Wissen 2.0 für die Bildung: Wie Wikipedia und Co. unsere Kultur verändert 9783515098816, 351509881X

Das Thema 'Digitale Medien und Bildung' spaltet die Gesellschaft in Optimisten und Pessimisten. Diese befürcht

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German Pages 121 [124] Year 2011

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Wir sind Kultur – übergeistige Ernährung in Zeiten von Wikipedia & Co.
Chaos im Netz –brauchen wir einen neuen alten Bildungskanon?
Nutzen und Effizienz – die Ökonomisierung der Bildung und die Hochschulreform
Lasst das Powerpointen einfach sein! Eine sachliche Polemik
Eine dritte Renaissance –die Schule für die Zukunft
Anleitung zum Selberlernen –Neue Medien und neue schulische Arbeits- und Bildungsprozesse
Demokratisch, sozial und solidarisch – warum das Internet neue Formen des Lernens ermöglicht
Biografische Angaben zu den Autoren
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Wissen 2.0 für die Bildung: Wie Wikipedia und Co. unsere Kultur verändert
 9783515098816, 351509881X

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Ralf Caspary (Hg.) Wissen 2.0 für die Bildung

Ralf Caspary (Hg.)

Wissen 2.0 für die Bildung Wie Wikipedia und Co. unsere Kultur verändern

Franz Steiner Verlag 2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09881-6 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany

©

Inhaltsverzeichnis Ralf Caspary 7

Vorwort Gert Heidenreich

9

Wir sind Kultur – über geistige Ernährung in Zeiten von Wikipedia & Co. Von Peter J. Brenner

25

Chaos im Netz – brauchen wir einen neuen alten Bildungskanon? Jochen Hörisch

41

Nutzen und Effizienz – die Ökonomisierung der Bildung und die Hochschulreform Burkhard Spinnen

55

Lasst das Powerpointen einfach sein! Eine sachliche Polemik

Inhaltsverzeichnis 5

Reinhard Kahl 71

Eine dritte Renaissance – die Schule für die Zukunft Ulrich Herrmann

85

Anleitung zum Selberlernen – Neue Medien und neue schulische Arbeits- und Bildungsprozesse Michael Maier

103

Demokratisch, sozial und solidarisch – warum das Internet neue Formen des Lernens ermöglicht

119

Biografische Angaben zu den Autoren

6 Inhaltsverzeichnis

Ralf Caspary

Vorwort Die Optimisten und Pessimisten Vor ungefähr 15 Jahren moderierte ich im Hörfunk eine Sendung über das Thema »Laptops an den Schulen«. Im Studio saßen ein Optimist und ein Pessimist mit jeweils guten Argumenten und festen Überzeugungen. Dieser behauptete, der Einsatz digitaler Medien im Unterricht mache die Schüler letztlich dümmer, weil sich die Unterrichtskultur in negativer Weise verändere und die »Maschine« das Denken und Lehren übernähme. Jener widersprach vehement und hielt ein euphorisches Plädoyer für einen neuen kreativen Unterricht und neue kreative selbstbestimmte Schüler, die dank Laptop besser lernen würden. Heute scheint diese Schwarz-Weiß-Malerei aktueller denn je zu sein. Den öffentlichen Diskurs bestimmen nämlich nach wie vor die Optimisten und Pessimisten aus meinem Beispiel, deren Positionen und Thesen sich kaum geändert haben. Die Gesellschaft scheint – wenn es um die digitalen Medien und die Bildung geht – gespalten zu sein. Einerseits proklamiert man lakonisch den Untergang des Abendlandes, die Zerstörung traVorwort 7

ditioneller Bildungsbegriffe und Bildungskonzepte. Man spricht von einer Schülergeneration, die zwar twittern und in Facebook chatten kann, die aber nicht mehr weiß, was ein Hauptsatz ist und warum man Delfin mit f schreiben kann. Man verweist auf eine oberflächliche Wikipedia-Kultur, in der – siehe Guttenberg – jeder von jedem abschreibt. Im Grunde genommen sind wir nach dieser Lesart alle verspätete Surrealisten geworden, für die ein Text aus vielen anderen Fremdtexten besteht, die man je nach Ziel und Intention permanent neu collagiert. Andererseits proklamiert man vollmundig eine Revolution, die man mit dem Stichwort »Wissensgesellschaft« verbindet. Man träumt von einer neuen gesellschaftlichen Solidarität, die ermöglicht wird vor allem durch die sozialen Netzwerke wie Schüler VZ, Facebook oder XING. Man träumt von einer Gesellschaft, in der jeder via Wikipedia sein Wissen weitergeben und als kompetenter Wissensarbeiter auftreten kann. Und wir alle werden angeblich durch diese neue Vernetzung klüger, emphatischer, sozialer. Schöne neue Welt der bites und bytes. Und wer hat nun Recht? In dem vorliegenden Buch, das Hörfunkessays aus der Sendung SWR 2 AULA enthält, versuchen die Autoren das SchwarzWeiß sachlich auszuloten, das Pro und Contra noch einmal scharf zu konturieren und den Mittelweg aufzuzeigen, der zwischen Angst und überzogener Euphorie liegt. Ich hoffe, dass das Buch in Zeiten, in denen Lehrer wie Eltern verunsichert sind und in denen nicht zufällig Bücher auf die Bestsellerlisten gelangen, die mit einfachen Thesen mehr Mut zur harten pädagogischen Disziplin fordern oder auf den schädigenden Einfluss des Computerkonsums auf die neuronale Architektur der Gehirne unserer Kinder aufmerksam machen, die Diskussion versachlicht und damit entdramatisiert. Ich danke den Autoren für ihre engagierten Texte und dem Steiner Verlag für die unkomplizierte Kooperation. 8 Ralf Caspary

Gert Heidenreich

Wir sind Kultur – über geistige Ernährung in Zeiten von Wikipedia & Co. Kultur als dialogischer Prozess Das Eigentümliche an der Kultur ist, dass jeder gern darüber spricht und glaubt, dass er sie hat, zugleich aber meint, für ihr Bestehen nicht unbedingt den letzten Einsatz riskieren zu müssen. So kommt es zur Dürrenmatt’schen Sottise, Kultur sei die »Petersilie auf dem Karpfen«. Dürrenmatt beschrieb damit aber nicht die Kultur, sondern ihr öffentliches Verständnis. Genau gesagt: Ihre Verwaltung in der Öffentlichkeit. Da ist sie ein Schmuck, der auch teuer sein darf, wenn es uns gut geht. Mit ihrer Bedeutung hat das nichts zu tun. Die Bedeutung der Kulturfähigkeit des Menschen wird seitens der Anthropologie nicht mehr in einem luxuriösen Überschuss der Evolution gesehen, sondern als ein entscheidender Faktor im evolutionären Prozess, ja sogar als Reproduktionsvorteil. So betrachtet sind wir Kultur, bestehen wir aus Kultur und überleben wir durch Kultur. Es gibt zu ihr keine Alternative.

Wir sind Kultur 9

Üblicherweise grenzen wir den Begriff auf das ein, was wir im engeren Sinn darunter verstehen: Kunst und Kulturtechniken, die sich mit dem Begriff der Bildung verbinden. Das letzte Jahrhundert hat zu Einwänden gegen den Wert der Kultur geführt: Wie konnte ein Kulturvolk wie das Deutsche die exemplarische Barbarei des 20. Jahrhunderts errichten? Da hat doch die Kultur versagt und ihre Bedeutungslosigkeit erwiesen. Ein verbreiteter Irrtum, in dem eine Erkenntnis verpackt ist. Dass Hitler über Hölderlin gesiegt hat, lag nicht an Hölderlin. Es lag an denen, die Hölderlin preisgegeben haben, um Hitler akzeptabel zu machen. Ein Fall von kultureller Selbst-Korrumpierung im Volksmaßstab, die wiederum die Voraussetzung war für die kollektive Preisgabe ethischer Normen. Kultur und Bildung sichern dem Einzelnen nicht a priori die richtige sittliche und politische Entscheidung. Im Gegenteil: Sie fordern zu kritischer Bewertung heraus. Kultur verlangt Entscheidung und ersetzt sie nicht. Dass Barbarei sich durch Kultur nicht aufhalten lässt, ja dass sie oft sogar miteinander auskommen, ist vielfach geschichtlich belegt. Denn der Gegensatz zur Barbarei ist nicht die Kultur, sondern die Zivilisation. Darum kommt alles darauf an, dass wir zivile Zustände in den Köpfen und in der Gesellschaft erhalten. Was mit Kunst in der Barbarei geschieht, ist hinlänglich bekannt. Sie wird in Dienst genommen und erstarrt. Sie büßt somit die Essenz ein, von der sie lebt: ihren prozessualen, ihren dialogischen, mithin unfesten Charakter. Sehr verkürzt kann man sagen: wenn Kultur generell die Suche nach Möglichkeiten ist, mit der Welt umzugehen, dann ist die Kunst die Suche nach eigenem Ausdruck für die Deutung der Welt. Sobald individuelle Ergebnisse solcher Suche sich so weit durchsetzen, dass sie zu allgemeiner Anerkennung gelangen, also Kultur werden im Sinne von gemeinschaftlicher Vereinbarung, beginnt das individuelle Suchen von neuem, so dass lebendige Kultur ein per10 Gert Heidenreich

manenter Prozess ist, der sich speist aus dem Überholen einer Lebenstechnik und Weltdeutung durch eine jeweils bessere oder zumindest andere und aus der Behauptung des eigenen Ausdrucks gegen den allgemeinen, den man auch Tradition nennt. Anders gesagt: Im dialogischen Prozess der Kultur, und nur als solcher ist sie sinnvoll zu denken, kommt es auf das Individuum und auf die kollektive Adaption in gleichem Maße an. Sowohl die individuelle kulturelle Arbeit, als auch die kollektive Aneignung und Verwandlung setzen Menschen voraus, die fähig sind, in diesem Prozess kritisch zu handeln. Sind sie dies nicht, jubeln sie Scharlatanen zu und halten geschickt inszenierte Aufmärsche für einen Ausdruck von Kultur, wie ein russisches Sprichwort sagt: »Wenn die Fahne flattert, steckt der Verstand in der Trompete.« Kultur macht das Leben nicht bequem, sondern unruhig. Schönheit ist ebenso beunruhigend wie das Grauen, sonst hätte Rilke nicht vor dem Delphischen Apoll erschrocken festgestellt: »Du musst dein Leben ändern!« Kultur verweist uns auf den prozessualen Charakter des Lebens und braucht zugleich Individuen, die dazu fähig sind, in ihr keinen ewigen Wert, sondern den Dialog zu entdecken, den wir beispielsweise in der Kunst durch Jahrhunderte, sogar Jahrtausende führen können: Wenn wir uns darauf einlassen, finden wir, dass ein Kunstwerk, ganz gleich wie fern uns seine Entstehung liegt, in einen gegenwärtigen Dialog mit uns tritt. Wer sich auf solche Dialoge einlassen will, bedarf dazu einiger kultureller Voraussetzungen. Deshalb ist Kultur mit Bildung auf Gedeih und Verderb verschwistert. Zumindest seit der Aufklärung, deren Segen ihren Schrecken doch überwiegt, ist unsere Kultur ohne Bildung nicht mehr denkbar.

Wir sind Kultur 11

Kultur ohne Bildung- eine Gefahr Wie sieht es heute damit aus? Wir haben, grob gesagt, starke Bildungsinstitute ohne Kultur. Das liegt weder an den Lehrenden noch an den Lernenden. Es liegt an dem grotesk falschen Verständnis von Bildung, das sich in der Wissensgesellschaft durchgesetzt hat. Bildung als Konditionierung auf die Praxisbedürfnisse des Staates und seiner Wirtschaft führt zu einer, wenngleich nicht schädlichen, Anhäufung von Wissen und Techniken zum Wissenserwerb. Niemand leugnet, dass angelernter Inhalt nicht nur sich selbst repräsentiert, sondern auch den Vorgang des Lernens als einer geistigen Erfahrung. Unter der Perspektive der Kultur allerdings ist das keine Bildung des Menschen, denn seine hinreichende Ausstattung mit Instrumenten und Informationen setzt ihn noch nicht instand, entscheidungsfähig zu sein, möglichst autonom sein Leben zu gestalten und die Voraussetzungen allgemeiner Menschenwürde anzuerkennen. Bildung ist die Verwandlung geistiger Erfahrung in lebendiges Bewusstsein – Bewusstsein im Sinne von Vorbereitung auf das Leben und von Bestimmung des eigenen Selbst im komplexen Gefüge aller anderen, also bildlich gesprochen: den eigenen Ort in der Welt zu finden und zu verstehen. Genau das ist offenbar kein Ziel der Pädagogik mehr – die Inhalte, die dafür nötig wären, werden zurückgedrängt zugunsten anderer Curricula, deren unmittelbar nützliche Anwendbarkeit im Berufsleben hervorgehoben wird. Der trainierte Mensch, der dabei entsteht, hat als Idealbild der sogenannten Informationsgesellschaft den gebildeten Menschen abgelöst. Eine Entwicklung, die ich nicht nur für falsch halte. Sie stellt eine Beschädigung der jungen Menschen dar. Warum? Ich will es am Beispiel der Literatur erläutern. Häufig stoße ich in Schulen, bei Lesungen vor Deutschleistungskursen – schon dieser Trainer-Titel erzeugt einen Abwehrreflex – auf Abi12 Gert Heidenreich

turjahrgänge, die erstaunlich wenig für ihr Fach gelesen haben, aber über ein ebenso verblüffendes wie überflüssiges germanistisches Fachwissen verfügen. Manche können eine Tautologie von einem Pleonasmus und diesen von einem Hendiadyoin unterscheiden, kennen aber keine Ballade, haben so gut wie nie ein Theaterstück ganz gelesen, oft nur einen Roman, mehr oder weniger vollständig; doch man hat ihnen die strukturellen Unterschiede der literarischen Gattungen und die Schubladen der Literaturepochen beigebracht. Manche wurden mit falschen Texten für die Poesie verdorben, weil es Lyrik gibt, die man erst begreift, wenn man selbst ein paar Lebensabgründe durchschritten hat. Bedeutende Werke kennen viele nur in Auszügen oder gar aus vorgefertigten Interpretationen. Freilich gibt es Gegenbeispiele: Wie überall hängt es auch hier von der Person des Lehrers ab, ob sich die Begeisterung für sein Fach auf die Schüler überträgt. Überwiegend aber tritt eine rudimentäre Literaturwissenschaft an die Stelle von Literaturerfahrung. Das ist gleichbedeutend mit der Zerstörung der Phantasie. Von der lebenspraktischen Nutzanwendung solcher Germanistisierung des Deutschunterrichts bin ich nicht überzeugt. Schlimmer, viel schlimmer ist etwas anderes – und dies greift über das Fach weit hinaus in den Bereich der Lebenskultur. In unserer Gesellschaft können wir – und dies ist ein wahrhaft hoch einzuschätzender Gewinn – Wissen so leicht, so vielfältig und so umfänglich wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte erwerben und verwenden. Das Internet ist, neben seinen scheußlichen Seiten, der neue Reichtum, der allen verfügbar ist. Das meiste, was heute in der Schule informatorisch gelehrt wird, lässt sich im Netz abfragen, und wenn man gelernt hat, kritisch zu fragen und skeptisch und flexibel mit den Angeboten umzugehen, erhält man richtige und nützliche Antworten. Zumal Wissen dort überwiegend auf neuestem Stand ist, das in den Schullehrplänen oft noch nicht aktualisiert wurde. Wir sind Kultur 13

Was sich in der gigantischen Informationsbank aber nicht lernen lässt, ist der Umgang mit den eigentlich bedeutenden, tiefgreifenden, schwierigen Vorfällen des Lebens, die auf jeden von uns unausweichlich zukommen: Liebe und Trauer, Eifersucht und Verlust, Abschied und Enttäuschung, Krankheit und Beschädigung, Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit, Mut vor Autoritäten und Todesangst. Auf diese Situationen bereitet die heutige Schule so gut wie nicht vor. Dabei liegt das Material dafür in unbegrenzter Menge bereit: Es ist die Literatur. In ihr und in den ihr verwandten Künsten Theater und Film lässt sich mittels der Phantasie antizipierend die eigene Empfindung, die eigene Entscheidung an der Stelle der scheiternden oder siegenden Helden erfahren und prüfen. In unserer Phantasie versetzen wir uns in die Lage der fiktiven Personen und lernen, indem wir gleichsam mit ihnen leben, ihre Art der Konfliktlösung kennen; wir erleben ihre Niederlagen, ihre Erfolge, ihren Untergang, ihre Erlösung. In der Literatur ist dieses Wissen der Kulturen über Jahrtausende unter dem Begriff »Schicksal« versammelt – und nirgendwo sonst erfahren wir so intensiv, dass wir mit den entscheidenden Klippen in unserem Leben nicht allein sind, sondern dass sie schon immer zu den schmerzlichen und schönen Bedingungen menschlichen Seins gehört haben. Mit solchen Grundereignissen, die uns anfangs immer überfordern, so umgehen zu können, dass wir authentisch bleiben und nicht hilflos und ratlos überwältigt werden, wenn sie eintreten, lässt sich üben: in der Fiktion, in der Kunst. Natürlich ist das Scheitern das größere Thema in der Dichtung, gehört die Erlösung eher in den Bereich der Religion. Die Literatur ist ganz so, wie wir Leser sind: Das Gute bewegt uns, aber das Böse hat unser Interesse, die Abgründe sind faszinierender als die Brücken. Auch erschöpft sich die Literatur nicht in ihrer Funktion als Übungsraum für unsere Vorahnung des Schicksals, ich rede 14 Gert Heidenreich

ja hier noch nicht von Kunst. Aber die Möglichkeit, tief verstörende Konflikte, noch bevor sie sich für uns ereignen, am Leben der literarischen und biblischen Gestalten gleichsam spielerisch und auf einer noch nicht existentiellen Ebene seelisch durchleben zu können, bereitet uns – davon bin ich fest überzeugt – besser auf das Erwachsensein vor als jede akkumulierte Quantifizierung der Welt. Vor allem das Wissen um den Zusammenhang unserer Existenz mit der anderer Menschen, seien sie auch fernen Zeiten und Kulturen zugehörig, wird das besonders in der Pubertät häufige Gefühl der Vereinsamung mildern. Das Reich der Phantasie kann auf diese Weise in späteren Jahren unter Umständen Leben retten. Kindern und Jugendlichen dies nicht zu vermitteln, heißt sie zu beschädigen. Antrainierte Information ist dafür kein Ausgleich. Es ist, als ob man den jungen Menschen, bevor man sie ins Leben entlässt, großartige Werkzeuge in die Hände drückt, zehn »Tools« an jedem Finger, ihnen aber zugleich ein Bein amputiert. Sollen sie doch ins Leben hüpfen, es gibt ja GehHilfen an jeder Ecke, Hauptsache, sie können mit ihren Fingern die Wirtschaft profitabel steuern. Ich kenne den Einwand, dass es immerhin Ethikunterricht gebe. Ich habe nichts gegen Ethikunterricht, auch nichts gegen Religionsunterricht. Aber niemand kann mir einreden, dass eine theoretische Erörterung der Frage, ob das Gesetz des Staates höher stehe als das sittliche Gesetz in mir selbst, ebenso fesselnd und für junge Menschen nachvollziehbar gestaltet werden kann, wie dies in der Antigone des Sophokles geschieht. Von jener jungen Frau, die ihr Gewissen der Staatsmacht entgegensetzt, beträgt die Zeitstrecke zu Sophie Scholl und der »Weißen Rose« 2.400 Jahre, die Ideenstrecke ist winzig, der Konflikt bleibt unvermindert aktuell. Hier wird auf ganz andere Weise Auseinandersetzung provoziert und Stellungnahme abgefordert als bei der Erörterung des Kategorischen Imperativs von ImmaWir sind Kultur 15

nuel Kant. In einem solchen Prozess erworbene Bildung meinte Demokrit von Abdera vor zweieinhalbtausend Jahren, wenn er feststellt: »Bildung ist den Glücklichen Schmuck und den Unglücklichen Zuflucht.« Auch diesen Satz macht die historische Distanz heute nicht weniger zutreffend als seinerzeit.

Zeitvertreib als Lebensziel Dass die Bedeutung der Bildung jungen Menschen, die von Angeboten zur Ablenkung umschrieen werden, nicht einfach vermittelt werden kann, ist bekannt. Bildung war noch nie einfach, nur jetzt scheint sich einerseits eine Tendenz abzuzeichnen, die der Mühelosigkeit einen besonderen pädagogischen Wert beimisst, andererseits wird immer mehr Stoff in immer kürzere Lernzeiten gepresst. Und das in einer Gesellschaft, die im Zeitvertreib ein Lebensziel und -glück sieht und die immenses Geld und ein erstaunliches Maß an Phantasie dafür aufwendet, den Menschen von sich selbst abzulenken und ihm dabei das Gefühl zu vermitteln, erst in der Ablenkung sei er ganz bei sich selbst. Die legitime Absicht von Unterhaltung, nämlich Entspannung, wandelt sich in der Zeitvertreibindustrie von einer Pausengestaltung zum Dauerzustand, dessen Folge nicht Erholung, sondern Bewusstseinslosigkeit ist. Halten wir uns unabgelenkt überhaupt noch aus? Wer in seinem Straßentelefon zugleich einen Fotoapparat, eine Videokamera, einen Internetzugang mit facebook und twitter, email, SMS, MMS, Computerspiele und einen ganzen Kaufladen von Klingeltönen mit sich herumträgt, kann diese erstaunliche Erfindung zwar durchaus sinnvoll nutzen - er kann sich aber auch im Angebot tausender Abschweifungen verlieren, ja ihnen verfallen. Weil die Erlebnisgesellschaft Spaß haben will, sofort und in der Tasche, kann die Zeitvertreibindustrie zum Zweck ihres 16 Gert Heidenreich

wirtschaftlichen Erfolgs den kritischen Gebrauch ihrer Einrichtungen verhindern. Sie braucht keine autonomen Menschen, sondern Dauerkonsumenten ohne Bewusstsein. Wir, die so genannten Nutzer, sollten lernen, diesem permanenten Übervorteilungsprozess standzuhalten. Die Frage ist, ob wir das wollen und ob wir es noch können. Wie selbstverständlich genießen wir den gepriesenen allumfassenden Service, die vielfältigen Navigationshilfen - nicht nur zur Adressenfindung, sondern in jeder Hinsicht: zur Lebensorientierung, Wissensspeicherung, Kommunikation. Ob aber das Wort Freundschaft bei facebook noch Freundschaft bedeutet, ob Nachrichten in der twitter-Welt vertrauenswürdig sind, ob die lexikalischen Auskünfte von wikipedia der Wahrheit entsprechen, entzieht sich weitgehend unserer Beurteilung. Unterhaltsam ist es jedenfalls, sich in diesen Welten treiben zu lassen - vergnüglicher als in der Realität, die man sich wenigstens akustisch via mp3-player und Knopf im Ohr verschönern kann. Dennoch sollte der Schule möglich sein zu klären, dass beim Zeitvertreib Lebenszeit vertrieben wird, und zwar im wörtlichen Sinn; dass es trotz der Nachmittagsserien des Fernsehens noch immer einen Unterschied zwischen Komödie und Klamauk gibt; dass jugendlicher Sängerwettstreit in den Medien nicht der Befriedigung von Sehnsüchten dient, sondern ihrer ausbeuterischen Vermarktung; dass das Lesen von Literatur nicht nur gut tut, weil die Gehirnforscher es dringend empfehlen, sondern weil wir dabei Gegenwelten erfahren; dass der alte Grundsatz, nicht für die Schule, sondern für das Leben zu lernen, nicht die Zurichtung für den Arbeitsmarkt meint, sondern tatsächlich das ganze Leben; dass Kultur in den Bildungsinstitutionen etwas mit Kultivieren zu tun hat; und es schadet nicht, dabei an den Ursprung des Wortes, das lateinische colere zu denken, das nicht nur pflegen, sondern auch pflügen heißt. Dabei geht es nicht darum, nette Muster in den Sand zu kratzen. Es geht darum, Wir sind Kultur 17

dass Pädagogik sich selbst wieder ernst nehmen darf und Lehrer nicht als ›Infotrainer‹ missbraucht werden. Was hier so klingen mag, als räsoniere ein Nöckergreis und klage überholte Bildungswerte ein, ist möglicherweise ein fortschrittliches Plädoyer. Selten wurde in der Neuzeit öffentlich so viel über das Glück geschrieben und gesprochen wie in unserem Jahrzehnt. Fast schien der Begriff ganz der Werbung anheimgefallen, die ihn mit Geld und Gegenständen verklebte. Inzwischen wird darüber fast so viel, wenn auch nicht so gründlich, nachgedacht wie in den dreihundert Jahren zwischen Epikur und Epiktet, und die Erörterung der nötigen Ingredienzien zum Lebensglück ernährt die neuen Autoren besser als einst die Philosophen. Doch anders als bei jenen steht Lebenskunst gegenwärtig nicht an vorderster Stelle, denn zu ihr gehören Erkenntnis und Bewertung der Welt, in der ich lebe, und solche wiederum setzen ein gewisses Maß an Bildung voraus. Unsere arbeitsteilige Gesellschaft hingegen hat für nahezu alle Wechselfälle des Lebens Beratungszentren und Service-Angebote geschaffen. Die Lebenshilfe-Buch-Produktion ist beeindruckend; von der alltäglichsten Verrichtung über die komplizierten Fragen der Liebe bis hin zu empfehlenswerten Variationen des Ablebens können wir uns, wenn wir dies als wünschenswert empfinden, auf andere verlassen. Kein Wunder: Je mehr ein Teil der Mediengesellschaft die Betäubung als Ziel sieht, umso dringlicher muss dort Service angeboten werden, wo Betäubung nicht mehr ausreicht. Nun ist gegen Hilfe gar nichts einzuwenden. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass eine Kultur aus Zeitvertreib und Service die Autonomie des Individuums nicht fördert, sondern für überflüssig, ja eigentlich für geschäftsschädigend hält.

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Das autonome Ich Für die kulturelle Vorstellung des emanzipierten Menschen gilt das Gegenteil. Notwendigerweise muss er im Besitz einiger Erfahrungen, und seien es angelesene, sein, die ihn befähigen, möglichst autonom zu handeln und kritische Distanz zu den Angeboten seiner Gegenwart zu wahren. Er sollte seine Urteile nicht geliehen haben, sondern herleiten können. Er sollte immerhin so viel selbst vernetztes Wissen verfügbar haben, um Entscheidungen treffen zu können, die auch späterer Begründung standhalten. Mit anderen Worten, er sollte ein Bewusstsein von sich selbst innerhalb der dialogischen Kultur und von der Vorläufigkeit seiner Ansichten und Einsichten haben. Nicht zuletzt gehört wohl zum gebildeten Menschen, dass er seiner Vernunft nicht Absolutheitsanspruch einräumt, denn einige überlebensnotwendige Maximen und sittliche Imperative sind rational nicht begründbar: Barmherzigkeit, Nächstenliebe, sogar die Menschenrechte sind keine Ergebnisse von Wissenschaft. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, nach eigener Auskunft ein »konservativ-liberalen Sozialist«, hat darüber zugespitzt gesagt: »Die moderne Chimäre, die dem Menschen totale Freiheit von der Tradition oder jeglichem vorexistenten Sinn verspräche, (…) schickt ihn in eine Finsternis, in der alles mit gleicher Gleichgültigkeit betrachtet wird. Das utopische Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erfinden, die utopische Hoffnung auf grenzenlose Perfektion könnte das wirkungsvollste Instrument des Selbstmords sein, das die menschliche Kultur je geschaffen hat.« Die Fähigkeit, jede Maxime, sei sie eigener Einsicht entsprungen oder einem allgemein vereinbarten Kanon entnommen, stets auf ihr Menschenmaß, ihre Gemäßheit überprüfen zu können, setzt eben jene nicht nur rationale Bildung voraus, die, wie eingangs gesagt, aus der Verwandlung von Wissen in Wir sind Kultur 19

Bewusstsein entsteht. Die Entscheidung, nichts als ein Absolutum anzuerkennen, das sich selbst dazu erklärt – beispielsweise alleinseligmachende Ideologien und Religionen – ist natürlich zugleich eine der Voraussetzungen von Freiheit. Ich will die Freiheitsfrage hier nicht erörtern, nur so viel: Eine Gesellschaft, in der sich die Idee der persönlichen Freiheit vorrangig ans Geld bindet, verliert möglicherweise den Blick auf die geistige Unabhängigkeit und die Autonomie des Individuums, die, wie ich glaube, einzig durch Bildung erreichbar ist. Die Demokratie, die stets um so mehr beschworen wird, je mehr sie ins Ungefähre gerät, ist vermutlich mehr als alle anderen politischen Organisationsformen darauf angewiesen, mehrheitlich von gebildeten Bürgern gestaltet zu werden; nicht nur, weil ungebildete Wähler leichter von Populisten überzeugt werden, sondern vor allem, weil Demokratie sich zu ihrem Überleben in einem ständigen Prozess der Mängelkorrektur befinden muss, anders gesagt: in permanenter Revision. Wie aber soll dies gelingen, wenn nicht die entscheidenden Mehrheiten in der Lage sind, sich bessere Alternativen zum gegenwärtigen Bestand auszudenken? Bildungslose Bürger wünschen sich meist nur eines: das Ende aller Komplikationen. Dieser Wunsch führt, realisiert, in die Totalkomplikation, die man auch Katastrophe nennt. Ich bin zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft diese Zusammenhänge, wenn nicht erkennt, so doch spürt und auf diese Weise dann auch wahrnimmt. In unserer freiheitlichen Gesellschaft mit ihrer Fülle von Medien sind die Einflüsse von veröffentlichten Informationen und Meinungen so komplex, dass wir die Wirkungen und Wechselwirkungen von Kommunikation längst nicht mehr definieren oder gar klassifizieren können. Inzwischen ist kein generationenübergreifender Vorrang bestimmter Multiplikatoren mehr auszumachen. Was für die einen die Tagesschau, sind für die anderen längst Blogs und Twitter und Facebook. Nachrichten-Apps auf dem iPhone ersetzen für 20 Gert Heidenreich

eine beträchtliche Menge sogenannter User die Tageszeitung. Digitale Enzyklopädien werden weitaus häufiger genutzt als vormals die gedruckten. Und wenn einst beim Aufschlagen des Lexikons an der falschen Stelle, wo man sich vielleicht festlas, der Bildungsvorteil des schönen Umwegs den Leser bereicherte, so ist heute die Menge der Links in einem Artikel eine sehr viel größere Versuchung, die eigene Suche auszuweiten. Das kann, wer Bildung schätzt, nur begrüßen. Sowohl freie Organisation von privaten Bildungszirkeln und -vereinigungen, Kulturinstituten und Diskussionsforen im Internet als auch die deutliche Zunahme von Dokumentationen zu Geschichte, Naturgeschichte und Geistesgeschichte in diversen Fernseh- und Rundfunkprogrammen können darauf hindeuten, dass Inhalte, die von den Ausbildungsinstitutionen zugunsten der Konditionierung vernachlässigt werden, gleichsam auf den freien Markt ausweichen. Für die dialogische Kultur ist das ein Prozess, der möglicherweise erfolgreicher ist, als wir messen können. Leider wird das Angebot überwiegend von Bürgern über Fünfzig wahrgenommen. Der jungen Generation wird gern angepasstes Verhalten unterstellt. Die Demonstrationen der Studenten haben eine andere Jugend gezeigt. Gegenüber einer Politik, die offensichtlich die Normierung von Prüfungsabläufen für wichtiger hält als die sinnvolle Gestaltung des Bildungsprozesses, hat diese Jugend das richtige Bedürfnis zum Ausdruck gebracht: Bildung wieder mit Umfänglichkeit, Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsfähigkeit zu verbinden. Sie dafür als »gestrig« zu beschimpfen, wie die damalige und jetzige Bundesbildungsministerin Annette Schavan es bei den ersten Demonstrationen von Schülern tat, ist absurd. Im Gegenteil: Diese Jugend spürt, dass sie nicht ausreichend auf die persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte vorbereitet wird, die auf sie zukommen. Und sie fordert diese Vorbereitung ein. Wir sind Kultur 21

Präzise heißt es auf den studentischen Transparenten: »Wir demonstrieren für bessere Bildung!« – nicht für bessere Ausbildung … Die Reaktionen der politisch Verantwortlichen zeigen bisher ein Ausmaß an Unverständnis, das allenfalls mit Betriebsblindheit zu erklären, keineswegs aber zu rechtfertigen ist. Als ginge es darum, ein paar trotzigen Kindern entgegenzukommen, wird, wie Kastanien in der Wildfütterung, eine leichte Erhöhung des Bafög hingeworfen. Da und dort meinen Kultusminister, sie könnten mit dem Versprechen, Lernstoff zu vermindern, Ruhe erkaufen. Die Kanzlerin erklärte vor dem deutschen Parlament: »Bildung ist mehr denn je der Rohstoff der Deutschen«, und der Bundestag applaudierte statt in sardonisches Gelächter auszubrechen. Die Formulierung »mehr denn je Rohstoff der Deutschen« lässt sich nur als kurios deuten, denn einerseits behauptet Frau Merkel, wir lebten noch mehr von Bildung als einst von den Rohstoffen Kohle und Eisenerz, andererseits unterstellt sie, wir selbst bestünden aus Bildung, und zwar »roh« – was nun offensichtlich unsinnig ist. Denn Bildung im klassischen Sinn ist Veredlung des Menschen, Befreiung aus seinem Rohzustand. Unfreiwillig enttarnt die Formulierung ein Verständnis von Bildung, das ins Regierungskonzept passt: »Rohstoff« nämlich enthält keinen Mehrwert. Und was in unserer Gesellschaft keinen Mehrwert hat, ist eben nicht mehr wert als Rohstoff … Es fällt leicht, solche fahrlässigen Dummheiten aufs Korn zu nehmen. Schlimm ist, dass sie als Parolen einer Politik dienen, die den Mehrwert der Bildung für die Demokratie schlicht nicht begreift. Mit solchen Formeln lassen sich die Studenten, man ist versucht zu sagen: Gott sei Dank, nicht abspeisen. Natürlich hat auch diese Generation Schwierigkeiten, die eigenen Ziele treffend zu formulieren. Wo die 68er seinerzeit versucht haben, dieses Land für sich geistig bewohnbar zu machen, geht es heute darum, das Land lebenswert zu erhalten. Und wel22 Gert Heidenreich

che Aufgabe wäre angemessener für eine Generation, die jetzt anfängt, sich zu orientieren? Man soll die jungen Menschen nicht anlügen, indem man behauptet, sie hätten derzeit durch unser Bildungssystem gute Aussicht auf ein gelungenes Leben. Man soll nicht versuchen, sie mit ein paar Häppchen weniger Lernstoff und etwas mehr Geld still zu stellen. Man sollte nicht, wie die Bundesministerin Schavan, Polizeieinsätze gegen Universitätsbesetzer gutheißen und zugleich auf Ermüdung der Proteste spekulieren. Solche Arroganz treibt die Jugend am Ende auf die Barrikaden. Auch dazu hat übrigens Demokrit schon zutreffend gesagt: »Es gibt Verstand bei den Jungen und Unverstand bei den Alten. Denn nicht die Zeit lehrt denken, sondern eine frühzeitige Erziehung und Naturanlage.«

Wir sind Kultur 23

Von Peter J. Brenner

Chaos im Netz – brauchen wir einen neuen alten Bildungskanon? Digitale Müllhalden Das Internet ist eine gigantische Wissensmaschine. Es stellt eine unübersehbare und unbegrenzt wachsende Menge an Informationen aller Art und jeder Qualität bereit. Genau das war ja das Versprechen des Internet: Jedem Menschen zu jeder Zeit möglichst kostenlos Zugang zu jedem beliebigen Wissen zu verschaffen. Die kostenlose Bereitstellung unüberschaubarer Wissensbestände aller Art beflügelt seit zwei Jahrzehnten, zum zweiten Mal seit der Aufklärung, die Hoffnung auf eine abschließende Demokratisierung der Bildung und der Kultur. Die digitale Kultur, und in erster Linie das Internet, hat auch unsere Vorstellung von »Bildung« tief greifend verändert. Das Wissen im Internet kennt keine Grenzen mehr und auch keine Binnenstrukturen; es hat keine Ordnung und keine Hierarchie und überlässt den Nutzer sich selbst. Die Metapher des »Surfens im Internet« hat, wahrscheinlich ungewollt, das Phänomen wie das Problem ziemlich genau getroffen – wenn man nämlich unter »Surfen« eine ziemlich sinnlose sportliche Beschäftigung Chaos im Netz 25

versteht, bei der der Surfer sich mit viel Geschick, aber mit sehr begrenzten Handlungsmöglichkeiten dem Spiel der Wellen überlässt. Noch in jüngster Zeit hat der Harvard-Professor David Weinberger wiederholt, was die Internetpropheten der ersten Generation schon lange glauben machen wollten. Weinberger feiert in seinem Buch, das in Deutschland unter dem Titel Das Ende der Schublade: Die Macht der neuen digitalen Unordnung erschien, die Befreiung des Wissens. Jetzt endlich sei die Utopie der freien Wissensgesellschaft Wirklichkeit geworden; jeder Mensch könne die Organisation seines Wissens selbst in die Hand nehmen, sich ablösen von der illegitimen Autorität wissenschaftlicher Experten oder staatlicher Einrichtungen. Aber ganz ohne diese alten autoritären Einrichtungen kommt auch der Prophet der neuen digitalen Unordnung nicht aus: Er veröffentlicht seine Einsichten nicht anonym im Internet, sondern als Buch, brav mit einem Copyright-Vermerk versehen, der u. a. die Verbreitung des Buchs unter »Verwendung elektronischer Systeme« verbietet. Wer das Buch lesen will, kann sich ein paar Seiten im Internet anschauen – es handelt sich ausdrücklich um »copyrighted material« –, und den Rest muss er ganz trivial im Buchhandel bestellen und bezahlen; oder aber er muss es in einer traditionellen Bibliothek ausleihen, wo er es aber nur finden wird, wenn die »Macht der digitalen Unordnung« sich in den Bibliotheksregalen noch nicht durchgesetzt hat. Diese Ambivalenz des Ideals universaler Verfügbarkeit auf der einen Seite und der materiellen Bindung des Wissens an Bücher und Bibliotheken andererseits gehört auch im Zeitalter des Internet weiterhin zur Realität der modernen Wissensgesellschaft. Aber es ist schon richtig: Das Internet versammelt Wissen jeder Art und jeder Qualität, und das Ordnungsprinzip dieser Wissenssammlung ähnelt dem einer Müllhalde. Die simple Ein26 Von Peter J. Brenner

sicht, dass Wissen nicht nur produziert und bereitgestellt, sondern dass es auch eine Ordnung haben muss, wenn es nutzbar sein soll, ist als Problem bislang kaum wahrgenommen worden. Vor fast hundert Jahren – da gab es noch kein Internet – hat der Kultursoziologe Georg Simmel seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass man auch zu viel wissen könne. Für eine Gesellschaft, die sich gerne selbst als »Wissensgesellschaft« feiert, ist das ein merkwürdiger Gedanke. Aber er hat seinen Sinn. In der unbegrenzten Vermehrung des Wissens und der immer leichteren Zugänglichkeit von Kulturgütern sah Georg Simmel eine Bedrohung sowohl des individuellen wie des allgemeinen Wohlergehens, weil die pure Menge der zugänglichen Kulturgüter die Aufnahmefähigkeit des einzelnen überfordere und ihn außerstand setze, diesen Kulturgütern einen Sinn zu geben und sich mit ihnen in eine sinnvolle Beziehung zu setzen. Kurz: Die Quantität des Wissens bedroht die Qualität der Bildung. Und dabei war damals noch gar nicht absehbar, in welchem Maße das Hochkulturwissen, auf das Simmel sich bezieht, einmal verstellt und zugeschüttet sein würde von Wissensmüll aller Art. Im besten Fall handelt es sich dabei um ein Populärwissen, das vorwiegend über elektronische Medien verbreitet wird und nicht nur überall leicht zugänglich ist, sondern sich auch invasiv dort verbreitet, wo es nicht nachgefragt wird. Das kann man hinnehmen als Kollateralschaden einer Entwicklung, die im Gegenzug eben auch wertvolles Wissen in unbegrenztem Umfang zur Verfügung stellt. Etwas schwerer fällt es schon zu akzeptieren, dass das Internet auch das Eldorado ist für kriminelles Wissen aller Art – verbreitet von Bombenbastlern, Neonazis und Pädophilennetzwerken. In dieser Lage stellt sich das alte Problem der Ordnung des Wissens in neuer Brisanz.

Chaos im Netz 27

Bedrohte Wissensordnungen Wissen hat immer auch Wissensordnungen hervorgebracht, und diese Ordnungen haben sich fast immer kontinuierlich und meist unmerklich entwickelt; radikale Brüche und Umwälzungen in der Ordnung des Wissens hat es selten gegeben. Einer dieser Umbrüche hat sich zu Beginn der Neuzeit vollzogen. Die Scholastik des späten Mittelalters hat unter der virtuellen Anleitung des Methodikers Aristoteles bewundernswerte Kathedralen des Wissens errichtet. Sie konnten der Dynamik der Wissensentwicklung in der Frühen Neuzeit jedoch nicht standhalten. Der Erfahrungsdruck des Zeitalters der Entdeckungen schwemmte im Verein mit Gutenbergs Buchdruck die alten, starren Systematiken weg und machte Platz für neue, dynamische Wissensordnungen. Das waren Wissensordnungen, die sich bis ins ausgehende 20. Jahrhundert erhalten haben und die jetzt ihrerseits unter dem Druck der Internetdynamik verdampfen. In der Frühen Neuzeit ebenso wie jetzt, 500 Jahre später, entsteht neues Wissen jeder Art, jeder Größenordnung und jeder Qualität; und dieses Wissen verbreitet sich rasant, es dringt in die Lebenswelt ein, viele seiner Bestandteile veralltäglichen sich, sie werden praktisch und gestalten die Welt der Menschen um. Ein großer Teil dieser alten Ordnungsinstrumente ist bis heute in alltäglichem Gebrauch und wird kaum einmal bewusst wahrgenommen: Im Laufe der Frühen Neuzeit bekamen Bücher Inhaltsverzeichnisse und Register, sie wurden nach Fachgebieten zusammengestellt, die in großen Zügen der Entwicklung der Wissenschaftsdisziplinen folgten, und ziemlich spät erst wurden sie konsequent unter ihrem Autornamen veröffentlicht, so dass sie in eine alphabetische Ordnung gebracht werden konnten.

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In der Gutenberg-Galaxis vollzog sich die Entwicklung des Wissens mit einer gewissen Gemächlichkeit; jedenfalls so langsam, dass die Zunahme der Wissensbestände die Bestrebungen zur Wissensordnung nicht uneinholbar abgehängt hat. In der Entwicklung des Internet ist wohl genau das geschehen. Die explosive Expansion des Wissens im Internet hat die Entwicklung neuer Ordnungsformen weit hinter sich gelassen – einerseits. Andererseits ist es aber natürlich nicht so, dass das Universum des Wissens im Internet ohne jede Ordnung daher käme. Dass mit der Durchsetzung des Internet das kommunikative Schlaraffenland des »herrschaftsfreien Diskurses« Wirklichkeit geworden sei, ist jedenfalls eine trügerische Hoffnung. Denn auch für das Internet gilt die Einsicht der Diskurstheoretiker: Es gibt keinen Diskurs ohne Ordnung.

Die Wissenskultur im Netz Jede Gesellschaft, auch die globale, in der das Internet zu Hause ist, ordnet, kontrolliert, reguliert, selektiert, kanalisiert und bändigt ihre Diskurse. Wer genau hinschaut, kann leicht sehen, dass auch das Internet rastlos damit beschäftigt ist, überwiegend auf maschinellem Weg neue Ordnungen zu schaffen. »Wissen ist Macht«, hieß es einmal im 17. Jahrhundert, als die Ära der Wissensgesellschaft heranzudämmern begann – und grenzenloses Wissen ist grenzenlose Macht. Aber wer verfügt über diese Macht? Die »User«, lautet die Antwort der Internetutopisten; aber daran mag man nicht mehr so recht glauben. Die Ohnmacht des Staates, sei es nun ein demokratischer oder ein autoritärer, gegenüber dem unbegrenzten Diskurs im Internet wird uns nahezu alltäglich vor Augen geführt. An seine Stelle sind andere global agierende und fast durchweg kommerziell interessierte Chaos im Netz 29

Akteure getreten, welche die Diskurse im Internet mehr oder weniger offensichtlich lenken. Es ist sicher kein Zufall, dass eines der erfolgreichsten Internetunternehmen überhaupt der Anbieter einer Suchmaschine ist, eben jenes Produktes, das wie kein anderes die Ablösung der alten Wissensordnung der Gutenberg-Ära durch eine neue verkörpert. Aber andererseits ist die Abkopplung des Internet von den alten Strukturen des Wissens längst nicht so radikal, wie es selbst glauben machen will. Ein erheblicher Teil der relevanten Wissensbestände im Internet speist sich aus Wissen, das mit öffentlichen Mitteln finanziert wurde und das auch öffentlich stets zugänglich war – es war zugänglich, aber eben nicht »leicht zugänglich«. Und hier setzt die neue Wissenskultur des Internet an. Die spektakulärsten Anstrengungen zur Bereitstellung umfassenden Wissens werden seit einigen Jahren von »Google« unternommen. »Google« kündigte im Dezember 2004 an, sämtliche jemals gedruckten Werke zu digitalisieren und ins Netz zu stellen. Dass ein solcher Anspruch nicht nur vermessen, sondern in erster Linie naiv ist – sofern er nicht ohnehin als bloßer Marketinggag gedacht war – liegt auf der Hand. Aber er ist noch mehr: Es ist der Versuch einer einzigartigen Monopolisierung des Wissens durch eine einzige, kommerziell ausgerichtete Firma, deren Vorgehen undurchschaubar ist, deren Interessen aber klar sind. Davor hat der vormalige Präsident der Bibliothèque nationale de France, Jean-Noël Jeanneney, im Jahre 2005 in seiner Streitschrift Googles Herausforderung – Quand Google défie l´Europe gewarnt. Google schaffe mit seinen unbekannten, wohl nur dem Spiel des Zufalls und der Macht des Geldes folgenden Auswahlkriterien, mit den undurchschaubaren Mechanismen der Trefferauflistung – die immer auch eine Hierarchisierung des Wissens bedeuten – und schließlich mit seiner Bevorzugung usamerikanischer Archive und Bibliotheken eine neue unkontrol30 Von Peter J. Brenner

lierbare Struktur des altbekannten wie des künftig entstehenden Wissens, die am Ende weniger den Gesetzen der Kultur als denen des Marktes gehorche. Das kulturelle und geistige Erbe der Menschheit werde verspielt, wenn es auf diese Weise nach undurchsichtigen Regeln und ohne irgendeine erkennbare Ordnung und Auswahl digital zugänglich gemacht werde – und dabei hat er noch nicht einmal die von anderen Kritikern beklagte desolate editorische Qualität der Google-Scans im Auge gehabt. In der Tat: Dass Wissen eine Ordnung braucht und sie sich in jedem Fall auch schafft, ist zunächst ein pragmatisches Problem – nur geordnetes Wissen ist leicht zugänglich und verwertbar. Aber Ordnungen des Wissens produzieren immer auch Hierarchien des Wissens. In allen Wissensordnungen wird Wissen nicht nur in eine Struktur – und damit unter Kontrolle – gebracht; es wird zugleich bewertet und in Hierarchien geordnet. Das ist im Internet nicht anders. Die Mechanismen des Suchens und Findens im Internet schaffen nicht nur neue Ordnungen, sondern auch neue Hierarchien des Wissens. Wichtig – und gut verkäuflich – wird das, was an der Spitze der Trefferliste einer Suchmaschine steht. Das ist nichts Neues und nichts Verwerfliches – im Gegenteil. Jede Gesellschaft und jede Kultur trifft ihre Unterscheidungen, in denen sie wichtiges von weniger wichtigem Wissen trennt, nützliches von unnützem, anerkanntes von verächtlichem, zentrales von abseitigem. Die Entstehung solcher Hierarchien lässt sich nur schwer steuern; sie entstehen meist von selbst im Laufe langer historischer Prozesse. Wie es aussieht, haben alle bekannten Zivilisationen schmale Segmente aus der potentiell immer unendlichen Fülle des verfügbaren Wissens herausgestellt, ihm einen besonderen Rang verliehen und damit bestimmten Segmenten des Wissens eine herausgehobene soziale Funktion zugeschrieben. Chaos im Netz 31

Das ist für alle Gesellschaften lebenswichtig. Denn Gesellschaften brauchen eine Verständigung darüber, welches Wissen ihnen wichtig ist und welches unwichtig. Sie entwerfen Hierarchien des Wissens und privilegieren bestimmte Arten und Inhalte des Wissens, während sie andere wiederum an den Rand drängen oder gar ächten.

Der Kanon verschwindet Mit der Durchsetzung des Internet hat sich dieser Vorgang der Kanonisierung oder Privilegierung des Wissens dramatisch geändert. Das Wissen nimmt zu und ist leichter zugänglich; das ist erfreulich. Aber die paradoxe Kehrseite dieser Zunahme des allgemeinen Wissens ist die Abnahme des gemeinsamen Wissens – ein Verschwinden des Vorrats an Wissensbeständen, über den jeder verfügen sollte, oder – da es so etwas nie gegeben hat und nie geben wird – von dem man idealtypisch und kontrafaktisch unterstellt, dass ihn »eigentlich« jeder und jede haben sollte. In der aktuellen Wissensdiskussion, deren Fehlentwicklungen in Deutschland wesentlich durch die Bildungsdebatte gesteuert wurden, hat man sich darauf festgelegt, den Wert des Wissens am Nutzen für den einzelnen zu bemessen. Das tradierte Wissen hat dabei schlechte Karten – es ist vom Verfall, vom Verdrängen und am Ende vom Vergessen bedroht, weil es per definitionem veraltet ist. Aber gerade dieses Wissens definiert den kulturellen Horizont, der soziale Bindekräfte schafft und den Zusammenschluss von atomisierten Individuen zu einer »Gesellschaft« ermöglicht. Die moderne Soziologie ist längst wieder zu der Einsicht zurückgekehrt, dass der Zusammenhang einer Gesellschaft nicht nur durch Geld, Recht, Macht gestiftet wird, sondern auch und wahrscheinlich sogar primär durch einen kulturellen Über32 Von Peter J. Brenner

schuss. Die Integration sozialer Systeme ist ein Vorgang kultureller und kommunikativer Verständigung, die sich vornehmlich im Medium der Sprache vollzieht und wesentlich sichtbar wird in der Verständigung über bewahrenswerte Bestände in der Literatur, der Kunst, der Technik, der Geschichte – kurz: in allem also, was symbolische Bedeutung für die Einheit der Kultur gewinnen kann, was einer Gesellschaft als Kulturleistung wichtig erscheint und in ihrem »kulturellen Gedächtnis« abgelagert wird. Ein solches »kulturelles Gedächtnis« ist die lebendige Vergegenwärtigung von Kulturbeständen, ohne die keine Gesellschaft funktioniert. Und auch hier könnte man meinen, dass die digitale Kultur einen neuen, erfreulichen Entwicklungsschub mit sich gebracht habe, denn in dieser Hinsicht der Archivierungsfähigkeit sind die digitalen Medien der alten Gutenberg-Kultur unendlich weit überlegen: Sie vergessen nichts – über dieses Phänomen, das zu Recht den Politikern, den Juristen und nicht zuletzt den einzelnen Usern langsam unheimlich zu werden beginnt, wird ja gerade ausgiebig diskutiert. Nun ist aber ein unendlich aufnahmebereites digitales Archiv wiederum etwas anderes als ein »kulturelles Gedächtnis«. Denn das kulturelle Gedächtnis ist gerade nicht die unterschiedslose Aufbewahrung. Das kulturelle Gedächtnis ist vielmehr jenes Medium, in dem sich kollektive Identitäten herausbilden, erneuern und festigen in einem Prozess der stetigen Weiterentwicklung durch Deutung, Reflektion, Kontrolle – und am Ende eben auch durch Kanonisierung. In jüngerer Zeit hat es etliche zaghafte, aber doch gut beachtete Versuche zu einer Rehabilitierung und Erneuerung des Kanons gegeben. Dazu gehören so Oberflächenphänomene wie Günter Jauchs höchst erfolgreiche Rateshow und ihre zahllosen Imitate; dazu gehören weiterhin die von den großen Zeitungen initiierten, inzwischen selbst wieder unüberschaubar geworChaos im Netz 33

denen Editionen von kanonisierten Büchern und Filmen aller Sparten, die längst schon wieder im Reich der Beliebigkeit angesiedelt sind. Als Zeitgeistphänomene sind diese Erscheinungen nicht ohne Reiz – sie verraten immerhin das Unbehagen an einer kanonlosen Kultur. Sie sind Symptome eines Phantomschmerzes, der an jene Glieder der alten Gutenberg-Kultur erinnert, die unwiederbringlich verloren sind. Von größerem intellektuellen Reiz sind hingegen die Versuche, einen Kanon notwendigen Wissens wieder inhaltlich neu zu füllen. Auch dazu hat es in der letzten Dekade einige respektable Versuche gegeben. Am Ende des vergangenen Jahrtausends hat Manfred Fuhrmann in seinem Buch über den »Europäischen Bildungskanon« noch einmal an die Prämissen erinnert, denen eben dieser »Europäische Bildungskanon« unterliegt. In erster Linie gehört dazu die Loslösung von jeder unmittelbaren Zweckhaftigkeit und Nützlichkeit – also geradezu das Gegenmodell zu dem, was in jenem Bereich der Politik, den man »Bildungs«-Politik zu nennen man sich angewöhnt hat, heute an Schulen und Hochschulen exekutiert wird. Sodann verweist Fuhrmann auf die Grundlage einer jeden Bildung: die Beherrschung der Sprache, die Fähigkeit, sich elaboriert und differenziert, nuanciert und präzise auszudrücken. Und schließlich erinnert er daran, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und zur Allgemeinbildung deshalb auch ein Wissen über die Traditionen und Funktionsweisen eines demokratischen Gemeinwesens gehören. Das ist ein Minimalkanon. Er dient der Vergewisserung über ein Minimum kultureller Gemeinsamkeit bei den Mitgliedern eines Gemeinwesens, dessen soziale Bindekräfte eben nur dann wirksam werden können, wenn sie sich auf gemeinsame Traditionen und Werte stützen können. Sehr viel weiter greift zur gleichen Zeit der Anglistikprofessor Dietrich Schwanitz aus. Ganz aus dem Geist bildungsbürgerlichen Besitzstandsdenkens heraus geschrieben ist sein 34 Von Peter J. Brenner

umfassendes Kompendium mit dem schlichten Titel »Bildung. Alles was man wissen muss«. Schwanitz formuliert den Maximalkanon des deutschen Bildungsbürgertums, er benennt die klassisch gewordenen, fast ausschließlich nach europäischen Konventionen definierten Wissensbestände aus Literatur und Philosophie, Kunst und Musik, Geschichte und Politik. Von besonderem Wert ist das schmale Kapitel über das, was man nicht wissen sollte, das yellow press-Wissen über Popstars und europäische Königshäuser. Schwanitz’ Kanon ist sympathisch, aber einen Sitz im Leben der deutschen Kulturwirklichkeit hat er nicht. Zu Recht wurde auch kritisiert, dass er das technisch-naturwissenschaftliche Wissen der Moderne nicht etwa nur ignoriert, sondern wegen fehlenden Bildungswertes ausdrücklich aus den wissenswerten Bildungsbeständen ausschließt. Das geht natürlich nicht, und so hat gleich darauf der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer einen etwas bescheideneren Bildungskanon der Naturwissenschaften formuliert. Dazu gehören Theorien und Modelle, welche die Ordnung des Makro- und des Mikrokosmos beschreiben, dazu gehört die Diskussion über das, was in den Biowissenschaften unter »Leben« und »Geist« verstanden wurde und heute verstanden wird, und dazu gehört eine Einsicht in die Denkweisen und Verfahren der naturwissenschaftlichen Forschung. Dass es auch einen solchen Bildungskanon des technischnaturwissenschaftlichen und mathematischen Wissens gibt und geben muss, hat sich in der deutschen Bildungstradition nie so recht durchgesetzt – sie hat eben immer stärker auf Wilhelm statt auf den eigentlich bedeutenderen Alexander von Humboldt als ihren Hausheiligen vertraut. Dass aber auch naturwissenschaftlich-technische Kenntnisse mehr sind als pragmatisch zu nutzende skills for life oder jene handfesten literacy-Kompetenzen zur unmittelbaren Lebensbewältigung, wie sie heute Chaos im Netz 35

den Schülern in den Pisa-Tests abgefragt werden, ist aus dem Bewusstsein der Bildungsmacher verschwunden. Gewiss bedarf es zur Selbstbehauptung in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation handfester technischer Sachkenntnisse. Aber naturwissenschaftliche Einsichten sind eben auch Kulturgüter, die ihren eigenen Bildungswert haben, und vor allem unter dieser Perspektive müssen sie ihren Platz im Bildungskanon erhalten. Aber diese Bemühungen von Fuhrmann, Schwanitz oder Fischer sind Ausnahmen. In der deutschen Bildungs- und Kulturpraxis findet sich weder die Bereitschaft noch der Mut, verbindliche Wissensbestände nicht nur zu benennen, sondern sie auch dort zu verankern, wo sie allein ihre Wirkung entfalten, nämlich in der Schule. Wie das aussehen müsste, zeigt der amerikanische Literaturwissenschaftler Eric Hirsch. Er hat sich tatsächlich die Mühe gemacht, auf 300 Buchseiten zusammenzustellen, »was unsere Kinder wissen müssen« – »What Our Children Need to Know«. Das Buch ist ein bemerkenswertes Dokument des Mutes zum Wissen. Es definiert das Primarschulen-Grundwissen in 21 Sachgebieten – beginnend mit Sprichwörtern, weiterführend über die englische Sprache, die Literatur, Weltgeschichte, Geographie, Mathematik und Naturwissenschaften bis zur Technologie. Auf diese Weise kommen gut 3000 knapp gefasste Stichwörter zusammen, die in jeweils wenigen Zeilen lernbares und tatsächlich zu lernendes Grundwissen für amerikanische Grundschüler definieren.

Das Internet ist kanonfeindlich Diese sehr unterschiedlichen Versuche zur Rehabilitation eines Kanons allgemeinbildenden Wissens haben ihre Wurzeln allesamt in der vordigitalen Buchkultur der Gutenberg-Ära. Es 36 Von Peter J. Brenner

ist schlechterdings unvorstellbar, dass sie in der Internetkultur sich hätten entwickeln oder auch nur ihren Platz finden können. Denn das Internet hat die alten Mechanismen der Hierarchisierung und Kanonisierung von wissenswertem Wissen endgültig zerstört und damit radikal zu Ende gebracht, was sich in der Schul- und Kulturentwicklung bereits seit den siebziger Jahren angebahnt hat. Das Internet ist seiner Struktur nach kanonfeindlich. Wenn Wissen unbegrenzt zur Verfügung steht, wenn es kaum technische und finanzielle Hindernisse beim Zugang zum Wissen gibt, dann ist das zunächst erfreulich. Aber wenn es so ist, dann verlieren die alten Einrichtungen der Wissenszubereitung und der Wissensverbreitung, und eben auch der Wissensauswahl, an Bedeutung. Die alten Einrichtungen – das waren die Bibliotheken, die überlegen mussten, was sie anschaffen wollten oder nicht, das waren die Lexika, deren Redakteure sich Gedanken machen mussten, welche Artikel sie aufnehmen wollten, das waren die Schulen, deren Budget an Unterrichtsstunden begrenzt ist und deren Lehrpläne deshalb nur ein schmales Segment des Wissens aufnehmen konnten – kurz: wer auch immer Wissen anbot, stand unter dem Diktat finanziell, zeitlich oder räumlich begrenzter Ressourcen und musste eine Entscheidung über die Auswahl seines Angebots treffen. In der digitalen Kultur ist das anders. Sie hat sich weitgehend befreit von den Bindungen an Raum und Zeit und, jedenfalls auf den ersten Blick, auch von denen an das Geld. Der grundlegende Wandel lässt sich am besten an Wikipedia veranschaulichen. Wikipedia versammelt wahrscheinlich tatsächlich den größten Wissensbestand, der je in einer Einrichtung zugänglich gemacht wurde. Ihren Erfolg verdankt sie sicher nicht zuletzt der Tatsache, dass sie ihr Modell der Wissensorganisation aus der Gutenberg-Ära mitgenommen und sie um die neuen Möglichkeiten Chaos im Netz 37

des Internet erweitert hat. Wikipedia ist nach dem klassischen Prinzip der Enzyklopädie konstruiert, wie es sich im späten 17. Jahrhundert herausgebildet hat. Das Wissen wird nach Schlagwörtern organisiert, mit Quellenbelegen versehen und es gibt klare Regeln, nach denen die Relevanz und die Korrektheit des Wissens gewichtet wird – und nicht zuletzt gibt es Aufpasser, die darauf achten, dass diese Regeln eingehalten werden. Neu ist andererseits, dass Wikipedia – angeblich – von ehrenamtlichen Laien geschrieben und verwaltet wird ; und neu ist auch, dass ihr keine physischen Grenzen gesetzt sind wie einem gedruckten Lexikon, dessen Aufnahmekapazität durch drei oder vier Dutzend Buchdeckel und durch die schlichten Kosten seiner Redaktion und Produktion limitiert wird. Und diese weitgehende Entmaterialisierung, die weitgehende Abkopplung von den physischen Grenzen von Raum, Zeit und Geld, schließlich erlaubt auch eine Aktualität, von der die gedruckten Lexika nicht einmal haben träumen wollen. In vieler Hinsicht ist Wikipedia den gedruckten Lexika also weit überlegen. Aber diese Überlegenheit hat, wie immer, ihre Kehrseite. Die deutsche Wikipedia soll, so heißt es, 1 Million Einträge enthalten, die englischsprachige 3,5 Millionen. Eines des größten und ehrwürdigsten lexikalischen Unternehmen der alten Gutenberg-Galaxis, die Brockhaus Enzyklopädie, enthält in ihren 30 teuren Bänden gerade 300.000 Stichwörter. Das ist mehr, als ein einzelner Mensch jemals wissen kann, aber es ist eben nur ein Bruchteil der Wikipedia-Informationen. Aber nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Beschränkung war »der Brockhaus« als »Konversationslexikon« eine Institution, deren Aufgabe über die bloße Bereithaltung beliebig großer Wissensbestände hinausging. Gerade der Zwang zur Auswahl und damit zur Bewertung des Wissens, macht den Rang und den kulturellen Wert eines solchen Lexikons aus. Im »Brockhaus« zu stehen war eine Auszeichnung hohen Ranges; in die Wikipedia kann 38 Von Peter J. Brenner

man sich notfalls selbst hineinschreiben, auch wenn das von den Administratoren nicht gerne gesehen wird. Diese Entkanonisierung des Wissens ist eine der wichtigsten, aber noch nicht richtig wahrgenommenen sozialen und kulturellen Folgen der Netzentwicklung. Es mag richtig sein, dass ein Großteil des Wissens mehr oder weniger schnell veraltet, dass deshalb sein Erwerb oft nicht lohnt, auch wenn sich darüber von Fall zu Fall streiten ließe. Nicht darüber streiten aber lässt sich, dass eine Gesellschaft ohne die kulturellen Bindekräfte eines kanonisierten Wissens aus allen Kulturbereichen vom Zerfall bedroht ist. Wenn die alten Bildungsvorstellungen und Bildungsinhalte sich unter dem Druck der digitalen Kultur verändern, muss das kein Schaden sein, und verhindern lässt es sich ohnehin nicht. Man sollte aber nicht vorschnell als Errungenschaft feiern, was in Wahrheit ein unwiederbringlicher Verlust ist mit weit reichenden Folgen nicht nur für die Hochkultur, sondern auch für das soziale Zusammenleben ist. Über die Richtung dieser Veränderungen und die Akteure, welche die Richtung der neuen digitalen Kulturentwicklung bestimmen, sollte man sich aber schon seine Gedanken machen. Wie also geht es weiter? Ein journalistischer Kommentator bemerkte einmal knapp und treffend, dass in den Wikipedia-Artikeln am Ende der Recht behält, der am meisten Zeit hat; während in anderen Netz-Einrichtungen vielleicht der Recht behält, der am meisten Geld hat und damit seine Treffer ganz oben auf der Liste platzieren kann. Das ist in der Tat richtig: Wissen kostet Zeit und kostet Geld – auch im Internet. Deshalb wird seit Jahrhunderten die Produktion von Wissen in Universitäten und Akademien, die Verbreitung von Wissen in Zeitschriften, Büchern oder Lexika, und schließlich die Archivierung von Wissen in Bibliotheken teuer bezahlt – und zum sehr großen Teil auch staatlich finanziert.

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Der schon erwähnte seinerzeitige Präsident der Bibliothèque nationale de France empfiehlt eine Politik der friedlichen Koexistenz. Er wünscht sich eine Dualität von staatlicher, also öffentlich betriebener und finanzierter Wissenskultur auch in den digitalen Medien auf der einen Seite und privater auf der anderen. Nur so ließe sich die kulturelle Homogenisierung der Welt verhindern und eine Vielfalt der Kulturen erhalten. Deshalb ist es notwendig, dass die Pluralität der alten Infrastruktur des kulturell tradierten Wissens erhalten bleibt: die Bibliotheken, die Museen, die Theater, der Rundfunk haben die wichtige Aufgabe, nicht nur als effiziente Kompetenzmaschinen, sondern als Wissensvermittler zu fungieren. Kommerziell konkurrenzfähig sind sie nicht, deshalb bedürfen sie der Fürsorge des Staates.

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Jochen Hörisch

Nutzen und Effizienz – die Ökonomisierung der Bildung und die Hochschulreform Ökonomie der Aufmerksamkeit Die neuzeitliche Universität erhält durch die Erfindung des Buchdrucks ihre spezifische Dynamik; Humboldts Universitätsreform wäre ohne die vorangegangene Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und die Verbilligung wissenschaftlicher Kommunikation durch ein expandierendes Buch- und Zeitschriftenwesen nicht denkbar; die Universitätsneugründungen um 1968 reagieren auch darauf, dass da eine durch Radiound Fernsehstrahlungen gestählte neue Studenten-Generation nach dem Ende der Gutenberggalaxis in Erscheinung tritt; und der sogenannte Bologna-Reformprozess macht keinen Hehl aus seiner Absicht, die Universität auf das Effizienzniveau des Internets, der Email-Korrespondenz und des E-Learning zu bringen. Nun muss auch ein Bewunderer und Intensivnutzer der Internet-Medien, wie der Autor dieses Textes, erkennen, dass das Verhältnis dieser neuen Medien zur Universität ein eigentümlich schräges ist. Beide passen einfach nicht recht zueinander. Emails Nutzen und Effizienz 41

sind ein fantastisches Medium, um sich schriftlich und dennoch schnell zu verabreden, eine knappe Rückfrage zu schalten oder Banalitäten zu kommunizieren. Emails taugen aber nicht recht zur gründlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Man liest am Bildschirm schlicht weniger aufmerksam als wenn man Papier vor sich hat. Den Monitor-Pixeln eignet eine Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit, die den festen Buchstaben fremd ist. Und klassische Texte, etwa solche aus Philosophen-Federn, nehmen sich, wenn sie auf E-Learning-Plattformen präsentiert werden, systematisch anders aus als in Buchform. Wer auf dem Display Ausschnitte aus Kants »Kritik der reinen Vernunft« liest, kann nicht haptisch merken, ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende des gewichtigen Buches stehen – was zu wissen so unwichtig nicht ist. Welche Inhalte, Argumente und Beispiele in welches Medienformat passen, ist keine drittrangige Frage. Eine Verfilmung der »Kritik der reinen Vernunft« ist wohl nur als mäßiger Witz vorstellbar. Erscheint ihr Text auf einem Monitor, so signalisiert schon dieses Erscheinen, dass anstelle von Buchstaben auch ein Film präsentiert werden könnte. Kurzum: Die Universität hat allen Grund, ihre Medienkontexte und ihre eigene spezifische Medienverfassung zu bedenken. Gerade wegen der wechselnden Medienkontexte muss die Universität wissen, was, um neudeutsch zu formulieren, ihre Kernkompetenz ist. Was kann die Universität bieten, was andere Institutionen (etwa Firmen, Parteien, Agenturen, Beratungsbüros, Medienanstalten, Ausbildungsinstitute) nicht bieten können? Eine Antwort liegt nahe und wird doch selten gegeben: ihre Unzeitgemäßheit, ihren Anachronismus – kurzum: ihr entspanntes und unökonomisches Verhältnis zu den ältesten Medienpraktiken: sprechen, lesen und schreiben. Einem Lehrer in einer Vorlesung wöchentlich 90 Minuten zuzuhören, mit Gleichaltrigen in einem Seminar wöchentlich 90 Minuten konzentriert und gut vorbereitet Texte zu disku42 Jochen Hörisch

tieren und zu erarbeiten – das ist eine heute geradezu exotisch anmutende Praxis. Mit ihr steht oder fällt die Idee der Universität. Bedroht ist diese Idee von der hektischen Ökonomie der Aufmerksamkeit, die mit neuen Medien (deren segensreiche Aspekte unübersehbar sind!) gegeben ist, und mit einer ihr korrespondierenden ökonomischen Leitorientierung.

Die Alma-Mater-Idee Man muss sich die in jedem Wortsinne alte Alma mater in Erinnerung rufen, um die tiefgreifenden Verschiebungen, ja Verwerfungen ermessen zu können, die die durch die Bologna-Reform gekennzeichnete Universität buchstäblich neu aufstellt. In Thomas Manns gleich nach dem zweiten Weltkrieg erschienenen Roman Doktor Faustus erinnert sich der Erzähler Serenus Zeitblom an seine Studienzeit. Seinem ansonsten nüchternen Bericht unterläuft dabei eine bemerkenswert emphatische Formulierung: »Es hatte also seine gute geistige Rechtfertigung, dass ich, nach einem je zweisemestrigen Studium in Jena und Gießen, die Brüste der Alma Mater Hallensis anzunehmen beschloß.« (119) Und es folgt aus der Feder Thomas Manns, der bekanntlich vor dem Abitur das Gymnasium verlassen hatte, den aber in jungen Jahren keiner hinderte, Vorlesungen an der Universität München zu besuchen, eine Huldigung eben nicht der Hochschule und auch nicht der Universität, sondern der Alma mater, die ihrem Übernamen, eine großzügig nährende Mutter jenseits aller Ökonomie zu sein, alle Ehre macht. Die Alma mater gestattet ihren Kindern ein anarchisches Studium, in dem sich gerade deshalb umso signifikantere Regelmuster und Erkenntnisgewinne ausbilden. Alle studieren umwegreich, mäandernd, die Studienorte, die Fächer, die Lehrer wechselnd. Nutzen und Effizienz 43

»Methode ist Umweg«, heißt es lakonisch bei Walter Benjamin.1 Er hat nicht nur in philologischer Hinsicht recht. Das griechische Wort ҄ƣфư meint den Weg, das vorangestellte Präfix ›Met‹ den Meta-Weg, den Überweg, den Umweg, der Distanz zur Sache und eben deshalb überraschende Einsichten ermöglicht. Das Loblied, das auf das studentische Leben hundert Jahre nach den Humboldtschen Reformen von 1810 im Doktor FaustusRoman erklingt, ist wert, in Zeiten der sogenannten BolognaReform in Erinnerung gebracht zu werden: »Die akademische Freiheit läßt der persönlichen Vorliebe viel Spielraum, und von der Lizenz, die Reihenfolge auch einmal umzuwerfen, machte Adrian Gebrauch, indem er sich von Anfang an auf die theologische Systematik warf, – aus allgemein geistigem Interesse gewiß, das in diesem Fache am meisten auf seine Rechnung kommt, dann aber auch, weil der Systematik lesende Professor, Ehrenfried Kumpf, der saftigste Sprecher an der ganzen Hochschule war und überhaupt den größten Zulauf von Studenten aller Jahrgänge, auch von nicht-theologischen, hatte.« (129 sq.). Schnell wird deutlich, dass Adrian Theologie studiert nicht etwa, weil er Pfarrer oder Superintendent werden will, sondern weil er die Theologie als die paradoxiesensibelste aller Disziplinen versteht – ein ebenso umwegreiches wie produktives Studium, das seinen Kompositionen unerhörte intellektuelle und ästhetische Reize verleihen wird. Und er sucht sich akademische Lehrer, die in der Lage sind, ihn gründlich zu irritieren anstatt das Studium als schnell zu absolvierende und möglichst irritationsfreie Phase misszuverstehen. So klar kann sich konturieren, was Bildung von Ausbildung unterscheidet. Die Wendung von den »Brüsten der Alma mater«, die ihren systematisch dissidenten Adepten die Milch der frommen wie

1

Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels; Gesammelte Werke I/1, ed. Tiedemann/Schweppenhäuser. Ffm 1974, p. 208.

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der unfrommen Denkungsart dies- und jenseits aller direkt funktionalen und ökonomischen Bezüge schenkt, findet sich in der Literatur, die um 1900 spielt oder entstanden ist, häufig. Die beliebte und verbreitete Wendung von den »Brüsten der Alma mater« meint erst einmal schlicht dies, dass eine Mutter die Milch, mit der sie ihre Kinder nährt, nicht in Rechnung stellt. Was nicht aus-, sondern einschließt, dass sie begründete Hoffnung darauf hegt, ihre Gabe könne eine großzügige Gegengabe provozieren. Das ökonomische Modell der Alma mater ist nicht das der Äquivalenz, des marktgerechten Preises und des returns of investment, sondern das des Potlatches, der festlichen Verausgabung, des schönen Überflusses jenseits aller Nowendigkeit. Die Alma mater als nährende Mutter, die ihren Kindern nach der Schulzeit und vor dem Erwerbsleben eine produktive Auszeit, ein Moratorium, einen Umweg, eine Vakanz, eine unerhörte Freiheit gewährt – das Bild ist nicht erst heute zu schön, um ganz wahr zu sein.2 Walter Benjamin hat in seinem 1914 entstandenen Essay Das Leben der Studenten das Verhältnis zwischen Ökonomie und Universität bündig auf den Punkt gebracht: »Der Beruf folgt so wenig aus der Wissenschaft, dass sie ihn sogar ausschließen kann. Denn die Wissenschaft duldet ihrem Wesen nach keine Lösung von sich, sie verpflichtet den Forschenden, in gewisser Weise immer als Lehrer, niemals zu den staatlichen Berufsformen des Arztes, Juristen, Hochschullehrers. Es führt zu nichts Gutem, wenn Institute, wo Titel, Berechtigungen, Lebens- und Berufsmöglichkeiten erworben werden dürfen, sich Stätten der Wissenschaft nennen.«3

2 3

Vgl. Jochen Hörisch: Die ungeliebte Universität – Rettet die Alma mater! München 2006 Walter Benjamin: das Leben der Studenten; in: Gesammelte Schriften Bd. II/1, ed. Tiedemann/Schweppenhäuser. Ffm 1977, p. 76

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Das sind Klänge, die sich heute, knapp hundert Jahre später und zweihundert Jahre nach den Humboldtschen Universitätsreformen, unzeitgemäß romantisch, ja bizarr ausnehmen. Dabei war die viel belächelte Rhetorik, die die Freiheit von Forschung und Lehre diesseits aller ökonomisch-pragmatischen Zwänge feierte, immer auch von einem wissenden, ja initiierten Augenzwinkern begleitet. Denn es war offensichtlich und eben deshalb nicht öffentlich ausstellungsbedürftig, dass sich die Großzügigkeit der Alma mater gerade in ihrer Humboldtschen Ausprägung rechnete. Sie produzierte verlässlich Juristen, Lehrer, Mediziner und Beamte; sie stimulierte technische Innovationen zuhauf, gerade weil sie eine vermeintlich nutzenfreie Grundlagenforschung ermöglichte.

Gefährliche Effizienzoptimierung Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist es verwunderlich, dass die Bologna-Reform offensiv im Zeichen einer ökonomischen Effizienz-Optimierung der Universität antrat. Angeregt und propagandistisch professionell vorangebracht wurde sie in Deutschland durch eine privatwirtschaftliche Initiative, genauer: durch das 1994 auf Initiative und mit Geldern der Bertelsmann-Stiftung gegründete CHE, das Centrum für Hochschulentwicklung, dessen langjähriger Direktor Detlef Müller-Böling die Wendung von der »entfesselten Hochschule« lancierte.4 Das Manifest hat den Vorteil, aus seinen Intentionen kein Hehl zu machen. Wer die Bologna-Reform mittrug oder auch nur akzeptierte, kann kaum behaupten, nicht gewusst zu haben, worauf er sich einließ. Als entfesselt gilt Müller-Böling und den Köpfen des CHE nicht etwa eine Alma mater, die von ökomischen Fesseln 4

Detlef Müller-Böling: Die entfesselte Hochschule. Bielefeld 2000.

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und Gängelbändern möglichst unabhängig ist, sondern eine Hochschule, die sich an der Logik des neoliberal entfesselten Marktes orientiert. Und das ist ganz unmetaphorisch gemeint. Die Leitidee einer ökonomischen Neuausrichtung der Universität wurde sehr handfest umgesetzt. Das lässt sich in allen Hinsichten schnell belegen. Time is money – diesem Grundsatz folgend, wurde Studienzeitverkürzung zur Hauptmaxime. In sechs Semestern soll ein Bachelor-Student sein Studium hinter sich haben, um dem Arbeitsmarkt jung zur Verfügung zu stehen. Aus der schönsten Zeit des Lebens voll intellektueller (und anderer!) Abenteuer wird unter dem Druck der drei großen Fetisch-E-s: Effizienz, Exzellenz, Evaluierung eine Lebensphase, die Studierende so schnell wie möglich hinter sich bringen sollen – und in aller Regel auch wollen. Denn die Universität ist nach der Bologna-Reform eher stärker reglementiert als das Gymnasium. An die Stelle von Bildung tritt eine marktkonforme Ausbildung. Universitäten gelten als »gut aufgestellt« – eine ebenso gräuliche wie verbreitete Wendung –, wenn sie irritationsfreie Studiengänge anbieten, die als arbeitsmarktkonform gelten. Es gehört zu den selbst von ihren Verfechtern kaum bestreitbaren Mängeln der Reform, dass genau dies nicht der Fall ist: Die klassischen Abschlüsse für Juristen, Lehrer und Ingenieure, das Staatsexamen und das Diplom, haben ein deutliches höheres Prestige und bieten bessere Einkommen als die neuen, am Markt kaum akzeptierten Bachelor-Abschlüsse. Für dieses Studium, das eine bloße Fortsetzung des Schulunterrichts ist, müssen Studierende Gebühren zahlen. Die Universität, die keine mehr ist, stellt von einer mütterlichen Gaben-Ökonomie auf eine nicht einmal väterliche, sondern institutionelle Geld-Ökonomie um. Wer keine Angst vor psychologischen Spekulationen hat, kann den Umstand, dass die Studiengebühren pro Semester mit ca. fünfhundert Euro vergleichsweise gering sind, als Ausdruck einer zwar verdrucksten, aber nicht unanNutzen und Effizienz 47

gemessenen Selbsteinschätzung werten: Mehr ist ein Semester Studium an der reformierten Hochschule auch nicht wert. Die Studiengebühren haben aber zweifellos Signalwert. Sie geben den Studierenden das Gefühl, Anrecht auf Dienstleistungen wie schnelle Beantwortung von Emails durch die Dozenten und dergleichen erworben zu haben. Gebühren zahlende Studierende treffen dabei heute auf Dozenten, die eklatant weniger verdienen als ihre Vorgängergeneration. Es gibt keinen zweiten Berufsstand, weder im öffentlichen Dienst noch in der sogenannten freien Wirtschaft, dessen Besoldung so zurückgefahren wurde wie der der deutschen Professoren. Die Umstellung der Bezüge eines Lehrstuhlinhabers von der sogenannten C- auf die W-Besoldung heißt im Klartext, dass der Ordinarius bzw. die Ordinaria ca. zweitausend Euro pro Monat weniger verdient als zuvor. Auch hier ist das Signal gerade für diejenigen deutlich, die ökonomisch denken und die Universität nach ökonomischen Logiken ausrichten wollen – einer Gesellschaft, die Anerkennung vor allem über Geldzahlungen organisiert, ist Lehre und Forschung heute deutlich weniger, um ökonomisch zu formulieren: ca. 30 Prozent weniger wert als noch vor zehn Jahren. Wie es sich für eine entfesselte Ökonomie gehört, sind die Professoren-Bezüge durch freie Vertragsverhandlungen zu verbessern. Auch bei der Bemessung möglicher Besoldungszulagen herrscht allerdings eine geradezu rührende Ökonomiegläubigkeit. Das ausschlaggebende Kriterium für Zulagen wie für weitere Rufe, die zu Gehaltssteigerungen führen können, ist nämlich, dass man Geld alias Drittmittel einwirbt. Man muss sich diesen Paradigmenwechsel so deutlich wie möglich machen. Über das, um neudeutsch zu formulieren, standing eines Professors entscheidet nicht mehr so sehr das Prestige seiner Publikationen oder seine Faszinationskraft für Studierende (die ja angesichts verschulter Studienordnungen voller Pflichtver48 Jochen Hörisch

anstaltungen auch kaum mehr die Möglichkeit haben, sich frei ihre Lehrer auszuwählen), sondern seine Fähigkeit, Drittmittelgelder einzuwerben. Das neue Leitbild des Professors ist nicht das des Gelehrten, des besessenen Forschers, des charismatischen Lehrers oder des anregend irritierenden Intellektuellen (um vom Künstlerprofessor zu schweigen), sondern das des erfolgreichen Wissenschaftsmanagers, der bereit ist, möglichst viele, wie es so schön heißt, »Funktionsstellen« zu bekleiden und Gelder einzuwerben. So verwundert es nicht, wie die neue Reputationsordnung zustande kommt – selbstrefenziell wie auf den krisengeschüttelten Finanzmärkten. Über Wohl und Wehe, über Ansehen und Prestige, über Drittmitteltauglichkeit und Zuspruch entscheidet das Hochschulranking. Am meisten Einfluss genießt dabei, wen wundert’s, das Ranking des CHE, das die eben evozierten Entwicklungen initiiert, ja entfesselt hat. Dass das Uni-Ranking des CHE ökonomisch ausgerichtet ist, darf deshalb nicht überraschen. Über den Platz im Ranking entscheidet nicht zuletzt die Höhe der Einwerbung von Drittmittelgeldern. Orientiert ist die Idee des Uni-Rankings an den Rating-Agenturen auf den Finanzmärkten.5 Finanzmarkt-Agenturen wie Standard & Poor’s, Moody und Fitch vergeben bekanntlich Noten, die die Bonität von Schuldnern erkennen lassen sollen. Nun spricht vieles dafür, dass die Universitäts-Rankings so verlässlich sind wie die Ratings für Staatsschulden und Banken. Lehman Brothers erhielt zwei Wochen vor dem Bankrott noch Noten aus dem Topbereich Triple-A. Die Rating-Agenturen haben sich in den letzten Jahren geradezu systematisch blamiert; dem Uni-Ranking steht eine ähnliche Blamage noch bevor. Denn es hat sich herumgesprochen, dass Universitäten ihre Zahlen nicht

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Alfred Kieser: Akademische Rankings – Die Tonnenideologie der Forschung; in: FAZ vom 17.6.2010

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weniger schönen als Banken ihre Bilanzen und Bonitäten. Sie machen daraus ja auch rhetorisch keinen Hehl: »Wir sind gut aufgestellt« lautet ihr Mantra, das fatal an Potemkinsche Dörfer erinnert. Nein, die Universitäten sind eben nicht gut aufgestellt, vielmehr orientieren sie sich an einem für sie untauglichen Paradigma. Es gehört zu den schreienden, kaum zu ertragenden, weil unproduktiven Paradoxien der Bologna-Reform, dass sich die Universität an Unternehmenskulturen genau in der Zeit orientiert, in der sich erfolgreiche Unternehmen an der Universität, wohlgemerkt an der klassischen Universität, an der Alma mater orientieren.6 Gerade innovative, kreative und dynamische Unternehmen etwa aus der Computer-, Software oder Medienbranche sind intern universitätsförmig organisiert; sie kennen geringe Hierarchien, voneinander unabhängige Abteilungen, Verpflichtungen zu interdisziplinären Analysen und starke Akzeptanz auch gegenüber unangenehmen Wahrheiten. Dass wir in einer Wissens- und Informationsgesellschaft leben, ist mittlerweile eine fast schon triviale Feststellung. Dass diese Gesellschaft universitätsaffin ist, also gute Gründe hätte, die Universität eine unbedingte Universität sein zu lassen, kommt den Bologna-Reformern aber nicht in den Sinn. Sie suchen das Heil ausgerechnet in Zeiten, da die Krise neoliberaler, entfesselter Ökonomie- und Managermodelle offensichtlich ist, in eben diesen ökonomischen Modellen. Boni erhalten nicht nur in der Finanz-, sondern auch in der Uni-Sphäre häufig die Falschen, nämlich diejenigen, die nicht erkennen, dass ihr Lösungsvorschlag das Problem und eben nicht die Lösung ist. Die meisten deutschen Universitäten haben mittlerweile einen Universitätsrat eingerichtet, der den Aufsichtsräten von Unterneh-

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Vgl. dazu die instruktive Studie von Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung – Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006

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men nachempfunden ist – und häufig ähnlich problematische Entscheidungen trifft wie diese. Zu den gravierendsten Folgen der Bologna-Reform gehört die völlig veränderte Ökonomie der Aufmerksamkeit, der sich die heutige Universität verschrieben hat. Aufmerksamkeit, gerade auch mediale Aufmerksamkeit erhalten Universitäten nicht mehr dann, wenn einer ihrer Professoren Bemerkenswertes, womöglich noch über enge Fachgrenzen hinaus Rezipiertes vorgelegt hat, wenn ein frisch habilitierter Privatdozent an einer peripheren Universität eine grundstürzende Untersuchung vorgelegt hat, wenn Studenten die Universität wechseln, weil sich herumgesprochen hat, dass hier oder dort in der akademischen Lehre unerhörte Anregungen zu erwarten sind. Aufmerksamkeit erhält heute eine Universität, weil sie im CHE-Ranking um zwei Plätze aufgestiegen ist, weil sie in der Exzellenz-Initiative erfolgreich war und zig-Millionen Euro eingeworben hat, oder weil es in einem Promotionskolleg zwanzig einigermaßen gut dotierte Doktorandenstellen gibt. Allgemein gilt, dass Aufmerksamkeit für Kennziffern an die Stelle der Aufmerksamkeit für einzelne konkrete Forschungsergebnisse getreten ist. Berufungsverfahren haben deshalb heute häufig einen geradezu gespenstischen Charakter. Man einigt sich dann auf ein Punktesystem nach dem Schema ›eine Publikation in einem englischsprachigen Peer-review-Journal der Kategorie A zählt mit 10 Punkten‹ bis hinab zu ›eine Buchpublikation ist heute unzeitgemäß, also nur 1 Punkt‹, rechnet das Resultat zusammen und fertig ist die Berufungsliste. Wenn im A-Journal gerade ein Dutzend nachweislich falsch argumentierender Publikationen erschienen sind, die etwa die besondere Effizienz und Transparenz der Finanzmärkte darlegten, so tut das nichts zur Sache: A-Journal ist A-Journal, keine inhaltlichen Diskussionen bitte, Punkte zählen.

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Die E-Universität Eine veränderte Ökonomie der Aufmerksamkeit hat sich, wen wundert’s, auch bei den Studierenden durchgesetzt. Ihr Interesse an der Sache steht, wenn überhaupt vorhanden, notgedrungen im Hintergrund und im Schatten von Arbeitsmarkterwartungen. Man bzw. frau absolviert Studienmodule und sammelt ECTS-Punkte. Kein Wunder, dass Studierende nach der Vorlesung auf die Frage des Dozenten nach Diskussionsbedarf nicht mehr inhaltlich nachfragen, sondern geradezu systematisch die Frage erklingt, welche Ausführungen denn klausurrelevant seien und ob die Vorlesung auch ins Netz gestellt werde. Der Universität kommt durch die Ökonomisierung ihre Kernkompetenz abhanden: nämlich die Aufmerksamkeit auch für das, was umwegig, ja abwegig scheinen mag und was sich dennoch oder eben deshalb als die überlegene Theorie herausstellen könnte. Die Dreifach-E-Universität, die evaluierte, exzellente und effiziente Universität hat die Leitidee der Alma mater aufgegeben. Geradezu grotesk deutlich wird das im sogenannten Akkreditierungsverfahren, das z. Z. viele Universitäten überrollt. Akkreditierung heißt, dass die neuen in jeder Weise ökonomisch ausgerichteten Studiengänge von Büros beglaubigt werden, die halbprivat sind, dafür bezahlt werden und auch sonst dem Geist bzw. Ungeist der Rating-Agenturen verschrieben sind. Universitätsreformen können keine anderen als diese beiden Ziele haben: die Lehre und die Forschung zu verbessern. Andere Motive mögen mitlaufen, wenn heftig reformiert, evaluiert, neustrukturiert, kontrolliert und akkreditiert wird, aber sie lassen sich kaum öffentlich kommunizieren – Motive wie die: Macht, Einfluss und Zulagen zu gewinnen, Kollegen ärgern zu wollen, das eigene Teilfach zum Zentrum aller neuen Studienordnungen zu machen oder einen guten Grund dafür angeben zu können, dass man in Lehre und Forschung wenig produktiv 52 Jochen Hörisch

ist. Vor dem Hintergrund dieser schlichten Einsicht sind einige Fragen an die Befürworter der Akkreditierung neuer Studiengänge kaum zu vermeiden. Die Akkreditierung der neuen Studiengänge bindet in einer notorisch überlasteten Universität ungeheure Ressourcen an Zeit, Energie und Geld. Drei Tage lang dauert allein der Akkreditierungsprozess, an dem Dutzende von Kollegen beteiligt sind, die im Falle von Terminkonflikten ausdrücklich aufgefordert werden, ihre Lehrveranstaltungen ausfallen zu lassen. Inklusive Vor- und Nachbereitung ergibt sich ein immenser Zeit- und Arbeitsaufwand. Die Ausarbeitung der Studiengänge und ihre Präsentation für den Akkreditierungsprozess (die immer auf die Ritual-Formel hinausläuft »Wir sind gut aufgestellt«) bemisst sich nicht nach Tagen, sondern nach Semestern und Jahren. Wäre diese Energie nicht produktiver einzusetzen, wenn sie direkt der Lehre (etwa den Gesprächen mit Studierenden und Doktoranden, der Vorbereitung von Lehrveranstaltungen etc.) bzw. der Forschung zugute käme? Die direkten Kosten (selbstredend ohne den Anteil an den Gehältern aller Beteiligten) nur für den Akkreditierungsprozess betragen ca. 15.000 Euro pro akkreditierten Studiengang plus erhebliche Spesen. Wäre dieser Betrag nicht besser zu nutzen – etwa für Lehraufträge oder Stipendien? Die zu akkreditierenden Bachelor- und Master-Studiengänge sind offenbar ernst gemeint. Gilt das auch für Feststellungen bzw. Vorschriften wie die, ein Bachelor-Student habe 17 Prozent seiner Zeit für das Studium seines Beifaches und 7 Prozent seiner Zeit für »social skills« einzusetzen? Wie sollen Dozenten, wenn sie die Akkreditierungsprosa ernst nehmen wollen, mit Studierenden umgehen, die sich auf einmal für einen Aspekt ihres Beifaches begeistern und statt 17 Prozent ihrer Studienzeit für das BeifachStudium 31 Prozent in Wittgenstein-Lektüre investieren? Aus dem Leitbild eines Studenten, denen man freie Entscheidungen über die Wahl des Faches, der Lehrer und des Studienorts zuNutzen und Effizienz 53

mutet, ist das Leitbild von Studierenden getreten, die zwangsneurotisch ECTS-Punkte sammeln und vorgeschriebene Module absolvieren. Aus der schönsten und produktivsten Zeit des Lebens ist eine Zwangsetappe geworden, die viele schnell hinter sich bringen sollen und – wollen. Schweigen wir zur Frage, wer die Akkrediteure akkreditiert und ob es da mit rechten Dingen und juristisch korrekt zugeht. Im Jahre 200 nach der Humboldtschen Universitätsreform beglaubigt der Akkreditierungsprozess nur eines: dass die europäische Universität sich selbst nicht mehr ernstnimmt und nicht mehr an die Freiheit von Forschung und Lehre glaubt.

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Lasst das Powerpointen einfach sein! Eine sachliche Polemik Licht aus, Klick an! Irgendwann Mitte der 1970er Jahre: Die junge Referendarin Sabine bereitet sich auf ihre Lehrprobe im Fach Biologie vor. Das Thema lautet: der Vergleich des Skeletts bei Amphibien, Vögeln, Säugetieren und Menschen. Als die Schüler langsam den Hörsaal betreten, ist sie noch damit beschäftigt, die Lage der Dias in ihrem Kasten ein wiederholtes Mal zu prüfen. Es gibt immerhin acht verschiedene Arten, ein Dia in den Kasten zu stecken; und nur eine davon ist die richtige. Nicht auszudenken, wie peinlich es wäre, ausgerechnet jetzt ein kopfstehendes Skelett zu präsentieren. Endlich beginnt die Stunde, das Licht geht aus, dafür erscheint, von einigen Ahs! begleitet, ein Amphibienskelett an der Wand. Dann ein kleiner Knall, Dunkelheit, Kichern. Niemand kann sehen, wie Sabine erbleicht. Sie weiß nicht, was tun. Sie weiß nicht einmal, wohin gehen, die Dunkelheit ist perfekt. Dann ein Rumoren, ein sonores »Lass mich mal!«, und wenige Sekunden später leuchtet der skelettierte Frosch wieder über dem Pult. Sabine entscheidet sich dafür, so zu tun, als sei Lasst das Powerpointen einfach sein! 55

nichts gewesen. Eine richtige Entscheidung; denn nachdem die Skelette verglichen sind, bekommt sie vom Prüfer eine gute Note. Sie will schon aufatmen, da grinst der Mann sie an: Außerdem habe sie ja jetzt gelernt, was die wichtigste Vorbereitung auf eine solche Stunde sei. Sabine will einen Leitsatz aus dem Lehrerseminar anbringen, aber der Prüfer winkt ab. Aus seiner Hosentasche zieht er einen kleinen gläsernen Gegenstand. Er hält ihn hoch. »Das Wichtigste«, sagt er, »ist die Ersatzbirne für den Projektor.« Zeitsprung. Etwa fünfunddreißig Jahre sind vergangen. Sabine ist längst Oberstudienrätin und steht kurz vor ihrer Pensionierung. In den letzten Jahren hat man ihr zunehmend junge Referendare anvertraut; schließlich soll ihre Erfahrung nicht mit ihr zusammen aus dem Schulbetrieb verschwinden. Wenn jetzt die Lehrproben anstehen, hat sie allerdings keine Ersatzglühbirne dabei. Irgendwann wurden die klobigen Diaprojektoren von den Overhead-Projektoren verdrängt, aber das war nur ein Zwischenspiel auf dem Weg zur totalen Digitalisierung, die mittlerweile auch in den Schulen angekommen ist. Wenn jetzt ein Skelett oder was auch immer gezeigt werden soll, koppelt man Laptop und Beamer. Licht aus! Klick an! So haben sich die Zeiten geändert. Haben sie sich auch verbessert? Sabine wiegt den Kopf. Ja und nein. Nein, weil die moderne Technik ungleich komplexer und komplizierter geworden ist. Ihr selbst geschieht es immer wieder, dass sie einen der Schüler bitten muss, ihr bei der Aktivierung des digitalen Unterrichtsmaterials behilflich zu sein. Ziemlich peinlich, so etwas! Andererseits aber ja; und zwar ein kräftiges Ja. Für den Lehrer steht heute praktisch der gesamte Kosmos des Wissens bereit, um ihn in irgendeiner unterrichtstauglichen Art und Weise vor Schülern zu präsentieren, als Text, als stilles oder als bewegtes Bild. Die verstaubten Materialienschränke sind auf dem Müll gelandet. Was man heute braucht, um den Unterricht lebendig 56 Burkhard Spinnen

und anschaulich zu gestalten, ist immer nur einen Klick entfernt. Nein, sagt Sabine sehr entschieden, das ist ein Fortschritt, da beißt die Maus keinen Faden ab. Nach dem Zeitsprung nun ein räumlicher Sprung. Sabines Sohn ist knapp Dreißig und ein vielversprechender Nachwuchsmanager. Nach einem Studium der Betriebswirtschaft sowie mehreren Betriebspraktika ist er nun Assistent der Geschäftsführung in der deutschen Niederlassung eines international agierenden Chemiekonzerns. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Eduard, oder Eddi, wie ihn seine Freunde rufen. Eddi ist ein Digital Native, das heißt, er ist seit seiner Kindheit vertraut mit der modernen Kommunikationstechnik. Mit vierzehn bekam er seinen ersten eigenen PC, und sein Studium hat er mit einer Laptoptasche über der Schulter verbracht. Jederzeit online gehen zu können, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ja, sowohl im Beruf als auch im Privatleben tut er praktisch keinen Schritt, der nicht medial begleitet wird; sei es, dass er an Internetkonferenzen mit der Firmenzentrale teilnimmt, sei es, dass er mitten aus einem Gespräch heraus das Kinoprogramm checkt oder einen Restaurantplatz reserviert. Lernt er jemanden kennen, dann googelt er ihn erstmal. Und natürlich ist Eddi auch mit ungezählten Powerpoint Präsentationen groß geworden. Er kennt das nicht anders: Wann immer jemand kommt, der etwas zu sagen hat, oder wann immer er selbst etwas vermitteln soll, dann beginnt dieser Akt mit der Suche nach einem USB-Anschluss, dem man das zu Hause oder im Büro Vorbereitete anvertrauen kann, damit es hell und weithin sichtbar an der Wand erscheinen kann. Für Eddi ist das die natürliche Art und Weise gehobener Kommunikation im 21. Jahrhundert. Seine erste Powerpoint Präsentation hat er in der Oberstufe konzipiert; und wie stolz war er, als er sie vorführte: Endlich war er in der Lage, so aufzutreten, wie man heute auftritt, wenn man etwas zu sagen hat. Lasst das Powerpointen einfach sein! 57

Natürlich, würde Eddi auf Nachfrage sagen, sind nicht alle Powerpoint Präsentationen gleichermaßen gelungen, es gibt bessere und schlechtere, so wie es überall Besseres und Schlechteres gibt. Aber Powerpoint ist einfach State of the Art; und letztlich sorgt das Programm schon selbst dafür, dass ein gewisses Niveau gewährleistet ist. Eddi empfindet Powerpoint als unhintergehbaren Standard. Hier kann er sich sicher sein, das vorher Erarbeitete bestmöglich zu präsentieren, hier kann er seine Arbeit buchstäblich zum Leuchten bringen: Grafiken und Bilder leisten, zumal in der projizierten Größe, eine ganz andere Überzeugungsarbeit; Kernsätze bleiben eine Zeitlang lesbar und können sich sehr gut einprägen. Ja, und was sollen wir unserem Eddi jetzt wünschen? Dass er bis ans Ende seiner hoffentlich erfolgreichen Tage im Beruf weiter fröhlich pfeifend mit seinem Laptop den jeweils nächsten Konferenz- oder Vortragssaal betrete, um dort zu tun, was alle tun und was alle gut so finden oder einfach gar nicht mehr als etwas wahrnehmen, zu dem es auch Alternativen gäbe? Vielleicht werden Eddi und seine Geschäftspartner ja glücklich und erfolgreich, indem sie per digitaler Diaschau miteinander kommunizieren. Und vielleicht wird Eddi nach langen und erfüllten Jahren als digitaler Rentner sogar vor seinem Schöpfer stehen, mit einem USB-Stick in der Hand und in der sicheren Überzeugung, man werde ihm jetzt den himmlischen Datenport zeigen, über den er sein irdisches Leben mit Powerpoint präsentieren kann. Oder soll man Eddi, der ja noch jung genug ist, um etwas lernen zu können, vielmehr von Herzen wünschen, dass ihm einmal jemand die Augen öffne für den gefährlichen Blödsinn, an dem er und ein paar Hundert Millionen anderer Zeitgenossen jeden Tag teilnehmen und den sie mittlerweile zu einem allerdings bejammernswerten Standard unserer momentanen Kommunikationskultur gemacht haben? 58 Burkhard Spinnen

Ich entscheide mich heute einmal gegen das bewusstlose Glück und für die vielleicht schmerzliche Aufklärung. Also, lieber Eddi, gib’ fein Acht, ich hab’ dir etwas mitgebracht. Und zwar: Drei Gründe dafür, dass man besser heute als morgen der gängigen Praxis des Powerpointens ein Ende machen sollte.

Ein Programm formatiert das Denken und Reden Im Jahr 2007 hat ein Fachmann geschätzt, dass jedes Jahr weltweit 35 Millionen Präsentationen mit vielen Milliarden von Einzelseiten erstellt werden. Womöglich hat sich diese Zahl bis heute vervielfacht; Powerpoint ist auf Millionen von Rechnern installiert. Das heißt, bevor heute jemand überhaupt dazu kommt, darüber nachzudenken, wie er anderen Leuten etwas mitteilen will, ist dieses Programm schon da, erklärt sich zuständig und diktiert seine Gesetze. Nun höre ich Einwände. Das Programm verfügt doch über ungezählte Möglichkeiten der Materialaufbereitung, unter denen man frei wählen kann. Der Kreativität sind, wie es immer so schön heißt, keine Grenzen gesetzt. Praktisch alles ist möglich. Die Buchstaben können wie ein Vogelschwarm herbeifliegen und sich auf die Zeilen wie auf unsichtbare Oberleitungen setzen. Filme können eingespielt werden, Klänge natürlich auch. Beim Powerpointen ist jeder der Designer, Bühnenbildner und Regisseur seines Materials. Powerpoint ist nur ein Instrument; wer es nicht beherrscht, produziert eben schiefe Töne und ist selber schuld. Ein Virtuose aber wird damit sein Publikum bezaubern. Ja, das alles ist richtig. Die große Verschwörungstheorie, wonach Microsoft über sein Programm Powerpoint das globale Denken einer Gehirnwäsche unterziehe, indem es ihm geheime Strukturen implantiere – sie ist eben nur eine VerschwörungsLasst das Powerpointen einfach sein! 59

theorie. Und es stimmt: Jede Powerpoint Präsentation ist so gut wie ihr Schöpfer. Hier liegt nicht das Problem. Es liegt vielmehr darin, dass die Allgegenwart des Powerpointens nach und nach die Vorstellung getötet hat, es könnte zu dieser Präsentationsweise überhaupt noch Alternativen geben. Die Formatierung des Denkens und Redens erfolgt nicht durch geheime Features des Programms, sondern – und ungleich stärker – über die fraglose Ineinssetzung von Kommunikationsakt und Programmgebrauch. Bald herrscht die Gleichung: Ich will etwas sagen – also werde ich powerpointen. Genau darin aber liegt ein Gutteil der Katastrophe Powerpoint: dass dieses Programm eine technische Möglichkeit zum Standard, eine Variante zur Regel erhoben hat. Gegen den Aufbau und die Angebote des Programms ist vielleicht wenig einzuwenden, alles ist ja irgendwie nützlich oder kann es wenigstens sein. Aber jede der Abertausend Powerpoint Präsentationen, die stündlich weltweit durchgeführt werden, ist ein Fall mehr, in dem jemand, statt einen kommunikativen Akt selbst zu gestalten, sich auf eine Maschine und ein Programm verlässt. Und was ich fürchte, ist dies: So wie unsere Beine verkümmern würden, nähmen wir für absolut jede Bewegung außer Haus das Auto, so könnte auch unsere natürliche kommunikative Kompetenz absterben, wenn wir das Powerpointen als alternativlos begreifen – und damit im Grunde gar nicht mehr begreifen, sondern als undiskutierbare Selbstverständlichkeit auffassen. Die ungeheure Vielzahl von Darstellungs- und Aussagemöglichkeiten reduziert sich zunehmend auf einen Standard, mit dem Resultat – aber dazu werde ich später noch etwas sagen.

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Powerpoint verführt zur Kopie Im Verlauf des letzten Jahres haben zwei Plagiatsfälle von sich reden gemacht. Der jungen Autorin Helene Hegemann wurde vorgeworfen, sie habe in ihrem Roman »Axolotl Roadkill« Passagen aus anderen Werken ungekennzeichnet übernommen. Später geriet der Verteidigungsminister zu Guttenberg in arge Schwierigkeiten, da an seiner Doktorarbeit ein inkorrekter Umgang mit Quellen bemängelt wurde. Das sind zwei spektakuläre Fälle, die die Öffentlichkeit aufgeschreckt haben. Sie lassen überdies ahnen, dass und wie sich im Zeitalter der digitalen Informationsmedien das Bewusstsein vom richtigen oder erlaubten Umgang mit dem geistigen Eigentum anderer verändert hat. Um es kurz und pointiert zu sagen: Die Verfügbarkeit gewaltiger Mengen von Texten und Bildern im Internet legt es einfach nahe, die Zugriffsmöglichkeit auf dieses Material mit dem Recht an seiner Verwertung zu verwechseln. Texte und Bilder, die im Netz erscheinen, wirken insbesondere auf jüngere Menschen so, als könnte man frei über sie verfügen. Man hat mit dem Preis für die Internet-Flatrate quasi allen Content des Netzes »gekauft«; individuelle Rechteinhaber werden in der Informationsflut des Netzes nicht mehr ausgemacht, geschweige denn gesucht. Dem altmodischen Buch war noch anzusehen, dass es das geistige und ökonomische Produkt einiger weniger war. Die Namen von Autor und Verlag standen unübersehbar auf der ersten Seite. Ein Buch musste man oft genug kaufen, um es überhaupt lesen zu können; es war eingebunden in ein System, das auf dem konventionellen Eigentumsbegriff basierte. Netzinhalte aber haben nichts Gegenständliches mehr, digitale Datenmengen kann man nicht sehen, schmecken, riechen; ihr Aufenthalt auf der eigenen Festplatte fühlt sich nicht wirklich wie ein Besitz an. Und so kommt es zu dem Schluss, dass man etwas, das man nicht richtig besitzen kann, auf keinen Fall bezahlen muss. Lasst das Powerpointen einfach sein! 61

Nun stimmt das natürlich nicht! Ein widerrechtlich heruntergeladenes Foto ist und bleibt ein gestohlenes Foto. Aber mit dem falschen Bewusstsein von der Freiheit aller Netzinhalte haben unlängst die Freunde der Popmusik durch millionenfach unerlaubten Download immerhin die Musikindustrie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Man spricht, und nicht zu Unrecht, bereits von einer »Copy & Paste«-Generation. Wenn der Schüler im Biologie-Unterricht der 1970er Jahre das Nebeneinander verschiedener Skelettformen in seiner Hausarbeit dokumentieren wollte, war er vielleicht sogar gezwungen, mit der Hand von Vorlagen abzumalen oder durchzupausen. Heute zieht er entsprechende Darstellungen samt einer Unmenge zugehöriger Texte mit ein paar Klicks aus dem Netz und kompiliert daraus sein Referat. Das mag ja sogar noch erlaubt oder immerhin im Sinne eines anschaulichen Lernens geduldet sein – doch schleichend zerstören solche Verfahren das Bewusstsein der Digital Natives für geistige Eigentumsverhältnisse. Und in diesem Prozess hat das Powerpointen eine enorm starke katalysatorische Funktion! Denn indem das Programm förmlich danach schreit, mehr und mehr digitalen Content aufnehmen zu können, befördert es die unkritische »Copy & Paste«-Mentalität. Powerpoint kreiert einen digitalen »Horror vacui«. Überlebensgroß an die Wand gebeamt, ist die halb leere weiße Seite noch viel leerer als ihre kleine papierene Schwester. Der Wunsch, alles noch bunter, noch üppiger, noch belebter zu machen, verführt den Powerpointer zu einer permanenten Einkaufsreise durch die Weiten des Netzes, bei der freilich der Einkaufskorb immer voller wird, während das Portemonnaie geschlossen bleibt. Oder anders gesagt: Wer powerpointet, klinkt sich mehr oder minder automatisch in ein Bewusstsein ein, für das Netzinhalte wie selbstverständlich zur Instrumentierung der eigenen Kommunikation bereitstehen. 62 Burkhard Spinnen

Fatal an dieser Entwicklung ist nun aber, dass die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse im Netz ein solches Bewusstsein noch gar nicht erlauben. Was von einer ganzen Generation bereits als selbstverständliche Selbstbedienung aufgefasst wird, ist de jure oft genug Diebstahl geistigen Eigentums. Und der Diebstahl hat immer ein Opfer! Unerlaubter Download führt zu einer stetig wachsenden Ausbeutung derjenigen, die den »Content« herstellen. Man könnte darüber lange reden. Mir geht es jetzt allerdings weniger um die ökonomischen Ungerechtigkeiten, die das »Copy & Paste« zur Folge hat; im Zusammenhang mit dem Powerpointen möchte ich lieber darauf aufmerksam machen, dass ein schwindendes Bewusstsein vom Charakter und vom Stellenwert geistigen Eigentums verheerende Folgen auf die Produktivität und Kreativität des Einzelnen haben kann. Konkret gesprochen: Wer seit der Oberstufe, durch das Studium und bis in den Beruf die Erfahrung sammelt, dass man mit geschickt kompiliertem Fremdmaterial durchaus reüssieren kann, dem könnte die Anforderung an sich selbst, schöpferisch und authentisch zu sein, leicht abhanden kommen. Ein permanentes und alternativloses Powerpointen führt also nicht nur zu einer strukturellen Gleichschaltung der Kommunikationsakte, es beeinflusst darüber hinaus auch maßgeblich deren Inhalte. Das allgegenwärtige Angebot, sich sehr attraktiv mit fremden Federn schmücken zu können, senkt allgemein den Wert der echten Eigenleistung, ja lässt womöglich sogar vergessen, dass und warum ein solcher Wert von der Gesellschaft einmal hochgehalten wurde. Das Powerpointen initiiert vielmehr nach dem Leitsatz »Kleider machen Leute« eine Hingabe an die Attraktion der Accessoires; es kommt im Endeffekt zu einer permanenten Wiederauflage von x-mal Kopiertem, das von allerlei bloß Beiherspielendem aufgepeppt wird.

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Powerpoint treibt den Menschen aus seinem Sprechen Nun könnte man mir ja immer noch entgegenhalten, dass all das, was ich hier beschworen habe, durchaus passieren kann, aber eben nicht passieren muss. Menschen können das Programm Powerpoint doch auf eine individuelle und kreative Art und Weise nutzen; sie können damit, wenn sie nur wollen, auch die authentischen Produkte ihrer eigenen Kreativität vermitteln. Ja, das stimmt. Aber auch ganz unabhängig davon, wie selbstbestimmt und kreativ das Programm im Einzelfall genutzt wird und wie wertvoll seine Inhalte sein mögen – es ist doch jede, aber auch jede Powerpoint-Präsentation ganz auf die programmeigene Dramaturgie verpflichtet. Und in dieser Dramaturgie sehe ich vor allem die Austreibung des Menschen aus seinem Sprechen realisiert. Denn was passiert: Aus dem Redner wird der Kommentator einer digitalen Diaschau. Aus den Zuhörern werden Zuschauer; ihre Blickrichtung ist nicht mehr am Sprechenden, sondern an der Wand neben oder hinter ihm ausgerichtet. Ich weiß, das wirkt jetzt vielleicht ein wenig aus der Zeit gefallen, aber ich muss daran erinnern, dass eine solche Konstellation für einen Redner klassischer Schule ein Gräuel ist! Wer durch seine Worte etwas bewirken will, was auch immer es sein mag, der ist zu einem großen Teil auf seine Stimme, seine Gestik und Mimik angewiesen. Der mündliche Vortrag hat der schriftlichen Mitteilung immer voraus, dass er Belege für die Authentizität und die Bedeutung des Mitgeteilten präsentieren kann. Diese Belege sind wesentlich am Körper des Redners festzumachen. Seine Stimme, seine Diktion, seine Gestik fügen dem Gesagten womöglich Entscheidendes hinzu. Eine wortreiche, aber schriftliche Bitte um Entschuldigung kann zum Beispiel erheblich weniger glaubwürdig sein als ihre Entsprechung in einer kurzen persönlichen Ansprache. Ja, vielleicht sind sogar ein 64 Burkhard Spinnen

Stottern oder ein Versagen der Stimme aussagekräftiger als der bemühteste Text. Und aus genau diesem Grunde praktizieren wir auch im Zeitalter des beinahe totalen digitalen Informationssaustauschs noch immer die sogenannte face-to-face-Kommunikation. Unverzichtbar ist und bleibt der unmittelbare Kontakt mit dem Kommunikator, wenn nicht nur Daten übermittelt, sondern Bedeutungen vermittelt, wenn Überzeugungen geäußert oder gar geschaffen werden sollen. Freilich steht auf der anderen Seite der Möglichkeiten, die der mündliche Vortrag bietet, die Summe der Gefahren, die er mit sich bringt. Wer öffentlich redet, setzt sich aus. Die verständliche Nervosität kann hemmend, ja lähmend wirken; es gibt Menschen, die angesichts eines Saales voller Zuhörer körperliche Ausfallerscheinungen erleiden. Die Stimme versagt, der Kopf wird rot; statt Autorität oder Überzeugung auszustrahlen, steht man als schlotterndes Wrack vor seinem Publikum. Aber auch wer den öffentlichen Auftritt im Großen und Ganzen bewältigen kann, ist nicht vor situativen Fehlern geschützt. So ist es etwa durchaus nicht jedermanns Sache zu improvisieren. Ein Beiseitesprechen oder eine spontane Ansprache ans Publikum bergen die Gefahr, unwillentlich verletzend oder unfreiwillig komisch zu wirken. Kurz gesagt: Es gibt Menschen, die im Reden vor Publikum nicht ihr Bestes geben können; und es gibt sogar welche, die man mit dem Auftrag eines Redebeitrags in die Neurose treiben kann. Solche allgemein verbreiteten psychologischen Probleme der öffentlichen Rede hat nun das Powerpointen bei seinem Erscheinen zu einem wichtigen Motor seiner Karriere in unserer Alltagskommunikation gemacht. Das Programm ist nämlich angetreten mit dem Versprechen, aus jedem einen Redner zu machen. Tatsächlich ermöglicht es auch denen ein einigermaßen sicheres Auftreten, denen das Redner-Gen fehlt. Das aufgeklappte Notebook wird für solche Menschen zu einer Art Lasst das Powerpointen einfach sein! 65

Schutzwall, hinter dem sie sich verschanzen und von wo aus sie ihre Zuhörer nötigenfalls mit Salven von Tabellen, Zahlenkolonnen und strichaufgezählten Kernsätzen in Schach und sich selbst vom Leibe halten können. Das Powerpointen lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer vom Redner ab und hin zu den optischen Text- und Bildprojektionen. Der für jede traditionelle Rede konstituierende Bezug zum Publikum wird dergestalt weitgehend aufgebrochen. Der Redner fühlt sich weniger ausgesetzt, im Endeffekt verschwindet er in oder hinter seinem Material. Vom allein Verantwortlichen wird er zum Kommentator oder bloß Moderator des Vorgetragenen, besser gesagt: des Sich-selbst-Vortragenden. Das alles ist, wie gesagt, sehr hilfreich für Menschen, die nicht zum Redner geboren sind. Aber ich möchte dagegen halten: Wer öffentlich vorträgt, sollte sich nicht in vermeintliche kommunikative Schutzräume wie den hinter dem Laptop zurückmogeln. Im Gegenteil: Er schuldet seinen Zuhörern genau den Mehrwert, den ein persönlicher Vortrag gegenüber einem Zeitungsartikel, einem wissenschaftlichen Aufsatz oder einem Weblog hat. Er schuldet ihnen – sich selbst, und zwar als lebendiges Kriterium für die Authentizität und die Qualität des Gesagten. Genau dies aber treibt das Powerpointen aus dem Vortrag hinaus. Die andere Seite der technischen Perfektion ist die weitgehende Entpersonalisierung der Inhalte. Powerpoint proklamiert eine Objektivität, die nie gegeben ist, auch dann nicht, wenn sogenannte »reine« Informationen vermittelt werden. Egal, wovon sie spricht, die Schrift an der Wand gibt sich immer so, als hätte sie keinen Verfasser. Und das stimmt einfach nicht.

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Wir brauchen Führer durch den digitalen Dschungel! Ich hatte eben angekündigt zu sagen, wohin für mich das Powerpointen im Kommunikationsalltag geführt hat. Genau da bin ich jetzt angekommen: Das Resultat der Fixierung auf dieses Programm ist meines Erachtens ein geradezu tragisches Missverstehen der zeitgenössischen Informationskultur und ihrer wesentlichen Bedürfnisse. Powerpoint ist keine Lösung unserer Probleme, sondern ein Teil des Problems, indem es das Überflüssige befördert und das Notwendige reduziert. Ich weiß, das sind starke Worte – aber ich will das erklären. Die so genannten reinen Informationen, in die Powerpoint durch die Austreibung des Vortragenden als Person alles und jedes zu verwandeln sucht, sie sind momentan das Allgegenwärtige, das was in unübersehbarer, ja erschreckender Menge immer schon vorhanden ist und womit man sich leicht versorgen kann. Wir leiden ja nicht an einem Zuwenig an Information, wie unsere Vorfahren das taten und wie Menschen in anderen Erdteilen das immer noch tun. Wir leiden vielmehr an einem Überfluss von Information! Und was uns fehlt, das sind Alltagsinstanzen, die eine sinnvolle Reduktion der Informationsmenge leisten. Wir brauchen Führer durch den Dschungel der digitalen Netze, Menschen, die anderen vermitteln können, dass sie eine Auswahl getroffen haben und warum es gerade diese Auswahl war. Um einmal ein Beispiel zu nennen: Schule funktioniert so; das heißt sie sollte zumindest so funktionieren. Zwar stöhnen alle Schüler, sie müssten zu viel lernen; tatsächlich aber ist der Schulstoff eine möglichst sinnvoll getroffene Auswahl. Es geht zwischen erstem Schuljahr und Abitur nicht um ein schieres Anhäufen von Wissen, sondern um die Vermittlung eines Kanons, auf dessen Basis die Schüler später einmal selbst imstande sein sollen, Wissen nicht als Addition von Informationsbesitz, sonLasst das Powerpointen einfach sein! 67

dern im Wesentlichen als angewandte Urteilskraft zu entwickeln. Ich weiß, das sind hehre Ziele, und sie werden oft genug verfehlt. Aber Powerpoint ist ein Instrument, das, millionenfach angewendet, bewirkt, dass die Wissensgesellschaft als eine Gesellschaft ohne das urteilende Individuum erscheint. Statt in den Mittelpunkt der Kommunikation zu stellen, wie das Individuum mit den Elementen des Wissens verfährt, rückt Powerpoint den Menschen an den Rand, als Person und als Instanz. Tatsächlich erscheint er tendenziell als der Datensurfer, der seine Funde präsentiert. So wird er uns, den Zuhörern, ähnlich; das macht ihn uns sympathisch, das hilft ihm über die Angstschwelle – aber es macht auch, und jetzt bin ich einmal ganz offen, dass ein gewaltig großer Prozentsatz von Powerpoint-Präsentation, egal in welchem Metier und mit welcher Absicht vorgeführt, zu weitgehend überflüssigen Veranstaltungen werden, weil sie den Zuhörern das Wesentliche vorenthalten, nämlich Charakter und Bewusstsein dessen, der vorträgt. Ich habe im letzten Jahrzehnt einige der ödesten und verschenktesten Stunden meines Lebens in abgedunkelten Räumen unter dem Flackern der Beamer verbracht. Immer hatte ich gehofft, jemanden zu treffen, der mir ein Stück Welt, »gesehen durch ein Temperament« (E. Zola), vermitteln würde. Immer war ich neugierig darauf, wie etwas, das ich noch nicht kannte, von jemand anderem als ein Teil seines Alltags wahrgenommen und erfahren wird. Ja, ich muss ehrlich sagen, an den jeweiligen Informationen war ich nie so sehr interessiert wie an den Menschen, die aus solchen Informationen oder inmitten ihrer mehr oder minder sinnvolle Lebenswelten gestalten. Denn schließlich bin ich doch keine Festplatte mit unbegrenzter Speicherkapazität, aber ohne qualifizierende Instanzen; ich bin vielmehr ein Mensch und als solcher darauf angewiesen ist, dass andere Menschen mir die Welt erschließen, zu der ich keinen Zugang habe. 68 Burkhard Spinnen

Zahlen und Daten kann ich auswendig lernen, aber wirklich lernen, also mir aneignen kann ich nur, was durch ein unverwechselbares Bewusstsein hindurchgegangen ist. Allein, davon haben mir über 90 Prozent aller Powerpoint-Präsentationen wenig bis gar nichts vermittelt. Stattdessen gab es Datenschleudereien, Kuchengrafiken, albern animierte Lettern, Strichaufzählungen und umrahmte Kernsätze. In der Schule hätte ich mir das vielleicht noch gefallen lassen, aber heute ist meine Zeit zu kostbar, als dass ich sie mit immer neuen Beispielen dessen verbringen könnte, wie ein Präsentationsprogramm den Informationen das Bewusstsein davon austreibt, dass sie von Menschen stammen und wiederum Menschen dienen sollen. In einer halben Stunde werde ich zugeschüttet mit etwas, das bei mir nur als Datenmüll ankommen kann; gleichzeitig verpasse ich wieder einmal die Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, der mir sagen könnte, was seine und vielleicht auch meine Welt »im Innersten zusammenhält.« (Goethe, Faust)

Ich fasse zusammen: Erstens: Powerpoint hat sich als verbindlicher Standard der öffentlichen Kommunikation etabliert. Bevor sie auch nur darüber nachdenken, wie sie etwas vermitteln wollen, starten Millionen von Menschen weltweit dieses Programm. So wird jede Kreativität in der Gestaltung der Kommunikation im Keim erstickt. Zweitens: Powerpoint verführt massiv zur unreflektierten und unrechtmäßigen Übernahme von digitalem Material. Es befördert das Bewusstsein, dass es in der Kommunikation nicht um einen authentischen Kern, sondern um die Masse des Beiherspielenden geht. Quantität rangiert jetzt vor Qualität. Und drittens: Powerpoint treibt den Menschen aus seinem eigenen Vortrag. Es drückt ihn an den Rand, macht ihn zum Lasst das Powerpointen einfach sein! 69

Moderator ohne Eigencharakter und Verantwortung. Wo ein Bewusstsein gefragt wäre, das die Datenmengen deutet, erscheint nur noch ein Agent der Unübersichtlichkeit. Also, Eddi, du bist doch noch jung genug. Wir wäre es, willst Du nicht auch ein Rebell sein, ein Revolutionär, ein Mann, der mutig ist und eine Vision hat? Der keine Angst davor hat, sich Feinde zu machen? Dann tu’s einfach. Lass das Powerpointen sein. Lass den Quatsch einfach bleiben!

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Reinhard Kahl

Eine dritte Renaissance – die Schule für die Zukunft Überleben im Wissensozean Lernen im Informations- und Medienzeitalter? Da stellt man sich vielleicht Räume voll von Apparaten vor. So wie einst das Sprachlabor, nur viel smarter. Programmierter Unterricht im Sprachlabor erwies sich allerdings als Sackgasse und die Maschinen standen bald als Edelschrott rum. Heute werden Schüler mit Laptops ausgerüstet und jeder hat bald einen kleinen Computer in der Tasche, mit dem er telefoniert, Musik hört, fotografiert und über Suchmaschinen ständig mit dem Wissen der Welt und vor allem den Freunden verbunden ist. Ob Computer nützliche Werkzeuge sind, hängt davon ab, wofür man sie nutzt. Zum Beispiel Google. Wer recherchieren will, hat ein hervorragendes Instrument. Wer sich in der Schule oder im Leben durchmogeln will, auch. Mit gesampelten Referaten wird das Vortäuschen von erarbeitetem Wissen zum Kinderspiel. Aber weder der Bluff noch die findige Navigation sind Eigenschaften der Geräte. Verstärken sie also nur Haltungen oder bewirken sie auch kulturellen Wandel? Und wenn sie diesen Eine dritte Renaissance 71

nicht unmittelbar auslösen, welche Möglichkeiten bieten etwa die enorme Speicherkraft und Übertragungsgeschwindigkeiten in Echtzeit? Was lässt sich daraus machen? Fest steht, inmitten eines Ozeans von Informationen verliert bloß geliehenes Wissen an Bedeutung. Die Schere zwischen Weltwissen und dem Wissen der Individuen klafft immer weiter auseinander. Die alte Frage verschärft sich: Wie wird Information in Wissen verwandelt? Wie eigenen sich Individuen eine Welt enormer Möglichkeiten an? Jeder weiß etwas anderes. Jeder muss sich entscheiden, was er wissen, und das heißt auch, wer er sein will. Die Individuen werden verschiedener. Kooperation wird wichtiger. Der Wunsch nach Zugehörigkeit wird stärker. In virtuellen Welten, also in Möglichkeitswelten steigt das Verlangen nach Wirklichkeit. Dann stehen plötzlich in einer Computer- und Medienwelt diese Geräte gar nicht mehr im Mittelpunkt. Werden dann Menschen nicht das wichtigste Medium für Menschen? Man muss sich in diesem Satz das Wörtchen wieder verkneifen. Es ist ja nicht so, das in der vordigitalen industriellen Eisenzeit zum Beispiel in der Schule die Menschen im Mittelpunkt standen. Sie wurden eher zu Maschinenmodulen diszipliniert. Sie lernten zu funktionieren. Das Wort Lernen selbst wurde zum Zeichen für einen überwiegend passiven Vorgang.

Ständig Neues erproben Das krumme Holz, das der Mensch nach Immanuel Kant nun mal ist, sollte in Schulen eher glatt gehobelt werden. Das ist in den letzten 150 Jahren auf fatale Weise gelungen. Aber daraus ist auch eine Chance entstanden. Fast alle repetitiven Arbeiten wurden so weit standardisiert und automatisiert, dass sie von Maschinen übernommen werden können. Dieser technologische Unterbau aus automatisierter Routine verspricht nun in 72 Reinhard Kahl

der Tat bessere Zeiten. Das 150 Jahre lang aus der Arbeitswelt und aus dem schulischen Lernen heraus gekürzte Selbst könnte sich wieder aufrichten. Das eröffnet eine ganz andere Aussicht auf eine Schule der Zukunft, nämlich auf eine, in der Zukunft entsteht. Dieses ist nicht in erster Linie eine Frage nach dem Wissen, das dort – wie man so sagt – vermittelt wird. Wissen bleibt immer wichtig. Aber mehr und mehr stellt sich die Frage, was Kinder und Jugendliche befähigt, dass sie jetzt und später selbst Wissen hervor bringen. Dass sie die Forscher bleiben, als die sie alle zur Welt kommen. Nebenbei: Kaum einer hätte vor 25 Jahren gedacht, was die Säuglings- und Kleinkinderforscher heute darüber an den Tag bringt! Zukunft zu ermöglichen hieße dann, so wach und geistesgegenwärtig bleiben, wie wir es als Kinder alle waren. Bildung bedeutet dann Spielen und Lernen als zwei Seiten einer Medaille im Laufe ihres Lebens zu kultivieren. Das ist nicht banal. Lernen und Neues zu probieren ist ein Wagnis. Traut man sich? Der Philosoph Arthur Schopenhauer schrieb: »Alle reden sie von der Zukunft, versäumen dabei das Seyn und die Zukunft macht bankrott.« In diesem Satz steckt fast alles. Zukunft ist immer unbekannt. Sie könnte schief gehen. Zukunft entsteht in wacher Gegenwart. Das gilt ebenso für das noch nie Dagewesene wie für die Erneuerung des Alten. Beides ist riskant. Auch Tradition kann nicht einfach kopiert werden. Sie muss erneuert werden, um fortgeführt werden zu können. Wenn Schulen allerdings unter dem Vorzeichen stehen, dass die Gegenwart wenig und manchmal sogar nichts gilt, wenn dort mit »späteren Leben« gedroht wird, statt jetzt ins Leben einzuladen, dann ist eine offene Zukunft eigentlich gar nicht erwünscht. Dann werden lediglich die Bestände der Vergangenheit kopiert. Aber Vergangenheit lässt sich nicht einmal fortschreiben, wenn sie nicht auch zugleich erneuert wird. Eine dritte Renaissance 73

Die wichtigste Aufgabe von Bildungsinstitutionen wäre also hellwache Gegenwart zu ermöglichen, damit Zukunft entsteht. Wache Geistesgegenwart führt zu Leistungen, die sich kaum einstellen, wenn man sie auf dem direkten Wege erzwingen will. Bildung ist ein enorm indirekter Vorgang. Sie braucht ein weites Feld, keine planierten Lernschnellwege.

Menschen sind keine Fässer Das ist gar keine neue Erkenntnis. Schon vor 2500 Jahren mahnten Heraklit und Herodot, dass es bei der Bildung nicht darauf ankomme Menschen wie Fässer zu füllen oder wie Schiffe zu beladen. Es komme darauf an sie zu begeistern, sie zu entzünden. Francois Rabelais formulierte vor 500 Jahren diesen Gedanken in seinem nun häufig zitierten Satz, der das Grundgesetz jeder modernen Pädagogik sein sollte: »Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entzündet werden.« Rabelais war Schriftsteller, Arzt und Priester, ein Renaissancemensch. Die Renaissance entdeckte die Schöpferkraft der Menschen, man könnte sagen, sie entdeckte die Fähigkeit Zukunft zu gestalten: technisch, sozial und kulturell. Bildung wurde als diese generelle Kreativität gedacht. Insofern war auch schon die griechische Polis eine Renaissance. Und auch heute – das wäre meine These – haben wir im Übergang von einer Industriegesellschaft zu einer Wissen- oder Ideen- oder Kulturgesellschaft die Chance zu einer dritten Renaissance, nach der griechischen Polis und dem großen Aufbruch vor einem halben Jahrtausend. Die Grundidee hat ein anderer Franzose der Aufbruchszeit so formuliert: »Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen.« Das sagte der 1623 geborene Mathematiker, Physiker, Literat und katholische Philosoph Blaise Pascal. Anders formuliert: In 74 Reinhard Kahl

uns allen, wirklich in allen, steckt viel mehr als wir gewöhnlich unterstellen, mehr als in einem Leben realisiert werden kann. Jede und jeder hat einen Überschuss an Potentialen, die darauf warten gehoben zu werden. Nichts anderes zeigt mit ihren Mitteln die moderne Hirnforschung. Pädagogen sollten also Schatzgräber sein. Sie sollten sich überraschen lassen, sie sollten nicht ängstlich oder kleingläubig sein. Eine Nebenbemerkung zu Rabelais und Pascal. Man sehe sich deren Lebensläufe an. Rabelais war Schriftsteller, Arzt und Priester. Blaise Pascal war Mathematiker, Physiker, Literat und katholischer Philosoph. Wer heute so viele Identitäten angibt, gerät in der Verdacht ein Scharlatan zu sein oder gar eine multiple Persönlichkeit, also Menschen, für die wir ganz bestimmte Häuser haben. Vielleicht gehört auch dieses zu den Lichtblicken in großen Zeiten der Menschheit, dass jeder Mensch mehrere sein kann und dass dies nichts Verdächtiges ist. Ist die innere Pluralität von Menschen nicht eine Voraussetzung fürs Lernen? »Denken,« sagte Platon, »ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.« Dafür darf man mit sich nicht ganz identisch sein. Denken und Lernen leben von Unterschieden und der Selbsttätigkeit der Schüler. Auch das war für Renaissancemenschen eine Grundidee. Johann Amos Comenius, der vor 400 Jahren die moderne Pädagogik begründete, verlangte damals schon: »Lehrer, lehrt weniger, damit eure Schüler mehr lernen können.« Eigentlich weiß man es also und nicht erst seit Neuestem. Warum nur ist die Verführung Fässer zu füllen so groß und das – zugegeben – etwas riskantere Flammen entzünden eher unheimlich? Weil wir nicht dran glauben. »Glauben« in diesem ganz untheologischen Sinn. Das Fässerfüllen wiegt Lehrpersonen, Schüler und Eltern in der vermeintlichen Sicherheit nichts falsch zu machen. Selbst wenn am Ende dieses Nummer-SicherWeges eine anerzogene Gleichgültigkeit gegenüber dem Lernen steht, wird daran festgehalten. Beim Fässerfüllen wird sogar Eine dritte Renaissance 75

eine Art Lernbulimie in Kauf genommen. Eine Gefahr, die gerade durch die digitalen Medien forciert wird, nichts ist leichter, als in Wikipedia-Zeiten sich unendlich viel Stoff zu einem beliebigen Thema zu besorgen. Erst mal viel »Stoff« in sich hinein laufen lassen – und dann? Häufig wieder vergessen oder im drastischen Bild der Bulimie: das Heruntergeschlungene wieder von sich geben. Wird so der ausgeschiedene Stoff nicht tatsächlich zu etwas Ekelhaftem? Wird so die Welt nicht klein gemahlen und das Lernen nachhaltig entwertet? Wird es nicht Zeit das Wort »Stoff« den Dealern zu überlassen? Cool und gleichgültig zu werden, das kann doch nicht das Ziel von so vielen Jahren »Bildung« sein.

Nachhaltiges Lernen Was wäre demgegenüber nachhaltiges Lernen? Wie bildet sich eine Biografie? Wie wird Lernen zum großen Projekt des eigenen Lebens? Und wie arbeiten Schulen, die statt mit »Stoff« abzufüllen, mit einem Lernvirus infizieren? Besuchen wir ein Klassenzimmer, das eines der Zukunft sein könnte, so wie Hölderlins Schwalben, die vor dem Sommer gekommen sind. Michaela referiert gerade über den Ursprung des Chansons auf den Schlachtfeldern des Mittelalters. Zusammen mit drei Mitschülern hat sie die wichtigsten Stichworte auf Plakate geschrieben. Die Schüler stehen vorne. Sie erzählen kleine Geschichten. Alles auf Französisch. Eine ungewöhnliche Stimmung. So konzentriert, so ernsthaft und so gelassen. Zuletzt entdeckt man den Lehrer. Er steht hinten in der Ecke. Ein Lehrer? Eher ein Beobachter. Er heißt Jean-Pol Martin. Er unterbricht die Schüler selten. Er hält sich zurück. Aber sein Gesicht! Es ist ein Spiegel des Geschehens an der Tafel. Lautlos spricht er die Wörter von Michaela und ihren Mitschülern nach. Wenn 76 Reinhard Kahl

eine Schülerin oder ein Schüler nach Worten sucht, schiebt er den Kopf wie eine Schildkröte vor und nickt den Jugendlichen zu, wie ein Magier. Wirkt das nicht, dann souffliert er. Dieser Lehrer steckt mit seiner Aufmerksamkeit an. Man könnte an seinem Minenspiel eine der interessantesten Neuendeckungen der Hirnforschung erkennen, die Spiegelneuronen. Was immer Martin bei den Jugendlichen wahrnimmt, seine Zellen versuchen es nachzuspielen und mit Milliarden in seinem Kopf gespeicherten Mustern abzugleichen. Nachahmen ist eine Grundfigur des Lernens. Aber nicht Kopieren! Aus der Differenz zwischen den gespeicherten Mustern und den neuen Eindrücken entspringt laufend Neues: Missverständnisse, aber auch unerwartete Muster und Ideen. Eigenes entsteht. Das wiederum wird in zahllosen, kleinen Selbstgesprächen revidiert oder gesichert. Innere und äußere Differenzen schaffen weitere Irritationen, die geklärt werden müssen. So geht es immer weiter. So geht Lernen. Ein endloses Spiel mit dem Kick des Neuen und mit der Befriedigung am Vertrauten. Lernen ist dem Denken viel verwandter als die herkömmliche Ingenieurpädagogik, die Trichter ansetzen und Fässer füllen will. Um genau diese Differenz geht es Jean-Pol Martin in seinem Französisch Leistungskurs am Willibald Gymnasium im bayrischen Eichstätt. Damit scheint er allerdings die Schulwelt auf dem Kopf zu stellen. Nicht die Schüler wiederholen, was der Lehrer ihnen vormacht. Priorität hat auch nicht, dass die Schüler den Lehrer verstehen, sondern dass der Lehrer die Schüler versteht. In seinen Stunden sind sie es, die Schülerinnen und Schüler, die aktiv sind. Der Lehrer spielt manche Rolle, aber am wenigsten die eines Lehrers, wie man sie kennt. Seine Arbeit verlagert sich in die Zeit vor den Unterrichtsstunden. Die Stunden mit den Schülern haben bei ihm etwas von Theater. Vorher arbeitet er mit den Schülern, die auf der Bühne stehen werden, an deren Skript. Die Vorbereitung mit den jeweiligen Akteuren Eine dritte Renaissance 77

wird so wichtig wie die Inszenierung selbst. Martin coacht seine Mannschaft. Der Hauptdarsteller will und kann ein Coach nicht sein. Wenn das Drehbuch versagt, schlüpft Jean-Pol Martin in die Rolle des Regisseurs und spart dann auch nicht mit Anweisungen, bis die Schüler wieder in ihr Spiel gefunden haben. Aber ein Marionettenspieler, an dessen Fäden die Puppen tanzen, der ist er nie. Doch eines spürt man sofort: Er ist der gute Geist im Raum. Jean Pol Martin ist einer der vielen, die diese andere Grammatik des Lernens neu erfinden – und manchmal dabei verdutzt feststellen, dass es die Wiederentdeckung des lange verstellten Selbstverständlichen ist. Sehen wir uns in seiner Klasse noch etwas genauer um. LDL, Lernen durch Lehren, hat er seine pädagogische Erfindung getauft, mit der er schon viele Pädagogen angesteckt hat. Martin, seit kurzem pensioniert, war Professor für Romanistik an der katholischen Universität im bayrischen Eichstätt. Inzwischen inszeniert er virtuelle und reale Weltreisen. Das Internet, meint er, würde ein wichtiger Raum einer Schule der Zukunft. Aber erst mal gelte es die Orte am Boden zu kultivieren. Man möchte Goethe zitieren, der meinte, Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. Beides! Das Und ist vielleicht das wichtigste Wort in diesem Satz. Es geht nicht darum, das Internet zu dämonisieren oder aus dem Klassenzimmer zu verbannen. Es geht aber um die Einsicht, dass die digitalen Medien einen Gegenpol benötigen, dass die virtuellen Welten durch eine neue Bodenhaftung ergänzt werden müssen, ebenso wie das Bulimie-Lernen durch nachhaltiges Lernen. Zurück zu Martin. Einen Tag die Woche hat der Professor viele Jahre in der Schule unterrichtet, denn »ohne dieses Labor könnte ich doch keine Lehrer ausbilden«. Dieser Satz, so selbstverständlich er klingt, ist allerdings von Pädagogik-Professoren selten zu hören. Das wichtigste Medium sind für ihn die anderen Menschen. Martins Schüler beglaubigen diese Haltung. Sie sind 78 Reinhard Kahl

begeistert. Schließlich bestehen Martins Aktivitäten weniger im Unterrichten als im Aufrichten. Gut, sagen nun viele Leser und wenden ein, wenn man die Unterrichtsstunden den Schülern überlässt, verfestigen sich dann nicht ständig deren Fehler? Wie kommen die Schüler denn weiter? Martin nickt, erst nachdenklich, dann begeistert. »Genau, Fehler, das ist wichtig«, insistiert er und fährt fort: »Ich will ja im Unterricht Inkohärenzen und Widersprüche entstehen lassen.« Wer das zum ersten Mal hört, runzelt die Stirn. Martin setzt noch eins drauf. »Mein Unterricht schafft Unklarheiten und der traditionelle Unterricht versucht immer nur Klarheit zu schaffen.« Letzteres sei auch nicht ganz falsch, räumt er ein, denn zum Lernen brauche man beides, aber der entscheidende Rohstoff sei das Unfertige, »ganz einfach weil Menschen nur dann kommunizieren, wenn ihnen etwas nicht klar ist.« Die Schüler müssen »ihre Unklarheit selbst in Klarheit verwandeln.« Nur so würde gelernt und niemand könne ihnen diese essentielle Aktivität abnehmen, außer, fügt er süffisant hinzu, dass das Lernen selbst dabei mit verschwindet. Vielleicht ist das der Grund, warum Unterricht so oft bleiern ist. Immer noch werden Schüler mit Antworten auf Fragen erdrückt, die zu stellen sie gar keine Chance hatten. Sie dürfen eben häufig nicht nachahmen, sie müssen kopieren. Ein feiner, doch alles entscheidender Unterschied. Kopieren ermüdet. Die Spiegelneuronen werden arbeitslos. Sie wollen tanzen, nicht gehorchen. Sie wollen angesteckt und nicht in Dienst genommen werden. Belehrung löst eine Art Immunabwehr aus. Wenn die Mechanik von Belehrung und Abwehr erst mal eingefahren ist, schalten die Schüler ab. Was ein Dialog hätte werden können, wird zum Clinch. Die Schüler schicken dann ihre Phantasie schon morgens lieber gleich spazieren und stellen nur ihre schlaffen Körper im Klasseraum ab. Im Gegenzug sind die Lehrer mittags schneller in ihrem Golf als die Schüler auf dem Eine dritte Renaissance 79

Fahrrad. Manch einer – Schülerinnen und Schüler ebenso wie auch Lehrpersonen – verlernt dabei das Lernen, was allerdings gar nicht so leicht ist, denn unser Gehirn ist ein resistentes Organ. Es kann gar nicht Nichtlernen. Man muss es auch nicht besonders motivieren. Es rebelliert gegen die passive Rolle. Lieber stellt sich manches Gehirn dumm als dieses unwürdige Spiel mitzumachen. Mit dem Gehirn verhält es sich so ähnlich wie dem Appetit. Er kommt von allein. Aber es gibt Essstörungen. Und das heutige schulische Lernen krankt an Bulimie. Trotz einer starken Drift weg von der standardisierten Industriewelt hin zu neuen Wissens- und Ideenwelten, hat man in mancher Schule oder Hochschule den Eindruck, die Gegenströmung nehme zu. Schüler und Studenten kalkulieren wie Betriebswirtschaftler ihrer selbst ganz genau, wie viel Energie sie für Prüfungszwecke und Notenergebnisse investieren wollen. Manche verhalten sich wie Spekulanten. Hochschullehrer berichten immer häufiger von solchen Bitten ihrer Studenten: »Lieber Professor, reden sie nicht so viel herum, sagen sie uns lieber gleich, was in der Prüfung dran kommt. Das lernen wir dann auch.« Das buchhalterische Restlernen, das nach dem Verzicht auf die Faszination durch die Sachen noch bleibt, wird dann allerdings gewissenhaft ausgeführt. Irritierend ist auch eine Beobachtung von Andreas Schleicher, dem internationale Koordinator der Pisa-Studien bei der OECD in Paris. Er fragt, wie es denn möglich sei, dass Schüler mit passablen Testergebnissen in den Naturwissenschaften am Ende der Schulzeit mit Mathe, Physik und Chemie nichts mehr zu tun haben wollen. Dieses Resultat hätte man auch viel billiger haben können. Noch teurer könnte die Konditionierung zur Gleichgültigkeit werden, wenn sie im Beruf weiter geht. Der kanadische Ökonom und Managementtheoretiker Henry Mintzberg sieht eine Ursache der Finanzkrise in der Dressur auf kurzfristige Erfolge durch Bonuszahlungen. Die Konditionierung auf Außensteuerung lasse das Urteilsver80 Reinhard Kahl

mögen verwahrlosen. Menschen wissen dann nicht mehr, was sie wollen, ja ob sie überhaupt etwas wollen. Und der amerikanische Ökonom Samuel Bowles schreibt: »Explizite, also äußere Leistungsanreize zerstören gute Absichten.« Ist es nicht so, dass die meisten Menschen, auch viele Pädagogen und Bildungspolitiker davon überzeugt sind, dass Kinder und Jugendliche sofort das Lernen einstellen, wenn es nicht mehr mit Noten vergütet würde? Jean-Pol Martin hat keine Noten gegeben. Das konnte er für sich, den Professor mit Eigensinn und Power, in der Schule durchsetzen. »Noten«, sagt Martin, »sind Gift.« Warum? »Wenn ich Noten gebe, dann induziere ich Angst.« Er verlangt ja von seinen Schülern, dass sie sich ständig auf Neuland begeben. Sie sollen ruhig Fehler machen. Er verbietet ihnen nur eines: So zu tun, als wüssten sie, was sie nicht wissen, denn das sei Dummheit. Dieser Verzicht erfordert Mut und macht schon Angst genug. Angst steigert durchaus die Wahrnehmung und die Präsenz. Das Problem hingegen ist die Angst vor der Angst. Sie lähmt. Für die Notenfreiheit hat Martin gekämpft und musste es immer wieder. Auch aus diesem Problem zieht er Gewinn. Er findet es feige und auch lächerlich seinen Schülern Mut zu predigen, wenn er selbst nicht mutig wäre. Mut braucht stabilen Grund. Also überlegt Martin, »wie kann ich den Schülern Sicherheit geben, damit sie Unsicherheit wagen?« Die hellwachen Jugendlichen in seinen Klassen sind der Beweis für die Überlegenheit dieses Konzepts. Skeptiker strecken die Waffen, wenn sie hören, dass Martins Eleven im bayrischen Zentralabitur regelmäßig lauter Einser bekommen. Die Schüler können erklären, warum. »Man passt viel mehr auf, wenn Schüler vorne sitzen, als wenn der Lehrer was erklärt,« sagt Michaela. Andere sekundieren: Am meisten profitierten jeweils diejenigen, die selbst etwas vortragen. »Es ist eben der berühmte Effekt, wenn man jemandem Mathe erklärt, versteht man vieles Eine dritte Renaissance 81

selber erst richtig.« Und jeder Fehler würde in der Klasse doch von irgendjemandem bemerkt. »Ist es denn schlimm, wenn ich Fehler mache?« fragt Michaela. »Dafür bin ich doch in der Schule.« Gegenfrage an die Schülerin: Ist das auch die Überzeugung der anderen Lehrer? »Nein, hier an der Schule nicht,« sagt sie mit leiser werdender Stimme. Schulen standen bisher zugleich im Schatten der Vergangenheit und unter dem Druck der Zukunft. Die Gegenwart, die Zeit wacher Präsenz und des Denkens wurde dazwischen aufgerieben. Ein Besuch auf einem beliebigen Kinderspielplatz verdeutlicht diese Zeitstruktur. Mütter überlegen, ob sie ihr Kind, das vor dem Stichtag Geburtstag hat, bereits einschulen sollten, oder noch nicht. Dann hört man landauf, landab: Ach, lass ihm noch ein Jahr, der Ernst des Lebens kommt früh genug. Das ist die Geheimformel der alten Schule. Sie droht mit dem Ernst des späteren Lebens, statt hier und jetzt ins Leben einzuladen. Mit der Schule, so glauben die meisten, werde das Glück der Kindheit, nämlich im Spiel ganz gegenwärtig zu sein, gekündigt. Für viele beginnt damit eine Zeit, die sie wie eine zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe auf dieses spätere Leben erleben. Bringt diese Haltung Leistung? Oder nur Anpassung? Für Leistung, Lösungen und Kreativität gilt, was Albert Einstein auf Frage, wie er sich denn sein Lebenswerk erkläre, antwortet: »Dass ich immer das ewige Kind geblieben bin.« Aber für die meisten Menschen war die Schule eher eine kulturelle Abtreibung ihrer staunenden, spielenden und erfindungsreichen Kindheit. Auf der einen Seite also verstellt die Angst vor einer bedrohlichen Zukunft die Gegenwart. Auf der anderen Seite drückt das Gewicht der Tradition. Wie denn sonst, wird man einwenden. Kinder können doch nicht die Null und das Alphabet neu erfinden und mit allem von vorn beginnen! Schulen sind doch dafür da, die überlieferte Erfahrung weiter zu geben. Gewiss, aber sie sollen die Kinder und Jugendlichen nicht mit Stoff zuschütten. 82 Reinhard Kahl

»Weniger ist mehr« lautete schon immer eine weise pädagogische Maxime.

Was ist Zukunft? Noch mal die Frage, was ist denn Zukunft? Wenn wir etwa lesen, neueste Studien von Arbeitsmarktforschern hätten ergeben, im Jahr 2020 würden 25 Prozent mehr studierte Chemiker benötig als heute, dann ist genau das keine Zukunft. Das sind Extrapolationen, das ist fortgeschriebene Vergangenheit. Zukunft ist was anderes. Ein Beispiel. Die Firma Nokia in Finnland produzierte bis in die 1960iger Jahre ausschließlich Gummiprodukte. Eine Zukunftsplanung im Sinne der üblichen Prognosen hätte bei Nokia die Ausbildung von Facharbeitern und Ingenieuren für Gummiprodukte verlangt. Was auch sonst? Tatsächlich begannen die Finnen in ihrem schwach industrialisierten Land auf Bildung für eine unbekannte Zukunft zu setzen. Sie schrieben die Kommunikationsgesellschaft als Staatsziel in die Verfassung und sie reformierten das Schulsystem, indem sie sich von der neurotisierenden, frühen Selektion nach der Grundschule verabschiedeten. Die Schule sollte für die Kinder eine Heimat werden. Dem Lernen sollte möglichst wenig im Weg stehen, auch nicht ein Übermaß an Belehrung. Kinder niemals zu beschämen wurde zur wichtigsten Maxime der Finnen. Kein Kind zurück zu lassen, niemals eines auf zu geben, hieß eine andere. Inzwischen beginnen in Finnland weit mehr als 70 Prozent der jungen Leute ein Studium. Ähnliche Quoten haben auch Schweden, Kanada, Neuseeland und Australien. Man fragt nicht, wofür denn so viele Akademiker gebraucht werden, sondern vertraut darauf, dass sie aus ihrer Bildung etwas machen werden, etwas, das heute noch keiner kennt, so wie man sich Eine dritte Renaissance 83

bei Nokia inmitten der Gummistiefel und Dichtungen natürlich nicht vorstellen konnte, was denn ein Mobiltelefon einmal sein wird. Zukunft heißt dem noch nie Dagewesenen eine Chance zu geben. Zukunft lässt sich nicht erzwingen. Man kann sie nur ermöglichen. Ein Schlaglicht auf diese Logik wirft die japanische Perspektive. Im Japanischen gibt es Zukunft im abendländischen Sinne gar nicht. Aber es gibt eine Vorstellung davon, wie Neues entsteht, nämlich indem man in der Gegenwart eine Lücke lässt. Wenn Menschen ganz wach und ganz gegenwärtig sind, kann sich dort, wo inmitten der Lehre etwas leer bleibt, etwas Neues einnisten. Die Überfülle von Stoff bewirkt beim Lernen seine Wirkungslosigkeit. Im Zeitalter digitaler Medien und virtueller Flügel wird die »Erdung«, werden die Orte, ja man möchte sagen, werden Heimat und Zugehörigkeit wichtiger. Die ortlosen 2.0 Welten stehen dazu nicht in einem Gegensatz nach dem Entweder-oderMuster, vielmehr als eine Polarität nach dem Yin-Yang-Muster, also von Polen, bei denen die höhere Ladung des einen gewissermaßen nach einer höhere Ladung des anderen verlangt. In einer durch digitale Medien forcierten Wissens- und Kulturgesellschaft hätte eine erneute Renaissance eine Chance. Die bedeutet ja, jeden Menschen als starkes, einmaliges Individuum zu sehen, gewissermaßen als Primzahl, teilbar nur durch eins und durch sich selbst. Aber seine Einmaligkeit muss man wagen können. Der Einzelne wird seinen Eigensinn nur wagen, wenn er – und sie – die Sicherheit und Zugehörigkeit von einer Gemeinschaft versprochen bekommt, die das einmalige Individuum trägt.

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Ulrich Herrmann

Anleitung zum Selberlernen – Neue Medien und neue schulische Arbeitsund Bildungsprozesse Digitale Medien in der Schule – ein Trauerspiel Vor einigen Jahren, in der Eisenbahn von Stuttgart nach Tübingen, auf der Rückreise von der legendären Berliner Aufführung von Schillers »Wallenstein«, entspann sich ein Gespräch darüber, welche sprachliche Kultur dazu gehört, dass die vielen inzwischen »geflügelten Worte« von Schiller – »Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt!« oder »Vor Tische las man’s anders« – nicht abgedroschen klingen und bei »Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung« durch die Lacher im Publikum die Atmosphäre der Szene nicht kippen zu lassen. Und dann kam die Frage auf, was genau eigentlich »geflügeltes Wort« meint und was die ursprüngliche Bedeutung bei Homer wohl gewesen sein mag. Ein junger Zuhörer des Gesprächs, so um die 20, mischte sich ein und sagte, Schiller und Wallenstein sage ihm nichts, obwohl er in der Schule einen Leistungskurs Deutsch absolviert habe, und wegen der »geflügelten Worte« müsse man bei Wikipedia nachschauen. Wenn da aber nichts stehe, so mein Hinweis, dann wisse er auch nicht weiter. Anleitung zum Selberlernen 85

Die Wissens- und literarischen Bildungslücken, die sein Gymnasium bei ihm hinterlassen hat, kann man unserem jungen Mitfahrer in der Bahn schwerlich ankreiden; der überkommene literarische Kanon ist aufgelöst worden. Aufschlussreich ist vielmehr der Hinweis, dass jenseits von Wikipedia wohl nicht mehr viel in Erfahrung zu bringen sei. (Inzwischen ist die Lücke »geflügelte Worte« bei Wikipedia übrigens ganz passabel behoben, und während der Abfassung dieses Textes konnte auf Knopfdruck über Google die Korrektheit der Schiller-Zitate überprüft werden – vorausgesetzt, sie wurden korrekt eingegeben. Aber wie kontrolliert man das, wenn keine Schiller-Werkausgabe im Bücherregal steht?) Zurück zur Eingangsszene. War es vielleicht mit der sogenannten Medien- und Recherchekompetenz bei dem ansonsten ganz aufgeweckten jungen Mann nicht weit her, weil ihm nur Wikipedia als Informationsquelle eingefallen ist? Wenn dem so ist, dann gibt es dafür eine Erklärung, die vor Jahren ein Schüler auf einem Forum der Bildungsmesse didacta in Stuttgart gegegeben hat. Podium: Vertreter von IT-Firmen und großen Verlagen. Auditorium: an die 200 Lehrerinnen und Lehrer. Frage: Warum kommen die Neuen Medien nicht in der Schule an? Der Schüler (ca. 17 Jahre alt), Betreiber einer Hardware-Handelsfirma, kommt ans Mikrofon und gibt eine Antwort, die die versammelten Lehrerinnen und Lehrer zum Verstummen bringt; denn er sagt kurz und trocken: »Da Lehrer in der Regel nicht wissen, wie Schüler arbeiten und lernen, können sie Arbeiten und Lernen mit Neuen Medien in der Schule selber auch deshalb nicht einsetzen, weil sie eben gar nicht wissen, wie Lernen funktioniert.« Das saß. Ansonsten kamen die geläufigen Antworten: Erstens: Die Kommunen als Schulträger, die die sächliche Ausstattung der Schulen bezahlen müssen, haben kein Geld, weder für die Geräte noch für die Einrichtung von Arbeitsplätzen und schon gar nicht für das Wartungspersonal. Zweitens: die Lehrerinnen 86 Ulrich Herrmann

und Lehrer setzen keine PCs ein, weil – je nach sozialer Zusammensetzung der Schülerschaft – nicht alle Schülerinnen und Schüler einen eigenen zu Hause zur Verfügung haben. Drittens: Es gibt keine didaktischen Konzepte für einen Medienmix von Buch und Internet, für Unterricht als Einführung und danach die selbständig zu bearbeitenden Themen aufgrund einer unter Umständen auch ergebnisoffenen Recherche. Heute können weitere Gründe angefügt werden, warum in den Schulen der kreative Umgang mit Neuen Medien für Selbstorganisiertes Lernen kaum eine Rolle spielt und auch nicht spielen kann. Als erstes sei genannt die fortschreitende Standardisierung von Leistungsanforderungen auf bestimmten Klassenstufen und beim Abitur. Diese Standardisierungen zwingen die Lehrkräfte dazu, mit ihren Schülern bestimmte Leistungen zu bestimmten Zeitpunkten unter bestimmten Bedingungen (Testsituation) zu erbringen. Dass dabei die tatsächlichen Leistungspotentiale der Schülerinnen und Schüler von Ausnahmen abgesehen nur sehr eingeschränkt sichtbar werden können, ist in der pädagogisch-psychologischen Forschung seit Jahrzehnten bekannt, wird von der heutigen Hirnforschung eindrucksvoll bestätigt und von der Kultusministerkonferenz – konsequent ignoriert. Die Länder Berlin und Brandenburg meinen, diesen Missstand dadurch abmildern zu können, dass ihr gemeinsames »Institut für Schulqualität« die sogenannten Bildungs-, in Wahrheit Leistungsstandards samt Übungsaufgaben ins Netz stellt. Auf der Startseite sehen wir, wie sich eine fröhliche Mutter mit einem entspannten Töchterchen und ein lächelnder Vater mit einem neugierig blickenden Söhnchen über Arbeitsblätter beugen, alle im Ferien-Look, die reine Idylle. Dementsprechend beruhigend soll auch der Begleittext wirken: erfahrungsgemäß würden nur 50 % der Aufgaben in der zur Verfügung stehenden Zeit gelöst – ist das etwa ein Trost? Hält man die Kinder für so blöd, dass sie nicht merken würden, wieder mal nicht alAnleitung zum Selberlernen 87

les geschafft zu haben? Weiter: Vergleichsarbeiten seien keine Prüfungen – ja was denn sonst, wenn eine Prüfungssituation inszeniert wird? Sodann: Die Lehrkräfte besprächen den Ablauf des Tests, »so kann« – wörtlich – »sich Ihr Kind ganz auf das Lösen der Aufgaben konzentrieren und entspannt arbeiten« – der blanke Hohn, denn für sehr viele Kinder bedeutet der Test nichts als leistungsmindernden Stress, u. zw. vor allem aus Versagensangst. Ganz treuherzig heißt es dann weiter zum häuslichen Üben (was ja der Sinn der Internetpräsentation ist): »Vermeiden Sie es, Leistungsdruck aufzubauen«, denn es gehe nicht um eine Bewertung, sondern um das Herausfinden von Fähigkeiten, die gefördert werden sollen – als wären die Probanden zu dumm zu erkennen, dass auch dies von der Bewertung der erbrachten Testleistung abhängt. Nebenbei haben die Autoren dieser Elternhandreichung mit dem Verweis auf den zu vermeidenden Leistungsdruck unfreiwillig verraten, dass sie sehr wohl wissen, was den Kindern schon im dritten Schuljahr im Hinblick auf die Empfehlung für die weiterführende Schule droht: Leistungsdruck, was sonst. Was da im Internet an Trainingsmaterial angeboten wird, mindert ihn nicht, sondern setzt ihn voraus und verlagert ihn verstärkt in die Familie als Ort der Testvorbereitung, anstatt ihn durch andere, stressarme Formen der Leistungserbringung und sinnvolle alternative Formen der Leistungsbeschreibung und -bewertung nach Möglichkeit zu mildern. Ein weiterer Grund für das Fehlen der Neuen Medien im schulischen Lernen und Arbeiten ergibt sich aus dem Umstand, dass die Vergleichsarbeiten sich an Lehrplanvorgaben orientieren müssen, diese sich wiederum an den Bildungsstandards, so dass wir uns in einem Regelkreis bewegen, in dem das freie Arbeiten und Lernen mit Neuen Medien kaum Platz haben kann. Deshalb können die Verlage für Lehr- und Lernmittel bzw. für Bildungsmedien neue Produkte an den Schulen auch nicht un88 Ulrich Herrmann

terbringen – entweder weil die Ministerien sie nicht genehmigen oder die Fachkonferenzen sie nicht einführen –, so dass das Fazit in der Chefetage eines großen Verlags lapidar lautet: »Wo kein Markt, da kein Produkt.«1 So hatte man sich vor 15 Jahren, Ende der 1990-er Jahre, den Schul- und Unterrichtsbetrieb mit Hilfe der Neuen Medien nicht vorgestellt; denn im Informationszeitalter, das damals ausgerufen wurde, sollten in der Informationsgesellschaft die Schulen keine medien- und informationstechnischen Freiräume darstellen. Der damalige Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Jürgen Rüttgers, und der damalige Telekom-Chef Ron Sommer riefen daher im April 1996 den gemeinnützigen Verein »Schulen ans Netz« ins Leben, mit dem Ziel, statt der zu diesem Zeitpunkt 800 Schulen alle 34.000 Allgemeinbildenden und Beruflichen Schulen in Deutschland mit einem Internet-Zugang zu versorgen. Dieses Ziel war 5 Jahre später erreicht. Heute richtet der Verein seine Aktivitäten u. a. auf Projekte zur frühkindlichen Bildung, Berufsvorbereitung und Migrantenförderung. Alles nachzulesen, wie könnte es anders sein, bei Wikipedia und auf den Internet-Seiten von »Schulen ans Netz«, und dort wird von einem außerordentlich interessanten Entwicklungsprojekt berichtet, von dem nachher noch ausführlicher die Rede sein muss, weil sich auch hier wieder zeigt, dass der Widerstreit zwischen pädagogischen Prinzipien

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Der Branchenverband VdS Bildungsmedien e.V. hat auf einer Pressekonferenz anlässlich der Stuttgarter »didacta« 2011 (22.–26.2.2011) folgende Zahlen mitgeteilt: Der Umsatz mit den (herkömmlichen) Bildungsmedien für die allgemeinbildenden Schulen in Deutschland stagniert auf dem Vorjahresniveau von 327 Mio. Euro. Der Anteil der digitalen Bildungsmedien sei äußerst gering (nach einer persönlichen Auskunft an den Vf. jährlich etwa 20 Mio. Euro) und stehe in keinem Verhältnis zur öffentlichen Diskussion über die Erschließung des Unterrichts für die digitalen Medien. »In keinem Bundesland gibt es spezielle Schulbudgets für digitale Medien.« (Quelle: bildungsklick, 18.2.2011)

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und pädagogischer Praxis durch letztere entschieden werden kann – wenn man sie denn zulässt!

Neue Medien sind nur Instrumente Zunächst Bundesminister Rüttgers am 19. September 1997 in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Seine Ausführungen waren – wie nicht anders zu erwarten – etwas abgehoben und allgemein gehalten, im Grundanliegen aber ganz plausibel: In der »Informations- und Kommunikationsgesellschaft« der Neuen Medien müssen möglichst Alle in deren Gebrauch eingeführt werden, und wenn »Bildung« – man höre! – die »neue Soziale Frage des 21. Jahrhunderts« ist, dann ist eine medien- und informationstechnische Grundbildung nicht nur für Berufsfindung und Berufschancen unerlässlich, sondern vermittelt unter Umständen generell bessere Start- und Erfolgschancen infolge der Fähigkeit, jeweils relevante Informationen finden und nutzen zu können. Dass ein Internetanschluss noch keine Sekunde Unterricht verändert oder veränderte schulische Arbeits-, Lern- und Bildungsprozesse anregt, dass wusste Bundesminister Rüttgers auch. Aber der Schlüssel dazu sollte bereitgelegt werden. Hartmut von Hentig hielt (in der gleichen Nummer der ZEIT) dagegen: Die Neuen Medien seien lediglich Instrumente für begrenzte Aufgaben der Gewinnung und Ordnung von Informationen, aber pädagogisch seien sie ziemlich nutzlos, denn sie stellten oder erzeugten keine Fragen, so dass sie auch keine Antworten bereithalten könnten. Der Zugang zu einem riesigen Informationsbestand bedeute zunächst einmal gar nichts, wie Hentig anhand einer Anekdote erläuterte, die von Joseph Weizenbaum, dem legendären Computer-Pionier (und -kritiker!) stammt. Sie geht so: Ein Vater führt seinen Zehnjährigen stolz in die Kongressbibliothek in Washington. In der großen Lesehalle 90 Ulrich Herrmann

unter der Kuppel sagt er überwältigt: »Hier, Johnny, gibt es alle Antworten der Welt.« Nach einem erwartungsvollen Augenblick der Stille sagt Johnny: »Papa, stell mal ’ne Frage.« Mit anderen Worten: Hentig verweist darauf, dass der Nutzung der Neuen Medien eine schulische pädagogisch-didaktische Lehrer-Arbeit vorgelagert ist, die – ganz richtig – durch nichts ersetzt werden könne und die dazu anleiten müsse, Fragen zu entwickeln, für deren Beantwortung die Wissensbestände der Neuen Medien dann sinnvoll genutzt werden könnten. Computer und Internet sind Instrumente, die aus unserer Alltagswelt nicht mehr wegzudenken sind. Hentig: »Der Computer ist nicht des Teufels; er stört die Bildung nicht; er zerstört sie schon gar nicht; er macht sie nicht überflüssig; er ersetzt sie aber auch nicht«; denn sie kommt ja nicht durch Klicken und Chatten, Surfen und Downloaden zustande, sondern durch Gespräche und Begegnungen, Geschichte und Geschichten, durch die Ordnungen unserer Vorstellungen in Begriffen und Urteilen. Die Neuen Medien, so können wir sagen, stellen eine unvorstellbare Menge an Informationen zur Verfügung aufgrund der technischen Verfahren der Kompression (Verdichtung), aber dasjenige, was wir in der Schule lernen sollen, ist – wenn man so sagen darf – die gedankliche Kompression von Vielerlei in Begriffen: dass Buchen, Eichen, Birken einen Wald bilden; dass wir unterscheiden lernen zwischen Ausländern, Migranten und Einheimische ausländischer Herkunft; dass und warum Wirtschaftskrisen grundstürzende politische und soziale Verwerfungen, wenn nicht gar Revolutionen zur Folge haben können; dass eine begrifflich differenzierte Sprache die Voraussetzung ist für differenzierte Kommunikation; nur was wir begriffen haben, bildet ein stabiles Ordnungsmuster in der Welt unserer Vorstellungen, Wertungen und Urteile. Ungeordnete Information ist kein Wissen, sondern richtet womöglich nur Verwirrung an; das Wissen als solches sagt noch nichts über seine Bedeutung; BeAnleitung zum Selberlernen 91

deutungen ergeben sich aufgrund von Fragen nach Zusammenhängen, Hintergründen und Folgen. Gewiss ist es richtig und wichtig, sich immer wieder des grundlegenden Auftrags der allgemeinbildenden Schule zu vergewissern. Aber das sagt noch nichts darüber, wozu Computer, Internet und Neue Medien denn auch für schulische Arbeits-, Lern- und Bildungsprozesse nützlich sein könnten. Im Rahmen von »Schulen ans Netz« hat das Projekt »Freie Lernorte – Raum für mehr« von 60 Ganztagsschulen in ganz Deutschland Erstaunliches zutage gefördert, nachzulesen, wie könnte es anders sein, im Volltext des Ergebnis- und Erfahrungsberichts im Internet. »Mehr« meint übrigens mehr Lernchancen, Lernfreiheit, Lernzeiten in der Schule und nicht nach oder neben ihr. Bevor einige Ergebnisse, Funktion, Einsatz und Folgen der Neuen Medien betreffend, vorgestellt werden, seien einige Überlegungen mitgeteilt, die einem Vorhaben vorausgehen müssen, das sich nicht darauf beschränken wollte, Computerarbeitsplätze einzurichten und den Schülern zu zeigen, wie sie mit Lernsoftware umgehen sollen oder wie sie für eine Projektpräsentation im Netz recherchieren und eine Power-Point-Show zusammenbasteln können. Es ist entscheidend, den Unterschied herauszustellen zwischen lediglich medial veränderter »Belehrung« durch Neue Medien (auch im Wechsel von LehrerPräsenz- und Schüler-Selbstlern-Phasen, was blended learning heißt und sich nicht nennenswert hat durchsetzen können) und der grundsätzlich prozess- und produktoffenen Arbeit der Schülerinnen und Schüler mit Neuen Medien (was als nicht lehrplankonform gemieden werden muss!). Das Anliegen des Projekts »Schulen ans Netz« wollte selbstverantwortliches und selbstgesteuertes Arbeiten und Lernen ermöglichen. Und um dies zu erreichen, so zeigte sich, muss die herkömmliche Betriebsförmigkeit von Schule und Unterricht gründlich umgebaut werden. Um welche Aspekte es sich dabei 92 Ulrich Herrmann

handelt, liegt auf der Hand, wenn das Generalziel lautet: den Schul- und Unterrichtsbetrieb umzustellen von der vorherrschenden Lehrer-Lehr-Tätigkeit auf eine zunehmende SchülerLern-Tätigkeit. Folgende Aspekte seien genannt:

Die neue Schule Um diesen Perspektivenwechsel praktisch werden zu lassen, müssen die Lehrkräfte umdenken und ihre Tätigkeit umstrukturieren: weg von der Informationsvermittlung – dafür sind jetzt die Neuen Medien verfügbar –, hin zur Initiierung und Beratung von Schüler-Arbeits-Vorhaben (soweit dies in der betreffenden Altersstufe und im jeweiligen Fach bzw. der betreffenden Unterrichtseinheit möglich ist und die Arbeitsergebnisse – Kenntnisse und Fertigkeiten – in den Kompetenzen-Katalog der betreffenden Jahrgangsstufe hineinpassen). Der fragend-entwickelnde Frontalunterricht muss dann mehr und mehr verschwinden und ersetzt werden durch Wecken von Neugier und Interesse, durch Einführungen in Fragestellungen, Hinführungen zu erklärungsbedürftigen Sachverhalten, durch das Bereitstellen von Arbeitsund Lernmaterialien, durch Beratung bei der Durchführung der selbständigen Recherchen und Ausarbeitungen. Die Lehrkraft kann sich jetzt individuell jenen zuwenden, die Rat und Unterstützung benötigen, und kann deren individuelle Lernvoraussetzungen und Begabungen besser berücksichtigen. So kann Überund Unterforderung vermieden werden, d. h. Misserfolgsangst oder Langeweile, die beiden Hauptkiller von Arbeitsmotivation. Die Schülerinnen und Schüler können sich nicht länger zurücklehnen, nach dem Motto: »Schau mer mal, was ›der/die da vorne‹ abspult«. Eigenverantwortliches und selbstorganisiertes Arbeiten und Lernen geht eben nur durch eigenes Tun – oder es passiert so gut wie nichts. Vor 120 Jahren wurde dies als das Anleitung zum Selberlernen 93

Arbeitsschulprinzip in der europäischen Reformpädagogik etabliert. Dies setzt voraus, dass die Schülerinnen und Schüler über Arbeits- und Lernmaterialien verfügen, die die Lehrkräfte entweder selber erstellt oder zusammengestellt haben – was ihre eigentliche Kompetenz ausmachen sollte! –, oder die in Regalen und Schränken bereitstehen. In den meisten Schulen und Klassenzimmern ist der Raum für diese Schränke und Regale gar nicht vorhanden, und demzufolge auch nicht für die Arbeitsplätze, die die Schülerinnen und Schüler nun benötigen. Jetzt ist es nicht länger mit einem Tischchen getan, auf dem grade mal zwei Bücher und ein Arbeitsblatt DIN A 4 Platz finden. Der 45-Minuten-Takt weicht größeren zeitlichen zusammenhängenden Arbeitsphasen im Rahmen des rhythmisierten Ganztagsbetriebs, und die Stoffverteilungspläne werden ersetzt durch fächerverbindende oder fächerübergreifende Themen. Arbeitsergebnisse finden jetzt ihren Niederschlag in zeitaufwendigen Präsentationen und in umfangreichen Portfolios. Die Schülerinnen und Schüler lernen jetzt beiläufig, dass Leistungstests – d. h. Memorierleistungen auf Knopfdruck – immer nur minderer Qualität sein können; ihre Arbeitshaltung und ihr Qualitätsbewusstsein verändern sich.

Freie Lernräume Soweit die Vorüberlegungen und Erwartungen an das Konzept »Freie Lernorte«, wofür man zur Überprüfung kein Geld ausgeben muss. Das weiß man. Was ist das Neue? »Freie Lernräume« meint Räume, die frei verfügbar sind, d. h. nicht innerhalb eines Raumprogramms verplant sind oder aus dieser Festlegung herausgenommen werden können. Hier oder auch auf Fluren finden sich jetzt Lernboxen und Lerninseln, sie eröffnen Lernchancen durch offenen Unterricht mit verschiedenen Arbeitsformen, 94 Ulrich Herrmann

in denen traditionelle und Neue Medien miteinander kombiniert sind: PC-Arbeits- und Bibliotheks-Leseplätze, Lernsoftware und Fachbücher, Lexika und Internetzugang, flexible Tafeln und Smartboards, vernetzte Rechner und flexible Möblierung. Mit einem Wort: Es geht um Arbeitsplätze für Schüler und Lehrer, die sie bisher nicht hatten! Es liegt auf der Hand, dass die Freien Lernorte demzufolge in ein neues Konzept von Schule und Unterricht eingebaut sein müssen: die Unterrichtsanstalt wird ein »Haus des Lernens«, der lehrerzentrierte Unterricht mutiert zum schülerzentrierten Selbstlernprozess. Lehrkräfte müssen dieses wollen und müssen selber lernen, wie das Selbstlernen der Schüler organisiert und unterstützt werden kann. Dazu brauchen sie Fortbildung und Unterstützung, Netzwerke und Erfahrungsaustausch, und ohne die Kooperation mit Eltern und Schülern geht nichts: denn die Eltern haben in der Regel immer noch das herkömmliche Bild von der »Unterrichtsanstalt« im Kopf, und die Schüler müssen ja nach und nach erst lernen, schulisches Arbeiten und Lernen in die eigene Hand zu nehmen und den Eltern beizubringen, nicht nach Noten, sondern nach Arbeitsergebnissen und nach Kompetenz-Zuwachs zu fragen. Nun kann man einwenden, dass eine solche Arbeits- und Lernorganisation nicht notwendigerweise vom Einsatz Neuer Medien abhängt. Der Wechsel von Unterricht, Gruppen- und Einzelarbeit, Portfolios und Präsentationen geht ja auch seit Jahrzehnten mit Kreide und Tafel, Papier und Buntstift, Schere und Klebstoff. Der Hinweis ist richtig, macht aber zugleich auf den Unterschied zum Einsatz der Neuen Medien aufmerksam: sie beanspruchen einen eigenen Arbeitsplatz und lösen deshalb die herkömmliche Lehr-Lern-Organisation im Klassenzimmer auf. Das wird eindeutig belegt durch die Auswertung des bereits erwähnten Ganztagsschulprogramms »Freie Lernorte«. HinAnleitung zum Selberlernen 95

sichtlich der Zielsetzung »Eröffnen von Lernchancen, individuelle Förderung und soziales Lernen« zeigte sich, dass die Freien Lernorte in hohem Maße während der Unterrichtsstunden, aber auch in Freistunden und für Gruppenarbeiten genutzt werden. Die Schulen berichteten (ausgewählte Zitate): »Im Unterricht ist sehr stark erkennbar, dass die Schüler selbst diese Orte wählen, ohne von dem Lehrer dazu aufgefordert zu werden. Es ist eine Selbstverständlichkeit geworden, zum selbständigen Arbeiten auch andere Räume als das Klassenzimmer zu nutzen.« »Die Schülerinnen und Schüler wissen die neu geschaffenen Möglichkeiten zu schätzen, wie die sehr gute Auslastung der Arbeitsplätze in der Bibliothek gerade auch in den Freistunden, Pausen und nach Unterrichtsschluss belegen.« »Die Auslastung der Mediothek, aber auch der Computerräume ist deutlich gestiegen… die Einrichtung von Freien Lernorten [führte] dazu, dass mehr Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufgaben anfertigten als vorher.« »Die Freien Lernorte werden vor allem zu ungestörtem Arbeiten … genutzt. Die Nutzung reicht von Nacharbeiten von Unterrichtsinhalten über Vorbereitung und Erstellung von Produkten … bis hin zur gemeinsamen Bearbeitung von Aufgaben aus dem Unterricht.«

Lernen am PC macht einfach Spass Einige Schulen formulieren es so: der Freie Lernort ist zum »Selbstlernzentrum« der Schule geworden. Zitat: »Die aus dem Klassenverband herausgelösten Schülerarbeitsgruppen erleben ein neues Gefühl der Selbstverantwortung im Rahmen des Lernprozesses, das dazu beiträgt, intrinsische Motivationsprozesse zu verstärken.« »Lernen (auch) am PC macht einfach Spaß.« Warum wohl? Er ist geduldig und vermittelt permanent Erfolgsgefühle bei Recherchen selbst durch »Treffer«, die eigentlich un96 Ulrich Herrmann

nütz sind – aber dann weiß man das wenigstens und niemand hat einen Versager oder Fehler registriert. Im Unterschied zum Lehrer hat der PC ja auch keine Ahnung, ob sein Benutzer mehr oder weniger informiert ist, mehr oder weniger motiviert: die Maschine beantwortet, wonach sie gefragt wird, und meist gibt sie noch ein paar zusätzliche Hinweise. Für diese Erfahrung von selbständigem Arbeiten und Lernen war es, 120 Jahre nach den ersten westeuropäischen und angelsächsisch-amerikanischen reformpädagogischen Impulsen in diese Richtung, auch höchste Zeit, denn die Differenz der Mediennutzung ist zunächst ja nur graduell: ob ich die Wirbeltiere in Brehms »Tierleben« nachschlage und »Französische Revolution« im Geschichtsbuch oder jetzt beides im Internet, macht keinen prinzipiellen Unterschied (wenn wir mal beiseite lassen, dass das Buchwissen in der Regel besser geprüftes und gesichertes ist). Jetzt entdecken Lehrkräfte aber auch einen Zugewinn: nämlich neue Varianten der Binnendifferenzierung – geleitete und selbständige Selbstlerner – sowie die Kombination von stärkeren und schwächeren Lernern, weil – so wörtlich – »Schülererklärungen manchmal eine wertvolle Ergänzung des Unterrichts sind.« Vermutlich sind sie nicht nur manchmal, vielmehr meist die einzige effektive Lernhilfe – sie ergänzt Unterricht nicht, sondern muss ihn ersetzen! Im Ganzen gilt: »Während des Unterrichts wird der Lehrer immer mehr der Lernberater jedes einzelnen Schülers. Da selbständige Lerner keine oder kaum Betreuung brauchen, kann sich der Lehrer den anderen Schülern intensiver widmen. Der Unterricht wird offener, da Schüler während des Unterrichts mehrere unterschiedlich geartete Lernorte aufsuchen dürfen.« Demzufolge lernen auch die Lehrkräfte nach und nach, ihren Unterricht und die Arbeitsaufträge an die Schülerinnen und Schüler umzubauen. Zitat: »Mehrere Kolleginnen geben zum Beispiel Rechercheaufträge, die außerhalb oder innerhalb des Anleitung zum Selberlernen 97

Unterrichts vor allem in der Bibliothek oder über das Internet selbständig von den SchülerInnen bearbeitet werden können.« »Über die Einrichtung der Bibliothek und eines zusätzlichen Computerraumes gelingt es immer häufiger, dass Lehrende traditionelle Lehr- und Lern-Arrangements aufgeben und in ihrer Planung den Lernenden individuelle Freiräume schaffen.« »Die KollegInnen planen die PC-Nutzung in ihren Unterricht ein. So arbeiten zum Teil Klassen in mehreren Räumen gleichzeitig. Das heißt während des normalen Unterrichts im Klassenraum gehen Arbeitsgruppen mit Arbeitsaufträgen in Räume mit PCAusstattung, um selbständig Arbeitsergebnisse für den Gesamtunterricht [fächerübergreifend an einem größeren Thema] zu erarbeiten und diese in die Ergebnisse des Gesamtunterrichts zu integrieren.« Soweit die Berichte. Diese Vorgehensweise erfordert alternative Formen der Dokumentation von Arbeits- und Lernleistungen, vor allem durch Portfolios. Diese Arbeits- und Lernerfahrungen führen auch dazu, dass die Zugänge zu den Neuen Medien auch außerhalb des Unterrichts und in der Freizeit intensiv genutzt werden. Fazit: »Freie Lernorte stellen die Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt, fördern Selbständigkeit, Motivation, Eigenverantwortlichkeit…, selbstgesteuertes Lernen, … lassen Individualität zu und stärken sie… fördern durch Medienvielfalt die Medienkompetenz … verändern den Unterricht. Sie machen ihn lebendig, anschaulich, spannend, individuell«. Unterschiedliche »Lernkanäle« werden angesprochen, »die Entwicklung eigener [individueller] Lernstrategien [wird] in Gang gebracht« und damit die Lerneffektivität deutlich erhöht. Kurzum: »Die Schüler erfahren Unterricht und Schulleben interessanter und motivierender.« Neue Medien in Freien Lernorten werden genutzt im Computerraum als Lernatelier, von flexiblen Lerngruppen, von Fördergruppen während des Unterrichts, für die Frei- und Wochenplanarbeit, für Übungsaufgaben und Zusatz- oder För98 Ulrich Herrmann

derprogramme, in Phasen der Informationsbeschaffung, der Aufgabenlösung und übenden Vertiefung, als freies oder gezieltes Angebot, in verschiedenen Niveaus, für verschiedene Lerntypen, für eine rechnergestützte Kommunikation von Lehrern und Schülern bei Rückfragen während der Arbeit. Dadurch werden auch alle jene Schlüsselqualifikationen erworben, die in jeder Ausbildung und in fast allen anspruchsvolleren Berufstätigkeiten beherrscht werden müssen. Der Mix von Lernsoftware und Internet, offenem Unterricht und Portfolio kommt auch den Lehrerinnen und Lehrern zugute. Sie können sich jetzt sorglos entspannt einzelnen Schülerinnen und Schülern zuwenden, denn es kann ja kein Unterricht mehr zum Erliegen kommen und im Klassenzimmer kein Chaos ausbrechen, weil die anderen ja mit ihren eigenen Arbeiten beschäftigt sind. Die Lehrertätigkeit nähert sich einem Zustand an, der der allein richtige ist: nicht die an den Nerven zerrende Lehrertätigkeit soll den Schulalltag bestimmen, sondern die intensive, von Unterricht ungestörte Lernarbeit der Schülerinnen und Schüler. Es ist ja doch bemerkenswert, dass auf dem Umweg über die Etablierung der Neuen Medien endlich wieder in den Blick kommt, dass die Schule der Ort ist, wo das Arbeiten und Lernen der Schüler stattzufinden hat – und nicht nachmittags zu Hause oder bei der Nachhilfe.

Innovationsdruck der Neuen Medien Aber dieser Blick kann sich keineswegs in die lichtvolle Zukunft der »Bildungsrepublik Deutschland« richten, weil sich auch an dem hier vorgestellten Projekt das bekannte Elend von Bildungsförderung im Allgemeinen und Schul- und Unterrichtsentwicklungsförderung im Speziellen ablesen lässt: diese Förderungen sind projektgebunden, also zeitlich befristet, und Anleitung zum Selberlernen 99

auch das hier berichtete Programm ist – ohne Fortsetzung ausgelaufen… Und da es allenthalben an Räumen und Geld, Personal und Lernmaterial fehlt, werden wir nicht so bald die flächendeckende Transformation der Unterrichtsanstalten in Freie Lernorte feiern können. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass mit der flächendeckenden Einrichtung der Ganztagsschulen die wichtigste Voraussetzung dafür geschaffen wird, die Neuen Medien in den schulischen Lehr-Lern-Arbeits-Alttag zu integrieren; denn die Öffnung des Unterrichts, die zusätzlichen Zeitfenster für Recherchen und Präsentationen, die Arbeiten in fächerübergreifenden und -verbindenden Themenfeldern, das Lernen, Üben und Vertiefen am PC – all dies lässt sich ohne zusätzlichen beträchtlichen Zeitaufwand, also im Rahmen des rhythmisierten Ganztagsbetriebs – nicht realisieren. Das aber hebt die strukturelle Trennung von Lehrer-Lehrtätigkeit am Vormittag und Schüler-Lern-Arbeit am Nachmittag auf, das Schüler-Lernen wird in die Schule zurückverlegt, durch die veränderte Zeitstruktur wird der Druck aus der Lehrer-Lehrtätigkeit herausgenommen, unterstützt durch die Freien Lernorte. Die Folgen: Neben einem weitgehend stressfreien Familienleben ohne Hausaufgaben nach der Schule und neben den nicht mehr allein gelassenen überforderten Schülern gehören jetzt auch die bisher überbelasteten und jetzt durch die Schüler-Selbstlernzeiten zeitlich entlasteten Lehrkräfte zu den Nutznießern des neuen Systems. Und sie werden – um auf die Eingangsgeschichte von der Stuttgarter didacta zurückzukommen – einen beträchtlichen Zugewinn an Professionalität erfahren: Sie können jetzt ihren Schülerinnen und Schülern bei deren Lernarbeit zuschauen und lernen, wie Schüler arbeitend lernen. Durch den Innovationsdruck der Neuen Medien werden auch Schulen und Lehrkräfte nicht umhin können, zu Selbstlernern zu werden, obwohl die derzeitige Bildungspolitik der Standards und Tests dagegen hinhaltenden Widerstand leistet. Aber 100 Ulrich Herrmann

der Erfolg der Neuen Medien wird sich nicht aufhalten lassen, so dass alle Beteiligten – die Schule, die Lehrkräfte, die Schüler – endlich ihre strukturellen Entsprechungen finden werden: alle lernen, gemeinsam und individuell. Die immer wieder geforderte Individualisierung hat endlich ihr Instrumentarium gefunden: die Neuen Medien. Sie könnten Motor einer neuen Schul- und Lernkultur werden.

Nachweise www.eltern.isq-bb.de www.schulen-ans-netz.de Sandra Abendroth, u. a.: Dokumentation »Neue Medien in der Ganztagsschule«. Bonn 2005. Daniela Bickler (Schulen ans Netz e.V.): Freie Lernorte – Raum für mehr. Ergebnis- und Erfahrungsbericht der medienpädagogischen Begleitung. Volltext unter www.freie-lernorte.de Hartmut von Hentig: Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben. Nachdenken über die Neuen Medien und das gar nicht mehr allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. (Beltz Taschenbuch 115) Weinheim/Basel 2002. Darin S. 295 ff. die Kontroverse Rüttgers – Hentig von 1997. Ulrich Herrmann: Schulen zukunftsfähig machen. Bad Heilbrunn 2010. Michael Klebl/Michael Köck (Hrsg.): Projekte und Perspektiven im Studium Digitale. Münster i.W. 2006. Darin: Heinz Mandl: Von E-Learning zu Blended Learning – Trends und zukünftige Anleitung zum Selberlernen 101

Entwicklungen, S. 11–28; Jean-Pol Martin: Gemeinsam Wissen konstruieren: Am Beispiel der Wikipedia, S. 157–164. Marion Kranen: Zeig was du kannst. Die Portfolio-Methode im Unterricht. Volltext unter: www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen

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Michael Maier

Demokratisch, sozial und solidarisch – warum das Internet neue Formen des Lernens ermöglicht Intellektuelle stellen das Internet gerne unter Generalverdacht. Sie sehen überall Gefahren und Bedrohungen. Sie fragen sehr besorgt: Macht uns das Internet dumm? Hat sich die Menschheit nach der Geißel des Fernsehens nun eine noch gefährlichere Waffe zur geistigen Selbstzerstörung erschaffen? Werden nicht durch das Internet all jene abendländischen Werte vernichtet, die wir als Lebensmittel brauchen, um zu überleben: Autorität, Respekt und Ehrfurcht? Jeder kann sich zu Wort melden – wie furchtbar. Denkmäler werden reihenweise vom Sockel gestoßen – wie pietätlos. Und: Das Wort der bewährten Hüter der Weisheit gilt nicht mehr – überall Widerspruch, Aufbegehren und Revolution! Als besonders verhängnisvoll galt manchen Kritikern des Internet seine, wie sie sagen, zersetzende Wirkung. Es zerstöre den Verstand. In den USA klagte ein Intellektueller: Er könne Tolstois »Krieg und Frieden« nicht mehr lesen. Durch die tägliche Kurzatmigkeit des Emailens außer Atem geraten, könne er keine längeren Texte mehr verdauen. Seine Konzentration sei gestört. Lehrer berichten von Schülern, die nicht mehr stillsitDemokratisch, sozial und solidarisch 103

zen. Handys müssen vom Schulhof verbannt werden. Alles gerät durcheinander. Eigentlich muss man dieses verdammte Internet wieder abschalten. Wir laufen doch geradewegs auf eine Katastrophe zu. Oder? Ja! Genau das tun wir! Doch nicht, weil das Internet die Kinder dümmer und die erwachsenen Autoritäten schutzloser macht. Wir laufen auf eine Katastrophe zu, rasen geradezu in sie hinein, weil die globalen Probleme immer größer werden. Gerade eben haben wir eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hinter uns. Worin bestand die eigentlich? Sie war nichts anderes als ein sehr erfolgreiches Spiel von einigen global tätigen Kriminellen. Diese haben die große Unübersichtlichkeit ausgenützt. Haben Finanzprodukte erfunden, die keiner mehr verstehen konnte. Sie haben diese Produkte – mithilfe der neuen Technologien – in Lichtgeschwindigkeit auf den globalen Märkten in Umlauf gebracht. Die weltweit agierenden Finanzjongleure haben die Möglichkeiten des Internet perfekt eingesetzt. Jedoch nicht zur Transparenz, sondern zur Verschleierung. Nicht zur Offenheit, sondern zur Abschottung. Nicht zur Teilhabe, sondern zum exklusiven Pokerspiel. Gino Yu ist Professor für digitales Entertainment und Gaming-Entwicklung an der Polytechnischen Universität von Hong Kong. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage: Wie kann all das, was die Kids bei ihren Computer-Spielen treiben, für die »erwachsene« Gesellschaft genutzt werden? Er hat einen bemerkenswerten Zusammenhang offen gelegt: Alle Probleme der Erde – Finanzen, Klima, Bevölkerung, Nahrungsmittel, Ölverbrauch – wachsen exponentiell. Und die einzige Industrie, die ebenfalls exponentiell wächst, ist die digitale Industrie. Wir können kaum mehr Schritt halten mit den Entwicklungen. Unsere kulturellen Bordmittel reichen nicht aus. Die Fragen, die wir zu beantworten haben, sind mitnichten akademisch. Es geht um das Überleben der Menschheit. Wir alle 104 Michael Maier

spüren das. Es wird uns schwindlig, weil sich das Rad immer schneller dreht. Wir wundern uns, welche Probleme wir auf einmal haben! Probleme, die wir bis vor kurzem noch als ganz und gar »exotisch« eingestuft haben.

Internet und Demokratie Doch halt! Sehen wir nicht auch, dass Lösungen, die wir bisher ebenfalls als ganz und gar »exotisch« eingestuft haben, plötzlich auch in Deutschland funktionieren? Merken wir nicht, wie neue Mechanismen rasend schnell auch hierzulande Wirkung entfalten? Wir blicken gebannt nach Nordafrika. Sind wir doch ehrlich: Bis vor kurzem noch haben wir die Menschen in diesen Ländern nicht gekannt. Sie haben uns nicht interessiert. Wir haben uns ihnen überlegen gefühlt. Und auf einmal: Mit Facebook, Twitter und Youtube fegen die jungen Leute einen Diktator nach dem anderen hinweg. Wir sehen die Bilder von zehntausenden jubelnden Helden, die mit bloßen Händen und nichts als den Waffen des Internet eine politische Umwälzung herbeigeführt haben, die dem Umbruch in Europa im Jahr 1989 in nichts nachsteht. Vor einigen Monaten war uns zum ersten Mal der Mund offen geblieben vor Staunen: Die Plattform Wikileaks veröffentlichte im Internet streng geheime Dokumente aus den Unterlagen der US-amerikanischen Diplomatie. Ein paar freche Underdogs haben die Welt der Mächtigen gekapert. Haben für sich neu definiert, was geheim sein soll und was nicht. Sie haben erschütternde Videos zu Tage gefördert, die Gräueltaten von amerikanischen Soldaten dokumentierten. Sie haben eine globale, öffentliche Debatte über eine selbstherrliche WeltmachtPolitik eröffnet, die sich konsequent der Kontrolle entzieht. Das berühmte Video, welches GIs im Irak zeigt, wie sie auf einen Demokratisch, sozial und solidarisch 105

Kleinbus mit Kindern schießen, wirkt wie ein schreckliches Dokument aus dem Reich der Video-Spiele. Von der Armee selbst dokumentiert, wirken die enthemmten Soldaten wie genau jene Jugendlichen, die beim Computer-Kriegsspiel nicht mehr zwischen virtueller und echter Realität unterscheiden können. Wo soll das alles hinführen? Zum Guten? Zum bösen, ja schrecklichen Ende? Der Schriftsteller H. G. Wells schrieb in seiner monumentalen »Outline of History« im Jahr 1920: »Die menschliche Geschichte wird mehr und mehr zu einem Wettrennen zwischen Erziehung und der Katastrophe.« H. G. Wells war optimistisch und meinte, dass die Welt trotz aller Bedenken Fortschritte machen werde. Es fällt zwar manchmal schwer das zu glauben. Wir sehen die weltgeschichtlichen Rückfälle in die immer gleichen Barbareien. Ausgerechnet die Erziehung soll es sein, die die Katastrophe abwendet? Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, wie Recht H. G. Wells hatte: Der Freiheitswillen der Völker in den arabischen Ländern konnte sich nur artikulieren, weil die jungen Menschen dort doppelt erfolgreich gelernt haben. Sie wussten, wofür sie kämpfen. Und sie wussten, wie sie es tun müssen. Demokratie, Freiheit, Menschenrechte – in Tunesien, Libyen oder Ägypten gab es keine freie Presse, keine humanistische Erziehung, kein Parteiensystem. Niemand hat den jungen Leuten gesagt, welche Werte begehrenswert sind. Über Facebook, Google und Twitter haben sie die Vorzüge der Demokratie kennen- und so schätzen gelernt, dass sie dafür auf die Straße gingen. Dass sie sogar ihr Leben riskierten. Für Ideen, von denen sie virtuell erfahren haben. Zugleich mussten sie lernen und verstehen, wie man die Werkzeuge des Internet bedient, um sie zu beherrschen. Dann erst konnten sie sich zusammenschließen, organisieren und sich schließlich Gehör verschaffen. Wie wir in Nordafrika gesehen haben, ist Technologie für diese Jugendlichen kein Luxus und 106 Michael Maier

kein Spielzeug. Sie haben das Internet verwendet, um der Forderung nach Menschenrechten und Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen. Die erfolgreichen Revolutionen in der arabischen Welt beruhen auf einem einfachen Prinzip. Dieses wird auch in den modernsten Formen der Pädagogik weltweit praktiziert. Es geht um das Lernen von den Gleichaltrigen, den Freunden, den Gesinnungsgenossen. Peer-To-Peer, »Freund zu Freund«, nennt sich dieses Prinzip. Einer lernt vom anderen. Nicht vom Lehrer, nicht vom Erzieher. Nein – mein Mitschüler ist mein Lehrer, und ich unterrichte ihn. Wir können dieses Konzept besser verstehen, wenn wir den Blick über Europa hinaus richten. Zwei Drittel der Welt sind heute immer noch von Armut bedroht. In weiten Teilen der Erde ist Bildung ebenso Mangelware wie Wasser. Die elementaren Probleme sind jedoch so groß, dass jeder Strohhalm ergriffen werden muss. Die neuen Technologien spielen genau die Rolle dieses Strohhalms. »Erziehung plus Technologie gleich Hoffnung«, sagt der britische Erziehungsexperte Charles Leadbeater. Er nennt Beispiele aus den Slums in Nairobi in Kenia. Dort lernen die Kinder über das Internet, wie sie sich am besten gegen eine HIV-Infizierung schützen können. Sie lernen es von den Mitschülern. In Brasilien bringen Jugendliche einem Gleichaltrigen bei, wie er seine kommerziellen Erfolge als Drogendealer und seine Computerkenntnisse aus dem Gefängnis für eine erfolgreiche zivile Karriere als Unternehmer verbinden kann.

Internet und Lernen Der aus Indien stammende Wissenschaftler Sugata Mitra ist ein leidenschaftlicher Vertreter der »Kind-bezogenen Erziehung«. Er forscht im englischen Newcastle. Seine Spezialität: Zu beweiDemokratisch, sozial und solidarisch 107

sen, dass Kinder zwischen 6 und 12 Jahren ohne jegliches formale Training den Computer beherrschen können und ihr Wissen so vermehren. Sein »Loch in der Wand« genanntes Projekt machte Mitra weltberühmt: Im Jahr 1999 baute er einen Computer mit Internet-Anschluss in eine Wandnische in. Das sah aus wie ein Geldautomat, der über Nacht in einem Slum in Delhi platziert wurde. Zu seiner großen Freude fand er heraus: Die Kinder, die den Computer fanden und die noch nie zuvor mit einem solchen Gerät in Berührung gekommen waren, lernten ohne Hilfe von Erwachsenen, das für sie außerirdische Gerät zu bedienen. Ihre Englisch- und Mathematik-Kenntnisse machten Riesensprünge. Das Experiment wurde schließlich zur Vorlage des mit einem Oscar preisgekrönten Films »Slumdog Millionaire«. Mitra hat diese Methode weiterentwickelt und an den unterschiedlichsten Orten der Welt getestet. Lehrer stellen den Kindern eine präzise Frage. In Vierergruppen setzen sich die Kinder vor den Computer, um eine Antwort zu finden. Mitra kam stets zu denselben Ergebnissen: Mit Hilfe ihrer Mitschüler tasten sich die Kinder an die richtigen Antworten heran. Die Lernerfolge sind nachhaltig. Denn nach einigen Wochen wurden die Kinder wiederum befragt, diesmal jedes für sich. Und siehe: Alle wussten die Antwort. Jeder »Schüler« hatte also im strengen Sinn etwas gelernt. Ein anderes, faszinierendes Projekt wurde von Corrado Petrucco, einem Erziehungswissenschaftler in Padua, durchgeführt. Schüler wurden – gemeinsam mit ihren Lehrern! – ausgeschickt, um sich als Lehrer für die Öffentlichkeit zu betätigen. Sie sollten Beiträge für die Online-Enzyklopädie Wikipedia verfassen. Thema: Historische Stätten in unserer Region. Kinder und Lehrer führten gemeinsam Interviews mit den Dorfältesten und Experten, studierten historische Dokumente und legten Foto-Galerien an. Professor Petruccos Fazit: »Die Kinder lernten nicht nur unglaublich viel über die lokale Geschichte und 108 Michael Maier

die Gemeinschaft, in der sie leben. Sie bekamen auch einen Einblick in das Innenleben der Wikipedia und sahen, dass auch Amateure wertvolle Inhalte erstellen können. Sie begannen darüber hinaus zu verstehen, wie wichtig es ist, sich auch über den Wahrheitsgehalt einer Information zu vergewissern.« Dieses gewagte und doch so logische und einfache Experiment zeigt: Es sind viele neue Dimension, die wir mit der Erziehung über das Internet erschließen. Nicht nur, dass es vollkommen ungewöhnlich ist, dass Lehrer und Schüler sich auf dasselbe Niveau begeben – als Fragende, Suchende und Forschende auf Augenhöhe. Es geht um Macht und Kontrolle. Jenny Lane hat in Perth in Australien ein Projekt gestartet, das den schönen Titel trägt: »Heute die Lehrer für das Morgen vorbereiten«. Es gibt in diesem Projekt keine Richtlinien. Alles wird über digitale Medien und soziale Netzwerke abgewickelt. Alle müssen permanent lernen: Die Lehrer, denen die digitalen Medien naturgemäß sehr fremd sind, und die Schüler – die ihre heißgeliebten sozialen Netzwerke erstmals für etwas anderes einsetzen müssen als für Chat, Tratsch oder Flirt mit den Gleichaltrigen.

Die neue Lust am Teilen Peer-To-Peer gibt es auch für die Erwachsenen. Eine der erfolgreichsten Webseiten im Bereich der Online- Erziehung ist die Seite »Teacher-Training-Videos«. Auf dieser Seite erklärt ein britischer Erziehungsexperte mit großer Akribie, wie man die einzelnen Werkzeuge des Internet verwendet. iTunes, Twitter, Wikis und Blogs werden mit kleinen Video-Sequenzen vorgestellt. Ganz neue kollaborative Methoden werden erklärt. PeerTo-Peer (»Freund zu Freund«) ist eine Geisteshaltung, eines jener typischen Kulturgüter, entstanden aus dem Internet. Man behält Wissen nicht für sich oder rückt es nur gegen Bezahlung Demokratisch, sozial und solidarisch 109

raus. Wissen ist dann am wertvollsten, wenn es weitergegeben wird. Wer teilt, bekommt wieder etwas. So entstehen die berühmten Communities im Internet. Sie sind nicht bloß Schwatzbuden, sondern lose, unvorhersehbare Zusammenschlüsse von Experten, Freunden, Sympathisanten. Die Internet-Experten im Erziehungsbereich sehen sich nicht als Beamte oder als Halbgötter. Sie sind stets Lernende und genau darauf stolz. Hier schlägt nicht Lehrer Lämpel den Takt und auf die Fingerkuppen. Mit kindlicher Begeisterung werden Fundstellen zugänglich gemacht. Fast immer ist Weihnachten. Die Lust am Teilen, wie sie durch das Internet stimuliert wird, ist nicht nur auf die Experten beschränkt. Sugata Mitra, unser indischer Experte mit dem Computer in der Wand, hat noch ein anderes Projekt ins Leben gerufen. Mit ihm schöpft er die Möglichkeiten des Internet in unnachahmlicher Weise aus. Er bat 200 ältere Damen in England, an der sogenannten »Granny Cloud«, also der »Wolke der Großmütter«, teilzunehmen. Der Name »Cloud« kommt vom Begriff »Cloud Computing« und bedeutet: Daten werden nicht mehr einzeln auf den individuellen Festplatten gespeichert. Sie liegen irgendwo im weiten World Wide Web. Der Nutzer kann stets darauf zugreifen – und hemmungslos teilen! Wissen wird so über Kontinente und Generationen verknüpft. Für jeweils eine ehrenamtliche Stunde in der Woche sind unsere 200 Großmütter aus England die Lehrer für Kinder in Indien. Sie unterrichten Schulklassen über das Internet. Die über eine Videokonferenz-Software miteinander Verbundenden treten in einen faszinierenden Dialog. Auf der einen Seite stets die vornehme, englische Dame mit der typischen Queen-Frisur. Ihr gegenüber, viele tausend Kilometer entfernt, die Kinder aus Indien, lebendig, aufgeregt, voll bei der Sache. Natürlich ist die Technik die Basis. Die Internet-Verbindung ermöglicht erst die Kommunikation. Doch viel wichtiger ist der kulturelle Ansatz: Großmütter, so erklärt Mitra, sind deswegen 110 Michael Maier

so gute Lehrer, weil sie ihre Enkel bewundern. Sie haben keine pädagogische Mission außer der Freude über den Lernerfolg der Kinder. Diese Absichtslosigkeit macht sie zu vorbildlichen Pädagogen. Bemerkenswerter Nebeneffekt: Das Internet ist schon längst kein Medium für die Jungen. Die einfache Bedienung ermöglicht es auch den Alten, sich zu beteiligen. So wird ihr reiches Wissen genutzt, in diesem Fall sogar für die kommenden Generationen auf der anderen Seite des Planeten. Die alten Damen selbst sind mächtig stolz über ihren Beitrag – und das zu Recht! Diese modernen Methoden klingen doch ganz anders als alles, was wir von unseren klassischen Erziehungs- und Wissensvermittlungssystemen so kennen. Wir schätzen und fürchten zugleich die Fundamente unseres Erziehungssystems: feste Lehrpläne, Frontalunterricht, autoritäre Lehrer. Im Zuge der Aufarbeitung der Segnungen der 68er Jahre müssen sich im Moment alle Reformschulkonzepte neu legitimieren. Bücher über Erziehungs-Disziplin werden zu Bestsellern, egal, ob sie von heimischen Internats-Fürsten geschrieben wurden oder chinesischen Tiger-Müttern. Es scheint, als würde das Pendel der Erziehung eher wieder in die Richtung »Zucht und Ordnung« ausschlagen. Hier ist entschiedener Widerspruch geboten. Erstens ist die ganze »Zucht-und-Ordnung«-Nostalgie nichts als Verklärung. In den meisten Fällen waren die Lehrer am autoritärsten, die am wenigsten verstanden – von ihrer Materie und erst recht von den Kindern. Die besten Lehrer waren immer schon die, die so sehr in sich ruhten, dass sie mit einem Kind – mit einem Kind! – in einen Dialog treten konnten. Interaktion führte immer am ehesten zur Motivation. Natürlich kann es noch lange dauern, bis sich das in unseren traditionsreichen Bildungseinrichtungen herumgesprochen hat.

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Bei der alljährlich in Berlin stattfindenden, größten OnlineBildungs-Konferenz, der Online-Educa, sagte kürzlich Adrian Sannier vom Pearson eCollege: Eigentlich sei die Einführung von Technologie in die Erziehung gescheitert. Man sei im Grunde doch nie über den alten Ansatz hinaus gekommen: Ein Lehrer, eine Klasse. Der Lehrer ist der Chef. In der Klasse hat jeder für sich selbst zu lernen. Aus, basta. Sannier glaubt, dass es einen grundlegenden kulturellen Wandel geben muss. Er fordert, dass Lernen als Mannschaftssport begriffen werden muss, dass Methoden, Ergebnisse und Prozesse mit genau diesem Spirit durchtränkt sein sollten. Wie Recht er hat! Die eigentliche Bruchlinie verläuft nicht zwischen dem melodramatischen »Entweder Erziehung oder die Katastrophe!«. Die Herausforderung besteht darin, dass jene fundamentalen Werte, ohne die es das Internet nicht gäbe, Teil der Erziehung werden. Nur wenn die Methoden des Internet – Partizipation, Interaktion, Peer-To-Peer – in die ErziehungsProzesse einsickern, werden sich auch deren Inhalte ändern. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu beobachten, dass die wirklichen Innovationen in diesem Bereich nicht von den Bildungs-Eliten des reichen Westens kommen. Sie kommen aus Asien, Afrika, Lateinamerika. Sie kommen von Völkern, in denen das Wachstum besonders stark ist. Wo viele Kinder nachdrängen, ist Bildung ein natürliches Anliegen. Überalterte Gesellschaften wie in Deutschland oder Frankreich neigen natürlicherweise eher dazu, konservativ zu sein: Wenn es wenige Kinder gibt und die Alten immer länger das Heft in der Hand halten, dann ist der Druck zu Veränderung scheinbar nicht besonders groß. In jungen und schnell wachsenden Gesellschaften dagegen ist Bildung und Erziehung nur über jene Werte zu vermitteln, die das Internet groß gemacht haben. Internationalität und Globalisierung erfordern einen anderen Hebel. Die jungen Ge112 Michael Maier

sellschaften spüren das und handeln. Es ist beeindruckend, wie etwa die Türkei in diesem Bereich zur Avantgarde zählt. Bildung ist dort »Big Business«. Zahlreiche Unternehmen befinden sich im Wettbewerb und betreiben Schulen überall auf der Welt – auch in Deutschland. In vielen dieser Schulen gibt es ganz selbstverständlich für jeweils zwei Schüler einen Computer. Die Kinder lernen Englisch, um sich im World Wide Web zurechtzufinden. Ähnliches gilt für Indien oder Korea. Interaktion bedeutet: Lernen ist keine Einbahnstraße. Im Internet ist Lernen immer Geben und Nehmen. Mitschüler, Lehrer und all die Generationen, die schon vor uns ihr Wissen offengelegt haben – mit ihnen allen kommunizieren wir. Wichtig ist, dass die Motivation stimmt. Charles Leadbeater sagt, dass Motivation aus erziehungswissenschaftlicher Hinsicht die zentrale Triebfeder für erfolgreiches Lernen ist. Lernen müsse Spaß machen, unterhaltend sein, verspielt und doch zugleich fordernd und anstrengend. Die besten Schulen erkennt man daran, dass die Kinder hart lernen und doch Spaß dabei haben. In Venezuela gibt es das Projekt El Sistema. Jedes Kind sollte ein Instrument lernen. Um die Kinder bei der Stange zu halten, wurden überall im Land klassische Orchester gegründet. Die Kinder waren mit unvorstellbarer Begeisterung bei der Sache. Das Projekt hat mittlerweile zahlreiche Musiker von Weltrang hervorgebracht – wie etwa den international gefeierten Dirigenten Gustavo Dudamel. Technologie treibt den Transformationsprozess an. Nicht nur die Beherrschung der verschiedenen Werkzeuge ist wichtig. Auch die Erkenntnis, dass der technologische Rahmen die Substanz des Wissens verändert. Nehmen wir das gute alte Buch. Was ist es – technisch gesehen? Im besten Fall eine kompetente Momentaufnahme. Ein gelungenes, ideelles Standbild, in dem alle Zusammenhänge gefrieren und so ein Stück Kontext sichtbar wird. Im Internet dagegen wird Wissen immer mehr als dyDemokratisch, sozial und solidarisch 113

namische, sich dauernd verändernde Datenbank verstanden. Die ständige Ergänzung und Erweiterung von Wissen ist keine Sache der Kultusministerien, sondern eine res publica – ein Anliegen für alle – geworden. Quellentreue spielt in einem solchen Prozess eine besondere Rolle. Die gerne vorgebrachte Behauptung, das Internet sei in erster Linie ein geistiger Selbstbedienungsladen, ist falsch. Die Diskussionen über den Schutz des geistigen Eigentums ist erst durch das Internet über die Kreise der Experten hinausgedrungen. Im Internet gilt seit jeher: Der größte Wert in der Nennung einer Quelle ist der direkte Link zu ihr! Das Desaster um die Doktorarbeit des ehemaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg wurde maßgeblich durch Aktivisten des Internet hervorgerufen: Sie hatten auf der Website »Guttenplag« akribisch jede gestohlene Stelle aus der Dissertation markiert, das Original im Wortlaut daneben gestellt, und so kam der Minister zu Fall. Seit dem Fall Guttenberg überlegt sich jeder zweimal, ob er abschreibt. Das Modell »Guttenplag« – eine kollaborative Plattform zur gemeinschaftlichen Erstellung von Inhalten – wird Schule machen. Dies gilt für den politischen Raum ebenso wie für den der Schulen und anderer Erziehungseinrichtungen. Natürlich wird auch der Begriff der Quelle neu zu definieren sein: Inhalte werden nicht mehr bloß in Lehrbüchern vermittelt, sondern in lebenden Organismen, wie zum Beispiel im Kurznachrichtendienst Twitter. Dieser kann von ganzen Schulklassen projektbezogen eingesetzt werden. Inhalte werden in einem viel früheren Stadium gemeinschaftlich erstellt. Dies wird zwangsläufig zu einer Neubewertung von individuellen Leistungen führen. Denn anders als im klassischen Schul- und Erziehungsbetrieb wird die Leistung des einzelnen unter Umständen sogar höher bewertet, wenn sie dazu geführt hat, dass die Gruppe profitiert. Kollaboration ist das Gegenteil von Faulheit. Hier geht es nicht um die Allianz der Drückeberger. Künftig 114 Michael Maier

wird ein Schüler dann gut benotet, wenn er sein Wissen in die Gemeinschaft einbringt. Nicht immer ist das eigene Werke das beste. Der entscheidende Hinweis zu einem Werk, das fehlende Puzzle in einer Recherche – darauf kann es ankommen. So kann die Klasse als Gemeinschaft ein Werk schaffen, wie es der Klassenbeste allein nie geschafft hätte. Das Internet erweitert auch unsere Ausdrucksformen. Heute sind es in erster Linie Texte. In Zukunft wird der nonverbale Aspekt eine große Rolle spielen. In einer globalisierten, vielsprachigen und multikulturellen Welt werden wir diese neuen Ausdrucksformen dringend brauchen. Viele Konflikte in der Welt werden nur deshalb nicht gelöst, weil die Ereignisse von den Kontrahenten zu unterschiedlich wahrgenommen und dargestellt werden. Jeder fühlt sich im Recht – und drückt seine Meinung in einer Sprache aus, die nur er versteht. Übersetzungen bieten Abhilfe nur an der Oberfläche. Der Hirnforscher Wolf Singer vom Max-Planck-Institut in Frankfurt am Main träumt daher von einer »Friedenskonferenz, bei der versucht wird, mit allen verfügbaren Ausdrucksmitteln – also nicht nur Sprache, sondern auch Musik, Gesang, Tanz und Bildern – zu erklären, welches die Ängste und Nöte sind, eine Art Jam-Session ausdruckskompetenter Vermittler. Wenn solche Ausdrucks- und damit auch Rezeptionskompetenz früh gepflegt und eingeübt würde, hätte dies vermutlich segensreiche Auswirkungen auf unsere Sozialgefüge.« Warum also nicht Schularbeiten als Video abliefern? Warum nicht als Online-Game? In der multimedial geprägten Welt, in der Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg zu einem Alltags-Problem geworden ist, werden nonverbale Fähigkeiten von großem gesellschaftlichem Wert sein.

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Orientierung am Kind Die Veränderung der Welt, die wir erleben, kennt keine nationalen Grenzen. Die neuen Werkzeuge und Spielregeln werden nicht mehr nur von den deutschen Schulbehörden, Elternvereinen oder Lehrergewerkschaften bestimmt werden. Wir müssen nicht nach Indien gehen: Schon heute sehen wir, dass viele Konflikte an deutschen Schulen deshalb nicht gelöst werden, weil man mit Mitteln von gestern an die Sache herangeht. Migrationsthemen, Mehrsprachigkeit und unterschiedliche soziale Herkunft machen Erziehung und Schule zu Kampffeldern, auch zu einem Krieg der Kulturen, den keiner will. Aber moralische Appelle oder politische Sonntagsreden helfen hier überhaupt nicht. Mal abgesehen davon, dass die öffentlichen Kassen leer sind und alle Bildungseinrichtungen unter den Restriktionen stöhnen, unter denen sie leiden: Es geht hier um eine kulturelle Revolution, die nicht von oben verordnet werden kann. Die revolutionären Elemente werden von denen eingebracht, die bisher nur Objekte der erzieherischen Bemühungen waren. Durch die partizipatorische Natur des Internet rücken nun die Kinder in den Mittelpunkt. Es besteht die Chance, dass sie endlich zu Subjekten werden, die das Tempo bestimmen. Dies geschieht in ihrem eigenen Interesse. Die spielerischen und nonverbalen Möglichkeiten des Internets können jedoch dazu beitragen, dass soziale Unterschiede nivelliert werden, ohne dass deswegen automatisch das Niveau sinkt. Vielfalt und Buntheit können über das sich ständig neu erfindende Medium Internet als Tugenden erkannt und eingesetzt werden. Am Ende werden die profitieren, um die es hier wirklich geht: die Kinder. Genauer gesagt: jedes einzelne Kind. Denn gegenüber den klassischen Lehrmitteln hat das Internet einen substanziellen Vorteil: Es funktioniert nur durch Mitmachen. Auf diesem Weg werden die kognitiven Fähigkeiten gestärkt 116 Michael Maier

und deren Entwicklung vorangetrieben. Am berühmten Massachussetts Institute for Technology (MIT) gab es dazu einmal ein sehr aufschlussreiches Experiment, mit welchem Forscher nachgewiesen haben, welche dramatischen Unterschied die aktive Beteiligung auch für die Denk-Entwicklung konkret hat. Die Forscher setzten zwei Kätzchen in ein Karussell. Das eine hatte die Pfoten auf dem Boden und konnte durch sein Laufen das Karussell bewegen. Das andere saß in der Gondel und wurde passiv transportiert. Beide sahen natürlich genau das Gleiche. Die spätere Bestimmung der kognitiven Leistungen der beiden Tiere zeigte, dass nur das aktive Tier etwas gelernt hatte. Nur-Zuschauen genügt also nicht. Selbermachen ist für jeden Lernvorgang entscheidend. Nur dann gibt es jenen interaktiven Dialog mit der Umwelt, der für die Optimierung von Entwicklungsprozessen unabdingbar ist. Die Forschung geht indes weiter: Nicht nur unsere eigenen Erfahrungen bringen uns weiter. Auch das Peer-To-Peer-Konzept hat nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklungen unserer Denkfähigkeit. In einem anderen wissenschaftlichen Experiment wurde dies mit Oktopussen nachgewiesen: Ein Tier wurde in einen Glasbehälter gesteckt. Danach ließ man einen Teddybären vor seiner Nase baumeln und versetzte ihm gleichzeitig einen Elektroschock. Nach einigen Versuchen hatte der Oktopus messerscharf kombiniert, dass der Teddybär für ihn eine Gefahr bedeutete. Sobald das Stofftier auftauchte, wich der Oktopus aus, um dem Elektroschock zu entgehen. Dann stellte man einen zweiten Glasbehälter daneben. Von dort aus beobachtete ein anderer Oktopus das Geschehen. Der hatte Glück: Er sollte nur zuschauen, es gab keine Elektroschocks. Als schließlich jedoch der Teddybär vor seiner Nase auftaucht, reagiert er mit derselben Abwehrhandlung wie sein Artgenosse. Diese Art des »sozialen Lernens« erfährt durch die Möglichkeiten des Internet ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten. Dank des Demokratisch, sozial und solidarisch 117

menschlichen Nachahmungstrieb können alle voneinander profitieren. Wir sehen also: Das Internet als Mittel zur Wissensermittlung ist nicht nur einfach pragmatisch nützlich. Er verändert unsere Kultur. Vieles in der Erziehung läuft heute schon online und ist schon so selbstverständlich, dass davon kein öffentliches Aufhebens mehr gemacht wird. Deutschland hat hier in einigen Bereichen noch erheblichen Nachholbedarf. Die deutschen Kinder sollten nicht in die Rolle des unglücklichen Kätzchens gedrängt werden, welches nur zuschauen darf. Es kann zwar reichen, dass man wie der schlaue Oktopus einfach zusieht, wie es andere machen. Doch die Zeit ist knapp: Die Dynamik, mit der weite Teile der Welt mit Hilfe des Internet wissensmäßig aufholen, kann uns Bewunderung entlocken. Schnell kann jedoch aus der Bewunderung eine gefühlte Bedrohung werden. Neu an dieser Situation: Der Staat kann uns nicht helfen. Was zählt sind Bürgersinn, privatwirtschaftliche Initiativen und der individuelle Wille, Verantwortung zu übernehmen. Die Erde steht vor gewaltigen Problemen. Verursacht wurden diese Probleme durch die Eltern und Großeltern, die sich’s haben gut gehen lassen. Das Minimum, das nun erwartet werden darf: Zeigt Euren Kindern und Enkeln alle Werkzeuge, mit denen sie die große Katastrophe abwenden können. Macht Euch zu ihren Peers, zu ihren wahren Freunden. Die jüngsten Zahlen sind ermutigend: Die am stärksten wachsende Nutzergruppe von Facebook in Deutschland sind die über 55-Jährigen. Wir dürfen hoffen, dass wir es auch diesmal wieder schaffen.

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Biografische Angaben zu den Autoren Prof. Peter J. Brenner studierte Philosophie, Germanistik, Komparatistik und Erziehungswissenschaft. Er kümmert sich an der Carl- von -Linde-Akademie der TU München um die „Akademische Weiterbildung“. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kulturphilosophie, Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte. Gert Heidenreich, geb. 1944, Studium der deutschen Literatur, Theaterwissenschaft, Soziologie, Philosophie, lebt als freier Schriftsteller und Journalist in Oberbayern. Er hat Essays für mehrere Rundfunkanstalten und renommierte Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, in denen er auf kritische Weise gesellschaftliche Veränderungen reflektiert. Außerdem ist er als Sprecher für Rundfunk, Fernsehen und Hörverlage tätig. Seine Maxime: Das Buch ist die Heimat der Phantasie. Prof. Ulrich Herrmann, geb. 1939, studierte Germanistik, Geschichtswissenschaft, Pädagogik und Philosophie. Er war Professor für Pädagogik an der Universität Ulm und Leiter des Seminars für Pädagogik. Seit 2004 ist er im Ruhestand und mischt Biografische Angaben zu den Autoren 119

sich mit zahlreichen Publikationen und Vorträgen in die bildungspolitische Debatte seit den PISA-Tests ein. Er ist ein überzeugter Gegner des dreigliedrigen Schulsystems und ein Kenner der Reformpädagogik. Prof. Jochen Hörisch, geb. 1951, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er ist Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. In zahlreichen Essays, Büchern sowie Rundfunk- und Fernsehsendungen behandelt er schwerpunktmäßig kultur- und medienanalytischen Themen. Immer wieder kritisiert er den Bolognaprozess und die damit verbundene Veränderungen der deutschen Universität. Reinhard Kahl, geb. 1948, studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie; er ist Journalist, Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh-und Videodokumentationen. Seit Jahrzehnten kommentiert er die schulpolitischen Veränderungen in Deutschland und fragt immer wieder, wie eine Schule der Zukunft aussehen könnte. 2004 gründete er das Netzwerk „Archiv der Zukunft“, das Beispiele gelingenden Lernens sammelt und verbreitet. Michael Maier, geb. 1958, studierte Jura und Kirchenmusik. Maier ist im Hauptberuf Journalist, der sich in den letzten Jahren verstärkt mit den neuen digitalen Medien und ihren gesellschaftlichen Wirkungen beschäftigt. Dabei plädiert er immer wieder für eine positive Sichtweise, die diese Medien nicht pauschal dämonisiert. Dr. Burkhard Spinnen, geb. 1956, Studium der Germanistik, Soziologie und Publizistik, ist Schriftsteller und schreibt Bücher sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. 120 Biografische Angaben zu den Autoren

Daneben veröffentlicht er Essays und Glossen in Tageszeitungen und im Radio, in denen er etwa die Abgründe des Spachjargons der Wirtschaftsunternehmen aufs Korn nimmt.

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