründenden Gewalt, daß sie eine Wiederholung ihrer selbst erfordert, daß sie jenes begründet, was erhalten werden und erhaltbar sein muß: dem Erbe und der Überlieferung versprochen, dem Teilen.« (Derrida 1991: 83)

Wenn das Recht jedoch schon im Augenblick seiner Setzung auf seine selbsterhaltende Wiederholung angewiesen ist bildet die Erhaltung eine wesentliche Struktur der (Be)gründung (vgl. ebd.: 92). Damit verhindert die Iterabilität jedoch auch, dass es einen reinen Moment der Gründung geben kann: »Diese (die Paradoxie der Iterabilität S.M.) bewirkt, daß der Ursprung sich ursprünglich wiederholen und entstellen muß, um seinen Geltungsanspruch erheben und sich erhalten zu können.« (ed.: 92)

In diesem Fall muss das Prinzip der Iterabilität der Unterscheidung zwischen der Konvention und dem Naturgesetz vorausgehen und die symbolische Ordnung, die nach Lacan die Verwandtschaftsbeziehungen schaff t und das Feld des Begehrens strukturiert, erscheint von Anfang an unumgänglich in ihre zukünftige Wiederholung verwickelt und damit zumindest prinzipiell der Möglichkeit ihrer kulturellen Reformulierung gegenüber offen. Aus dieser theoretischen Perspektive scheint Butlers Behauptung überzeugend, dass es keinen zwingenden Grund gibt, die Strukturen, die das Begehren in einem bestimmten kulturellen Zusammenhang bedingen und ermöglichen, als welche zu betrachten, die sich jeglicher Transformation verschließen. Ohne die Zwänge abzustreiten, denen die Konstitution des Begehrens unterliegt, hinterfragt Butler die Legitimität der Unterscheidung zwischen einer symbolischen Position und einer sozialen Norm10. Dies führt zu der Frage zurück, ob die in der Erzählung des Ödipuskomplexes zu beobachtende Unabgeschlossenheit und innere Heterogenität der geschlechtlichen und sexuellen Identifizierungen einen wirksamen Widerstand gegenüber dem Symbolischen bilden können. Insofern die Anwendung eines Rechts immer auch eine Interpretation erfordert, also paradoxerweise ein Moment der Loslösung von dem Gesetz im Augenblick seiner Anwendung – ein Moment, das dadurch charakterisiert ist, dass es sich auf keine legitimierende Grundlage stützen kann –, ist die Instanz der Gründung notwendigerweise in derjenigen Gewalt enthalten, die das Recht anwendet, erhält und repräsentiert. In diesem Sinn kann man sagen, dass die Anwendung eines Rechtes bzw. Gesetzes immer auch eine Gründung bzw. Rekonstitution ist. Wenn es zutriff t, dass die Anwendung eines Gesetzes dieses zugleich anruft und auch (wieder)einsetzt, sich die angerufene (und scheinbar vorhergehende) Autorität des Gesetzes also paradoxerweise als abgeleitet von ihrer zeitgleichen Vollstreckung erweist, 10 | Zu einer weniger stark schematisierenden Diskussion dieser Position Butlers vgl. Butler 2001a.

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so Butler, kann das Symbolische das Imaginäre nicht einseitig determinieren: »Die maßlose Macht des Symbolischen wird selbst durch den zitatförmigen Einzelfall erzeugt, von dem das Gesetz verkörpert wird. Das symbolische Gesetz, die Normen, die die sexuierten Positionen beherrschen (durch Strafandrohungen), sind für sich genommen nicht umfassender und mächtiger als irgendeiner der imaginären Versuche, sich mit ihnen zu identifizieren. Denn wie sonst sollten wir erklären, daß das Symbolische mit Macht ausgestattet wird? Die imaginäre Praxis der Identifizierung muß als eine doppelte Bewegung verstanden werden: im Zitieren des Symbolischen führt eine Identifizierung das symbolische Gesetz (wieder) an und investiert es (wieder), sie greift auf das symbolische Gesetz als eine konstituierende Autorität zurück, die ihrer imaginären Einzelfallbildung vorhergeht.« (Butler 1995: 150)

Wenn man aber streng genommen von den Regelungen des Gesetzes nicht sagen kann, dass sie den Identifizierungen und Verkörperungen, die sie hervorbringen und erzwingen, als eine voll gegenwärtige Struktur vorhergehen, stellt das Gesetz nicht eine »sexuierte Position« bereit, die als ein reines Ideal und eine feststehende Größe einem der Versuche, sie zu erfüllen, vorausginge. Deshalb stellt für Butler die Priorität, die bei Lacan der sexuierten Position vor dem Versuch sie zu verkörpern eingeräumt wird, eine Fiktion dar, die die Anfälligkeit der Normen der Zweigeschlechtlichkeit verschleiert. Sexuelle Identifizierungen, dies hat Butlers Interpretation des Kastrationskomplexes gezeigt, können nicht als einmalige Ereignisse begriffen werden, sondern müssen wiederholt hergestellt werden. Aus dieser Sicht muss das Symbolische als eine Macht betrachtet werden, deren Autorität von der »zitatförmige[n] Praxis des Geschlechts (ebd.: 150) abhängt und deshalb gegenüber Reformulierungen in der Wiederholung offen sein muss. Hierbei gesteht Butler durchaus zu, dass »bestimmte Verleugnungen grundlegend befähigend sind und kein Subjekt tätig werden oder agieren kann, ohne bestimmte Möglichkeiten von sich zu weisen« (ebd.: 159). Weder sei es möglich noch wünschenswert, dass alle »Identifizierungen eingestanden werden, die herkömmlicherweise geleugnet worden sind« (ebd.: 158), genau genommen sei es auch nicht so, dass »ein Subjekt seine Identifizierungen leugnet, sondern vielmehr so, daß bestimmte Ausschlüsse und Verwerfungen das Subjekt instituieren und als dauernde oder konstitutive Gespenster seiner Destabilisierung weiter bestehen.« (ebd.: 159). Deshalb steht hinter Butlers Diskussion um ein mögliches kritisches Potenzial der Travestie (Butler 1991) nicht – wie häufig unterstellt – die Idee, mögliche Ausformulierungen der Geschlechtsidentität im Symbolischen zahlenmäßig zu vervielfältigen, sondern mit dem Hinweis auf die Travestie will Butler darauf aufmerksam machen, dass der imitierende Charakter, der den Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit teilweise anhaftet, nicht auf ein vorhergehendes Original verweist und, dass die Travestie das Potenzial besitzt, den »Mythos der Ursprünglichkeit« (Butler 1991: 203), der der Zweigeschlechtlichkeit anhaftet,

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zu parodieren, indem sie die phantasmatische Vorstellung der Kohärenz von sex und gender entblößt und damit vielleicht entnaturalisiert.

1.3 Das Symbolische und das Soziale im Kontex t erziehungswissenschaf tlicher Geschlechter forschung Ein bekannter und bereits erwähnter Vorwurf gegenüber dieser Reformulierung der symbolischen Position als einer sozialen Norm und damit der Behauptung, dass das Lacansche Register des Symbolischen nicht legitimerweise von dem Sozialen zu unterscheiden sei, lautet, dass Butler mit dieser Auslegung des Symbolischen die Geschlechterordnung »irrealisiere« und die »Tatsache des Geschlechts« leugne. In der geschlechtsbezogenen Erziehungswissenschaft wird dieser Vorwurf von Barbara Rendtorff vertreten, die auf der Grundlage einer Rezeption von Lacan argumentiert, dass die »Notwendigkeit der Anerkennung der Gespaltenheit des Subjekts« – die »Anerkennung der symbolischen Kastration« – ein Gesetz darstelle, das »nicht verfügbar« sei und gegen das ein Aufstand nur auf der Basis »von Phantasma oder Verdrängung, von Vollständigkeits- oder Auflösungswunsch« möglich sei (Rendtorff 1996: 109f.). Das Gesetz, so schreibt Rendtorff, »wird im Moment des Eintretens in die Sprache errichtet als vorgängig, als eines, das schon da war und durch die Sprache Gültigkeit erlangt.« (Ebd.: 110) Barbara Rendtorffs bildungstheoretische Beiträge kreisen in erster Linie um zwei Aspekte: Zum einen insistiert sie unter Bezug auf Lacans Konzeption des gespaltenen Subjekts darauf, dass das zentrale Moment der Subjektwerdung darin bestehe, den eigenen »Mangel an Sein«, der über das grundlegende »Fehlen des Objekts« erfahren werden soll, anzuerkennen. Die Anerkennung dieses Mangels rückt sie in das Zentrum ihrer bildungstheoretischen Überlegungen. Bildungsprozesse müssen aus ihrer Sicht als die subjektive Verarbeitung dieser unumgänglichen Erfahrung betrachtet werden. Wie bei Lacan bildet auch bei Rendtorff die Annahme des Geschlechts, d.h. die Akzeptanz der Kastration und damit die Aufnahme eines Verhältnisses zum symbolischen Phallus, den unvermeidlichen Komplex, durch den hindurch das Subjekt von einem imaginären zu einem symbolischen Verhältnis zu seinen libidinösen Objekten gelangt. Aus dieser Sicht besteht der entscheidende Schnitt, der mit der Anerkennung der Kastration vollzogen wird, darin, über das Anerkennen der Unvollständigkeit des Anderen die eigene Unvollständigkeit zu erfahren. »Geschlechtlichsein«, so Rendtorff, müsse als eine notwendige »Kränkung« in der »Subjektwerdung« betrachtet werden. Unter »Kränkung« versteht sie die »in den geschlechtlichen Körper eingeschrieben[e]« »Tatsache, daß wir nur je ein Geschlecht haben/ sein können«, wobei »der geschlechtliche Körper« »immer auf den Anderen verweist als auf das, was wir nicht sind/haben« (Rendtorff 2000: 58). Dementsprechend sei die Anerkennung des eigenen Geschlechts ein wesentlicher Aspekt der Subjektwerdung, den es pädagogisch zu unterstützen

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gelte. Damit schlägt sie einen bildungstheoretischen Ansatz vor, in dem die Entwicklung der Geschlechtsidentität nicht nur als eine zentrale Dimension von Bildungsprozessen begriffen wird, deren Gewicht auf kontingente gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen ist. Vielmehr scheint die Entwicklung einer männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität bei Rendtorff sogar zu einer notwendigen Bedingung von Bildung zu avancieren. Der zweite Aspekt, der bei Rendtorff eine zentrale Rolle spielt und der sich aus der oben angesprochenen Verwicklung mit dem Anderen ergibt, in der das Lacansche Subjekt als ein gespaltenes unumgänglich eingebunden ist, besteht darin, dass sie die prinzipielle Unabgeschlossenheit des symbolischen Geschlechterdiskurses hervorhebt und damit die Unmöglichkeit, dass ein Subjekt die Position des Geschlechts im Symbolischen jemals vollkommen einnehmen kann11. Hiermit zeichnen sich Rendtorffs Texte durch das Bemühen aus, die Zweigeschlechtlichkeit zu thematisieren, ohne erneut vereinheitlichende oder kollektivierende Vorstellungen über die Geschlechterdifferenz hervorzubringen, und so dem prinzipiell heterogenen Charakter des Geschlechts gerecht zu werden: »Es läßt sich von hier aus also bereits erkennen, daß der Terminus ›Geschlechterdifferenz‹ im Grundsatz etwas anderes anspricht und in den Blick nimmt als etwa: den Unterschied zwischen Frauen und Männern, männlich und weiblich. Geschlechterdifferenz bezeichnet (in dieser ersten Annäherung) eher die Notwendigkeit und den (möglicherweise je unterschiedlichen) Modus, wie die Geschlechter die Tatsache der Gespaltenheit des Subjekts und die Verstrickung im Getrenntsein je unterschiedlich verarbeiten, ausdrücken und zu bewältigen suchen.« (Rendtorff 1998: 81)

Diesen beiden Aspekten, nämlich der unauflösbaren Verknüpfung von Geschlecht und Subjektwerdung und der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Geschlechterdiskurses, entsprechend formuliert Rendtorff geschlechtsbezogene Erziehung als einen Prozess, in dem es immer um eine doppelte Bewegung gehen müsse (vgl. hierzu auch Rendtorff 1997: 13f.):

11 | In diesem Zusammenhang versucht Rendtorff Lacans Konzept des gespaltenen Subjekts mit Derridas Neologismus der différance in Einklang zu bringen, worauf ich hier aber nicht näher eingehen kann (vgl. Rendtorff 1998). Obwohl die Unabgeschlossenheit des symbolischen Geschlechterdiskurses und das notwendige Scheitern des Subjekts, diese Position vollkommen einzunehmen, durchaus einen grundlegenden Zug der Lacan’schen Subjektkonzeption darstellt, ist Rendtorffs Vorgehen, Derridas Verständnis der différance und Lacans Konzeption des Geschlechts einfach aneinander zu ketten, fragwürdig. Denn während Lacan auf der Geschlossenheit der symbolischen Ordnung besteht und dem Phallus eine privilegierte Stellung in diesem System zuspricht, insistiert Derrida auf der prinzipiellen Offenheit des Prinzips der Struktur und verweist auf die Kontextualität, in der auch der Phallus als Signifi kant immer eingebunden ist.

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»Pädagogische Maßnahmen, die dies berücksichtigen [die notwendige Kränkung des Geschlechtlichwerdens und die prinzipielle Unabgeschlossenheit dieses Prozesses S.M.], werden also zwar auch versuchen, die geschlechtstypisierenden Zuschreibungen zu verflüssigen, aber sie werden dies die Mädchen als Mädchen und die Jungen als Jungen tun lassen wollen, sie darin bestärken und stützen, daß sie Junge oder Mädchen sind – und dabei zugrunde legen, daß die Kränkung des Geschlechtlichseins, der Verzicht auf die (phantasmatische) Möglichkeit des anderen Geschlechts notwendig ist, weil das Aufsichnehmen, die Annahme der Kastration die Bedingung ist für die Sexuierung, die Lust und das Genießen, letztlich für die Freiheit des Subjekts.« (Rendtorff 2000: 57)

Diese doppelte Zielvorgabe ist aus meiner Sicht zweifach problematisch. Erstens, weil sie die Frage aufwirft, was es inhaltlich eigentlich bedeuten soll Mädchen und Jungen, darin zu »bestärken und [zu] stützen, daß sie Junge oder Mädchen sind«, und ob nicht jeder Versuch einer solchen Ausformulierung zwangsläufig dem normativen System der Zweigeschlechtlichkeit unkritisch verhaftet bleibt. Zweitens, weil Barbara Rendtorff in diesem Zusammenhang versucht die Zweigeschlechtlichkeit als ein notwendiges und unveränderliches Strukturprinzip jeder Gesellschaft zu begründen und sich hierbei auf die Rolle des Gesetzes in Lacans Konzeption des Subjekts beruft. Obwohl Rendtorffs Rezeption von Lacan meiner Ansicht nach teilweise prekär ist, spiegelt sich in dem Status, den Rendtdorff dem Gesetz zuweist, eine grundlegende Problematik der Lacanianischen Theorie wider: Wie ist Lacans Behauptung der Geschlossenheit der symbolischen Ordnung damit zu vereinbaren, dass er von einer radikalen Differenzialität der Signifi kantenketten ausgeht? Und welche Folgen zieht das Konzept der Geschlossenheit für den Status der Zweigeschlechtlichkeit nach sich? Ich werde im Folgenden diskutieren, inwiefern Rendtorffs Verteidigung des Status des Gesetzes als eines, das nicht zur Disposition steht, zu einer erneuten Naturalisierung des geschlechtlichen Körpers und der Zweigeschlechtlichkeit führt, die unter dem Deckmantel des Lacanschen Registers des Realen die altbekannte Unterscheidung zwischen sex und gender wieder einführt. Denn obwohl zur Zeit noch nicht abzusehen ist, welchen Einfluß Rendtdorffs bildungstheoretischen Überlegungen in der schulischen Geschlechlechterforschung ausüben werden, kreuzt sich schon jetzt ihr Beharren darauf, dass eine geschlechtsbezogene Pädagogik Mädchen und Jungen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität nicht nur (zwangsläufig) unterstützen, sondern sogar »bestärken« müsse, mit dem dort immer wiederkehrenden Plädoyer, eine geschlechtsbezogene Pädagogik dürfe nicht zur »Gleichmacherei« führen und müsse ein »positives Verständnis von männlicher und weiblicher Identität« ermöglichen (Bildungskommission NRW 1995: 131). Hierbei wird in der Regel zwar der Entwurf festumrissener Leitbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit abgelehnt, die Entwicklung eines männlichen und weiblichen Selbstverständnisses wird aber meist so präsentiert, als handele es sich um ein Entwicklungsprinzip, das in seiner Ausgestaltung kulturell bedingt sei, nicht aber in seiner Struktur als sol-

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cher. Nun erzwingt das moderne System der Zweigeschlechtlichkeit ohne Zweifel mehr oder weniger erfolgreich – das hängt davon ab, wie stark die phantasmatische Dimension dieses Unternehmens geleugnet wird – ein geschlechtsbezogenes Selbstverständnis, dem sich kein Individuum vollkommen entziehen kann. Denn selbst der Bereich queerer Existenzweisen gehört in einer gewissen Weise immer noch der Kultur der Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit an, auch wenn er diese überschreitet und nicht vollkommen durch sie determiniert ist. Der Aufruf, Mädchen und Jungen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität zu »bestärken« und zu »stützen« spielt aber meist nicht auf diesen normativen Zwang an. Vielmehr wird das Strukturprinzip der Zweigeschlechtlichkeit hier als unumgänglich begriffen und auf der Ebene des Diskurses über die Geschlechtsidentität erfolgt erneut ein Rückgriff auf die »Tatsache« des zweigeschlechtlichen Körpers, von dem nicht selten zuvor beteuert wurde, man müsse ihn als eine soziale Konstruktion begreifen. Diese argumentative Struktur findet man auch in Rendtdorffs Konzeption des Zusammenhangs von Geschlechtlichkeit, Subjektivität und Bildung: Rendtorffs Darstellung des Zusammenhangs zwischen dem Gesetz und dem Geschlecht schwankt zwischen zwei Versionen. Zum einen sieht es so aus, als fungiere die Zweigeschlechtlichkeit bei Rendtorff als eine Repräsentation der ihr vorhergehenden Problematik der Gespaltenheit des Subjekts. In »Geschlecht und différance« schreibt sie hierzu: »Insofern ist es die Geschlechtlichkeit des Menschen, die Tatsache des Geschlechts, die die Gespaltenheit des Subjekts unübersehbar ausdrückt, nicht zuletzt, indem sie in den Körper den Verlust einer Möglichkeit einträgt, die es nie gegeben hat. Ob Frau oder Mann – das verlorene andere erzeugt erst die spezifische Kontur des ›eigenen‹ Geschlechts […]«. (Rendtorff 1998: 108f.)

Dieser Darstellung zufolge muss die Geschlechtlichkeit des Menschen als eine »Tatsache« verstanden werden, die der Gespaltenheit des Subjekts »Ausdruck« verleiht, wobei der geschlechtliche Körper den Verlust des Phantasmas der Vollständigkeit symbolisieren soll. Hierbei scheint sowohl dieses Phantasma als auch sein Verlust der Markierung des Körpers als eines geschlechtlichen vorauszugehen. Wenn jedoch der Körper nicht schon immer geschlechtlich markiert ist und seine Markierung erst empfängt durch die »Gespaltenheit des Subjekts«, stellt sich nicht nur die Frage, was den vordem ungeschlechtlichen (?) Körper dazu prädestiniert den Verlust des dem Geschlecht vorhergehenden Phantasmas der Vollständigkeit zu signifi zieren, sondern auch, warum diese Symbolisierung – im Gegensatz zu der Offenheit aller anderen Signifi kantenketten – nicht zur Disposition steht. Betrachtet man die Gründe, die den Körper zum bevorzugten Repräsentanten der Gespaltenheit des Subjekts machen sollen, so verliert der geschlechtlich markierte Körper mehr und mehr seine vorgeblich lediglich repräsentative Funktion und verfestigt sich interessanterweise zum Grund der Problematik

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der Vollständigkeit und des Verlustes. Und dies ist die andere Version des Zusammenhangs des Geschlechts und des Gesetzes bei Rendtorff. »Geburtigkeit« und »Sterblichkeit« werden bei ihr zu dem zentralen Argument, das beweisen soll, dass sich die »Kränkung der Unvollständigkeit« notwendigerweise in einem geschlechtlichen Körper verdichtet: »Das Geborensein des Menschen, seine lebendige Existenz, verweist je schon darauf, daß da zwei beteiligt waren – in welcher konkreten Weise auch immer das geschehen sein mag, ist völlig unerheblich. Die Tatsache des Geborenseins, die Geburtigkeit selbst ist es, die uns daran erinnert, daß es eine Mutter und einen Vater gegeben hat. Und diese Geburtigkeit verweist zugleich auch immer auf die Sterblichkeit des Menschen, auf den Tod. Denn was einen Anfang hat, hat auch ein Ende – das Gegenteil des Todes ist nicht das Leben, sondern die Unsterblichkeit. Das ist es, was die Menschen von Göttern unterscheidet: daß es einen Tod geben wird. Geschlechtlichkeit weist also selbst direkt auf Sterblichkeit und Endlichkeit hin. Insofern sind Sexualität, Endlichkeit und (Zwei-) geschlechtlichkeit nicht voneinander zu trennen (was im Übrigen nichts mit den jeweiligen Sexualpraktiken zu tun hat). Sie sind am eigenen Körper und in der symbolischen Ordnung immer miteinander verknüpft.« (Rendtorff 2000b: 51f.) (Vgl. hierzu auch Rendtorff 1998: 107)

Die »Verknüpfung von Sexualität und Sterblichkeit« (ebd.), die Rendtorff hier vornimmt, kann man einerseits als eine Erklärung für die vorgebliche spezifische Eignung des Körpers die »Gespaltenheit des Subjekts« zu repräsentieren verstehen. Andererseits versetzt diese Erklärung aber gleichzeitig den geschlechtlichen Körper in eine andere als eine rein symbolisierende Position. In dieser Version fängt das Geschlecht an mit dem Gesetz zu verschmelzen und man kann nicht erkennen, ob das Geschlecht im Namen des Gesetzes den Verlust des Phantasmas der Vollständigkeit erzwingt oder ob die »Tatsache des Geschlechts« ein Gesetz erfordert, das den Verlust des Phantasmas der Vollständigkeit sichert: »In der Geschlechtlichkeit des Menschen ist die Zeit aufgehoben – aufgehoben in einem doppelten Sinne: auf bewahrt und entgrenzt, weil darin die Vergangenheit mit der Zukunft, das Leben mit dem Tod sich verbinden. Und dieser Hinweis des Lebens auf den Tod, sowohl real als auch symbolisch verstanden, gibt der Tatsache des Geschlechts eine ungeheure Brisanz. So steht auf einer systematischen Ebene ›Geschlecht‹ für den Einschnitt, den der Abschied von Vollständigkeitsdenken und Machbarkeitswahn erzeugt – bzw. noch anders: Geschlecht erzwingt diesen Einschnitt, erzwingt diesen Abschied [Hervorh. i. Orig. S.M.], indem es unablässig auf die unauflösliche Verbindung von Leben und Tod hinweist […]. Auch in seinem konkreten Auftreten als Genitale ist Geschlecht als Hinweis zu lesen darauf, daß es keine Eins gibt, noch nicht einmal eine Zwei, sondern daß jedes Individuum (als ›eines‹) schon die Zweiheit ›öffnet‹. Es öffnet sie nach mehreren Seiten: zum möglicherweise gezeugten oder geborenen eigenen Kind, zum Anderen des anderen Geschlechts, sofern er/sie das reprä-

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sentiert, was ich nicht bin oder habe, und zu den beiden, die seine Existenz begründet haben. Denn schließlich ist jeder Mensch in seiner Endlichkeit Ergebnis eines sexuellen Aktes, der an seinem Anfang stand.« (Rendtorff 1998: 108)

Mit diesem argumentativen Schritt, in dem Rendtorff vorgibt den Anfang des Menschen erzählen zu können als »Ergebnis eines sexuellen Aktes«, von dem feststeht, dass die an ihm Beteiligten unterschiedlichen Geschlechtern angehören, eröff net sie denjenigen Metadiskurs, von dem es bei Lacan heißt, das dieser von niemandem legitimerweise geführt werden kann. Es ist genau derjenige Diskurs, der dem Subjekt mit dem Eintritt in die symbolische Struktur der Sprache für immer verschlossen bleiben soll und dessen Schließung die Anerkennung der Kastration garantieren soll. Rendtorff, die darauf beharrt, dass die VertreterInnen diskurstheoretischer und konstruktivistischer Geschlechtertheorien vergeblich anrennen gegen ein Gesetz, das »nicht verfügbar« sei und »im Moment des Eintretens in die Sprache errichtet [wird] als vorgängig« (Rendtorff 1996: 110), gibt vor, selbst sehr genau zu wissen, was vor der Ordnung des Symbolischen steht und diese inauguriert und strukturiert: »Insofern sind Sexualität, Endlichkeit und (Zwei-)geschlechtlichkeit nicht voneinander zu trennen […]. Sie sind am eigenen Körper und in der symbolischen Ordnung immer miteinander verknüpft.

Das scheint uns auch ein wichtiger Grund dafür zu sein, daß jede Gesellschaft die Sexualität regelt […]. Dieser Gedanke ließe sich auch umkehren mit der Folgerung, daß Geschlechtlichkeit selbst gewissermassen eine Ordnung aufruft [Hervorh. i. Orig. S.M.], daß durch die Verknüpfung von Sexualität und Sterblichkeit der ›Tatsache des Geschlechts‹ eine so immense Spannung innewohnt, daß es für jedes Gemeinwesen notwendig ist, diese in eine Form zu bringen, sie zu regeln und zu ordnen, weil andernfalls die Spannungen das Gemeinwesen zu stark überschwemmen und chaotisieren würden. […]. Wir können also folgern, daß die Geschlechterordnung wesentlich hier ihre Aufgabe und sogar ihre Ursache hat […].« (Rendtorff 2000b: 52f.) Diese Version des Zusammenhangs zwischen dem geschlechtlichen Körper und dem Gesetz, das die »Geschlechtlichkeit« selbst zur Ursache des Gesetzes erhebt, hätte Lacan, soweit ich sehen kann, nicht zugelassen. Wie im vorhergehenden Kapitel zu sehen war, insistiert Lacan darauf, dass sich der Anfang der symbolischen Ordnung aus strukturellen Gründen nicht erzählen lässt und dass sich die symbolische Ordnung weder auf einen biologischen Grund zurückführen lässt noch rein kultureller Art ist, da sie das Kulturelle erst begründet 12. Insofern er jedoch selbst an der strukturalistischen Annahme der Geschlossenheit der symbolischen Ordnung festhält 12 | Zwar betont auch Rendtorff, dass sich der Anfang der symbolischen Ordnung nicht erzählen lässt (Rendtorff 1999: 181), aus meiner Sicht macht die oben

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und diese durch einen privilegierten Signifi kanten, den Phallus, bestimmt sieht, leistet er Rendtorffs Auslegung durchaus Vorschub. Ein grundlegendes Problem von Lacans Theorie des Symbolischen besteht darin, dass sie die Frage aufwirft, welcher Status einer möglichen Begründung der Geschlossenheit dieses Systems zukommen kann, wenn die Artikulation der Begründung notwendigerweise als der Effekt desjenigen Gesetzes betrachtet werden muss, das sie begründen soll. Betrachtet man die von Rendtorff vorgeschlagene Strategie einer doppelten Bewegung in der geschlechtsbezogenen Erziehung genauer, so zeichnet sie sich aus durch folgendes Verhältnis zwischen dem »Geschlechtlichsein« als einem Zwang und dem »Geschlechtlichwerden«, das sich seiner Kontingenz nicht entziehen kann: Wenn das Anerkennen des eigenen »Geschlechtlichseins« für Rendtorff eine »notwendige Kränkung« darstellt, um die unumgängliche »Unvollständigkeit« der eigenen Existenz anzuerkennen, dann scheint innerhalb dieser Logik die Kontingenz des symbolischen Geschlechterdiskurses abgesichert zu werden durch einen »Mangel«, der sich selbst der Kontingenz entzieht 13. Aus dieser Sicht unterliegt die Kontingenz einem Bereich des Zwangs, der selbst nicht zur Disposition steht, aber problematischerweise entweder gar nicht oder nur durch einen kontingenten Diskurs hindurch begründet werden kann. Bei Rendtorff mündet die Struktur dieser Konzeption des Symbolischen als einer geschlossenen Ordnung in der altbekannten Unterscheidung zwischen den kontingenten Auslegungen der Geschlechterordnung und der in die Körper eingeschriebenen Geschlechterdifferenz ›als solcher‹, einer feststehenden ›Tatsache‹, die der Kontingenz vorhergehe: »Wir sind immer nur eine Möglichkeit von zwei notwendig existierenden – insofern haftet der Tatsache des Geschlechts immer etwas Trennendes an: Der Hinweis darauf, daß es etwas gibt, das ich nicht bin und nicht sein werde, ist am Körper selbst befestigt – dies ist im übrigen nach meiner Auffassung der eigentliche Sinn der Bezeichnung ›Geschlechterdifferenz‹. Dies ist natürlich ohne eigene ›Bedeutung‹, d.h. ›bedeutend‹ wird diese Tatsache erst durch die kulturellen und symbolischen Bilder, von denen sie jeweils in einer Kultur bzw. in einem individuellen Leben umgeben wird. Andererseits gibt es diese Tatsache des Geschlechts nur als bedeutende, sie wird nur innerhalb kultureller Bezüge relevant, da der Mensch mit der Geburt in die Sprache in die symbolische Ordnung eintritt. Von hier aus erübrigen sich eigentlich alle Fragestellungen nach ›ursprünglichen‹ Unterschieden von Männern und Frauen: Da es keinen naturhaften Urzustand ›vor‹ der Einflußnahme der Symbolischen Ordnung gibt, ist diese Frage unbeantwortbar.« (Rendtorff 1999: 181)

zitierten Textstelle jedoch deutlich, dass Rendtorff das Geschlecht an diese Stelle setzt. 13 | Zu dieser Argumentation vgl. Butlers Diskussion von Žižeks Konzept des Realen in »Körper von Gewicht« 1995: 247ff.

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Demnach soll sich nur die Geschlechterdifferenz im »eigentliche[n] Sinn« ihrer kontingenten Interpretation entziehen, wobei Rendtdorff den »eigentliche[n] Sinn« der Bezeichnung der Geschlechterdifferenz, den »Hinweis darauf, daß es etwas gibt, das ich nicht bin und nicht sein werde«, in der »Tatsache« der zweigeschlechtlichen Organisation der menschlichen Fortpflanzung begründet sieht: »Und im Geborensein, […] liegt zugleich auch der Hinweis beschlossen, daß da zwei waren, die seinen Anfang gebildet haben, […], und wodurch – ob uns das gefällt oder nicht – die Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit und des unterschiedlichen Beitrags zur Fortpflanzung unhintergehbar an zentraler Stelle angezeigt ist.« (Ebd.: 181)

Ob es Rendtorff gefällt oder nicht, auch dieser vorgeblich »eigentliche Sinn« der Bezeichnung der Geschlechterdifferenz ist aber bereits eingebunden in einer Textur von spezifischen kulturellen Annahmen, die sich keinesfalls einer möglichen Reformulierung endgültig entziehen. Die Bestimmung der Keimzellen als männlich oder weiblich bildet nicht, wie Rendtorff propagiert, eine »Tatsache«, die in sich bedeutungslos ist und erst anschließend interpretiert wird, sondern ist selbst schon ein höchst voraussetzungsvolles und historisch gewachsenes Klassifikationsschema. Wie immer Lacan das Verhältnis zwischen der Materialität und dem Signifikanten bestimmt, so wie Rendtorff das Verhältnis zwischen der ordnungsgebenden Kraft des Symbolischen und dem Geschlecht darstellt, unterliegt ihre Argumentation, mit der sie das Geschlecht als eine »Tatsache« begründet, einer idealistischen Konzeption der Materialität der Körper, die dazu beiträgt die Struktur der Zweigeschlechtlichkeit zu naturalisieren, indem ein Teil des Geschlechts in einen vorgeblich vordiskursiven Raum verschoben wird. Mit ihrer Unterscheidung zwischen der außerhalb des Symbolischen zu verortenden Geschlechterdifferenz, der sie keine eigene Bedeutung zuspricht, und dem Symbolischen reduziert sie den Bereich des Außerdiskursiven auf einen ›in sich bedeutungslosen Raum‹ der symbolischen Einschreibung und verfällt mit dieser Kennzeichnung des Außerhalb des Symbolischen als ›in sich bedeutungslos‹ gerade dem Idealismus, dem sie zu entkommen sucht. Hierbei bleibt zwangsläufig offen, wie Rendtorff diese Grenzziehung zwischen dem Außen des Symbolischen, dem »Reale[n] des Körpers« (Rendtorff 2000b: 50) und dem Symbolischen legitimiert, wenn allein die Feststellung des Realen immer schon innerhalb des Symbolischen stattfindet. Indem Rendtorff aber die Problematik dieser Grenzziehung nicht weiter verfolgt, verhindert sie eine machttheoretische Sichtweise hierauf, wie sie Judith Butler vorschlägt. In »Körper von Gewicht« besteht Butler darauf »Materie« als »Materialisierung« von Macht zu verstehen und damit Macht als eine Kraft, die in der Bildung von Körpern immer schon inbegriffen ist. Hiermit will Butler keinesfalls sagen, dass Körper in ihrer Materialität ausschließlich durch machtvolle Diskurse hervorgebracht werden. Vielmehr insistiert sie darauf, dass eine Genealogie dieser Grenzziehung eines Verständ-

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nisses dieser Problematik bedarf, das den Binarismus des Diskursiven und des Außerdiskursiven übersteigt und der radikalen Heterogenität, die den jeweiligen Polen dieses Dualismus innewohnt, Rechnung trägt. Denn offensichtlich findet jeder Versuch zwischen dem Konstruierten und dem NichtKonstruierten eine Abgrenzung vorzunehmen genau innerhalb derjenigen signifizierenden Praxis statt, von der das Unkonstruierte freigesprochen werden soll. Mit anderen Worten: Die Bezugnahme auf ein außerdiskursives Objekt basiert immer auf einer innerhalb von Sprache stattfindenden Setzung, die »als eine vortheoretisch bleibende Voraussetzung in irgendeinem Akt des Beschreibens mitvollzogen wird« (Butler 1995: 34). Akzeptiert man die hiermit verbundenen Ausschlüsse von etwas vorgeblich Vordiskursiven, wie zum Beispiel dem ›biologischen Geschlecht‹ oder auch schon dem ›Körper als solchem‹, lediglich als eine zwar ärgerliche, aber letztendlich unvermeidliche Operation, ohne die jede Diskurstheorie einem haltlosen semiologischen Idealismus zu verfallen droht (vgl. zu dieser Befürchtung Landweer 1994, Maihofer 1995, Hauskeller 2000), bleibt die normierende Kraft und Gewalttätigkeit dieser – zweifellos immer schon diskursiv abhängigen – Grenzziehung der Analyse entzogen. Obwohl es auf den ersten Blick nicht nur unvermeidlich, sondern auch relativ unverfänglich erscheint »eine der Bedeutung und Form vorgängige Materialität« (Butler 1991: 193) der Körper vorauszusetzen, behauptet Butler – wie ich denke zu Recht – ,dass dies eine kritische Analyse der Abrichtung, Gestaltung und Bildung von Körpern durch historisch spezifische normative Kriterien erschwert, wenn nicht gar verhindert. Nicht nur, weil der Begriff der Materie als etwas dem Diskurs Vorgängigen aufgeladen ist mit einer Reihe von geschlechtsbezogenen Bedeutungen, in denen das Weibliche als passiver und nicht figurierbarer Ort der Einschreibung herabgesetzt und aus dem Intelligiblen ausgeschlossen wird, so dass die Verwendung dieses Begriffs insbesondere dann problematisch ist, wenn sie als Grundlage feministischer Theorie herangezogen wird, ohne die enge Verzahnung von Diskursen über das biologische Geschlecht und die Sexualität mit dem Diskurs der Materie zu reflektieren (vgl. hierzu Butler 1995: 53). Sondern auch, weil diese letztendlich ja statische Vorstellung von Materialität eine Konzeption von Macht erzwingt, in der die Beziehung zwischen den Körpern und der Macht nur als eine äußerliche begriffen werden kann. Denn insofern innerhalb dieser theoretischen Perspektive Macht auf einen vorab gegebenen und weitgehend unveränderlichen Körper einwirkt, scheint sich Macht darauf zu beschränken, unsere Wahrnehmung von diesem Körper zu strukturieren. Wenn Butler darauf dringt, »Materie« als Materialisierung von Macht zu verstehen, und damit Macht begreift als dasjenige, das in der Bildung von Körpern immer schon inbegriffen ist, geht es ihr keinesfalls darum zu behaupten, dass Körper in ihrer Materialität ausschließlich durch machtvolle Diskurse erzeugt seien, wie es ihr in der Tat problematisches Vokabular der »Erzeugung« und »Bildung« bisweilen nahelegt, sondern vielmehr darum, dass das Konzept von Materie als dem absoluten Außen des Diskurses und als natürliche Begrenzung der Wirkungskraft von Macht eine genealogische Betrachtung dieser Grenzziehung unterbin-

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det, wobei das Ausgeschlossene wie z.B. das biologische Geschlecht als unveränderliches Faktum in den Diskurs zurückkehrt. Butlers beharrliches Bemühen, die Grenze des Diskursiven nicht innerhalb eines dualistischen Verständnisses der Begriffe des Diskursiven und des Außerdiskursiven, des Konstruierten und des Unkonstruierten, der Realität und der Fiktion/Imagination zu situieren, hat ihr den Vorwurf eingebracht, sie verfolge einen radikallinguistischen Ansatz, in dem der Diskurs oder gar die Sprache zum »Ursprung« von jeglichem Phänomen avanciere. Wenn es aber richtig ist, dass »es keine Bezugnahme auf einen reinen Körper gibt, die nicht zugleich eine weitere Formierung dieses Körpers wäre« (Butler 1995: 33), wie selbst Kritikerinnen von Butler wie Hilge Landweer oder Andrea Maihofer zugestehen (vgl. Landweer 1994: 164; Maihofer 1995: 47), reicht es weder aus mit dieser Schwierigkeit dergestalt zu verfahren, dass man eine materielle Realität des Körpers als gegeben setzt, zu dem wir aber immer nur ein imaginäres Verhältnis haben können (die Position Maihofers), noch erscheint es sinnvoll, einerseits »von der prinzipiell diskursiven Konstruktion unserer Welt auszugehen«, um dieser (konstruierten) Welt dann »eine Realität jenseits des Sprachlichen« entgegenzusetzen, zu der es innerhalb des Symbolsystems »keinen Zugang« geben kann, auf die sich das Symbolische aber nicht nur beziehen kann, sondern auch muß (Landweer 1994: 164). In ihrem Festhalten an der Trennung zwischen dem »Ding an sich« und seiner symbolischen Präsentation führen diese beiden Ansätze, die auf einem grundlegenden ontologischen Unterschied zwischen der Sprache und den Körpern in ihrer der Form vorgängigen Materialität bestehen, ironischerweise geradewegs in den »Ideenhimmel« hinein, in dem Butlers Argumentation aus Sicht von Landweer und Maihofer anzusiedeln ist. Abgesehen davon, dass sich eine solche ontologische Differenz zwischen der realen Welt (der Körper) und der imaginären Welt der Symbole nicht begründen läßt, sobald man den laut Maihofer »banal wirkenden« Umstand anerkannt hat, dass »sowohl unsere Erfahrung als auch das Verständnis von den Dingen […] sprachlich konstituiert« (Maihoifer 1995: 47) ist, schränken diese Ansätze aufgrund ihres dualistischen Verständnisses von Sprache und Körpern, in der das eine das Reale (und damit Unkonstruierte) ist, das andere das Imaginäre (und damit ›lediglich‹ Konstruierte) darstellt, das Spektrum der Versuche das Verhältnis zwischen Sprache und demjenigen, das ›über Sprache hinausgeht‹, zu thematisieren auf zwei gleichermaßen inakzeptable Möglichkeiten ein. Entweder man degradiert den Bereich des Außerdiskursiven auf einen ›in sich bedeutungslosen‹ Raum der symbolischen Einschreibung, was in der Tat (abgesehen davon, dass der Ausschluß des Außerdiskursiven dann als grundlegende Bedingung des Diskursiven in den Diskurs zurückkehrt) seiner Auslöschung gleichkommt, oder man räumt wie Landweer gezwungenermaßen ein, dass es keinen »Zugang zu einer diskursunabhängigen, dem Diskurs vorgelagerten Welt« gibt, schenkt dem aber weiter keine Beachtung, um dann ungerührt eine obskure Unterscheidung zwischen einer »gestalthaften Wahrnehmung« des Vordiskursiven und ihrer »speziellen Semantik« einzuführen. Das Ergebnis ist dann wenig überraschend: Landweers zentrale These lautet,

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dass die Generativität »den leiblichen Resonanzboden bildet« (Landweer 1994: 152), der – in welcher Form auch immer – in jeder Kultur »Kategorisierungen von Geschlecht« (ebd.: 151) erzwingt und bemüht damit, wie Rendtdorff, die altbekannte Konstruktion eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Reproduktionsfähigkeit und dem Geschlecht als eine außerdiskursive Faktizität, um die Kategorie des Geschlechts vor ihrer vorgeblichen Zersetzung durch den Dekonstruktivismus zu schützen. Gerade weil Butler vermeiden will, entweder einem radikalen Linguismus zu verfallen, demzufolge ›immer alles nur Sprache ist‹ oder durch die Setzung eines ›absoluten Außerdiskursiven‹ eine Prämisse zu konstruieren, die dann aufgrund ihres vorgeblich vordiskursiven Status einer kritischen Analyse entzogen bleibt, weist sie weder den Begriff der »Materie« einfach zurück, noch leugnet sie die Notwendigkeit eines »Außen«, das dem Begriff des Diskurses entgeht und ihn begrenzt. Ebensowenig streitet sie ab, dass der Begriff des »Referenten« nicht einfach mit dem des Signifikats zusammenfällt. Während Maihofer und Landweer auf einem ontologischen Unterschied zwischen Sprache und der Materialität der Körper bestehen, und hierbei – ohne auf diese grundlegende Frage näher einzugehen –vorgehen, als wüßten sie, was Sprache ›ist‹ und was dieses Sein von demjenigen Sein des Gegenstandes unterscheidet, auf den Sprache hinweisen soll, bemüht Butler sich darum, in ihrer Analyse des Diskurses über Geschlecht den Verwicklungen nachzugehen, in die der Versuch gerät, zwischen einem Diskurs und dem Außerdiskursiven zu unterscheiden. Hierbei untersucht sie, inwiefern sich in einer solchen Analyse ein Verständnis von Sprache und dem, worauf Sprache referiert, abzeichnet, das sich nicht mehr innerhalb des Binarismus von Materialität und Idealität systematisieren lässt und diese Entgegensetzung überschreitet (Butler 1995: 64).

1.4 Von der Dekonstruk tion der Innerlichkeit der Psyche zur Per formanz der Geschlechtsidentität Einen Versuch einer solchen Analyse der Materialisierung von Geschlecht stellt Butlers Vorschlag dar, das biologische Geschlecht als eine Bezeichnungspraxis zu begreifen, die quasi performativ funktioniert. Was hierunter zu verstehen ist, wird deutlich, wenn man die bislang diskutierte Verbindung zwischen der melancholischen Verarbeitung von Objektverlusten und der Produktion der Geschlechtsidentität erneut in Betracht zieht. Zentral ist hierbei, dass Butler die Melancholie als einen Identifizierungsmechanismus deutet, der in der Form der »Einverleibung« vollzogen wird. Butler entwickelt ihr Konzept der »Einverleibung« in Auseinandersetzung mit Schafer, der in Übereinstimmung mit Abraham und Torok unter »Einverleibung« eine Phantasie versteht, in der ein verlorenes Objekt »irgendwie magisch ›im Körper‹ am Leben erhalten wird.« (Butler 1991: 107). Insofern der Verlust im Gegensatz zur Introjektion, die von Abraham und Torok als

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Trauerarbeit begriffen wird, im Fall der »Einverleibung« nicht anerkannt werden kann, ist dieser Zustand der Melancholie zuzuordnen. Dies bedeutet, dass im Gegensatz zur Introjektion der Verlust nicht ins Sprechen verschoben werden kann14, sondern als »radikal Unnennbares« (ebd.: 108) inkorporiert und damit bewahrt wird. Wenn also die Melancholie durch die Aufgabe eines externen Liebesobjektes verursacht wird, wobei die libidinöse Besetzung des Objekts jedoch nicht aufgegeben werden kann und deshalb ins Ich zurückgezogen wird, und dieser Rückzug dadurch ermöglicht wird, dass »das Ich die Züge des Objektes annimmt« (Freud 1975 [1923]: 297) und sich selbst dem Es als Liebesobjekt aufdrängt, stellt sich die Frage nach dem lokalen Schauplatz dieser Phantasie. Dem allgemeinen westlichen Verständnis von Psyche zufolge bildet diese einen inneren immateriellen Kern. Demgegenüber hat Freud darauf hingewiesen, dass die Ausbildung der psychischen Erfahrung eines Ichs über die Auseinandersetzung mit »körperlichen Empfindungen« vollzogen wird, die hauptsächlich »von der Oberfläche des Körpers herrühren« (Freud zit.n. Laplanche/Pontalis 1972: 198f.). Deshalb geht das Ich in Freuds Topographie der Psyche von dem System Wahrnehmung aus, das die äußere Hülle des seelischen Apparates bildet, wobei dieser Umriss zumindest teilweise mit der Oberfläche des Körpers identifiziert werden kann. Laplanche u. Pontalis schreiben hierzu: »Ganz wie die Haut die Körperoberfläche bildet, bildet das System WahrnehmungBewusstsein die ›Oberfläche‹ des Psychischen.« (Laplanche/Pontalis 1972: 198) Aus dieser Sicht ist das Ich vor allem »ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.« (Freud 1975 [1923]: 294) Für Butler bildet diese These einen wichtigen Ausgangspunkt, auf den sie sich immer wieder beruft, wenn sie die Bildung von Körper und Psyche als einen Prozess beschreibt, der eine imaginäre Dimension impliziert, die zumindest teilweise sozial reguliert wird und die durch die Naturalisierung des binären Konzeptes von Körper und Psyche und der Vorstellung von der Innerlichkeit der Psyche und der Gegebenheit des Körpers verschleiert wird. Demnach ist der für die Melancholie kennzeichnende Versuch des Ichs, das verlorene Objekt zu substituieren – ein Versuch, der offensichtlich immer einen phantasierten Vorgang darstellt – kein immaterieller Prozess, der im Inneren eines Subjekts stattfindet. Betrachtet man Identifizierungen als die Nachahmung wesentlicher Züge des – in 14 | Laut Butlers Darstellung gehen Abraham und Torok davon aus, dass das Anerkennen des Verlustes des mütterlichen Körpers die konstituierende Möglichkeitsbedingung für den Eintritt in das Symbolische darstellt. »Der Verlust des Körpers der Mutter als Liebesobjekt wird so verstanden, dass er den leeren Raum errichtet, aus dem die Wörter hervorgehen« (Butler 1991: 108). Damit stelle die Introjektion eine Tätigkeit dar, in der die Verschiebung der Libido durch die Produktion von Wörtern erfolgt. Auf diesem Hintergrund könne die Introjektion als eine metaphorische Tätigkeit verstanden werden, »in der die Wörter die Abwesenheit ›figurieren‹ und überschreiten« (ebd.: 108), während im Fall der Einverleibung der Verlust, da er nicht anerkannt werden könne, im Körper eingeschrieben und damit bewahrt werde.

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diesem Fall verbotenen – Lustobjekts, so trägt sich diese Imitation auf der Oberfläche des Körpers zu. Folglich ist es die Produktion eines geschlechtlich markierten Körpers, durch die die Geschlechtsidentität in Szene gesetzt wird 15. Anders formuliert: Die Akte, Gesten und Begehren, die gemeinhin als Ausdruck einer inneren Geschlechtsidentität gedeutet werden, die im Einklang mit einem immer schon geschlechtlich bestimmten Körper stehen, erzeugen einerseits Körper, die als männlich oder weiblich identifiziert werden können, andererseits bilden diese leiblichen Bezeichnungen jedoch auch den Kern von Butlers Konzept der Geschlechtsidentität, weil sie den Modus darstellen, in dem sich geschlechtlich bestimmte Identifizierungen materialisieren. Wenn sich die Konstruktion der Geschlechtsidentität auf der Oberfläche der Körper vollzieht, dann »umfaßt (sie) auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine ›geschlechtliche Natur‹ oder ein ›natürliches Geschlecht‹ als ›vordiskursiv‹, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich die Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird.« (Butler 1991: 24) Bestimmte Körperteile wie der Penis, die Vagina, die Brüste »werden genau deshalb zu Vorstellungszentren der Lust, weil sie dem normativen Ideal eines solchen, für die Geschlechtsidentität spezifischen Körpers entsprechen« (ebd.: 111), und nicht, weil die Lust natürlicherweise aus diesen Körperzonen hervorgeht. Nach Butler verhindert die Trope der Innerlichkeit, die kennzeichnend für die psychologische Vorstellung der Geschlechtsidentität ist, eine Analyse derjenigen normativen diskursiven Verfahren, durch die der Glaube an eine substanzielle Geschlechtsidentität, ein gegebenes anatomisches Geschlecht als einen vordiskursiven Sachverhalt und an die natürliche Einheit von sex, gender und Begehren hergestellt wird. Versteht man die Darstellungen von Geschlecht und Sexualität als Bekundung einer inneren Geschlechtsidentität und eines gegebenen Geschlechts, so ist es nicht nur der konstruierte Charakter des anatomischen Geschlechts, der in diesem Fall der Sicht entzogen bleibt. Vielmehr erhält auch die Geschlechtsidentität – selbst wenn man sie nicht wie im vorfeministischen Denken als substanziell gegeben denkt, sondern als eine erworbene verinnerlichte Eigenschaft einer Person – einen konsistenteren Status, als ihr zugestanden werden müsste. Und betrachtet man die binären theoretischen Konzeptionen und empirischen Beschreibungen der Geschlechtsidentität bis in die 80er Jahre, so spricht vieles dafür, dass ein 15 | Obwohl es die Oberfläche des Körpers ist, auf der nach Butlers Ansicht die Geschlechtsidentität in Szene gesetzt wird, setzt sie weder die Morphologie des Körpers noch das Ich als dieser Inszenierung vorhergehend voraus. Vielmehr hebt sie hervor, dass es sich hierbei um eine Tätigkeit handelt, in der bestimmte soziale Ausarbeitungen des Ichs und des Körpers durch imaginäre Schemata, die sozial reguliert werden, hervorgebracht werden (Eine ausführliche Darstellung dieser These, die die Auffassung einschließt, dass die Psyche nicht einen Modus darstellt, durch den ein ihr vorgängiger Körper erfahren und erkannt wird, sondern ein soziales Prinzip, durch das eine bestimmte Version des Körpers formiert und somatisiert wird, findet sich in »Körper von Gewicht« (Butler 1995: 85ff.).

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solches expressives Modell von Geschlecht und der ihm zugrunde liegende Dualismus von Innen und Außen eine statische Vorstellung von Identität produziert, in der die Geschlechtsidentität, obgleich als ein Produkt von Sozialisation begriffen, nicht weniger determiniert erscheint als das anatomische Geschlecht oder als in der Behauptung der Gegebenheit einer geschlechtlich bestimmten substanziellen Psyche. Gemäß Butlers zentraler These, der zufolge die Produktion des heterosexuellen Begehrens die Matrix der Geschlechtsidentität bildet, beschreibt sie die Heterosexualisierung der Körper als ein wichtiges Moment der Verkörperung von Geschlechtsidentität. Dementsprechend betrachtet sie die »Verortung und/oder das Verbot der Lüste und Begierden in bestimmten ›erogenen‹ Zonen [als] genau jene Form der Melancholie, die die Geschlechtsidentitäten differenziert und die Oberfläche des Körpers überflutet.« (Butler 1991: 109) »Für den melancholisch heterosexuellen Mann gilt: Er hat niemals einen anderen Mann geliebt, denn er ist ein Mann, und er kann stets auf die empirischen Tatsachen zurückgreifen, die dies belegen.« (Ebd.: 113)

Denn es ist die Zurückweisung des Verlustes des homosexuellen Begehrens, die bestimmte Körperteile in den Dienst einer angeblich natürlichen Sexualfunktion stellt, in der diese Verleugnung sich verkörpert. Die Regulierung der körperlichen Lüste stellt aus Butlers Sicht ein bedeutendes Verfahren dar, durch das der Penis/Phallus seine signifizierende Kraft als Zeichen von Männlichkeit gewinnt: »Die Liebe zum Vater ist gleichsam im Penis gespeichert, durch eine undurchdringliche Verleugnung gerettet, und diese kontinuierliche, fortgesetzte Verleugnung stellt die Struktur und Aufgabe des Begehrens dar, das sich nun auf den Penis konzentriert. Allerdings muß die Frau-als-Objekt das Zeichen abgeben, daß ›er‹ nicht nur niemals ein homosexuelles Begehren, sondern auch niemals den Kummer um dessen Verlust empfunden hat.« (Ebd.: 113)

Nun kann man gegen diese Darstellung sicherlich einwenden, dass sich die Inszenierung einer entsprechend ordnungsgemäßen Geschlechtsidentität nicht in der Entgegennahme einer heterosexuellen Sexualität erschöpft, sondern aus einem komplexen Feld materieller Praktiken besteht, die den Anschein eines wesenhaft gegebenen Geschlechts erzeugen. Diese umfassen ebenso die Übernahme einer bestimmten Frisur, Kleidung, Gestik und Mimik sowie ein überaus breit gefächertes Verhaltensrepertoire. Doch auch wenn Butlers diesbezügliche Ausführungen sich auf die Heterosexualisierung der Körper beschränken, schließt ihre Analyse eine solche umfassendere Sichtweise keinesfalls aus: »Da der Effekt der Geschlechtsidentität durch die Stilisierung des Körpers erzeugt wird, muß er als der mundane Weg verstanden werden, auf dem die Kör-

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pergesten, die Bewegungen und die Stile unterschiedlicher Art die Illusion eines unvergänglichen, geschlechtlich bestimmten Selbst (gendered self) herstellen.« (Ebd.: 206f.)16

Aus dieser Sicht können die Materialität der Körper und die Signifi kationsprozesse, durch die sie bezeichnet wird, nicht voneinander losgelöst betrachtet werden, vielmehr muss die Materialität der Körper – und hier schließt Butler an Foucault an – als die produktive Wirkung von Macht begriffen werden. Wenn man die geschlechtliche Inszenierung der Körper also nicht als Ausdruck einer inneren substanziellen Geschlechtsidentität begreift, sondern als eine Phantasie, die in ihrer kollektiven und fortlaufenden Darbietung den Eindruck einer unveränderlichen und naturgegebenen Zweigeschlechtlichkeit hervorbringt, ist die Geschlechtsidentität »als eine Art kultureller/ körperlicher Handlung« (Butler 1991: 167) zu verstehen, oder vielmehr als eine signifizierende Tätigkeit, die jedoch nicht mehr innerhalb des klassischen Konzepts des Zeichens erfasst werden kann. Während das klassische Konzept des Zeichens auf der Idee beruht, der Signifikant verweise auf ein ihm vorgängiges Signifi kat oder Ding, was auf die Frage des Geschlechts bezogen dem expressiven Modell von Geschlecht entsprechen würde, demzufolge die verschiedenen körperlichen oder diskursiven Darstellungen von Geschlecht auf eine innere Geschlechtsidentität und/oder natürliche Gegebenheit des Geschlechts verweisen, erfordert Butlers Kritik an der Vorstellung von der Innerlichkeit der Geschlechtsidentität ein Überdenken dieser linearen zeitlichen Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat. Wenn die Geschlechtsidentität den Akten, Gesten und Begehren nicht vorausgeht, sondern wenn diese den Modus darstellen, in dem Geschlechtsidentität gegeben ist, dann können diese leiblichen Bezeichnungen nicht als sekundäre Repräsentanten einer ihnen vorhergehenden Geschlechtsidentität betrachtet werden. Deshalb führt Butler in diesem Zusammenhang den umstrittenen Begriff der Performanz ein. Im Unterschied zu einem repräsentativen Modell von Sprache weist der von Austin ausgearbeitete Begriff des Performativen auf eine produktive Kraft des Signifikativen hin. Aus Austins Sicht erschöpft sich die Funktion von Sprache nicht darin, einen der Sprache vorgängigen Sinn mitzuteilen, sondern besitzt unter bestimmten Umständen die Kraft, genau diejenige Handlung zu vollziehen (to perform) (vgl. Austin 1972: 30), die auf den ersten Blick lediglich bezeichnet bzw. beschrieben wird. Während das erste Modell der »uralte[n] philosophische[n] Annahme« 16 | Deshalb ist es auch nicht gerechtfertigt, wenn Autorinnen wie Maihofer oder Lorey Butler vorwerfen, sie vernachlässige die konkret gelebten Körper-, Gefühls- und Verhaltensweisen von Männern und Frauen. Auch, wenn Butler selbst keine empirischen Untersuchungen hierzu vorlegt, würde der begriffl iche Rahmen ihrer Theorie solche Studien durchaus zulassen. Ein solches Unterfangen erforderte jedoch die Entwicklung einer Schreib- und Analyseweise, die der grundlegenden Ungewißheit solcher geschlechtlichen Bezeichnungspraktiken Rechnung trägt.

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folgt, dass »etwas sagen in allen beachtenswerten Fällen, d.h. in allen beachteten Fällen, bloß darauf hinauslaufe, etwas festzustellen«, das »›wahr‹ oder ›falsch‘“sein kann (ebd.: 35), entzieht sich die Klasse der performativen Äußerungen, wie Derrida schreibt, »der Autorität des Wahrheitswertes« (Derrida 1988 [1972]: 341) und lässt sich nicht in die klassische Einteilung von Signifikant und Signifi kat/Referent pressen: »Im Unterschied zum klassischen bejahenden Satz, der konstativen Aussage, hat das performative seinen Referenten (doch hier ist dieses Wort zweifellos nicht angemessen und darin liegt das Interesse der Entdeckung) [nicht S.M.] 17 außerhalb seiner oder jedenfalls vor sich und sich gegenüber. Es beschreibt nicht etwas, das außerhalb der Sprache und vor ihr existiert. Es produziert und verwandelt eine Situation, es wirkt; und wenn man auch sagen kann, daß eine konstative Aussage ebenfalls etwas bewirkt und immer eine Situation verwandelt, so kann man doch nicht sagen, daß dies ihre interne Struktur, ihre manifeste Funktion oder Bestimmung konstituiert wie in dem Fall des performative.« (ed.: 340)

Und es ist dieser Aspekt des Performativen, der diesen Begriff für Butler interessant macht. Denn wenn man die unterschiedlichen leiblichen und diskursiven Darstellungen des Geschlechts nicht als eine Reihe von Zeichen versteht, die auf eine vorgängige natürliche Ordnung und/oder innere Geschlechtsidentität hinweisen, sondern wenn diese sich als eine produktive Tätigkeit erweisen, entzieht sich die Kategorie Geschlecht dem philosophischen Wert der Wahrheit. Die Frage lautet dann nicht mehr, worin die »Wahrheit des sexus« besteht (vgl. Foucault), sondern durch welche diskursiven Verfahren der Glaube an »die Wahrheit des sexus« hervorgebracht und stabilisiert wird. Dementsprechend begreift Butler Geschlecht als eine regulierte Bezeichnungspraxis, die performativ funktioniert: »Das ›Geschlecht‹ wird immer als eine unentwegte Wiederholung vorherrschender Normen hergestellt. Diese produktive Wiederholung kann als eine Art Performativität gedeutet werden. Die diskursive Performativität produziert offenbar das, was sie benennt, um ihren eigenen Referenten zu inszenieren, um zu benennen und zu tun, zu benennen und zu machen.« (Butler 1995: 148)

Woher stammt jedoch die produktive Kraft des Performativen? Woher bezieht der performative Diskurs die Autorität, dasjenige hervorzubringen, das er benennt?

17 | Übersetzung geändert (vgl. Derrida 2001: 33).

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Nach Austin ist die produktive Kraft der performativen Äußerung darauf zurückzuführen, dass es sich um ein konventionelles Verfahren handelt, das erstens von allen Beteiligten »korrekt und vollständig« durchgeführt werden muss und zweitens voraussetzt, dass »wer am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und Gefühle wirklich haben« muss (Austin 1972: 37). In ihrer Betonung auf Korrektheit und Vollständigkeit und der wahren Intention der Beteiligten legt diese Definition nahe, dass der Erfolg einer performativen Äußerung von bestimmten festgelegten kontextuellen Bedingungen abhängt, zu denen die wahre Intention der Beteiligten gehört und eine besondere Rolle spielt. Obwohl ein entscheidendes strukturelles Merkmal eines konventionellen Verfahrens darin besteht, dass es ein wiedererkennbares Muster aufweisen muss, das wiederholt werden kann, disqualifiziert Austin im Verlauf seiner Vorlesungen performative Äußerungen, die auf einem Zitat basieren, also etwa wenn sie im Rahmen eines Schauspiels geäußert werden oder »wenn sie in einem Gedicht vorkommen«, als »unernst oder nichtig« und schließt sie als Untersuchungsgegenstand aus, weil sie nicht »unter normalen Umständen« getätigt werden (ebd.: 43). Dieser Ausschluss bildet den Ausgangspunkt von Derridas Kritik an Austin, an die Butler in ihrer Ausarbeitung der Performativität anschließt. Im Gegensatz zu Austin behauptet Derrida, dass gerade die Möglichkeit zitiert zu werden zur eigentlichen Struktur des Performativen gehört und seine produktive Kraft bildet. Insofern Derrida hierbei auf eine allgemeine Iterierbarkeit des Zeichens anspielt und nicht leugnet, dass es sich bei den von Austin ausgeschlossenen Fällen um eine besondere Art der Rezitation handelt, verwendet er den Begriff des Zitats nicht in seinem engeren Sinn, wonach unter einem Zitat eine wortwörtliche Anführung eines vorhergehenden Textes zu verstehen ist, sondern benutzt ihn um zu zeigen, dass die dem Zitat zugrundeliegende Struktur der Iterabilität nicht eine Eventualität ist, die die »Ernsthaftigkeit« des Performativen gefährdet, sondern ihre notwendige Bedingung darstellt. »Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröff nen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifizierbar wäre. Die Zitathaftigkeit ist hier nicht etwa von derselben Art wie in einem Theaterstück, einer philosophischen Verweisung oder dem Rezitieren eines Gedichts. Deshalb gibt es eine relative Spezifität, wie Austin meint, eine ›relative Reinheit‹ von performatives. Aber diese relative Reinheit erhebt sich nicht gegen die Zitathaftigkeit oder die Iterierbarkeit, sondern gegen andere Arten von Iteration innerhalb einer allgemeinen Iterierbarkeit, die in die angeblich strenge Reinheit eines jeden Redeereignisses oder eines jeden speech act einbricht.« (Derrida 1988 [1972]: 346)

Damit lokalisiert Derrida die Kraft einer performativen Äußerung nicht wie Austin im konkreten Umstand einer Äußerung, also einem durch Konven-

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tionen festgelegten Kontext und der Intention des Sprechers, sondern gerade in der prinzipiellen Möglichkeit mit einem gegebenen Kontext zu brechen. Diese Zitathaftigkeit, also das Vermögen, »mit jedem gegebenen Kontext brechen« (ebd.: 339) zu können, und das heißt u.a. in der Abwesenheit nicht nur des Referenten, sondern auch eines bestimmten Adressaten und der Intention des vermeintlichen Produzenten, funktionieren zu können, strukturiert nach Derrida jedes Zeichen. Folgt man diesem Argument, demzufolge die Möglichkeit des Zitierens, verstanden als allgemeine Iterierbarkeit, dem Performativen nicht äußerlich ist, sondern seine Bedingung darstellt, so untergräbt dies Austins Unternehmen den »unernsten« Gebrauch der Sprache auf der Bühne aus der »gewöhnlichen« Sprache auszuschließen. Und auch in performativen Äußerungen, die unter »normalen Umständen« (Austin 1972: 44) getätigt werden, »wird die Intention, welche die Äußerung beseelt, sich selbst und ihrem Inhalt nie vollkommen gegenwärtig sein.« (Derrida 1988 (1972): 347). Denn, wenn die Möglichkeit, ein Zeichen aus einem bestimmten Kontext zu lösen und es in einem anderen erneut einzusetzen nicht eine zufällige Möglichkeit darstellt, sondern seine »innere und positive Möglichkeitsbedingung« (ebd.: 345), dann spaltet dies notwendigerweise das »Ereignis«, in dem es auftritt, und damit auch die von Austin vorausgesetzte Totalität eines gegenwärtigen Kontextes. Diese Auslegung des Performativen bildet den theoretischen Hintergrund von Butlers Behauptung, dass »die Konstruktion [des biologischen Geschlechts S.M.] weder ein einzelner Akt noch ein kausaler Prozeß ist, der von einem Subjekt ausgeht und in einer Anzahl festgelegter Wirkungen endet.« (Butler 1995: 32) Demnach stellt die Wiederholung gleichzeitig die konstitutierende und dekonstituierende Möglichkeit dar, durch die »das biologische Geschlecht seinen Effekt des Naturalisierten« (ebd.: 32) erlangt. »Konstruktion«, so hebt Butler in diesem Zusammenhang hervor, »findet nicht nur in der Zeit statt, sondern ist selbst ein zeitlicher Prozeß, der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert; im Verlauf dieser unentwegten Wiederholung wird das biologische Geschlecht sowohl hervorgebracht als auch destabilisiert.« (Ebd.: 32) Wenn die Bezeichnung ›Geschlecht‹ nicht auf einen determinierten, eindeutigen und kontinuierlichen körperlichen und psychischen Zustand verweist, sondern als eine vielfältige Tätigkeit verstanden werden muss, die den Eindruck eines stabilen geschlechtlich bestimmten Körpers und einer kohärenten Geschlechtsidentität hervorbringt, stellt sich jedoch die Frage, wie der Eindruck dieser Kontinuität zustande kommt. Wenn wir die Kategorisierung von Männern und Frauen als ein Feld von komplexen zuschreibenden und inszenierenden Praktiken (Medizin, Sexualität, Mode, Erziehung, Journalismus, Vergeschlechtlichung von Berufsfeldern, Sport usw.) begreifen müssen, die ihren überzeugenden Charakter durch ihre wiederholte Anwendung gewinnen, ist es notwendig, die Denkfigur der Wiederholung genauer in Betracht zu ziehen. Butler behauptet, dass es der Wiederholungszwang ist, unter dem geschlechtsbezogene Normen stehen, der sowohl ihre sedimentierende Wirkung/ihren naturalisierten Eindruck als auch ihren

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anfälligen Charakter ausmacht und beruft sich in Anlehnung an Derrida auf die derivative Struktur des Performativen, um diese Gleichzeitigkeit von Ablagerung und Veränderung zu erklären. Derridas Neuformulierung des Performativen als einer Struktur, die im wesentlichen von der Möglichkeit ihrer Iterabilität abhängt, basiert aber auf einem Verständnis von Wiederholung, das die Wiederholung mit der Andersheit verbindet und deshalb das Gelingen eines performativen Aktes nicht durch eine übergreifende ideale Einheit abgesichert sieht. Und auch Butler weist in »Körper von Gewicht« darauf hin, dass sie unter Performativität nicht eine Wiederholung von »Handlungen« versteht, »so als ob ›Handlungen‹ unangetastet und mit sich selbst identisch bleiben würden, wenn sie in der Zeit wiederholt werden, wobei ›Zeit‹ als den ›Handlungen‹ selbst äußerlich verstanden wird.« (Butler 1995: 325) Vielmehr geht sie mit Lacan davon aus, dass die Handlung »selbst eine Wiederholung, ein Sedimentieren und Gerinnen von Vergangenheit« und in diesem Sinne »immer ein vorläufiges Versagen der Erinnerung« (ebd.) ist. Dieser wichtige Aspekt in ihrer Theorie ist in der Rezeption häufig übergangen oder verkannt worden. So hat Stefan Hirschauer Butler vorgeworfen, ihre soziologischen Vorstellungen endeten »bei einem top-down Modell der Gesellschaft, in das wie in die Rollentheorie der 60er Jahre ›Normen‹ eingeführt werden, deren Konstitution dunkel bleibt, deren ständige ›Wiederholung‹ aber das System ausmachen soll.« (Hirschauer 1995: 73) Statt eine »bloße Debatte über ontologische Bekenntnisse zu führen« sei es notwendig »jene Prozesse, die die Geschlechter konstruieren und essentialisieren […] empirisch in den Blick zu nehmen.« (Ebd.: 74) In dieser Einschätzung liegt tatsächlich der entscheidende Unterschied zwischen Butler und der auf den ersten Blick ja recht ähnlichen Konzeption von Geschlecht als »doing gender« begründet. Dieser besteht weniger darin, dass sich Butlers Analyse der ›Wirkungsmächtigkeit‹ des Systems der Zweigeschlechtlichkeit nicht mit einer empirischen Erforschung der Praktiken des »doing gender« vereinbaren ließe. Aber indem Butler den Blick auf die zeitliche Struktur dieser Prozesse lenkt und nicht wie Hirschauer einen identischen Kern in der Wiederholung unterstellt, verschiebt sie notwendigerweise das Verständnis der Erlebnisschicht als einer gegenwärtigen Erfahrung, auf die die geschlechtsbezogene Schulforschung in ihren empirischen Untersuchungen abhebt. Nun muss man allerdings zugestehen, dass sich Butlers Version der Handlungsmöglichkeit als einer Tätigkeit, die kein intentionales Subjekt voraussetzt, sondern aus einer wiederholten gesellschaftlichen Praxis erwächst, zwar gerade auf dieses Verständnis von Iterabilität als Wiederholung und Andersheit stützt, letztendlich aber dieser Zusammenhang von Identität und Differenz in der Wiederholung, der ja nicht unbedingt selbstverständlich ist, in ihren Arbeiten – obgleich zentral – so doch seltsam unterbelichtet bleibt. Zwar weist sie dezidiert darauf hin, dass die Ausbildung der Geschlechtszugehörigkeit normativen Zwängen folgt, die, wenn sie auch nicht die Kraft besitzen, das Subjekt zu determinieren, so doch keinesfalls frei zur Verfügung stehen. Hierbei bleibt jedoch weitgehend unklar, wie diese relative Stabilität, die den Konstruktionen von Geschlecht anhaftet,

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von der Iterabilität aus gedacht werden muss. Wenn Butlers Argumentation zutreffend ist, dass die Iterabilität unumgänglich eine Differenz in das zu Wiederholende einführt, stellt sich die Frage nach dem ›Identischen‹ in der Wiederholung. Da die Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit zweifellos erfordern, dass sich durch die unterschiedlichen Praktiken hindurch mehr oder weniger stabile Bedeutungsfelder herausbilden, die es ermöglichen, etwas wiederholt als männlich oder weiblich zu bemerken, muss man die Struktur und den Status dieser relativen Stabilität näher in Betracht ziehen. Aus diesem Grund soll im Folgenden in einer Erörterung von Derridas Lesung von Husserl gezeigt werden, dass der Kern dieser relativen Stabilität, also dasjenige, welches das Wiederholte in der Wiederholung zusammenhält, nicht in einer selbstidentischen idealen Einheit besteht, die durch die von der Wiederholung hervorgebrachten Abweichungen unberührt bleibt, sondern selbst als eine differenzielle Struktur gedacht werden muss, um hieran anschließend die Implikationen einer solchen Sichtweise für das Unternehmen einer Re-konstruktion der Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit diskutieren zu können.

2. Die normativen Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit als eine Wiederholungspraxis

In welcher Weise ermöglicht die Iterabilität von Normen den Eindruck der Festigkeit von Geschlecht und untergräbt sie hierbei zwangsläufig? Diese Schwierigkeit muss von der Problematik des Zeichens, der Wiederholung und der Idealität aus angegangen werden, denn wenn die Glaubwürdigkeit der binären Konstruktion von Geschlecht durch ein komplexes Netz von unterschiedlichen Praktiken der Inszenierung, Naturalisierung und Reglementierung nicht nur gestützt, sondern hervorgebracht wird, scheint sich durch die Vielzahl dieser mannigfachen Ereignisse hindurch eine ideale Einheit, ein Begriff von Männlichkeit und Weiblichkeit herauszubilden, der ein Wiedererkennen dieser oder jener Tätigkeit, dieses oder jenes Merkmals oder Verhaltens als männlich oder weiblich ermöglicht. Die folgende Diskussion von Derridas Auseinandersetzung mit Husserl beschäftigt sich mit dem (un)möglichen Charakter einer solchen Einheit.

2.1 Iterabilität und Idealität »Es gibt keine Idealisierung ohne (identifizierende) Iterabilität«, behauptet Derrida in »Limited Inc.«, »aber aus demselben Grund, aufgrund der (verändernden) Iterabilität, gibt es keine rein gehaltene, vor jeglicher Kontamination geschützte Idealisierung. Der Begriff der Iterabilität ist dieser eigenartige Begriff, der die Silhouette der Idealität, also des Begriffs, und damit jeder Unterscheidung oder jeder begrifflichen Opposition möglich macht.« (Derrida 2001: 184)

Dieses Verständnis der Iterabilität als eines idealen Begriffs und eines über das Begriffliche hinausgehenden Prinzips, das die Bildung einer idealen Einheit gleichzeitig ermöglicht und begrenzt, gründet in Derridas früher Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls1. In »Die Stimme und das 1 | Diese Präferenz für Derridas Auseinandersetzung mit Husserls Schriften,

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Phänomen« geht Derrida der Frage nach, inwiefern das phänomenologische Vorgehen, trotz der für die Phänomenologie charakteristischen Ausklammerung jeglichen vorfindbaren Wissens, selbst metaphysischen Vorannahmen unterliegt. Hierbei geht es Derrida nicht darum, einzelne metaphysische Aspekte der phänomenologischen Methode aufzuzeigen, vielmehr interessiert ihn, dass Husserls Untersuchungen der Idee der Erkenntnis verpflichtet bleiben. Die Frage, die seine Auseinandersetzung mit Husserl umtreibt, ist die, ob »die Idee der Erkenntnis und der Theorie der Erkenntnis nicht […] an sich selbst metaphysisch« ist (Derrida 1979: 53). In diesem Kontext werden, wie ich im Weiteren eingehender ausarbeiten werde, zwei relevante Aspekte für die Problematik der Beziehung zwischen der Idealität und der Iterabilität deutlich: 1.) Die Idee der Möglichkeit der Wiederholung des Selben ist auf die ideale Form der reinen Präsenz angewiesen. (Empirisch betrachtet ist eine Wiederholung des Selben ohnehin undenkbar, da die Wiederholung eines empirischen Ereignisses immer eine gewisse Variabilität mit sich führt). In dem hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang bezieht sich der Begriff der Präsenz nicht auf die Präsenz von etwas, das in der Welt existiert, sondern auf Husserls Theorem eines produktiven Bewusstseinsaktes, in dem sich Wahrnehmung und Wahrgenommenes gleichzeitig konstituieren. 2.) Die Identität einer idealen Einheit – auch die der Präsenz – ist aber notwendigerweise in eine »unbestimmte Repräsentativität verwickelt« (ebd.: 104) und kann dem Bewusstsein nicht in einer einfachen ungebrochenen Selbstpräsenz gegeben sein. D.h. die Identität einer Idealität kann nicht losgelöst von der Frage der Sprache behandelt werden. Hierbei zeigt Derrida, dass entgegen der für das klassische Konzept des Zeichens prägenden Vorstellung, der zufolge das Zeichen eine ihm vorhergehende Idee repräsentiert, letztere immer schon verwoben ist mit der vermeintlich sekundären Schicht des Zeichens und deren repräsentativer Funktion. Diese Sichtweise wird nicht nur eine bestimmtere Vorstellung von der relativen Stabilität der Konstruktionen von Geschlecht geben, sondern auch einen differenzierteren Blick auf die Frage erlauben, inwiefern es nicht ausreicht, dass sich die feministische Schulkritik auf die Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit bezieht, als handele es sich hierbei um Strukturen, die im Modus der Präsenz gegeben sind.

insbesondere mit dem Essay »Die Stimme und das Phänomen«, ergibt sich daraus, dass Derrida hier wichtige Grundzüge seines Denkens entwickelt und die Thematik des Bewusstseins, der Präsenz, der Stimme und der Schrift sehr eingehend erörtert. Zwar sind diese Themen für die Dekonstruktion bestimmend, so dass sie von ihm auch im Kontext anderer philosophischer Texte aufgezeigt werden, im Vergleich zu späteren Arbeiten geht Derrida dem Zusammenhang zwischen der Iterabilität und der Idealisierung hier jedoch viel ausdrücklicher nach (vgl. hierzu auch Lagemann 1998: 68).

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2.1.1 Die ideale Form der reinen Präsenz als Vorausset zung der Selbstidentität einer idealen Einheit in der Wiederholung Für Husserl entspringt das Bewusstsein einem »absoluten Anfang«, der sich aus nichts anderem ihm fremden ableitet: »Die Urimpression ist das absolut Unmodifizierte, die Urquelle für alles weitere Bewußtsein und Sein. Urimpression hat zum Inhalt das, was das Wort Jetzt besagt, wofern es im strengsten Sinne genommen wird.« (Husserl 1928: 423) Die Urimpression »wird nicht erzeugt, sie entsteht nicht als Erzeugtes, sondern durch genesis spontanea, sie ist Urzeugung. Sie erwächst nicht (sie hat keinen Keim), sie ist Urschöpfung.« (ebd: 451)

Insofern philosophisch betrachtet die erste zu erfüllende Voraussetzung für das Auftauchen eines Objektes (ganz gleich, ob man ihm objektiv gegebene Existenz zuschreibt oder es als eine im subjektiven Bewusstsein konstituierte Einheit ansieht) seine Dauer in der Zeit bzw. ein Empfinden von Dauer ist, muss sich Zeit für Husserl, der jede Präsumtion über eine objektiv gegebene Welt und damit auch eine objektiv gegebene Zeit zurückweist2, zuallererst konstituieren. »Absolute Subjektivität«, nennt Husserl den (Bewusstseins-) fluss3, der selbst keine Zeit voraussetzt, aber Zeit als die ideale Form von Erscheinungen – und damit die erste Voraussetzung für das wie auch immer 2 | In seinen »Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« beschreibt Husserl die Spezifität des phänomenologischen Untersuchungsgegenstandes folgendermaßen: »Die Erlebnisse werden von uns keiner Wirklichkeit eingeordnet. Mit der Wirklichkeit haben wir es nur zu tun, insofern sie gemeinte, vorgestellte angeschaute, begriffl ich gedachte ist. Bezüglich des Zeitproblems heißt das: die Zeiterlebnisse interessieren uns. Daß sie selbst objektiv zeitlich bestimmt sind, daß sie in die Welt der Dinge und psychischen Subjekte hineingehören und darin ihre Stelle, ihre Wirksamkeit, ihr empirisches Sein und Entstehen haben, das geht uns nichts an, davon wissen wir nichts. Dagegen interessiert uns, daß in diesen Erlebnissen ›objektiv zeitliche‹ Daten gemeint sind. Es gehört zum Bereich der Phänomenologie eben diese Beschreibung, daß die betreffenden Akte dieses oder jenes ›Objektive‹ meinen, genauer die Aufweisung der apriorischen Wahrheiten, die zu den konstitutiven Momenten der Objektivität gehören.« (Husserl 1928: 373f. Hervorh. jetzt und soweit nicht anders vermerkt im Folgenden i. Orig.) 3 | Die Bezeichnung Fluss ist für Husserl nur eine zur Hilfe genommene Metapher, die selbst dem Bereich der Vorstellungen entstammt, den der Fluss konstituiert: »Wir können nicht anders sagen als: dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich ›Objektives‹. Es ist die absolute Subjektivität und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ›Fluß‹ zu Bezeichnenden, in einem Aktualitätspunkt, Urquellpunkt, ›Jetzt‹ Entspringenden usw. Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das fehlen uns die Namen.« (Husserl 1928: 429)

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geartete Auftauchen eines wissbaren Objektes – konstituiert. Deshalb soll Urimpression das zum Inhalt haben, »was das Wort Jetzt besagt« (s.o.). Nur von der aktuellen temporalen Form des Präsens aus ist für Husserl die Dauer eines Objektes denkbar. Selbst dem objektiven Zeitbewusstsein vorgängig, ist das »aktuelle Jetzt« in der Phänomenologie Husserls nicht eine beliebige ideale Einheit unter anderen, sondern »eine verharrende Form für immer neue Materie« (Husserl Ideen I §81 zit.n. Derrida 1979: 117). Nur in einem »aktuellen Jetzt« kann sich demnach das »Sein« einer Urempfindung konstituieren, die ihrerseits objektivierende Auffassungen fundiert: »Das Empfinden sehen wir an als das ursprüngliche Zeitbewußtsein; in ihm konstituiert sich die immanente Einheit Farbe oder Ton, die immanente Einheit Wunsch, Gefallen usw.« (Husserl 1928: 458f.) »Nennen wir empfunden ein phänomenologisches Datum, das durch Auffassung als leibhaft gegeben ein Objektives bewußt macht, das dann objektiv wahrgenommen heißt, so haben wir in gleichem Sinn auch ein ›empfundenes‹ Zeitliches und ein wahrgenommenes Zeitliches zu unterscheiden. Das letztere bedeutet die objektive Zeit 4. Das erstere aber ist nicht selbst objektive Zeit (oder Stelle in der objektiven Zeit), sondern das phänomenologische Datum, durch dessen empirische Apperzeption die Beziehung auf objektive Zeit sich konstituiert. […] Die ›empfundenen‹ Temporaldaten sind nicht bloß empfunden, sie sind auch mit Auffassungscharakteren behaftet, und zu diesen wiederum gehören gewisse Forderungen und Berechtigungen, die aufgrund der empfundenen Daten erscheinenden Zeiten und Zeitverhältnisse aneinander zu messen, so und so in objektive Ordnungen zu bringen, so und so scheinbar in wirkliche Ordnungen zu sondern.« (Ebd.: 371f.)

»Scheinbar« denn aus phänomenologischer Sicht basiert die Objektivität, die sich in den Auffassungen konstituiert, weder auf einem empirischen Datum noch referiert sie auf eine objektiv gegebene Wirklichkeit5; ihr objek4 | Dies bedeutet aber nichts anderes als dass objektive Zeit für Husserl eine konstituierte Einheit des zeitkonstituierenden Flusses, und d.h. des »Wahrnehmungsbewußtseins« (vgl. ebd.: 482) darstellt. Weder kommt der objektiven Zeit Wirklichkeit zu noch ist das Wahrnehmungsbewusstsein in objektiver Zeit gegeben. Vielmehr konstituiert sich in diesem Fluss erst eine objektivierende Auffassung eines ursprünglichen Zeitempfi ndens. 5 | Dass aus Sicht der Phänomenologie die Art und Weise der Wahrnehmung nicht durch das »Empfindungsmaterial« bestimmt ist, sondern durch die »Auffassungscharaktere«, in denen diese im Bewusstsein gegeben sind, illustriert Husserl folgendermaßen: »Blicken wir auf ein Stück Kreide hin; wir schließen und öffnen die Augen. Dann haben wir zwei Wahrnehmungen. Wir sagen dabei: wir sehen dieselbe Kreide zweimal. Wir haben dabei zeitlich getrennte Inhalte, wir erschauen auch ein phänomenologisches zeitliches Auseinander, eine Trennung, aber am Gegenstand ist keine Trennung, er ist derselbe: im Gegenstand Dauer, im Phänomen Wechsel. So können wir auch subjektiv ein zeitliches Nacheinander empfinden, wo objektiv eine Koexistenz festzustellen ist. Der erlebte Inhalt wird ›objektiviert‹ und nun ist das Ob-

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tivierender Bezugspunkt ist viel mehr die Unterstellung, dass jegliches Bewusstsein in derselben Art und Weise strukturiert ist und dementsprechend in einem allgemeinen Modus urteilt. Die Basis dieser Gesetzmäßigkeiten soll das konstituierende Zeitbewusstsein, also die »absolute Subjektivität«, bilden. Selbst der Zeit vorgängig, konstituiert dieses »innere Bewusstsein«, das Husserl zuweilen auch »Wahrnehmungsbewusstsein« (ebd.: 482) nennt, objektive Zeit: »Was sich da als objektiv gültiges Sein konstituiert, ist schließlich die eine unendliche objektive Zeit, in welcher alle Dinge und Ereignisse, Körper mit ihren physischen Beschaffenheiten, Seelen mit ihren seelischen Zuständen ihre bestimmten Zeitstellen haben, die durch Chronometer bestimmbar sind.« (Ebd.: 372)

In der Phänomenologie Husserls fungiert das ursprünglich konstituierende Bewusstsein also als die Instanz, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten die Form festlegt, in der alle Empfindungsinhalte zeitlich in der Wahrnehmung (was ja nichts anderes heißt als für das selbe Bewusstsein, durch das sie ja auch konstituiert und bestimmt werden) bestimmt sind. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um zwei unumstößliche Regeln. Ein ursprünglich auftauchender Empfindungsinhalt, so lautet die erste Regel, wird nur im Augenblick seines Auftauchens als aktuell »Jetzt« erscheinend wahrgenommen. Sofort schließe sich ihm ein neuer »Jetzt« Moment an, in dem die vorhergehende Urimpression im Modus des »Soeben gewesen« gegeben sei. Diesen Zeitmodus nennt Husserl Retention oder auch primäre Erinnerung. Er stelle eine Modifi kation des aktuellen Zeitmoments dar und werde selbst fortlaufend modifiziert. Kontinuierlich wandele sich retentionales Bewusstsein in neues aktuelles retentionales Bewusstsein. Das wahrgenommene Objekt verschiebe sich also in »frisch erinnerter Bewegung« von Retention zu Retention, wobei die Klarheit, in der die Erscheinung des Empfi ndungsinhalts zur Kenntnis genommen wird, im Verlauf der Sukzession abnehme, bis er schließlich völlig verschwinde. Hierbei geht Husserl davon aus, dass, ideell betrachtet, es durchaus denkbar sei, dass Retentionen als »leere« unendlich lange im Bewusstsein bestehen können (vgl. ebd.: 391). Die ursprüngliche Form der Kenntnisnahme der sich wandelnden Zeitbestimmung der Urimpression bleibe jedoch die temporale Form des Präsens. So sei auch die Retention selbst in der temporalen Form des Präsens gegeben. jekt aus dem Material der erlebten Inhalte in der Weise der Auffassung konstituiert. Der Gegenstand ist aber nicht bloß die Summe oder Komplexion dieser ›Inhalte‹, die in ihn gar nicht eingehen, er ist mehr als Inhalt und anderes. Die Objektivität gehört zur ›Erfahrung‹ und zwar zur Einheit der Erfahrung, zum erfahrungsgesetzlichen Zusammenhang der Natur. Phänomenologisch gesprochen: die Objektivität konstituiert sich eben nicht in den ›primären‹ Inhalten, sondern in den Auffassungscharakteren und in den zu den Wesen dieser Charaktere gehörigen Gesetzmäßigkeiten.« (Ebd.: 372f.)

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Husserl beschreibt diese Modi der zeitlichen Orientierung, die für alle Zeitobjekte6 gelten sollen, am Beispiel der Wahrnehmung eines Tones bzw. einer Abfolge von Tönen: »Der ›Quellpunkt‹, mit dem die ›Erzeugung‹ des dauernden Objektes einsetzt, ist eine Urimpression. Dies Bewusstsein ist in ständiger Wandlung begriffen: stetig wandelt sich das leibhafte Tonjetzt in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Tonjetzt das in die Modifi kation übergegangene ab. Wenn aber das Tonjetzt, die Urimpression, in Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein Jetzt, ein aktuell Daseiendes. Während sie selbst aktuell ist (aber nicht aktueller Ton), ist sie Retention von gewesenem Ton. Ein Strahl der Meinung kann sich auf das Jetzt richten, auf die Retention, er kann sich aber auch auf das retentional Bewußte richten: auf den vergangenen Ton. Jedes aktuelle Jetzt des Bewußtseins unterliegt aber dem Gesetz der Modifi kation. Es wandelt sich in Retention von Retention und das stetig. Es ergibt sich demnach ein stetiges Kontinuum der Retention derart, daß jeder spätere Punkt Retention ist für jeden früheren. Und jede Retention ist schon Kontinuum. Der Ton setzt an und stetig setzt ›er‹ sich fort. Das Tonjetzt wandelt sich in Tongewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein.« (Ebd.: 390)

Soweit Husserls Beschreibung derjenigen Phänomene, in denen sich immanente Zeitobjekte konstituieren. Auf der Ebene der Beschreibung der Erscheinungsweise der Dauer des Tones ergibt sich hieraus für ihn folgendes: Der Ton und die Dauer, die er erfüllt, mit ihrem Anfang und ihrem Ende, sind »in einem ›beständigen Flusse‹« (ebd.: 385) des kontinuierlichen Übergangs des Jetzt in eine Retention bewusst. Die Dauer der Wahrnehmung des Tones gliedert Husserl in drei Phasen. Die erste Phase bezieht sich nur auf den ersten Zeitpunkt der Dauer des Tones, der in dieser Phase in der Weise des Jetzt bewusst sei. Insofern dieses Jetzt in ein Bewusstsein von »soeben vergangen« übergehe, schließe sich hieran eine Phase an, in der »die ganze Strecke der Zeitdauer vom Anfangspunkt bis zum Jetztpunkt« im Modus der Retention, also des »vorhin« bewusst gegeben sei. Bereits bewusst sei also die abgelaufene Dauer bis zum Jetztpunkt, nicht aber die übrige noch nicht bewusste Dauer der Strecke (vgl. ebd.: 386). In der letzten Phase, »am Endpunkt«, ist der Endpunkt »selbst als Jetztpunkt bewußt und die ganze Dauer als abgelaufen« (ebd.: 386). Im Verlauf dieses ganzen Bewusstseinsflusses, der selbst aufgrund seiner ständigen Modifikation, in keiner seiner Phase mit sich selbst identisch ist, soll laut Husserl, »der eine und selbe Ton als dauernder bewusst« sein, und zwar »als jetzt dauernder« (ebd.: 386). Auf der Ebene der Erscheinung des immanenten Objekts soll dieses also als dasselbe erscheinen. Was konstituiert jedoch diese Erscheinung? Welche Klammer garantiert die Selbstidentität dieser Einheit im Bewusstsein, wenn dass Bewusstsein, Husserls eigener Aus6 | Unter einem Zeitobjekt versteht Husserl das Empfinden der Dauer eines Objekts und nicht seinen Inhalt selbst (vgl. ebd.: 384f.).

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sage zufolge, aus einer Reihe individueller, absolut verschiedener Jetzt-Punkte besteht (ebd.: 423), die der ständigen Wandlung unterworfen sind? Wie konstituiert sich durch die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Jetzt und der Retention hindurch eine Erscheinung des Tones als derselbe? Zunächst sieht es so aus, als ob die Retention nicht nur, wie ich in den späteren Abschnitten noch eingehender erläutern werde, eine Reflexion des konstituierenden Bewusstseins erst möglich macht, sondern auch das Empfinden von Dauer, Ablauf und Veränderung eines immanenten Zeitobjektes konstituiert. Ohne diese Modifikation der Jetzt-Wahrnehmung, die, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, entgegen Husserls Absicht eine Extension des ursprünglich konstituierenden Momentes darstellt, könnte Husserl nicht erklären, wie Empfindungen in ihrer Dauer oder ihrer Veränderung oder als Teil einer Abfolge zur Kenntnis genommen werden. D.h. der Akt der Wahrnehmung muss selbst eine Dauer aufweisen (sich kontinuierlich ausdehnen) und darf sich nicht in der Empfindung des Augenblicks der Urimpression erschöpfen. Ohne eine Modifikation des Jetzt in primäre Erinnerung, dafür spricht Husserls eigene phänomenologische Beschreibung, wäre die zeitliche Bestimmung von Empfindungen in der Wahrnehmung undenkbar. Wenn zum Beispiel das Bewusstsein über die Empfindung eines Tones mit dem Augenblick seiner impressionalen Einschreibung, also dem Augenblick seines Auftauchens, verschwände und nicht retentional festgehalten werden würde, wäre es weder möglich, eine Abfolge von Tönen als eine zusammenhängende Melodie zu erkennen, noch könnte man überhaupt wissen, einen Ton soeben gehört zu haben. Würde eine aktuelle Empfindung keine Gedächtnisspur hinterlassen, die sich mit dem (nächsten) aktuellen Jetzt verbindet, bestünde das Bewusstsein aus einer Reihe unverbundener Momente. Bedeutet dies, dass keine Erklärung der Wahrnehmung ohne ein Konzept des retentionalen Bewusstseins auskommen kann und paradoxerweise erst die Retention das Phänomen jedes Wahrgenommenen konstituiert? Obgleich Husserl in seinen Beschreibungen des inneren Zeitbewusstseins dem retentionalem Bewusstsein eine zentrale Rolle zugesteht, besteht er darauf, dass die Urimpression der Retention als voll bewusste vorhergeht. Absoluter Anfang ist die Urimpression nämlich nur, und dies ist die zweite Gesetzmäßigkeit, die die zeitliche Form der Wahrnehmung bestimmen soll, wenn sie von Anfang an, ohne auf eine Erinnerung angewiesen zu sein, unmittelbar gegeben ist, d.h. bewusst wahrgenommen wird. Husserl unterstreicht hierbei ausdrücklich, dass dies nicht bedeutet, dass das wahrgenommene Objekt auch in Wirklichkeit existiert, wohl aber, »daß A [vor seiner Retention S.M.] wahrgenommen gewesen sein muß.« (Ebd.: 394)7 Wie Derrida anmerkt, darf Husserl, insofern er auf 7 | Ebenso schließt das Postulat der Gleichzeitigkeit des Wahrgenommenen und der Wahrnehmung in der Urimpression nicht aus, dass in einer Betrachtungsweise, in der objektive Zeit naiv vorausgesetzt wird, aber auch in der phänomenologischen Einstellung, transzendente und immanente Objekte durchaus dem Bewusstsein in einer Weise gegeben sind, die dem Wahrgenommenen eine Priorität vor der Wahrnehmung einräumt (vgl. ebd.: 461f.).

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die Möglichkeit objektiven Wissens beharrt, eine Temporalitätsstruktur, wie sie Freud vertritt, in der ein unbewusst Wahrgenommenes nachträglich zur bewussten Kenntnis gelangt, nicht zulassen8. Auf der Ebene des produktiven »inneren Bewusstseins«, also der ursprünglichsten aller Bewusstseinsstufen, müssen sich Wahrgenommenes und Wahrnehmung gleichzeitig konstituieren. Dementsprechend bezieht sich Husserls Verständnis von Wahrnehmung im engeren Sinn auf denjenigen Akt, der das Jetzt konstituiert (ebd.: 401). Denn nur im impressionalen Bewusstsein sei das Zeitobjekt »jetzt gegenwärtig« gegeben, in der Retention hingegen erscheine es als »vergangen«. »Beziehen wir nun die Rede von Wahrnehmung auf die Gegebenheitsunterschiede, mit denen Zeitobjekte auftreten, dann ist der Gegensatz von Wahrnehmung die hier auftretende primäre Erinnerung und primäre Erwartung (Retention und Protention), wobei Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung kontinuierlich ineinander übergehen.« (Ebd.: 399)

Obgleich Husserl behauptet, dass durch den Bewusstseinsfluss hindurch derselbe Ton erscheint, treten für ihn in der Retention und in der Impression zwei streng voneinander zu unterscheidende Inhalte in Erscheinung. Während die Urimpression eine unmittelbare Empfindung von Ton geben soll, soll die primäre Erinnerung ja eben nicht einer gegenwärtigen Empfi ndung des Tones stattgeben, sondern dessen Gegenteil: Empfindung von Vergangenem. Nur bezogen auf diesen Inhalt ist Husserl bereit, die Retention der Sphäre der Wahrnehmung zuzurechnen und seine enge Definition zu erweitern (vgl. ebd.: 401). Denn aus dieser Sicht erzeugt die Retention eine unmittelbare Anschauung des Vergangen. »Das Soebengewesen, das Vorher im Gegensatz zum Jetzt kann nur in der primären Erinnerung direkt erschaut werden; es ist ihr Wesen, dieses Neue und Eigentümliche zur primären, direkten Anschauung zu bringen, genauso wie es das Wesen der Jetztwahrnehmung ist, das Jetzt direkt zur Anschauung zu bringen.« (Ebd.: 401)

Dem widerspricht nicht, dass Husserl bezogen auf die Empfindung des Tones als eines erscheinenden Inhalts die primäre Erinnerung als Nicht-Wahrnehmung betrachtet. Denn aus dieser Sicht gibt die Retention keine erneute präsente Anschauung des vergangenen Tones, sondern eine präsente Anschauung des Vergangen, die auf eine vorhergehende Impression zurückweist (vgl. ebd.: 393): 8 | »Es ist eben ein Unding von einem unbewußten Inhalt zu sprechen, der erst nachträglich bewußt würde. Bewußtsein ist notwendig Bewußtsein in jeder seiner Phasen. Wie die retentionale Phase die voranliegende bewußt hat, ohne sie zum Gegenstand zu machen, so ist auch schon das Urdatum bewußt – und zwar in der eigentümlichen Form des jetzt – ohne gegenständlich zu sein […]. […] Retention eines unbewußten Inhalts ist unmöglich […].« (Husserl zit.n. Derrida 1979: 118)

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»Man spricht von Abklingen, Verblassen usw. der Empfi ndungsinhalte, wenn eigentliche Wahrnehmung in Retention übergeht. Nun ist es aber schon nach den bisherigen Ausführungen klar, daß die retentionalen ›Inhalte‹ gar keine Inhalte im ursprünglichen Sinne sind.« (Ebd.: 392)

Und weiter unten: »Das retentionale Bewußtsein enthält reell Vergangenheitsbewußtsein vom Ton, primäre Tonerinnerung, und ist nicht zu zerlegen in empfundenen Ton und Auffassung in Erinnerung.« (Ebd.: 393)

Diese doppelte Bestimmung des Verhältnisses der Retention zur Wahrnehmung verschärft die oben aufgeworfene Frage danach, wodurch Husserl die Selbigkeit der Erscheinung des Zeitobjektes durch den sich fortlaufend modifizierenden Bewusstseinsfluss gegeben sieht. Wenn die primäre Erinnerung einen Gegensatz zur Wahrnehmung darstellt, und sie nur bezogen auf das Vergangene präsente, d.h. unmittelbar bewusste Wahrnehmung ist, wie vollzieht sich dann der Übergang der Wahrnehmung in die Nicht-Wahrnehmung, ohne die Selbstidentität des Zeitobjektes im Fluss zu gefährden? Anders formuliert: Was garantiert Husserl, dass, »was ich retentional bewußt habe […] absolut gewiß [ist]« (ebd.: 407), wenn die Retention das Zeitobjekt nicht ursprünglich setzt und nur den Verweis auf Vergangenes gibt? Husserl selbst begegnet dieser Schwierigkeit, indem er zunächst die Vorstellung zurückweist, dass der einheitliche Eindruck eines Gegenstandes durch unterschiedliche Zeitempfindungen hindurch auf einem Vergleich von Original und Kopie beruht: »Als ob zum Wesen der Erinnerung gehörte, daß ein im Jetzt vorhandenes Bild für eine andere ihm ähnliche Sache supponiert würde und ich wie bei bildlicher Darstellung vergleichen könnte und vergleichen müßte. Erinnerung bzw. Retention ist nicht Bildbewußtsein, sondern etwas total anderes. […] Ein Vergleichen des nicht mehr Wahrgenommenen, sondern bloß retentional Bewußten mit etwas außer ihm hat gar keinen Sinn.« (Ebd.: 394)

Stattdessen bleibt für ihn ausschlaggebend, dass die Retention selbst im Modus des Jetzt gegeben ist, was den Zusammenfall der Wahrnehmung mit ihrem Gegenstand, in diesem Fall dem Vergangenen, versichern soll. Deshalb muss Husserl die Retention zumindest bezogen auf diese Dimension der Wahrnehmung im engeren Sinn zurechnen. »Es ist grundverkehrt zu argumentieren: wie kann ich im Jetzt von einem Nicht-Jetzt wissen, da ich das Nicht-Jetzt, das ja nicht mehr ist, nicht vergleichen kann mit dem Jetzt (nämlich dem im Jetzt vorhandenen Erinnerungsbild). […] Das Erinnerte ist freilich jetzt nicht – sonst wäre es nicht Gewesenes, sondern Gegenwärtiges, und in der Erinnerung (Retention) ist es nicht als jetzt gegeben, sonst wäre Erinnerung bzw. Retention eben nicht Erinnerung, sondern Wahrnehmung (bzw. Ur-Impres-

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sion). […]. Wie ich in der Wahrnehmung das Jetztsein erschaue und in der extendierten Wahrnehmung, so wie sie sich konstituiert, das dauernde Sein, so erschaue ich in der primären Erinnerung das Vergangene, es ist darin gegeben, und Gegebenheit von Vergangenem ist Erinnerung.« (Ebd.: 394f. Hervorh. i. Orig.)

An dieser Stelle wird deutlich, warum »nur eine Temporalität, die von einem lebendigen Präsens als von ihrer Quelle, vom Jetzt als ihrem ›Quell-Punkt‹ ausgeht, die Reinheit der Idealität, d.h. den Zugang der unendlichen Wiederholung zum Selben, gewährleisten kann« (Derrida 1979: 108). Die Retention, deren Bedeutung für die Konstitution des Zeitempfindens als Voraussetzung für die Empfindung der Dauer, Abfolge oder Veränderung eines Objektes sowie für die Reflexion der zeitkonstituierenden Phänomene von Husserl an keiner Stelle seiner Untersuchungen geleugnet wird, gibt das Vergangene nur in absoluter Gewissheit, wenn in der Wahrnehmung im engeren Sinn, also in der Urimpression, Wahrgenommenes und Wahrnehmung gleichzeitig auftreten. Es ist diese Gleichzeitigkeit, in der das Wahrgenommene ohne jede Vermittlung wahrgenommen werden soll, auf die sich nicht nur das Primat der Urimpression, sondern auch das Postulat der unmittelbaren Anschauung des Vergangenen in der Retention gründet. Dies zeigt sich auch in Husserls Konzept der objektiven Zeit, die versichern soll, dass die Wahrnehmung von Zeitobjekten und ihre zeitliche Bestimmtheit in Wiedererinnerungen wiederholt werden kann. »Zur Konstituierung der Zeit gehört die Möglichkeit der Identifizierung: ich kann immer wieder eine Rückerinnerung (Wiedererinnerung) vollziehen, jedes Zeitstück mit seiner Fülle immer ›wieder‹ erzeugen, und nun in der Folge von Wiedererzeugungen, die ich jetzt habe, dasselbe erfassen: dieselbe Dauer mit demselben Inhalt, dasselbe Objekt. Das Objekt ist eine Einheit des Bewußtseins, die in wiederholten Akten (also in zeitlicher Folge) sich als dieselbe herausstellen kann, Identisches der Intention, das in beliebig vielen Bewußtseinsakten identifizierbar und zwar in beliebig vielen Wahrnehmungen wahrnehmbar oder wieder wahrnehmbar ist. Ich kann mich ›jederzeit‹ von dem identischen ›es ist‹ überzeugen.« (Husserl 1928: 461)

Die Voraussetzung für Wiedererinnerungen, die eine identische Deckung des Erinnerten mit der originären Wahrnehmung des Objektes und seinem individuellen Zeitfeld garantieren können sollen, sieht Husserl erneut, neben der Produktivität des Bewusstseins, durch das retentionale Bewusstsein geschaffen. Insofern in der Retention die ursprüngliche Empfi ndung und ihre originäre Zeitstelle9 beim Zurücksinken in die Vergangenheit er9 | Der Ausdruck »originäre Zeitstelle« bezieht sich auf die ursprüngliche Temporalform der Empfindung: das reine Jetzt, das im Zuge der stetigen Modifi kation des zeitkonstituierenden Flusses im retentionalen Bewusstsein zum jetzt vergangenem Jetzt, jetzt vergangenem vergangenem Jetzt usw. wird. »Das stetige Hervorschnellen immer neuer Urimpressionen ergibt in der Auffassung derselben als individueller

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halten bleibe, sei es möglich diese zu reproduzieren und mit der noch präsenten primären Erinnerung zu identifizieren: »Jeder zurückgeschobene Zeitpunkt kann vermöge einer reproduktiven Erinnerung zum Nullpunkt einer Zeitanschauung gemacht werden und wiederholt gemacht werden. Das frühere Zeitfeld, in dem das gegenwärtig Zurückgeschobene ein Jetzt war, wird reproduziert und das reproduzierte Jetzt mit dem noch in frischer Erinnerung lebendigen Zeitpunkt identifiziert: die individuelle Intention ist dieselbe.« (Ebd.: 425)

Diese Möglichkeit die Urimpression beliebig oft erinnernd zu reproduzieren konstituiere »das Bewußtsein einer einheitlichen, homogenen, objektiven Zeit.« (ebd.: 425)10 Nun gesteht aber auch Husserl ein, dass die erinnernde Reproduktion eigentlich immer die Möglichkeit des Irrtums in sich einschließt (vgl. ebd.: 407f.). Um die Konstruktion der Möglichkeit einer unbegrenzten allgemeinen objektiven Identifizierung von Objekten aufrechterhalten zu können, ist Husserl gezwungen, zwei Formen der Reproduktion voneinander zu unterscheiden: die der Retention und Wiedererinnerung, die zum »originären Zeitfeld« gehören sollen, und die der Phantasie. In der Retention soll die Urimpression ja unmittelbar als »soeben vergangen« gegeben sein, weshalb das retentionale Bewusstsein »von etwas« immer »absolut gewiß« sein soll (ebd.: 407). In der Wiedererinnerung, die innerhalb von Husserls Unterscheidungen zum Feld der so genannten »sekundären Erinnerung« gehört, kann es »absolute Gewissheit« jedoch nur geben, wenn die Reproduktion mit der Retention zur Deckung gebracht wird und, Retention für Retention zurückverfolgend, letztendlich selbst in der Erfüllung des vergangenen ursprünglichen Jetzt mündet. In Abgrenzung zur Phantasie stellt Husserl klar, dass der Prozeß der Wiedererinnerung als ein Vergegenwärtigungsfluß vorzustellen sei, der selbst produktiv dieselben Phasen durchlaufe wie der ursprüngliche Bewusstseinsstrom: »Wie kommt die Beziehung auf ein Vergangenes hinein, das doch originär nur gegeben sein kann in der Form des ›soeben vergangen‹? Für diese Frage ist es nötig, eine Scheidung vorzunehmen, die wir bislang unterlassen haben, nämlich zwischen bloßer Phantasie von einem zeitlich extendierPunkte immer wieder neue und unterschiedene Zeitstellen, die Stetigkeit ergibt eine Stetigkeit der Zeitstellen, im Fluß der Vergangenheitsmodifi kation steht also ein stetiges, tonal erfülltes Zeitstück da, aber so, daß nur ein Punkt davon durch Urimpression gegeben ist, und daß von da aus die Zeitstellen stetig in modifizierter Abstufung erscheinen, zurückgehend in die Vergangenheit.« (Ebd.: 424) 10 | Für die »objektive« Zeit gilt das Gesetz der stetigen Modifi kation nicht. Im Gegensatz zu dem Fluss, in dem das Phänomen der objektiven Zeit entsteht, zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie einem Zeitobjekt wie dem Ton »seine absolut feste Stelle« in der Zeit gibt (ebd.: 420).

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ten Objekt und Wiedererinnerung. In der bloßen Phantasie ist keine Setzung des reproduzierten Jetzt und keine Deckung desselben mit einem vergangenen gegeben. Die Wiedererinnerung dagegen setzt das Reproduzierte und gibt ihm in dieser Setzung Stellung zum aktuellen Jetzt und zur Sphäre des originären Zeitfeldes, dem die Wiedererinnerung selbst angehört. Nur im originären Zeitbewußtsein kann sich die Beziehung zwischen einem reproduzierten Jetzt und einem Vergangen vollziehen. Der Vergegenwärtigungsfluß ist ein Fluß von Erlebnisphasen, der genau so wie jeder zeitkonstituierende Fluß gebaut, also selbst ein zeitkonstituierender ist.« (Ebd.: 409)

Die Selbstpräsenz des Präsens, die Urquelle jeglichen Bewusstseins und Seins, kann demnach nur in Zusammenschluss mit der Retention und der Wiedererinnerung die Grundlage für die Möglichkeit absoluten Wissens bilden. Und absolute Gewissheit ist in erster Instanz durch die radikale Selbstbezogenheit des Bewusstseins definiert. Noch einmal: Gewissheit bedeutet für Husserl nicht, dass ein dem Bewusstsein äußerliches Ereignis mit einem innerlichen in Einklang gebracht wird, wohl aber, dass eine »zweifellose Wahrheit« darüber hergestellt werden kann, ob eine Urimpression und ihre zeitliche Verlaufsform stattgefunden hat oder nicht (vgl. ebd.: 408). Damit hängt aber die Möglichkeit einer unbegrenzt häufigen, objektiven und allgemeinen Wiederholung einer idealen Einheit davon ab, ob ihr wesentliches Element, die Annahme der Selbstpräsenz des Präsens, die Selbstursprünglichkeit und direkte Unmittelbarkeit, die das urimpressionale Jetzt-Moment auszeichnen soll, aufrecht zu erhalten ist. In »Die Stimme und das Phänomen« arbeitet Derrida heraus, dass dies erfordert, die Sphäre des »inneren Bewusstseins« freizuhalten von jeder fremden Äußerlichkeit, sie zu schützen vor jedem Bezug zu einem Anderen. Denn nur wenn die Urimpression einen abgeschlossenen Ort reiner Idealität bildet, kann die Produktion des Wahrgenommenen und die Wahrnehmung zusammenfallen und in Zusammenschluss mit der Retention und der Wiedererinnerung Objektivität ermöglichen. Dies bedeutet vor allem, dass die ideale Sphäre der reinen Selbstpräsenz nicht durch den repräsentativen Charakter von Sprache gestört werden darf. Denn das Konzept des Zeichens führt unumgänglich einen Abstand zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat ein. Deshalb, so Derrida, der wiederholte Versuch in der Philosophie, die Zeichenhaftigkeit des Wortes, also seine so genannte sinnliche Form, auf eine repräsentative Struktur zu reduzieren, die vorgeblich selbst keinen Sinn produziert. Vielmehr darf im Streben nach absoluten Wissen die Identität eines Wortes nicht verknüpft sein mit einem dem Bewusstsein Äußerlichen: »Die Struktur des Diskurses kann Husserl zufolge nur als die einer Idealität beschrieben werden: Idealität der sinnlichen Form des Signifi kanten (z.B. des Worts). Die dieselbe bleiben muss und dies nur als Idealität vermag; Idealität des Signifi kats (der Bedeutung*) oder des vermeinten Sinns, der sich weder mit dem Akt des Meinens noch mit dem Gegenstand selbst vermischen darf, da die letzteren unter Umständen auch nicht ideal sein können; und schließlich in ge-

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wissen Fällen die Idealität des Gegenstandes selbst, die dann (und das macht die exakten Wissenschaften aus) die ideale Transparenz und die uneingeschränkte Eindeutigkeit der Sprache bezeugt. Diese Idealität aber, die nur der Name für die Permanenz des Selben und die Möglichkeit seiner Wiederholung ist […] hängt […] völlig von der Möglichkeit der Wiederholungsakte ab.« (Derrida 1979: 106f.)

Dieser Versuch, die Unmittelbarkeit einer sinnhaften Einheit sicherzustellen, schließt mit ein, dass der Akt der Produktion von Sinn und der der Kenntnisnahme hiervon »im selben Augenblick« stattfinden müssen. Wenn die repräsentative Funktion des Signifikanten nicht zum wesentlichen Kern eines sprachlichen Elements gehören darf, da die signitive Vermittlung qua Definition einen Abstand zur ursprünglichen Produktion des Signifikats in sich birgt, kann die Selbstidentität einer idealen Einheit nur durch den zeitlich direkten Bezug zum Bewusstsein, also zur Selbstpräsenz geschützt werden. Der Versuch, den Signifikanten aus der eigentlichen Einheit von Sinn auszuschließen, dies zu zeigen ist eines der zentralen Anliegen von Derridas frühen Schriften, soll die direkte Präsenz des Sinns im Bewusstsein garantieren.

2.1.2 Die Dekonstruk tion der zeitlichen Einheit von Wahrgenommenem und Wahrnehmung Nun machen aber Derridas Interpretationen von Husserl deutlich, dass Husserls eigene Untersuchungen zur Konstitution des inneren Zeitbewusstseins die Punktualität des »Jetzt als ›Urform‹ (Ideen I) des Bewusstseins« (Derrida 1979: 118) in Frage stellen und dass sich die Repräsentation nicht aus der Bildung einer idealen Einheit ausschließen lässt und damit deren einfache Selbstidentität radikal untergräbt. Denn das Vermögen, eine ideale Einheit beliebig häufig zu wiederholen, ohne ihre Identität hierbei im Geringsten zu verändern, hängt davon ab, ob Husserls Konzept der unmittelbaren Selbstpräsenz überzeugend ist. Mit anderen Worten: der Akt der Wahrnehmung und das Wahrgenommene müssen in der ursprünglichen Sphäre des impressionalen Bewusstseins im selben Augenblick auftreten. Das Wahrgenommene muss unmittelbar, von Anfang an bewusst wahrgenommen sein, was auch bedeutet, dass das »Jetzt«, das ja der Inhalt der Urimpression darstellen soll, eine unteilbare Einheit bilden muss. Diese Behauptung Derridas wird durch Husserls eigenes Insistieren auf die Notwendigkeit einer Urimpression vor der Retention und auf die »strikte Gleichzeitigkeit« von Wahrnehmung und Wahrgenommenen in der Sphäre des »inneren Bewusstseins« bestätigt. Derrida schreibt hierzu: »Dem Nu des Augenblicklichen (pointe de l’instant) oder der in ein und demselben Augenblick (instant) eintretenden Identität des sich selbst präsenten Erlebnisses ist […] die ganze Argumentationslast aufgebürdet. Die Selbstpräsenz muß sich in der ungeteilten Einheit eines temporalen Präsens vollziehen, um zu verhindern, daß sich durch die Vermittlungskraft (procuration) des Zeichens etwas wissen läßt.« (Ebd.: 115)

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Aber obwohl Husserls Überlegungen, insbesondere sein Konzept der einen objektiven Zeit, auf der Punktualität des »Jetzt« beruhen, sprechen, wie in dem vorhergehendem Kapitel zum Teil schon deutlich geworden ist, seine Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein dafür, dass in seinem Denken »von einer schlichten Selbstpräsenz des Präsens/des Präsenten« (ebd.: 118) keine Rede sein kann. Weil seine phänomenologischen Beschreibungen sich insbesondere darauf konzentrieren die Notwendigkeit der Ausdehnung von Wahrnehmung zu unterstreichen, kann in seiner Arbeit entgegen seinem Konzept des »ursprünglichen Quellpunktes« auch »die Präsenz des Präsens nur insofern erscheinen […], als sie sich kontinuierlich mit einer Nicht-Präsenz und einer Nichtwahrnehmung […] zusammenschließt.« (Ebd.: 119) Denn ohne die stetige Modifikation der Urimpression, also des »Jetzt«, in ein retentionales Bewusstsein des »soeben gewesenen Jetzt«, also ein Bewusstsein, das sich auf eine Nicht-Präsenz bezieht, wäre nach dem Verlöschen der Urimpression keine weitere Bezugnahme auf die Urimpression möglich. »Diese Nicht-Wahrnehmungen«, so wendet Derrida gegen Husserls Privilegierung des Jetzt ein, »begleiten oder fügen sich nicht etwa nur eventuell dem aktuell wahrgenommenem Jetzt hinzu, sondern sie partizipieren unverzichtbar und wesentlich an seiner Möglichkeitsbedingung.« (Ebd.: 119) Ohne den Übergang der Urimpression zur Retention könnte Husserl, und dies ist nur eine Konsequenz seiner eigenen Theorie, diese gar nicht zur Kenntnis nehmen. Wie könnte er ihr Auftauchen bemerken, wenn diese nicht retentional festgehalten werden würde? Wie könnte Husserl ohne Retention die Präsenz des Präsens identifizieren und vergegenständlichen? Schließlich beschreibt er selbst die primäre Erinnerung als konstituierende Kraft des zumindest ideell unendlichen Zugangs zum Selben und das heißt zum identifizierenden Bewusstsein: »Die Retention konstituiert den lebendigen Horizont des Jetzt, ich habe in ihr ein Bewußtsein des ›soeben vergangen‹, aber originär konstituiert sich dabei […] nur die Zurückschiebung der Jetztphase bzw. der […] nicht mehr wahrgenommenen Dauer. In Deckung mit diesem sich zurückschiebenden ›Resultat‹ kann ich aber eine Wiedererzeugung vornehmen.« (Husserl 1928: 402 Hervorh. i. Orig. S.M.)

Die kontinuierliche Wandlung des Jetzt und der Retention, die bei Husserl zumindest implizit eine Identifizierung überhaupt erst zu ermöglichen scheint, verhindert demnach nicht nur, dass keine Phase des konstituierenden Flusses »in Identität mit sich selbst« (Husserl 1928: 429; vgl. Derrida 1979: 121) kommen könnte, sondern auch die reine Selbstidentität des Jetztpunktes. Anders formuliert: der schlichten Selbstidentität der temporalen Form des Präsens, der vorgeblichen Urquelle jeglichen geistigen Lebens. Erst in der Form des »soeben vergangen« kann das Jetzt »zu sich selbst« kommen, sich dem Bewusstsein präsentieren. Bemerkenswerterweise präsentiert es sich dann aber in der Gestalt des Nicht-Jetzt. Wenn das Präsens aber nur dadurch zur Präsenz kommt, dass es retentional festgehalten wird, dann bedeutet dies für die urimpressionale Phase, dass sie nur in Beziehung

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zu ihrer eigenen Endlichkeit festgehalten werden kann. Ohne diesen Bezug zur Nicht-Präsenz, dies ist eine von Derridas zentralen Argumenten, ist ein bewusster Bezug zu etwas Präsenten nicht denkbar, nicht nur nicht ›tatsächlich‹, sondern auch nicht ideell11. »Noch einmal: diese Beziehung zur Nicht-Präsenz überrumpelt und umschließt, d.h. dissimuliert die Präsenz der ursprünglichen Impression nicht, sondern ermöglicht vielmehr erst deren Auftreten und deren Unbeflecktheit. Aber sie zerstört auch radikal jegliche Möglichkeit der schlichten Selbstidentität.« (Derrida 1979: 121)

Demnach lässt sich die Retention also nicht aus dem Inneren der Möglichkeit von Präsenz ausschließen. Hiermit beginnt Derridas Argument, dass sich die Sphäre des »inneren Bewusstseins«, die zumindest ideell in ihrer Selbstursprünglichkeit und Unmittelbarkeit die Möglichkeit von Gewissheit schaffen sollte, nicht von der »Spanne« freihalten lässt, die aufgrund der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat die repräsentierende Funktion des Zeichens charakterisiert. Wie begründet Derrida jedoch diese Assoziation von Retention und Repräsentation, die Husserl, wie Derrida selbst hervorhebt (vgl. ebd.: 121), niemals zugelassen hätte, weil das Zeichen für ihn zur Sphäre der Nicht-Ursprünglichkeit, der »Re-präsentation« gehört, die Retention hingegen dem Ursprung zuzuordnen ist? Die Grenze zwischen Ursprung und Nicht-Ursprung, so rechtfertigt Derrida diesen Schritt, verläuft bei Husserl entgegen seiner eigenen Absicht »nicht zwischen (dem) reine(n) Präsens und (dem) Nicht-Präsens, zwischen (der) Aktualität und (der) Nicht-Aktualität eines lebendigen Jetzt, sondern zwischen (den) beiden Formen der Rückkehr (re-tour) oder der Re-stitution des Präsens: zwischen (der) Retention und (der) Repräsentation.« (Ebd.: 122) Auch wenn dieser Grenzverlauf Husserl in ernsthafte Schwierigkeiten bringt, kann er ihn nicht vermeiden. Denn insofern das Jetzt »sich nur im Kontinuitätszusammenhang mit der als Nicht-Wahrnehmung verstandenen Retention zur absoluten ›Quelle‹ der Wahrheit« (ebd.: 122) konstituiert, muss Husserl dieses Moment der Nicht-Wahrnehmung in der Ursprungszone zulassen. Da-

11 | Ebenso wie für Husserl die Möglichkeit der absoluten Bestimmung eines Gegenstandes nur eine ideale Möglichkeit ist, die ›tatsächlich‹ niemals erreicht werden kann (vgl. Husserl 1986 [1925/26]: 75ff.; Derrida 1979: 159), begreift Husserl auch die Reinheit der Selbstpräsenz als eine unendlich aufgeschobene Idealität: »Im idealen Sinne wäre dann Wahrnehmung (Impression) die Bewußtseinsphase, die das reine Jetzt konstituiert, und Erinnerung jede andere Phase der Kontinuität. Aber das ist eben nur eine ideale Grenze, etwas Abstraktes, das nichts für sich sein kann. Zudem bleibt es dabei, daß auch dieses ideale Jetzt nicht etwas toto coelo Verschiedenes ist vom Nicht-Jetzt, sondern kontinuierlich sich damit vermittelt. Und dem entspricht der kontinuierliche Übergang von Wahrnehmung zu primärer Erinnerung.« (Husserl 1928: 400)

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mit wird jedoch die Annahme der »Nicht-Selbstidentität der so genannten ursprünglichen Präsenz mit sich selbst« (ebd.: 123) unumgänglich. »In all diesen Hinsichten wird die Präsenz des Präsens/des Präsenten stets vom Wendepunkt (pli) der Wiederkehr, von der Wiederholungsbewegung her – und nicht umgekehrt – gedacht. Verbietet nicht der Umstand, daß dieser Wendepunkt in der Präsenz oder in der Selbstpräsenz irreduzibel ist und daß diese Spur und diese Differänz (différance) der Präsenz immer schon vorausliegt und für deren (Er-)Öff nung (ouverture) sorgt, die Rede von einer einfachen Selbstidentität im selben Augenblick*?« (Ebd.: 123)

Die Bewegung der différance, die der Konstitution der Präsenz des Präsens unumgänglich innewohnt und ihre Selbstidentität radikal untergräbt, weil sie sich immer in »einer beendeten/endlichen (fini) Retentionsbewegung zurückhält«, (ebd.: 123), muss somit als »›ursprünglicher‹ als die phänomenologische Ursprünglichkeit selbst« begriffen werden (ebd.: 122) und stellt die Husserlsche Grenze zwischen Ursprung (Rückkehr des Präsens als Retention) und Nicht-Ursprung (Restitution des Präsens als Repräsentation) in Frage. Und obwohl die Retention und die Repräsentation für Derrida nicht dasselbe sind, lässt sich sein Beharren darauf, dass sie eine »gemeinsame Wurzel« besitzen, nicht abstreiten: »nämlich die Möglichkeit der Wiederholung in ihrer allgemeinsten Form und die Spur (trace) im universalsten Sinne« (ebd.: 122).

2.1.3 Die Dif ferenz in der Selbstbeziehung: Temporalisation und Verräumlichung Das von Derrida in späteren Texten in recht allgemeiner Form vertretene Verständnis der Iterabilität als Wiederholung und Andersheit muss vor dem Hintergrund dieser Spur verstanden werden. Wenn Derrida die Funktion der Retention in dem sich vorgeblich selbstpräsenten Bewusstseinsstrom bei Husserl hervorhebt, um das Wirken einer allgemeinen Spur in der Konstitution der Selbstpräsenz aufzudecken, so geht es ihm nicht nur um den zeitlichen Aspekt der hierdurch – entgegen Husserls Willen – eingeführten Differenz. Das »Zurückhalten« des Präsens in der Retention, das die Selbstpräsenz gleichzeitig konstituiert und in ihrer Selbstidentität untergräbt, impliziert nach Derrida auch eine Andersheit, die über die Beziehung der Präsenz zu einem »anderen (vergangenen) Präsens« hinausgeht. Während Husserl bemüht ist, trotz des Eingeständnisses, dass die Retention nicht völlig aus der Ursprungszone auszuschließen ist, die unmittelbare Präsenz des Signifi kats zu sichern, zeigt Derrida, dass diese Spur »von einem Präsens her undenkbar [ist], dessen Leben sich selbst innerlich wäre« (ebd.: 142). Husserl beschreibt die der Präsenz des Präsens inhärenten Selbstbeziehung, also die Erzeugung der Retention, die das Vergangene im Modus des selbstursprünglichen und unteilbaren »Jetzt« festhalten soll, als eine rein zeitliche und d.h. auch ideale Angelegenheit. Zur Erinnerung: Ver-

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gegenwärtigung ist nur möglich, wenn es eine universale nicht-empirische Form des Bewusstseins12 gibt, in der die Übereinstimmung des Vergegenwärtigten und dessen originalen Gegenstandes darauf basiert, dass der Vergegenwärtigungsfluss ebenfalls ein zeitkonstituierender ist und das zurückliegende Zeitmoment identisch reproduzieren kann. Um diese ursprünglich erzeugende Kraft zu schützen muss Husserl versuchen die Sphäre der vorausdrücklichen Sinnschicht von jedem äußerlichen Signifi kanten freizuhalten. Denn wenn die Erzeugung des Sinns dem Bewusstsein nicht unmittelbar präsent ist, bleibt das absolute Bewusstsein Bedingungen unterworfen, die sich seiner Kontrolle entziehen und die Gewissheit der identischen Reproduktion zerstören. Somit ist der Ursprung des Sinns für Husserl zeitlicher Natur. Dies streitet auch Derrida nicht ab (vgl. ebd.: 142f.). Die in Husserls Beschreibung der Präsenz des Präsens enthaltene Selbstbeziehung, die Retention, verliert bei Husserl jedoch nicht ihren rein zeitlichen und damit idealen Charakter. Demgegenüber insistiert Derrida darauf, dass das Denken einer solchen »Zeitlichkeit« notwendigerweise eingebunden ist in eine der Zeit fremde Äußerlichkeit, die die Präsentation der Zeit als eine ideale Innerlichkeit stört. Der retentionale Selbstbezug stellt die Präsenz des Präsens her, das war das zentrale Argument des vorhergehenden Kapitels. »Das ›Sich‹ des lebendigen Präsens«, so schreibt Derrida, »ist ursprünglich eine Spur.« Diese Spur kann aber nicht von einem Präsens aus gedacht werden, das sich selbst erzeugt, »dessen Leben sich« also »selbst innerlich wäre« (ebd.: 142). Dieses Heraustreten betriff t sowohl die vorgebliche Selbstursprünglichkeit als auch die von Husserl zugrundegelegte Innerlichkeit des intentionalen Bewusstseins. »Der Raum ist ›in‹ der Zeit, er ist das reine Sich-Entäußern der Zeit, er ist das Außer-sich als Selbstbeziehung der Zeit. Die Äußerlichkeit des Raums, die Äußerlichkeit als Raum, kommt nicht zur Zeit hinzu, sondern eröffnet sich vielmehr als reines ›Außen‹ ›in‹ der Bewegung der ›Zeitigung‹. […] Das Sich-in-die-WeltEntlassen ist der Bewegung der ›Zeitigung‹ ursprünglich implizit. Die ›Zeit‹ kann deshalb keine ›absolute Subjektivität‹ sein, weil sie vom Präsens und von der Selbstpräsenz eines präsenten Seienden her nicht zu deuten ist.« (Ebd.: 143, Hervorh. i. Orig. S.M.)

Warum kann sowohl die Spur als auch die »Zeit« nicht von einem selbstursprünglichen und rein innerlichem Präsens aus gedacht werden? Wenn der zeitkonstituierende Bewusstseinsstrom aus einem Zusammenschluss des punktuellen »Jetzt« mit seiner Retention besteht und das Empfi nden der Dauer eines Objekts von diesem Zusammenschluss abhängt 13, dann gerät die ideale Form des Präsens selbst in die Position, Objekt ihrer Wahr12 | Insofern das zeitkonstituierende Bewusstsein Husserl zufolge die Möglichkeit der Erfahrung erst konstituiert, muss es selbst aus phänomenologischer Sicht als nicht-empirisch betrachtet werden. 13 | Eine Schlussfolgerung, die Husserl selbst nicht zulässt und zu vermeiden

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nehmung zu werden. Zwar betont Husserl, dass die Retention eine präsente Wahrnehmung des Nicht-Jetzt, also des »soeben-gewesen« darstellt, aber insofern in der Retention eine zeitliche Verortung einer vorhergehenden Urimpression stattfindet, wird die bewusstseinskonstituierende Form der Zeit selbst zu einem Teil des in ihr Erscheinenden. Die Retention impliziert, dass das zeitkonstituierende Bewusstsein zum Objekt seiner selbst wird. Diese Selbstbeziehung ist ihr spezifisches Charakteristikum. Die Retention, so beschreibt Husserl selbst die primäre Erinnerung, enthält eine doppelte Intentionalität. Damit eine Retention den Gegenstand einer vergangenen Urimpression im Modus des »Vorhin« geben kann, muss es gleichzeitig einen Strahl seiner Auffassung auf das (vergangene) Zeitobjekt richten und auf den vorangegangen Jetztpunkt, in dem die Auffassung gegeben war. Jede Retention, schreibt Husserl, »ist Vergangenheitsbewusstsein von dem entsprechenden früheren Jetztpunkt und gibt ihn im Modus des Vorhin, der seiner Stellung in der abgelaufenen Dauer entspricht.« (Husserl 1928: 433) Die Retention ermöglicht also nicht nur, »daß das Bewußtsein zum Objekt gemacht werden kann« (ebd.: 472), sondern es erfordert sogar diese Möglichkeit, wenn die Retention als eine dem zeitkonstituierendem Bewusstsein zugehörige Phase betrachtet wird: »Diese präphänomenale, präimmanente Zeitlichkeit konstituiert sich intentional als Form des zeitkonstituierenden Bewußtseins und in ihm selbst. Der Fluß des immanenten zeitkonstituierenden Bewußtseins ist nicht nur, sondern so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß. Die Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phänomen konstituiert er sich in sich selbst.« (Ebd.: 436)

An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage, ob mit der Notwendigkeit der doppelten Intentionalität nicht unumgänglich eine Überschreitung der Idealität und Innerlichkeit der Subjektivität verbunden ist. Denn wenn der zeitkonstituierende Fluss erst die ideale Form der Dauer eines Wahrnehmungsobjektes konstituiert und die Konstitution der Empfindung dieser Dauer die Voraussetzung dafür ist, dass etwas als ein Objekt wahrgenommen werden kann, wie kann dann das (vergangene) Jetzt zum Objekt von Wahrnehmung werden? Wenn die Konstitution des Zeitempfindens selbst davon abhängt, dass sie als Zeitobjekt gegeben wird, stellt diese Abhängigkeit die absolute Selbstursprünglichkeit des Bewusstseins in Frage. Wenn allein die ideale Form der Zeit die Möglichkeit von Wahrnehmung hervorbringt, wie kann man dann innerhalb dieser Annahme erklären, dass der der Möglichkeit von Wahrnehmung vorausliegende Fluss selbst nur unter der Bedingung besteht, dass er bereits wahrgenommen worden ist? Insofern die Retention sucht. [Vgl. Husserls Ausführungen zum »unendlichen Regress« in seinen »Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein« (Husserl 1928: 473).]

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ein unerlässlicher Bestandteil des Wahrnehmung gebenden Bewusstseinsstrom sein soll, lässt sie sich nicht von einer selbstursprünglichen und d.h. auch rein idealen Gegenwart aus erklären. Zudem muss jede Beschreibung dieser Selbstursprünglichkeit als metaphorisch betrachtet werden, sobald man, wie Husserl, von der Selbstursprünglichkeit der »Zeit« ausgeht. Denn aus dieser Sicht entstammen die Termini, die diese Bewegung ausdrücken sollen, notwendigerweise dem begriffl ichen Rahmen von Erfahrungsgegenständen, die durch diese Bewegung erst hervorgebracht werden (vgl. hierzu Derrida 1979: 141f.). Diese metaphorische Dimension in Husserls Konzeption des sich selbst gegenwärtigen Bewusstseinsstroms als der idealen Form der Wahrnehmung und die Tatsache, dass Husserls eigene Beschreibung des Bewusstseins danach verlangt, dass die »Zeit« selbst zum Objekt ihrer eigenen Auffassung werden muss, stellen die Erklärungskraft der sich vollkommenen selbstgegenwärtigen Subjektivität in Frage. Deshalb, so verstehe ich Derridas Argumentation, ist das »Sich-in-die-Welt-Entlassen […] der Bewegung der ›Zeitigung‹ ursprünglich implizit« (ebd.: 143). Damit führt Derrida jedoch nicht eine einfache Referenz auf eine empirische Welt wieder ein. Wenn Derrida die in der Temporisation offensichtlich erforderliche Selbstbeziehung mit der graphematischen Struktur der Sprache in Verbindung bringt und behauptet, die Schrift inauguriere und vollende die Idealisierung, so meint er weder, dass die Bewegung des Signifizierens eine irreduzible empirische »Räumlichkeit« in sich birgt – etwa den Abstand zwischen dem Signifi kanten und dem Signifi kat oder dem Referenten – noch, dass das ideale Signifi kat auf seine sinnliche Verkörperung angewiesen ist. Ebensowenig meint »Verräumlichung«, dass die Konstituierung von Subjektivität von einer ihr vorhergehenden empirischen Welt und der Erfahrung des Körpers ausgeht (vgl. ebd.: 104f.). Vielmehr beharrt er darauf, dass das Konzept des konstituierenden und ursprünglichen Bewusstseinsstromes notwendigerweise eine Öffnung zum Außen einschließt, um zu zeigen, dass das Konzept der idealen Sphäre des Bewusstseins – zumindest implizit – eine Bedeutung des »Raumes« in sich trägt, die nicht nur die Opposition von Idealität/Zeit und Raum, Innen und Außen, in der der Begriff des Raumes hier angesiedelt ist, überschreitet, sondern auch das Konzept des begrifflichen Denkens erschüttert.

2.1.4 Verräumlichung der temporalen Selbstbeziehung: Die Ver webung des »vorausdrücklichen« Sinns mit der »ausdrückenden« Schicht der Bedeutung In Derridas weiterer Ausarbeitung der Dimension der Verräumlichung in der temporalen Selbstbeziehung wird deutlich, warum die Frage nach dem »Identischen« in der Wiederholung eine Auseinandersetzung mit der Problematik des Zeichens verlangt: In den wesentlichen begrifflichen Unterscheidungen, die Husserl einleitend im zweiten Band der »Logischen Untersuchungen« triff t, differenziert er zwischen zwei grundlegenden Arten von Zeichentypen: dem Anzeichen

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und dem Ausdruck. Husserls Definition des Anzeichens wirkt aus Sicht der gewöhnlichen Auffassung eines Zeichens zunächst relativ befremdlich: »Jedes Zeichen ist Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine ›Bedeutung‹, einen ›Sinn‹, der mit dem Zeichen ausgedrückt ist.« (Husserl 1993: 23) Zur letzteren Kategorie von Zeichen zählt Husserl die Anzeichen. Während die wesentliche Struktur der Anzeichen darin bestehe, dass beispielsweise A auf B hinweise, aber ohne dass dieser angezeigte Zusammenhang von A und B tatsächlich eine dem Bewusstsein unmittelbar präsente Einheit bilde, der Objektivität im bislang dargelegten Sinn zukommt, soll das Wesen des Ausdrucks gerade darin bestehen, dass es auf einem dem Bewusstsein unmittelbar gegebenen Sinn verweist. Während also in der Anzeige kein »idealer Zusammenhang« zwischen A und B bestehe (vgl. ebd.: 26), drückten Ausdrücke psychische Erlebnisse aus, die dem Bewusstsein originär gegeben seien. Demnach käme nur dem Ausdruck, nicht dem Anzeichen, eine Bedeutungsfunktion zu. Zwar erfüllten Ausdrücke ursprünglich eine kommunikative Funktion, die »den geistigen Verkehr allererst möglich« (ebd.: 33) machten, letztendlich fungierten Ausdrücke im äußeren Diskurs aber nicht mehr als Ausdrücke, sondern als Anzeichen, die den Hörenden auf die »sinngebenden psychischen Erlebnisse« des Redenden hinweisen, die jedoch keinesfalls eine Gewähr für die Deckung von Kundnahme und Kundgegebenem leisten können: »Der Hörende nimmt wahr, daß der Redende gewiße psychische Erlebnisse äußert, und insofern nimmt er auch diese Erlebnisse wahr; aber er selbst erlebt sie nicht, er hat von ihnen keine ›innere‹, sondern eine ›äußere‹ Wahrnehmung. Es ist der große Unterschied zwischen dem wirklichen Erfassen eines Seins in adäquater Anschauung und dem vermeintlichen Erfassen eines solchen auf Grund einer anschaulichen aber inadäquaten Vorstellung. Im ersteren Falle erlebtes, im letzteren supponiertes Sein, dem Wahrheit überhaupt nicht entspricht.« (Ebd.: 34f.)

Aus dieser Sicht vereitelt die Beziehung zum Anderen die Selbstpräsenz des Ausdrucks, weil sie unumgänglich eine Nicht-Präsenz in ihn einführt. Demgegenüber bildet der Ausdruck für Husserl eine Erlebniseinheit mit dem Bezeichnetem (vgl. ebd.: 40), so dass es nahe liegt, dass der Ausdruck nur im inneren Diskurs originär Ausdruck bleibt und in der innerlichen Rede dem zu sich selbst sprechenden Subjekt nichts mitteilt und anzeigt: »In gewissen Sinn spricht man allerdings auch in der einsamen Rede, und sicherlich ist es dabei möglich, sich selbst als Sprechenden und eventuell sogar als zu sich selbst Sprechenden aufzufassen. Wie wenn z.B. jemand zu sich selbst sagt: Das hast Du schlecht gemacht, so kannst Du es nicht weiter treiben. Aber im eigentlichen, kommunikativen Sinne spricht man in solchen Fällen nicht, man teilt sich nichts mit, man stellt sich nur als Sprechenden mitteilenden vor. In der monologischen Rede können uns die Worte doch nicht in der Funktion von Anzeichen für das Dasein psychischer Akte dienen, da solche Anzeige hier

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ganz zwecklos wäre. Die fraglichen Akte sind ja im selben Augenblick von uns erlebt.« (Ebd.: 36f.)

Die Behauptung einer solchen idealen Einheit von Zeichen und Bezeichnetem erfordert ein Medium, das in der Lage ist, in einen unmittelbaren Kontakt zum vorausdrücklichen Sinn zu treten. Bekanntermaßen sieht Derrida hierin den Grund für die von ihm behauptete Privilegierung der Stimme in der Metaphysik. Denn auf den ersten Blick scheint die Stimme dieses Erfordernis erfüllen zu können: »Die ›erscheinende Transzendenz‹ der Stimme ist an den Umstand gebunden, daß das Signifi kat, das stets ideal ist, oder die ›ausgedrückte‹ Bedeutung* dem Ausdrucksakt unmittelbar präsent ist. Diese unmittelbare Präsenz wiederum rührt daher, daß sich der phänomenologische ›Körper‹ des Signifi kanten in dem Augenblick auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird. Er scheint von nun an dem Element der Idealität zuzugehören. Er reduziert sich phänomenologisch selbst und transformiert die opake Struktur des Körpers in reine Durchsichtigkeit. Diese Tilgung des sinnlichen Körpers und seiner Äußerlichkeit ist für das Bewußtsein die eigentliche Form der unmittelbaren Präsenz des Signifi kats.« (Derrida 1979: 134)

Bevor wir uns dem damit verbundenen Ausschluss des Empirischen und der Sprache aus der idealen Sphäre der Produktion von Sinn wieder zuwenden, halte ich es für sinnvoll, mit Derrida näher in Betracht zu ziehen, in welcher Weise Husserl das Verhältnis zwischen dem Ausdruck und dem vorausdrücklichen Sinn bestimmt. In den »Ideen I« benutzt Husserl – wenn auch mit Einschränkung – die Metapher der Schichtung, um das Verhältnis zwischen Ausdruck und Intentionalität zu beschreiben. Nach der Ausklammerung der sinnlichen Wortlautschicht aus dem Ausdruck beschäftigt er sich mit der Frage, wie die Intention durch das Bedeuten im Ausdrücken eine geistige Form in der Bedeutung erlangt. Gemäß seiner Auffassung von einem selbstursprünglichem und selbstpräsenten Bewusstsein geht Husserl hierbei von der Unabhängigkeit des vorausdrücklichen Sinns von seiner Explikation im Ausdruck aus. »Es stehe, um an ein Beispiel anzuknüpfen, in der Wahrnehmung ein Gegenstand da, mit einem bestimmten Sinn, in der bestimmten Fülle monothetisch gesetzt. Wir vollziehen, wie sich dergleichen normalerweise an die erste, schlichte Wahrnehmungserfassung ohne weiteres anzuschließen pflegt, ein Explizieren des Gegebenen und ein beziehendes In-eins-setzen der herausgehobenen Teile oder Momente: etwa nach dem Schema ›Dies ist weiß‹. Dieser Prozeß erfordert nicht das mindeste von ›Ausdruck‹ weder von Ausdruck im Sinne von Wortlaut, noch von dergleichen wie Wortbedeuten, welch letzteres hier ja auch unabhängig vom Wortlaut (wie wenn dieser ›vergessen‹ wäre) vorhanden sein kann.« (Husserl 2002: 256f.)

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Welche Funktion schreibt Husserl aber dem Ausdruck zu, wenn sich das innere Seelenleben durch seine unmittelbare Selbstpräsenz auszeichnet und das transzendentale Signifi kat unabhängig von seinem Ausdruck sinnerfüllt existieren kann? Im Ausdruck soll sich der vorausdrückliche Sinn und die ihm inhärente Beziehung auf Gegenständlichkeit »begriffl ich« ausprägen und damit »in fest bestimmten Wortbedeutungen« (Husserl 1993: 90) ausdrücken lassen. Die vorausdrückliche Sinnschicht wird hierbei als die fundierende Unterschicht – sozusagen die gedankliche Unterlage – der ausdrückenden Schicht betrachtet. »Haben wir aber ›gedacht‹ oder ausgesagt: ›Dies ist weiß‹, so ist eine neue Schicht mit da, einig mit dem rein wahrnehmungsmäßig ›Gemeinten als solchem‹. In dieser Weise ist auch jedes Erinnerte, Phantasierte als solches explizierbar und ausdrückbar. Jedes ›Gemeinte als solches‹ jede Meinung im noematischen Sinn (und zwar als noematischer Kern) eines beliebigen Aktes ist ausdrückbar durch ›Bedeutungen‹. Allgemein setzen wir also an: Logische Bedeutung ist ein Ausdruck.« (Husserl 2002: 257)

Insofern der Ausdruck – im Gegensatz zum Anzeichen – den Sinn unmittelbar ausdrücken soll, also einen zwingenden Zusammenhang zwischen Ausdrückendem und Ausgedrückten gewährleisten soll, darf der Ausdruck dem Sinn nichts hinzufügen und muss sich in der Repräsentation des Sinns erschöpfen. Folgerichtig liegt für Husserl die »Eigentümlichkeit« der Schicht des Ausdrucks darin, dass sie »nicht produktiv« ist. Produktiv sei sie bemerkenswerterweise nur in dem Sinne, dass sie die »Form des Begrifflichen« einführe (ebd.: 258). Derrida macht darauf aufmerksam, dass in dem betreffenden Kapitel der »Ideen I« zwei Metaphern auftauchen, in denen »diese Unproduktivität des Logos« »Körper an[nimmt]« (Derrida 1988a: 184, Hervorh. i. Orig.). Dieser Übergang der idealen Sphäre des Logos in eine Verkörperung, die sich nicht einfach aus der Idealität ableiten lässt, vollzieht sich in einer Metapher, die Derrida als »Spiegelschrift« bestimmt, und einer anderen, die die Bedeutungsschicht als eine noch unbeschriebene Oberfläche beschreibt, die der Markierung durch den Sinn offen steht. Die erste Metapher findet sich relativ leicht in Husserls Text. Obwohl Husserl vor dieser Metapher warnt, beschreibt er selbst den Ausdruck als ein Medium, dessen Eigenart darin bestehe, eine andere Intentionalität »widerzuspiegeln« und »abzubilden« (Husserl 2002: 257). Die zweite Metapher ergibt sich – soweit ich sehen kann – eher aus dem Bild des Spiegels und des Abbildes. Wenn der Ausdruck sich darauf beschränken soll, den ihm vorhergehenden Sinn widerzuspiegeln und abzubilden (mit anderen Worten: wenn sich der Sinn in die Schicht der Bedeutung einschreiben können soll) bedarf es einer der Einschreibung offenstehenden Oberfläche. Ein »weißes Blatt oder jungfräuliches Wachs« ist die Metapher, derer sich Derrida in diesem Zusammenhang bedient. Diese beiden Metaphern verweisen auf zwei scheinbar einander widersprechenden Funktionen der Sprache: Einerseits begreift Husserl »die Sprache als Abbildung*«, andererseits schreibt er ihr die Möglichkeit der »Einbildung*« (Derrida 1988a: 187) zu.

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»Ein eigentümliches intentionales Medium liegt vor, das seinem Wesen nach die Auszeichnung hat, jede andere Intentionalität nach Form und Inhalt sozusagen widerzuspiegeln, in eigener Farbengebung abzubilden und ihr dabei seine eigene Form der ›Begrifflichkeit‹ einzubilden.« (Husserl 2002: 257)

Nach Derrida stellen die Abbildung und die Einbildung zwei unterschiedliche Bezüge »des Logos auf den Sinn« (Derrida 1988a: 187) dar. Wie bereits angemerkt, erfordert die Abbildung des Sinns im Ausdruck, dass dieser selbst unproduktiv bleibt, eine »einfache Refl exion, eine Spiegelung, die wahrt, was sie empfängt und zurückwirft, die den Sinn als solchen in seinen eigenen ursprünglichen Farben ab-bildet (dé-peindre) und ihn selbst re-präsentiert.« (Ebd.: 187) Gleichzeitig kommt mit der Funktion der Einbildung aber auch eine produktive Dimension ins Spiel: Wenn der Ausdruck der Intention »seine eigene Form der ›Begrifflichkeit‹« (Husserl 2002: 257) einbildet, reproduziert der Ausdruck nicht nur den Sinn, sondern diese Reproduktion schließt bereits mit ein, dass der Ausdruck dem Sinn eine Form vorschreibt, die diesem fremd sein muss, wenn man zunächst von Husserls Konzept der Selbstursprünglichkeit und Originalität des Sinns ausgeht. Dieses Zusammentreffen der »Unproduktivität der Abbildung*« und der »Produktivität der Einbildung*«, die Derrida auch als »unproduktive Produktion des Logischen« bezeichnet (Derrida 1988a: 187), verwirrt die Beziehung zwischen der Ausdrucksschicht und der Sinnschicht, die auf diesem Hintergrund nicht mehr einfach als die zwischen einem Original und einer Kopie beschrieben werden kann. Ohne den möglichen Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung auslöschen zu wollen, insistiert Derrida darauf, dass die Frage nach der Beziehung zwischen Sinn und Bedeutung nicht von einem Konzept der ausdrücklichen Sprache her gestellt werden kann (vgl. ebd.: 193). Um die spezifische Verwirrung der Ausdrucksschicht und der Sinnschicht zu thematisieren, bedient er sich der Metapher des Gewebes: Will Husserl die Originalität des Sinns schützen und gleichzeitig nicht die Gewähr verlieren, dass es möglich ist Sinn objektiv wissenschaftlich zu beschreiben, so darf der Sinn einerseits nicht mit dem Ausdruck zusammenfallen – sich nicht mit ihm verwirren, wie Derrida hervorhebt (vgl. Derrida 1988a.: 189) –, andererseits müssen sich Sinn und Ausdruck aber insoweit decken, dass es gerechtfertigt erscheint von einer Sinneinheit zu sprechen. Diese beiden Erfordernisse lassen sich aber nur miteinander vereinbaren, wenn beide Schichten parallel zueinander verlaufen. »Der Begriff der Parallele«, so Derrida, »würde zugleich die vollkommene Übereinstimmung und die Nicht-Konfusion berücksichtigen.« (Ebd.: 189) Aber obwohl Husserl den Ausdruck als ein Bedeuten beschrieben hat, das eine Erlebniseinheit zwischen Zeichen und Bezeichnetem gewährleisten soll, gesteht er nicht nur zu, dass die Deckung zwischen der Oberschicht des Ausdrucks und der intentionalen Unterschicht im alltäglichen Sprachgebrauch unvollständig sein kann, sondern im Bezug auf den angeblich allgemeinen Charakter des Ausdrucks, also seine Kraft den Gegenstandsbezug des vorausdrücklichen

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Sinns begrifflich auszuprägen, verwandelt sich diese mögliche Unvollständikeit bei Husserl sogar in ein Wesensmerkmal der Ausdrucksschicht: »Eine total andere Unvollständigkeit, als die soeben besprochene, ist diejenige, die zum Wesen des Ausdrucks als solchen gehört, nämlich zu seiner Allgemeinheit. Das ›möge‹ drückt allgemein den Wunsch, die Befehlsform den Befehl, das ›dürfte‹ die Vermutung, bzw. das Vermutliche als solches aus usw. Alles näher Bestimmende in der Einheit des Ausdrucks ist selbst wieder allgemein ausgedrückt. Im Sinne der zum Wesen des Ausdrückens gehörigen Allgemeinheit liegt es, daß nie alle Besonderungen des Ausgedrückten sich im Ausdruck reflektieren können. Die Schicht des Bedeutens ist nicht, und prinzipiell nicht, eine Art Reduplikation der Unterschicht.« (Husserl 2002: 261f.)

Wenn die Differenz zwischen Sinn und Ausdruck den Begriff fundiert, wenn also, wie Derrida unterstreicht, der Verzicht »auf die vollständige Wiederholung des Sinns im Bedeuten« überraschenderweise keine Verfehlung der wissenschaftlichen Formalisierung darstellt, sondern deren eigentlichen Kern bildet, dann muss der Ausdruck immer schon mit einem gewissen »Deformations- oder Refraktionsvermögen« (vgl. Derrida 1988a.: 190f.) ausgestattet sein. Ein solches Vermögen gefährdet das Axiom der rein abbildenden und unproduktiven Funktion des Ausdrucks und damit die unmittelbare Nähe des Bedeutens zum Sinn, die ja den Ausdruck von der Anzeige unterscheiden soll. Darüber hinaus macht Derrida darauf aufmerksam, dass Husserl schon in den »Ideen I« davon ausgeht, dass jeder Akt einen logischen Bezug in sich birgt und der Formalisierung offen steht: »Wir können darnach auch sagen: Jeder Akt, bzw. jedes Aktkorrelat birgt in sich ein ›Logisches‹, explizite oder implizite. Er ist immer logisch zu explizieren, nämlich vermöge der wesensmäßigen Allgemeinheit, mit der die noetische Schicht des ›Ausdrückens‹ sich allem Noetischen (bzw. die des Ausdruckes sich allem Noematischen) anschmiegen läßt.« (Husserl 2002: 244)

Vor diesem Hintergrund wirft Derrida die Frage auf, inwiefern sich Husserls Analyse der vorausdrücklichen Sinnschicht von Beginn an von diesem Bezug auf das Privileg der prädikativen Aussage in der Ausdrucksschicht hat leiten lassen (vgl. Derrida 1988a: 192f.). Insofern die Möglichkeit der Formalisierung von Husserl als ein wesensmäßiges Merkmal eines jeden Aktes bestimmt wird, stellt sich die Frage, ob der vorsprachliche Sinn alles Erlebten »etwas ist, das aufgrund seiner Natur sich bereits einem Bedeuten aufprägen, seine formale Markierung in einer Bedeutung* zurücklassen oder empfangen können muß. Der Sinn wäre also bereits eine Art von sich im Bedeuten verdoppelnder, weißer und stummer Schrift.« (Ebd.: 186) Damit würde Husserls Metapher der Unter- und der Oberschicht aber nicht mehr tragen, um das Verhältnis zwischen Sinn und Bedeutung zu bestimmen. In Anspielung auf Husserls Zugeständnis, dass sich alle bislang

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als vorausdrücklich betrachteten Akte mit den »ausdrückenden, die in dem spezifischen Sinne ›logischen‹ Aktschichten« (Husserl 2002: 256) verweben, schreibt Derrida: »Hätte die Schicht des Logos einfach eine Grundlage, könnte man sie wegnehmen und unter ihr die darunterliegende Schicht von nicht-ausdrücklichen Vorgängen und Inhalten erscheinen lassen. Aber da diese Supra-Struktur eine wesentliche und entscheidende Rückwirkung auf die Unterschicht* hat, ist man – seit dem Beginn der Beschreibung – genötigt, mit der geologischen Metapher eine eigentlich textuelle Metapher in Verbindung zu bringen: denn Gewebe bedeutet Text.« (Derrida 1988a: 181)

Diese irreduzible Verflechtung der vorgeblich sekundären Schicht des Bedeutens mit der vorgeblich primären Schicht der Sinnproduktion, deutet sich zumindest implizit schon bei Husserl an, wenn er sein eigenes Misstrauen gegenüber der Metapher der Schichtung formuliert: »Denn dem Bild der Schichtung darf nicht zuviel zugemutet werden, der Ausdruck ist nicht so etwas wie ein übergelagerter Lack, oder wie ein darübergezogenes Kleid; er ist eine geistige Formung, die an der intentionalen Unterschicht neue intentionale Funktionen übt und von ihr korrelativ intentionale Funktionen erfährt.« (Husserl 2002: 259)

Wenn jedoch die Bedeutung nicht einfach eine Reduplikation des Sinns darstellt, stellt dies nicht nur die von Husserl behauptete »Erlebniseinheit« von Zeichen und Bezeichnetem im Ausdruck in Frage, sondern dies erschüttert auch die Annahme, dass der Ausdruck das Telos der Sprache bilde. Insofern nämlich entgegen Husserls Annahme der Sinn nicht einfach dem Ausdruck vorhergeht und der Ausdruck nicht lediglich die unproduktive Repräsentation des Sinns darstellt, die im zeitkonstituierenden Bewusstseinsstrom notwendige Selbstbeziehung also immer schon einen Umweg über einen Ausdruck impliziert, der keinen unmittelbaren Abdruck des Sinns bildet, stellt sich die Frage, inwiefern die Sprache dann unumgänglich eine NichtPräsenz in sich einschließt und einer anzeigenden Struktur unterliegt.

2.1.5 Verräumlichung der temporalen Selbstbeziehung: Die Dekonstruk tion des Ausdrucks als Telos der Sprache Während Husserl schon in den »Logischen Untersuchungen« bemüht ist, den sinnbelebten Ausdruck in seiner Reinheit zu isolieren, zeigt Derrida bezeichnenderweise gerade entlang dieser Bemühungen, dass der für die Anzeige charakteristische Bezug zu einer Nicht-Präsenz nicht nur das Bedeuten nicht stört, sondern diesem irreduzibel inhärent ist. Husserl unterscheidet hier zwischen den dem Ausdruck wesentlichen bedeutungsverleihenden Akten, den Intentionen, die sich immer auf Gegenständliches

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beziehen, und den bedeutungserfüllenden Akten, die die »Bedeutungsintention mit größerer oder geringerer Angemessenheit erfüllen (bestätigen, bekräftigen, illustrieren) und damit eben seine gegenständliche Beziehung aktualisieren« (Husserl 1993: 38) sollen. Obgleich Husserl einräumt, dass auch die bedeutungserfüllenden Akte in einer »logisch fundamentalen Beziehung« (ebd.: 38) zum Ausdruck stehen, schließt er sie als dessen Wesensmerkmale ausdrücklich aus. Ausdrücke, so Husserl, können auch sinnvoll fungieren, wenn sich deren Beziehung auf die Gegenständlichkeit nicht durch eine begleitende Anschauung gegenwärtig oder vergegenwärtigt erfüllt (ebd.: 37). Dieses Auseinanderfallen von Intention und »erfüllender« Intuition veranlassen Derrida zu der Behauptung, dass die Möglichkeit der Abwesenheit der Intuition nicht nur das Bedeuten nicht stört, sondern dass diese Möglichkeit sogar die Originalität des Bedeutens bildet: »Die Absenz der Intuition – und damit des Subjekts der Intuition – wird vom Diskurs nicht nur toleriert, sondern von der Struktur der Signifikation überhaupt geradezu erfordert, zumindest sofern man sie an sich selbst betrachtet. Und sie ist erforderlich, denn die völlige Absenz des Subjekts und des Gegenstandes einer Aussage – der Tod eines Schriftstellers oder/und das Verschwinden der von ihm beschriebenen Gegenstände – hindern einen Text nicht daran, zu ›be-deuten‹. Umgekehrt: diese Möglichkeit bringt das Be-deuten erst als solches hervor und macht es hör- und lesbar.« (Derrida 1979: 151)

Weil ein Zeichen die Möglichkeit besitzen muss, auch in Abwesenheit seines Referenten oder dessen intuitiver Anschauung zu funktionieren – seine eigentümliche Struktur gerade in dieser Möglichkeit besteht –, muss seinem Inhalt eine ideale Dimension innewohnen, auf die sein Bedeutungspotenzial gründet. Wie Derrida zu zeigen vermag, bildet das Ich aber gerade nicht den subjektiven Ursprung und damit den Garant dieser Idealität. »Betrachten wir den Extremfall einer ›Wahrnehmungaussage‹. Unterstellen wir, sie sei im selben Augenblick wie die Wahrnehmungsintuition erzeugt, so daß ich ›Ich sehe jetzt durch das Fenster jene Person‹ eben in dem Augenblick sage, da ich sie tatsächlich sehe. Meiner Operation ist struktural implizit, daß der Inhalt dieses Ausdrucks ideal ist und daß seine Einheit hic et nunc durch die Absenz von Wahrnehmung nicht beeinträchtigt ist. Derjenige, der, ob unmittelbar neben mir stehend oder durch Räume und Zeiten von mir getrennt, diese Proposition vernimmt, muß aus guten Gründen verstehen können, was ich selbst sagen höre.« (Derrida 1979: 150f.)

Husserl zufolge käme dieser Kundnahme lediglich der Status einer Anzeige zu, da der Kundnehmende weder bezüglich des vermeinten »Ichs« noch bezüglich der vermeinten »Person« dieselbe Anschauung teilen kann. Dem Zuhörenden oder Lesenden präsent ist aus phänomenologischer Sicht die Wahrnehmung dieser gesprochenen oder geschriebenen Äußerung, nicht aber das darin Vermeinte. Dementsprechend ordnet Husserl das Personal-

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pronomen »Ich« den okkasionellen Ausdrücken zu, deren Spezifität darin bestehen soll, dass sie im Gegensatz zu den objektiven Ausdrücken ihre jeweilige Bedeutung »nach der Gelegenheit, nach der redenden Person und ihrer Lage […] orientieren.« (Husserl 1993: 81) Wie Derrida anmerkt, scheint Husserl aber dennoch davon auszugehen, dass sich die Bedeutung des »Ich« im einsamen Seelenleben »in der unmittelbaren Vorstellung der eigenen Persönlichkeit« (ebd.: 82) vollzieht. Zudem soll in dieser Unterstellung »die Bedeutung des Wortes in der kommunikativen Rede« (ebd.: 82) liegen. Zwar mag Husserl mit dieser Bestimmung eine relativ stabile und weit verbreitete konventionelle Bedeutung des Gebrauchs dieses Personalpronomens treffen, dies setzt jedoch nicht voraus, dass eine solche »unmittelbare Vorstellung der eigenen Persönlichkeit« mit der Äußerung einhergeht. Die Möglichkeit der Abwesenheit der Intuition, die Husserl allgemein für den Gebrauch des Ausdrucks proklamiert hat, gilt auch für die Verwendung des Wortes »Ich«. Folgt man dieser Annahme, kann man jedoch nicht davon ausgehen, dass sich der Sinn des »Ichs« in der Aussage »Ich sehe jetzt durch das Fenster jene Person« in der unmittelbaren Anschauung des eigenen »Ichs« konstituiert (vgl. hierzu Derrida 1979: 153). Das Wort »Ich« verdankt sein Bedeutungspotenzial weder im »inneren Seelenleben« noch in der so genannten kommunikativen Rede oder in einem geschriebenen Text der beseelenden Intention seines Sprechers oder Autors. Nicht nur die fehlende Intuition, sondern auch die Abwesenheit des Autors hindern das Wort »Ich« nicht daran als Bedeutsames zu fungieren. Derrida schreibt hierzu: »So wie der Wert einer Wahrnehmungsaussage weder von der Aktualität noch von der Möglichkeit der Wahrnehmung abhängt, so hängt der signifi kante Wert des Ich nicht vom Leben des redenden Subjekts ab. Für das Funktionieren des Be-deutens ist es nämlich gerade nicht entscheidend, ob die Wahrnehmung die Wahrnehmungsaussage begleitet oder nicht und ob das Leben als Selbstpräsenz die Aussage des Ich begleitet oder nicht. Mein Tod ist für die Äußerung (prononcé) des Ich eine strukturale Notwendigkeit. […] Die Bedeutung* von ›Ich bin‹ oder ›ich bin lebendig‹ oder gar von ›lebendiges Präsent-/Gegenwärtigsein ist‹ ist das, was sie ist, nur dann, erlangt nur dann die ideale, jeder Bedeutung* zukommende ideale Identität, wenn sie dadurch, daß sie unzutreffend ist (fausseté), nicht getilgt werden, d.h. wenn ich im Augenblick ihres Funktionierens tot sein kann.« (Ebd.: 155)

Vor diesem Hintergrund wirft Derrida die Frage auf, inwiefern sich die jeder Sprache notwendig inhärenten Dimension der Idealität nicht, wie Husserl behaupten würde, als eine vorausdrückliche Sinnschicht konstituiert, die beliebig oft identisch erzeugt werden kann, weil sie einem selbstursprünglichen und selbstpräsenten Bewusstseinsstrom entspringt, sondern inwiefern die Idealität einer Bedeutung gerade in dem Vermögen eines sprachlichen Elementes besteht, auch in der Abwesenheit eines bestimmten subjektiven oder objektiven Referenten und eines bestimmten Subjekts sein Bedeutungspotenzial nicht zu verlieren. Mit anderen Worten: Der Bruch mit

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einem intentionalen Bewusstsein stellt nicht eine Möglichkeit des Diskurses dar, sondern die Möglichkeit eines solchen Bruches bringt die Kraft der Bedeutung hervor. Und diese Abwesenheit kann nicht mehr länger als eine mit dem Zeichen auftretende Schwächung der Anwesenheit konzipiert werden, sondern sie erfordert die Möglichkeit der Unterbrechung der Anwesenheit, d.h. in letzter Konsequenz die Möglichkeit des »Todes« des Autors. Während sich also die Bedeutung bei Husserl aus einem vorausdrücklichen Sinn ableitet, der dem Subjekt zumindest ideal betrachtet vollkommen präsent sein kann, ist es die für die Sprache charakteristische Beziehung zur Nicht-Präsenz, die bei Derrida die Möglichkeit des Bedeutens schaff t.

2.1.6 Die Ur schrif t als der paradoxe Ur sprung der Idealisierung Diese Möglichkeit des Bruches mit einem anwesenden Bewusstsein als Quelle und Garanten des Signifikats und die mit diesem Bruch verbundene Verräumlichung bilden den Hintergrund der von Derrida eingeführten Verallgemeinerung des Schriftbegriffs. Nach Derrida zeichnet sich das klassische Verständnis der Schrift durch eine bestimmte Vorstellung der Abwesenheit aus. Während das gesprochene Wort aufgrund der unterstellten Nähe des Signifikanten zum Signifikat häufig seinen zeichenhaften Charakter verliere (z.B. teilweise der Ausdruck bei Husserl oder die Einheit von Laut und Gedanke bei Saussure), verkörpere die Schrift den Inbegriff der klassischen Idee des Zeichens, das heißt die Exteriorität des Signifikanten gegenüber einem ihm vorhergehenden und zu repräsentierenden Signifikat, dessen formales Wesen das der Präsenz sei. Die für das Konzept des Zeichens wesentliche Äußerlichkeit des Signifikanten gegenüber dem Signifikat schlage sich in der Rolle nieder, die der Schrift in der abendländischen Philosophie zugewiesen werde: Die Schrift als ein Signifikant, der im Gegensatz zu der Stimme nicht im eigenen Vernehmen erlischt, sondern dessen Abstand zum Signifikat bestehen bleibt und deshalb dem gesprochenen Wort unterzuordnen sei. Dementsprechend werde die Schrift als die Repräsentation der gesprochenen Sprache begriffen. Derridas Verständnis der Schrift als die allgemeine Struktur jeder Signifikation setzt in zweierlei Hinsicht an dem Status der Schrift als »Signifikant des Signifikanten« an. Zum einen macht er deutlich, dass das der Schrift zugeschriebene Charakteristikum, auch in Abwesenheit ihres Autors, ihres Empfängers und ihres objektiven oder subjektiven Referenten zu funktionieren, eben nicht spezifisch für die Schrift ist, sondern für jede Signifikation gilt und deren ermöglichende Bedingung bildet. In diesem Sinne stellt die graphematische Struktur für ihn eine allgemeine Struktur dar, die jeder Art der Signifikation vorhergeht und deshalb auch nicht als eine einfache Umkehrung des »traditionellen« Verhältnisses zwischen Schrift und Sprache, also als eine Rehabilitierung der »Substanz der Schrift« oder als eine chronologische Vorgängigkeit der Schrift vor der Sprache verstanden werden darf. Zum anderen setzt diese Annahme aber bereits einen »modifizierten Schriftbegriff« voraus, der sich in Derridas Unterscheidung zwi-

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schen einem »vulgären Schriftbegriff« und der »Urschrift« ausdrückt (1974: 97). Zunächst darf die Urschrift nicht weiterhin als Abbild des gesprochenen Wortes verstanden werden, das wiederum eine ursprüngliche Präsenz repräsentiert. Vielmehr setzt die für die Schrift charakteristische Vorstellung der Abwesenheit zumindest implizit in erster Instanz die prinzipielle Iterabilität des schriftlichen Zeichens voraus, so dass die der Schrift zugeschriebene Sekundarität in einem bereits transformierten Sinn die Möglichkeitsbedingung eines jeden Bezeichnungssystems darstellt. Denn im Gegensatz zum gesprochenen Wort, das ein ursprüngliches Signifikat repräsentieren soll, wurde die Schrift – folgt man Derridas Auslegung der abendländischen Philosophie – von jeher als die (mit der Gefahr der Entstellung verbundene) Substitution des gesprochenen Signifikanten betrachtet. Dieser Status des »Signifikanten eines Signifikanten« macht den Begriff der Schrift für Derrida brauchbar, um ihn gegen die Idee eines transzendentalen Signifikats zu wenden, das das Feld der Bedeutungen totalisiert und begrenzt. »Nicht daß das Wort ›Schrift‹ auf hörte, den Signifi kanten zu bezeichnen; in einem ungewohnten Licht aber wird deutlich, daß ›Signifi kant des Signifi kanten‹ nicht länger eine akzidentielle Verdoppelung und abgefallene Sekundarität definiert. ›Signifi kant des Signifi kanten‹ beschreibt im Gegenteil die Bewegung der Sprache – in ihrem Ursprung; aber man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifi kant des Signifi kanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung selbst hinwegraff t und auslöscht. Das Signifi kat fungiert darin seit je als ein Signifi kant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifi kat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifi kat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifi kanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen.« (Ebd.: 17)

Während das Signifi kat traditionellerweise als der einfache Ursprung begriffen wird, auf das der Signifi kant hinweist, das selbst aber auf nichts anderes verweist, zeigt Derridas Analyse der Selbstbeziehung bei Husserl, dass kein Signifi kat ohne den Bezug zu etwas anderen erscheinen könnte. In diesem Sinn gerät jedes Signifi kat auch in die Position eines Signifikanten, was nicht heißt, dass Derrida den möglichen Unterschied zwischen Signifi kant und Signifikat einebnet (vgl. Derrida 1990: 143). Aber das Signifikat ist nicht mehr der einfache Anfang, dessen volle Präsenz es einzuholen gilt, sondern es existiert nur, insoweit es bereits einen Verweis auf etwas anderes enthält, und dieser Verweis ermöglicht und untergräbt gleichzeitig seine Identität. Wie in Derridas Analyse der Intention deutlich geworden ist, gilt eine solche Verweisungsstruktur nicht nur für die Arten der Signifi kation, die man im ›eigentlichen‹ Sinn als Sprache verstehen würde, sondern erstreckt sich auch auf »das ganze Feld dessen, was die Philosophie Erfahrung nennen würde, ja sogar Erfahrung des Seins: die sogenannte ›Präsenz‹.« (Derrida 1988 [1972]: 335) Wenn Derrida behauptet, »es gibt kein Außerhalb des Tex-

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tes« meint er, dass »jeder Referent, jede Realität, die Struktur einer durch différance gekennzeichneten Spur [trace différantielle] aufweist und daß man sich auf dieses Reale nur in der Praxis der Interpretation beziehen kann.« (Derrida 2001: 228f.) Das bedeutet nicht, dass er den Unterschied zwischen einem geschriebenen Text und den Dingen, auf die wir uns im Schreiben, im Reden und in der so genannten Erfahrung beziehen, auslöscht. Vielmehr zeichnet sich hier, wie ich im Folgenden entlang des Ansatzes des »doing gender« zeigen werde, eine andere Sichtweise auf das in den Wissenschaften dominierende Modell von Interpretation ab, das zumeist darauf ausgerichtet ist eine der Forschung vorhergehende Präsenz einzuholen.

2.2 Zur relativen Stabilität geschlechtsbezogener Normen und Prak tiken: Sedimentierungen von Geschlecht als »nicht-anwesendes Zurückbleiben« Dieses Modell, das auch in der schulischen Geschlechterforschung vorherrschend ist, führt dazu, dass das pädagogische Denken wesentlich von der Idee bestimmt ist, Informationen über die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu sammeln, um Benachteiligungen gezielt entgegenwirken zu können. Wie ich bereits zu Beginn dieser Arbeit skizziert habe, kreist die hiermit einhergehende Diskussion über die Gefahr der Reifizierung von Geschlecht hauptsächlich um die Sorge, die theoretische Debatte um die Konstruktion von Geschlecht könnte den empirischen Blick auf die »Wirklichkeit« der Geschlechterverhältnisse verstellen. Dennoch wird dieser Blick gleichzeitig aber einhellig als einer verstanden, der unumgänglich bereits verstellt sei, dadurch dass man sich auf die Wirklichkeit ohnehin nur in einer Interpretation beziehen könne. Obwohl sowohl im Differenzansatz als auch im Ansatz des »doing gender« eigentlich bereits ein temporalisiertes Verständnis von Geschlecht vertreten wird, in dem Geschlecht als eine historisch gewachsene diskursive Praxis verstanden wird, die als eine soziale Praxis immer schon der Interpretation der Beteiligten unterliegt, wird in beiden Ansätzen nicht danach gefragt, was dies für das Verständnis von einer Wirklichkeit der Zweigeschlechtlichkeit bedeutet. Stattdessen bleiben sowohl der Versuch der Rekonstruktion und Aufwertung des »Frau-Seins« in dieser Gesellschaft als auch der Versuch, die unterschiedlichen Praktiken des »doing gender« zu rekonstruieren, der Vorstellung verhaftet, die empirische Forschung bezöge sich auf einfache gegenwärtige Strukturen – im Differenzansatz auf bestimmte kulturelle Lebensweisen, die ein bestimmtes »Frau-Sein« konstituieren, im Anatz des »doing gender« auf die »je gegenwärtige[n] soziale[n] Bedeutungen« (Kelle 2000: 127) –, deren man sich zumindest situativ oder ausschnitthaft bemächtigen kann. Mit dem Bemühen eine solche Präsenz mit wissenschaftlichen Verfahren zu rekonstruieren, wird das Verhältnis zwischen der eigenen Forschungspraxis und dem Objekt, auf das sie sich bezieht, als eines zwischen einem Original und einer Repräsentation auf-

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gefasst, wobei die wissenschaftlichen Anstrengungen einerseits darauf gerichtet sind, diesen Abstand soweit wie möglich zu minimieren, andererseits jedoch auch darauf zielen eine reflexive Metaebene zu schaffen, die die unbewussten Strukturen des Originals sichtbar werden lässt.

2.2.1 Von der Suche nach einer originalen Erlebnisschicht zu Derridas Verallgemeinerung des Tex tbegrif fs Diese Konzeption empirischer Erfahrung zeichnet sich auch in Ammans und Hirschauers Entwurf einer ethnographischen Empirie ab, der die bisherigen Versuche der Rekonstruktion der schulischen Praktiken des »doing gender« wesentlich beeinflusst hat, und dessen Fokus auf dem Empiriebegriff liegt: »Die in der Ethnographie liegende Affinität zum Kuriosen ist nicht eine Eigenschaft bevorzugter Gegenstände, sondern das Potenzial alle möglichen Gegenstände ›kurios‹ also zum Objekt einer ebenso empirischen wie theoretischen Neugier zu machen. Dafür setzt die Ethnographie auf einen ›weichen‹ Methoden-, aber ›harten‹ Empiriebegriff. Dessen Prämisse ist die Unbekanntheit gerade auch jener Welten, die wir selbst bewohnen.« (Amman/Hirschauer 1997: 9)

Entsprechend dem »harten« Empiriebegriff gehen Amman und Hirschauer davon aus, dass sich das in der Ethnographie erhobene Datenmaterial auf eine »Lebenswirklichkeit« bezieht, die der Ethnographin vollkommen äußerlich ist und sich »vor« ihren »Sinnen« abspielt (ebd.: 27). Hierbei schreiben die beiden Autoren der für die ethnographische Datengewinnung charakteristischen Form des Schreibens eine zweifache Rolle zu. Zum einen betrachten Amman und Hirschauer das Aufschreiben als eine Transformation von Erfahrung in Sprache: »Aufschreiben ist stets ein selektiver Akt des Zur-Sprache-Bringens von Erfahrung, der zugleich eine Verschriftlichung (oder Codierung) von Phänomenen ist, die zuvor keine Texte waren.« (Ebd.: 30)

Gleichzeitig betrachten sie das ethnographische Protokoll aber auch als ein Erhebungsinstrument, das anderen möglichen Erhebungsformen wie z.B. einem Interview oder einem Fragebogen überlegen sein soll. »Beobachten ist nicht bloß ein Wahrnehmungsprozeß, der sich unter zahlreiche epistemologische Vorbehalte stellen lässt, sondern, wenn es um die Sedimentierung anschlußfähiger Operationen geht, vor allem ein Schreibprozeß. Beobachtungen werden nicht einfach als Erlebnisakkumulation sozialwissenschaftlich relevant, sondern als Protokolle, die weiterverarbeitet werden, und als dichte Beschreibungen, die ›weitererleben‹ lassen können. In beiden Hinsichten geht es um eine Mobilisierung von Erfahrung, die sich von der vollständigen Ablösung des Empirischen von Personen unterscheidet, wie sie sowohl die quantitative

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Sozialforschung als auch die qualitative Analyse von Dokumenten anstrebt.« (Ebd.: 30)14

Diese Überlegenheit, die Amman und Hirschauer der ethnographischen Beobachtung gegenüber anderen wissenschaftlichen Erhebungsformen attestieren, resultiert aus der Annahme, dass ethnographische Daten durch die Präsenz der EthnographInnen im Feld (»Gleichörtlichkeit«), indem sie durch ihre beobachtende Protokollierung, in ihrer eigenen Person das Erhebungsinstrument bilden, die größtmögliche Nähe zum Forschungsfeld aufweisen. Nicht, dass sie hierbei von einer vollkommenen Identität zwischen dem Erlebten der Erforschten und dem Protokollierten der Ethnographen voraussetzen würden. Aber die Enkulturationsprozesse des Forschers im Feld sollen es den ForscherInnen erlauben am Forschungsfeld zu partizipieren und gleichzeitig eine distanzierende Metaperspektive zu entwickeln, die den »einfachen« InteraktionsteilnehmerInnen verwehrt bleibe. In diesem Zusammenspiel zwischen Partizipation und Distanz soll es möglich werden, unbewusste Ordnungsstrukturen sozialer Handlungsräume aufzudecken: »Ethnographen investieren im Sinne der Validität einige Ressourcen in Forschungsbeziehungen: Zeit, personales Vertrauen, disziplinäre Identität usw. Das extensive ›dabei sein‹ und die gewünschten Vermischungen eines auf Teilnahme basierenden Verstehens sind aber nur eine Seite der teilnehmenden Beobachtung. Ethnographen ›spielen mit‹, aber sie betreiben im öffentlichen Spiel des Untersuchungsfeldes auch ein strategisches Privatspiel der Wissenserzeugung. Der partizipiellen Enkulturation stehen dafür schon während der Datengewinnung Distanzierungsschritte gegenüber, die das Erfahrung-Machen methodisieren. […] Generell wird die ethnographische Erfahrung zu einer methodisierten Erfahrung durch eine parasitäre Grundhaltung gegenüber dem Feld und seinen Akteuren. Der gleich-gültige und ›schielende Blick‹ und die meist geschützte Notierung des Erblickten, des Gehörten, des ›am eigenen Leib‹ Erfahrenen macht die sich vor den Sinnen abspielende Lebenswirklichkeit zum Material einer soziologischen Analyse.« (Ebd.: 27, Hervorh. i. Orig.)

Nur wenige Seiten später wird deutlich, dass die Erfahrung der Ethnographen hier als eine im Augenblick ihres Erlebens vollkommen einheitliche Instanz verstanden wird. Aus dieser Sicht kann das Verhältnis zwischen 14 | An dieser Stelle beginnt die Unterscheidung der Autoren zwischen der Erfahrung und dem Schreiben als zwei wesentlich unterschiedlichen Qualitäten unter der Hand bereits unklar zu werden. Denn, wenn die Erfahrung des Forschers im Feld, die ja idealerweise immer eine beobachtende sein sollte, wesentlich durch die Qualität des Schreibens – und damit der Sinnstiftungen des Autors – zu einer Beobachtung wird, lassen sich Erfahrung und Schreiben nicht mehr so einfach in eine lineare Reihenfolge bringen und die Unterscheidung zwischen Original und Repräsentation fängt an brüchig zu werden.

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dem Erleben einer sozialen »Situation«, also den Erfahrungen der ethnographischen Beobachter und dem Prozess des Aufschreibens nur als eines zwischen einem Original und einer Repräsentation verstanden werden, wobei die Repräsentation von Amman und Hirschauer nicht als eine naive Abbildung des Erlebten betrachtet wird, sondern als eine Instanz im Prozess ethnographischen Forschens, die das als initiierend und holistisch verstandene Erlebte durch die »Sinnstiftungen des Autors« reduziert: »Beschriebene Beobachtungen, Ereignisse oder Erlebnisse werden erst durch Sinnstiftungen des Autors zu ethnographischen Daten. Solche Sinnstiftungen – etwa durch Bezeichnung einer Aktivität oder die Sequenzierung von Ereignissen – begleiten die schriftliche Bearbeitung ethnographischer Erfahrung von Anfang an. Sie entstehen in einem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem Hintergrund von Erfahrungen, der nicht in Aufzeichnungen transformiert wird – ein Horizont von ›initiierenden‹ Schlüsselerlebnissen, im Gedächtnis haftenden Szenen, holistisch verstandenen Zusammenhängen und erworbenen ›Mitspielkompetenzen‹ (Reichertz 1989: 92) – und der Orientierung an einer auf Explikation angewiesenen Leserschaft.« (Ebd.: 31 ,Hervorh. i. Orig.)

Obwohl Hirschauer in seinen Schriften zur Geschlechterforschung explizit nach den »Kontinuierungsmechanismen« in der Aktualisierung der Geschlechterdifferenz fragt und damit eigentlich eine grundlegende Spaltung des »aktuellen« Erlebens in den sozialen Praktiken der »Aktualisierung« von Geschlecht voraussetzen müsste, erscheint in Ammans und Hirschauers Ausführungen zur Ethnographie die ethnographische Mitschrift als eine Transformation von Erfahrung in eine Ordnung, die diese ihrer Unmittelbarkeit und Vollständigkeit beraubt. So wird die Transformation von Erfahrung in Sprache von Amman und Hirschauer als eine Reduktion begriffen, weil sie zumindest implizit mit aller Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass sich das Erleben interaktiver Zusammenhänge durch seine Spontaneität (»›initiierende‹ Schlüsselerlebnisse«) auszeichnet und, dass diese Zusammenhänge sowie die Fähigkeit in ihnen »mitzuspielen« vor ihrer Transformation in Sprache von dem Erlebenden »holistisch« verstanden werden. Aus diesem Blickwinkel zerreißt erst die Transformation des unmittelbar Erlebten in die Ordnung der Sprache den »Horizont von ›initiierenden‹ Schlüsselerlebnissen«, in dem interaktive »Zusammenhänge« und die Fähigkeit in ihnen zu agieren vorgeblich »holistisch« verstanden werden. Dementsprechend betrachten Amman und Hirschauer – neben der soziologischen Interpretation der Felderfahrung – die Annäherung der schriftlichen Explikation an ihr Original als einen wichtigen Bestandteil der ethnographischen Beschreibung. Um dem Leser »die Möglichkeit des sekundären Mitvollzugs einer Erfahrung und einer Praxis [zu] eröff nen« (ebd.: 35), müsse die für die Publikation angefertigte ethnographische Beschreibung darauf ausgerichtet sein, in der »Dichte« ihrer Erzählung den als »holistisch« verstandenen Erfahrungszusammenhang nicht nur wiederzugeben, sondern sogar zu übertreffen:

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»Besteht das ethnographische Schreiben in der Forschungssituation vorwiegend aus einer Aufzeichnungsarbeit, […], so wird ethnographisches Schreiben in späteren Phasen immer mehr zu einer adressatenbezogenen Vermittlungsarbeit: dicht an naiv Erlebtem entlang zu formulieren, mit einem Begriff einen Eindruck wirklich zu ›treffen‹, genauso viele Details zu verdichten, daß eine Beschreibung weder paraphrastisch leer noch interpretativ überzogen ist. […] [E]in Vorgehen, das auf einen starken Empiriebegriff setzt, muß sich in Texten repräsentieren, die auf die Sinne (und nicht nur den Verstand) der Leser zugreifen. Dabei ist sensuelle Unmittelbarkeit von Naturalismus weit entfernt: die textuelle Verdichtung – also die Herstellung von Gleichzeitigkeit, die Sequenzierung, die Komposition von Szenen – bildet nicht Beobachtungen ab, sie überbietet sie eher, indem sie Protokollnotizen, Sinneseindrücke und situative Assoziationen zusammenkomponiert – ein Unterfangen der Simulation von Erfahrungsqualitäten.« (ebd.: 34f.)

Damit werden der ethnographischen Beschreibung zwei Funktionen zugewiesen. Einerseits soll sie die Kluft, die aus Ammans und Hirschauers Sicht zwischen der primären Schicht der Erfahrung und der sekundären und reduzierenden Mitschrift besteht, reduzieren. In dieser Funktion steht sie im Dienst der Kommunikation der Felderfahrung. Andererseits muss die ethnographische Beschreibung im Interesse des wissenschaftlichen Anspruchs, dem sie unterliegt, jedoch auch eine Distanz zu dem »Unterfangen der Simulation von Erfahrungsqualitäten« aufweisen und ihnen eine soziologische Interpretation hinzufügen, die die unbewusste Ordnung der »Lebenswirklichkeit« bewusst machen soll. Denn Amman und Hirschauer gehen davon aus, dass »jedes Feld über eine Sozio-Logik, eine kulturelle ›Ordentlichkeit‹ verfügt, […], [die] als empirisches Wissen mobilisiert werden kann« (ebd.: 20). Diese doppelte Funktionszuweisung der ethnographischen Beschreibung korrespondiert mit einem Modell des Erlebens, das einerseits von einer vorsprachlichen unmittelbaren Erlebnisschicht ausgeht, in der das Erlebte, wenn auch nicht unbedingt bewusst, so doch bereits voll verstanden sein soll. Hierbei soll das Erlebte soziale Ordnungsstrukturen repräsentieren, deren Realitätsgehalt von ihrer Anwendung in sozialen Praktiken abhängt. Andererseits scheinen die unbewussten Anteile dieser vorgeblich »holistisch« verstandenen und erlebten Ordnungsstrukturen jedoch nur bewusst werden zu können, indem sie mithilfe eines sozialwissenschaftlich geschulten Denkens in eine bestimmte Sprache transformiert werden, die ihre Logik sichtbar werden lässt. Die ethnographisch ausgerichtete Geschlechterforschung sieht die Realität der Zweigeschlechtlichkeit in einem Wissenssystem gegeben, das in sozialen Praktiken laufend aktualisiert wird (Hirschauer 1996: 241ff.). Aus dem Vollzug solcher Praktiken resultierten »unsere wichtigsten lebensweltlichen Evidenzen über die Zweigeschlechtlichkeit« und »die Konstitution eines alltagsweltlichen Empirischen« (ebd.: 249), in dem die Geschlechterdifferenz als präsent und aktuell erlebt werde. Wie ethnomethodologische Arbeiten zur sozialen Herstellung der Geschlechterdifferenz selbst heraus-

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gearbeitet haben, beschränkt sich der Wahrheitswert, den die binäre Geschlechterdifferenz in westlichen modernen Gesellschaften genießt, nicht auf die Annahme der Naturhaftigkeit der Zweigeschlechtlichkeit, sondern schließt ebenso die Annahme mit ein, dass jeder Mensch von Geburt an konstant dem einen oder dem anderen Geschlecht zugehört. Diese scheinbaren Gewissheiten, die Hirschauer auch als »lebensweltliche Evidenzen« bezeichnet, sind in der Tat starke Diskursformationen, die, wenn man von einigen spezifischen Diskursgebieten, wie dem der Ethnomethodologie oder dem Dekonstruktivismus absieht, im so genannten lebensweltlichen sowie im wissenschaftlichen Alltag als nahezu unerschütterlich gelten. Richtig ist auch, dass es sich hierbei nicht nur um rein ideale Vorstellungen handelt, sondern um eine Vielzahl unterschiedlicher gelebter sozialer Praktiken. Hierbei fasst Hirschauer die Ordnungsstrukturen des Alltagswissens weder als statische objektiv gegebene Strukturen auf (Hirschauer 1994: 674) noch als Wissensbestände, auf deren Basis intentionale Subjekte Geschlecht zur Darstellung bringen (ebd.: 675). Vielmehr vertritt er ähnlich wie Judith Butler die Auffassung, dass die Strukturen der Zweigeschlechtlichkeit von ihrer permanenten Anwendung in sozialen Praktiken abhängen. Problematisch wird Hirschauers Ansatz erst bezüglich der Frage, wie solche Praktiken, die auch aus Hirschauers Sicht immer schon einen performativen Charakter aufweisen, von den »Akteuren« erfahren werden. Nach Hirschauer vollziehen sich solche Praktiken weitgehend ohne ein bewusstes Wissen der »DarstellerInnen«. »Sie müssen wissen, wie es zu tun ist, aber ohne gleichzeitig zu wissen, wie sie es tun« (ebd.: 674). Während den »DarstellerInnen« die Wirkkraft des eigenen Verhaltens verborgen bliebe, beschere deren Darstellung dem Publikum eine Aktualisierung ihres Wissens über Geschlecht, das in seiner vorsprachlich erlebten Unmittelbarkeit eine stärkere Wirkkraft als jedes propositional vertretene Wissen erreiche: »Ihrem Publikum verschaffen Darstellungen dagegen eine permanente Visualisierung sozialer Wirklichkeit, die ein Wissen präsent hält, das als rein propositionales Wissen sonst leicht in Vergessenheit geriete. […] Die zentrale Leistung von Darstellungen ist dabei die Konkretion, ohne die Teilnehmer gewissermaßen nicht glauben könnten, was sie wissen. Darstellungen sorgen für eine szenische Vitalisierung sozialer Ordnung, indem sie Körper, Personen und Wissen zusammenschweißen. Sie verknüpfen die Präsenz eines Wissens mit der physischen, mentalen und emotionalen Präsenz eines Akteurs in sozialen Situationen. Das Publikum erlebt Darstellungen zumeist im Rahmen einer ›doctrin of natural expression‹ (Goff man 1997: 8) als unmittelbaren Selbstausdruck.« (Ebd.: 675, Hervorh. i. Orig.)

Problematisch ist hierbei, dass Hirschauer in seiner Konzeption von »Erfahrung« demselben Realitätsmodell verhaftet bleibt, das seiner eigenen theoretischen und empirischen Beschreibung zufolge der sozialen Organisation der Zweigeschlechtlichkeit »im Alltag« den Status einer Evidenz einbringt.

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»Mächtige Visualisierungen sorgen für eine ständige Augenfälligkeit der Realität. Und über das, was sich zeigt, braucht man nicht zu sprechen. Gerade die Geschlechterwirklichkeit, die aus unzähligen ›spontanen Evidenzen‹ besteht, ist ohne eine Kritik der ›Offensichtlichkeit‹ nicht zu sezieren.« (Hirschauer 1996: 247)

Zwar beharren Amman und Hirschauer darauf, dass jede Versprachlichung der vorsprachlichen Erlebnisschicht mit einer Interpretation einhergeht. So betonen sie, im Fall des »Zuschauers«, dass die ethnographische Mitschrift von Anfang an den Sinnstiftungen des Autors unterlägen, und Hirschauer unterstreicht in seinen Schriften zur sozialen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, dass jeder Versuch das »leibliche Erleben« der körperlichen Darstellungspraktiken empirisch zugänglich zu machen eine performative Dimension impliziere (Hirschauer 1994: 674f.). Aber dennoch halten Amman und Hirschauer sowohl im Fall des Zuschauers als auch im Fall des Darstellers eine Erlebnisschicht aufrecht, die sich dem Erlebenden intuitiv zu präsentieren scheint: So soll sich die ethnographische Mitschrift auf eine ihr vorhergehende Erfahrung beziehen, in der das Erlebte »holistisch« verstanden wurde. Im Fall des »Leiberlebens« wiederum legt Hirschauer nahe, dass sich die Frage der Interpretation in der »Introspektion« noch nicht stellt (ebd.: 675). Mit diesem Modell des Erlebens bleibt die ethnographische Forschung des »doing gender« meiner Ansicht nach in einer entscheidenden Hinsicht unkritisch dem Wissenssystem verhaftet, das sie untersucht und das das System der Zweigeschlechtlichkeit mit einem hohen Wahrheitswert ausstattet. Dadurch dass die ethnographische Forschung letztendlich doch als eine verstanden wird, die sich – wenngleich interpretativ – auf eine unmittelbare und damit ursprüngliche Erlebnisschicht bezieht, geht an dieser wichtigen Stelle des theoretischen Selbstverständnisses der diskursive Charakter der analysierten Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit und damit auch der Blick auf deren kontextuellen Eingebundenheit verloren. Damit will ich nicht abstreiten, dass ethnomethodologische Forschungsarbeiten zu den Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit, wie sie von Hirschauer betrieben worden sind, durchaus erfolgreich zu einer »Kritik der ›Offensichtlichkeit‹« beitragen können und bereits beigetragen haben. Auf der Ebene der theoretischen Konzeption von ›Interaktion‹ und deren ›Erfahrung‹ wird aber in diesem Ansatz gleichzeitig gerade diese »Offensichtlichkeit« als deren strukturierendes Charakteristikum vorausgesetzt, und damit auch als ein wesentliches Merkmal der Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit: Obgleich mit der Annahme, dass soziale Interaktionen sich durch eine bestimmte Ordnung und Methodizität auszeichnen, die Annahme einhergeht, dass hier »kulturelle Muster und Regeln« mobilisiert werden, die über den situativen Kontext der Interaktion hinausgehen und unabhängig von den Handelnden Bestand haben (vgl. Hirschauer 1994: 680ff., Kelle 2000: 121; Faulstich-Wieland u.a. 2004: 24), besteht ein zentrales theoretisches Moment der Ethnographie in der Behauptung, dass sich »das (kultur)so-

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ziologisch Relevante […] nur unter situativen Präsenzbedingungen zeigt. Im Gegensatz etwa zu Meinungen ›im Kopf‹ und biographischen Erlebnissen in rekonstruktiven Erzählungen«, so Amman und Hirschauer unter Verweis auf Goffmann und Geertz, »lokalisiert die Ethnographie den soziologischen Gegenstand in den situierten, öffentlichen Ausdrucksformen gegenwärtiger kultureller Ereignisse« (Amman/Hirschauer 1997: 22). In seinem 1982 geschriebenem Essay »Die Interaktionsordnung« begründet Goffmann folgendermaßen, warum er die »unmittelbare Interaktion«, die Face-to-Face-Interaktion, die sich durch die »gegenseitige körperliche Präsenz« der Interagierenden auszeichnen soll, zu einem eigenständigem Gebiet soziologischer Forschung erklärt hat, das einer spezifischen Ordnung unterliege (Goffman 1994: 55ff.). »Der körperlichen Kopräsenz wohnen demnach sowohl Chancen wie auch Gefahren inne. Wo unvorhergesehene Gefahren eintreten, wird ihnen wahrscheinlich überall dadurch begegnet, daß soziale Vorkehrungen getroffen werden; und da überall dieselben grundlegenden Unvorhersehbarkeiten bewältigt werden müssen, können wir davon ausgehen, daß die Interaktionsordnungen unterschiedlicher Gesellschaften auch einige deutliche Ähnlichkeiten aufweisen. Ich möchte Sie wieder daran erinnern, daß diese Möglichkeiten und Gefahren ja in sozialen Situationen vorkommen und auch dort ihre ersten Folgen zeitigen. Und es sind auch soziale Situationen, die die natürliche Bühne abgeben, auf der körperliche Darstellungen inszeniert und auf der sie auch alle entziffert werden. Das sind die Gründe dafür, daß wir die sozialen Situationen als grundlegende Einheit der Untersuchung des Reichs der Interaktion betrachten. Und das sind, nebenbei bemerkt, auch die Gründe für die Behauptung, daß unsere Erfahrung der Welt im wesentlichen den Charakter einer Konfrontation aufweist.« (Ebd.: 61)

Der konfrontative Charakter der Erfahrung der Welt als die wesentliche Eigenschaft »unmittelbarer Interaktionen« geht jedoch bei Goffman über den unvorhersagbaren Charakter der Begegnung mit dem anderen hinaus und muss dem zugerechnet werden, was zuvor im selben Text als »folgenschwere Offensichtlichkeit« (ebd.: 58) bezeichnet worden ist. Demnach soll jede unmittelbare Begegnung mit einem anderen durch eine »Offensichtlichkeit« gekennzeichnet sein, die nur in Face-to-Face- Konstellationen zu Tage treten kann (vgl. ebd.: 56f.) und den Kern des Situierten15 bildet:

15 | Unter dem Begriff des Situierten versteht Goff man die allgemeine Tatsache, dass menschliches Handeln »sozial situiert« ist, dass »die meisten von uns ihren Alltag in unmittelbarer Gegenwart von anderen verbringen.« (Ebd.: 56) Aufgabe der Interaktionsanalyse sei es die »Wirkungen« der Situiertheit nicht nur als Indikatoren für soziale Strukturen zu betrachten, sondern als »Daten in eigenem Recht« (ebd.) zu untersuchen, was bedeuten müsste, die Analyse »vom einfach Situierten zum Situativen« (ebd.) zu verschieben und das herauszufi ltern, was nur in Face-toFace- Konstellationen auftreten kann.

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»Diese Offensichtlichkeit erschöpft sich nicht nur darin, daß unser Auftreten und unsere Verhaltensweisen Hinweise auf unseren Status und unsere Beziehungen geben. Vielmehr können die anderen schon unserer Blickrichtung, unserem ›Engagement‹ und der Art unserer ersten Handlungen entnehmen, welche Absichten und Zwecke wir im Moment verfolgen – und dies alles unabhängig davon, ob wir uns mit ihnen abgeben oder nicht. […] Befindet sich ein Individuum erst einmal in der Gegenwart eines anderen, zeigen beide eine bewundernswerte Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit auf ein und dieselbe Sache zu richten, gleichzeitig wahrzunehmen, was sie gerade tun, und außerdem zu registrieren, daß sie es wahrnehmen.« (Ebd.: 58f.)

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, worin die Spezifität des ethnographischen Untersuchungsgegenstandes, so wie ihn Amman und Hirschauer definiert haben, besteht. Demnach zeigt sich »das (kultur)soziologisch Relevante […] nur unter situativen Präsenzbedingungen« (Amman/Hirschauer 1997: 22), weil das sozial Situierte erstens entscheidend durch die Fähigkeit »ein anderes Individuum unmittelbar beobachten und hören zu können« (Goffman 1994: 59) geprägt sein soll und zweitens diese Fähigkeit maßgeblich menschliches Handeln strukturieren soll. Auf diesen Aspekt geht Goffman in direktem Anschluss an das oben stehende Zitat ein: »In Verbindung mit ihrer Fähigkeit, sich die Abläufe der eigenen Handlungen gegenseitig anzuzeigen und die Reaktionen auf solche Anzeigen anderer blitzartig zu übermitteln, ist damit eine wesentliche Vorbedingung für etwas sehr wichtiges geschaffen: die anhaltende, eng synchronisierte Koordinierung von Handlungen, sei es als Mittel zur Bewältigung eines gemeinsamen Problems oder sei es als ein Mittel zur Koordinierung nacheinander zu verrichtender, aber einander ähnelnder Aufgaben.« (Ebd.: 59)

Als scheinbar kleinstes und elementares Teil sozialer Interaktionen führt diese wundersame Fähigkeit, die aus Sicht von Goffman durch Sprache perfektioniert wird, mitnichten aber von deren strukturellen Voraussetzungen abhängig ist, zu der spezifischen Ausrichtung des ethnographischen Blicks auf den situativen Charakter interaktiver Handlungen. »Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Situationen«, so zitieren Amman und Hirschauer Goffman, »sondern eher um Situationen und ihre Menschen« (Goffman 1971 zit.n. Amman/Hirschauer 1997: 24) Auch in der geschlechstbezogenen Schulforschung ist die ethnographische Suche nach dem »doing gender« wesentlich geprägt von einem Begriff des Situativen, in dessen Mittelpunkt die Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart des anderen steht. So behauptet Kelle, dass sich »durch eine Symmetrie von Produktion und Wahrnehmung« intersubjektiver Aktivitäten »gemeinsame Bedeutungen« von Geschlecht herausbildeten (Kelle 2000: 119). Diese Konzentration auf das Situative als den allen Beteiligten gegenwärtigen Umstand einer sozialen Handlung, und damit auf die »mikroanalytische« Ebene sozialer Prozesse, hat der Ethnographie den Vorwurf ein-

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gebracht, sie vernachlässige die so genannte macht- und makrostrukturelle Ebene von Geschlechterkonstruktionen. Jenseits dieser Opposition von Mikro- und Makroanalyse verhindert meiner Ansicht nach jedoch die Konzeption von »Geschlechtsbedeutungen« als einer intersubjektiv »geteilten Wirklichkeit«, die sich in sozialen Interaktionen »realisiert« (ebd.: 119) und lokal bestimmt werden kann, ein Verständnis von Geschlecht, in dem das machtvolle Wirken des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit nicht mehr zwangsläufig zu einer »Tatsache« gerinnt. Denn mit der Konzipierung der geschlechtsbezogenen Erfahrung als einer situierten Praxis, die wesentlich durch die unmittelbare Wahrnehmung und deren Folgen für die interaktive Handlung strukturiert sein soll, wird nicht nur entgegen der ursprünglichen Absicht der Theorie des »doing gender« die diskursive Eingebundenheit solcher Erfahrungen erneut ausgeblendet, sondern auch die notwendigen Spielräume in der Konstitution des Geschlechterdiskurses können auf diese Weise nicht systematisch berücksichtigt werden. In ihrem ganzheitlichen Verständnis des Erlebens der Welt ignorieren Amman und Hirschauer die grundlegende Spaltung der Erfahrung, wie man sie in den Texten von Freud und Lacan sowie von Derrida und Butler verfolgen kann. Bei aller Unterschiedlichkeit, die die Konzeption dieser Spaltung bei ihnen aufweist, verweisen ihre Arbeiten in unterschiedlichen Zusammenhängen gemeinsam auf die Ursprünglichkeit einer Bewegung des Differenzierens bzw. des Wiederholens in der Konstitution jeglicher psychischen Erfahrung. Dieses Denken der psychischen Erfahrung als einer »Niederschrift« oder »Spur« impliziert nicht nur, dass die Erfahrung nicht von einem einfachen Anfang, einer ursprünglichen Subjektivität bzw. einem ursprünglichen Bewusstsein aus gedacht werden kann, sondern bedeutet auch, dass die Möglichkeit der Erfahrung von Anfang an mit dem Effekt der »Nachträglichkeit« und des »Aufschubs« verbunden ist und in ihrer Bedeutung für das Subjekt nicht nur keine volle Bedeutung erlangen kann, sondern auch niemals besessen hat. Und dies gilt bereits für das sinnliche Erleben mit den entsprechenden Folgen für die Konzeption eines Begriffs der »empirischen Erfahrung«, wie er der ethnographischen Forschung zugrunde liegt: »Einerseits«, so schreibt Derrida in »Grammatologie«, »würden ohne die Differenz oder den formgebenden Gegensatz das Lautelement, der Term, die als sinnlich bezeichnete Fülle nicht als solche in Erscheinung treten. […] Ohne in der minimalen Einheit der zeitlichen Erfahrung festgehalten zu werden, ohne eine Spur, die das Andere als Anderes im Gleichen festhält, könnte keine Differenz ihre Arbeit verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten. Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt. Die (reine) Spur ist die Differenz*. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil deren Erfüllung.« (Derrida 1974: 109) »Somit erweist sich die Differenz* als die Formation der Form. Aber sie ist andererseits das Eingedrückt-Sein des Abdrucks (empreinte).« (Ebd.: 110)

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Der Neologismus der différance, der im gesprochenen Wort nicht von dem französischen Wort der différence unterschieden werden kann, spricht diese Abhängigkeit des sinnlichen Vernehmens von einer Ordnung an, die weder dem Sinnlichen noch der Intelligibilität zugerechnet werden kann. So wird ein einzelner Laut wie z.B. das e, das in dem gesprochenen Wort der »différ() nce« nicht von dem a unterschieden werden kann, auch in anderen Worten nicht vernommen aufgrund seiner grundlegenden Lautsubstanz. Das Phonem e kann prinzipiell nur als ein e zur Kenntnis genommen werden in einer zeitlichen Erfahrung, die nicht von einer ursprünglichen Gegenwart ausgeht und die an eine Verräumlichung gebunden ist, »die das Andere als Anderes im Gleichen festhält«. Dasselbe gilt jedoch auch für die Unterscheidung zwischen der différance und der différence im geschriebenen Text. »Unhörbar ist die Differenz zwischen zwei Phonemen, die allein ihr Sein und Wirken als solche ermöglicht. […] Die Differenz, welche die Phoneme aufstellt und sie in jedem Sinne des Wortes, vernehmbar macht, bleibt an sich unhörbar. Man wird einwenden, daß die graphische Differenz aus denselben Gründen in Finsternis versinkt und nie die Fülle eines sinnlichen Terminus erreicht, daß sie vielmehr eine unsichtbare Beziehung ausspannt, den Bezug einer nicht erscheinenden Verbindung zwischen zwei Spektakeln. Gewiß. Wenn jedoch unter diesem Gesichtspunkt der ausgeprägte Unterschied in der ›différ()nce‹ zwischen dem e und dem a sich dem Blick und dem Gehör entzieht, legt dies wohl auf treffende Art nahe, daß man sich hier auf eine Ordnung verweisen lassen muß, die nicht mehr der Sinnlichkeit angehört. Aber auch nicht mehr der Intelligibilität, einer Idealität, die nicht zufällig an die Objektivität des theorein oder des Verstandes gebunden wäre; es wird also auf eine Ordnung verwiesen, die jener für die Philosophie grundlegenden Opposition zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen widersteht.« (Derrida 1990a: 79)

An dieser Stelle ist es hilfreich sich an die Notwendigkeit der Differenz in der Selbstbeziehung zu erinnern. Wendet man sich wiederum Derridas Dekonstruktion von Husserls Behauptung eines ursprünglichen subjektiven Bewusstseinsstroms zu, der selbst keine Zeit voraussetze, aber Zeit als die ideale Form von Erscheinungen konstituiere, so wird deutlich, warum die Bewegung der différance weder dem Bereich des Sinnlichen noch dem Bereich des Idealen zugeordnet werden kann. Selbst in Husserls Konzeption der absoluten Subjektivität als eines Bewusstseinsstroms, der durch den absoluten Anfang einer spontanen Urimpression, das lebendige »Jetzt« als Urquell des Geistes, beherrscht sein soll, konnte Husserl, wie Derrida gezeigt hat, es nicht vermeiden, einen Bezug zur Nicht-Präsenz in der Selbstpräsenz des Präsens zuzulassen. Die Abhängigkeit der Präsenz des Präsens von der Retention untergräbt die Linearität des Modells der »Zeitigung« als die ideale Form, die erst das Bewusstsein von ›etwas‹ geben kann, und verweist auf eine grundlegende Nicht-Identität bzw. Differenz in der Konstitution des Präsens. Wenn man jedoch diese Abhängigkeit des Präsens von der retentionalen Spur anerkennt, lässt sich die »Zeitigung« nicht mehr als eine

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selbstursprüngliche rein ideale Sphäre des Geistes, eine vorausdrückliche Sinnschicht, isolieren. Wenn der Ursprung des Sinns zeitlicher Natur ist, so Derrida in Bezug auf Husserl, so ist der Ursprung niemals schlicht Präsens, sondern immer schon in die Bewegung einer Spur eingelassen, die das lebendige Präsens mit der Nicht-Präsenz verwickelt. Zur Erinnerung: »Die ›Zeit‹ kann deshalb keine ›absolute Subjektivität‹ sein, weil sie vom Präsens und von der Selbstpräsenz eines präsent Seienden her nicht zu deuten ist. Wie alles, was unter diesem Titel gedacht wird, und wie alles, was die entschiedenste transzendentale Reduktion ausschließt, ist die ›Welt‹ dem Fluß der ›Zeitigung‹ ursprünglich implizit.« (Derrida 1979: 143)

Damit kompliziert die »Bewegung« der Spur nicht nur den Strom der »Zeitigung« hinsichtlich seiner linearen Abfolge, sondern sie verweist gleichzeitig auch auf die notwendige Öffnung des vorgeblich rein innerlichen und idealen Bewusstseinsstroms zu einem Außen. Den Ursprung des Bewusstseins von der Spur aus zu denken, und nicht umgekehrt, bedeutet nicht nur die Erfahrung der Zeit von einer Vergangenheit aus zu denken, die niemals reine Gegenwart war, sondern auch die mit dieser Erfahrung verbundene Differenz als eine »Verräumlichung« anzuerkennen, die die Selbstvergegenwärtigung des Subjekts unumgänglich an seine Beziehung zu etwas anderem als es selbst bindet. Deshalb konnte Derrida zeigen, dass die vorausdrückliche Sinnschicht bei Husserl von Beginn an mit der Schicht des Ausdrucks verwoben ist und der Ausdruck notwendigerweise von der Struktur der Anzeige affiziert ist. Entgegen Husserls Behauptung der strengen Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem in seiner ursprünglichen Konstitution, der »Urimpression«, lässt sich die zeitliche Erscheinung von »etwas« nicht auf ein ursprungsgebendes Präsens zurückführen. Die »Funktion substitutiver Vertretung«, »die Struktur des ›für etwas‹« (ebd.: 145), die für die Struktur des Zeichens konstitutiv ist, gilt nicht nur für den Signifi kanten, sondern auch für das Signifi kat: »Wir wollen ferner zu bedenken geben, daß dieses Für-sich der Selbstpräsenz […] erst in der Bewegung der Supplementarität als ursprüngliche Substitution in der Form des ›für etwas‹, d.h., wie wir gesehen haben, erst mit der Operation der Bezeichnung überhaupt ins Spiel gekommen ist. So wäre das Für–sich-Sein ein Am-Platz-seiner-selbst- Sein: für-sich statt selbst gesetzt sein. […] Diese Struktur von Supplementarität ist außerordentlich komplex. Als Supplement re-präsentiert der Signifi kant nicht zunächst schlicht ein abwesendes Signifi kat, sondern er unterschiebt sich vielmehr einem anderen Signifi kanten, einer anderen Ordnung des Signifi kanten, die mit der fehlenden Präsenz eine andere Beziehung unterhält, um dann vom Spiel der Differenz aufgewertet zu werden – aufgewertet, weil das Spiel der Differenz die Idealisierungsbewegung ist und weil der Signifi kant in dem Maße, wie er ideal wird, zunehmend die Kraft der Wiederholung von Präsenz gewinnt und den Sinn hütet, reinhält und aufspart.« (Ebd.: 146)

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Versteht man unter dem Neologismus der différance ein Wort, das diese »Bewegung« der Temporisation und der Verräumlichung anspricht, so erweist sich die différance einerseits als die »Formation der Form«, in der das Sinnliche erscheint. Andererseits möchte Derrida sie jedoch auch als das »Eingedrückt-sein des Abdrucks« verstanden wissen, auf das die Bildung der Intelligibilität angewiesen ist (Derrida 1974: 110). Vor diesem Hintergrund versteht es sich für Derrida »von selbst«, dass Abdruck in diesem Zusammenhang etwas anderes bedeutet als Abdruck einer äußeren Realität. Unter der Voraussetzung, das »Psychische« nicht als eine innere Realität zu verstehen, die eine äußere Realität kopiert, schließt Derrida hier an Saussures Unterscheidung zwischen dem »psychischen Lautbild« und dem »gegenständlichen Laut« an. Unter einem Lautbild versteht Saussure die »Vergegenwärtigung« des physikalischen Lautes »auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen« (Saussure 1967: 77). Berücksichtigt man, dass für Saussure der Wert eines Zeichens – und zwar sowohl auf der Ebene des Signifi kats als auch auf der Ebene des Signifikanten – von seiner differenziellen Beziehung zu anderen Sprachelementen abhängt, so erscheint Derridas Interpretation des Lautbildes bei Saussure nachvollziehbar, demzufolge dieses »das strukturierte Erscheinen des Lautes, die ›sinnliche‹, von der Differenz* erlebte und gestaltete ›Materie‹« (Derrida 1974: 111) bezeichne. Als diejenige Kraft, die in ein und derselben Bewegung das sinnliche Erleben und deren Idealisierung formiert, geht die différance der Unterscheidung zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen voraus. Demnach kann das »Eingedrückt-Sein des Abdrucks« (ebd.: 110) weder gesehen noch gehört werden: »Es gilt, nachdem man diese Vorsichtsmaßnahmen getroffen hat, zu erkennen, daß die Differenzen im spezifischen Bereich jenes Eindrucks und jener Spur – in der Temporalisation eines Erlebten, welches weder in der Welt noch in einer ›anderen Welt‹ ist, das im Laut nicht mehr als im Licht sich bewegt, und in der Zeit nicht eher als im Raum – hier zwischen den Elementen in Erscheinung treten, besser noch, sie produzieren, sie als solche an die Oberfläche dringen lassen und Texte, Ketten und Systeme von Spuren konstituieren.« (Ebd.: 113)

Den Ursprung des Erlebens ausgehend von der Spur zu denken, und nicht von einem lebendigen Präsens, erfordert die grundlegende Verwobenheit des »Erlebten« und der »Welt« anzuerkennen, ohne diesen Unterschied auszulöschen: »Diese Ketten und diese Systeme können sich nur im Gewebe jener Spur, jenes Abdrucks einzeichnen. Die unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinendem und dem Erscheinen (zwischen der ›Welt‹ und dem ›Erlebten‹) ist die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie ist selbst schon eine Spur.« (Ebd.: 113)

In dieser Verkettung der Temporisation mit der Verräumlichung unterscheidet sich diese Sicht auf das »Erleben« sowohl von dem radikalen Konstruk-

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tivismus geschlossener Bewusstseinssysteme als auch von einem idealistischen Denken, in dem das »Ding an sich« dem Bewusstsein entzogen bleibt. Ohne einen möglichen Unterschied zwischen der Erfahrung und der Sprache im engen Sinne leugnen zu wollen, lässt sich das Verhältnis zwischen der ethnographischen Mitschrift und der ethnographischen Felderfahrung vor diesem Hintergrund nicht mehr als ein Verhältnis zwischen einem Original und einer interpretativ gefärbten Repräsentation bestimmen. Beide sind gleichermaßen einer Bewegung unterworfen, die Derrida unter dem Namen der »Spur« und der »différance« angesprochen hat. Unter diesem Gesichtspunkt besteht kein wesenhafter Unterschied zwischen der »innerlichen Erfahrung« und ihrer »Äußerung« in der Form der geschriebenen oder gesprochenen Sprache. Die »innerliche Erfahrung« ist nicht notwendigerweise reichhaltiger als ihre »Äußerung« und ein »holistisches« Verständnis ihres Inhaltes ist in der »innerlichen Sphäre« ebenso unmöglich wie im Fall ihrer »Äußerung«. Dies verschiebt den Blick auf den Referenten der ethnographischen Forschung und damit auch auf das Selbstverständnis der eigenen Forschungspraxis als das eines wissenschaftlichen Unternehmens. Obwohl der Ansatz des »doing gender« den diskursiven Charakter der Konstruktionen von Geschlecht besonders hervorhebt, wird in seiner empirischen Erforschung an einem »harten« Empiriebegriff festgehalten, in dessen Mittelpunkt die Erfahrung des Feldforschers als der Referenzpunkt der eigenen Forschungsschriften steht. Auch wenn die ethnographische Beschreibung nicht den Anspruch erhebt das Erleben der TeilnehmerInnen in einem sozialen Feld abzubilden, ist sie bemüht – dies ist zumindest die eine Dimension der ethnographischen Mitschrift – die originale Erfahrung des Forschers, die ein intuitives Verständnis sozialer Strukturen implizieren soll, so authentisch wie möglich abzubilden. Der ethnographische Bericht soll den lebendigen Vollzug sozialer Strukturen so dicht wie möglich simulieren und zugleich, mithilfe der Transformation solcher »Erlebnisqualitäten« in eine sozialwissenschaftliche Sprache, ihre unbewussten Strukturen aufdecken. In dem Bemühen, zum einen einer originalen Erfahrungsqualität nachzuspüren, und zum anderen dieses Original sogar noch zu übertreffen, indem man es in eine propositionale Sprache bringt, die die unbewusste »Sozio-Logik« dieses Originals sichtbar werden lassen soll, wird aber die Temporalität und Differenzialität des Geschlechterdiskurses ignoriert, und damit auch die Widerstände, die dieser seiner informativen Verarbeitung notwendigerweise entgegenbringt.

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2.2.2 Die Sedimentierung von Geschlecht als »nicht-anwesendes Zurückbleiben« und die relative Stabilität des Diskur ses der Zweigeschlechtlichkeit Stefan Hirschauer geht davon aus, dass in sozialen Konstruktionen von Geschlecht auf eine Infrastruktur zurückgegriffen wird, die »situativ weiterverarbeitet (erhärtet, dekomponiert, rekonfiguriert)« (Hirschauer 1994: 680) wird. Unter Bezug auf Goff mans Kategorie der »institutional reflexivity« versteht er hierunter »situationsübergreifende Trägheitsmomente«, wie die kognitive Stabilität der Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, die individualgeschichtliche Stabilisierung der Geschlechtszugehörigkeit, die semiotische Stabilität eines Verweisungszusammenhangs von Zeichen sowie die sozialstrukturelle Stabilität von institutionellen Arrangements der Geschlechterbeziehungen (ebd.: 680). Obwohl Hirschauer anmerkt, dass die Elemente der Infrastruktur die Interaktionsprozesse nicht determinierten, sondern sie lediglich disponierten, erklärt er die Stabilität des Systems der Zweigeschlechtlichkeit damit, dass unter dem Rückgriff auf solche Wissensbestände situative Darstellungen von Geschlecht »zu den verschiedensten Gelegenheiten ähnlich wiederholt hervorgebracht« (ebd.: 680) würden. Demgegenüber beharrt Butler darauf, dass die Möglichkeit der Abweichung durch die Wiederholung hindurch nicht lediglich eine zufällige Möglichkeit ist, sondern eine notwendige Bedingung der Sedimentierung der Norm der biologischen Zweigeschlechtlichkeit: »Als die sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden oder rituellen Praxis erlangt das biologische Geschlecht seinen Effekt des Naturalisierten; und doch tun sich in diesen ständigen Wiederholungen auch Brüche und feine Risse auf als die konstitutiven Instabilitäten in solchen Konstruktionen, dasjenige, was der Norm entgeht oder über sie hinausschießt, was von der wiederholenden Bearbeitung durch die Norm nicht vollkommen defi niert und festgelegt werden kann. Diese Instabilität ist die dekonstituierende Möglichkeit des Wiederholungsprozesses selbst, […] sie ist die Möglichkeit die Konsolidierung der Normen des ›biologischen Geschlechts‹ in eine potentiell produktive Krise zu versetzen.« (Butler 1995: 32, Hervorh. i. Orig.)

Während der Begriff der Ähnlichkeit – auch wenn er im Unterschied zu dem der Identität eine Abweichung zum Vergleichenden einschließt – voraussetzt, dass neben der Abweichung eine wesentliche identische Gemeinsamkeit besteht, schließt Butlers Verständnis der Wiederholung an Derrida an, der darauf besteht, dass die Iteration »in sich selbst die Abweichung [écart] einer Differenz mit sich [bringt], die sie als Iteration konstituiert«, so dass es streng genommen keine »reine Iteration« gibt (Derrida 2001: 89 Hervorh. i. Orig.). Somit ist das, was Hirschauer als »situative Weiterverarbeitung« der Infrastruktur der sozialen Konstruktion von Geschlecht bezeichnet hat, in der »andernorts fabrizierte ›Halbfertigteile‹« »erhärtet, dekomponiert, re-

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konfiguriert« werden, paradoxerweise nur möglich, wenn diese gleichzeitig die Kraft zur Dekomponierung und Rekonfigurierung aufweisen. Der Eindruck der relativen Festigkeit von Geschlecht oder in Butlers Worten: die Sedimentierungen von Geschlecht, die durch Wiederholung hervorgebracht werden, müssen vor diesem Hintergrund der sich in Derridas Verständnis von der Schrift konturierenden Beziehung zwischen der Iterabilität und der Idealisierung verstanden werden. »Es gibt keine Idealisierung ohne (identifizierende) Iterabilität«, von dieser Feststellung Derridas war dieses Kapitel anfangs ausgegangen, »aber aus demselben Grund, aufgrund der (verändernden) Iterabilität, gibt es keine rein gehaltene, vor jeglicher Kontamination geschützte Idealisierung«. »Die Iterabilität setzt eine minimale restance voraus (wie auch eine minimale, wenngleich begrenzte Idealisierung), damit die Selbst-Identität in, quer durch und selbst hinsichtlich der Veränderung [altération] wiederholbar und identifizierbar ist. Denn die Struktur der Iteration, ein weiterer entscheidender Zug, impliziert gleichzeitig Identität und Differenz.« (Derrida 2001: 89)

Die Kohärenz, die geschlechtsbezogenen Normen bzw. Praktiken anzuhaften scheint, ist also nicht darauf zurückzuführen, dass geschlechtsbezogene Normen durch ihre Wiederholung hindurch eine identische, in ihrem wesentlichen Kern durch die Wiederholung unberührte ideale Vorstellungen von Geschlecht mit sich führen, die eine Identifizierung erlauben. Die »Selbst-Identität«, die Derrida hier anspricht, meint etwas anderes als eine unteilbare, nur mit sich selbst identische Einheit, die der Differenz, die der Wiederholung unumgänglich inhärent ist, zumindest weitestgehend widersteht. Vielmehr sprechen das für die Iterabilität unentbehrliche Zurückbleiben und die für sie erforderliche minimale Idealisierung, die als das »Wiedermarkierbare/Bemerkenswerte« der normativen Praxis von Geschlecht inhärent sein müssen, bereits den notwendigen Schnitt in der durch einen Bindestrich getrennten Bezeichnung der »Selbst-Identität« an. Denn das Zurückbleiben, das auf den ersten Blick so etwas wie eine Brückenfunktion zwischen den unterschiedlichen individuellen Konstruktionen von Geschlecht einzunehmen scheint, entpuppt sich bei einer genaueren Betrachtung selbst als eine differenzielle Struktur: »Und weil diese Iterabilität differentiell ist, im Inneren jedes ›Elements‹ und zwischen den ›Elementen‹, weil sie jedes Element, indem sie es konstituiert, zerbricht, weil sie es mit einer Artikulationsbruchstelle markiert, ist die restance, obwohl unentbehrlich, niemals diejenige einer vollen Präsenz: Es ist eine differentielle Struktur, die der Präsenz oder dem (einfachen oder dialektischen) Gegensatz Präsenz und Absenz entgeht, ein Gegensatz von dem die Idee der Permanenz abhängig ist.« (Ebd.: 89)

Diese differenzielle Struktur des »Wiedermarkierbaren/Bemerkenswerten« in der laufenden Wiederholung der Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit

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hindert den Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit aber offensichtlich nicht daran eine so große Stabilität zu erlangen, dass zumindest die biologische Zweigeschlechtlichkeit als nahezu unumstößlich erscheint. In einem Briefwechsel mit dem Herausgeber der amerikanischen Ausgabe von Limited Inc., Gerald Graff, erläutert Derrida seine in der »Grammatologie« verwendete Bezeichnung des »verdoppelnden Kommentars«. Hierbei weist er darauf hin, dass die Dekonstruktion die Möglichkeit der »relativen Stabilität« einer Textschicht zu folgen niemals bestritten hat und erklärt, was er in diesem Zusammenhang unter der »relativen Stabilität« einer Textschicht versteht: »Wenn ich von großer Stabilität spreche, so um zu unterstreichen, daß diese semantische Schicht weder ursprünglich noch ahistorisch oder einfach, weder in einem ihrer Teile mit sich selbst identisch, ja nicht einmal durchgängig semantisch oder signifi kant ist. Diese Stabilisierung ist relativ, auch wenn sie manchmal so groß ist, daß sie unverrückbar und permanent erscheint. Sie ist das Augenblicksergebnis einer langen Geschichte von Kräfteverhältnissen (inner- und außersemantischen, inner- und außerdiskursiven, inner- und außerliterarischen oder philosophischen, inner- und außerakademischen und so weiter). Damit diese Geschichte stattfinden konnte, mit all ihren Turbulenzen und Stockungen, damit Kräfteverhältnisse, Spannungen oder Kriege stattfinden konnten, damit sich Hegemonien eine bestimmte Zeit lang behaupten konnten, bedurfte es eines gewissen Spielraums in all diesen Strukturen, also einer Instabilität und Nicht-Identität mit sich selbst, einer Nicht-Transparenz. Rhetorische Zweideutigkeit und Wandlungsfähigkeit mußten so im »meaning« arbeiten können. Die différance mußte die Referenz durchdringen.« (Ebd.: 223f.)

In diesem Sinne kann man innerhalb des Geschlechterdiskurses sicherlich unterschiedlich stabile Diskursschichten feststellen. Und im Rahmen der ethnographischen Schulforschung sind solche Differenzierungen für die Ebene der »alltäglichen« Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit auch bereits vorgenommen worden. So schlägt Damaris Güting vor, die empirisch untersucht hat, mittels welcher »Inszenierungsformen von Geschlecht« SchülerInnen »vor dem Publikum der MitschülerInnen und Lehrkräfte« im Unterricht Geschlechtszugehörigkeiten »situativ« aushandeln, konterkarieren und forcieren (Güting 2004: 11), zwischen folgenden »Konstruktionsebenen« zu unterscheiden, die den Eindruck der »›Faktizität‹ individueller Geschlechtszugehörigkeit« im Alltag absichern: 1. Institutionelle Geschlechtszugehörigkeit, 2. Optische Vergegenwärtigung von Geschlechtszugehörigkeit, 3. Wechselseitige Aneinander-Darstellung von Geschlechtszugehörigkeit durch Beziehungsformen (interaktionsbezogene Inszenierung) 4. Inszenierung von Geschlechtszugehörigkeit durch geschlechtsbezogene Verhaltensrepertoires (ebd.: 193ff.).

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Hierbei konstatiert sie, dass diese Praktiken ein unterschiedlich hohes »Maß der Eindeutigkeit der Geschlechterunterscheidung« hervorbrächten. Während sich die institutionelle Absicherung der Geschlechtszugehörigkeit, die sich in den alltäglichen Praktiken vor allem durch den Gebrauch eines geschlechtsgruppengebundenen Namens und der sprachlichen Unterscheidung zwischen den Geschlechtern vollzieht, durch ein »nahezu unbeschränkte[s] Maß an Eindeutigkeit« (ebd.: 199) auszeichne, sei dieses »bei geschlechtsgebundenen Verhaltensrepertoires eher als gering einzustufen« (ebd.: 212). Insofern der Begriff der Eindeutigkeit keine graduelle Abstufung zulässt, spricht Güting hiermit die Interpretationsspielräume an, die mit den sozialen Regulierungen, die die Inszenierungen der individuellen Geschlechtszugehörigkeit anleiten, verbunden sind. Diese sind nicht beliebig und offensichtlich unterschiedlich breit angelegt. Während der Gebrauch eines Mädchen- oder Jungennamens in den überwiegenden Fällen weitgehend unangefochten ein bestimmtes Geschlecht zuweist, bilden bestimmte Verhaltensweisen, wie z.B. »unsichere und zögerliche Antwortinszenierungen« (ebd.: 212), nur sehr brüchige Indikatoren, um einer Person ein bestimmtes Geschlecht zuzuweisen. Folgt man dem von Güting entwickelten Modell der Systematisierung der unterschiedlichen Praktiken, wird aber auch deutlich, dass keine der von ihr unterschiedenen vier Klassen ein geschlossenes Regelwerk bildet, das die individuelle Geschlechtszugehörigkeit in einer bestimmten Situation eindeutig absichert oder als Regel unangreif bar ist. So ist die Zuweisung eines geschlechtsgebundenen Namens kurz nach der Geburt sicherlich eine starke gesetzliche Institution, die Irritationenen, wie z.B. Kleiderverstöße zu glätten vermag. Das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht muss aber mit zunehmenden Alter laufend bestätigt werden, was bedeutet, dass es allein keine eindeutige und unumstößliche Grundlage darstellt, um die individuelle Geschlechtszugehörigkeit abzusichern. Werden die Irritationen zu groß, kann die institutionelle Geschlechtszugehörigkeit und damit auch das zugewiesene biologische Geschlecht durchaus in Frage gestellt werden. Dies mag im Klassenraum, wie Güting in ihrer Ethnographie darlegt, meist spielerisch und provokativ gemeint sein (vgl. ebd.: 101). Dass die institutionelle Bestimmung des Geschlechts bei der Geburt aber nicht ausreicht, durch andere Praktiken abgesichert werden muss und dies durchaus fehlschlagen kann, zeigt den prinzipiell eingeschränkten und differenziellen Charakter der Regulierungsmechanismen der Zweigeschlechtlichkeit. Gerade weil es keinen übergeordneten diskursiven Kontext geben kann, der die Zweigeschlechtlichkeit als eine rechtliche Institution und Regel vollkommen absichert, ist es überhaupt möglich in der feministischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine Grundlagendebatte über den Status der Zweigeschlechtlichkeit zu führen. Die Begrenzung des Kontexts in der ethnographischen Forschung und seine prinzipielle Unabgeschlossenheit Wenn man den kontextuellen Charakter der Regulierungsmachanismen des Systems der Zweigeschlechtlichkeit in den Blick nimmt, können die

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Normen der Zweigeschlechtlichkeit keine geschlossenen Regulierungssysteme bilden und es kann weder eine Gewähr dafür geben, dass sie nicht entgegen ihrem konventionellen Gebrauch eingesetzt und zitiert werden, noch können die Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext erschöpfend bestimmt werden. Weil Normen als konventionelle Verfahren nicht an ein bestimmtes Ereignis gebunden sein dürfen (eine an ein einmaliges Ereignis gebundene Regelung kann kaum als eine Konvention bezeichnet werden) und nur als ein solches überhaupt erkannt werden können, wenn sie in unterschiedlichen Kontexten wiedereinsetzbar sind, ist die Vorstellung von einer konventionellen Übereinkunft, streng genommen betrachtet, selbst eine ideale Vorstellung, die ohne Zweifel sehr erfolgreich ist, die als solche aber paradoxerweise nur insoweit ›funktioniert‹, wie sie nicht vollkommen erreicht wird. Wenn es richtig ist, dass die Iterabilität eine wesentliche Nicht-Identität in sich einschließt, müssen sich die unterschiedlichen Inszenierungen des normativen Systems der Zweigeschlechtlichkeit durch eine grundlegende Instabilität und Offenheit auszeichnen, ohne die eine Wiederholung undenkbar wäre. Eine solche Offenheit des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit wird in dem Ansatz des »doing gender« sicherlich nicht abgestritten. Aber sie wird auch nicht als eine notwendige Möglichkeit thematisiert und überdies von Hirschauer durch den Rückgriff auf eine vorsprachliche Erlebnisschicht, mit der ein holistisches Verständnis des Sozialen vorhergehen soll, und von Kelle durch die Unterstellung einer intersubjektiv geteilten Wirklichkeit auf der Ebene der Konzeption der empirischen Erforschung erneut unterdrückt. Wenn man diese Offenheit als den notwendigen Spielraum in der Signifi kanz des Geschlechterdiskurses begreift, der seine Konstitution überhaupt ermöglicht, ergibt sich hieraus ein Verständnis von seiner empirischen Erforschung, das sich nicht mehr an einem, wenn auch uneinholbaren, so doch festen Referenzpunkt abarbeitet, der sich seiner inneren Heterogenität zu entziehen scheint. In der Konzentration auf die »Präsenz und Aktualität« der Wirklichkeit der Zweigeschlechtlichkeit fungiert in der geschlechtsbezogenen Schulforschung unbemerkt die Idee einer intersubjektiv geteilten Wirklichkeit als ein Mittel, den Gegenstand der eigenen Forschung als eine vollkommen gegenwärtige Anwesenheit zu fi xieren, wobei der Kontextualisierung der eigenen Forschungsergebnisse die Rolle zukommt diese Fixierung zu legitimieren. So behauptet Kelle in ihren Ausführungen zum »doing gender«, dass sich »durch eine Symmetrie von Produktion und Wahrnehmung« intersubjektiver Aktivitäten »gemeinsame Bedeutungen« von Geschlecht herausbildeten (Kelle 2000: 119 Hervorh. i. Orig.). Zwar geht sie hierbei zunächst davon aus, dass sich die »Akteurinnen« in Interaktionen »fortlaufend wechselseitig« interpretieren, »dadurch jedoch daß die Einzelakte und -interpretationen aufeinander bezogen werden« realisierten sie »in ihrem Tun […] gewissermaßen eine geteilte Wirklichkeit« (ebd.: 119). Auf diese Weise wird meiner Ansicht nach unter der Hand ein Forschungsobjekt geschaffen, das der empirischen Forschungsarbeit zumindest für den vermeintlich abgrenzbaren

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Augenblick eines bestimmten Moments und eines bestimmten Umstandes einen präsenten, festen und einheitlichen Referenten bieten soll, auf den sie sich beziehen kann, ohne neben der interpretativen Dimension dieser Bezugnahme auch noch die innere Heterogenität ihres Untersuchungsgegenstandes systematisch berücksichtigen zu müssen. »Eine Forschungsperspektive auf das System der Zweigeschlechtlichkeit in alltagsweltlicher Praxis«, so erläutert Kelle das Bielefelder Forschungsprojekt zur Erforschung der sozialen Konstruktion von Geschlecht im Schulalltag, »bedeutet, die Geschlechterkategorien immer als relationale Kategorien zu erforschen; dieses System erlangt in lokalen Kontexten je gegenwärtige soziale Bedeutungen.« (Kelle 2000: 127 (Hervorh. i. Orig.)) In diesem Sinne habe die ethnographische Suche nach dem »doing gender« nach der »situierten Bedeutung« von Geschlechtsunterschieden zu suchen: »Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Wenn Tanja in der Schulpause beim Balgen mit Arne um einen Ball ausruft: ›Jungen haben sowieso viel öfter den Ball‹, dann ist diese Aussage im Zusammenhang der hier vertretenen Forschungsrichtung nicht als empirisches Datum über die Ballverteilung auf die Geschlechter zu betrachten und auch nicht als persönliche Meinung Tanjas zu erheben, sondern es ist vielmehr nach ihrer situierten Bedeutung zu fragen. Im vorliegenden Fall geht die Interaktion so weiter, daß Arne seiner Mitspielerin, perplex über deren Einlassung den Ball überläßt. Die situierte Bedeutung liegt darin, daß Tanja hier mit der argumentativen Strategie, die qua Geschlecht verallgemeinert, Erfolg hat.« (Ebd.: 126)

Inhaltlich hat dieses Beispiel natürlich nicht viel Interessantes zu bieten, strukturell betrachtet offenbart sich an dieser Stelle jedoch ein grundlegendes Problem der Ausrichtung des ethnographischen Forschungsansatzes des »doing gender« auf die Präsenz der Zweigeschlechtlichkeit im Alltag und seiner Tendenz ihre soziale Konstruktion als eine schlicht gegenwärtige Struktur (»doing gender«) zu betrachten, von der in ganz bestimmten abgrenzbaren Situationen abgesehen werden kann (»undoing gender«).Denn wie soll das »System der Zweigeschlechtlichkeit« in lokalen Kontexten vollkommen »gegenwärtige soziale Bedeutungen« erlangen, wenn es, wie Kelle selbst schreibt, nur relational bestimmt werden kann? Wie begründet Kelle die Grenze, die sie um das lokale Umfeld des sozialen Ereignisses zieht? Was gehört also aus ethnographischer Sicht legitimerweise zu dem Kontext, der die situierte Bedeutung generieren soll? Wie grenzt die Ethnographin dieser Szene das Situative des sozial Situierten ab und wie begründet sie es? Auf welcher Grundlage entscheidet Kelle, dass Arne aufgrund von Tanjas Ausruf den Ball zurückreicht? Möglich wäre, dass Arne den Ball aufgrund anderer Vorgänge im Klassenraum zurückgibt. Denkbar wäre aber auch, dass hier Gründe eine Rolle spielen, die jenseits der lokalen Szene im Klassenraum liegen. In beiden Fällen würde die situierte Bedeutung des Ausrufs »Jungen haben sowieso viel öfter den Ball« nicht mehr darin liegen, dass hier eine verallgemeinernde Aussage über Geschlecht erfolgreich in strategischer Ab-

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sicht eingesetzt worden ist. Auf welcher Grundlage beruht also Kelles Entscheidung den relevanten Kontext des Situativen in diesem Fall auf Tanjas Ausruf und die Rückgabe des Balles zu beschränken, indem sie die Rückgabe als eine Reaktion auf den Ausruf interpretiert? Wie Kelle selbst betont, sind Geschlechterdifferenzen immer als relationale zu betrachten und können nur unter Bezug auf einen bestimmten Kontext bestimmt werden. Ebenso wie Amman und Hirschauer scheint Kelle jedoch davon auszugehen, dass sich für die ethnographische Beobachtung der für die Interpretation relevante Kontext aus der »Kopräsenz« (Amman/Hirschauer 1997: 23) der Beobachtung ergibt. So gehen Amman und Hirschauer davon aus, dass die Selektivität der Beobachtung durch die »situationssensitive Steuerung« einer geschulten Beobachterin oder eines Beobachters zu bewältigen sei. Insofern Selektivität als eine »Eigenschaft« zu begreifen sei, die jedem »sozialem Geschehen eigentümlich« sei, könne sie nicht »minimiert«, sondern nur gesteuert werden (ebd.: 22). »Verglichen mit den Signale speichernden ›Datenkonserven‹ [Tonband/Videoaufzeichnung Anm. S.M.], die sich mit diesen technischen Medien anlegen lassen, gewinnen die Aufzeichnungen eines menschlichen Speichers ihre Qualität aus der fortlaufenden Justierung als Ko-Teilnehmer.« (Ebd.: 23)

Wie Amman und Hirschauer aber sicherlich nicht abstreiten würden, ergibt sich eine solche »Justierung« nicht per se aus der »Gleichörtlichkeit« heraus, sondern erfolgt im Rahmen von Interpretationen, die an ein Wissen anknüpfen, das dem lokalen Ereignis vorhergeht. So kann man bei einer genauen Lektüre von Goff mans Ausführungen zur Interaktionsordnung (Goffman 1994) schnell feststellen, wie auch im Verlauf von Goffmans Analyse die Grenzen des Situativen durchlässig werden bzw. sich über das so genannte Gegenwärtige des Situativen auszubreiten beginnen. Goffman gelangt bei seiner Begründung der Eigenständigkeit der »unmittelbaren Interaktion« als eines soziologischen Untersuchungsgegenstandes schnell von der »gegenseitigen körperlichen Präsenz« als »Ausgangspunkt« der »unmittelbaren Interaktion« dazu (Goff man 1994: 55), den »Kern des interaktiven Lebens« als »unsere kognitive Bezugnahme auf jene« zu bestimmen, »die wir vor uns haben« (ebd.: 63). Diese Bezugnahme ist für Goff man jedoch immer »transsituativ« angelegt, womit das Transsituative in den Kern des Situativen zurückkehrt: »Im Kern des interaktiven Lebens steht unsere kognitive Bezugnahme auf jene, die wir vor uns haben: Ohne diese Beziehung könnten unsere Aktivitäten, seien sie nonverbal oder sprachlich, nicht sinnvoll organisiert werden. Diese kognitive Bezugnahme mag sich zwar im Laufe einer Begegnung verändern – und üblicherweise tut sie das auch –, dennoch ist die Beziehung selbst transsituativ; sie besteht aus dem Wissen, das zwei Menschen darüber haben, was sie jeweils über die Welt wissen, und aus dem Wissen darüber, ob der je andere auch über dieses Wissen verfügt oder nicht.« (Ebd.: 63)

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Dieser offensichtlich unvermeidliche Einfall des Transsituativen in das Situative durchkreuzt die »Präsenz und Aktualität«, die nach Hirschauer »im Alltagserleben zum Sosein der Zweigeschlechter« gehören sollen (Hirschauer 1996: 249) und lenkt den Blick auf die Differenzialität und Temporalität in der Konstitution der »Trägheitsmomente« der Zweigeschlechtlichkeit. Obgleich Kelles Forderung, dass »Geschlechterkategorien« immer »relational« zu bestimmen seien, wichtig ist und darauf hinweist, dass die Regeln, denen Konstruktionen von Geschlecht folgen, keinen geschlossenen Code bilden und diese nicht determinieren können, geht durch die Konzentration auf die »je gegenwärtige[n] soziale[n] Bedeutungen« des Systems der Zweigeschlechtlichkeit der wesentliche Aspekt dieser Eigenschaft verloren: Wenn die Praktiken des Systems der Zweigeschlechtlichkeit in ihrer Bedeutung nicht vollkommen an eine bestimmte Intention in einem bestimmten Kontext gebunden sein können, sondern durch die laufende Wiederholung in unterschiedlichen Kontexten den Effekt des Sedimentierens erreichen, spaltet diese notwendige Möglichkeit, die Offenheit zu besitzen, in einem anderen Kontext zitiert zu werden, jeden Versuch einer abgeschlossenen und erschöpfenden Bestimmung in einem gegebenen Kontext. Damit ist aber die ohne Zweifel notwendige Entscheidung einen Kontext zu begrenzen bzw. für die Interpretation heranzuziehen in einem Rahmen angesiedelt, über den man nicht vollständig verfügen kann und der über das, was man strukturell betrachtet wissen kann, hinausgehen muss. Diese Verwicklung der ethnographischen Erfahrung in Bezüge, die nicht abgeschlossen bestimmt werden können, gilt auch für das Verständnis, das die AkteurInnen von der sozialen Situation haben. Wenn es vor diesem Hintergrund nicht mehr angemessen ist die Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit in der Kraft ihres ›Wirkens‹ als eine Wirklichkeit zu begreifen, die in den Erfahrungen der Individuen präsent ist, stellt sich die Frage, inwiefern dieses veränderte Verständnis dessen, worauf sich eine geschlechtsbezogene Pädgogik und Forschung bezieht, andere Perspektiven in die Diskussion um eine »geschlechtergerechte« Schule einbringt und das Verständnis der Problematik der Reifizierung verschiebt.

Teil IV: Zur Notwendigkeit einer kritischen und of fenen Auseinandersetzung mit der Produktion von Wissen über Geschlecht in der geschlechtsbezogenen Schulforschung

Während in der pädagogischen Geschlechterforschung die Problematik der Reifizierung oftmals als eine betrachtet wird, die sich nicht vermeiden lässt und in die man in der Forschung und in der Praxis unausweichlich zirkulär verstrickt bleibt, denke ich, dass diese Einschätzung etwas vorschnell zu pessimistisch ausfällt. Statt eines unbestimmten »Balancierens« zwischen der »Betonung und der Vernachlässigung« von Geschlechterdifferenzen in der erziehungswissenschaftlichen Theorie und Praxis (Breitenbach 2002: 155) ist es wichtig, in einer sehr bestimmten Weise den Spuren dessen zu folgen, was im Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit die Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit übersteigt und ihr vorhergehen muss. In den beiden vorangegangenen Teilen ging es darum deutlich zu machen, in welcher Weise die Bewegung des Differenzierens und des Aufschubs, kurz diejenige Kraft, die Derrida mit dem Neologismus der différance bezeichnet hat, in dem Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit arbeitet und warum die Regulierungsmechanismen der Zweigeschlechtlichkeit und das Selbstverständnis, ein Mann oder eine Frau zu sein, nicht als vollkommen gegenwärtige Strukturen begriffen werden können. Damit will ich nicht sagen, dass man der binären Struktur der modernen Erzählung der Zweigeschlechtlichkeit entkommen kann, sondern dass man sich durch ihre Logik hindurch nur kritisch bewegen kann, indem man untersucht, wie sich der theoretische und begriffliche Rahmen des feministischen Diskurses über Geschlecht als ein theoretischer und begriffl icher Rahmen verschiebt, wenn man das ›Wirken‹ des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit als eines denkt, das sich streng genommen einer begriffl ichen Erfassung, wie sie beispielsweise in der »Pädagogik der Vielfalt« angestrebt wird, entzieht. Ebenso wenig deckt sich das Dringen darauf, den Spuren dessen zu folgen, was im Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit die Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit übersteigt und ihr vorhergehen muss, mit der in der Geschlechterforschung neuerdings häufig gestellten Forderung, den Widersprüchen, Brüchen und Rissen im System der Zweigeschlechtlichkeit empirisch nachzugehen. Denn wie Butlers Diskussion von Lacan gezeigt hat lässt sich die Überschreitung, die ich in diesem Zusammenhang anspreche, nicht präsentieren und verweist darauf, dass die Stabilität des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit nicht zwangsläufig seiner Instabilität entgegensteht. Aus diesem Grund glaube ich, dass ein kritischer Umgang mit der Struktur der Zweigeschlechtlichkeit einen anderen ›Einsatz‹ von Wissen in der pädagogischen Geschlechterforschung und in der Entwicklung von Strategien der Enthierarchisierung der Geschlechterverhältnisse erfordert.

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Trotz der wissenschaftskritischen Ausrichtung der feministischen Theoriebildung hat das Beharren darauf, Geschlecht als eine soziale Wirklichkeit zu begreifen, die in den Individuen präsent ist, dazu geführt, dass in der schulischen Geschlechterforschung empirische Forschung in einer Weise betrieben wird, die nahe legt, sie bezöge sich auf einen ihr äußerlichen faktischen Umstand, den es so ›wirklichkeitsgetreu‹ wie möglich zu rekonstruieren gilt. Hierbei sind die in diesem Zusammenhang hervorgebrachten Wissensbestände sicherlich nicht unumstritten, soweit sie jedoch in die Diskussion geraten, handelt es sich entweder um eine rein methodische Kritik (vgl. z.B. die Kritik an Enders-Dragässer/Fuchs 1989 in Breitenbach 1994: 182 und Faulstich-Wieland 1995: 129) oder es wird zwar wie im ethnomethodologisch-interaktionistischen Ansatz der theoretische Zugriff bemängelt; das wissenschaftliche Selbstverständnis aber als eines, das sich auf ein äußerliches Faktum bezieht, das es mit wissenschaftlichen Methoden aufzudecken und so gut wie möglich zu repräsentieren gilt, bleibt unangetastet. Auch wenn sich die Studien des »doing gender« gerade explizit damit beschäftigen, »wie es im Alltagswissen zu der ›Faktizität‹ und dem Vorhandensein der Geschlechtszugehörigkeit von Personen kommt« (Güting 2004: 15), werden auch diese Prozesse der Herstellung der sozialen Zweigeschlechtlichkeit letztendlich auf der theoretischen Ebene und im Forschungsprozess wie »Faktizitäten« behandelt, »die es empirisch zu rekonstruieren gilt.« (Ebd.: 15). Dies liegt an dem so genannten »harten« Empiriebegriff, der in der ethnographischen Forschung zugrundegelegt wird. Wenn Amman und Hirschauer das Verhältnis zwischen ethnographischer Erfahrung und ihrer Mitschrift als eines beschreiben, in dem Erfahrungsqualitäten nicht nur simuliert, sondern auch in eine reduzierende soziologische Sprache gebracht werden sollen, die darauf zielt ihre unbewusste Sozio-Logik sichtbar zu machen, dann gehen sie zwar von einer grundlegenden Kluft zwischen der Felderfahrung der Ethnographin und ihrer Mitschrift aus, gleichzeitig setzen sie implizit aber auch voraus, dass diese Form der Sprache ihrem Forschungsgegenstand angemessen ist und lassen die Frage außer Acht, inwieweit dieser seiner Darstellung im Rahmen einer wissenschaftlichen Logik widersteht. Diese Blindheit innerhalb der empirischen Forschung gegenüber dem, was sich bei der Konstituierung des Forschungsgegenstandes der Logik der Identität nicht fügt, führt dazu, dass ausgeblendet wird, dass ein solches wissenschaftliches Unternehmen unumgänglich eine interpretative Öffnung enthält, die durch kein Wissen und keine Methodik vollkommen abgesichert werden kann. Nun handelt es sich hierbei offensichtlich nicht um ein spezifisches Problem des ethnomethodologischen Ansatzes in der geschlechtsbezogenen Schulforschung, sondern um ein grundlegendes Problem der empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften. Wird aber in der Geschlechterforschung ein Verständnis von sozialer Wirklichkeit und Erfahrung zugrundegelegt, in dem diese letztendlich wiederum als vollkommen gegenwärtige und mit sich selbst identische Strukturen begriffen werden, ist das besonders heikel: Ich habe am Anfang dieser Arbeit Irigarays und Butlers Ausle-

IV. Z UR N OT WENDIGKEIT

EINER KRITISCHEN

A USEINANDERSETZUNG | 235

gung des Ödipuskomplexes bei Freud diskutiert, um zu zeigen, in welcher Weise die in der geschlechtsbezogenen Schulforschung populäre Forderung, die Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit als in den Individuen präsente Erfahrungen zu verstehen, zu einem Verständnis von »Geschlechtsidentität« führt, in dem sich die Struktur der Gewalt wiederholt, die innerhalb des Systems der Zweigeschlechtlichkeit das Andere im anderen unterdrückt. Deshalb glaube ich, dass es für die Geschlechterforschung wichtig ist, dass man das, was in der Empirie gemeinhin unter »Erfahrung« und »Realität« begriffen wird, in Anknüpfung an Derrida als etwas versteht, das – ausgehend von den dort zugrundegelegten theoretischen Prämissen und in ihnen diese übersteigend – »die Struktur einer durch Aufschieben [différance] gekennzeichneten Spur« aufweist (Derrida 2001: 228). Wie ich im vorhergehenden Kapitel hoffentlich deutlich machen konnte, unterscheidet sich dieser radikale Hinweis darauf, »daß es kein Außerhalb des Textes gibt« (ebd.: 228), grundlegend von dem in dem Ansatz des »doing gender« vertretenen Verständnis von sozialer Wirklichkeit, das zumindest implizit an das »interpretative Paradigma« anschließt. Während Derrida davon ausgeht, dass die Praxis der Interpretation einen Sinn oder eine Bedeutung »nur in einer Bewegung des durch différance gekennzeichneten Verweises« (ebd. 229) gewinnen kann, was auf eine notwendige »Nicht-Identität mit sich selbst in der Determinierung selbst« (ebd.: 229) verweist, wird in dem ethnographischen Bemühen, eine primäre »holistische« Erfahrung nachzuzeichnen oder einen »intersubjektiv geteilten Sinn« festzuhalten, die Notwendigkeit solcher Spielräume übergangen. Im folgenden Kapitel soll in einer Diskussion der vom Kieler Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) durchgeführten »Interessenstudie Physik« (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998) deutlich gemacht werden, warum es für die pädagogische Geschlechterforschung wichtig ist den textuellen Charakter der Praktiken und Diskurse der Zweigeschlechtlichkeit aufmerksam zu verfolgen und in der Diskussion ihrer Wissensbestände zu berücksichtigen, dass die empirische Sozialforschung unumgänglich eine interpretative Öffnung enthält, deren Schließung durch keine wissenschaftliche oder methodische Entscheidung vollkommen abgesichert werden kann.

1. Die Förderung der besonderen Interessen und Fähigkeiten von Mädchen im Physikunterricht. Die IPN-Studie und ihr Einfluss auf die geschlechtsbezogene Didaktik der Natur wissenschaf ten

Die Förderung der Interessenentwicklung von Mädchen in der Mathematik und im naturwissenschaftlich-technischen Unterrichtsbereich ist ein zentraler Baustein der bisherigen Maßnahmen einer geschlechtsbewussten Pädagogik in der Schule. Auch wenn die Schule hierbei nicht als »die Verursacherin des geschlechtsabhängig segmentierten Arbeitsmarktes« (Faulstich-Wieland/Nyssen 1998: 175) betrachtet wird, wird in der geschlechtsbezogenen Schulforschung zumeist ein enger Zusammenhang zwischen der geschlechtlichen Segmentierung des Arbeitsmarktes, dem Berufswahlverhalten von jungen Frauen und deren Interessenentwicklung in der Schule unterstellt. Obgleich sich die Interessen- und Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schüler keinesfalls umstandslos entlang der Unterscheidung zwischen der mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Fachrichtung und den sprachlichen, gesellschaftswissenschaftlich Fächern und der Kunst einordnen lässt (vgl. Kapitel 1.1 in Teil I), gelten Mädchen insbesondere hinsichtlich des ersten Bereichs als förderungswürdig, umgekehrt Jungen in jüngster Zeit hinsichtlich ihrer sprachlichen Entwicklung als tendenziell defizitär. Wie zu Beginn dieser Arbeit dargelegt, haben diese Forderungen der feministischen Schulkritik zumindest in bestimmten Bundesländern durchaus Eingang in die Bildungspolitik erhalten (vgl. Kapitel 1.2 in Teil I). Neben geschlechtsstereotypisierenden Einstellungsmustern und Verhaltensweisen der Lehrkräfte im Klassenzimmer spielt die Behauptung einer jungenzentrierten Ausrichtung des Unterrichts im naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich eine wichtige Rolle in den diesbezüglichen Fortbildungsmaßnahmen für LehrerInnen (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 2002: 96ff.) und den unterschiedlichen Modellprojekten, die sich mit der Erweiterung der Interessen und Fähigkeiten

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von Mädchen und Jungen in der Schule beschäftigt haben (vgl. z.B.: Kaiser und MitarbeiterInnen 2003: 136ff.; Kraul/Horstkemper 1999: 24ff.; Herzog 1994: 86ff.). Hierbei wird für die Entwicklung eines »mädchengerechten« Curriculums im naturwissenschaftlichen Bereich vor allem die Einbettung von Unterrichtsinhalten in einen konkreten Verwendungszusammenhang empfohlen, der an den Interessen und alltäglichen Erfahrungen beider Geschlechter anknüpft, möglichst die Sinne anspricht und die gesellschaftliche Bedeutung des Unterrichtsfachs hervorhebt. Auch sei der »vorschnelle« Einsatz von Berechnungsformeln und von Abstraktionen zu vermeiden. Eine besondere Rolle bei der Entstehung solcher didaktischer Überlegungen spielten die vom Kieler Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) durchgeführte »Interessenstudie Physik« (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998) und der sich hieran anschließende BLK-Modellversuch »Chancengleichheit – Veränderung des Anfangsunterrichts Physik/Chemie unter besonderer Berücksichtigung der Kompetenzen und Interessen von Mädchen« (Hoffmann/Häußler/Peters-Haft 1997). Die IPN-Studie, die als Längs- und Querschnittstudie in sechs Bundesländern durchgeführt wurde und auf einer großen Stichprobe beruht (insg. 8000 SchülerInnen s.o.), gilt in didaktischer Hinsicht als besonders aufschlussreich, weil in ihr nicht nur Daten zu der Entwicklung des allgemeinen Interesses am Unterrichtsfach Physik erhoben wurden, sondern auch relativ detaillierte Daten zu dem Interesse an unterschiedlichen Sachgebieten in der Physik. Hierbei wird in der auf einem Fragebogen beruhenden Studie unter dem Begriff des »Fachinteresses« das allgemeine und aktuelle Interesse der SchülerInnen an dem Fach Physik als Unterrichtsfach verstanden (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998: 20f.). Das »Sachinteresse« hingegen soll Auskunft über das spezifische Interesse einer Schülerin oder eines Schülers an einem bestimmten Sachgebiet der Physik geben sowie darüber, in welcher Weise der Kontext, in dem das jeweilige Sachgebiet präsentiert wird, das Interesse steigert oder mindert und welche Form der Auseinandersetzung SchülerInnen entgegenkommt. Damit enthielt also jedes Item, das sich auf die Erhebung des Sachinteresses bezog, drei Dimensionen: das Interesse an einem bestimmten Sachgebiet1 , den Einfluss des Kontextes2 auf das Interesse und die Attraktivität der Form der Auseinandersetzung, eine von den AutorInnen als Tätigkeiten3 bezeichnete 1 | Hierfür wurden auf der Basis der Ergebnisse einer curricularen Delphi-Studie zur Physikalischen Bildung acht Sachgebiete festgelegt: 1. Licht, 2. Töne, Klänge und Geräusche, 3. Wärme, 4. Bewegungen, 5. Elektrizität und Magnetismus, 6. Elektronik, 7. Von der Welt im Kleinen, 8. Radioaktivität und Kernenergie (ebd.: 26f.). 2 | Hierfür wurden auf der Basis der Delphi-Studie sieben Kontexte festgelegt: 1. Physik als Bereicherung emotionaler Erfahrungen, 2. Physik als Mittel zum Verständnis technischer Objekte im Alltag, 3. Physik als Grundlage für Berufe I (technische Berufe, Forschung), 4. Physik als Grundlage für Berufe II (Medizin, Kunst, Beratung), 5. Physik als Wissenschaft I (qualitative Physik), 6. Physik als Wissenschaft II (quantitative Physik), 7. Physik in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft (ebd.: 27). 3 | Hierfür wurden auf der Basis der Delphi-Studie vier Tätigkeiten festgelegt:

IV. 1. D IE F ÖRDERUNG

VON

M ÄDCHEN

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Dimension. Für jedes Sachgebiet wurden elf Fragen konstruiert, so dass dieser Teil des Fragebogens aus 88 Items bestand, die so aufgebaut waren, dass jedes der acht physikalischen Gebiete systematisch mit den Kontexten und Tätigkeiten kombiniert wurde4. In didaktischer Hinsicht zählt die von Häußler und Hoff mann in ihrer Auswertung getroffene Feststellung, dass das als Sachinteresse erhobene Interessensprofi l der SchülerInnen »nur einen relativ bescheidenen Beitrag« zur Erklärung des Fachinteresses Physik leistet, zu den wichtigsten Ergebnissen der IPN-Studie (Häußler/Hoffmann 1995: 114f.). Der entscheidende, das Fachinteresse beeinflussende Faktor sei »das Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit« (ebd.: 115)5. Den geringen Einfluss des Sachinteresses auf das Fachinteresse deuten Häußler und Hoff mann als einen Hinweis darauf, dass die gegenwärtige Konzeption des Physikunterrichts in der Sekundarstufe I weitgehend an den Interessen und Kompetenzen der SchülerInnen vorbeiläuft: »Selbst wenn sich Schülerinnen und Schüler für Physik interessieren, selbst wenn sie sich für Technik und Naturphänomene begeistern können, selbst wenn sie erwarten, daß Physik für jeden ganz allgemein und für sie sogar im Hinblick auf ihren zukünftigen Beruf von Bedeutung ist, bedeutet das noch lange nicht, daß sie an dem ihnen gebotenen Physikunterricht interessiert sind. Dies kann nur so gedeutet werden, daß der Physikunterricht, so wie er heute üblicherweise betrieben wird, in der Regel die Interessen der Schülerinnen und Schüler kaum berücksichtigt. Daß diese Interpretation zutreffend ist, geht auch aus anderen Daten der Studie hervor. Befragt, welche Unterrichtsangebote sie am häufigsten im Physikunterricht erleben, nennen sie überwiegend solche, die sie als relativ uninteressant einschätzen. Umgekehrt werden Angebote, für die sie sich interessieren, im Unterricht relativ selten gemacht. Diese Diskrepanz 1. Rezeptive Tätigkeiten, 2. Praktisch-konstruktive Tätigkeiten, 3. Theoretisch-Konstruktive Tätigkeiten, 4. Bewertende Tätigkeiten (ebd.: 27). 4 | Zur Veranschaulichung: Lautet die Frage »Wie groß ist dein Interesse daran, dir ein einfaches optisches Gerät, z.B. einen Fotoapparat aus Glaslinse und schwarzer Pappe selbst zu bauen?«, so bezieht sich dieses Item auf das Sachgebiet »Licht«, misst die Interessensausprägung an dem Kontext »Physik als Mittel zum Verständnis technischer Objekte« und fragt nach dem Interesse an »Tätigkeiten auf der praktisch-konstruktiven Ebene« (vgl. Häußler/Hoff mann 1995: 110f.). Den SchülerInnen stand eine fünfstufige Antwortskala von »sehr groß« bis »gering« zur Verfügung. 5 | Obwohl der Faktor Geschlecht interessanterweise keine Relevanz für die Auf klärung des Fachinteresses besitzt liefern Häußler und Hoff mann mit dieser Analyse des Datenmaterials auch eine »fast vollständig[e]« Erklärung für das im Vergleich zu den Mädchen höhere Interesse der Jungen an dem Fach Physik (ebd.: 115). Denn ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Studie bezieht sich auf das bei Mädchen schwächer ausgeprägte Selbstkonzept im Fach Physik (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998: 65f.).

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zwischen ›Angebot‹ und ›Nachfrage‹ (Interesse) wird von Mädchen und Jungen in etwa gleich groß eingeschätzt.« (Ebd.: 115)

Folgt man den differenzierteren Auswertungsschritten des Datenmaterials in der Publikation »Die IPN-Interessenstudie Physik« (Hoffmann/Häußler/ Lehrke 1998), betrifft das Auseinanderdriften von Unterrichtsangebot und den Bedürfnissen und Wünschen der SchülerInnen vor allem die Kontexte, in denen ein physikalisches Sachgebiet präsentiert wird, und die Form der Auseinandersetzung mit einer physikalischen Fragestellung. Didaktisch betrachtet ist dieser Befund von besonderer Bedeutung, da Häußler und Hoffmann auf der Grundlage einer Regressionsanalyse der Reaktionen auf die dreiteiligen Interessenitems davon ausgehen, dass »den Kontexten die mit Abstand größte Bedeutung für die Ausprägung des Sachinteresses ›zukommt« (Häußler/Hoffmann 1995: 111). »Über alle Gebiete hinweg« habe sich gezeigt, dass »Physik für Mädchen und Jungen interessanter wird, wenn sie in einem anwendungsbezogenen Kontext eingebettet ist.« (Ebd.: 112) Hierbei kommen Hoffmann, Häußler und Lehrke in der Auswertung von spezifischen Items, in denen gleichzeitig nach dem Interesse an einem bestimmten Kontext und nach dem subjektiven Empfinden der SchülerInnen gefragt wurde, wie häufig dieser Kontext im Unterricht aus deren Sicht behandelt werden würde, zu dem Schluss, dass sich »generell« »für beide Geschlechter« sagen ließe, dass »die beiden ›klassischen‹ Physikunterrichtskontexte, nämlich die ›Beschreibung und Erklärung von physikalischen Versuchen, Vorgängen und Erscheinungen‹ sowie ›Naturgesetze, die es erlauben bestimmte physikalische Größen exakt zu berechnen‹ einerseits auf das geringste Interesse stoßen, andererseits aber am häufigsten im Unterricht vorkommen. Umgekehrt werden die Kontexte ›Physik und Gesellschaft‹, ›Physik und Beruf‹ oder ›Physik und Natur‹ als deutlich defizitär eingeordnet.« (Hoffmann/Häußler/Lehrke 1998: 54) Und wie eine graphische Gegenüberstellung der Geschlechter hinsichtlich der Bewertung dieser Items nahe legt, zeigen sich in der Rangliste der Vorlieben und Abneigungen kaum nennenswerte Unterschiede zwischen den Geschlechtern (ebd.: 53). Ein ähnliches Bild ergibt ein Vergleich zwischen den von Jungen und Mädchen bevorzugten Tätigkeiten im Unterricht. »Für beide Geschlechter läßt sich generell sagen, daß ihnen die reproduktiven Tätigkeiten überrepräsentiert erscheinen. Ähnliches gilt auch für die kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten berechnen und Vermutungen prüfen. […] Unterrepräsentiert sind nach Meinung der Schülerinnen und Schüler alle bewertenden Tätigkeiten. Hier stößt eindeutig ein hohes Interesse auf ein geringes Angebot im Unterricht.« (Ebd.: 55)

Diese Auslegung der Daten steht im Einklang mit der schon 1986, also einer sehr frühen Phase der Erhebungen, von Hoff mann und Lehrke geäußerten Vermutung, dass der Physikunterricht mit seiner Ausrichtung an »Tätigkeiten der theoretisch-konstruktiven Ebene und auf formal abstraktes Denken« sich häufig an »einer Stufe der kognitiven Entwicklung orientiert, die vie-

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VON

M ÄDCHEN

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le Schüler noch nicht erreicht haben« (Hoff mann/Lehrke 1986: 201). Diese Äußerung, dies wird spätestens in späteren Publikationen deutlich, bezieht sich auf beide Geschlechter: »Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I sind also im Allgemeinen keine ›kleinen Forscher‹, die physikalische Erkenntnisse um ihrer selbst willen in Form von allgemeinen Regeln oder Gesetzen zu erwerben suchen. Ihr Interesse an der Physik ist vielmehr bevorzugt darauf gerichtet, was sie mit diesen Gesetzen und Erkenntnissen anfangen können. Mit anderen Worten sie interessieren sich weniger für die Physik als wissenschaftliche Disziplin, sondern mehr für ihre Anwendung und ihren lebenspraktischen Nutzen.« (Häußler/Hoffmann: 1995: 113)

Geschlechtsspezifische Unterschiede sehen Hoff mann, Häußler und Lehrke weniger in der allgemeinen Abhängigkeit von Schülerinnen und Schüler von einem »Anwendungsbezug« gegeben als vielmehr in der spezifischen Abhängigkeit von bestimmten Kontexten: »○ Die Anbindung der zu unterrichtenden Inhalte an alltägliche Erfahrungen und Beispiele aus der Umwelt der Schülerinnen und Schüler ist generell interessenfördernd, für Mädchen jedoch nur, wenn sie dabei auf Erfahrungen zurückgreifen können, die sie tatsächlich gemacht haben können. (Negativbeispiel: Erfahrungen mit Werkzeugen oder Maschinen). ○ Inhalte mit einer emotional getönten Komponente […] werden generell als interessant empfunden. Mädchen sind dabei eher über ein die Sinne unmittelbar ansprechendes Erleben (z.B. Naturphänomene, Regenbogen) erreichbar und weniger über erstaunliche technische Dinge (z.B. großer Energieinhalt in einer kleinen Menge Uran). ○ Das Interesse an einer Behandlung der gesellschaftlichen Bedeutung der Naturwissenschaften […] ist generell relativ hoch: bei Mädchen umso höher, je älter sie sind und je deutlicher eine unmittelbare Betroffenheit angesprochen wird (z.B. Umweltbelastung durch Kraftwerke). ○ Das Interesse an einem Bezug zum menschlichen Körper ist generell groß. Dazu gehören vor allem Anwendungen in der medizinischen Diagnostik und Therapie, Gefährdungen der Gesundheit und die Verwendung künstlicher Organe. ○ Das Entdecken oder Nachvollziehen von Gesetzmäßigkeiten um ihrer selbst willen wird als wenig interessant empfunden, insbesondere wenn es um eine quantitative Beschreibung geht […]. Das Interesse steigt, wenn ein Anwendungsbezug (z.B. die Berechnung der Geschwindigkeit aus dem Bremsweg eines Autos) hergestellt wird.« (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998: 31)

Dementsprechend wird in dem BLK-Modellversuch, dessen Zielsetzung es war, »einen Physik- bzw. Chemieanfangsunterricht zu konzipieren, der die Lebenszusammenhänge, Fähigkeiten und Interessen von Mädchen berücksichtigt« (Hoffmann/Häußler/Peters-Haft 1997: 51), die Anbindung eines Unterrichtsthemas an ein die gesamte Unterrichtseinheit durchziehendes

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Leitmotiv (z.B. »Wir bauen Musikinstrumente und messen Lärm«) als ein zentrales didaktisches Prinzip eingeführt (ebd.: 53), das das Interesse an den Physikunterricht steigern soll. Hierbei raten Hoffmann, Häußler und PetersHaft »zehn Gesichtspunkte« zu beachten, um den Physikunterricht »insgesamt, besonders aber für Mädchen interessanter zu machen« (ebd.: 53): »1. Wie wird Schülerinnen und Schülern Gelegenheit gegeben, zu staunen und neugierig zu werden, und wie wird erreicht, daß hieraus ein Aha- Erlebnis wird? 2. Wie wird an außerschulische Erfahrungen angeknüpft, die zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Dominanzen Mädchen und Jungen in gleicher Weise zugänglich sind? 3. Wie wird es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, aktiv und eigenständig zu lernen und Erfahrungen aus erster Hand zu machen? 4. Wie wird erreicht, daß Schülerinnen und Schüler einen Bezug zum Alltag und zu ihrer Lebenswelt herstellen können? 5. Wie wird dazu angeregt, die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Menschen und die Gesellschaft zu erkennen und danach zu handeln? 6. Wie wird der lebenspraktische Nutzen der Naturwissenschaften erfahrbar gemacht? 7. Wie wird ein Bezug zum eigenen Körper hergestellt? 8. Wie wird die Notwendigkeit und der Nutzen der Einführung und des Umgehens mit quantitativen Größen verdeutlicht? 9. Wie wird sichergestellt, daß den Formeln ein qualitatives Verständnis der Begriffe und ihrer Zusammenhänge vorausgeht? 10. Wie kann vorzeitige Abstraktion vermieden werden zugunsten eines spielerischen Umgangs und unmittelbaren Erlebens?« (Ebd.: 53)

Obwohl dieser »Maßnahmenkatalog« zur Verbesserung des Physikunterrichts recht differenziert mit der Überschrift »Zehn Gesichtspunkte für die Gestaltung von Physikunterricht, um ihn insgesamt, besonders aber für Mädchen interessanter zu machen« tituliert worden ist, fällt bei einem Vergleich zwischen der Auswertung der in der IPN-Studie erhobenen Daten (Hoffmann/Häußler/Lehrke 1998) und den Formulierungen des BLK-Modellprojekts auf, dass die vormals quantitativen Aussagen über Geschlechtsunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern, die in der Auswertung der IPN-Daten getroffen wurden, in den Publikationen zum Modellprojekt immer wieder zu qualitativen Unterschieden hochstilisiert werden. So ist in Veröffentlichungen zum BLK- Modellprojekt plötzlich von »speziellen Interessen, Fähigkeiten und Erfahrungen der Mädchen« die Rede, auf die »Lehrpläne bezüglich der Inhalte, der Kontexte für die Bearbeitung dieser Inhalte und der Unterrichtsaktivitäten« abgestimmt werden müssten (ebd.: 28). Ähnliche Formulierungen finden sich, wie zu Beginn dieser Arbeit dargestellt, häufig in Rahmenrichtlinien zum naturwissenschaftlichen Unterricht sowie auch in unterschiedlichen Modellprojekten zu einem bewussten Umgang mit der Kategorie Geschlecht in der Schule (vgl. Teil I.1.3).

2. Zur Ausblendung der Grenzen des Berechenbaren in der empirischen Forschung

Was macht die oben aufgeführten didaktischen Ratschläge aber zu Prinzipien, die in einem besonderen Maß den Mädchen entgegenkommen? Und welche Befunde der IPN-Studie legitimieren gar die Rede von der »besondere[n] Berücksichtigung der Kompetenzen und Interessen von Mädchen« im Titel des BLK-Modellprojekts (Hoff mann/Häußler/Peters-Haft 1997: 9)? Ein zentraler Baustein des begrifflichen Konstrukts des »geschlechtsspezifischen Zugangs« und des vom IPN vorgeschlagenen Maßnahmenkatalog zur Förderung des Physikinteresses bei Mädchen und Jungen, ist der des »Anwendungsbezugs«. Folgt man den Ergebnissen der Interessenstudie, so kommt eine Einbettung des Unterrichtstoffes in einen anwendungsbezogenen Kontext nicht nur den Lernbedürfnissen von Mädchen, sondern auch denen von Jungen entgegen. Dies formulieren die AutorInnen dieser Studie – wie oben deutlich geworden sein sollte –auch durchaus in vielen Publikationen in aller Klarheit (vgl. z.B. Häußler/Hoff mann 1995: 112) Auch in der Gesamtdarstellung der Interessenstudie resümieren Hoffmann, Häußler und Lehrke aus gutem Grund ohne jegliche Geschlechtsspezifizierung, dass das »Entdecken oder Nachvollziehen von Gesetzmäßigkeiten um ihrer selbst willen […] als wenig interessant empfunden« werde (Hoffmann/Häußler/Lehrke 1998: 31). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Hoffmann, Häußler und Peters-Haft begründen, dass die zehn Ratschläge, die sie für die Gestaltung des Physikunterrichts geben, »um ihn insgesamt« interessanter zu machen, diesen »besonders aber für Mädchen« interessanter macht (Hoff mann/Häußler/Peters-Haft 1997: 53). In der Publikation zum BLK-Modellversuch wird auf diese Frage nur im Zusammenhang mit der Frage der spezifischen Auswahl der Kontexte eingegangen, nicht aber bezogen auf die Frage, in welchem Sinn die Einbettung von Unterrichtsgegenständen in einen »Anwendungsbezug« »besonders« den Mädchen entgegenkommt. Drei der zehn Ratschläge heben nämlich ganz allgemein, d.h. ohne jeden spezifischen Kontextbezug, hervor, dass der Unterricht dadurch interessanter werde, dass Unterrichtsgegenstände in einen Anwendungsbezug eingebettet werden würden (vgl. die Punkte 1, 3 und 4 in dem oben zitierten Maßnahmenkatalog von Hoff mann/Häuß-

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ler/Peters-Haft 1997: 53) und drei der zehn Ratschläge plädieren dafür dem kognitiven Niveau von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I in der Gestaltung des Physikunterrichts Rechnung zu tragen (vgl. die Punkte 8, 9 und 10 ebd.: 53). Bevor wir also zu der Frage kommen, wie Hoff mann, Häußler und Peters-Haft begründen, dass bestimmte Kontexte den Physikunterricht »besonders« für Mädchen interessanter machen, stellt sich die Frage, inwiefern es ein »besonderes« Interesse der Mädchen ist, dass ihnen Gelegenheit gegeben wird »zu staunen und neugierig zu werden«, dass ihnen Gelegenheit gegeben wird »Erfahrungen aus erster Hand zu machen« und »einen Bezug zum Alltag und ihrer Lebenswelt herstellen [zu] können« (ebd.: 53). Und inwiefern ist es von »besonderem« Interesse für Mädchen, dass im Physikunterricht der Sekundarstufe I »vorzeitige Abstraktion vermieden« wird, »sichergestellt [wird], dass den Formeln ein qualitatives Verständnis der Begriffe und ihrer Zusammenhänge vorausgeht« und, dass »bei der Einführung von quantitativen Größen« »die Notwendigkeit und der Nutzen« verdeutlicht werden (ebd.: 53)? Soweit ich sehen kann, existieren bislang zwei Auswertungen der IPNStudie, in denen versucht wird ein »mädchenspezifisches« Interessenprofil für das Fach Physik empirisch begründet zu isolieren. 1996 versuchen Häußler und Hoffmann in ihrem Beitrag für die »Second International Conference on Interest« unterschiedliche Interessenstypen innerhalb des Sachinteresses für Physik in ihrer Abhängigkeit von den Faktoren Geschlecht und Alter herauszuarbeiten (Häußler/Hoffmann 1998). 1999 ist in der Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie eine weitere Auswertung des »Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften« erschienen, die ebenfalls darauf zielt, qualitativ voneinander zu unterscheidende Interessentypen zu identifizieren und den quantitativen Anteil von Jungen und Mädchen in diesen Klassen aufzuklären (Rost/Sievers/Häußler/Hoffmann/ Langeheine 1999). In beiden Auswertungen wird erwartet, dass »Typen (oder synonym Klassen) von Schülern mit einer qualitativ unterschiedlichen Interessenstruktur« (ebd.: 21) existieren, die sich nicht auf die acht Gebiete der Physik beziehen, sondern auf die Einbettung der Gebiete in Tätigkeiten und Kontexte. D.h. also, »ob ein Schüler eher an Mechanik oder an Optik interessiert ist, soll nicht von einem Interessentyp bestimmt sein«, vielmehr konstituiere »das Muster des Interesses bzgl. der 11 Kontexte/Tätigkeiten den Interessentyp hinsichtlich eines Gebietes der Physik« (ebd.: 22; vgl. hierzu auch Häußler/ Hoffmann 1998: 283f.). Statistisch erfasst wurden in beiden Auswertungen die Klassen auf der Basis des »mixed-Rasch- Modells«, das die Physikinteressen gleichzeitig quantitativ und qualitativ erfassen soll. D.h. es handelt sich hierbei um einen Messwert, der die kategoriale Typenzugehörigkeit und die Stärke des Interesses innerhalb der jeweiligen Klassen bestimmt. Die Güte der Entsprechung des zugrunde gelegten Klassenmodells und der Daten wurden in beiden Auswertungen mit einer Maximum-Likelihood Schätzung beurteilt, wobei der BIC-Index (Bayes Information Criterion) herangezogen wurde, um zu entscheiden, welches Klassenmodell den Daten am ehesten entspricht (vgl. Rost et al. 1999: 22f. und Häußler/Hoffmann 1998: 283f.).

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Ausgangspunkt der von Rost et al. vorgenommenen Auswertung war die präexperimentelle Erwartung, dass sich drei Interessentypen voneinander unterscheiden lassen, die sich an den Bildungskonzepten »Physik als Wissenschaft« (Typ A), »Anwendungen von Physik« (Typ B) und »Physik und Gesellschaft« (Typ C) orientieren. Hierbei soll sich Typ A durch ein »stärkeres Interesse« an den Interessensitems »Physik qualitativ erfassen« (P), »Quantitative Physik erfassen« (Q), »Versuche planen« (V) und »Berechnen physikalischer Größen« (B) auszeichnen. Typ B soll ein besonderes Interesse an den Items »Technische Objekte in ihrer Funktionsweise verstehen« (T), »Arbeitswelt in der Technik« (AT), »Arbeitswelt, in der technische Geräte in den Dienst von Menschen gestellt werden« (AM) und »Konstruieren von Geräten« (K) zeigen. Typ C ist über die Items »Gesellschaftliche Bedeutung physikalischer Technologien erfahren« (G) und »Diskutieren über gesellschaftlich bedeutsame Technologien« (D) operationalisiert worden. Erwartet wurde, dass »Mädchen häufiger der Klasse des ›Anwendungstyps‹ (B) und des ›Gesellschaftstyps‹ (C) angehören als Jungen« (Rost et al. 1999: 22). Diese Vorannahmen konnten Rost et al. nach einer mehrschrittigen Analyse der Klassenstrukturen, die sowohl einen gebietsabhängigen (ebd.: 25) als auch einen gebietsübergreifenden Überblick (ebd.: 28f.) liefert, nur teilweise bestätigen. Sowohl gebietsspezifisch als auch gebietsübergreifend schlagen Rost et al. eine Typisierung in drei Klassen vor, die allerdings in einigen Punkten von dem erwarteten Modell abweicht. Mit Typ C ist fortan ein Interessentyp bezeichnet, der eine Kombination der präexperimentell erwarteten Klassen »Anwendungstyp« und »Gesellschaftstyp« darstellt. Mit »fast durchgehend deutliche[n] Interessenspitzen für die Items ›N‹ (Naturphänomene bestaunen), ›G‹, ›AM‹, ›K‹ und ›D‹« und gleichzeitig niedrigen Werten für ›P‹, ›Q‹ und ›B‹ weise diese Klasse ein Profi l von »prägnanter Gestalt« auf, das durch eine relativ deutliche Vorliebe für ein anwendungs- und gesellschaftsbezogenes Lernen charakterisiert sei (ebd.: 26). Der von Rost et al. erwartete »Wissenschaftstyp« hingegen zeigt sich nicht in seiner erwarteten Gestalt und zeigt neben einem relativ hohen Interesse an den Items P, Q, V und B auch hohe Werte bei den anwendungs- und gesellschaftbezogenen Items an. Für diesen »generell hochinteressiert[en]« Typ behalten Rost et al. trotzdem die Charakterisierung des an »Physik als Wissenschaft« interessierten Schülers (fortan Typ A) bei (ebd.: 26). Die dritte Klasse, deren prozentualer Anteil im Mittel immerhin bei 31 % liegt, sei »mit den Annahmen des »mixed Rasch-Modells nicht vereinbar« (ebd.: 26). Diese Klasse wird als »nicht geordnet« (NG) bezeichnet, da Personen dieses Typus die vorgegebene Ratingskala »nicht als eine ordinale Antwortskala [benutzen], auf der sich der Grad ihrer Interessiertheit direkt ausdrückt. Vielmehr liegt bei diesen Personen eine Tendenz zur extremen Antwort vor, das heißt, sie benutzen gehäuft die unterste und die oberste Antwortkategorie oder auch die mittlere Kategorie.« (ebd.: 26) Damit werden in dem Typus NG also nicht Personen zusammengefasst, die ein ähnliches Interessenprofi l aufweisen, sondern Personen, deren Antwortverhalten sich nicht mit dem Konzept einer abgestuften Antwortskala von »sehr groß« über »groß«, »mittel«, »ge-

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ring« bis hin zu »sehr gering« verträgt. Dass die NG-Klasse, für die Rost et al. einräumen, dass sie messtheoretisch betrachtet als »unskalierbar« gelten kann, von ihnen dennoch nicht ausgeschlossen wird, liegt daran, dass sie davon ausgehen, dass in der NG-Klasse »nicht etwas gänzlich anderes als das Physikinteresse erfasst« (ebd.: 26) wird. So wiesen die gebietsspezifischen NG-Klassen »einen durchaus plausiblen, mit den beiden anderen latenten Klassen vergleichbaren Verlauf« auf und enthielten vermehrt Schülerinnen, die dem Typ C zugeordnet werden könnten und vermehrt Schüler, die dem Typ A zugeordnet werden könnten (ebd.: 26). Diese Tendenz, dass Schüler eher dem Typ A zugehören und Schülerinnen eher dem Typ C, bestätigt sich auch bei der Auswertung der quantitativen Anteile der Geschlechter in diesen Klassen. Die von Rost et al. gebietsübergreifend durchgeführte Analyse ergibt geschlechtsübergreifend einen SchülerInnenanteil von 36 % für Typ A, 33 % für Typ C und 31 % für den Typus NG. Legt man das altersübergreifende Mittel für die Schülerinnen zugrunde, so gehören 26 % aller Schülerinnen dem Typ A an, 51 % dem Typ C und 23 % dem Typ NG. Bei den Schülern zeigt sich im altersübergreifenden Mittel ein Verhältnis von 45 % Typ A, 18 % Typ C und 37 % Typ NG. Während die Interessenentwicklung für Jungen relativ stabil verläuft, für Klasse A bis zur zehnten Klasse kaum Schwankungen zeigt und für den Typ C von der Klasse 7 bis 10 von 12 % auf 21 % ansteigt, weist die Gruppe der Mädchen stark altersabhängige Interessenprofi le auf. Lassen sich in der Stufe 6 noch 36 % aller Schülerinnen dem Typ A zuordnen, sind es in Stufe 10 nur noch 17 %. Umgekehrt gehören in Stufe 6 nur 35 % aller Schülerinnen dem Typus C zu, in Stufe 10 aber 62 % (vgl. ebd.: 29). Betrachtet man diese Auswertung der quantitativen Anteile der Schülerinnen und Schüler scheinen Rost et al. empirisch zu bestätigen, dass die oben vorgestellten didaktischen Ratschläge Mädchen in einem »besonderem Maß« fördern und ihrem tendenziell eher »anwendungsbezogenem« Interessenprofil entgegenkommen, während Jungen zu immerhin 45 % ein »wissenschaftsorientiertes« Interessenprofil aufzuweisen haben. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die in ihrem Effekt substantivierende und stereotypisierende Behauptung einer qualitativ zu unterscheidenden mädchenspezifischen Interessenstruktur, wie sie stellenweise in dem Bericht zum BLK-Modellversuch vorkommt und auch in einigen Rahmenrichtlinien zum naturwissenschaftlichen Unterricht auftaucht, empirisch betrachtet nicht haltbar ist. Wie Rost et al. in ihrer Begründung der 3-Klassenlösung feststellen, lassen sich Geschlechtsunterschiede »nicht in der Art und Anzahl unterschiedlicher Interessentypen ausdrücken«, sondern manifestierten sich »in den Häufigkeiten der Typenzugehörigkeit oder in der Interessenstärke innerhalb der Interessentypen« (Rost et al. 1999: 24). Vor diesem Hintergrund kann also die didaktische Aussage, dass ein stärker »anwendungsbezogener« Physikunterricht Jungen und Mädchen entgegenkomme, »besonders« jedoch den Mädchen, bestenfalls in einer quantitativen Bedeutung verstanden werden1. 1 | Wobei sich ohnehin die Frage stellt, ob sich mit empirischer Sozialfor-

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Was bedeutet jedoch, wenn man sich dem quantitativ höheren Anteil von Jungen in der Klasse A zuwendet, die Charakterisierung »wissenschaftsorientiert«? Auf welcher Grundlage haben Rost et al. entschieden die Klasse A dem Bildungskonzept »Physik als Wissenschaft« zuzuordnen? Betrachtet man die gebietsspezifischen Darstellungen der Interessenprofi le A, C und NG (vgl. ebd.: 25), so fällt auf, dass sich die Interessensspitzen in der Gruppe A nicht, wie anzunehmen wäre, mehrheitlich auf die Items P, Q, V und B beziehen, die in der vorexperimentellen Fassung dieser Klasse als Charakteristika benannt wurden. Soweit diese Gruppe, die generell ein im Vergleich zu den anderen Gruppen ausgeglichenes Interessenprofi l aufweist, überhaupt »Spitzen« und »Einbrüche« zu verzeichnen hat, liegen die »Spitzen« nicht in dem durch P, Q, V und B angezeigten Bereich, sondern eher in den als anwendungs- und gesellschaftsbezogen charakterisierten Bereichen G, N und K. Verfolgt man das Interessenprofil der Gruppe A über alle acht Gebiete der Physik hinweg, so kann man sogar feststellen, dass die Werte für das Item B mit Ausnahme des Gebiets der Radioaktivität in allen anderen sieben Gebieten entweder den niedrigsten Wert erreicht oder mit zu den niedrigsten Werten zählt. Ebenso liegen die Werte für die Items P und Q innerhalb dieser Gruppe in fast allen Gebieten im unteren Bereich. Dies bedeutet jedoch, dass sich die Charakterisierung dieser Klasse als »wissenschaftsorientierter« Typus nicht darauf bezieht, dass hier ein im Vergleich zu anderen Kontexten und Tätigkeiten ausgesprochen markantes Interesse für die Beschäftigung mit quantitativer Physik, die qualitative Erfassung der Physik oder das Berechnen physikalischer Größen vorliegt. Vielmehr bezieht die Klassifi kation dieses Typus als »wissenschaftsorientiert« ihre Legitimation aus dem Vergleich mit der Gruppe C, bei der deutliche Interessenseinbrüche bei den Items P, Q und B zu verzeichnen sind und deren angezeigtes Interesse in diesem Bereich deutlich niedriger liegt. Damit basiert die Entscheidung die Klasse A als vornehmlich »wissenschaftsorientiert« zu betrachten und als solche zu kennzeichnen aber nicht auf einem empirischen Grund, der sich unmittelbar und zwingend aus dem produzierten Datenmaterial und seiner mathematischen Bearbeitung heraus ergibt. Die in der IPN-Studie erhobenen Daten bieten den RezipientInnen der beantworteten Fragebögen keine informativen Aussagen an, die sich einfach aus dem Material ablesen ließe. So gibt es in diesem Fall mindestens zwei mögliche Kontexte, die den Stellenwert des von den Schülern und Schülerinnen der Klasse A bekundeten Interesses an den Punkten P, Q und B, bestimmen könnten. Eine Möglichkeit besteht darin, dass die bekundeten Interessenswerte an den Items P, Q und B ihre mögliche Bedeutung »hoch« bis »niedrig« aus einem Vergleich mit den anderen Werten dieser Gruppe beziehen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, diese Werte mit den Werten der anderen beiden Klassen zu vergleichen. Erst im Rahmen schung überhaupt etwas anderes als die quantitative Verteilung »von etwas« über Qualitäten nachweisen lässt, die letztendlich aber niemals abgeschlossen und eindeutig bestimmt werden können.

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eines solchen kontextuellen Bezuges erhalten die angezeigten Interessenwerte eine Bedeutung im Sinne von »hoch«, »niedrig«, »mittel« usw. Die Auswahl und Begrenzung solcher Kontexte ist eine notwendige Dimension empirischer Forschungsarbeit, ohne die weder die Auslegung des Datenmaterials noch deren Erhebung denkbar wäre. Die Diskussion dieser unumgänglichen interpretativen Dimension empirischer Forschung von ihrem Anfang (der Eingrenzung der Problemstellung, der Operationalisierung, der Erhebungsphase, des interpretativen Anteils bei der Auswahl der Verfahren, die die Validität überprüfen sollen usw.) bis hin zu der Auswertung der Daten ist nun sicherlich keinesfalls neu (zu dem interpretativen Gehalt der empirischen Erfahrung vgl. hierzu einen neueren Beitrag von Merkens 2003). Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Aspekt in dem Diskurs der geschlechtsbezogenen Schulforschung vor allem bei der Rezeption quantitativer Studien kaum eine Rolle spielt. Vielmehr ist es durchaus keine Seltenheit, dass Ergebnisse von Studien oder von Schulversuchen als eindeutige Nachweise für einen bestimmten Sachverhalt angeführt werden und als unumgängliche Wissensbestände in die Diskussion um die Ausgestaltung einer »geschlechtergerechten« Schule eingesetzt werden. So behauptet beispielsweise Gertrud Pfister in einer Einleitung zu dem Berliner Modellversuch zur Förderung sozialer Kompetenzen von Jungen und Mädchen in der Grundschule unter der Überschrift »Wissenschaftliche Grundlagen«, in mehreren Schulversuchen sei »eindeutig nachgewiesen [worden], daß Schülerinnen und Schüler in unterschiedlicher Weise Fragen stellen, Probleme angehen und Lösungen finden.« (Pfister 1998: 23). Innerhalb dieses wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses scheint sich empirische Sozialforschung unhinterfragt auf ein feststehendes Forschungsobjekt zu beziehen, dessen gegenwärtige Strukturen es aufzudecken gilt. Um vor diesem Hintergrund die Frage der Grenzen der Berechenbarkeit empirisch begründeter Aussagen weiterzuentwickeln, ist es sinnvoll zunächst einen Blick auf weitere Auswertungen der IPN-Studie zu werfen und deren empirischen Interpretationsspielräume auszuloten. Sowohl in der 1999 vorgelegten Auswertung als auch in der 1996 vorgenommen Auswertung zeigen sich starke Unterschiede in der Verteilung der Geschlechter über die unterschiedlichen Klassen. In der 1996 vorgenommenen Klassifizierung (Häußler/Hoffmann 1998), die sich teilweise von der späteren unterscheidet, wird jedoch auch deutlich, dass ein stärker »anwendungsbezogen« gestalteter Physikunterricht nicht nur der Mehrheit der Mädchen, sondern in dem selben Maß mehr als der Hälfte der Jungen entgegenkommen würde, wenn man zunächst die vorgeschlagene Unterscheidung einer »wissenschaftsorientierten« und einer »anwendungs- und gesellschaftsbezogenen« Klasse akzeptiert. Dieser Umstand kommt in dem in dem inzwischen viel zitierten didaktischen Leitgedanken, der im Rahmen des BLK-Modellversuchs formuliert wurde, eigentlich kaum zum Tragen: »Was für Mädchen interessant ist, ist auch für Jungen interessant, aber nicht umgekehrt. Eine Orientierung an den Interessen der Mädchen ist somit der An-

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satzpunkt, den Mädchen entgegenzukommen ohne die Jungen zu benachteiligen.« (Hoff mann/Häußler/Peters-Haft 1997: 52)

Vielmehr suggeriert diese an Wagenschein angelehnte Formulierung, eine »Orientierung an den Interessen der Mädchen« benachteilige die Jungen zwar nicht, umgekehrt seien sie aber auch nicht unbedingt hierauf angewiesen. Diese Sichtweise relativiert sich erheblich, wenn man den 1996 von Häußler und Hoffmann gehaltenen Vortrag zu der Entwicklung des Sachinteresses von Schülerinnen und Schülern an der Physik in Betracht zieht (Häußler/Hoffmann 1998)2. Auch in dieser Auswertung der IPN-Studie nehmen Häußler und Hoff mann eine Klassifizierung der sachbezogenen Interessensstrukturen vor. Auf der Basis desselben Datensatzes, derselben mathematischen Verfahren und auf der Grundlage derselben Kontext- und Tätigkeitsfaktoren wie in der Auswertung von Rost et al. (vgl. ebd.: 283 und Rost et al. 1999: 22) kommen sie zu einer 3-Klassenlösung, die zwar inhaltlich starke Parallelen aufweist, die sich aber doch in einem entscheidenden Punkt unterscheidet. In dieser Auswertung fehlt die bislang nicht interpretierte NG-Klasse, die ja immerhin 31 % ausmacht. Stattdessen verteilen sich die SchülerInnen dieser Klasse, von der Rost et al. ja auch ausdrücklich annehmen, dass sie sich nicht in der Ausbildung ihrer Interessenprofi le von den Klassen A und C unterscheiden, sondern in ihrem Gebrauch der Antwortskala, auf die übrigen Klassen, die Häußler und Hoffmann hier folgendermaßen charakterisieren: Typ A habe keine spezifischen Interessenpräferenzen und weise für alle angebotenen Kontexte und Tätigkeiten ein nahezu gleich bleibend hohes Interessenniveau auf, das in den meisten Punkten über das seiner MitschülerInnen liege. Im Durchschnitt, so Häußler und Hoffmann, triff t man in einer Klasse von 25 SchülerInnen auf vier bis fünf Jungen und ein Mädchen, die dieser Typisierung entsprächen. Typ B soll das Interessenprofi l der Mehrheit der SchülerInnen (in einer Klasse von 25 SchülerInnen: sieben Jungen und sieben Mädchen) beschreiben. »Among Type B students there are about as many girls as boys. They get intermediate grades in physics, and particularly like the more practical side of physics: for instance, building technical devices. They are also highly interested in learning something about how physics can be used to serve man (for instance in medicine), and how natural phenomena can be explained by physics. Learning physics for physics‹ sake and discussing controversial technologies are not their main focus of interest.« (Häußler/Hoffmann 1998: 287)

SchülerInnen des Typ C hingegen seien mit größter Wahrscheinlichkeit Mädchen. Von 25 SchülerInnen seien allerdings nur drei bis vier Mädchen und ein Junge diesem Typ zuzuordnen. SchülerInnen des Typs C seien an Physik nur interessiert, wenn sie das angesprochene Thema mit ihren eigenen Erfahrungen oder ihrer eigenen Lebenssituation in Verbindung brin2 | Hierzu ebenfalls aufschlussreich: Häußler/Hoff mann 1995

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gen könnten. Mit Typ A und Typ B hätten sie gemein, dass sie sich besonders für Naturphänomene und berufliche Tätigkeiten interessierten, die »in den Dienst am Menschen« gestellt seien. Darüber hinaus teilten sie mit Typ A ein hohes Interesse an der Frage, welche sozialen Wirkungen Technologien ausüben und zeigten ein außergewöhnlich hohes Interesse an der Diskussion kontroverser Technologien. Damit lehnen sich Typ B und C offensichtlich an den »anwendungs- und gesellschaftsorientierten Typ C bei Rost et al. an, und Typ A an den dort als »wissenschaftsorientiert« bezeichneten Typ A. Insofern die frühere Auswertung jedoch die SchülerInnen der Klasse NG einschließt, wird deutlich, dass eine »wissenschaftsorientierte« Ausrichtung des Physikunterrichts nicht nur die Mehrheit der Mädchen, sondern insgesamt beinahe 80 % seiner Adressaten und Adressatinnen verfehlt: »Physics as a scientific enterprise is the overwhelmingly dominant context for teaching physics in German classrooms (Hoff mann & Häussler 1995). This onesideness, together with the results presented in this paper, suggests that the wellknown and often deplored decline of interest in physics – particularly among girls – may be caused by the almost complete lack of other contexts and activities. Keeping in mind that Type B and Type C students make up almost 80 percent of the student population, traditional physics education is bound to be rather boring for the majority.« (Ebd.: 288)

Wenn also der in der geschlechtsbezogenen Didaktik für den naturwissenschaftlichen Unterricht gern zitierte Wagenschein dahingehend korrigiert werden muss, dass »der Mann« sehr viel weniger häufig »der Gefahr unterliegt, seine logischen Funktionen zu isolieren« als dieser annimmt und die »reichlich maskuline Weise«, auf die Physik unterrichtet wird, nicht nur »Mädchen darauf hin [erzieht], daß sie ihnen nicht liege« (Wagenschein zit.n. Kraul/Horstkemper 1999: 24f.), sondern auch einen großen Teil ihrer männlichen Adressaten verfehlt, stellt sich die Frage, ob es legitim ist, die Gruppe der Mädchen bei der Verbreitung einer anwendungsbezogenen Konzeption der Didaktik der Physik in den Vordergrund zu stellen. Betrachtet man die oben angesetzte Verteilung von Jungen und Mädchen über die Gruppen A, B und C, kann man davon ausgehen, dass eine Umstrukturierung des Physikunterrichts in dem von Hoff mann, Häußler und Peters-Haft vorgeschlagenen Sinn, soweit man voraussetzt, dass das Sachinteresse tatsächlich einen wesentlichen Einfluss auf das Interesse am jeweils aktuellen Unterricht im Fach Physik hat, eben nicht nur der Mehrheit der Mädchen entgegenkäme, sondern dass gut die Hälfte der Jungen dem gegenwärtigen Physikunterricht aus denselben Gründen mit demselben Desinteresse begegnen. In den verzögerten Nachtests, die im Rahmen des BLK-Modellversuchs die Frage klären sollten, ob der Unterricht in den Modellklassen zu signifikant besseren Leistungen im Physikunterricht geführt hat, zeigen jedenfalls sowohl Mädchen als auch Jungen aus den Modellklassen hochsignifi kant bessere Werte als Mädchen und Jungen in den Kontrollklassen (Hoffmann/Häußler/Peters-Haft 1997: 166).

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Selbstverständlich kann man gegen das hier bekundete Misstrauen, die Gruppe der Mädchen als »besonders« bedürftig hinsichtlich eines »anwendungsbezogenen« Physikunterrichts darzustellen, einwenden, dass empirisch betrachtet die IPN-Studie zweifellos zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit in der Sekundarstufe I auf ein »generell« an allen Kontexten und Tätigkeiten in der Physik »hochinteressiertes« Mädchen zu treffen signifikant niedriger ist als die Wahrscheinlichkeit auf einen solchen Jungen zu treffen, und mit zunehmenden Alter sogar noch abnimmt. Die in der Literatur übliche Hervorhebung der Mädchen hinsichtlich des didaktischen Prinzips des »Anwendungsbezuges« setzt jedoch voraus, dass die Interessenstruktur der in beiden Auswertungen in der Gruppe A zusammengefassten Personen zu Recht von Rost et al. dem Bildungskonzept »Physik als Wissenschaft« zugeordnet wurde. (Rost et al. 1999: 26). Wie ich bereits angemerkt habe, zeigt dieser Typ nämlich keinesfalls ein besonders großes Interesse an denjenigen Items, die nach Rost et al. ein besonders wissenschaftsorientiertes Interesse anzeigen sollen. Vielmehr zeigt sich diese Klasse ebenso wie die Klasse C besonders an den Items G und N interessiert und bekundet auch ein hohes Interesse an »anwendungsbezogenen« Items. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen besteht eher darin, dass das allgemeine Interessensniveau in der Gruppe A sehr viel höher ist als das in der Gruppe C und dass in ihr keine regelrechten Interesseneinbrüche bei den Items P, Q, V und B zu verzeichnen sind. Deshalb stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob die in den Rahmenrichtlinien zum naturwissenschaftlichen Unterricht und in den Publikationen zum BLK-Modellprojekt immer wieder auftauchende Hervorhebung des »besonderen« Interesses der Mädchen an »Naturphänomenen«, »humanbiologischen und medizinischen Anwendungen« sowie »gesellschaftsbezogenen« Fragen gerechtfertigt ist. So weisen Häußler und Hoffmann in ihrer Auswertung von 1996 darauf hin, dass die Items »Naturphänomene« und »Arbeitswelt, in der technische Geräte in den Dienst am Menschen gestellt werden« in allen Klassen und bei beiden Geschlechtern ähnlich hohe Werte erreichen (Häußler/Hoffmann 1998: 288). Zwar zeigen die Verläufe der spezifischen Sachinteressen bei der Auswertung der Items zu den Kontexten »Naturphänomene« und »Geräte in der Medizin« einen Interessenvorsprung der Mädchen an, vergleicht man jedoch die graphischen Darstellungen zu den je spezifischen Verläufen3 fällt auf, dass auch die Jungen hier ein vergleichsweise hohes Interesse bekunden und nur in ihrem Sachinteresse an »Radioaktivität und Kernphysik« einen höheren Wert aufweisen. Hoff mann, Häußler und Lehrke kommen in ihrem Vergleich des Sachinteresses zwischen Jungen und Mädchen zu folgendem Schluss:

3 | Leider beschränken sich Hoff mann, Häußler und Lehrke an dieser Stelle auf die vollständige Veröffentlichung der Verläufe zu den Sachgebieten, die Veröffentlichung der Kontexte beschränkt sich auf die Items »Naturphänomene« und »Geräte der Medizin« (Hoff mann/Häußler/Lehrke 1998: 46-49)

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»Der beim allgemeinen Sachinteresse auftretende gleich bleibende Interessenvorsprung der Jungen gegenüber den Mädchen tritt bei den spezifischen Sachinteressen nur beim Interesse an optischen Instrumenten und Wärme auf und ist beim Sachinteresse an Fahrzeugen und an Elektrizität und Elektronik besonders deutlich ausgeprägt. Beim Sachinteresse an Radioaktivität und Kernenergie sowie beim Interesse am Diskutieren und Bewerten konvergieren die Interessen von Jungen und Mädchen gegen Ende des untersuchten Zeitraums. Bei allen anderen spezifischen Sachinteressen zeigen sich entweder keine Interessendifferenzen oder ein Interessenvorsprung der Mädchen.« (Hoffmann/ Häußler/Lehrke 1998: 50)

Zieht man hierbei in Betracht, dass das mittlere Interesse von Jungen an den Gebieten »Optische Instrumente« und »Wärme« geringer ist als ihr Interesse an »Naturphänomenen« und »Geräten der Medizin«, stellt sich die Frage, ob es nicht ebenso gerechtfertigt erscheint davon zu sprechen, dass sich auch Jungen »besonders« für diese Bereiche interessieren. Und unterscheiden sich die von Rost et al. isolierten Klassen A und C, die sich statistisch betrachtet abgesichert voneinander unterscheiden lassen, tatsächlich darin, dass man in Klasse A den Typ des an »Physik als Wissenschaft« interessierten Schülers findet, während man in Klasse C auf den anwendungs- und gesellschaftsorientierten Typ stößt, wenn man bedenkt, dass die Interessenstärke für anwendungs- und gesellschaftsbezogene Items in der Klasse C nur selten höher sind als in der Klasse A (vgl. Rost et al. 1999: 25)? Besteht das »besondere« Merkmal der Klasse A nicht weniger in seiner »Wissenschaftsorientierung« als vielmehr in der »weiten Bandbreite« seines Interessenspektrums? Letztendlich lassen sich diese Fragen, und damit kommen wir zu der Frage der Grenzen der Berechenbarkeit empirisch begründeter Aussagen zurück, nicht ausschließlich auf der Basis der Berechnung der in der IPNStudie produzierten Daten entscheiden. Weder die Frage, ob es gerechtfertigt erscheint die Interessenstruktur in der Klasse A als »wissenschaftsorientiert« zu bezeichnen, noch die Frage, ob es legitim ist das »besondere« Interesse von Mädchen an einem »anwendungsbezogenen« Lernen und ihr »besonderes« Interesse für »Naturphänomene« und das »Soziale« hervorzuheben, ist ausschließlich eine Frage der mathematischen Berechnung. In beiden Fällen hängt die Antwort, will man sie statistisch berechnen, davon ab, welche Vergleichsmaßstäbe die Bedeutung des »besonders« bestimmen. Diese Entscheidung, den einen oder den anderen vergleichenden Kontext heranzuziehen, ist keine Entscheidung, die sich empirisch errechnen lässt. Es gibt keinen zwingenden Grund, der sich unmittelbar aus dem produzierten Datenmaterial heraus ergibt, der dafür spricht die Klasse A als »wissenschaftsorientiert« zu klassifizieren. Ebenso wie es nicht zwingend ist die Interessensstärke an bestimmten Items in ihrem Stellenwert zu bestimmen, indem man sie in den erreichten Werten mit denen der Gruppe C vergleicht, gibt es jedoch auch keine zwingenden empirischen Gründe dafür ausschließlich klasseninterne Vergleichswerte zugrunde zu legen,

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und diese Klasse nicht dem Bildungskonzept »Physik als Wissenschaft« zuzuordnen, weil die Items P, Q und B im internen Vergleich keine Interessensspitzen bilden. Darüber hinaus beschränkt sich die Frage nach der Wahl des Vergleichsmaßstabs, der bestimmt bei welcher Interessenstärke ein »besonderes« Interesse an der »Physik als Wissenschaft« vorliegt, keinesfalls auf diese beiden Optionen. So wäre es beispielsweise möglich gewesen – ob dies sinnvoll wäre oder nicht, sei für den Augenblick dahingestellt – eine »wissenschaftsorientierte« Interessenstruktur dann als gegeben anzunehmen, wenn in den Werten P, Q, V und B dieselbe mittlere Stärke erreicht wird wie in einer Vergleichsgruppe von Studierenden der Physik. In diesem Sinn kann die Begrenzung des möglichen Kontextes, in dessen Rahmen das »besondere« Interesse an der »Physik als Wissenschaft« seinen Wert erhält, weder je gesichert noch abgeschlossen getroffen werden. Aus diesem Grund lässt sich die Frage, ob es gerechtfertigt ist bei der Verbreitung einer »anwendungsbezogenen« Didaktik der Physik hervorzuheben, dass diese »besonders« im Interesse von Mädchen liegt, nicht ausschließlich auf der Basis empirischer Gründe entscheiden. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob Mädchen im »besonderen Maß« durch »soziale« Kontexte und einen Bezug zu »Naturphänomenen« angesprochen werden. Mädchen zeigen an diesen Items im Vergleich zu anderen Items ein besonders hohes Interesse, und zwar im Mittel auch ein vergleichbar höheres Interesse als die Gruppe der Jungen. Wie ist jedoch dieses »besonders« zu interpretieren, wenn gleichzeitig das von Jungen bekundete Interesse an diesen Items im Vergleich zu ihrem Interesse an den anderen Items besonders hoch ist? In den veröffentlichten Auswertungen des Datenmaterials, das im Rahmen der IPN-Studie erhoben wurde, wird diese interpretative Dimension, die sowohl der Typenbildung als auch ihrer quantitativen Auswertung notwendigerweise inhärent ist, nicht thematisch. Stattdessen legt die Präsentation der Ergebnisse nahe, dass diese aus mathematischen Berechnungen resultieren, die in ihrem Ergebnis einen ihnen äußerlichen Sachverhalt repräsentieren, wobei insbesondere in den Publikationen zu dem nachfolgenden Modellversuch teilweise Wahrscheinlichkeitsaussagen zu qualitativen Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen umgeformt werden. Problematischerweise folgt die Rezeption der IPN-Studie in der geschlechtsbezogenen Schulforschung diesem Ausschluss des textuellen Charakters empirischer Forschung. In dem häufig anzutreffenden Glauben daran, quantitative Sozialforschung präsentiere »gesicherte Erkenntnisse« über »empirische Erfahrungen« (wobei die Frage, was unter einer empirischen Erfahrung überhaupt verstanden werden kann, völlig zur Seite geschoben wird), werden die Ergebnisse der IPN-Studie wiederholt als eindeutige Nachweise (vgl. stellvertretend Pfister 1998: 23) für die besondere Abhängigkeit von Mädchen von einen anwendungsbezogenen naturwissenschaftlichen Unterricht, ihren eher emotionalen und sinnlichen Zugang zur Physik und ihre besondere Vorliebe für das »Soziale« und die »Natur« angeführt. Dass dieses Bild bei den Schülerinnen selbst nicht selten auf Widerstand stößt, wird in der feministischen Schulkritik zwar zur Kenntnis genommen; der

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vorherrschenden Rezeption der IPN-Studie hat dies bislang aber keinen Abbruch getan. So wird im rheinland-pfälzischen Schulversuch die Fokussierung der naturwissenschaftlichen Didaktik auf vorgeblich spezifische Interessen und Vorerfahrungen von Schülerinnen sowie die Rücksichtnahme auf deren vermeintlichen Distanz zu vorschnellen Abstraktionen von manchen Schülerinnen folgerichtig als ein »Nachhilfe Curriculum« verstanden, das das unter NaturwissenschaftslehrerInnen durchaus noch verbreitete Vorurteil bestärkt, »das Interesse von Mädchen beschränke sich eng auf solche Bereiche, die ihnen nützlich erscheinen« (Kraul/Horstkemper 1999: 235). In ihrer Auswertung der mit Schülerinnen durchgeführten Gruppendiskussionen schildern Margret Kraul und Marianne Horstkemper die Reaktionen der Schülerinnen »als variierend zwischen amüsiert und genervt«. Mädchen verteidigten »ihren Anspruch, naturwissenschaftliche Fächer als Wissenschaft betreiben zu wollen und nicht als anwendungsbezogene Qualifizierung für den Haushalt.« (Ebd.: 235) Von einer solchen Abwehr, so heben auch Kraul und Horstkemper in ihrem Resümee hervor, wird in der Literatur häufig berichtet 4. Nichtsdestotrotz hat das pädagogische Anliegen, dergestalt »gezielt« stereotypen Vereinseitigungen entgegenwirken zu wollen, inzwischen weitgehend unangefochten einen festen Platz in der Programmatik einer geschlechtsbewussten Pädagogik in der Schule erlangt und in der Verbindung mit der unkritischen Einstellung gegenüber den Ergebnissen empirischer Forschung dazu geführt, dass der Frage nicht nachgegangen wird, ob die in der IPN-Studie getroffene Entscheidung, in der Auswertung geschlechtsspezifische Unterschiede zu betonen, dazu beiträgt, bestehende Diskriminierungen von Schülerinnen im naturwissenschaftlichen Unterricht abzubauen oder zu verstärken. Zwar ist der ja nun keinesfalls neue Gedanke, dass empirische Daten von ihrer Erhebung bis zu ihrer Auslegung nur als interpretierte existieren, auch bereits jetzt schon in der geschlechtsbezogenen Schulforschung durch den ethnographischen Forschungsansatz vertreten. Was in diesem Zusammenhang aber nicht näher untersucht und diskutiert wird, ist die Struktur der 4 | Eine eindrückliche Schilderung dieser Wahrnehmung einer anwendungsbezogenen Didaktik, wenn sie ausdrücklich unter einer Geschlechterperspektive eingesetzt wird, liefert folgende Interviewpassage mit einer Schülerin: »Also von den Themen war es manchmal so. In Physik und Chemie. Besonders in Physik haben wir dann Energiesparen gemacht und zwar besonders bezogen auf den Haushalt. Wie kann man Energie sparen, wenn man Pizza backt, oder wenn man Toast backt? Da habe ich gemeint: Hat dieser Lehrer das überhaupt begriffen? Der hat anscheinend keine Ahnung von Gleichberechtigung, der hält uns anscheinend für so doof, daß er Sachen aus dem Haushalt heranziehen muß, um uns diese Sachen klar zu machen, als wenn wir das nicht einfach so kapieren würden. Und in Chemie haben wir dann […] mehr Sachen mit Umwelt oder auf das alltägliche Leben bezogen gemacht. Ich hab Chemie gerne, weil ich gerne mit Formeln arbeite und so mehr abstrakt oder so, und wenn das dann mehr konkret auf Waschmittel oder Seife oder Margarine geht – haben wir auch gemacht – dann ist das nicht mehr so interessant für mich.« (Ebd.: 234)

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Interpretation5. Die Struktur der Interpretation setzt voraus, dass der Gegenstand der Interpretation in seiner Bedeutung eine »Öffnung« oder »NichtIdentität« aufweist, die überhaupt die Ausbildung eines »Kräfteverhältnisses« zwischen unterschiedlichen Bedeutungen ermöglicht. Dieser interpretative Spielraum beschränkt sich weder auf die Analyse des bereits erhobenen »empirischen Datums«, noch auf die interpretativen Entscheidungen, die getroffen werden müssen, um ein Forschungsobjekt zu konstituieren, sondern ist in gewisser Weise bereits den Praktiken und Diskursen inhärent, auf die sich die empirische Sozialforschung bezieht, und kann nur eingegrenzt werden, indem der Forschungsgegenstand bzw. das »empirische Datum« im Rahmen ausgewählter Kontexte in seiner Bedeutung bestimmt wird. In der Diskussion der IPN-Studie ging es deshalb darum darauf aufmerksam zu machen, dass die Stabilisierung des Kontextes, der bestimmten Items eine relativ stabile Bedeutung verleiht, nicht ausschließlich eine Frage der empirischen Berechnung ist, und vor jeder mathematischen Berechnung Entscheidungen getroffen werden müssen, die nicht aus einer statistischen Analyse des erhobenen Datums abgeleitet werden können, sondern deren Voraussetzung sind. Damit wollte ich deutlich machen, dass an dieser Stelle strategische und politische Motive in die empirische Sozialforschung eingreifen, die eher einer Struktur des Interesses als der eines Wissens folgen, denn solche Entscheidungen können grundsätzlich von keiner Metakontextualität endgültig abgesichert werden, weil es keinen bedeutungsfähigen Kontext gibt, der nicht schon in einen anderen Kontext eingebunden ist. Dass dieser Eingriff des Strategischen oder Politischen in der empirischen Sozialforschung übergangen oder verleugnet wird, ist natürlich wiederum kein Spezifi kum der feministischen Schulforschung und im Rahmen des sozialwissenschaftlichen »Methodenstreits« in den 1960er und 70er Jahren auch in seiner Bedeutung für die Erziehungswissenschaft heftig diskutiert worden. Würde sich jedoch innerhalb der feministischen Schulforschung eine Diskussion um die interpretative Dimension in der empirischen Forschung und der diskursiven Dimension ihrer Bezugspunkte, Fragestellungen und Zielsetzungen entwickeln, täte sie aus meiner Sicht gut daran nicht umstandslos an diese Debatte anzuschließen. Wenn es richtig ist, dass der Wahrheitswert, den die Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit und die Diskurse, die über sie geführt werden, gegenwärtig genießen, auf Naturalisierungsprozessen beruht, in denen sowohl deren Temporalität als auch die innere Heterogenität des dichotomen und hierarchisierenden Denkens von Männlichkeit und Weiblichkeit ausgeblendet bleiben, kann der feministische Diskurs dem Widerstand des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit nur nachgehen, wenn er sich selbst gegenüber einem Denken öff net, das innerhalb der bestehenden Diskurse an den Grenzen der Identitätslogik operiert, die in solchen Einteilungen arbeitet. Aus diesem Grund reicht es, soweit ich sehen kann, aber nicht aus an den damals geführten Debatten um die 5 | Zum Folgenden vgl. Derridas Diskussion der Frage der Stabilisierung und Begrenzung von Kontexten (Derrida 2001: 221ff.).

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hermeneutische und gesellschaftspolitische Dimension erfahrungswissenschaftlicher Forschung anzuschließen: In der Erziehungswissenschaft ist in der damaligen Diskussion (und die folgenden Ausführungen sind sicherlich stark kursorisch und müssten an anderer Stelle umfassender geprüft werden) selbst noch in dem Insistieren darauf, dass sich die Erfahrungswissenschaft ihrer hermeneutischen Dimension nicht entledigen könne, die Empirie als ein Verfahren betrachtet worden, das die hermeneutische Wissenschaft »wirklichkeitsangemessener« werden lässt (Thiersch 1966; Loch 1967). Die Idee, »zwei rationale Verfahren in einer Wissenschaft« dergestalt zu kombinieren, dass sie den »Erkenntniswert« des jeweils anderen erweitern (Mollenhauer (1977: 58f.), bestimmt auch das in der kritischen Erziehungswissenschaft getroffene Eingeständnis, dass diese nicht auf empirische Verfahren verzichten könne. Diese Auffassung von dem Verhältnis der beiden Wissenschaften zueinander tendiert dazu den textuellen Charakter empirischer Forschung und ihrer Bezugspunkte erneut zu unterdrücken und ist deshalb problematisch. Wenn beispielsweise Werner Loch darauf aufmerksam macht, dass sich die Empirie nicht von der Hermeneutik befreien könne, weil »verständlich und eindeutig ausgesprochen werden muß, was beobachtet werden soll und worden ist, weil es sonst nicht intersubjektiv nachgeprüft werden kann« (Loch 1967: 457), und er gleichzeitig darauf dringt, dass die empirische Fragestellung »durchaus als eine Erweiterung der hermeneutischen« verstanden werden könne, weil sie »die Interpretation dessen, was Wörter und Sätze bedeuten (Hervorh. im Orig.)«, ausdehne auf die »beobachtbaren Objekte, die sie bezeichnen«, dann wird an dieser Stelle deutlich, dass Loch von einem grundlegenden Unterschied ausgeht zwischen dem »verstehende[n] Sprechen« als einer zentralen Dimension der erziehungswissenschaftlich relevanten Wirklichkeit und ihrer Erforschung einerseits und »den Dingen, über die es spricht«, weshalb man empirisch beweisen müsse, dass es sie »auch wirklich gibt« (ebd.: 459). Auch bei Mollenhauer taucht entgegen seinem anfänglichen Verweis auf die grundlegend symbolische Struktur des »Objektbereichs« der Erziehungswissenschaft (Mollenhauer 1977: 15) genau an der Stelle in seinen Ausführungen, in der er darauf verweist, dass sich der ideologische Gehalt der Sprache nur aufdecken lasse, wenn man sie selbst der empirisch-analytischen Überprüfung unterwerfe (ebd.: 17f.), die Unterscheidung zwischen der Sprache und den »faktischen Verhältnissen« auf, deren empirische Analyse sichern soll, dass die Sprache nicht unkritisch den »faktischen Verhältnissen« verhaftet bleibe, von denen sie nach Habermas, den Mollenhauer hier zitiert, abhängt (Habermas zit.n. ebd.: 17). Wenn aber im »Objektbereich der Handlungswissenschaften« »nicht die Wahrnehmung von Tatsachen […] symbolisch strukturiert [ist], sondern die Tatsache als solche« (Habermas zit.n. ebd.: 15), wie kann es in diesem Fall »Verhältnisse« geben, die sich der temporalen und differenziellen Struktur des Symbolischen entziehen und stattdessen auf »Fakten« gründen, die den Anschein erwecken, sie könnten eine beobachtbare Grundlage bilden, die es erlaubt mit einem anderen Verfahren als dem der Interpretation von Texturen »undurchsichtig wirkende Motive des

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pädagogischen Handelns (Ursachen) in rationale Intentionen zu überführen« (ebd.: 18)? Und wenn diese »faktischen Verhältnisse« eben in jenen »symbolischen Zusammenhang« eingebunden sind (Habermas zit.n. ebd.: 15), zu dessen Aufklärung, sie herangezogen werden, warum eignen sie sich dann besser als Forschungsgegenstand der ideologiekritischen Analyse der Sprachbestände, die in der Erziehung und der Erziehungswissenschaft eine Rolle spielen, als eine hermeneutische Interpretation von Texten6? Damit will ich nicht sagen, dass in der Erziehungswissenschaft hermeneutische Methoden den empirischen vorzuziehen seien. Noch will ich in Abrede stellen, dass zwischen Texten und sozialen Interaktionen, in der Art, wie sie wirken, relative Unterschiede bestehen, weshalb es möglich ist, dass im Rahmen von empirischen Analysen Wissensbestände hervorgebracht werden können, die eine hermeneutische Arbeit nicht hätte leisten können und umgekehrt. Vielmehr geht es um die Frage, warum die empirische Analyse »wirklichkeitshaltiger« sein soll als eine hermeneutische, wenn der Objektbereich der Sozialwissenschaften tatsächlich grundlegend symbolisch strukturiert ist, wie sowohl Loch als auch Mollenhauer annehmen. Wie kann man dann weiterhin einen fundamentalen Unterschied zwischen der Struktur eines Textes und der einer sozialen Interaktion begründen, wie es das von Mollenhauer und Loch skizzierte Verhältnis zwischen dem Gegenstandsbereich der Hermeneutik und dem der Empirie nahe legt? Und in diesem Zusammenhang ebenso wichtig: Wie lässt sich in diesem Fall noch ein »reines« Objekt isolieren, das der eigenen Forschung vorhergeht? Wie kann man vor diesem theoretischen Hintergrund intersubjektiv überprüf bar unterscheiden zwischen den performativen Effekten der eigenen Forschungsaktivitäten und dem, worauf sie sich beziehen sollen? So unterschiedlich die Beiträge von Loch und Mollenhauer auch sind, ist in beiden Texten ein Bemühen zu erkennen, die Struktur der Wirklichkeit nicht einer Struktur anheim zu geben, die sich nicht – zumindest idealerweise – vollkommen bewusst und rational beherrschen lässt. Die Vorstellung, empirische Analysen lieferten einen »wirklichen« Bezugspunkt zur Überprüfung erziehungswissenschaftlicher Aussagen im Unterschied zu schriftlichen Texten, die sowohl Lochs als auch Mollenhauers Ausführungen zum Verhältnis zwischen der Hermeneutik und Empirie bestimmt, dient aus meiner Sicht dazu – trotz des Eingeständnisses der Unabgeschlossenheit hermeneutischen Verstehens – einen objektiven Bezugspunkt aufrechtzuerhalten, an dem zumindest theoretisch der Wahrheitsgehalt des eigenen Verständnisses der Erziehungswirklichkeit überprüft werden kann, wobei, was für die Geschlechterforschung ebenso problematisch ist, ein Modell von Sprache vorausgesetzt wird, in dem die Sprache zu6 | Diese Entgegensetzung von Wirklichkeit und Text bestimmt meiner Auffassung nach oftmals – trotz der dem Methodenstreit nachfolgenden methodologischen Entwicklungen – selbst noch das Verständnis von empirischer Wirklichkeit in der qualitativen empirischen Forschung und zeigt sich wie zum Beispiel bei Amman und Hirschauer in dem Beharren auf einen »harten« Empiriebegriff (vgl. Kap. 2.2 in Teil III).

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mindest idealerweise dem vollen Bewusstsein des Sprechers unterstellt sein soll. So gibt sich Loch schon zu Beginn seiner Ausführungen der Phantasie hin, dass »verständlich und eindeutig ausgesprochen werden muß, was beobachtet werden soll und worden ist, weil es sonst nicht intersubjektiv nachgeprüft werden kann« (Loch 1967: 457). Und Mollenhauer beklagt, dass unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen »den Handelnden ihre Motive wie auch die Sprache, in der sie sich auszudrücken versuchen, nicht durchweg durchsichtig und ihnen deshalb rational nicht voll verfügbar sind«, weswegen es »im Interesse der Erziehungswissenschaft« läge, »dazu bei[zu] tragen, die Durchsichtigkeit, Aufgeklärtheit, Rationalität des Erziehungshandelns zu steigern, um damit zugleich zu ermöglichen, daß die heranwachsende Generation solche Rationalität in sich hervorbringt« (Mollenhauer 1977: 17f.). Mit einem solchen Ideal der sich selbst transparenten Sprache (von dem man sicherlich an einem anderen Ort zeigen müsste, dass es in den ideologiekritischen Überlegungen in der kritischen Erziehungswissenschaft sowie in dem hermeneutischen Verlangen nach Sinn-Verstehen angelegt ist) muss in dem Bemühen, eine vollkommene Eindeutigkeit herzustellen und die Beherrschung über das eigene Sprechen nicht zu verlieren, das Missverständnis lediglich als ein Hindernis erscheinen, das es so gut wie möglich zu überwinden gilt. Auf diese Weise blendet man jedoch aus, dass der interpretative Spielraum bzw. die Möglichkeit des Missverständnisses zur innersten Struktur von Sprache gehören (vgl. hierzu Derridas Lesung von Austin in Derrida 2001: 32ff.), was für Derrida aber niemals bedeutet hat, dass man in der Philosophie, der Wissenschaft oder der Politik das Bemühen um ein präzises Lesen und Schreiben aufgeben darf. Wenn man aber bereit ist mit Derrida anzuerkennen, dass jedes Zeichen darauf angewiesen ist iterierbar zu sein und deshalb durch eine Verräumlichung konstituiert sein muss, die »ursprünglich« ist und damit einer Struktur unterliegt, die sich als einen einfachen Ursprung selbst auslöscht und keinen einheitlichen und präsenten Ausgangsort bildet, und wenn man darüber hinaus bereit ist seiner Verallgemeinerung dieser Struktur auf das Feld der Erfahrung zu folgen, dann muss man annehmen, »daß die Geschichte, die Welt, die Realität immer in einer Erfahrung erscheinen, folglich in einer Bewegung von Interpretation, die sie kontextualisiert gemäß einem Netz von Differenzen und folglich von Verweis auf den (von dem) anderen« (Derrida 2001: 212), der irreduzibel ist. Diese Textualität der Erfahrung, deren Anerkennung nicht nur in der pädagogischen Geschlechterforschung dazu führen müsste die Rolle und Funktion empirischer Untersuchungen in der Erziehungswissenschaft zu überdenken, scheint mir selbst noch in der Diskussion um die notwendig hermeneutische Dimension der Erfahrungswissenschaft übergangen worden zu sein. In der pädagogischen Geschlechterforschung kommt einer solchen kritischen Überarbeitung ihrer Konzeption empirischer Erfahrung und der Textualität ihrer Erforschung ein besonderes Gewicht zu: In der sozialwissenschaftlichen Grundlagendebatte um die Kategorie Geschlecht wiederholt sich in den in der Literatur häufig auftauchenden Hinweisen darauf, dass das Geschlecht »nicht nur ein »Effekt«, sondern eine »gelebte Realität« (Lorey zit.n.

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Kaiser 2000: 218) sei bzw. nicht nur »gedeutet«, sondern »auch erfahren und erlebt« werde (Hartmann 2000: 264), die zumeist an die Arbeiten von Foucault und Butler adressiert sind – in einem sicherlich anderen Vokabular und wissenschaftlichen Kontext – gewissermaßen die Annahme, dass sich die Hermeneutik und Empirie auf ihrem Wesen nach vollkommen unterschiedliche Strukturen wie den Text und die Wirklichkeit beziehen. Hinter diesem ausdrücklichen Insistieren darauf, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit als eine gelebte körperliche und psychische Wirklichkeit in den Individuen präsent sei und sich nicht auf einen Diskurs reduzieren ließe, verbirgt sich die Vorstellung von einer lebendigen und direkten Erfahrung von Geschlecht im Alltag, wie sie zum Ausdruck kommt, wenn beispielsweise im niedersächsischen Schulversuch dafür plädiert wird, statt durch »Frontalunterricht oder Hirnarbeiten« zum Thema Geschlecht »alternative Handlungsmöglichkeiten« »durch Rollenspiele, durch direkte, selbst erlebte Erfahrungen in Körper- und Wahrnehmungsspielen« (Krabel zit.n. Kaiser und MitarbeiterInnen 2003: 127) zu vermitteln. Hinter diesem theoretischen Vorurteil, es könne eine »direkte Erfahrung« von etwas geben, – das meiner Ansicht nach über dieses spezifische Beispiel hinaus einen wesentlichen Kern des Beharrens auf dem lebendigen Erleben des Geschlechteralltags ausmacht –, also eine Erfahrung, und ich zitiere hier lediglich den Duden, »die ohne Umweg oder Verzögerung ohne dass etwas anderes dazwischen liegt oder unternommen wird« (Dudenverlag 1990: 188) erlebt wird, verbirgt sich das Ideal einer Erfahrung, die, weil sie an nichts anderes gebunden ist und keinen Umweg und keine Verzögerung durchläuft, dem Subjekt ungeteilt und unmittelbar präsent ist. In diesem Modell von Erfahrung wird aber gerade die notwendige Ambivalenz und Unabgeschlossenheit unterdrückt, ohne die nicht nur das Selbstverständnis, ein Mann oder eine Frau zu sein, nicht denkbar wäre, sondern die auch wesentlich diejenigen Erfahrungen strukturieren, von denen im Rahmen solcher pädagogischer Unternehmen angenommen wird, sie würden das Alltagserleben von Mädchen und Jungen prägen. Streng genommen und stark schematisch kann man auch sagen, dass, wenn es tatsächlich so etwas gäbe, wie eine Erfahrung, die dem Individuum unmittelbar präsent ist, die keinen Umweg und keine Verzögerung durchläuft, sie in jedem Fall keine Erfahrung sexueller Differenz wäre, weil diese sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie sich auf das andere Geschlecht bezieht. In dem oben angeführten Beispiel stabilisiert ein solches Modell von Erfahrung den Glauben, pädagogische Projekte zur Erweiterung des Erfahrungsspektrums von Mädchen und Jungen griffen lediglich »empirisch-reale Probleme der Geschlechtersozialisation im Sinne von realen Bedingungen« auf und entwickelten »aus dieser Ausgangslage heraus Ansatzpunkte zur Überwindung von Stereotypen« (Kaiser und MitarbeiterInnen: 28). Dabei wird nicht nur verkannt, dass die empirische Forschung nicht das sichere Fundament bieten kann, auf das eine solche Pädagogik sich zu stellen wünscht, sondern es wird auch deutlich, dass die pädagogische Geschlechterforschung ihr Thema, geschlechtsbedingte Erfahrungen und den mit ihnen verbundenen Sexismus, verfehlen wird, wenn sie die Differenzialität und Temporalität in der

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Struktur dessen, was wir unter einer Erfahrung verstehen, ausblendet und in der empirischen Forschung so vorgeht als bezöge sie sie sich auf vollkommen gegenwärtige individuelle und gesellschaftliche Strukturen, die es zu rekonstruieren gilt 7. Wenn man dieser Frage, inwiefern sich die Diskurse und Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit und das, was man vielleicht auch versucht sein könnte eine sexuelle Erfahrung zu nennen, der Struktur des Wissens, der Identität und der Präsenz entzieht, nicht systematisch nachgeht, wird man der Frage, worin ihre Stabilität besteht, nicht nahe kommen können. Gerade, weil es in der schulischen Geschlechterforschung als selbstverständlich gilt, dass sowohl die Fort- und Ausbildung von LehrerInnen als auch eine geschlechtsbewusste Pädagogik »erfahrungs- und handlungsorientiert« auszurichten sei, ist es wichtig, dass sie sich solchen theoretischen Fragestellungen zuwendet. 7 | Darin unterscheidet sich auch der obige Hinweis auf das Eingreifen politisch oder strategisch motivierter Entscheidungen bei der Konstitution eines Forschungsgegenstandes und seiner empirischen Erforschung von einer ideologiekritischen Sicht auf die gesellschaftlich-historische und politische Dimension der Fragestellungen, Begriffe und Zielsetzungen empirischer Forschung. In Teilen der kritischen Erziehungswissenschaft ist ein marxistisches Verständnis von Ideologie vertreten worden, das unterstellt, es könne abhängig von dem »erreichten Entwicklungstand der wissenschaftlichen Erkenntnis« ein »richtiges, ›wahres‹, wissenschaftlich überprüfbares gesellschaftliches Bewusstsein geben, das »im Gegensatz zum ›falschen Bewußtsein‹ gesellschaftlicher Tatbestände« steht, das es aufzuklären gilt (Klafki 1976: 51). Dies geht an dem oben vorgeschlagenen Verständnis von Erfahrung als einer Textur vorbei, das ebenfalls darauf abhebt den diskursiven Kontexten nachzugehen, in denen die Entwicklung, Erhebung und Auswertung empirischer Forschungsprojekte eingebunden ist. In diesem Verständnis von Ideologiekritik wird an einem Wissenschaftsideal festgehalten, das nach einer wissenschaftlichen Methodisierung einer ideologiekritischen Betrachtung strebt, ohne systematisch die Frage danach zu stellen, was sich in der Bildung eines Diskurses, einer gesellschaftlichen Struktur oder des Subjekts notwendigerweise dem identifizierenden Denken des wissenschaftlichen Diskurses entzieht. In der einfachen Entgegensetzung eines »wahren« und »falschen« Bewusstseins wird das Ideal eines sich selbst vollkommen gegenwärtigen Subjekts fortgeschrieben, das den irreduziblen Bezug zum Anderen unterdrückt, der jede Konzeption eines Subjekts strukturieren muss. Hierbei wird aber die gesamte Problematik um die Begründung eines kritischen Standpunktes ignoriert, die bei Adorno und Horkheimer das Denken einer »Negativen Dialektik« geprägt hat und die in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion aktuell bleiben muss und es auch geblieben ist (vgl. stellvertretend: Schäfer 2004). Darüber hinaus kann in dem Streben danach, die Selbstentfremdung zu überwinden das gesellschaftlich Unbewusste nur als eine vollkommen gegenwärtige Struktur gedacht werden, die es – methodisch abgesichert – ins Bewusstsein zu heben gilt. Hierin besteht aber leider auch eine ziemlich starke Parallele zwischen einem solchen ideologiekritischen Verständnis gesellschaftlicher und individueller Strukturen und der neuen Koedukationsdebatte um den »heimlichen Lehrplan«.

Ausblick: »Mit dem Unberechenbaren rechnen«. Eine Herausforderung für die Weiterentwicklung feministischer Perspektiven in der Schule

Der Hinweis darauf, dass man »mit dem Unberechenbaren rechnen« muss, »wenn man Gerechtigkeit will«, stammt von Jacques Derrida und ist einem Vortrag zu verdanken, den er 1989 während eines Colloquiums, das dem Titel Deconstruction and the Possibility of Justice unterstand, gehalten hat (Derrida 1991: 34). Im Unterschied zu der vielleicht landläufi gen Vermutung, die Dekonstruktion verneine oder relativiere die Möglichkeit der Gerechtigkeit, unterstreicht Derrida bei dieser Gelegenheit, dass, »wenn es so etwas gibt, wie die Gerechtigkeit als solche«, diese sich nicht dekonstruieren lässt (ebd.: 30), weil sie sich »gerade aufgrund ihres Anspruchs auf Universalität« »an das vielfältig Besondere [singularités]« richten muss, »an die Besonderheit des anderen« (ebd.: 41). In der Erziehungswissenschaft erschöpft sich die Problematik dessen, was in der Geschlechterforschung unter dem Schlagwort der Reifizierung diskutiert wird, nicht darin, dass ein unkritischer Umgang mit dem binären Denken der Zweigeschlechtlichkeit Gefahr läuft dieses erneut zu naturalisieren und damit zu verfestigen. Vielmehr muss in diesem spezifischen handlungsorientierten Diskurs, von dem man vielleicht sagen kann, dass er gewissermaßen von der Herausforderung ausgegangen ist, sich dem anderen gegenüber gerecht und angemessen zu verhalten, die Problematik der Reifizierung besonders ernst genommen werden, weil sie die feministische Theoriebildung erneut auf die Spuren dessen verweist, was in der begrifflichen Entgegensetzung von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht aufgeht und damit an die Andersheit des anderen erinnert. In der feministischen Schulforschung, und dies kann man m.E. generell von der pädagogischen Geschlechterforschung sagen, hat die theoretische Bearbeitung und Diskussion dieser Fragestellung bislang kaum begonnen. Obwohl Hannelore Faulstich-Wielands Vorschlag, sich in der Beobachtung des Unterrichts eher von Dramatisierungen leiten zu lassen, im Umgang mit den SchülerInnen aber eher von einer Dramatisierung von Geschlecht abzusehen, von dem Motiv ausgeht, Kindern und Jugendlichen jeweils in ihrer Einzigartigkeit gerecht

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zu werden, erscheint das »Balancieren« zwischen einer Dramatisierung und einer Entdramatisierung von Geschlecht letztendlich beliebig und es wird der Frage nicht weiter nachgegangen, was diese Herausforderung für die Entwicklung pädagogisch motivierter »Dramatisierungen« von Geschlecht im Unterricht bzw. in der Schule bedeuten kann oder vielleicht sogar muss (vgl. Kapitel 2.2 in Teil I). Und in der »Pädagogik der Vielfalt« wird Heterogenität letztlich doch nur als eine bestehende kulturelle Differenz zwischen den Geschlechtern begriffen und das Postulat der »Unbestimmbarkeit« des Weiblichen und des anderen bleibt ein Postulat fast ohne theoretische Konsequenz für das in diesem Ansatz anvisierte begriffl iche Erfassen der unterschiedlichen Seinsweisen weiblicher Existenz in dieser Gesellschaft. Der Abstraktion vom Einzelfall und davon, was sich seiner begrifflichen Erfassung entziehen muss, wird schlicht mit einer Relativierung und Einschränkung des Geltungsanspruchs des Wissens begegnet (vgl. Kapitel 2.3 in Teil I). Dazu kommt hinzu, dass die Diskussion um die Zielsetzungen einer geschlechtsbewussten Pädagogik immer noch weitgehend durch die beiden Positionierungen eines Standpunktes der Differenz, der in der »Pädagogik der Vielfalt« zu dem der »egalitären Differenz« weiterentwickelt wurde, und dem der »Gleichheit« gekennzeichnet ist, ohne dass hierbei die Frage, wie eine geschlechtsbewusste Pädagogik, die den Anspruch erhebt, das Recht auf Gleichheit in der Schule zu wahren, in ihren Interpretationen des Rechts auf Gleichheit den einzelnen Schülerinnen gerecht werden kann, eine herausgehobene Rolle gespielt hätte.1 In dem eingangs angesprochenen Vortrag weist Derrida auf eine grundlegende Differenz zwischen dem Recht und der Gerechtigkeit hin und gibt eine sehr bestimmte Auslegung dieses Verhältnisses. Wenn ich im Folgenden näher erläutere, warum Derrida darauf besteht, dass man »mit dem Unberechenbaren rechnen« muss, »wenn man Gerechtigkeit will«, so nicht, weil ich glaube, dass sich dieser vielschichtige und komplexe Text umstandslos auf die bestehende Diskussion um eine »geschlechtergerechte Schule« und die in ihr enthaltene Problematik der Reifizierung übertragen lässt. Aber ich möchte diese Ausführungen zum Schluss dieser Arbeit aufgreifen, weil in dieser Differenz zwischen dem Recht und der Gerechtigkeit, auf der Derrida hier besteht, die Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen nicht wieder geschlossen wird und dies dem Denken der Singularität des anderen im feministischen Schuldiskurs eine entschiedenere Richtung geben könnte.

1 | Eben sowenig ist überhaupt der schwierigen Frage nachgegangen worden, in welchem Verhältnis die Pädagogik zum Recht steht oder stehen kann und, was sich hieraus für einen feministischen Diskurs in der Erziehungswissenschaft ergibt. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass die politische Debatte um den Standpunkt der »Differenz« und dem der »Gleichheit« weitgehend undifferenziert auf die pädagogische Geschlechterforschung übertragen wurde, ohne die besonderen Umstände dieses Diskurses zu berücksichtigen.

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Die aporetische Struktur der Erfahrung der Gerechtigkeit und die Überstürzung im pädagogischen Handeln »Wenn es so etwas gibt wie die Gerechtigkeit als solche«, so habe ich Derrida zu Beginn dieses Kapitels zitiert, »läßt sie sich nicht dekonstruieren« (Derrida 1991: 30). Dies schließt für ihn ein, dass sich die Gerechtigkeit nicht im Recht zufrieden stellen lässt. Denn das Moment der Stiftung oder der Eröff nung des Rechts, dies haben wir bereits in Butlers Diskussion des Gesetzes bei Lacan gesehen, kann sich nicht auf eine (Be)Gründung oder Rechtfertigung stützen, die nicht dekonstruierbar wäre. Entweder kann es dekonstruiert werden, »weil es in Text-Schichten gründet, die man deuten und verwandeln kann […], oder weil sein letzter Grund per definitionem grund-los, unbegründet ist« (ebd.: 30). Wenn es also »so etwas gibt wie die Gerechtigkeit als solche«, muss sie sich »gerade aufgrund ihres Anspruchs auf Universalität« »an das vielfältig Besondere [singularités]« richten, »an die Besonderheit des anderen« (ebd.: 41). Der primäre Bezug zum Anderen im Selbstbezug war das zentrale Thema meiner Diskussion von Judith Butlers Konzept des melancholischen Charakters der Geschlechtsidentität, die zumindest implizit stark durch Derridas Denken geprägt war. Hierbei habe ich versucht deutlich zu machen, dass die jeder Unterscheidung zwischen einem Subjekt und einem Objekt vorhergehende Alterität, weil sie irreduzibel ist, gerade nicht unmittelbar thematisiert werden kann und nicht einfach eine positive Bedingung der Möglichkeit des Selbst darstellt. Vielmehr geht Derrida in seinen Schriften unentwegt dem »anderen Mal«2 nach, das 2 | »Die Zeit und der Ort des anderen Mals (the other time) arbeiten und verändern schon at once, sogleich [aussi sec], das erste Mal, den ersten Schlag und das at once. Solcherart sind die Tücken [vices], die mich interessieren: das andere Mal im ersten Mal, mit einem Schlag, at once« (Derrida 2001: 103), so erläutert Derrida in Limited Inc. die Struktur des Zeichens. Dieses Verständnis des Zeichens als einer Struktur, die nur insoweit identifi ziert und wiederholt werden kann, wie sie durch die Iterabilität »verändert, parasitiert und kontaminiert« wird (ebd.: 103), gilt auch für die Erfahrung und dekonstruiert die Idee eines einfachen Ursprungs. Obwohl es auf dem ersten Blick so aussehen könnte, bedeutet dies jedoch nicht, dass die Dekonstruktion die Möglichkeit eines Ereignisses einfach verneint. Aber als die ursprüngliche Struktur der Erfahrung kompliziert dieser gespaltene Anfang, der ja dann kein reiner Anfang mehr ist, das Verständnis von Singularität, d.h. auch des anderen in seiner absoluten Besonderheit, erheblich. Für Derrida kann die Erfahrung des Ereignisses nur eine sein, die von ihrer eigenen wesentlichen Unmöglichkeit heimgesucht wird (vgl.: Derrida 2003: 38):

»Man kann ein Wort nur verstehen, weil es wiederholt werden kann; sobald ich spreche, bediene ich mich wiederholbarer Worte und die Einzigartigkeit verliert sich in dieser Iterabilität. Ebenso kann das Ereignis, wenn es erscheint, nur um den Preis erscheinen, dass es bereits in seiner Einzigartigkeit selbst wiederholbar ist. Das ist ein Gedanke, der nicht leicht zu fassen ist – die Einzigartigkeit als unmittelbar iterier-

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jedes Besondere zu einem »vielfältig« Besonderen macht und diesem von seinem ersten Auftreten an eingeschrieben ist. Dieses Bemühen bildet den Hintergrund seiner Behauptung, dass die Dekonstruktion getrieben sei von einem »Gerechtigkeitsverlangen« (ebd.: 52), das »von der Idee einer unendlichen Gerechtigkeit« ausgeht: »[U]nendlich ist diese Gerechtigkeit, weil sie sich nicht reduzieren, auf etwas zurückführen läßt, irreduktibel, ist sie, weil sie dem Anderen gebührt, dem Anderen sich verdankt; dem Anderen verdankt sie sich, gebührt sie vor jedem Vertragsabschluß, da sie vom anderen aus, vom Anderen her gekommen, da sie das Kommen des Anderen ist, dieses immer anderen Besonderen.« (Ebd.: 51)

Deshalb insistiert Derrida darauf, dass jeder Versuch im Bereich des Rechts, diesem Anspruch gerecht zu werden, »die Gestalt einer Entscheidung« (ebd.: 28) annehmen muss. Damit will er nicht sagen, dass die Ausübung der Gerechtigkeit in der Gestalt des Rechts die »Struktur eines Subjekts« oder »die propositionelle Form eines Urteils« (ebd.: 50) voraussetzt, sondern dass sie eine »Unterbrechung der juridisch-ethisch- oder politisch-kognitiven Überlegung« (ebd.: 54) erfordert, der sie angehört. Mit dieser Forderung macht Derrida geltend, dass »der Akt der Justiz« – und in einem erweiterten Sinn zählt hierzu auch der Anspruch der geschlechtsbezogenen Pädagogik, den Rechtsanspruch auf Gleichheit zu wahren – »stets ein Besonderes in einer besonderen Lage betriff t« (ebd.: 35) und sich deshalb »an den anderen in der Sprache des anderen« (ebd.: 35) richten muss. Diese »Bedingung jeder möglichen Gerechtigkeit« (ebd.: 35) konfligiert jedoch nicht nur damit, dass die Regeln, Normen und Werte, die das Recht sichern soll, »zwangsläufig eine allgemeine Form aufweisen«, sondern auch damit, dass die Rechtssprechung implizit davon ausgeht, dass alle »betroffenen ›Subjekte‹« die Sprache des Rechts gleichermaßen beherrschen, verstehen und deuten (ebd.: 36). In dieser Unterstellung, dass es tatsächlich so etwas gibt, wie ›eine Sprache im Allgemeinen‹, was im Prinzip die Möglichkeit eines geschlossenen Sprachsystems voraussetzt, sieht Derrida eine bedeutsame Ungerechtigkeit, die von dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit aus nicht einfach ignoriert werden darf: »So wenig die subtilen Unterschiede ins Gewicht fallen mögen, die über die Fähigkeit entscheiden, eine besondere Sprache zu beherrschen: das Gewaltsame, das die Ungerechtigkeit auszeichnet, lässt sich bereits dort ausmachen, wo die besondere Sprache nicht allen Mitgliedern einer Gemeinschaft in gleicher Weise zu eigen ist, wo nicht alle den gleichen Anteil an ihr haben. Da eine solche ideale Situation streng gesprochen sich nicht herstellen läßt, nie möglich ist, kann man bereits einen Schluß ziehen, der jenes betriff t, was der Titel unseres bare, die Singularität als unmittelbar der Substitution anheimgegebene, wie Lévinas sagen würde. Die Substitution ersetzt nicht einfach eine ersetzbare Einheit durch eine andere: die Substitution ersetzt das Unersetzliche.« (Ebd.: 36)

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Colloquiums ›die Möglichkeit der Gerechtigkeit‹ nennt. Das Gewaltsame der Ungerechtigkeit, die darin besteht, daß man die verurteilt, die die besondere Sprache nicht verstehen, in der Recht gesprochen wird und Gerechtigkeit widerfahren soll (im Französischen sagt man: justice est faite) ist nicht unbedeutend, und es ist auch nicht einfach das Gewaltsame einer unbedeutenden Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit supponiert, daß der andere, das Opfer der Ungerechtigkeit der Sprache, fähig ist, eine Sprache im allgemeinen zu sprechen«. (Ebd.: 36/37)

Bindet man die »peinigende Ernsthaftigkeit dieses Sprachproblems« (ebd.: 36), das nicht umgekehrt besagt, dass jeder in seinem eigenen Code spreche, sondern vielmehr die Problematik der Vorstellung von einer Sprache als einem von allen geteilten Kommunikationsmittel anspricht, an die Frage der Gerechtigkeit, so zeichnet sich ab, warum Derrida darauf dringt, dass die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen dem, was in einem besonderen Fall als gerecht oder ungerecht gelten muss, auf eine Entscheidung angewiesen ist, die in ihrem Anspruch auf Gerechtigkeit »in einer Erfahrung der Aporie bestünde« (ebd.: 33). Einerseits muss sich eine »Entscheidung, die das Gerechte und Angemessene betriff t«, um als »solche erkannt zu werden, an einem Gesetz ausrichten, einer Vorschrift oder einer Regel folgen« (ebd.: 46). Andererseits aber müsste eine solche Entscheidung, insofern sie sich auf ein Besonderes bezieht, auf »einer vollkommen einzigartigen Deutung« beruhen, »für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf.« (ebd.: 48)3 Eine solche Deutung darf sich, soll sie einzigartig sein, definitionsgemäß nicht voraussagen lassen. Absolut einzigartig kann sie nur sein, wenn sie keiner Berechnung und keiner Überlegung entspringt, die sie bereits ankündigen würde. Streng betrachtet müsste eine solche Deutung mit jeder Erwartung, mit jeder Vorannahme brechen können (vgl. Derrida 2003). Hierin zeigt sich eine Dimension der Unberechenbarkeit der Gerechtigkeit, die aus dem Anspruch folgt, dem anderen in seiner Besonderheit gerecht zu werden und die von dem »Übermäßige[n] der Gerechtigkeit« zeugt, »durch das sie sich nicht im Recht und der Berechnung erschöpft« (Derrida 1991: 57). 3 | »Kurz: damit eine Entscheidung gerecht und verantwortlich sein kann, muß sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, in dem Augenblick, und der ihr eigener Augenblick ist (gibt es einen solchen Augenblick?), einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen.« (Ebd.: 47.) »Wenn eine [eingetragene, codierte S.M.] Regel ein ausreichender, ein ausreichend sicherer Garant für die Deutung ist, erweist sich der Richter als eine Rechenmaschine (was manchmal zutriff t) und kann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewußt gelten. Umgekehrt kann er auch dann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewußt gelten, wenn er sich auf kein Recht, keine Regel bezieht oder wenn er keine Regel für vorgegeben hält, die über seine Deutung hinausgeht, und deshalb die Entscheidung suspendiert, beim Unentscheidbaren stehen bleibt oder bar aller Regeln und Prinzipien improvisiert.« (Ebd.: 48)

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Vielleicht ist es aber gerade deswegen nicht überraschend, dass Derrida darauf besteht, dass die Idee von einer »unendlichen Gerechtigkeit« darauf angewiesen 4 ist sich im Recht einzurichten, dass »sie erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet« (ebd.: 34): »Auf sich selbst gestellt, sich selbst preisgegeben, aufgegeben und allein gelassen, befindet sich die allen Berechnungen, allem Kalkül trotzende, Gerechtigkeit spendende Idee stets in nächster Nähe zum Bösen, ja zum Schlimmsten, da das perverseste Kalkül sie sich stets wieder aneignen kann. Diese Möglichkeit bleibt immer bestehen. Die jeder Berechnung, jedem Kalkül gänzlich fremde Gerechtigkeit befiehlt also die Berechnung und das Kalkül. Dieses Berechnen muss sich so eng wie möglich an jenes halten, was man mit der Gerechtigkeit in Verbindung bringt: das Recht, die juridische Sphäre, die man durch eine Abgrenzung nie völlig zu isolieren vermag, deren Grenzen also nie sicher sind, all jene Bereiche schließlich, von denen man das Recht nicht abtrennen kann, die in es hineinreichen und die nicht mehr bloß(e) Bereiche oder Felder sind: das Ethische, das Politische, das Ökonomische, das Psycho-Soziologische, das Philosophische, das Literarische usf.« (Ebd.: 57f.)

Dieser notwendige Rekurs auf eine Gewalt oder Kraft5, dessen Begründung 4 | Dieser Angewiesenheit, der man wahrscheinlich in Derridas Ausführungen zu der »Bejahung« und der »Gabe« weiter nachgehen müsste, lässt sich im Rahmen dieser Arbeit vielleicht am ehesten – und dies auch nur in einem groben Umriss – skizzieren, wenn man die Schwierigkeiten in Betracht zieht, die mit der Forderung nach einer »vollkommen einzigartigen Deutung« verbunden sind. Wenn eine solche Deutung möglich sein soll, ist sie nur als ein Ereignis denkbar, »das vertikal über mich hereinbricht, ohne dass ich es kommen sehen kann«, was aber gleichzeitig auch bedeutet, dass bevor sich ein Ereignis ereignet es »mir nur als unmögliches erscheinen« kann. Denn erscheinen kann es mir nur, wenn die Möglichkeit besteht, dass es sich in eine iterierbare Sprache einbindet, das heißt, dass es sich in seiner Einzigartigkeit verlieren können muss, damit es erscheinen kann. Dies ändert nichts daran, dass wenn so etwas wie eine »einzigartige Deutung« möglich sein soll, sie absolut unberechenbar sein muss, aber wenn sich eine »einzigartige Deutung« als ein mögliches Ereignis erweisen sollte, kann »mein Bezug« zu einem solchen Ereignis nur der sein, »dass die Tatsache, dass das Ereignis in seiner Struktur unmöglich gewesen sein wird, seine Möglichkeit weiter heimsucht.« (vgl. Derrida 2003: 37). 5 | Hierbei weist Derrida darauf hin, dass die Einrichtung der Gerechtigkeit in das Recht nicht einfach ein Vorgang der Institutionalisierung ist, in dem die Gerechtigkeit im Sinne des Rechts »in den Dienst einer gesellschaftlichen (etwa ökonomischen, politischen, ideologischen) Kraft oder Macht gestellt [wird], die außerhalb ihrer selbst Bestand hätte« (ebd.: 27). Vielmehr ist die Einrichtung der Gerechtigkeit in das Recht mit einem Gewaltakt verbunden, der nicht einfach nur den Übergang von einer Gerechtigkeit, die unberechenbar ist, weil sie dem Anderen gebührt, hin zu einem allgemeinen Rechtssystem markiert, sondern das Moment dieser Einrichtung ist gleichzeitig auch »das Vorgehen, das das Recht stiftet, (be)gründet, eröff net,

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hier nur angedeutet werden konnte, öffnet die »Idee der unendlichen Gerechtigkeit« gegenüber dem Raum des Rechts und lässt eine eindeutige und reine Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit und dem Recht unmöglich erscheinen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Gerechtigkeit letztendlich doch auf das Recht reduzieren ließe6, sondern es gehört zu ihrer wesentlichen Struktur, dass sie sich nicht kraft der Entscheidung erfüllen lässt, auf die sie angewiesen ist und die sie an das Recht bindet. Denn eine Entscheidung, die den Anspruch erhebt, einem besonderen Fall gerecht zu werden, müsste das Prinzip des Rechts in aller Strenge »frei bestätigen und bejahen« (ebd.: 48). In letzter Konsequenz müsste dieser Entscheidung eine Suspension der bisherigen Auslegungspraxis vorhergehen, die jede »juridisch-, ethisch- oder politisch-kognitive Überlegung« (ebd.: 54) unterbricht. Eine solche Suspension müsste bis zu der Entscheidung zurückreichen, die »Initiative des Berechnens« (ebd.: 49) zu ergreifen, was gleichzeitig beinhaltet, dass das Entscheiden in seinem Vollzug, in der Prüfung des Unentscheidbaren, nicht dem Berechenbaren zugehören darf. In dieser Prüfung geht es also nicht um ein unentschlossenes »Schwanken« zwischen der »Achtung vor dem allgemeinen Recht und der Gerechtigkeit im Sinne der Angemessenheit, der Billigkeit [équité], sowie vor der stets heterogenen und einzigartigen Besonderheit des Beispiels« (ebd.: 49), sondern um »die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugeordnet werden kann, weil es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt, was dennoch aber – dies ist eine Pflicht – der unmöglichen Entscheidung sich ausliefern und das Recht und die Regel berücksichtigen muß.« (ebd.: 49) Ist eine solche Entscheidung getroffen worden, so Derridas Argumentation, und ist ihr also die ebenso »notwendige« wie »unwahrscheinliche« Erfahrung des Unentscheidbaren vorhergegangen7, ist die Prüfung rechtfertigt« (ebd.: 28). Dies bedeutet nicht, dass die »Gewalt(tat)«, auf dem die (Be-) gründung des Rechts beruht in sich selbst unrechtmäßig wäre. Als diejenige Kraft, die das Recht instituiert ist sie »weder rechtmäßig noch unrechtmäßig«, sondern geht über den »Gegensatz, der zwischen dem Ge- oder Begründetem und dem Unbe-gründeten besteht, hinaus« (ebd.: 29). Aus diesem Grund warnt Derrida jedoch auch davor das Wort »Kraft (Gewalt)« als einen substantialistischen Begriff aufzufassen (vgl. ebd.: 14) und seinen »differentiellen Charakter« (ebd.: 15) zu verkennen. Insofern die Autorität der Setzung des Gesetzes sich nicht auf einen letzten Grund berufen kann und auf dem Versprechen seiner Erhaltung beruht, muss der mit ihr verbundenen Gewalt die Kraft zur Deutung innewohnen. 6 | Gerade, weil die Autorität des Rechts auf einer (performativen) Gewalt beruht, die keine reine Unterscheidung zwischen einer rechtsbegründenden und einer rechtserhaltenden Gewalt erlaubt (vgl. Kapitel 1.2 in Teil III), kann es umgekehrt, wenn seine Ausübung mehr sein soll als bloße Willkür oder Tyrannei, nicht darauf verzichten »den Anspruch einer Ausübung [zu enthalten], die im Namen der Gerechtigkeit geschieht« (ebd.: 46). 7 | »Wer wird jemals (ver)sichern können, daß sich eine Entscheidung als solche ereignet hat? Daß sie nicht auf diesem oder jenem Umweg einen Grund, einen

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des Unentscheidbaren nicht einfach »ein in der Entscheidung, durch die Entscheidung aufgehobenes* Moment« (ebd.: 50), denn in der Entscheidung ist (wiederum) eine Regel gesetzt bzw. wieder eingesetzt worden, so dass sie »gegenwärtig, in der Gegenwart nicht länger voll und ganz gerecht« (ebd.: 50) sein kann. »Wie es scheint, kann man niemals sagen, daß eine Entscheidung jetzt, im gegenwärtigen Augenblick vollkommen gerecht ist: entweder man hat sich noch nicht entschieden und dabei eine Regel befolgt (nichts erlaubt uns in diesem Fall zu sagen, die Entscheidung sei gerecht) – oder man hat schon eine Regel befolgt – empfangen, bestätigt, erhalten, wieder erfunden –, die ihrerseits nicht absolut verbürgt werden kann; wäre diese Regel eine verbürgte Regel, wäre also die Entscheidung eine verbürgte Entscheidung, so hätte sie sich in ein Berechenbares verwandelt, und man könnte wiederum nicht sagen, sie sei gerecht.« (Ebd.: 50)

Dieser Augenblick, in dem eine Entscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten getroffen werden muss, ohne dass sie durch eine Regel vollkommen abgesichert werden könnte, ist per defi nitionem »ein endlicher Augenblick der Dringlichkeit und der Überstürzung« (ebd.: 54). Weil eine solche Entscheidung überhaupt nur dann als frei und verantwortlich gelten kann, wenn sie sich nicht darauf reduzieren lässt »Konsequenz oder Wirkung dieses theoretischen oder historischen Wissens« (ebd.: 54) zu sein und weil überhaupt nur dann die Chance besteht, dass sie auf einer Deutung beruht, die der Besonderheit des anderen gilt, wenn in dem Augenblick der Entscheidung keine Erwartung den Blick auf den anderen als Anderen verstellt, kann es kein Wissen und keine Information geben, die die Modalitäten der Entscheidung legitimieren könnten. Deshalb spricht Derrida davon, dass die Gerechtigkeit, »so wenig sie sich auch vergegenwärtigen und darstellen lässt«, nicht wartet (ebd.: 53). Als der Augenblick, in dem die Regel erneut eingerichtet oder eingesetzt wird, muss es, wenn es einen solchen Augenblick der Entscheidung gibt, eine Entscheidung sein, die ohne eine Ahnung oder Bewusstsein, »in der Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung« (ebd.: 54) getroffen wird. Es ist dieses Moment der Überstürzung, das eine Entscheidung, die die Gerechtigkeit betriff t, überhaupt erst zu einer Entscheidung macht und das sich in keiner getroffenen Entscheidung aufheben lässt, weil die Unberechenbarkeit des Anderen sie erneut unmittelbar der Unentscheidbarkeit ausliefert. Dies lenkt den Blick auf die Dringlichkeit, mit der in einem so stark handlungsorientierten Diskurs, wie dem der feministischen Schulforschung, der von der Forderung nach einer »geschlechtergerechten« Gestaltung der Schule ausgeht, die Frage nach der Singularität des anderen und damit seiner Unberechenbarkeit gestellt werden muss. Als ich zu Beginn Zweck, einem Rechtshandel, einer Berechnung, einer Regel gefolgt ist – ohne diese kaum wahrnehmbare Suspension, die jede freie Entscheidung auszeichnet, im Augenblick, da eine Regel angewendet oder nicht angewendet wird?« (Ebd.: 51)

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dieser Arbeit begründet habe, warum das Beharren auf der Präsenz der Erfahrungen der Zweigeschlechtlichkeit für die pädagogische Geschlechterforschung problematisch ist, habe ich darauf hingewiesen, dass in der Pädagogik die unkritische Wiederholung einer solchen Wissensformation über Geschlecht auch eine sehr stark ethische Dimension enthält. Ich möchte diesen Hinweis an dieser Stelle wieder aufgreifen und versuchen zu skizzieren, was es bedeuten könnte oder vielleicht sogar auch müsste, damit anzufangen in der feministischen Schulforschung, »mit dem Unberechenbaren« zu rechnen: Obwohl in der pädagogischen Geschlechterforschung schon früh vor einem »mechanistischen« Verständnis pädagogischer Arrangements gewarnt wurde (Nyssen/Schön 1992: 866), ist bislang in der Diskussion um die Problematik der Reifizierung und der Frage, wie man in der geschlechtsbewussten Pädagogik mit der Herausforderung umgeht, Schülerinnen und Schüler nicht erneut zu stereotypisieren, sondern zu versuchen ihren je individuellen Ansprüchen gerecht zu werden, dem Verhältnis zwischen den Erwartungen, die aus dem Wissen um die Geschlechterverhältnisse hervorgehen und dem Handeln in einem Einzelfall kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Vor allem in den Empfehlungen für eine geschlechtssensibilisierende Aus- und Fortbildung von LehrerInnen wird immer wieder deutlich, dass das Verhältnis zwischen Wissen und Handeln als eine Einheit betrachtet wird, die kaum weiterer Erläuterungen bedarf (vgl. Hoeltje/ Liebsch/Sommerkorn 1995; Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 1998: 136ff.; Kraul/Horstkemper 1999: 310ff.; Budde 2005: 250). So sind die bisherigen Überlegungen hierzu von der Idee beherrscht, Studierende müssten »systematisch« mit den »Erkenntnissen geschlechtsspezifischer Sozialisations- und Schulforschung bekannt gemacht werden« (Kraul/Horstkemper1999: 310), um die »schulische Realität« analysieren zu können und »geeignete Maßnahmen« (ebd.: 311) zu entwickeln. Die »Entwicklung geeigneter Maßnahmen« scheint hierbei wie selbstverständlich aus der »Analyse der schulischen Realität« zu folgen und diese vorauszusetzen (ebd.: 311; Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 1998:140). Dabei bleibt aber nicht nur der Status, dem in diesem Zusammenhang der »Analyse« im Verhältnis zu der »schulischen Realität« zugewiesen wird, weitgehend unthematisiert, auch das Handeln scheint sich bruchlos aus einer Beobachtung zu ergeben, die sich auf den erworbenen Wissensfundus und dessen Reflexion im Rahmen der eigenen biographischen Erfahrungen stützen kann. Sind solche Kenntnisse erst einmal unter »planmäßige[r] Anleitung« erworben, müssen LehrerInnen, laut der in diesem Diskurs gängigen Vorstellung, einen »professionelle[n] Umgang« mit den eigenen »Befangenheiten und Voreingenommenheiten« entwickeln (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (Soest) 1998: 140: 136), der sie in die Lage versetzen soll, »Differenzen« wahrzunehmen und »eigene Bewertungsmuster« selbstkritisch zu reflektieren (ebd.: 140). In dieser Programmatik, die darauf abhebt, LehrerInnen dafür zu schulen den Unterricht unter einer geschlechtsbewussten Perspektive zu »beobachten« und

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gezielt zu »korrigieren« (Hoeltje/Liebsch/Sommerkorn 1995: 85), wird der Frage, welchen Status man im Handeln gegenüber den SchülerInnen den feministischen Wissensbeständen um den Zusammenhang von Schule und Geschlecht einräumt, keine Beachtung geschenkt, was meiner Ansicht nach sehr stark damit zusammenhängt, dass hier als selbstverständlich gilt, dass man sich in seinem Wissen und Handeln auf eine Realität bezieht, die schlicht präsent ist. Dies hat dazu geführt, dass nur um die Zielsetzungen einer geschlechtsbewussten Pädagogik gestritten wird, das Aufstellen allgemeiner Erziehungsprogramme eines geschlechtsbewussten Umgangs mit Schülerinnen und Schülern aber bislang nicht als besonders problematisch gilt. Betrachtet man die Entwicklung der neuen Koedukationsdebatte, fällt auf, wie schnell die Frage nach diskriminierenden Strukturen im koedukativen Unterricht angebunden wurde an die Frage, wie Mädchen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität und ihren Interessen gefördert werden können. Dieser Trend hat sich bis heute weitgehend unhinterfragt fortgesetzt. Inzwischen ist ein beträchtlicher Teil der bislang vorgeschlagenen Maßnahmen einer geschlechtsbewussten Pädagogik darauf ausgerichtet in einer sehr frontalen und unmittelbaren Weise Einfluss zu nehmen auf die Interessen- und Persönlichkeitsstrukturen von Mädchen und seit kurzem auch die der Jungen. Hierbei besteht zwar ein weitreichender Konsens darüber, nicht die alten Leitbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit durch neue ersetzen zu wollen und stattdessen SchülerInnen zu helfen, sich in ihren Interessen und ihrer Persönlichkeit möglichst frei von einschränkenden geschlechtsstereotypen Vorstellungen zu entwickeln. Wie zu Beginn dieser Arbeit dargestellt, sind aber – entgegen der einhelligen Ablehnung einer »defizitorientierten« Pädagogik – die meisten der bislang entwickelten Maßnahmen von dem Gedanken der »Förderung« bestimmt und sollen Mädchen und Jungen dahingehend unterstützen, vermeintliche Mängel einer geschlechtstereotypisierenden Sozialisation auszugleichen. So liegen die Schwerpunkte einer »geschlechtsbewussten« Pädagogik bisher darauf, das Interesse von Mädchen in dem naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischem Fächerspektrum zu verstärken und sie ganz allgemein in ihrem Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen zu fördern. Jungen hingegen werden vor allem im Bereich des Sozialverhaltens als lernbedürftig betrachtet. Diese Entwicklung ist offensichtlich problematisch, weil sie sich an einer Reihe von dichotomen Bildern von Geschlecht orientiert, die in dem Fall des Erziehungsziels der »Erweiterung sozialer Kompetenzen« sogar als Grundlage der Ausarbeitung eines allgemeinen Erziehungsprogramms herangezogen wurde (vgl. Kapitel 1.4 in Teil I), ohne dass bei dessen Verbreitung noch nach den je spezifischen Verhältnissen in einer Klasse oder einem Jahrgang gefragt wird. Im Rahmen eines solchen pädagogischen Unternehmens, das unabhängig von der besonderen Zusammensetzung einer bestimmten SchülerInnenschaft, darauf zielt »soziale Kompetenzen« von Mädchen und Jungen zu erweitern, indem man sie »vor allem das üben [lässt S.M.], was sie nicht so gut können« (Kaiser und MitarbeiterInnen 2003: 26), erscheint die unkritische Wiederholung des binären

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Denkens der Zweigeschlechtlichkeit unvermeidlich und in dem Vorhaben selbst strukturell angelegt. In einer Diskussion des in der Erziehungswissenschaft vorherrschenden pädagogischen Handlungsverständnisses insistiert Michael Wimmer darauf, dass pädagogisches Handeln nur dann gerecht sein kann, wenn »der Pädagoge des Anderen in seiner Exteriorität überhaupt gewahr wird, wodurch er in eine paradoxe Situation gerät, die er mittels Wissen, Werten, Kriterien nicht beherrschen kann, in der er aber doch handeln muss.« (Wimmer 1996: 261). Hierbei hebt er hervor, dass die Notwendigkeit des Gewahrwerdens des Nicht-Wissen-Könnens des Anderen nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln sei, sondern dazu herausfordere, den »systematischen oder strukturellen Wert« (ebd.: 242, Hervorh. i. Orig.) des Nicht-Wissens in der Vorstellung von Handeln und handlungsrelevantem Wissen zu berücksichtigen. Aus dieser Sicht muss der Anspruch, dem anderen in seiner Andersheit gerecht zu werden – einer Andersheit, die eben gerade nicht in Kategorien wie denen des Geschlechts, der Ethnizität, der Klasse oder Schicht aufgeht – dazu führen, sich der prinzipiellen Überstürzung des eigenen Handelns zu stellen und nicht durch die Behauptung zu verdecken, dass jede Anwendung von Wissen in einem besonderen Fall in seiner Interpretation einen Rest von »Fingerspitzengefühl«, »Intuition« oder »gesundem Menschenverstand des Alltags« erfordere (vgl. ebd.: 240f.). In solchen Handlungskonzeptionen, dies macht Wimmers Diskussion deutlich, wird letztendlich der Willkür unbeabsichtigt eine zentrale Rolle im Handeln dem anderen gegenüber eingeräumt und das Moment der Unentscheidbarkeit, das jedes Handeln strukturieren muss, das einem anderen gilt, wird wiederum verdeckt. Diese Unentscheidbarkeit, hierauf verweist Derridas Vortrag über die Gerechtigkeit, besteht in dem Paradox, dass eine Entscheidung überhaupt nur dann eine Chance hat dem anderen gegenüber angemessen und gerecht zu sein, wenn sie in dem Augenblick, in dem sie getroffen wird, jede »juridisch-, ethisch- oder politisch- kognitive Überlegung« unterbricht und dennoch nicht bar aller Regeln improvisiert, sondern diese erneut einsetzt, ohne die Legitimität dieses Einsatzes vollkommen absichern zu können (Derrida 1991: 49ff.). Diese Unumgänglichkeit des Moments der Überstürzung bildet den neuralgischen Punkt der in der geschlechtsbezogenen Schulforschung als weitgehend selbstverständlich erachteten Vorstellung, man könne über den Weg einer informierten (Selbst-)Beobachtung gezielt interaktive Strukturen im Klassenzimmer verändern und damit zu einer Enthierarchisierung der Geschlechterverhältnisse beitragen. Entgegen der Vorstellung man könne dem Anspruch, dem anderen in seiner Besonderheit gerecht zu werden, begegnen, indem man sich eingesteht, dass man den anderen in seiner Heterogenität immer nur »aspekthaft« erfasst oder indem man den anderen noch differenzierter erfasst, etwa, indem man »auch schichtenspezifische und ethnische Faktoren von Bildung sowie Motivationsstrukturen und individuelle Prägungen« (Hoeltje/Liebsch/Sommerkorn 1995: 85) berücksichtigt und sich damit doch wieder der Illusion der Beherrschbarkeit pädagogischen Handelns hingibt, lenkt Wimmers Essay

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den Blick darauf, dass es für pädagogische Vorstellungen von Handeln notwendig ist dem irreduziblen Nicht-Wissen-Können des Anderen einen systematischen Stellenwert einzuräumen und hierbei zur Kenntnis zu nehmen, dass der Wert des Nicht-Wissens nicht irrelevant ist, sondern »auch den Wert des ›relevanten‹ Wissens verändert, indem es ihm ebenfalls die Unbestimmtheit einschreibt.« (Wimmer 1996: 242) Aus meiner Sicht muss sich die feministische Schulkritik gegenüber einem solchen Denken öffnen und darf sich nicht mit einer nebulösen Vorstellung von der »Unbestimmbarkeit des Menschen« zufrieden geben, die wiederum dazu beiträgt, dass auf der Ebene der Forschung das Andere unterdrückt wird und in der Entwicklung einer geschlechtsbewussten Pädagogik die Andersheit des anderen keine Berücksichtung findet. Diese Untersuchung hat sich ausgehend von der Problematik der Reifizierung damit beschäftigt, wie in der schulischen Geschlechterforschung das Verständnis von Geschlecht als einer gelebten Wirklichkeit einer Vorstellung von Präsenz verhaftet bleibt, in der die Zeitlichkeit und Differenzialität, die die Geschlechtsidentität und ihre normative Regulierung strukturieren, ausgeblendet bleibt. Dies führt dazu, dass das Selbstverständnis, ein Mann oder eine Frau zu sein, und die unterschiedlichen Erfahrungen, die hiermit ohne Zweifel verbunden sein können, letztendlich doch wieder weitgehend als unmittelbare psychische Eindrücke verstanden werden, die eine, wenn auch unbewusste, so doch ungeteilte und gegenwärtige Erlebnisschicht bilden. Eine solche theoretische Perspektive unterstützt das binäre Denken der Zweigeschlechtlichkeit, weil in ihr den notwendigen inneren Überschreitungen des Binären in den unterschiedlichen Konstruktionen der Zweigeschlechtlichkeit nicht nachgegangen werden kann. Im pädagogischen Bereich ist sie besonders problematisch, weil der Versuch, die Eingebundenheit von LehrerInnen und SchülerInnen in das System der Zweigeschlechtlichkeit zu rekonstruieren, schnell Gefahr läuft der Illusion der vollkommenen Transparenz des anderen bzw. dem der Selbsttransparenz zu unterliegen, wenn in ihm untergründig von einer solchen Vorstellung des Unbewussten ausgegangen wird. Dies soll nicht heißen, dass die bisherigen empirischen und theoretischen Wissensbestände, die bislang die pädagogische Geschlechterforschung bestimmt haben, zwangsläufig vollkommen ihren Wert verlieren. Vielmehr geht es darum den möglichen Wert dieses Wissens nicht losgelöst von seiner Einbindung in Strukturen der Nicht-Identität, der Differenz, des Aufschubs oder der Nachträglichkeit zu betrachten und sich nicht schlicht mit einer Relativierung des Wissens zu begnügen. Dieser Einbindung nachzugehen kann von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein und muss jeweils gesondert diskutiert werden. So bedeutet dies beispielsweise für die Rezeption von Nancy Chodorows Theorie von einem eher beziehungsorientierten weiblichen und einem männlichen distanzorientierten Selbstverhältnis, dass man die grundlegende Unentscheidbarkeit berücksichtigen muss, die diesen Figuren innewohnt. Hiermit wird nicht unbedingt bestritten, dass in Chodorows Theorie ein hegemonialer Diskurs der Geschlechterdifferenz rekonstruiert wird. Wenn Andrea Maihofer jedoch recht haben sollte, dass

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dieser Diskurs die »gegenwärtige Subjektkonstituierung« von Männern und Frauen dominiert, was empirisch gesichert zu beweisen unmöglich ist, muss es sich hierbei um eine Reihe von wiederholten Erfahrungen handeln, denen in ihrer Bedeutung für das Subjekt eine innere Ambivalenz und Unabgeschlossenheit innewohnt, die die Annahme von einem unmittelbaren und direkten Erleben der kulturellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit durchkreuzen. In ethnographischen Interpretationen der Zuschreibungen und Darstellungen von Geschlecht im Klassenraum wiederum ist es möglich, dass die Frage der Unentscheidbarkeit nicht durchgängig eine so große Rolle spielt, weil sie sich – wie z.B. bei dem Versuch, Unterschiede in den Antwortinszenierungen von Schülern und Schülerinnen herauszufinden – nicht immer auf ein Bedeutungsfeld beziehen, das durch die Entgegensetzung zweier sehr stark determinierter Pole strukturiert ist, was allerdings auch die Frage aufwirft, ob es dann überhaupt sinnvoll ist auf dieser Ebene zu versuchen solche Unterschiede zu isolieren. Wenn man sich jedoch dafür entscheidet, ist es unerlässlich in solchen Interpretationen eine Sprache zu entwickeln, die berücksichtigt, dass die normativen Vorstellungen, denen die unterschiedlichen Inszenierungen von Geschlecht bzw. Bezugnahmen auf die Zweigeschlechtlichkeit unterliegen, laufend wiederholt werden müssen und deshalb auch nicht für den Bruchteil eines abgrenzbaren Augenblicks als Prozesse betrachtet werden können, die durch die Zeit hindurch mit sich selbst identisch bleiben. Dies ist sicherlich nur eine sehr grobe Skizze dessen, was damit verbunden sein kann, einen identitätskritischen Diskurs in der pädagogischen Geschlechterforschung zu führen und ihre Wissensbestände einzubinden in ein Denken, das dasjenige berücksichtigt, was sich der binären Entgegensetzung des Geschlechts nicht fügt, und es nicht erneut verdrängt, indem der notwendige Bezug zum Anderen/zum anderen Mal in der Identifizierung geleugnet und als das Selbe ausgegeben wird. Aus diesem Grund kann an dieser Stelle allerdings zwangsläufig nicht mehr als eine grobe Skizze gegeben werden, denn letztendlich ist es die Textualität des Forschungsgegenstandes selbst, die es notwendig macht, in jedem neuen Forschungsprojekt erneut eine Sprache zu finden, die ihr Rechnung trägt und sie nicht unterdrückt. Zur Notwendigkeit der Öff nung des Studiums und des Unterrichts gegenüber einem Denken des Anderen Ein solches Denken des Anderen, das ein anderes Verständnis des ›Wirkens‹ der Zweigeschlechtlichkeit als das einer präsenten Erfahrung eröffnet, lässt sowohl eine Überarbeitung der »erfahrungs- und handlungsorientierten« Ausrichtung der bisherigen Konzeptionen einer geschlechtssensibilisierenden Aus- und Fortbildung von LehrerInnen notwendig erscheinen als auch eine Diskussion darüber, welche Rolle der Gruppe der SchülerInnen als derjenigen, der die Forderung nach einer »geschlechtergerechten« Schule gilt, bislang in dem Unternehmen zugewiesen wurde, in der Schule reflexiv mit der Kategorie Geschlecht und den bestehenden Geschlechterverhältnissen umzugehen. Zwar wird in der »Pädagogik der Vielfalt«, die inzwischen zu

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einer theoretischen Perspektive avanciert ist, auf die als Ausgangspunkt schulischer Modell- und Forschungsprojekte immer wieder Bezug genommen wird (vgl. z.B. Kraul/Horstkemper 1999; Thies/Röhner 2000; Kaiser und MitarbeiterInnen 2003), »der Verzicht auf jede Form der Stellvertretung« hinsichtlich der Lebensentwürfe von Mädchen und jungen Frauen eingefordert (Prengel 1995: 133). Hierbei belässt es Annedore Prengel jedoch dabei im Namen der »Erziehung zur Mündigkeit« »die Unbestimmbarkeit dessen, was aus einem ›Zögling‹ werden soll« zu propagieren (ebd.: 130) und einzufordern, »Mädchen in ihrer Entscheidungsfreiheit zu bestärken und ihnen Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln.« (Ebd.: 133) Neben allen Schwierigkeiten, die die Idee von »Entscheidungsfreiheit« in diesem Kontext ohnehin aufwirft, bleibt aber weitgehend im Unklaren, wie diese Vermittlung aussehen soll. Denn soweit eine solche »Mädchenbildung« (ebd.: 133) von Prengel konkretisiert wird, ist nicht nachzuvollziehen, wie sich hieraus für Schülerinnen und Schüler eine intellektuelle Distanz zu ihrer Eingebundenheit in das System der Zweigeschlechtlichkeit ergeben soll8. Dies stellt m.E. ein allgemeines Problem der bisherigen Diskussion um einen reflexiven Umgang mit der Kategorie Geschlecht in der Schule dar. Während zum Beispiel im rheinland-pfälzischen Schulversuch in den Zielvorstellungen für eine curriculare Weiterentwicklung der Fächer Deutsch und Geschichte noch das Anliegen formuliert wurde im Unterricht 8 | Direkt im Anschluss an ihre Aufforderung, Mädchen »Entscheidungsfähigkeit« für ihren eigenen Lebensentwurf zu vermitteln, erläutert Prengel, welche »erhebliche[n] Veränderungen« sich durch die Perspektive der Pädagogik der Vielfalt für »die Mädchenbildung« ergäben entlang des folgenden Beispiels (ebd.: 133ff.). In einem Forschungsprojekt zu den Erfahrungen von Lehrkräften mit Integrationsmodellen entgegnet ein Lehrer auf die Frage, ob er in der Integrationsklasse Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen beobachtet habe, die Lehrkräfte arbeiteten »stark dagegen, wenn Diskriminierungen auftreten« und er macht dies u.a. an einer kleinen Szene fest: »Oder wenn die Mädchen sagen, wir wollen aber rosa Ordner haben. Da sagen wir, nix, die Ordner werden jetzt verteilt nach dem Zufall. Und dann sind sie auch zufrieden damit.« Prengel kommentiert diese sicherlich unglückliche Szene, die eine Vorahnung davon gibt, was teilweise unter dem modischen Schlagwort der »Heterogenität« in deutschen Schulklassen verstanden wird, folgendermaßen: »Es liegt auf der Hand zu spekulieren, daß der Wunsch der Mädchen, sich mit rosa zu umgeben, den Wunsch sich als weiblich sichtbar zu machen beinhaltet. […] Aber das wissen wir nicht genau und gewagte Deutungen laufen immer Gefahr, andere, hier die Mädchen, einmal mehr einem fremdem Sinn zu subsumieren. Eine demokratische Pädagogik, die Differenzen wertschätzt, könnte anders verfahren: Ich hielte ein Projekt zur Farbe rosa für eine ausgezeichnete Möglichkeit, daß die Mädchen ihre eigenen Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken wahrnehmen und zum Ausdruck bringen könnten. Sie könnten in selbstgemalten Bildern mit vielen Rosatönen schwelgen, sie könnten Geschichten und Gedichte dazu schreiben, von anderen erfahren, was ihnen rosa bedeutet. Mit einem solchen Projekt wäre es möglich, das was ist, zu erkennen.« (Ebd.: 134)

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»die Rolle der Frau« »als historisch bedingte veränderbare Rolle erkennbar zu machen« (ebd.: 65), kommt im Verlauf des Schulversuchs sogar der Zweifel auf, »ob und inwieweit es sinnvoll ist, die Geschlechterfrage direkt zum Thema von Unterricht zu machen. Eröff nen sich damit den Schülerinnen und Schülern tatsächlich neue Reflexionsmöglichkeiten – oder wird dies gegen alle guten Absichten sogar verhindert?« (ebd.: 257). Neben einer »wohldosierten« und »kontinuierlichen« Behandlung dieser Thematik im Unterricht (ebd.: 73) verweisen Kraul und Horstkemper letztendlich vor allem auf »die hohe Bedeutung methodischer und kommunikativer Gestaltungskompetenz«, von der der Erfolg des Bestrebens abhinge im Unterricht »die Reflexionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler« zu fördern (ebd.: 257). Demgegenüber wird im niedersächsischen Schulversuch, der in Grundschulen durchgeführt wurde, von vornherein vorausgesetzt, dass »für Kinder im Grundschulalter die kognitiv-reflexiven Fähigkeiten noch nicht sehr weit stabilisiert sind, so dass eine Schwerpunktsetzung der Ziele auf eine ›Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle‹ (Krabel) zu hohe Ansprüche für alle Kinder führt.« (Kaiser und MitarbeiterInnen 2003: 127) Stattdessen wird eine Pädagogik forciert, deren Zielsetzung die Erweiterung der Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten der Kinder ist. Im Berliner Schulversuch, der sich auf die Grund- und Orientierungsstufe bezieht, wird zwar hervorgehoben, dass es für Mädchen und Jungen wichtig sei, sich mit ihrer »Geschlechterrolle« auseinanderzusetzen (Welz/Dussa 1998: 43f.), in der Formulierung seiner »zentralen Lernziele« (»Förderung der Selbstwahrnehmung«, »Förderung von Körperwahrnehmung«, »Stärkung des Selbstwertgefühls« usw.) (ebd.: 44) und auch in der Übernahme der Methoden der außerschulischen Mädchen- und Jungenarbeit in das Feld der Schule unterscheiden sich diese beiden Modellprojekte aber nicht wesentlich voneinander. Hinsichtlich des Anspruchs, Mädchen und Jungen geschlechtsuntypische Erfahrungen zu ermöglichen, verblüff t in den diesbezüglichen Praxisanleitungen nicht nur die Gewissheit, mit der Pädagogen und Pädagoginnen davon ausgehen, welche Erfahrungen sie in Mädchengruppen und welche in Jungengruppen voraussetzen können, sondern auch, dass sie meinen wissen zu können, welche Erfahrungen sich aus den dort angebotenen Übungen und Spielen für die Schülerinnen und Schüler ergeben (vgl. Kapitel 1.4 in Teil I). Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Fixierung auf die innerliche Einheit und Präsenz einer Erfahrung, verwundert es kaum, dass die in diesen Stunden angestrebte ›Erkundung des eigenen Selbst‹ vollkommen unter dem Zeichen der Selbstvergewisserung steht. Jenseits der bestehenden bildungstheoretischen Debatten über den Begriff des Subjekts wird in den diesbezüglichen Modellprojekten, Praxisberichten und Praxisbüchern mit den Begriffen des Selbst und der Identität operiert, als handele es sich hierbei um prädiskursive Gegebenheiten, die lediglich in ihrem je spezifischen Auftreten gesellschaftlich geformt seien. Losgelöst von allen identitätskritischen Überlegungen scheint es nahe liegend, dass man sich in sich selbst hineindenken und sich befragen muss, wenn man

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wissen will, wer man ist. Die Beschäftigung damit, ›was ich bin‹, ›was ich fühle‹, ›was ich kann‹, ›was ich will‹, und immer wieder, was ich ›meine‹, bilden den Fokus dieser schulisch organisierten Verhaltens- und Selbsterfahrungstrainings. Neben dem Anliegen, das Erfahrungsspektrum von Jungen und Mädchen zu erweitern, ist ein großer Teil der Methodik der Jungen- und Mädchenarbeit darauf ausgerichtet, die SchülerInnen danach zu fragen, was sie unter ›Junge-Sein‹ und ›Mädchen-Sein‹, ›Mann-Sein‹ und ›Frau-Sein‹ verstehen, sie damit zu konfrontieren, was andere darunter verstehen, um sie letztendlich danach zu fragen, was sie persönlich von diesen unterschiedlichen Vorstellungen halten. Auf diese Weise weitgehend auf das eigene Erfahrungsspektrum und implizite Wissen über die Praktiken und die Diskurse der Zweigeschlechtlichkeit zurückverwiesen, ist anzunehmen, dass sich die in Jungen- und Mädchenstunden geführten Gespräche zumeist ungestört in der gewohnten Denkbahn vollziehen, derzufolge man ein Junge oder Mädchen ›ist‹, weil man den Penis besitzt oder eben nicht. Über die Bedeutung dieser Tatsache lassen zwar dann vor allem die Pädagogen in Spielen wie »Was kann ein Junge nicht?«, »Was kann ein Mädchen nicht?« eifrig spekulieren und diskutieren (freilich mit der Zielsetzung, dass »die Dekonstruktion der Vorurteile durch die Diskussionen innerhalb der Jungengruppe selber passiert« und mit der Erwartung, dass am Ende »jeweils nur die rein biologischen Unterschiede übrig« (Vugt 1998: 115) bleiben. Der konzeptuelle Rahmen dieser pädagogisch geplanten Diskussionen macht es jedoch unwahrscheinlich, dass das möglicherweise auftretende Unbehagen aufgegriffen und weiterverfolgt wird, das damit verbunden ist, sich selbst und die anderen – über die im Alltagswissen immer schon als unumstößliche Faktizität begriffene sexuelle Markierung des Körpers hinaus – entlang dieser Dichotomie zu verorten oder zu versuchen das Allgemeine dieser Unterscheidung zu bestimmen. Eine solche Zurückverweisung der SchülerInnen auf das eigene Erfahrungs- und Meinungsspektrum findet man aber nicht nur in den diesbezüglichen Unterrichtsprojekten in der Unterstufe, sondern auch in Unterrichtsprojekten der höheren Jahrgangsklassen. In der Literatur wird häufig berichtet, dass vor allem Schülerinnen inzwischen mehrheitlich einen Standpunkt der Gleichheit vertreten (vgl. z.B. Kraul/Horstkemper 1999: 302; Boldt 2004: 49). Nach dem Bericht über den rheinland-pfälzischen Schulversuch zur Veränderung von Unterricht und Schulkultur in die Richtung einer reflexiven Koedukation stoßen die Versuche des Lehrpersonals in den Unterrichtsfächern Deutsch, Geschichte und Sozialkunde die SchülerInnen dazu anzuregen unterschiedliche »Rollenvorstellungen zu reflektieren« (Kraul/Horstkemper 1999: 192) bestenfalls auf wenig Interesse, oftmals jedoch auch auf offene Ablehnung. »Wir finden also«, so kommentieren Kraul und Horstkemper die beobachteten Unterrichtsverläufe in einer Klasse, die sich durch ein entspanntes Klassenklima bei »gleicher Beteiligung« von Jungen und Mädchen auszeichnen soll, »in dieser recht spannungsfreien Atmosphäre eine klare Neigung der Jugendlichen, die Geschlechterthematik als ›erledigt‹ zu betrachten. Spontane Begeisterung erzeugen weder unterrichtliche noch

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außerunterrichtliche Aktivitäten. Als Lerngegenstände werden die Inhalte aber diszipliniert abgearbeitet.« (Ebd.: 205) Ob sich die Jugendlichen hierbei »tatsächlich intensiv mit Geschlechtsrollenvorstellungen auseinandergesetzt haben« (ebd.: 201), erscheint Kraul und Horstkemper fragwürdig. Betrachtet man die als Beispiele präsentierten Unterrichtsstunden in den Fächern Deutsch und Sozialkunde, verwundert die Reaktion der SchülerInnen nicht sonderlich. Denn beide Unterrichtseinheiten bieten kaum einen Anlass, der das gewohnte Denken und Wissen über Geschlecht irritieren könnte. Im Fach Deutsch sollen bei der Lektüre von Dürrenmatts »Die Physiker« in der Auseinandersetzung mit den Familienstrukturen der Familie Möbius und Rose »Familienkonstellationen und damit auch Geschlechterrollen reflektiert« werden, wobei der Lehrer vor der Unterrichtsstunde hervorhebt, dass es ihm darauf ankäme, dass »die Jugendlichen selbst ihre Positionen entwickeln« (ebd.: 196). Wie Kraul und Horstkemper kritisch anmerken, enthalten die Fragen, mit denen er dann versucht eine solche »Entwicklung« in Gang zu bringen, aber selbst eine Reihe von normativen Vorgaben, die im weiteren Unterrichtsverlauf weder von ihm noch von den SchülerInnen bemerkt und expliziert werden (»Wie muss so ein Familienleben aussehen«? »Und jetzt will ich was Bösartiges sagen: Das ist doch ›ne ganz moderne Frau, 1960 noch viel mehr: berufstätig lässt sich scheiden«. Als Hausarbeit formuliert er sogar: »Was macht Frau Rose falsch oder was hätte man anders machen müssen, damit es ein vernünftiges Familienleben ist«.) Obwohl das Unterrichtsvorhaben seines Kollegen im Sozialkundeunterricht schon wesentlich elaborierter ausgearbeitet ist (hier sollen die SchülerInnen »in Gruppenarbeit die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen während des Wiederauf baus nach dem zweiten Weltkrieg analysieren«, damit »die Jugendlichen auf diesem Wege entdecken, welch breites Spektrum an Fähigkeiten und auch Belastbarkeit Frauen in dieser Zeit bewiesen hatten und die damit im Widerspruch stehende fortdauernde berufliche Benachteiligung problematisieren« (ebd.: 201)) wurden auch hier die Fragen nicht mehr als »emotionslos und routiniert« abgearbeitet (ebd.: 201). Die Ursachen dieser ermüdenden Unterrichtsverläufe suchen Kraul und Horstkemper aber nicht etwa in dem Reflexionsniveau, das den beiden Lehrern selbst zur Verfügung steht, um die Geschlechterthematik in ihren Unterrichtsgegenständen zu reflektieren. Stattdessen flüchten sie sich in ihrem Kommentar in das Feld der methodischen Gestaltung von Unterricht (ebd.: 200ff.). So sollen »kommunikative Arten der Wissensvermittlung und –erarbeitung« (ebd.: 200) sowie die »Öff nung der Schule« gegenüber anderen Lernorten helfen die Selbsttätigkeit der SchülerInnen anzuregen (ebd.: 203). Dies wiederholt sich in gewisser Weise in den Empfehlungen, die hinsichtlich der Entwicklung einer geschlechstbewussten LehrerInnenausbildung und Fortbildung gegeben werden. Auch hier wird neben der Vermittlung von »Erkenntnissen geschlechtsspezifischer Sozialisations- und Schulforschung« vor allem der Vermittlung von Erfahrungen mit »biografischen und kommunikativen Methoden« ein hoher Stellenwert eingeräumt (ebd.: 310f.). Insofern sich die geschlechtsbezogene Schulforschung bislang aber

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selbst kaum systematisch gegenüber der »Grundlagendebatte« um die Kategorie Geschlecht geöffnet hat, ist kaum zu erwarten, dass in einer solchen Ausbildung die theoretischen Prämissen, in die solche Erkenntnisse eingebunden sind, eine zentrale Rolle spielen werden. Aus diesem Grund ist es jedoch auch unwahrscheinlich, dass die im Unterricht initiierten Diskurse über die »Rolle der Frau in unserer Gesellschaft« entscheidend über die Schülerinnen und Schülern schon bekannten Wissensstrukturen über das System der Zweigeschlechtlichkeit hinausgehen. Es mag sicherlich sein, dass die Abwehr, auf die die Thematisierung der Zweigeschlechtlichkeit im Unterricht stößt, teilweise darauf zurückzuführen ist, dass nicht wenige Jungen nach wie vor traditionellen Rollenvorstellungen anhängen (Shell 2006: 37) und sich durch solche Unterrichtseinheiten in ihren Lebensentwürfen und in ihrer vermeintlichen Vorrangstellung bedroht sehen. Ebenso könnte man versucht sein die Abwehr der Schülerinnen sich mit geschlechtsspezifischen Ungleichheitsstrukturen auseinanderzusetzen als eine Leugnung zu deuten, die sie davor schützt sich bereits erlittenen und zu erwartenden Herabsetzungen oder Zuschreibungen zu stellen. Wo diese Unterrichtseinheiten aber nicht Abwehr, sondern schlicht Langeweile hervorrufen, ist zu vermuten, dass die häufig sehr unbestimmte Zielsetzung der »Reflexion von Geschlechterrollen« ohnehin auf ein egalitäres Verständnis des Geschlechterverhältnisses triff t, in dem es inzwischen selbstverständlich erscheint, dass der wesentliche Unterschied zwischen Männern und Frauen »lediglich« ein biologischer sei. Vermeintlich darüber hinausgehende Unterschiede werden nicht nur im feministischen Diskurs inzwischen sehr schnell auf Erziehung und Sozialisation zurückgeführt. Damit will ich nicht sagen, dass u.U. die bislang zu dieser Thematik entwickelten Unterrichtsmaterialien SchülerInnen überhaupt keine ungewohnten und wichtigen Perspektiven auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eröffnen können (wie z.B. die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die vor allem von Jungen kaum antizipiert wird). Der stabilsten und dichtesten Schicht des modernen Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit und der mit ihm verbundenen Arbeitsteilung und Hierarchisierung kann im Rahmen dieser Unterrichtsentwürfe, die die SchülerInnen zu einem großen Teil auf ihre eigenen Erfahrungen und Meinungen zurückverweisen, allerdings nicht nachgegangen werden: der Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit und der Verlagerung eines Teil des Geschlechts in einen vorgeblich vordiskursiven Raum. Wie man im akademischen Diskurs sehen kann bricht genau an dieser Stelle aber die vermeintlich saubere Unterscheidung zwischen sex und gender, die inzwischen auch in ›Alltagsdiskursen‹ zumindest von denjenigen, die einen radikalen Standpunkt der Gleichheit vertreten, in Anspruch genommen wird, immer wieder zusammen. »Ich meine nicht, daß die Ungleichheit und die Geschlechterasymmetrie begründbar ist mit der biologischen Differenz oder durch die biologische Differenz«, gibt beispielsweise Bettina Hoeltje in einer Diskussion über die Problematik der Reifizierung in der pädagogischen Geschlechterforschung und Pädagogik zu bedenken, »aber andererseits macht der Ansatz von der sozialen Konstruktion von Geschlecht

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für mich an dem Punkt ein Problem, wo ich nicht davon ausgehen kann, daß diese Arbeitsteilung hinsichtlich der Fortpflanzung auf der morphologischen und biologischen Ebene der Körper einfach dekonstruierbar ist.« (Pasero/Faulstich-Wieland u.a. 1998: 258) Genau in dieser Argumentationsfigur erhärten sich jedoch die gesellschaftlichen Vorstellungen von »Mutterschaft«, die wie Hannelore Faulstich-Wieland hierauf zutreffend entgegnet, nach wie vor »das Einfallstor für die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung« darstellen (ebd.: 259). In der geschlechtsbewussten Pädagogik spielt der Zusammenhang von Körperlichkeit und Geschlecht bislang in zweierlei Hinsicht eine Rolle: 1. in der Mädchen- und Jungenarbeit als eine Dimension von ›Selbsterkundung‹, wobei der Rolle des Körpers für die Bildung einer Vorstellung von einem Selbst nur selten explizit nachgegangen wird (z.B. bei der Thematisierung von Schönheitsidealen in Mädchengruppen); 2. in Unterrichtseinheiten zu der Thematik »Geschlechtsrollen/geschlechtsspezifische Arbeitsteilung« als der (körperliche) Grund oder Anlass, an dem die Geschlechtsspezifi k der gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen festgemacht wird. Und obwohl die Praktiken und Diskurse der modernen Zweigeschlechtlichkeit permanent um diesen ›Grund‹ oder ›Anlass‹ kreisen, erscheint er in dem Diskurs der geschlechtsbezogenen Pädagogik meist als dasjenige, über das man nicht weiter reden muss (wenn etwa Vugt erwartet, dass am Ende der Schülerdiskussion über die unterschiedlichen Fähigkeiten von Mädchen und Jungen »nur« biologische Unterschiede bestehen bleiben). Mit dieser Ausklammerung folgt der in der Schule geführte Diskurs über Geschlecht, den PädagogInnen hier versuchen zu initiieren, dem dominierenden Alltagsverständnis von Geschlecht, demzufolge die ›Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit‹ offensichtlich und unmittelbar einsichtig ist. Dass man für gewöhnlich über die Bedeutung der ›Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit‹ streiten kann, nicht aber über ihren ›natürlichen Ursprung‹, macht zum Teil gewiss die Stärke und Dichte des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit aus. Problematischerweise bleibt in den vermeintlich ›kind- und jugendgerechten‹ Zuschnitten der bisherigen Versuche in der Schule einen Diskurs über die geschlechtliche Arbeitsteilung und den damit verbundenen Vorstellungen über Geschlecht zu eröffnen weitgehend die Frage danach ausgeschlossen, durch welche historischen Diskurse hindurch sich das heutige System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung herausbilden konnte und in welche Wissens- und Wahrheitsordnungen unsere Vorstellungen von Geschlecht als einer körperlichen und psychischen Gegebenheit eingebunden sind9. Hierbei kann es nicht darum gehen ein Unterrichtsprogramm zu entwerfen, das darauf abzielt über die Geschichte der Diskurse und Prakti9 | So beschäftigen sich auch die Fachdidaktiken immer noch hauptsächlich mit der Frage eines mädchen- und jungengerechten Zugangs zu den spezifischen Unterrichtsfächern. Soweit in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern das System der Zweigeschlechtlichkeit selbst thematisiert wird, sind die entsprechenden Unterrichtskonzeptionen nach wie vor häufi g von der kompensatorischen Idee be-

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ken der Zweigeschlechtlichkeit zu informieren. Ein solches Vorhaben wäre schon allein deshalb unangemessen, weil es keine Geschichte der Zweigeschlechtlichkeit gibt, die nicht schon bereits in einen narrativen Rahmen eingebunden ist, der eine Auslegung erfordert. Begreift man die Diskurse und Praktiken, die uns bilden, als zeitliche Prozesse, die der Wiederholung unterliegen und in ihrer Bedeutung nur differenziell bestimmt werden können, so darf der Versuch ihnen nachzugehen nicht als ein Aufdecken von Kräften oder Ursachen verstanden werden, die in sich selbst vollkommen bestimmt und gegenwärtig sind oder waren. Vielmehr erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit den theoretischen Rahmen, in die unser Selbstverständnis, ein Mann oder eine Frau zu sein, eingebunden ist, deren Offenheit und die notwendige Offenheit dieses Unternehmens in Betracht zu ziehen und sich einem Denken gegenüber zu öffnen, das das Andere nicht unter das Selbe subsumiert. Der häufigste Einwand gegenüber der Frage, welche Strukturen in der Schule (und selbstverständlich notwendigerweise auch in der universitären LehrerInnenausbildung) es derzeit überhaupt erlauben oder zukünftig möglich machen könnten, den theoretischen Konzeptionen, in die das ›Alltagswissen‹ über die Zweigeschlechtlichkeit eingebunden ist, in ihrer vielschichtigen Geschichtlichkeit und Unabgeschlossenheit nachzugehen, wird wahrscheinlich lauten, dass dies für den schulischen Unterricht ein viel zu hoher Anspruch sei, der den Wissensstand und das kognitive Vermögen der SchülerInnen – vor allem in der Unter- und Mittelstufe – völlig verfehlt. Damit wird jedoch nicht nur übersehen, wie theoretisch und ironischerweise tatsächlich ohne Bezug zur ›Lebenswirklichkeit‹ der SchülerInnen – die in der geschlechtsbewussten Pädagogik vorherrschende Idee ist, SchülerInnen in einer unmittelbaren Weise Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln, die nicht geschlechtsstereotypen Vorstellungen von Geschlecht entsprechen. Sondern hierbei wird auch ignoriert, dass die in der geschlechtsbewussten Pädagogik bislang favorisierte erfahrungs- und handlungsorientierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis SchülerInnen in eine Diskussion verwickelt, die selbstverständlich ohnehin eine stark abstrakte Dimension enthält 10, ohne dass ihnen eine Sprache und ein theoretisches Wissen zur Verfügung steht, die es ihnen erherrscht, sie müssten die gesellschaftlich-historischen Leistungen von Frauen sichtbar machen (vgl. Hoppe/Kampshoff/Nyssen 2001). 10 | Dies wird in dem Bemühen um einen erfahrungs- und handlungsorientierten Ansatz meist verkannt (vgl. Kapitel 1.4 in Teil I). So erfordert beispielsweise die Aufgabe, sich entlang einer auf den Boden gezeichneten »soziometrischen« Linie zu bestimmten Aussagen, wie »Jungen und Mädchen verhalten sich gleich« oder »Das können wir Jungen besser als die Mädchen« zu positionieren und deren Einnahme zu diskutieren, nicht nur viel Phantasie, sondern auch ein recht hohes Abstraktionsvermögen und bringt eben nicht, wie von den KonstrukteurInnen solcher Übungen angenommen wird, konkrete Erfahrungen und Vorstellungen der SchülerInnen zum Ausdruck.

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möglichen, das Abstrakte in dem vermeintlich ›offenbar Ersichtlichen‹ zur Kenntnis zu nehmen und den theoretischen Vorurteilen zu folgen, in denen das eigene Verständnis von Männern und Frauen eingebunden ist. Wenn man SchülerInnen dazu befähigen will, sich kritisch mit den Normen der Zweigeschlechtlichkeit und der Zweigeschlechtlichkeit als einer Norm auseinanderzusetzen, muss eine Thematisierung des gesellschaftlichen Systems der Zweigeschlechtlichkeit – sei es im ›regulären‹ Fachunterricht, in fachübergreifenden Projekten oder in so genannten Mädchen- und Jungenstunden – vordringlich auf die Denk- und Wissensformationen ausgerichtet sein, die die Diskurse und Praktiken der Zweigeschlechtlichkeit strukturieren und die sie in dem Wahrheitswert, den sie genießen, stabilisieren. Kreist eine solche Auseinandersetzung hingegen um das bereits bestehende Erfahrungs-, Meinungs- und Wissensspektrum der SchülerInnen, scheint die Langeweile und das Desinteresse, von dem Kraul und Horstkemper berichten, vorprogrammiert und es ist nicht abzusehen von welchem Himmel die angestrebte Reflexionsfähigkeit der SchülerInnen eigentlich fallen soll. Gerade weil eine solche Ausrichtung auf die Denk- und Wissensstrukturen, die unserem Verständnis der Zweigeschlechtlichkeit zugrunde liegen, Unterscheidungen wie die von Natur und Kultur, Körper und Geist, Subjekt und Objekt, dem Innen und dem Außen zu denken gibt – um nur einige der wichtigsten anzusprechen –, böte der Versuch, einen solchen Diskurs in der Schule zu führen, LehrerInnen und SchülerInnen reichlich Material, um vielleicht einen kritischen Abstand zu den eigenen Befangenheiten gewinnen zu können. »Vielleicht«, weil die Idee eines solchen Abstandes selbstverständlich selbst problematisch ist und nicht als ein Standpunkt missverstanden werden sollte, der es erlaubt die Denk- und Wissensstrukturen der Diskurse und Praktiken von außen zu betrachten. Vielmehr kann ein solches Unternehmen nur als ein Versuch betrachtet werden, den Spuren dessen nachzugehen, was uns bildet. Weil sich ein solcher Diskurs notwendigerweise an den Rändern dessen bewegt, was wir denken können, muss in ihm das Wissen selbst thematisch werden und damit auch diejenigen Strukturen, die in unserem Alltagswissen über Geschlecht als selbstverständlich und offenbar gelten. Dies verlangt sowohl nach einer historisch angelegten Betrachtung der bestehenden Geschlechterverhältnisse und des Systems der Zweigeschlechtlichkeit als auch nach der Fähigkeit diese in ihrer Komplexität und Unabgeschlossenheit zu interpretieren. LehrerInnen, Studierende und Schülerinnen darin zu unterstützen eine solche Fähigkeit zu entwickeln stellt eine Herausforderung dar, die nicht nur die Frage nach den strukturellen Möglichkeiten eines solchen Diskurses im schulischen und universitären Bildungssystem aufwirft, sondern auch das Verhältnis zwischen Lehren und Lernen, LehrerInnen und SchülerInnen sowie der gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung von Unterricht in den Blick rückt und die feministische Schulforschung stärker in bildungstheoretische Fragestellungen verwickelt 11. 11 | Erste mögliche Anschlüsse ließen sich hier vielleicht in den Debatten um

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Betrachtet man den Anspruch, dem anderen in seiner Einzigartigkeit gerecht zu werden, als die zentrale Forderung, unter der der Diskurs der feministischen Schulforschung steht, drängen sich sowohl hinsichtlich der bisherigen Forschungspraktiken als auch hinsichtlich der bisherigen Diskussionen um eine geschlechtsbewusste Pädagogik eine Reihe von Problem- und Fragestellungen auf, die über die bisherigen Diskussionen um eine ungewollte Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit hinausgehen: Zum einen erfordert dies eine Überarbeitung der Konzeption dessen, was in der pädagogischen Geschlechterforschung überhaupt unter einer ›geschlechtsbezogenen Erfahrung‹ verstanden werden kann, und damit eine Diskussion darüber, wie sich in diesem diskursiven Zusammenhang das Verständnis und der Stellenwert der empirischen Forschung verschiebt, wenn man damit anfängt der grundlegenden inneren Heterogenität von ›geschlechtsbezogenen Erfahrungen‹ Rechnung zu tragen und nicht mehr versucht sie in ihrer vermeintlich unbewussten Präsenz offen zu legen. Darüber hinaus wirft eine solche Perspektive, die darauf dringt im Handeln dem anderen gegenüber »mit dem Unberechenbaren zu rechnen«, aber auch die Frage auf, ob die bisherige direkte und frontale Ausrichtung pädagogischer Maßnahmen auf die Interessen, Fähigkeiten und Persönlichkeitsstrukturen von Kindern und Jugendlichen mit diesem Anspruch überhaupt zu vereinbaren ist. Oder ob die vordringliche Aufgabe des feministischen Diskurses in der Erziehungswissenschaft nicht eher darin bestehen müsste die Universität und die Schule als Orte zu gewinnen, die die Zeit und die Möglichkeiten schaffen, dem hierarchisierenden Wirken des binären Denkens der Zweigeschlechtlichkeit nachzugehen, ohne erneut das Unbehagen zu unterdrücken, das ihm zwangsläufig inhärent ist.

die Rolle der Philosophie in der Schule finden (vgl. z.B. Nancy 1982; Ruhloff 1996; Masschelein 1999).

Literatur

Amman, Klaus/Hirschauer, Stefan (1997): »Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm«. In: Hirschauer, Stefan/Amman, Klaus (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 7-52. Angerer, Marie-Luise (1995): »The Body of Gender: Körper. Geschlechter. Identitäten«. In: Dies. (Hg.): The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten. Wien: Passagen Verlag, S. 17-34. Apel, Karl Otto (1973): »Wissenschaft als Emanzipation? Eine kritische Würdigung der Wissenschaftskonzeption der ›Kritischen Theorie‹«. In: Ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 128-154. Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) Stuttgart: Reclam. Baumert, Jürgen (1992): »Koedukation oder Geschlechtertrennung«. In: Zeitschrift für Pädagogik 38, S. 83-109. Barz, Monika (1984): »Körperliche Gewalt gegen Mädchen«. In: Brehmer, Ilse/Enders-Dragässer, Uta (Hg.): Die Schule lebt – Frauen bewegen die Schule. Dokumentation der 1. Fachtagung in Gießen 1982 und der 2. Fachtagung in Bielefeld 1983 Frauen und Schule. München: Deutsches Jugendinstitut, S. 47-76. Behm, Britta L./Heinrichs, Gesa/Tiedemann, Holger (Hg.) (1999): Das Geschlecht der Bildung – die Bildung der Geschlechter. Opladen: Leske + Budrich. Benjamin, Jessica (Hg.) (1994): Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Bennington, Geoffrey/Derrida, Jacques (1994): Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Biermann, Christine/Boldt, Uli (1999): »Die Jungen packen eben eher bei Männern aus«. In: Pädagogik, 51.Jg., Heft 5, S. 16-21. Bilden, Helga (1991): »Geschlechtsspezifische Sozialisation«. In: Hurrelmann, Klaus/Ulich, Dieter (Hg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. München/Weinheim: Beltz, S. 281-303. Dies. (2001): »Die Grenzen von Geschlecht überschreiten«. In: Fritzsche, Bettina/Hartmann, Jutta u.a. (Hg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erzie-

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UND

G E SCHLECHT

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Danksagung

Die Veröffentlichung bietet endlich eine Gelegenheit, denjenigen Dank auszusprechen, die dieses Projekt in unterschiedlicher Weise unterstützt und geprägt haben. Zunächst möchte ich mich sehr herzlich für das Engagement bedanken, das Prof. Dr. Hans-Christoph Koller dieser Arbeit entgegengebracht hat; vor allem für seine Offenheit, die Umwege mitzutragen und die zahlreichen Textentwürfe aufmerksam zu lesen und zu kommentieren. Außerdem bedanke ich mich auch für die ermutigenden und anregenden Kommentare von Prof. Dr. Karl-Josef Pazzini und Prof. Dr. Michael Wimmer, die in der Schlussphase Ausschnitte des Entwurfs gelesen haben. Dies gilt auch für die Bereitschaft von Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland, sich kritisch mit diesem Text auseinanderzusetzen und mit mir zu diskutieren. Vielen Dank an Adrienne Gräfe, Tim Schmidt und Dr. Werner Friedrichs für die gemeinsame Lektüre und Diskussion der Texte von Jacques Lacan und Jacques Derrida, die vor allem in der Anfangsphase sehr wichtig waren. Herzlich bedanken will ich mich für das Verständnis und die freundschaftliche Unterstützung von meinen Eltern und Geschwistern sowie von Alex und Corinna Hewert, Silke Borchardt, Michaela Wiedener, Clemens Cordes, Andrea Gibbs-Brocklebank, Kirsten Faust, Heiko Feldmann und Christoph Lichey. Letzteren danke ich auch für Ihre Unterstützung bei der redaktionellen Überarbeitung. Besonders bedanken möchte ich mich jedoch bei Andrew Rossiter, ohne den diese Arbeit vielleicht niemals eingereicht worden wäre.

Theorie Bilden Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft März 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0

Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8

Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II Februar 2009, ca. 202 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ1030.p 196304174464

Theorie Bilden Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4

Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven Februar 2009, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1

Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-469-0

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Theorie Bilden Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-324-2

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Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung 2006, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-455-3

Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze Februar 2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9

Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane

Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung 2007, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-656-4

Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband 2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-489-8

Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium Mai 2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1

Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-688-5

2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-286-3

Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-316-7

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