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German Pages [152] Year 2015
Felix Butschek
WIRTSCHAFTSWACHSTUM – EINE BEDROHUNG?
2016 böhl au v er l ag w ien köln w eim a r
Gedruckt mit der Unterstützung durch die MA7, Kulturabteilung der Stadt Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Stefan Galoppi, Korneuburg Grafiken/Übersichten: Christa Magerl, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung : Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20061-1
Meiner Enkelin Monica
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Wurzeln des Zeitgeistes . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 18
1.
1.1 Von der Expansion zur Stagflation . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die neuen Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des Kapitalismus. . . . . . . . . . . . . .
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Die Wiege des europäischen Individualismus . . . . Die Dynamik des europäischen Mittelalters.. . . . Der Merkantilismus – die Phase der Vorbereitung . Der Durchbruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . Catching up und Stagnation . . . . . . . . . . . .
25 25 30 36 39 42
3.
Alternativen zum Kapitalismus ? . . . . . . . . . . . . . .
47 47 50
Die Intellektuellen und der Kapitalismus. . . . . . . . . .
54 54 56
Die Überwindung des Wachstums . . . . . . . . . . . . .
61 61 69 73
Eine Frage des Überlebens ?.. . . . . . . . . . . . . . . .
82 82 88
2.
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
3.1 Die Funktionsweise der Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . 3.2 Planwirtschaft in der Realität. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.
4.1 Wer ist ein Intellektueller ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Eine historische Aversion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.
5.1 Die historischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Messung der Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wohlfahrt ohne Wachstum ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.
6.1 Die ökologische Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Nachhaltigkeit – der Kompromiss ?. . . . . . . . . . . . . .
8 7.
Inhalt
Die Revokation der Industriellen Revolution ? . . . . . . .
93
7.1 Die ökologische Katastrophe – eine Chimäre ? . . . . . . . . 93 7.2 Von der passiven zur aktiven Umweltpolitik . . . . . . . . . 103 7.3 Von Faust zum Rentner ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 8.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen – auf dem Weg zur Erziehungsdiktatur ? . . . . . . . . . . . 130
Literaturhinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Vorwort Es mag verblüffend erscheinen, dass angesichts einer schweren, kaum überwundenen Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise sowie äußerst schleppenden Wirtschaftswachstums in der Eurozone eine intensive Diskussion darüber entstanden ist, wie man das Wirtschaftswachstum grundsätzlich überwinden könne. Doch haben mehrere Autoren festgestellt, dass das heute existierende kapitalistische Wirtschaftssystem an grundlegenden und gravierenden Fehlern leide. Damit sind keineswegs die aktuellen Probleme gemeint, wie wirtschaftliche Stagnation, Arbeitslosigkeit oder Gefährdung der budgetären Stabilität, sondern viel tiefer liegende Mängel. Es deformiere nämlich die menschliche Psyche, indem es fatale Verhaltensweisen präge, welche das Individuum sowie die Gesellschaft dauerhaft schädigen. Dessen Funktionieren beruhe nämlich darauf, dass die Menschen ständig nach mehr streben, permanent ihr Einkommen durch intensive Arbeit steigern wollen, um damit mehr konsumieren zu können. Sie sind im »stahlharten Gehäuse des Konsumismus« (Jackson, 2013, S. 100) gefangen. Dazu kommen aber weitere Elemente, wie rücksichts- sowie erbarmungslose Konkurrenz, die ständige Hetze sowie das ebensolche Bestreben nach Veränderung und nach Neuem, das die Menschen nicht zur Ruhe kommen lasse. Diesen erbarmungslosen Druck gelte es aufzubrechen, zu einer wahrhaft menschlichen Kultur zurückzukehren, einen neuen Lebensstil zu schaffen, welcher durch Ruhe und Muße gekennzeichnet ist. In diesem Rahmen, der bereits von den antiken Philosophen gezeichnet wurde, könne sich ein neuer Mensch entfalten, der sich an den Künsten und Wissenschaften, aber auch anderen Annehmlichkeiten des Lebens erfreue. Diesen Auffassungen verlieh die Enzyklika »Laudato si’« noch die theologische Überhöhung. Interessanterweise reicht diese Kritik an der kapitalistischen Indust riewirtschaft schon sehr weit zurück. Damit sind nicht die sozialrevolutionären Ansätze gemeint, wie etwa jener von Karl Marx und, in seiner
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Vorwort
Tradition, der kommunistischen Bewegung, die ja tatsächlich ein neues, alternatives Wirtschaftssystem realisierte, sondern auch Kritiker, welche die bestehende Gesellschaft nicht grundlegend ändern wollten. Der historische Rückblick zeigt, dass die Autoren der Gegenwart mit ihren prinzipiell moralischen Einwänden gegen den Kapitalismus den früheren Ansätzen weitgehend folgen. Ihre Analyse unterscheidet sich jedoch in einem ganz wesentlichen Faktor davon : im ökologischen ! Zwar perhorresziert schon John Stuart Mill das Bestreben, die freie Natur zu domestizieren und der Produktion zu unterwerfen (Mill, 1888, S. 454), aber erst die Gegenwart hat der Umwelt einen zentralen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung eingeräumt. Das begann mit der vom Club of Rome initiierten Studie »Die Grenzen des Wachstums« (Meadows, 1972), in welcher der Autor nachwies, dass das kapitalistische System mit fortgesetzter Expansion durch Beschränkung von Energie, Rohstoffen und Raum mit furchtbaren Folgen zusammenbrechen müsse. In jüngerer Zeit wurde dieser Ansatz fundamental ausgeweitet, da eine große Zahl von Forschern, unterstützt von der UNO, nachwies, dass der ständige Ausstoß von Treibhausgasen das Weltklima erwärme, was zu katastrophalen Konsequenzen für die Menschheit führen müsse. Und diesem Umstand kommt auch eine entscheidende Rolle in der Wachstumskritik zu. Denn eine expandierende Wirtschaft mit all ihren Kennzeichen, wie der Industrieproduktion und dem Autoverkehr, sei eine der Hauptquellen des Schadstoffausstoßes. Und es wäre eine Illusion zu glauben, dass man durch technische Eingriffe diesen derartig reduzieren könne, dass ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum möglich wäre. Daher sind es heute nicht nur moralische Aspekte, welche es erforderten, das Wirtschaftswachstum zu beenden, sondern einfach existentielle. Im Folgenden soll versucht werden, den historischen Weg dieser Gedanken nachzuzeichnen und auch ihre Basis zu analysieren. Das gilt zunächst für den moralischen Ansatz. Lassen sich im Licht der neueren Verhaltensforschung die beschriebenen Hypothesen stützen ? Trifft es zu, dass die vom kapitalistischen System geschaffenen Verhaltensweisen das Individuum und die Gesellschaft deformieren ?
Vorwort
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Überdies dürfte sich als nicht zu unterschätzendes Problem für die Überwindung des Wirtschaftswachstums die Realisierbarkeit dieses Projekts erweisen. Schließlich stellt das Streben nach Einkommenssteigerung den wichtigsten Motor der kapitalistischen Wirtschaft dar. Und trotz des Widerhalls in intellektuellen Kreisen scheinen die allermeisten Menschen in keiner Weise gewillt, auf höheres Einkommen zu verzichten. Es wäre daher zu untersuchen, welche Möglichkeiten bestehen, um diese Verhaltensweisen zu ändern und welche Wege dafür einzuschlagen wären, um diesen Wandel herbeizuführen. Schließlich wurde nach der Publikation des Club of Rome bereits damals die Forderung erhoben, »umzudenken« – freilich ohne Erfolg. Eine weitere zentrale Frage freilich stellt sich jedoch damit, auf welche Weise man die dynamische kapitalistische Wirtschaft, wie sie seit mehr als 200 Jahren besteht und funktioniert, in eine stationäre überführen kann. Genügt dafür eine politische Entscheidung ? Wäre ein solcher Wandel im Rahmen der existierenden Marktwirtschaft möglich ? Wenn ja, unter welchen Bedingungen ? Wenn nicht, welche Alternativen sind vorstell- und realisierbar ? Wie lassen sich diese in die langfristige Wirtschaftsentwicklung seit der Industriellen Revolution einordnen ? Letztlich wäre die ökologische Schranke des Wachstums zu untersuchen. Hierbei soll weniger auf die allumfassende Debatte über die Ursachen der globalen Erwärmung eingegangen werden, sondern vor allem auf deren Folgen für Gesellschaft sowie Umwelt und darauf, ob die gegenwärtig betriebene Umweltpolitik ihren Zielen gerecht wird. Letztlich wäre damit im Zusammenhang das Ausmaß der prognostizierten Auswirkungen der globalen Erwärmung abzuschätzen und der Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems gegenüberzustellen. Die vorliegende Studie sollte selbstverständlich akademischen Ansprüchen genügen, andererseits aber auch einen breiteren, interessierten Leserkreis ansprechen. Darauf wurde nicht nur in der sprachlichen Präsentation geachtet, sondern auch in der inhaltlichen, da Zusammenhänge herausgearbeitet wurden, welche dem geschulten Ökonomen trivial erscheinen mögen.
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Vorwort
Der Autor ist vielen Personen zu Dank verpflichtet. Das gilt zuallererst für Karl Aiginger, den Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, welcher mir als Pensionisten über viele Jahre hinweg die Möglichkeit einräumte, im Institut zu arbeiten und dessen Infrastruktur in Anspruch zu nehmen. Weiters bin ich aber auch vielen Kollegen verpflichtet, welche diese Arbeit mit Rat und Tat unterstützten, wie Harald Badinger, Günther Chaloupek, Alois Guger, Gunther Tichy und Ewald Walterskirchen. Hans Seidel vermittelte mir durch unsere fast täglich geführten Diskussionen wertvolle Anregungen. Und schließlich danke ich Hans Besenböck sowie meinem Sohn, Christian Butschek, für kritische Beratung. Mein Dank gilt auch den Damen der Bibliothek des WIFO, Angelina Keil und Eva Novotny, welche mich bei der Suche nach Büchern tatkräftig unterstützten, sowie, last but not least, Christa Magerl, welche seit vielen Jahren alle meine Publikationen hervorragend statistisch sowie drucktechnisch betreut. Wien, im Sommer 2015
1. Die Wurzeln des Zeitgeistes
1.1 Von der Expansion zur Stagflation Um einen zureichenden Eindruck über den gegenwärtigen Stand der ökonomischen und sozialen Gegebenheiten in den westlichen Industriestaaten, vor allem in der Europäischen Union, zu gewinnen, scheint es sinnvoll, einen Blick auf die Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu werfen. Auf den Abschluss der Wiederaufbauphase nach 1945 folgte das »Goldene Zeitalter«, welches zweifellos eine der bemerkenswertesten Perioden der Wirtschaftsgeschichte dieser Region repräsentiert. Der Westen erlebte zwei Jahrzehnte lang ein Wirtschaftswachstum, wie man es vorher und auch nachher niemals gekannt hatte bzw. hat. Diese massive Wohlstandssteigerung war verbunden mit außerordentlich hoher innenpolitischer Stabilität. Zwar hatten schon die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs vor allem in Mitteleuropa einen äußerst schmerzlichen Lernprozess auf dem Weg zu einer reifen demokratischen Gesellschaft in Gang gesetzt, aber deren Festigung und Weiterentwicklung wurde durch das hohe Einkommenswachstum zweifellos begünstigt – ebenso wie umgekehrt der Totalitarismus durch die Weltwirtschaftskrise 1929 mit ihren Folgen. Ähnliches gilt für die sozialen Beziehungen. Hier hatte der Zweite Weltkrieg gleichfalls Verhaltensänderungen bewirkt, welche die wirtschaftliche Expansion noch unterstützten. Die Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft fand spätestens in dieser Zeit ihren Abschluss. Konsequenterweise lag das institutionelle und organisatorische Charakteristikum der westeuropäischen Volkswirtschaften nach 1945 in der Kooperation von Gewerkschaften, Arbeitgebervereinigungen und dem Staat sowie im Ausbau der sozialen Sicherheit – es war der »Wohlfahrtskapitalismus« entstanden. Diese Entwicklungsprozesse fanden in Österreich ihre besonders starke Ausprägung, wie etwa in den sozialpartnerschaftlichen Einrichtungen und jenen der Sozialversicherung.
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Die Wurzeln des Zeitgeistes
Es wäre allerdings verfehlt, die Periode des »Goldenen Zeitalters« lediglich unter den positiven Aspekten der ökonomischen Daten zu sehen. Was die späteren Änderungen des wirtschaftlichen Klimas bewirkte, baute sich zuvor auf. Es scheint, dass der weltweite Umschwung 1973/74, der unter dem Namen »Erdölkrise« in die Geschichte einging, durch diese zwar ausgelöst, aber durch Entwicklungen mitverursacht worden ist, welche sich über viele Jahre intensiviert hatten. Natürlich gehen die Auffassungen über Art und Gewicht der Gründe dafür je nach theoretischem Hintergrund auseinander, doch wurden der Beschleunigung des Preis-Lohnauftriebs seit Mitte der 1960er-Jahre sowie der permanent wachsenden Belastung der öffentlichen Haushalte mit ihren gleichfalls inflationären Effekten große Bedeutung zugemessen. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre scheinen sich die Erwartungen ständiger und kräftiger Einkommenssteigerungen sämtlicher Wirtschaftssubjekte nicht nur in Österreich, sondern in allen westlichen Industriestaaten intensiviert zu haben. Die Änderung dieser Erwartungen ging mit einer durch nahezu permanente Vollbeschäftigung, ja manchmal schon würgende Arbeitskräfteknappheit, verursachten zunehmenden gewerkschaftlichen Durchschlagskraft einher. Dazu kam, dass insbesondere in Deutschland und Österreich die Erinnerung an die galoppierende Inflation der Nachkriegszeit verblasst war. All diese Umstände führten zu steigenden Lohnforderungen, welchen seitens der Unternehmer mäßiger Widerstand entgegengesetzt wurde, da die Gegebenheiten ein Ausweichen in die Preise zumeist ermöglichten (Flanagan – Soskice – UIman, 1983, S. 650). Auch vermochten die spezifischen Bedingungen der Sozialpartnerschaft sowie der Hartwährungspolitik in Österreich ab Anfang der 1970er-Jahre keine grundlegend anders geartete Lohnentwicklung herbeizuführen. Die sich parallel zu dieser dynamischen Lohnentwicklung vollziehende energische Ausweitung der öffentlichen Leistungen in verschiedenen Formen bedeutete über steigende Abgaben eine zunehmende Belastung sämtlicher Wirtschaftssubjekte und zeitigte ihrerseits wieder Rückwirkungen auf die gewerkschaftliche Lohnpolitik (Flanagan –
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Soskice – UIman, 1983, S. 662). Die zunehmende Inflation verschlechterte die internationale Konkurrenzsituation und somit auch das Wirtschaftswachstum in vielen westeuropäischen Ländern, was auch schon zu ansteigender Arbeitslosigkeit führte. Dieses Zusammentreffen von Inflation und Arbeitslosigkeit wurde unter dem Namen »Stagflation« bekannt. Die Ausweitung der öffentlichen Ausgaben in den europäischen OECD-Staaten ging auf eine Reihe von Ursachen zurück. Zunächst wurden parallel zu den stark steigenden Einkommen die Sozialversicherungssysteme ausgebaut. Das geschah vor allem durch Leistungsverbesserungen, deren sozialpolitischer Sinn schließlich nicht mehr ohne weiteres erkennbar blieb. Das Anfallsalter in der Pensionsversicherung war 100 Jahre zuvor mit 65 Jahren festgesetzt worden. Obwohl seither die Lebenserwartung deutlich gestiegen war, wurde etwa in Österreich 1958 eine Frühpension mit 60 bzw. 55 Jahren fixiert und für Sonderfälle noch weiter reduziert, und manche westliche Industriestaaten gewährten Arbeitslosenunterstützungen in der Höhe von 90 % des letzten Arbeitseinkommens. Die geschilderten Entwicklungen führten überdies dazu, dass trotz des historisch singulären Wirtschaftswachstums zwischen Kriegsende und Mitte der 1970er-Jahre in den meisten Ländern fast stets ein Budgetdefizit zu verzeichnen war. Zwar stiegen die Schuldenquoten bis Mitte der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht an, weil das nominelle Wachstum des Bruttoinlandsprodukts tendenziell jenem des Budgetdefizits entsprach. Wohl aber erhöhte sich die Abgabenquote beispielsweise in Österreich von 27,9 % 1955 auf 36,6 % 1975, wobei der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge am Bruttoinlandsprodukt von 5,5 % auf 9,1 %, also um mehr als die Hälfte, zunahm. Offensichtlich reichten die Wurzeln der späteren Budgetprobleme in den westlichen Industriestaaten sehr weit zurück. Mit der Verdreifachung des Erdölpreises ging die Periode des »Goldenen Zeitalters« in Westeuropa zu Ende. Niemals mehr wurden annähernd jene Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts erzielt, welche diese Epoche gekennzeichnet hatten. Und damit wurde auch die
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Abbildung 1 : Abgabenquote seit 1955 in Österreich, Deutschland und OECD-Europa Österreich
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Deutschland 1) OECD-Europa 2)
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Steuern und Sozialversicherungsbeiträge in Prozent des Bruttoinlandsprodukts Quelle : OECD. – 1) Bis 1991 Westdeutschland. – 2) In der Abgrenzung von 1993, arithmetischer Durchschnitt.
Arbeitslosigkeit wieder zum Problem. Natürlich suchte man nach den Ursachen dieses vergleichsweise abrupten sowie radikalen Bruchs in der europäischen Wirtschaftsentwicklung. Ein Element schien in der Wirtschaftspolitik zu liegen, welche danach strebte, die zuvor beschriebenen Fehlentwicklungen zu korrigieren. Nachdem man zunächst versucht hatte, die unmittelbaren Folgen der Erdölkrise durch keynesianische Maßnahmen aufzufangen, gingen alle Regierungen daran, die Inflation zu bekämpfen und die Budgets auszugleichen. Ersteres gelang allmählich, Letzteres nur teilweise. Wirklich energische Maßnahmen dazu wurden selten ergriffen, wiewohl sich auch das internationale wirtschaftstheoretische Umfeld geändert hatte. Denn es war jetzt nicht nur die Sorge um die Inflation und die Budgetproblematik, welche die Wirtschaftspolitik bestimmte, sondern auch der Umstand, dass die nunmehr dominierende, angebotsorientierte, neoklassische Theorie ein ausgeglichenes Budget in den Mittelpunkt der Be-
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Von der Expansion zur Stagflation Abbildung 2 : Wirtschaftswachstum in Österreich, Deutschland und
OECD-Europa Abbildung 2: Wirtschaftswachstum seit 1975 in Österreich, Deutschland und OECD-Eu
Gleitender Dreijahresdurchschnitt 5
Österreich Deutschland 1) OECD-Europa 2)
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In %, gleitender Dreijahresdurchschnitt
Q:Quelle WIFO-Datenbank. – 1) Bis 1991 1) Westdeutschland. – 2) In der Abgrenzung : WIFO-Datenbank. – Bis 1991 Westdeutschland. – 2) In von der 1993. Abgrenzung von
1993.
mühungen stellte. Dazu kam die Integrationspolitik der EU. Vor allem Deutschland drängte vor Einführung des Euro darauf, dass die Teilnehmer der Wirtschafts- und Währungsunion eine strikte Stabilitätspolitik betrieben, welche Position ihren Niederschlag im Stabilitäts- und Wachstumspakt fand, der tendenziell ein ausgeglichenes Budget vorschrieb. Darüber hinaus bewirkten die Internationalisierung der Kapitalmärkte sowie die Zunahme anlagesuchenden Kapitals, dass allmählich eine Schwerpunktverlagerung der wirtschaftlichen Aktivität vom produzierenden Sektor, insbesondere der Industrie, zu jenem der Finanzen mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf Investitionen in Realkapital stattfand. Offensichtlich gingen von all diesen Maßnahmen keine sonderlich expansiven Effekte auf die Volkswirtschaften aus. Natürlich folgten auch nach 1975 auf Phasen einer Rezession wieder solche eines Aufschwungs, in welchen in vielen Ländern auch die Arbeitslosenquoten zumindest kurzfristig wieder zurückgingen. Doch verAbb2
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Die Wurzeln des Zeitgeistes
blieb das Faktum, dass ab Mitte der 1970er-Jahre nie mehr die Wachstumsraten des »Goldenen Zeitalters« erreicht werden konnten. Schließlich ließe sich auch darauf hinweisen, dass Phasen des explosiven Wachstums, wie in Westeuropa bis 1975 und auch in anderen Regionen, nach einiger Zeit zu Ende gehen, weil offenbar über die genannten Ursachen hinaus die dynamischen Kräfte erlahmen, wie in Japan ab den 1990er-Jahren, anderen ostasiatischen Ländern und möglicherweise auch China, aber damit gelangt man zu den institutionellen Bestimmungsgründen des Wirtschaftswachstums.
1.2 Die neuen Ideologien Nun wurde schon zuvor darauf hingewiesen, dass von der Wirtschaftspolitik keine starken Impulse für das Wirtschaftswachstum ausgingen. Umgekehrt scheinen die Stabilisierungsbemühungen in Europa lange Zeit kein solches Ausmaß erreicht zu haben, um endogene Antriebskräfte aus der Wirtschaft selbst abzuwürgen – wie etwa bei den aktuellen Problemen am Südrand der EU. Es scheint daher sinnvoll, zu prüfen, ob nicht von den institutionellen Faktoren, also solchen, die das Verhalten der Wirtschaftssubjekte bestimmen, bremsende Effekte auf die ökonomische Entwicklung ausgingen. Denn es kann nicht übersehen werden, dass die Periode des »Goldenen Zeitalters« auch dadurch geprägt war, dass die Intentionen der gesamten Gesellschaft auf maximales Wirtschaftswachstum zielten. Das galt nicht nur für die staatliche Wirtschaftspolitik, sondern ebenso sehr für die Interessenvertretungen. Insbesondere die österreichischen Gewerkschaften interessierten nicht allein Löhne, Arbeitsrecht und Sozialversicherung, sondern ebenso ökonomische Fragen, weil sie das Wachstum als Basis ihrer Einkommenspolitik intensivieren wollten. Faktisch war für die gesamte Bevölkerung die wirtschaftliche Expansion, welche die Basis für die Einkommenssteigerung bildete, zum zentralen Wert geworden. Nahezu alle Bürger versuchten, dazu einen Beitrag zu leisten. Die »governance structure« dieser Epoche war in hohem Maß auf wirtschaftliche Expansion gerichtet.
Die neuen Ideologien
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Doch gerade dieser institutionelle Hintergrund der Gesellschaft erfuhr Ende der 1960er-Jahre einen fundamentalen Wandel. In den westlichen Industriestaaten entstanden Denkschulen, welche das gegebene Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundsätzlich und vehement in Frage stellten. Zwei neue Sichtweisen traten in den Vordergrund : jene der »68er-Revolution« und die der Umweltbewegung. Erstere ging von den Studierenden aus, erfasste jedoch rasch weite akademische Kreise, Künstler und freischwebende Intellektuelle. Deren Überlegungen basierten auf Gedanken der »Frankfurter Schule«, vor allem des Philosophen Theodor W. Adorno sowie Herbert Marcuses (1967), und kreisten um die Manipulation des Menschen im Spätkapitalismus durch »Konsumterror«. Jene gelinge derart perfekt, dass sich das Individuum seiner Entfremdung überhaupt nicht bewusst werde. Nur durch (Gegen-)Gewalt sei es möglich, dem System die Larve vom Gesicht zu reißen (Chaloupek, 2009). Freilich wäre es verfehlt, anzunehmen, hier sei nur eine neue Philosophie entstanden, welche im öffentlichen Diskurs abgehandelt wurde, denn deren Anhänger gingen daran, durch gewaltsame Aktionen das existierende System zu bekämpfen. Diese endeten schließlich in Morden, wie sie die Baader-Meinhof-Bande in Deutschland sowie die Brigate Rosse in Italien begingen. Bestürzend blieb dieser Gewaltausbruch, für den sich in der realen ökonomischen und sozialen Lage keinerlei Begründung fand. Während man sich in deutschen Landen noch eine Erklärung damit zurechtlegen konnte, dass die Eltern den Kindern nichts über ihre nationalsozialistische Vergangenheit erzählt hätten und diese überhaupt noch nicht aufgearbeitet gewesen sei, fehlte im westlichen Ausland jegliche Basis dafür : »Eigentlich hätten sie allen Grund gehabt, der Generation ihrer Väter dankbar zu sein, die für die Erhaltung der Freiheit gekämpft und ihnen so viele Möglichkeiten hinterlassen hatten. Stattdessen rebellierten sie« (Ferguson, 2011, S. 363). Die vehemente Kritik der Vertreter dieser Richtung am kapitalistischen Wirtschaftssystem entzündete sich, wie schon erwähnt, an der Manipulation des Konsumenten, welche durch die Werbung im beliebigen Ausmaß zustande käme und dazu führe, dass dieser immer mehr überflüssige sowie
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Die Wurzeln des Zeitgeistes
unbrauchbare Güter kaufe. Andererseits verleiteten diese Gegebenheiten die Arbeitnehmer, immer intensiver zu arbeiten, um dieses Angebot erwerben zu können. Aber trotzdem die Zerstörung des kapitalistischen Systems unausweichlich schien, hatten die Achtundsechziger anscheinend keine Vorstellung über eine Alternative. Denn das sowjetische lehnten sie wegen dessen Bürokratismus gleichfalls ab (Lindbeck, 1973, S. 22). Nun musste diese Geisteshaltung, welche in sehr viele Lebensbereiche diffundiert war, zwar nach einiger Zeit an den sozialen Realitäten zerbrechen, aber eine gewisse Grundströmung der militanten Gegnerschaft gegen das kapitalistische System blieb in den Kreisen der Intellektuellen erhalten – und fand im klangvollen Wort »Aufmüpfigkeit« seinen Niederschlag. Weit nachhaltiger wirkte sich die gleichfalls um diese Zeit entstandene Umweltbewegung aus. Am Anfang stand das Weltmodell des Club of Rome, das den Untergang der westlichen Zivilisation als Folge des Wirtschaftswachstums für den Beginn des neuen Jahrtausends voraussagte (Meadows, 1972 ; siehe auch Forrester, 1971). Diese Ankündigung löste in breiten Kreisen des höheren Mittelstands einen Sturm der Begeisterung aus. Wiewohl Ökonomen die völlig willkürlichen Annahmen dieser »Weltmodelle« als absurd bezeichneten (Beckerman, 1972 ; 1974), blieb ihre Faszination bis zur Gegenwart erhalten. Deswegen soll hier versucht werden, das Modell Meadows’ noch einmal verbal vorzuführen, weil sowohl Journalisten als auch Wachstumskritiker dazu neigen, dieses zu verklären oder selektiv zu zitieren. Es beschreibt im Prinzip die Wirkung exponentiellen Wachstums veränderlicher Größen, wie Bevölkerung und Kapital, auf absolut begrenzte Bestände, wie nicht reproduzierbare Rohstoffe, fruchtbares Land sowie geographischen Raum, und schließlich die Aufnahmefähigkeit unserer Erde für schädlichen Abfall. Diese Hauptvariablen werden mit mehreren anderen, die sie jeweils beeinflussen, zu einem systemanalytischen Modell verbunden, um die gegenseitige Einwirkung auf mathematisch exakte Weise zu erfassen. So wird etwa die Bevölkerungsentwicklung von Geburten- und Sterberaten bestimmt, die ihrerseits wieder von mehreren Faktoren ab-
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hängen, wie Pro-Kopf-Konsum (ohne Nahrungsmittel), Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch, Gesundheitsversorgung, Vorstellungen über die Familiengröße sowie – und das sind Spezifika des Modells – von Umweltverschmutzung und räumlicher Enge (Bevölkerungsdichte). Diese Einflüsse – vor allem aber der steigende Nahrungsmittelverbrauch und die bessere medizinische Versorgung – würden sich zunächst derart auswirken, dass die Weltbevölkerung von etwa 3,8 Milliarden 1970 auf 12 Milliarden um 2000 anwachsen werde. Danach komme es zu einem scharfen Einbruch, zunächst weil die räumliche Enge sowie die Umweltverschmutzung die Lebenserwartung drastisch verkürzen, darüber hinaus aber auch, weil einfach die Nahrungsmittelproduktion nicht mehr ausreiche, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Dieser Zusammenbruch resultiere einesteils aus der Wirkung des Bevölkerungswachstums selbst, weil die dadurch verursachte räumliche Enge die Nahrungsmittelproduktion beschränke, weiter jedoch, weil zusätzliche Investitionen für die Industrieproduktion getätigt werden müssten ; diese verursache aber wieder jene Umweltverschmutzung, die den Bevölkerungsrückschlag verschärft. Die Expansion der industriellen Erzeugung führe jedoch den eigenen Zusammenbruch durch die Erschöpfung der Bestände an natürlichen Rohstoffen herbei. Die Lager an Letzteren seien absolut begrenzt, und das exponentielle Wachstum führe zu einer relativ plötzlich auftretenden Versorgungskrise. Die drastisch schrumpfende Industrieproduktion senke dann aber rapid den Lebensstandard, wodurch die Geburtenraten rasch verfallen. Aber selbst wenn es gelänge, der Umweltverschmutzung Herr zu werden und Wege zur Erschließung ausreichender Rohstoffvorräte zu finden, sei das System der industriellen Produktion zum Untergang verurteilt, weil ein stets größerer Anteil des Kapitals einerseits zur Rohstoffversorgung, andererseits aber für die Nahrungsmittelproduktion eingesetzt würde, sodass der Rest die Erhaltung der Produktionsanlagen nicht mehr gewährleisten könnte. Wo immer die Menschheit versuchte, eine der ihr gesetzten Grenzen zu überspringen, sie stieße an die nächste. Folgerichtig hat Forrester auch jeden derartigen politischen Eingriff, wie etwa Programme zur Ge-
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burtenbeschränkung oder zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung, vehement abgelehnt ; die einzige Chance der Menschheit, zu überleben, sah er im sofortigen Ende jeglichen Wirtschaftswachstums (Butschek, 1975, S. 54). Nun steckt dieses Modell voller Probleme. Seine Zusammenhänge resultieren nicht aus ökonometrischen Tests, sondern aus mehr oder minder willkürlichen Annahmen, die manchmal einfach nicht zutreffen. Am augenfälligsten scheinen jene über die Auswirkungen räumlicher Enge. Hier geht Meadows von Tierversuchen aus, welche sich nicht auf Menschen übertragen lassen. Tiere benötigen einen gewissen Raum für Nahrungssuche und Bewegung. Menschen hingegen erlebten ihre optimale Entfaltung in der städtischen Enge. Ähnliches gilt für die Bevölkerungsentwicklung. Bei Forrester steigt der Geburtenüberschuss in einem Einkommensbereich steil an, in welchem er tatsächlich jedoch fast ebenso steil abfiel. Danach kann es nicht erstaunen, dass Meadows für die Jahrtausendwende eine Weltbevölkerung von 12 Milliarden erwartet, wogegen sie sich heute um 9 Milliarden mit einer Tendenz zur langfristigen Stabilisierung bewegt. Über die Verknappung der Ressourcen kann man natürlich endlos debattieren, und dieser Punkt wird von den Wachstumsgegnern auch stets, unter Hinweis auf die steigenden Erdölpreise, hervorgehoben (Jackson, 2013, S. 8), aber von einer derart katastrophalen Knappheit, die den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems um die Jahrtausendwende bewirken hätte sollen, war wohl keine Spur zu merken und heute erleben wir eine Erdölschwemme. Aber damit gelangt man zum kardinalen Einwand gegen das Modell von Meadows. Es ignoriert völlig den dynamischen Charakter der kapitalistischen Marktwirtschaft. So ist es gerade jene Institution, welche – wie noch ausgeführt werden soll – über den Preis permanent veränderte Knappheiten signalisiert und in weiterer Konsequenz zu entsprechenden Reaktionen von Angebot und Nachfrage sowie des technischen Fortschritts führt. Das erläutern auch die prominenten Gegner des Wirtschaftswachstums, Vater und Sohn Skidelsky : »Für Ökonomen ist diese Entwicklung
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Die neuen Ideologien Abbildung 3 : Die Interaktionen des Weltmodells Quelle : Cole (1973), S. 26.
nicht überraschend. Sie kennen seit Langem den grundlegenden Fehler in Malthus’ Argumentation : Er übersieht die kombinierte Wirkung von Preisen und technischer Innovation. Wenn bei einem Rohstoff die Reserven schwinden, steigt sein Preis, und damit wird ein Anreiz geschaffen, a) neue Reserven zu suchen, b) vorhandene Reserven effizienter auszubeuten und c) Alternativen zu erforschen« (Skidelsky – Skidelsky, 2012, S. 174). Am Rand sei vermerkt, dass selbst dem Club of Rome gewisse Zweifel über die apokalyptische Schrift von Meadows aufgestiegen sein dürften, denn er publizierte in der Folge einen weiteren Bericht, welcher vielen der vorgebrachten Kritikpunkte Rechnung trug und die Apokalypse erheblich abmilderte (Mesarovic – Pestel, 1974). Nun wurde es zwar in den folgenden Jahren etwas stiller um die Untergangsprophezeiungen des Club of Rome, aber sicherlich haben diese der Umweltbewegung gewaltigen Auftrieb gegeben und sie zu einem bestimmenden Faktor des politischen Lebens gemacht. Die damals entstandenen grünen Parteien haben sich etabliert, sich freilich insofern zurückgenommen, als die ursprünglich radikale Kritik am ökonomischen System einer grundsätzlichen Akzeptanz gewichen ist. Allerdings führten diese historischen Bewegungen zu Verhaltensänderungen, welche auch Folgen für die ökonomische Entwicklung zeiti-
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Die Wurzeln des Zeitgeistes
gen mussten. Insbesondere unter Intellektuellen entstand dadurch eine diffuse Reserve gegenüber dem »Kapitalismus« – faktisch also gegenüber der Industriegesellschaft –, die Furcht vor dessen Einfluss auf die Umwelt. Das galt weniger für konkrete Gefährdungen, die man ja bekämpfen könnte, sondern seit damals entstand in dieser Bevölkerungsgruppe eine vage Angst vor wirtschaftlichem Wachstum, insbesondere vor dem wissenschaftlichen Fortschritt. Das Erschließen neuer technischer Möglichkeiten erweckte zunächst Misstrauen und provozierte den Ruf nach deren Beschränkungen. Die Fixierung auf die Umwelt führte über gesetzliche Vorschriften, wie Jahre dauernde Umweltverträglichkeitsprüfungen oder zahllose Bürgerinitiativen, dazu, dass wichtige Infrastrukturinvestitionen entweder unterblieben oder um Jahrzehnte verzögert wurden ; exzessive Umweltauflagen erhöhten die Kosten. So wurde drei Jahrzehnte lang in Österreich kein neues Wasserkraftwerk errichtet und der Ausbau des Stromnetzes vernachlässigt – wie auch in Deutschland. Die akademisch Gebildeten verschlossen sich immer mehr den technischen Wissenschaften. Die »Neue Institutionenökonomie« (NIE) betont immer wieder die Bedeutung der Verhaltensweisen für die wirtschaftliche Entwicklung, die der sozialen Stabilität, welche das Vertrauen insbesondere der Unternehmer und damit ihre Investitionsbereitschaft fördere (North, 1988). Nun umfassten zwar die beschriebenen Bewegungen – vor allem Erstere – nur die schmale Schicht der akademischen Jugend aus vorwiegend begüterten Häusern, doch vermochte sich diese nicht nur selbst sehr gut zu artikulieren, sondern ihre Ideen fanden enormen Widerhall bei Intellektuellen sowie zu einem erheblichen Teil auch in den Medien. Wenn auch die große Mehrheit der Bevölkerung davon nur wenig berührt wurde, insbesondere auch nicht die Gewerkschaften (Kienzl, 1991, S. 69), so führten sie doch dazu, die Politiker und Wirtschaftstreibenden unsicher zu machen ; der gesellschaftliche Konsens des »Goldenen Zeitalters« war dahin und die Basis für jene Kritik gelegt, welche sich gegenwärtig zur Überwindung des Wirtschaftswachstums verdichtet hat.
2. Die Entstehung des Kapitalismus
2.1 Die Wiege des europäischen Individualismus Wenn zuvor darauf hingewiesen wurde, dass der Haupteinwand gegen die Studien von Forrester und Meadows darin liege, dass sie die Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft völlig vernachlässigt und nicht berücksichtigt hätten, dass die Ökonomie jene Denkmethode sei, die sich mit der Disposition über knappe Ressourcen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse befasst, ist damit jedoch noch nicht der gesamte Fragenkomplex ausgeleuchtet. Es wäre nämlich verfehlt, anzunehmen, dieses System enthalte nur ökonomische Aspekte und lasse sich mit einigen wirtschaftspolitischen Eingriffen verändern oder abschaffen. Es repräsentiert nämlich eine fundamental neue, historisch einmalige Gesellschaftsstruktur, welche seit 200 Jahren für Europa charakteristisch wurde, aber in ihren Wurzeln weit zurückreicht und sich in einem lang andauernden Prozess auf diesem Kontinent entwickelte. Um das zu verdeutlichen, scheint die historische Analyse unausweichlich (siehe Butschek, 2002 und 2006). In der Antike existierten keine grundlegenden ökonomischen Unterschiede zwischen den Kulturen. Alle wiesen den Charakter von Agrargesellschaften auf, welche im Wesentlichen das physische Existenzminimum erarbeiteten. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung siedelte auf dem flachen Land, nur einige städtische Zentren konnten durch landwirtschaftliche Überschüsse versorgt werden. Darin wurden in bescheidenem Rahmen gewerbliche Güter produziert, Handel betrieben und Dienstleistungen erbracht. Einer schmalen Oberschicht gestattete diese Konstellation mitunter eine luxuriöse Existenz. Diese grundsätzlich gleichartigen Gegebenheiten wiesen gewiss unterschiedliche Akzente auf ; so zeichnete sich die chinesische Kultur durch eine hoch entwickelte Zivilisation sowie ein ebensolches wissenschaftliches Niveau aus. Prinzipiell wichen aber die Einkommen wenig voneinander ab.
26
Die Entstehung des Kapitalismus
Übersicht 1 : Pro-Kopf-Einkommen der Welt 1
1000
1500
1600
1700
Bruttoinlandsprodukt je Westeuropa
576
427
771
888
993
Belgien
450
425
875
976
1.144 1.039
Dänemark
400
400
738
875
Deutschland
408
410
688
791
910
Finnland
400
400
453
538
638
Frankreich
473
425
727
841
910
Großbritannien
400
400
714
974
1.250
Italien
809
450
1.100
1.100
1.100
Niederlande
425
425
761
1.381
2.130
Norwegen
400
400
610
665
722
Österreich
425
425
707
837
993
Portugal
450
425
606
740
819
Schweden
400
400
651
700
750
Schweiz
425
410
632
750
890
Spanien
498
450
661
853
853
Übrige Staaten
539
400
507
556
650
Osteuropa
412
400
496
548
606
Ehemalige UdSSR
400
400
499
552
610
Europäische Abkömmlinge
476
400
400
400
400
USA
400
400
400
400
527
Übrige Staaten
400
400
400
400
408
Lateinamerika Mexiko Übrige Staaten Japan Asien (ohne Japan)
400
400
416
438
527
400
400
425
454
568
400
400
410
431
502
400
425
500
520
570
457
472
572
576
572
China
450
466
600
600
600
Indien
450
450
550
550
550
Übrige Staaten
486
520
565
573
567
Afrika
472
425
414
422
421
Welt
467
453
566
596
615
Quelle : University of Groningen, Angus Maddison, Historical Statistics.
27
Die Wiege des europäischen Individualismus
1820
1870
1913
1950
1973
1990
2000
2008
Einwohner in 1990 internationale Geary-Khamis-Dollar 1.194
1.953
3.457
4.569
11.392
15.908
19.176
21.672
1.319
2.692
4.220
5.462
12.170
17.197
20.656
23.655
1.274
2.003
3.912
6.946
13.945
18.452
22.975
24.621
1.077
1.839
3.648
3.881
11.966
15.929
18.944
20.801
781
1.140
2.111
4.253
11.085
16.866
19.770
24.344
1.135
1.876
3.485
5.186
12.824
17.647
20.422
22.223
1.706
3.190
4.921
6.939
12.025
16.430
20.353
23.742
1.117
1.499
2.564
3.502
10.643
16.313
18.774
19.909
1.838
2.757
4.049
5.996
13.081
17.262
22.161
24.695
801
1.360
2.447
5.430
11.324
18.466
25.102
28.500
1.218
1.863
3.465
3.706
11.235
16.895
20.691
24.131
923
975
1.250
2.086
7.063
10.826
13.813
14.436
819
1.359
3.073
6.769
14.018
17.781
20.710
24.409
1.090
2.102
4.266
9.064
18.204
21.487
22.475
25.104
1.008
1.207
2.056
2.189
7.661
12.055
15.622
19.706
828
1.432
2.190
2.538
7.614
11.021
15.067
19.701
683
871
1.695
2.111
4.988
5.427
5.970
8.569
688
943
1.488
2.841
6.059
6.894
4.460
7.904
1.202
2.419
5.233
9.268
16.179
22.346
27.394
30.152
1.257
2.445
5.301
9.561
16.689
23.201
28.467
31.178
761
2.244
4.752
7.424
13.399
17.906
21.781
24.807
691
676
1.494
2.510
4.518
5.065
5.889
6.973
759
674
1.732
2.365
4.845
6.085
7.275
7.979
661
677
1.441
2.540
4.441
4.822
5.560
6.783
669
737
1.387
1.921
11.434
18.789
20.738
22.816
577
545
657
638
1.220
2.120
3.181
5.042
600
530
552
448
838
1.871
3.421
6.725
533
533
673
619
853
1.309
1.892
2.975
579
612
875
917
2.030
3.075
3.998
5.146
420
500
637
889
1.387
1.425
1.447
1.780
666
870
1.524
2.111
4.083
5.150
6.038
7.614
28
Die Entstehung des Kapitalismus
Doch begann sich Europa schon relativ früh aus dieser Gemeinsamkeit zu lösen, zumindest soweit, als sich bereits damals manche Voraussetzungen für die in der Neuzeit explosionsartig einsetzende kapitalistische Expansion herausbildeten. Am Beginn der spezifisch europäischen Entwicklung stehen die griechischen Stadtstaaten. Diese wurden entweder oligarchisch oder demokratisch regiert, das heißt, die Bürgerschaft war mehr oder weniger in die politische Willensbildung eingebunden. In dieser Gemeinschaft entstanden wohl definierte Eigentumsrechte, welche die freie Verfügung über Boden, Kapital und – in Form von Sklaven – Arbeit sicherstellten. Damit konnte sich eine Geldwirtschaft mit agrarischer und handwerklicher Produktion sowie mit respektablem Handel entwickeln. Ein schon beträchtliches Maß an Rechtssicherheit senkte die Transaktionskosten und schuf günstige Bedingungen für die schon von Adam Smith formulierten Elemente des Produktivitätswachstums : Arbeitsteilung und Marktausweitung. Damit war ein Freiraum für politische und wirtschaftliche Disposition geschaffen worden, welcher zur Entstehung eines neuen, freien, individualistischen, verantwortungsbereiten und rational denkenden Bürgers führte. Zwar gingen im Römischen Reich die demokratischen Rechte teilweise verloren, doch blieben auch dort viele egalitäre Elemente unübersehbar : nicht nur im städtischen Bereich, sondern in manchen Formulierungen. So deuten etwa Begriffe wie »senatus populusque romanus« oder die Bezeichnung des Kaisers als »primus inter pares« auf ein entsprechendes Bewusstsein hin. Vor allem aber erlebte das Rechtswesen in diesem Staat eine eindrucksvolle Weiterentwicklung. Denn Rom schuf nicht nur gleichfalls wohl definierte Eigentumsrechte, sondern ein umfangreiches Privatrecht, das bis in die Gegenwart weiterwirkt. Auch repräsentierte das Römische Reich während der »pax romana« einen außerordentlich großen und sicheren Markt. Von daher wären also sehr günstige Voraussetzungen für langfristiges wirtschaftliches Wachstum gegeben gewesen. Dennoch kam es nur beschränkt dazu. Die römische Wirtschaft veränderte sich wenig. Wohl gab es Produktionszuwächse, doch diese blieben weit von dem entfernt, was Kuznets »modern eco-
Die Wiege des europäischen Individualismus
29
nomic growth« (Kuznets, 1966, S. 26) bezeichnet, also ein stetiges Wirtschaftswachstum, welches durch kurzfristige Rückschläge nicht beeinträchtigt werden kann und das ein Charakteristikum der kapitalistischen Wirtschaft darstellt. Dazu fehlten zwei zentrale Elemente des ökonomischen Wachstums : technischer Fortschritt und dynamisches Unternehmertum. Tatsächlich hielt sich die technische Entwicklung Roms in engen Grenzen. Zwar gab es, wie in allen Kulturen dieser Zeit, Erfindungen, doch blieben diese vereinzelt und über große Zeiträume verteilt. Was sie von der kapitalistischen Epoche unterschied, war eben ihr sporadisches Auftreten und der Mangel an Weiterentwicklung. Zwar kannte man etwa die Schraubenpresse, und in Palästina wurde im 1. Jahrhundert die Wassermühle entdeckt. Doch verbreitete sich diese Innovation in den folgenden Jahrhunderten kaum im Römischen Reich. Das außerordentlich hohe Niveau der antiken Wissenschaft war dadurch gekennzeichnet, dass diese ausschließlich Angelegenheit der Oberschicht blieb, sie wurde auch – mit Ausnahme der Medizin – sehr fern von der Realität betrieben und zeigte keinerlei Anwendungsorientierung. Wenn technischer Fortschritt realisiert wurde, dann im militärischen Bereich und im Bauwesen. Und dieser Umstand weist eben auf den zweiten Mangel der antiken Wirtschaft hin : das Fehlen des Unternehmers, also einer Gesellschaftsschicht, die durch innovatorischen Charakter gekennzeichnet ist ! Die Produzenten dieses Zeitalters kombinierten die Produktionsfaktoren meist in traditioneller, ererbter Weise. Ein dynamisches Vorgehen in dem Bestreben, die Kosten ständig zu minimieren, auch unter Einsatz des technischen Fortschritts, blieb ihnen mehrheitlich fremd. Offensichtlich mangelte es auch an den sozialen Voraussetzungen für eine derartige gesellschaftliche Gruppe. Da standen auf der einen Seite die reichen Latifundienbesitzer, die sich mit der Produktion überhaupt nicht beschäftigten – allenfalls mit Geldgeschäften –, sondern diese den Verwaltern, oft im Sklavenstatus, überließen. Auf der anderen Seite Kleinbauern am Rand des Existenzminimums. Die Handwerker zählten in ihrer Mehrheit zu den Skla-
30
Die Entstehung des Kapitalismus
ven oder wenigstens zu einer verachteten Klasse. Blieb der Handel, der gleichfalls beschränktes soziales Ansehen genoss. Hier fanden sich also wenige Ansätze zu einer kapitalistischen Produktion. So kann es nicht überraschen, dass Finley immer wieder betont, der antiken Welt sei jedes rationale, ökonomische Denken fremd geblieben (Finley, 1977, S. 7). Ein solches Urteil mag in dieser apodiktischen Form nicht zutreffen – insbesondere nicht für den Handel –, illustriert aber doch die Gegebenheiten der Antike.
2.2 Die Dynamik des europäischen Mittelalters Beide fehlenden Elemente wuchsen erst im Laufe des Mittelalters heran, wofür es freilich einer zentralen Voraussetzung bedurfte. Schon in der Spätphase des Römischen Reiches begann sich eine Position herauszubilden, welche für die spätere europäische Entwicklung zentrale Bedeutung erlangte : die positive gesellschaftliche Einschätzung der Arbeit. Dieser Prozess war auf das Engste mit der christlichen Religion verbunden. Im klassischen Griechenland wurde jegliche produktive Arbeit verachtet. Darin unterschied sich diese Gesellschaft nicht von allen anderen Hochkulturen der Epoche. Nur die Begründung dafür variierte etwas : Die dem freien Bürger angemessenen Tätigkeiten beschränkten sich auf Politik, Wissenschaft und Krieg. Jede Arbeit unter dem Zwang, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, musste danach die Fähigkeiten des Menschen zu Höherem verkümmern lassen. Würde und Ansehen des freien Mannes gingen mit der ökonomischen Unabhängigkeit einher. Die römische Antike definierte, derselben Linie folgend, nur die »artes liberales«, wie Architektur, Medizin und Wissenschaft, als akzeptabel. Das Christentum schreibt der Arbeit zunächst ambivalenten Charakter zu. Einerseits war sie Teil des Schöpfungsauftrags – »Macht Euch die Erde untertan« –, andererseits strafte Gott Adam für seinen Ungehorsam damit, dass er »im Schweiße seines Angesichts« sein Brot es-
Die Dynamik des europäischen Mittelalters
31
sen sollte. In den folgenden Jahrhunderten jedoch entwickelte sich das christliche Arbeitsverständnis mit nachhaltigen Folgen weiter. Augustinus betonte das Wesen der Arbeit als Teilhabe am göttlichen Schöpfungsprozess : »… erstmals wird in der Weltgeschichte die Arbeit positiv gedeutet …« (Frambach, 1999, S. 51). Und es war gerade die katholische Theologie des Mittelalters, von der wesentliche Impulse für die Entstehung des kapitalistischen Menschentyps ausgingen. Dies gilt insbesondere für die Naturrechtsethik des Thomas von Aquin. Die Grundidee dieser lag in der Rationalisierung des Lebens : »Sünde in den menschlichen Tätigkeiten ist das, was sich gegen die Ordnung der Vernunft richtet« (zitiert nach Sombart, 1913, S. 307). Die eigentliche ökonomische Tugend ist den Scholastikern die »liberalitas«, das vernünftige Haushalten ; man könnte es auch Wirtschaftlichkeit nennen. Verwerflich sei aber in jedem Fall der Müßiggang. Dieser sei sündig, weil er die Zeit, dieses kostbarste Gut, vergeude. Hier wird also nicht nur die Arbeit rehabilitiert, sie wird zur Verpflichtung des Christen erhoben ; freilich vermittle sie auch hohe Befriedigung. Thomas von Aquin stellt in diesem Zusammenhang interessante sozial- und wirtschaftspolitische Überlegungen an. So betont er, dass die Arbeit nur in angemessenem Ausmaß erfolgen sollte, also Ermüdung zu vermeiden sei. Ein solches Ziel wäre durch entsprechende Phasen von Ruhe und Erholung zu realisieren. Die Notwendigkeit der Arbeit resultiere nicht nur aus der Sicherung des Lebensunterhalts, sondern auch aus dem arbeitsteiligen Charakter der Gesellschaft, welcher den unterschiedlichen Begabungen Rechnung trage. Daraus aber ergäbe sich die Notwendigkeit des Privateigentums. Dieses lasse das individuelle Interesse an der Produktion entstehen, welche dadurch geordnet erfolge, und schließlich sei jeder mit den Erträgen seiner Arbeit zufrieden (Postel, 2009). Übersetzt in ökonomische Begriffe bedeutete dies die optimale Allokation der Ressourcen durch den Markt sowie eine ebensolche Einkommensverteilung. Insgesamt schuf also die naturrechtliche Thomistik einen Komplex von Regeln – »Institutionen« –, der in hohem Maß geeignet war, jenen neuen Menschentyp zu kreieren, der die industrielle Entwicklung in
32
Die Entstehung des Kapitalismus
Europa tragen konnte. Die Reformation radikalisierte diese positive Arbeitsbewertung, indem sie ihr göttlichen Berufungscharakter verlieh – wie sich das auch im deutschen Wort »Beruf« widerspiegelt. Der Mensch ist Gott gegenüber zur Arbeit verpflichtet. Noch weiter geht Calvin. Er lehnte das Zins- sowie Wucherverbot ab und sah durchaus die produktive Rolle des Geldes. Ebenso schätzte er die Bedeutung des Handels ein, welcher, wie jeder andere Beruf, gottgegeben sei. Auch lehnte er Luxus nicht ab, weil darüber in der Heiligen Schrift nichts zu finden sei. Sparen ermögliche die Investition. Damit sah er die auf Arbeitsteilung und privatem Eigentum an Produktionsmitteln beruhende Tauschwirtschaft gleichfalls durchaus positiv. Nach Meijer hätte Calvin die manifeste Prädestination nicht vertreten. Diese sei ihm von Max Weber zugeschrieben worden, der seine Informationen aus der Beobachtung zeitgenössischer calvinistischer Gruppen in den USA gewonnen habe (Meijer, 2010). Freilich wäre anzumerken, dass die Kirche die industrielle Entwicklung nicht nur positiv beeinflusste. Manche frühchristliche Theologen standen dem Handel mit großer Skepsis gegenüber. Wenn er gar zur Wohlhabenheit führte, dann verstieß er gegen das christliche Armutsideal, und das Zinsverbot wurde die längste Zeit vehement vertreten. Trotz aller Ambivalenzen muss man ihr aber doch eine zentrale Rolle für die Ausbildung jener Regelstruktur und damit des Menschentyps zuschreiben, welche die Industrialisierung Europas ermöglichten. Ein weiteres zentrales Element, welches das europäische Mittelalter für die Entwicklung in Richtung des Kapitalismus beitrug, liegt in seinem dynamischen Charakter – welcher es deutlich von der antiken Statik abhob. Seine soziale Struktur kennzeichnete der Feudalismus. Im Prinzip erwuchs dieser aus einer Unzulänglichkeit. Die frühmittelalterlichen Reiche Europas sahen sich nicht in der Lage, eine zentrale Verwaltung und ein entsprechendes Heerwesen aufzubauen, wie das den römische Staat oder andere Hochkulturen ausgezeichnet hatte oder noch auszeichnete. Daher übertrugen die Territorialfürsten die militärischen Aufgaben sowie Verwaltung und Gerichtsbarkeit an Lehensmän-
Die Dynamik des europäischen Mittelalters
33
ner, welche für diese Leistung mit dem Nutzungsrecht an Grund und Boden ausgestattet wurden (Vasallität und Beneficium). Diesen verliehen die Grundherren wieder an Leibeigene weiter. Damit entstand ein charakteristisches Element des europäischen Institutionensystems, nämlich die Verrechtlichung der sozialen Beziehungen. Wiewohl oftmals von gewaltsamen Vorgangsweisen überschattet, beruhten diese grundsätzlich auf Verträgen, die Leistung und Gegenleistung enthielten. Den fixierten Abgaben und der Fronarbeit von Bauern standen persönlicher Schutz, Verwaltung und Gerichtsbarkeit gegenüber. Auch blieben innerhalb dieses Systems der Leibeigenschaft den Hintersassen einige autonome Bereiche erhalten. Das galt für die Selbstverwaltung im Gemeindeverband sowie die Mitwirkung an der niederen Gerichtsbarkeit. All diese Gegebenheiten führten schon zu einer gewissen Individualisierung der agrarischen Bevölkerung. Als entscheidend jedoch für die europäische Entwicklung erwies sich die Stadt. Sie vermochte sich sozusagen in den Nischen der Grundherrschaft anzusiedeln. Die mittelalterlichen Städte entstanden aus Überresten römischer Siedlungen sowie aus Märkten. Das meist königliche Marktprivileg sicherte ihnen Immunität gegenüber der ländlichen Umgebung zu und verlieh ihnen das Recht, eigene Gerichte zu etablieren sowie Rechtsvorschriften zu erlassen. Darüber hinaus erlangten die Marktteilnehmer sehr früh Einfluss auf die Verwaltung des Marktes, da dessen Gründer infolge der zu erwartenden Abgaben ein sehr hohes Interesse daran hatten, Handelstreibende und Handwerker anzuziehen und solchen daher größere Freiräume einräumten (Bindseil – Pfeil, 1999). Ein Charakteristikum dieser neuen städtischen Struktur lag damit in der Rechtssicherheit. Meinungsverschiedenheiten im geschäftlichen Leben wurden vor Gericht ausgetragen. Im Gegensatz zum Teileigentum des Feudalismus entwickelten die Städte wohl definierte Eigentumsrechte, welche überhaupt erst die Anreize zur kommerziellen Aktivität schufen. All diese Gegebenheiten trugen dazu bei, dass sich die Städte allmählich von äußeren politischen und rechtlichen Einflüssen befreiten und ihre Angelegenheiten autonom sowie im Wesentlichen demokra-
34
Die Entstehung des Kapitalismus
tisch regelten. Es entstanden die »… governments of the merchants, by the merchants, for the merchants …« (Lopez, 1976, S. 70), und »Stadtluft macht frei« wurde zum Wahrspruch des Mittelalters. Die wirtschaftliche Aktivität vollzog sich in den mittelalterlichen Städten auf sehr unterschiedliche Weise. Produktion und regionaler Handel waren in Zünften organisiert. Diese stellten Selbstverwaltungskörper dar, welche die Bedingungen für Produktion und Handel strikt festlegten. Ganz im Gegensatz dazu entwickelten sich der interregionale und internationale Handel. Hier vollzog der Markt die Koordination von Angebot und Nachfrage. In diesem Zusammenhang hatte sich auch ein neuer Moralkodex herausgebildet, welcher, zunächst noch ohne Einflussnahme der Behörden, den kommerziellen Umgang regelte und damit die Transaktionskosten senkte sowie das unternehmerische Risiko verringerte. Lässt sich für die spätere Industrialisierung vom Zunftwesen dessen Autonomie sowie Rechtscharakter gewinnen, so weist der interregionale und internationale Handel schon auf das künftig dominierende Koordinationssystem des freien Marktes hin. Diese Entwicklung vollzog sich vor einer folgenschweren Veränderung des geistigen Hintergrunds dieser Periode. Zwar war das Leben des mittelalterlichen Menschen in hohem Maß durch die christliche Religion geprägt, doch hatte diese niemals einen allumfassenden Anspruch gestellt, wie das schon durch die Worte des Stifters »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« zum Ausdruck kommt. Daher ist auch das Mittelalter durch die beständige Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst charakterisiert. Doch auch die theologische Diskussion vollzog sich im frühen Mittelalter bemerkenswert offen. Sie integrierte die jüdisch-arabischen Philosophen und blieb stets dem logischen und rationalen Denken verpflichtet ; so wurde der Klerus zum Träger der wissenschaftlichen Forschung. Als die Kirche versuchte, diesen allzu freien Diskurs zu bremsen, war es bereits zu spät. Die rationale und wissenschaftliche Fundierung des europäischen Denkens, die intellektuelle Neugier hatten sich schon zu sehr verfestigt, in den Städten einen Freiraum gefunden und sich von religiösen Beschrän-
Die Dynamik des europäischen Mittelalters
35
kungen emanzipiert. Am Ende dieser Periode stand schließlich der Humanismus (Butschek, 2002, S. 70). Diese Entwicklung sowie der Zwang für die städtischen Kaufleute, an ihre Probleme rechenhaft heranzugehen, führten schließlich zu einer Veränderung ihres Weltbilds in eine Richtung, die man als »quantitative revolution« (Crosby, 1997) bezeichnen kann. Diese fand ihren Ausdruck durch die »Linearisierung der Zeit«, welche durch die Erfindung der Uhr ermöglicht wurde, die Konzipierung verlässlicher See- und Landkarten, die Übernahme und erfolgreiche Weiterentwicklung der arabischen Mathematik, die Entwicklung der doppelten Buchführung, die Einführung der Perspektive in der Malerei sowie die Erfindung der Notenschrift, welche die Melodie in zeitliche Quanten unterteilte und damit die Polyphonie begünstigte. All das ging einher mit der Übernahme oder Erfindung zahlreicher technischer Neuerungen. Am Ende dieses Prozesses stand ein neuer Mensch : Der städtische Bürger trug dem tief verwurzelten Trieb zur Einkommensmaximierung nicht durch Gewalt gegen andere Rechnung, sondern durch Produktion, Handel, Leistung und Forschung. Ein Menschentyp, dessen Selbstbewusstsein sich auf die Arbeitsbewertung der katholischen Kirche gründete und der einem neuen Wertekanon verpflichtet war, welcher sich krass von jenem der Aristokratie abhob. Ein Kennzeichen dieser Entwicklung lag eben darin, dass dieser neue Menschentyp in seiner kommerziellen Tätigkeit eine vielfältige Dynamik an den Tag legte. Seine Arbeit vollzog sich nicht, wie in der Antike oder den außereuropäischen Kulturen, vorwiegend im traditionellen Rahmen, sondern er ging daran, neue Möglichkeiten zu erproben, also die Produktionsfaktoren zur Kostenreduktion oder zur Schaffung neuer Produkte neu zu kombinieren. Und der entscheidende Faktor in diesem seinen Bemühen lag darin, dass er dazu auch schon den technischen sowie organisatorischen Fortschritt einsetzte. Damit war ein entscheidender Schritt zur Industriellen Revolution getan.
36
Die Entstehung des Kapitalismus
2.3 Der Merkantilismus – die Phase der Vorbereitung Im Zeitalter des Merkantilismus wurden all die Ansätze des Mittelalters weiterentwickelt, doch traten einige neue hinzu. Da war zunächst die Staatenbildung, welche man als einen historischen Nachholprozess bezeichnen kann. Das Feudalsystem ging mit dem Wandel der Militärtechnik zu Ende. Durch die Entwicklung insbesondere der Feuerwaffen verlor der gepanzerte Ritter seine Kampfkraft. Er vermochte seine Leibeigenen nicht mehr zu schützen. Innere und äußere Sicherheit wurden Angelegenheit der Zentralgewalt – es bildete sich das Gewaltmonopol des Staates heraus. Die Territorialfürsten waren gezwungen, zur Erfüllung dieser Aufgaben nicht nur neue Armeeformationen heranzuziehen, sondern diese auch zu bezahlen. Darauf waren die mittelalterlichen Staaten in keiner Weise vorbereitet. Sie bezogen ihre Einnahmen aus Kron- und Kammergütern sowie einigen Zöllen und Abgaben. Steuern für außerordentliche Belastungen, wie für Kriege, mussten von den Ständen bewilligt werden. Angesichts deren Unwilligkeit, solches zu tun, suchten die Territorialherren nach neuen Einnahmen. Sie gingen daher dazu über, Steuern zu erheben. Diese mussten fixiert, eingehoben, kontrolliert und administriert werden – sobald sie nicht mehr Steuerpächtern überlassen blieben. Das erforderte daher den Aufbau einer Verwaltung, welche allmählich auch eine Fülle anderer Aufgaben übernahm. Parallel dazu erfolgte in den Staaten auch die Vereinheitlichung des Rechtswesens. Zunächst wurde oftmals das gebräuchliche Recht kodifiziert, darüber hinaus begann der Staat aber, gesellschaftliche Bereiche gesetzlich neu zu regeln. Wurde damit also der notwendige rechtliche und administrative Rahmen für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung geschaffen, erwies sich auch die geänderte Einstellung des Staates zur nationalen Ökonomie als wesentlich. Zwar hatte in Europa stets ein relativ hohes Maß an Rechtssicherheit existiert. Zu willkürlichen Konfiskationen war es sehr selten gekommen, doch hatte sich der Staat, um Einnahmen zu erzielen, vor allem um die Extraktion von Mitteln bemüht. Nunmehr kam es unter dem Einfluss der merkantilistischen Literatur zu einem
Der Merkantilismus – die Phase der Vorbereitung
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völligen Umdenken. Die Regierungen nahmen den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Aktivität und Steuereinnahmen zur Kenntnis. Die politische Konsequenz dieser Einsicht lag darin, die ökonomische Entwicklung des Landes zu fördern – es entstand zum ersten Mal eine konsistente Wirtschaftspolitik : der »Universalkommerz«. Zu diesem Zweck etablierten die Staaten Kommerzialbehörden, welche die Wirtschaftspolitik durchzuführen hatten. Das nationale Territorium verschmolz zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum mit Zollschutz nach außen. Die Infrastruktur wurde ausgebaut, Schulen wurden errichtet, die Schulpflicht eingeführt und technische Hochschulen geschaffen. Der Fernhandel, der sich schon im Mittelalter des fürstlichen Wohlwollens erfreut hatte, wurde nun direkt gefördert, teils durch außenpolitische und militärische Aktionen, teils durch Gründung oder Förderung von Handelskompanien. Diese Epoche brachte die Beherrschung des Welthandels durch Europa sowie den Beginn seiner Kolonialreiche. Als wesentlich erwies sich jedoch der Wandel im Bereich der Produktion : Die Zentralbehörden lockerten das Zunftsystem beträchtlich auf. Erzeugungen etablierten sich außerhalb seines Wirkungsbereichs. Es entstand das Manufakturwesen, also jene noch vorwiegend handwerkliche Erzeugung, welche eine relativ große Zahl von Arbeitskräften unter einem Dach vereinigte und damit die Kontrolle und die zweckmäßige Organisation der Produktion – die Arbeitsteilung – ermöglichte. Noch größere Bedeutung erlangte das Verlagssystem, in dessen Rahmen vorwiegend Handelsunternehmer Rohstoffe an ländliche Verarbeiter lieferten und auch die Vermarktung übernahmen. Solche Unternehmer befriedigten nicht mehr nur die lokale Nachfrage, sondern belieferten externe Märkte. Damit konnten nicht mehr nur im Fernhandel, sondern auch in der Erzeugung unternehmerische Erfahrungen gesammelt werden. Und schließlich beschränkte sich der Staat nicht nur darauf, die Produktion zu fördern, sondern ging dazu über, selbst Betriebe zu errichten, welche zum Teil beträchtliche Erfolge erzielten. All diese Prozesse konnten sich vollziehen, weil in der breiten Masse der Bevölkerung Verhaltensweisen entstanden, welche den neuen Anfor-
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derungen entsprachen. Diese lehnten sich zunächst an die Erfordernisse der neuen Armeen an und beinhalteten Disziplin, Pflichtbewusstsein, Selbstkontrolle, Fleiß, Genauigkeit und Pünktlichkeit – Einstellungen, die im Mittelalter nur beschränkt gegeben waren. Auf diese Weise bildeten sich Arbeitsmärkte heraus, welche der Produktion die benötigten Kräfte zur Verfügung stellten (Matis, 2012, S. 607). Insofern lässt sich also sagen, dass sich in der protoindustriellen Phase eine Veränderung der Institutionenstruktur vollzog, welche tatsächlich einen »neuen Menschen« schuf. Jene Veränderungen vollzogen sich vor dem geistigen Hintergrund der Aufklärung. In dieser hatten sich Humanismus und Renaissance zu einem konsistenten philosophischen System verdichtet, welches das Individuum in den Mittelpunkt seines Denkens stellte. Sie verstand sich als Ideologie der »Vernunft«, des rationalen Herangehens an die Probleme, frei von überlieferten Vorurteilen. Daraus resultierten Vorstellungen wie die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Verständnis des Staates als Sozialkontrakt. Dieses bürgerliche Weltbild beherrschte das Denken des 18. Jahrhunderts in einer Weise, dass sich ihm auch Adelige und Geistliche bis zu Territorialfürsten, wie Friedrich II. und Joseph II., unterwarfen. In einer solchen Atmosphäre vollzog sich die »wissenschaftliche Revolution«. Eine ähnliche Veränderung des Denkens hatte sich ja schon um die Wende zum 16. Jahrhundert abgezeichnet. Nicht mehr überlieferte antike Autoritäten wurden abstrakt neu interpretiert, sondern man ging daran, durch Beobachtung der Wirklichkeit zur Erkenntnis vorzustoßen. Und das Ziel der Forschung verlagerte sich immer stärker von den existentiellen Fragen der Philosophie zu den Problemen des täglichen Lebens, wie das Francis Bacon formulierte : »Das wahre und gesetzmäßige Ziel der Wissenschaft ist es, das menschliche Leben durch neue Entdeckungen und Kräfte zu bereichern« (zitiert nach Mason, 1997, S. 305). Und es war auch dieser Forscher, der den entscheidenden methodologischen Schritt von der Beobachtung zum Experiment setzte. Ihren spektakulären Höhepunkt erreichte die Wissenschaft dieser Periode, als Tycho de Brahe, Johannes Kepler und Galileo Galilei
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dem heliozentrischen System des Nikolaus Kopernikus endgültig zum Durchbruch verhalfen. Krönung und vorläufigen Abschluss fand die frühneuzeitliche Wissenschaftsentwicklung im System der Mechanik Isaac Newtons. Wissenschaftliche Gesellschaften, in welchen Akademiker und Praktiker zusammenkamen, demonstrierten das Wachstum der Scientific Community. Solche Gemeinschaften gingen daran, die Resultate der Forschung permanent zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Auch die Wissenschaft nahm dynamischen Charakter an. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Rolle des Marktes eine neue Bedeutung. Es geht nämlich nicht allein um dessen Koordinationsfunktion, um die Allokation der Ressourcen, sondern darum, dass dieser den Wettbewerb ermöglicht und damit den Einsatz des technischen Fortschritts, also des zentralen Elements der kapitalistischen Marktwirtschaft, vorantreibt. Das Diktum Hayeks vom Markt als Entdeckungsverfahren gewinnt dadurch eine neue Dimension.
2.4 Der Durchbruch Die beschriebenen Veränderungen hatten schon dazu geführt, dass das westeuropäische Pro-Kopf-Einkommen um 1800 doppelt so hoch lag wie in allen außereuropäischen Kulturen. Die Explosion des Wirtschaftswachstums, der rasante und fundamentale Wandel der gesamten Sozial- und Wirtschaftsstruktur vollzog sich jedoch erst im 19. Jahrhundert durch die Industrielle Revolution im engeren Sinn. Ihr Merkmal war der technische Fortschritt. Sein Symbol wurde die Dampfmaschine, weil sie alle Charakteristika dieses Begriffs auf sich vereinigte. Sie repräsentierte zunächst eine bahnbrechende Erfindung, welche die Produktion von menschlicher, tierischer oder anderer natürlicher Kraft, wie Wind oder Wasser, unabhängig machte und vervielfachte. Durch ihren Einsatz konnte jetzt der Produktionsstandort viel freier gewählt werden. Sie stellte eine technische Erfindung dar, die aus dem gegebenen Stand des allgemeinen technischen Wissens abgeleitet worden war. Zwar gehörte James Watt keinesfalls der akademischen Wissenschaft an – er
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war Feinmechaniker –, aber er konnte seine Forschungen auf einer existierenden Basis aufbauen. Und er repräsentierte das typische Produkt seiner Gesellschaft, ihrer Interessen und Wertvorstellungen. Und das waren diejenigen eines autonomen und initiativen Bürgertums, in welchem der technische sowie der ökonomische Diskurs gepflegt wurden. Und damit ist auch der für die Industriegesellschaft zentrale Kernprozess beschrieben : der ökonomisch determinierte Einsatz der Technik, welcher von der Scientific Community permanent weiterentwickelt, zur »Routine« (Landes, 1999) wurde. Zum Charakteristikum dieses technisch determinierten Produktionsprozesses entwickelte sich die Fabrik. Diese kannte bereits als Vorläufer die Manufaktur. Auch dort wurde ja schon eine relativ große Zahl von Arbeitskräften unter einem Dach vereint und arbeitsteilig organisiert. Nunmehr jedoch erhielt ihre Tätigkeit durch den Einsatz von Maschinen, deren Antrieb mit unbelebter Energie erfolgte, einen grundsätzlich neuartigen Charakter. Auch prägten die Fabriken durch ihre Größe sowie auch ihre Zahl in ganz anderer Weise die Produktionslandschaft als die Manufakturen die merkantilistische Wirtschaft. Aus dieser Konstellation erwuchsen drei zentrale Elemente des industriellen Wachstums : Da war zunächst die technische Revolution mit ihren Maschinen und dem dazu erforderlichen Einsatz von Energie. Diese wurde im Zeitablauf aus unterschiedlichen Quellen gewonnen, zunächst durch Kohle, später durch Elektrizität und Erdöl. Man kann daher auch von einer Revolution der Antriebskräfte sprechen. Dieser folgte die Verkehrsrevolution. Zwar gab es schon im Merkantilismus einen umfangreichen Ausbau der Straßen und, vor allem in England, Frankreich und den Niederlanden, der Kanäle. Auch den Laderaum der Schiffe vergrößerte man. Doch der massive Durchbruch gelang erst in dem Augenblick, als Anfang des 19. Jahrhunderts Richard Trevithick und George Stephenson in der Lage waren, die Dampfmaschine Watts umzulegen und Lokomotiven zu bauen, welche Waggons auf Eisenschienen zogen. Damit wurde ein neues Zeitalter des Transports eröffnet. Massenbewegungen von Menschen sowie auch Gütern
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waren bisher in beschränktem Ausmaß nur auf Schiffen möglich gewesen, nunmehr jedoch unbegrenzt zu Land. Im Kapitalismus konnten jetzt nicht nur große Mengen erzeugt, sondern auch transportiert werden. Märkte und Arbeitsteilung gewannen eine neue Dimension. Der Einsatz der Dampfmaschine im Seetransport erfolgte relativ spät, da der Kohlevorrat zunächst einen zu großen Teil der Ladekapazität des Schiffes in Anspruch nahm. Dampfschiffe wurden daher vorerst nur für den Personenverkehr sowie auf Routen eingesetzt, welche Schnelligkeit und Pünktlichkeit erforderten. Immerhin bewirkte die Konkurrenz des Dampfschiffs eine wesentliche Verbesserung der Segelschiffe. Die »tea clippers«, welche die Chinaroute bedienten, erbrachten eindrucksvolle Leistungen. Als drittes zentrales Element der industriellen Entwicklung kann man die Informationsrevolution betrachten, welche das Tempo der Nachrichtenübermittlung den Verhältnissen der Produktion und des Transports anpasste. Sie fand ihren notorischen Ausdruck durch die Erfindung des Telegraphen in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts sowie, später, in jener des Telefons. Unter diesen Bedingungen setzte sich in Europa »modern economic growth« durch. Bewegte sich das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum vor der Industriellen Revolution in Westeuropa um 0,1 %, verzehnfachte es sich zwischen 1820 und 1870 auf rund 1 %, um sich bis 1913 auf 1,3 % zu steigern. Die schweren Rückschläge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise drückten allerdings die Wachstumsrate auf 0,3 %. Nach 1945 erlebte Westeuropa dann eine Wachstumsexplosion von rund 4 % und im Gefolge der Erdölkrise 1973 immer noch eine Steigerung von fast 2 %. Damit änderte sich die Einkommensrelation Westeuropas zu allen anderen Kulturen dramatisch. Lag das westeuropäische Pro-Kopf-Einkommen bei Anbruch der Industriellen Revolution etwa doppelt so hoch wie dasjenige Chinas, erreichte es 1973, also nach 150 Jahren, das Vierzehnfache (eine Differenz, die sich bis heute natürlich dramatisch reduziert hat). Entsprechend verhielt sich die Relation zu den anderen Regionen.
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Versucht man, aus der geschilderten historischen Entwicklung Schlussfolgerungen zu ziehen, dann ergeben sich im Wesentlichen folgende Voraussetzungen für das Entstehen einer Industriegesellschaft : Zunächst die gesellschaftliche Hochschätzung der Arbeit und ein individualistischer, verantwortungsbereiter, selbstreflektierter und initiativer Menschentyp, aus welchem Unternehmer, Wissenschaftler sowie objektive Richter und Beamte entstehen können. Die Gesellschaft muss durch eine Scientific Community geprägt sein, welche die Wissenschaft und damit den technischen Fortschritt permanent vorantreibt, sowie eine Unternehmerschaft, die Ertragsmaximierung durch ebenso stetigen Einsatz des technischen Fortschritts anstrebt. Schließlich haben wohldefinierte Eigentumsrechte und ein funktionierender Rechtsstaat den Raum für die ökonomischen Dispositionen sicherzustellen und damit die Transaktionskosten zu senken. Und diese Bedingungen gelten nicht nur für die Vergangenheit, sondern ebenso für die Gegenwart – wie auch die internationale Diskussion zeigt. Denn in diesem Rahmen wird von den Entwicklungsländern immer häufiger »good government« als Voraussetzung für Entwicklungshilfezahlungen verlangt. Und diese Forderung zielt vor allem auf einen funktionierenden Rechtsstaat ab und damit auf die Abwesenheit von Korruption, den Aufbau einer Zivilgesellschaft sowie verbesserte Ausbildung und schließlich auf einen mehr oder minder funktionierenden Markt, welcher Wettbewerb ermöglicht und damit die Dynamik des Systems unterstützt.
2.5 Catching up und Stagnation Natürlich stellt sich die Frage, warum die Voraussetzungen für die Industrielle Revolution nur in Europa erfüllt waren und in keiner anderen Hochkultur. Dieser Prozess entwickelte sich gewiss nicht zwangsläufig, wie die rückblickende Betrachtung nahelegen könnte ; Zufallselemente sind ihm eigen, wie etwa das Zusammenfließen der römischen Tradition mit germanischer Staatsentwicklung. Doch wie immer die historischen Prozesse in anderen Kulturen verliefen, in keiner davon wurden die Vor-
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aussetzungen für eine Industrialisierung entwickelt. Besonders ins Auge springt deren Fehlen in der islamischen Kultur. Vor allem deshalb, weil diese, ebenso wie Europa, auf der Antike aufbauen konnte und darüber hinaus im frühen Mittelalter einen glanzvollen Höhepunkt in Politik, Kultur und Ökonomie erreichte, danach jedoch vollkommen erstarrte. Zunächst erwies sich das Reich der Kalifen und ihrer Nachfolger bereits früh als hoch organisiert. Diese regierten absolutistisch, finanzierten den Staat durch Steuern, welche – abgesehen von der Kopfsteuer für »Ungläubige« – auf Grund und Boden, Handel und Handwerk gelegt wurden, bedienten sich einer Beamtenschaft sowie einer besoldeten Armee. Auch der arabische Raum kannte Städte. Im 10. und 11. Jahrhundert zählten die Handelszentren dieser Region zu den größten der westlichen Hemisphäre. Die Herrscher residierten in der Stadt und regierten sie auch. Die Verwaltungsaufgaben wurden von ihren Beamten wahrgenommen. Politische Vertreter der Bevölkerung gab es praktisch nicht. Wohl existierten Verantwortliche für bestimmte Bevölkerungsgruppen, deren Hauptaufgabe es jedoch blieb, Steuern einzutreiben (Hourani, 2000, S. 176). Die Stadt kannte im Islam keine autonome rechtliche Körperschaft. Rathäuser blieben daher dort unbekannt. Unter diesen Bedingungen konnte sich ein autonomes Bürgertum nicht entwickeln. Dazu gesellte sich jedoch noch ein weiteres zentrales Element : Der Islam repräsentierte ein theokratisches System. Er regelte durch seine Schriften, den Koran und die Sunna, die Überlieferung sowie, daraus abgeleitet, durch die Scharia alle Lebensbereiche seiner Gläubigen in umfassender Weise. Die Interpretation der Schriften oblag ursprünglich dem Kalifen. Nach relativ kurzer Zeit jedoch verlagerte sich die Autorität für die Darlegung des göttlichen Rechts immer mehr zu den Theologen (Ulema und Imame). Damit wandelte sich der absolutistische Staat in einen theokratischen. Das zeitigte tiefgreifende Wirkungen für die Wissenschaft. Ihr früher Aufbruch und Höhepunkt, insbesondere im maurischen Spanien, fand ein relativ rasches Ende. Philosophische Erörterungen wurden vor allem von Al-Ghazali (1058–1112) scharf zurückgewiesen, welcher sie als
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Spekulationen verwarf. Maßgebend seien einzig und allein die in den Schriften geoffenbarten Heilslehren. Eine Position, die sich in der islamischen theologischen Diskussion restlos durchsetzte. Damit erstarrte der wissenschaftliche Diskurs gänzlich. Die Lösung neu auftauchender Probleme wurde stets unter der Devise »zurück zu den alten Quellen« in Angriff genommen. Der charakteristische Höhepunkt dieser Denkweise manifestierte sich im Verbot des Buchdrucks, das den Informationsfluss und den Gedankenaustausch bis Ende des 18. Jahrhunderts unterband. Damit wurde schließlich der wissenschaftlichen Diskussion der Todesstoß versetzt. In dieser Atmosphäre war technisch-wissenschaftlicher Fortschritt undenkbar. Ähnlich entwickelte sich das Recht. Wohl entschieden auch im Islam mehr oder minder unabhängige Richter auf Basis von Gesetzen, aber nicht nur. Der Kalif und seine Statthalter konnten stets Verfahren an sich ziehen und deren Entscheidung mochte dann beliebigen Charakter annehmen. Willkürakte der Zentralgewalt scheinen aber auch außerhalb von Gerichtsverfahren nicht selten vorgekommen zu sein – darauf werden die schmucklosen Außenfassaden der islamischen Häuser zurückgeführt, welche den jeweiligen Wohlstand verbergen sollten. Noch stärker fällt der Inhalt des islamischen Rechts ins Gewicht. Selbst wenn sich sagen lässt, dass das islamische Recht prinzipiell nicht wirtschaftsfeindlich war, blieb es, ebenso wie die Wissenschaften, starr. Unter diesen Bedingungen konnte sich weder Ähnliches entwickeln wie eine »wissenschaftliche Revolution« noch eine Philosophie wie die Aufklärung. Das Fehlen autonomer Bürger verhinderte die Entstehung einer Produktion, die unter Einsatz des technischen Fortschritts vorangetrieben wurde. Der gewaltige soziale, politische und geistige Umbruch Europas als Folge der Industriellen Revolution fand im Nahen Osten nicht statt. Diese Erstarrung der islamischen Gesellschaft verändert sich seit dem Mittelalter nur wenig. Versuche, die Institutionenstruktur der westlichen Welt zu übernehmen, sei es in der kolonialen Phase, sei es nach 1945 durch den »arabischen Sozialismus« und in jüngerer Zeit durch die »muslimische Renaissance«, zeigten trotz der Erdölfunde nur begrenzte
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Erfolge. Der Abstand im Bruttoinlandsprodukt je Einwohner gegenüber dem Westen verringerte sich bis zur Gegenwart kaum (Butschek, 2002, S. 195). Ein ganz anderes Bild bot der Ferne Osten. Wenngleich das Pro- Kopf-Einkommen der meisten dieser Länder in den 1950er-Jahren noch deutlich unter jenem der arabischen Staaten lag, setzte dort in den folgenden Jahrzehnten ein dramatischer Aufholprozess ein, der die an der Spitze dieser Entwicklung befindlichen Länder bereits an das westliche Einkommensniveau heranführte. Am Anfang dieses Prozesses stand Japan, das sich mit der »Meiji-Restauration« 1867 die Übernahme des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells bewusst zum Ziel setzte. Angesichts des Umstands, dass in diesem Land bereits manche Elemente der europäischen Institutionenstruktur existierten, gelang es, den erforderlichen Wandlungsprozess, für den Europa ein Jahrtausend benötigt hatte, in einem Jahrhundert abzuschließen und zu einer führenden Industrienation heranzuwachsen. Und in den 1960er-Jahren setzte dieser Catching-up-Prozess auch in anderen ostasiatischen Staaten ein. Diese veränderten ihre Institutionenstruktur ebenfalls mit vollem Erfolg nach Vorbild des Westens um. Zuletzt hat dieser Neugestaltungsprozess auch die Großstaaten China und Indien erfasst. Einen solchen Durchbruch vermochten die südamerikanischen Staaten erst teilweise zu erzielen. Obwohl zur gleichen Zeit wie Nordamerika von den Europäern entdeckt und noch um 1800 ein höheres Pro-Kopf-Einkommen erzielend als jenes, fielen sie in der Folge weit zurück. Heute bewegt sich ihr Bruttoinlandsprodukt pro Kopf noch bei einem Viertel des nordamerikanischen. Auch diese Gesellschaften vermochten nicht durchgehend jene Institutionenstruktur zu entwickeln, welche eine erfolgreiche Industrialisierung voraussetzt. Erst in jüngster Zeit vollzieht sich auch hier ein Catching-up-Prozess. Besonders krass tritt der Mangel einer entsprechenden Institutionenstruktur in Afrika südlich der Sahara hervor. Diese Region, die sich vor der europäischen Kolonialisierung nicht zu einer Hochkultur entwickelt hatte und auch über keine Schriftlichkeit verfügte, vermochte
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bis in die 1960er-Jahre ein Einkommen zu erzielen, welches über jenem von Indien und China lag. Mit dem Ende der Kolonien begannen sich die Voraussetzungen für die Staatlichkeit der meisten Länder dieser Region – mit Ausnahme Südafrikas – fortlaufend zu verschlechtern. Es traten eigentlich wieder die präkolonialen Strukturen, wie Stämme oder Klientels, in den Vordergrund. Afrika südlich der Sahara stellt die einzige Region dar, in welcher ein Catching-up-Prozess nur langsam und zäh – wenn überhaupt – in Gang kommt. All diese Fakten deuten darauf hin, dass die Entwicklung zu einer funktionierenden Industriegesellschaft unabweislich von der Existenz einer entsprechenden Institutionenstruktur abhängt, wie sie sich ursprünglich in Europa herausgebildet hat. Diese Einsicht ist nicht ganz neu, denn »das industriell entwickelte Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild seiner eigenen Zukunft« (Marx, 1962, S. XIX). Wenn hier die historische Entwicklung des Kapitalismus ausführlich dargelegt wurde, dann deshalb, um klarzumachen, dass dieser den Ausfluss eines fundmentalen gesellschaftlichen Wandels darstellt, welcher nicht nur die Ökonomie grundlegend veränderte, sondern nahezu alle Ausprägungen der menschlichen Gesellschaft. Europa übernahm in diesem Prozess die Funktion des Pioniers mit allen Konsequenzen für die internationale Politik. Gegenwärtig sind die meisten außereuropäischen Regionen aufgebrochen, um eine solche Entwicklung nachzuvollziehen. Dieses System wird in den kommenden Jahrzehnten schließlich sämtliche Nationen erfasst haben. Natürlich existieren davon viele unterschiedliche Ausprägungen, nicht nur in Bezug auf den jeweiligen Reifeprozess, sondern auch unter Bedingung der vollen Entwicklung, man denke nur an die unterschiedlichen Strukturen in den USA und Europa, aber die Grundprinzipien stimmen stets überein.
3. Alternativen zum Kapitalismus ?
3.1 Die Funktionsweise der Marktwirtschaft Wenn hier der säkulare Prozess der Entstehung des Kapitalismus beschrieben wurde, ebenso wie seine Bedeutung als Basis der heutigen Gesellschaft, könnte man doch die Frage stellen, ob nicht auch ein anderes ökonomisches Koordinationssystem denkbar wäre. Grundsätzlich befasst sich die Nationalökonomie mit der rationalen Disposition über knappe Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Wobei zweckrational im wirtschaftlichen Sinn zu verstehen ist und Knappheit darin, dass Ressourcen und Güter nur begrenzt zur Verfügung stehen. (Auf den Charakter der menschlichen Bedürfnisse soll später eingegangen werden.) Daher hat jede Wirtschaftsgesellschaft drei grundlegende Fragen zu lösen : Was soll hergestellt werden und in welcher Menge ? Wer soll produzieren und mit Hilfe welcher Produktionsmittel sowie technischer Verfahren ? Und schließlich für wen soll produziert werden, also wem sollte das Resultat der Produktion zufallen ? In agrarisch strukturierten Subsistenzwirtschaften beantworten sich diese Fragen relativ einfach, weil die Haushalte für ihren Unterhalt produzieren müssen. Freilich existierten häufig Regelungen zur Umverteilung zugunsten von Oberschichten. Solche Effekte ergaben sich auch aus Formen des Teileigentums, wie es das europäische Mittelalter gekannt hatte. Daneben spielten auch Einrichtungen des gemeinschaftlichen Eigentums wie die Allmende eine Rolle. Diese regulierte autonom die Nutzung etwa von Weidegründen oder Wasserläufen. Freilich, mit der Entwicklung der Städte trat ein anderes System immer stärker in den Vordergrund. In den hochgradig arbeitsteilig determinierten Industriewirtschaften, die sich grundsätzlich marktwirtschaftlich organisiert haben, bestimmt die Nachfrage der Konsumenten, was und wie viel produziert wird, freilich beschränkt durch das zur Verfügung stehende Einkommen. Dieser Nachfrage steht das Angebot an Gütern und Dienstleistungen der Un-
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ternehmen gegenüber. Koordiniert werden diese beiden Ströme durch die sich auf den Gütermärkten bildenden Preise. Sie informieren die Konsumenten, wie sie über ihre knappen Mittel disponieren müssen, und die Unternehmer, welche Güter und Leistungen sie anbieten sollen. Gleichzeitig erhalten die Unternehmer damit auch Informationen darüber, wie sie produzieren sollen, also welche Rohstoffe und Produktionsverfahren sie einzusetzen haben, um ihre Kosten decken zu können. Hier tritt noch der Kernprozess einer kapitalistischen Wirtschaft hinzu, nämlich die Konkurrenz, welche dafür sorgt, dass die Güter zu den niedrigsten Preisen erzeugt werden. Auf den Faktormärkten bieten die privaten Haushalte sowohl ihre Arbeitsleistung sowie ihre Ersparnisse an, wofür die Unternehmen Löhne und Kapitalzinsen zahlen. Auch hier bestimmt der Wettbewerb die Preisrelationen. Prinzipiell sollte dieser Mechanismus auch bewirken, dass auf den Märkten ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage erreicht wird. Letztlich ist aber festzuhalten, dass dieses System in den entwickelten kapitalistischen Wirtschaften durch intensive Dynamik gekennzeichnet ist ; sämtliche Parameter verändern sich permanent. Seine Funktionsweise beruht grundsätzlich auf dem Bestreben der Wirtschaftssubjekte, ihr Einkommen zu steigern : »Das Gewinnstreben schafft neuere, bessere oder billigere Produkte und Dienstleistungen durch einen ständigen Prozess der Erneuerung und der ›schöpferischen Zerstörung‹. Gleichzeitig wird die Verbrauchernachfrage nach diesen Gütern durch eine komplexe gesellschaftliche Logik vorangetrieben« (Jackson, 2013, S. 88). Natürlich handelt es sich hier um ein stark vereinfachtes Modell, welches den öffentlichen Sektor und den Außenhandel außer Betracht lässt ebenso wie das häufig auftretende Marktversagen. Doch reicht es für die Zwecke dieser Analyse vollständig aus, weil es die Verhaltensweisen betont, welche der Dynamik des Kapitalismus zugrunde liegen. Sein großer Vorteil liegt in der automatischen Steuerung. Die Preise vermitteln rasche Informationen über die jeweiligen Knappheiten und erleichtern damit die Reaktionen der Wirtschaftssubjekte. Gleichzeitig vermittelt der Wettbewerb zumindest indirekt Informationen über die technische Entwicklung.
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Abbildung 4 : Das Koordinationssystem der Marktwirtschaft Quelle : Butschek (1975).
Freilich sollte in diesem Zusammenhang auf ein verbreitetes Vorurteil verwiesen werden, wonach die Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte allein durch individuellen Wettbewerb getroffen würden. Im Gegenteil setzt eine funktionierende Marktwirtschaft – wie bereits dargelegt – eine hoch entwickelte Regelungsstruktur voraus, die formelle und informelle Institutionen umfasst. Diese reichen von einem differenzierten und funktionierenden Rechtssystem bis zu entsprechenden Verhaltensweisen, wie Ablehnung von Betrug und Übervorteilung oder Bestechung. Gerade die Schwierigkeiten, welchen Schwellenländer auf dem Weg zur funktionierenden Industriewirtschaft begegnen, machen das deutlich. Gibt es andere Möglichkeiten, die Koordination von Angebot und Nachfrage zu bewerkstelligen ? Gewiss, es handelt sich um solche, die mit dem etwas unscharfen Begriff »Planwirtschaft« bezeichnet werden oder mit dem deutschen Wortungetüm »Zentralverwaltungswirtschaft«. Darin legt eine staatliche Planungsbehörde fest, was und wie viel auf welche Weise durch wen und für wen produziert werden soll. Sie kann sich dabei von spezifischen Zielen leiten lassen oder versuchen, die Nachfrage der Bevölkerung abzuschätzen. Letzteres könnte durch Erhebungen bei den Konsumenten geschehen oder Meldungen der
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Kleinhandelsgeschäfte. Die Planungsbehörde muss auf Grund dieser Information den Betrieben Produktionsziele vorgeben und jenen auch die Betriebsmittel zur Verfügung stellen. Das gilt für die Endprodukte ebenso wie für Halbfertigwaren und Rohstoffe. Es ist somit der gesamte Produktionsprozess zu simulieren. Prinzipiell muss sie auch darüber befinden, welche Betriebe neu zu gründen wären oder auch zu schließen. Zumeist hätte sie auch über Investitionen zu entscheiden. Der Preis hat im Produktionsbereich praktisch keine Funktion, sondern dient nur der Verrechnung, wohl behält er seine Zuteilungsfunktion meistens für die Beschäftigten – freilich auf Basis staatlicher Entscheidungen. Damit ist es aber außerordentlich schwierig zu beurteilen, ob ein Betrieb rational produziert, also die Kosten bzw. den Ressourceneinsatz minimiert. Für dieses System spielen Verhaltensweisen, welche die Einkommensmaximierung anstreben und damit auch Konkurrenz, keine Rolle oder sie werden auf andere Bereiche, wie etwa die Bürokratie, abgedrängt. Freilich können solche Volkswirtschaften durchaus wachsen, wenngleich kaum unter den Bedingungen der Kostenminimierung.
3.2 Planwirtschaft in der Realität Trotz der angedeuteten Schwierigkeiten fanden sich in der Realität oft Planwirtschaften vor. Damit sind nicht die häufigen staatlichen Eingriffe gemeint, welche die Entwicklung der kapitalistischen Volkswirtschaft im Laufe ihrer Entwicklung begleiteten, wie etwa die Maßnahmen, welche darauf abzielten, die landwirtschaftliche Produktion nicht oder zumindest nicht vollständig den Regeln des Marktes zu unterwerfen, um der agrarischen Bevölkerung ein bestimmtes Einkommen zu sichern, sondern umfassende Systeme, welche tatsächlich die Marktwirtschaft weitgehend ersetzten. Das geschah allerdings nicht als Folge theoretischer Überlegungen, sondern sozusagen durch »learning by doing« und zwar durch Kriege unter Bedingungen entwickelter Industriewirtschaften im 20. Jahrhundert. Diese erforderten den totalen Einsatz des Produktionspotentials der kriegführenden Mächte, also die
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Veränderung der Produktionsstruktur von ihrer marktmäßigen Bestimmung hin zu den Erfordernissen des Krieges, vor allem der Rüstung und des Arbeitseinsatzes. Im Ersten Weltkrieg versuchten die Staaten zunächst noch, mit dem marktwirtschaftlichen Instrumentarium dieses Ziel zu erreichen, indem sie der Rüstungsindustrie massive Aufträge zukommen ließen. Allerdings erfolgten in zwei Bereichen schon sehr früh gravierende Eingriffe, zunächst bei den Arbeitskräften, welche zum Militärdienst einberufen wurden, dann jedoch auch im Bahnwesen, welcher jetzt primär dem Transport von Truppen und Kriegsmaterial diente. Ersteres führte dazu, dass alle nicht kriegswichtigen Industrien sowie auch Bau- und Landwirtschaft von Arbeitskräften entblößt wurden. Ihr Ausfall konnte durch Frauen naturgemäß nicht vollständig ersetzt werden. Im weiteren Verlauf der Feindseligkeiten reichten auch günstige Preise nicht aus, Rohstoffe und Energie auf diese Erzeugung zu konzentrieren, sondern es bedurfte staatlicher – oder quasistaatlicher – Interventionen, um diesen Effekt herbeizuführen, vor allem durch Rationierung. Schließlich reichten auch Preisfestsetzungen nicht mehr aus, um die Bevölkerung mit den knappen Lebensmitteln ausreichend zu versorgen, sondern die Behörden sahen sich gezwungen, Lebensmittelkarten auszugeben, womit auch für diesen Bereich der Markt ausgeschaltet wurde. Für die Arbeitnehmer trat das Interesse an Einkommensmaximierung in den Hintergrund, da es nunmehr ums blanke Überleben ging. Wohl aber verfolgten die Unternehmer weiterhin dieses Ziel, womit ihr Interesse an Kostenminimierung erhalten blieb. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Staaten aus den Erfahrungen des Ersten gelernt und gingen daran, schon zu Kriegsbeginn ein relativ umfassendes Rationierungssystem zu etablieren. Das galt insbesondere für Deutschland, welches sich bereits in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre durch Regulierung des Außenhandels sowie Fixierung von Löhnen und Preisen aus dem marktwirtschaftlichen System sowie der internationalen Arbeitsteilung zumindest teilweise herausgenommen hatte. Infolge Devisenmangels wurden daher auch gewisse Konsumgüter nicht mehr importiert (Kaffee), aber auch inländische Güter rationiert (Butter).
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Mit Kriegsausbruch geschah das mit allen wichtigen Nahrungsmitteln, sodass der Preis praktisch keine Lenkungsfunktion mehr innehatte. Im Laufe des Krieges wurden auch die Produktionsmittel rationiert. Die Planungsbehörde regelte, was, wie viel, von wem und für wen produziert wurde. Auch die Erträge wurden durch bestimmte Aufschläge auf die Kosten festgelegt. Vom Marktmechanismus blieb lediglich das Privateigentum an Produktionsmitteln und damit auch eine eingeschränkte unternehmerische Aktivität in organisatorischer und innovatorischer Hinsicht. Dieses galt nicht für das sowjetische Wirtschaftssystem, welches schon lange Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel etabliert worden war, das »chaotische kapitalistische Ausbeutersystem« zu überwinden. Damit verschwand der unternehmerische Privateigentümer an Produktionsmitteln und wurde durch den Staatsangestellten ersetzt. Der gesamte Produktionsablauf wurde in der folgenden Entwicklung durch die Planbehörde mengenmäßig geregelt, von den Rohstoffen über Investitionsgüter bis zu den Fertigwaren. Auch die Effizienzkriterien legte man mengenmäßig fest – als »Planerfüllung«. Preise trugen auch hier nur Verrechnungscharakter. Damit blieb der Wettbewerbsmarkt ausgeschaltet. Das System beruhte allerdings insofern auf dem historischen Kapitalismus, als es dessen technisch-wissenschaftliche Basis übernahm und diese auch – freilich durch staatliche Initiative – weiterentwickelte. Natürlich blieb auch das sowjetische Wirtschaftssystem grundsätzlich dem Wirtschaftswachstum verhaftet, wenngleich auch hier politische Schwerpunkte gesetzt wurden. Die westeuropäischen Staaten kehrten nach Kriegsende und einer Übergangsphase wieder zum marktwirtschaftlichen System zurück und erlebten die in Kapitel 1.1 geschilderte Periode explosiven Wachstums – das »Goldene Zeitalter«. Die osteuropäischen Länder mussten das sowjetische Wirtschaftssystem übernehmen. Sie erzielten zunächst auch damit beträchtliche Wachstumsraten, weil sie die Produktion von der Landwirtschaft und der Konsumgüterindustrie zu Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien verlagerten ; wie es eben in diesem System möglich war, sich erfolgreich auf spezielle Produktionen zu konzentrieren (Raumfahrt).
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Alles das erfolgte freilich auf Kosten der Versorgung mit Konsumgütern – was nicht zuletzt die Aufstände im sowjetischen Machtbereich herbeiführte (DDR 1953, Ungarn 1956). Und als die jeweiligen Regierungen versuchten, diesen Mangel zu beheben, erwies sich das System langfristig als viel zu inflexibel, um die Nachfrage quantitativ und qualitativ zu befriedigen. Das Fehlen des Konkurrenzmarktes vermittelte nur unzulängliche Signale, was produziert werden sollte, und das Fehlen privater Unternehmer verhinderte eine flexible Reaktion der Produzenten, also im Hinblick darauf, wie und von wem produziert werden sollte. Diese Schwerfälligkeit erfasste den technisch-wissenschaftlichen Bereich immer stärker, mit entsprechenden Konsequenzen für die elektronische Datenverarbeitung. Damit ging das Wirtschaftswachstum überhaupt zu Ende – freilich unfreiwillig. Und am Schluss dieses historischen Prozesses stand die Implosion des Systems der sowjetischen Planwirtschaft.
4. Die Intellektuellen und der Kapitalismus
4.1 Wer ist ein Intellektueller ? In Kapitel 1 wurde auf die erstaunlichen Wandlungen des Zeitgeistes nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen sowie gleicherweise darauf, dass es die Oberschicht war, welche die neuen Ideologien trug. Vor allem die Intellektuellen standen an der Spitze der neuen Bewegungen. Es stellt sich im Zusammenhang damit die Frage, ob diese Erscheinung ein neues Phänomen darstellt oder ob bestimmte gesellschaftliche Gruppen sowie Typen von Persönlichkeiten in der historischen Entwicklung ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legten. Um etwas mehr Einblick in diese Prozesse zu gewinnen, scheint es sinnvoll, zunächst zu klären, was den Intellektuellen charakterisiert. Dafür hat die Soziologie recht eindeutige Merkmale herausgearbeitet : »Intellektuelle sind in der Öffentlichkeit stehende und über gewisse Kompetenzen verfügende wissenschaftliche, schriftstellerische und künstlerische Geistesarbeiter, die auf allgemeine Akzeptanz abzielende Argumente miteinander austauschen. Bis in die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts hat sich dabei das vor allem durch Jean-Paul Sartre geprägte klassische Bild vom Intellektuellen gehalten. Nach Sartre ist es die vornehmste Aufgabe des Intellektuellen, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angehen (Sartre, 1974). Lepsius hat in diesem Zusammenhang von ›inkompetenter, aber legitimer Kritik‹ gesprochen (Lepsius, 1964) : Intellektuelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie außerhalb ihres fachlichen Zuständigkeitsbereiches und unter Bezugnahme auf allgemeine Werte und Normen Kritik am Verhalten von Personen, Gruppen und Institutionen üben. Ein derartiges Vorgehen sei legitim, da es nicht um Fachkritik im Rahmen einer Profession ginge. Ein Paradebeispiel für Interventionen einer ›Außenseiterin‹ sind die öffentlichen Stellungnahmen der Schriftstellerin Elfriede Jelinek zur österreichischen Politik« (Korom, 2012, S. 70).
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Schumpeter beschreibt diese Gegebenheiten noch pointierter : »Intellektuelle sind in der Tat Leute, die die Macht des geschriebenen und gesprochenen Wortes handhaben, und eine Eigentümlichkeit, die sie von anderen Leuten, die das gleiche tun, unterscheidet, ist das Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge. Diese Eigentümlichkeit erklärt im Allgemeinen auch eine weitere – das Fehlen jener Kenntnisse aus erster Hand, wie sie nur die tatsächliche Erfahrung geben kann. Die kritische Haltung, die nicht weniger aus der Situation des Intellektuellen als eines bloßen Zuschauers – in den meisten Fällen auch als eines Außenseiters – als aus der Tatsache entsteht, dass seine größten Erfolgsaussichten in seinem tatsächlichen oder möglichen Wert als Störungsfaktor liegen, …« (Schumpeter, 1972, S. 237). Den Intellektuellen stehen die Experten gegenüber, welche über ein spezielles Fachwissen verfügen und häufig damit gesellschaftlichen Machtzentren zugeordnet sind, deren Entscheidungen sie beeinflussen, ohne notwendigerweise in der Öffentlichkeit aufzutreten. Intellektuelle hingegen deuten die Zeit, ohne den einschlägigen Wissensstand zu erweitern. Sie gehören keinen etablierten Einrichtungen an und fühlen sich Werturteilen verpflichtet. Sie bemühen sich, ganz neue Wege einzuschlagen. Sie neigen zu Dramatisierung und Polarisierung. Im Gegensatz dazu beschränken sich die Experten auf Sachverhaltsdarstellungen und verzichten auf Wertungen. Sie scheuen Dramatisierungen und Polemiken (Korom, 2012, S. 71). Gegenüber dieser klassischen Einteilung von dem Geist verpflichteten Personen hat sich in jüngerer Zeit ein neues Hybrid entwickelt : der »Expertenintellektuelle«, auf den die Mehrheit der in der Öffentlichkeit stehenden Intellektuellen entfällt. Dieser ist nunmehr durch ein fundiertes Expertenwissen gekennzeichnet, ebenso wie zumeist durch eine gesicherte berufliche Position, häufig als Universitätsprofessor. Er beschäftigt sich aber nicht mit generellen, abstrakten Ideen und Deutungen, sondern mit konkreten Problemstellungen seines Faches. Die Übereinstimmung mit dem klassischen Intellektuellen besteht im öffentlichen Auftreten und der Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Als Beispiele für diesen Personenkreis lassen sich Namen wie Paul Krug-
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man, Kenneth S. Rogoff oder Joseph Stieglitz anführen (Korom, 2012, S. 72). Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, dass in jüngster Zeit jene Intellektuellen, deren Fachkompetenz sich in engen Grenzen hält, großen Wert darauf legen, gleichfalls als Experten angesehen zu werden. Das hat kürzlich Liessmann (2014) an Hand der österreichischen Bildungsdebatte exemplifiziert. Hier bemüht sich eine unübersehbare Zahl von »Experten«, eine Reform der Schulen mit vielfach einander widersprechenden, jedoch zumeist verstiegenen Argumenten zu Wege zu bringen. Diese für die neuere Wissensgesellschaft sinnvolle Charakterisierung verliert natürlich, je weiter man in die Geschichte zurückgreift, an Präzision. Fachspezifisches Wissen findet sich im Mittelalter nur eingeschränkt, etwa in der Medizin oder dem Recht. Unverändert bleibt freilich die Tatsache, dass sich Persönlichkeiten des Geistes in den ihnen zur Verfügung stehenden Medien zu bestimmten Fragen auch öffentlich äußerten, auch zu wirtschaftlichen.
4.2 Eine historische Aversion Ausgehend von dieser grundsätzlichen Überlegung hat ein amerikanischer Soziologe versucht, die kritische Einstellung der Intellektuellen zur Wirtschaft auf historischer Basis zu generalisieren (Kahan, 2010). Er erweitert allerdings den oben erläuterten Begriff, indem er als Intellektuellen Menschen betrachtet, welche – meist aufgrund höherer Ausbildung – abstrakt und analytisch denken und faktisch eine eigene soziale Gruppe bilden. Eine Ergänzung der Definition, welche sich gerade für den historischen Ansatz als sinnvoll erweist. Der Autor geht in seiner Analyse von der Antike aus, da sowohl in Griechenland als auch in Rom vor allem Handelstreibende, aber auch Handwerker, nie als vollgültige Bürger betrachtet wurden, weil – wie auch schon in Kapitel 2.2 ausgeführt – ausschließlich Menschen, die nicht gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu erwer-
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ben, diesen Status einnehmen konnten. Nur unter solchen Bedingungen hätte der Bürger Zeit und Muße, sich den Problemen seines Gemeinwesens zu widmen. Daher galten in Rom auch nur die »artes liberales« (Architektur, Medizin, Philosophie) als eines Vornehmen würdig. Im Mittelalter sei es die Kirche gewesen, welche die Aversion gegen die Wirtschaft, insbesondere gegen den Handel, aufrechterhalten hätte, was auch seinen Niederschlag im kanonischen Zinsverbot gefunden habe. Eine Ausnahmeperiode sei jene der Aufklärung gewesen. Hier hätten sich alle Intellektuellen vereinigt, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Wobei dem freien Markt und seinen Akteuren in diesem Bestreben eine wichtige Rolle zugefallen sei. Doch schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätte sich die alte Ablehnung der Wirtschaft, konkret des Kapitalismus, wieder manifestiert. Wären es zunächst nur die Philosophen, wie Nietzsche, gewesen, so hätte sich diese Einstellung in den folgenden Jahrzehnten massiv verbreitet, um im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt in neuen Ideologien zu erreichen. Zu diesen rechnet Kahan nicht nur den Marxismus und die katholische Soziallehre, sondern auch den Nationalsozialismus sowie den New Deal. Schließlich sei – wie auch in Kapitel 1.2 dargelegt – im prosperierenden Westen nach 1945 die »Kritische Theorie« der »Frankfurter Schule« von Marcuse, Horkheimer und Adorno entstanden, welche die totale Entfremdung der Menschen im Kapitalismus konstatierte. Sie hätte die ideologische Basis für die »68er-Revolution« vermittelt, in welcher die akademische Jugend sowie die Intellektuellen zum Kampf gegen den »Konsumterror« angetreten seien. In den USA habe die Hippie-Kultur nach einem neuen nichtkapitalistischen Lebensstil gesucht. Aber selbst nach dem Auslaufen dieser Bewegungen hätte sich die intellektuelle Kapitalismuskritik in immer neuen Formen bis in die Gegenwart fortgesetzt, sei es in der Antiglobalisierungs-, sei es in der Umweltbewegung. Nun kann man gegen diesen Ansatz natürlich manches einwenden. So bezeichnet Kahan das Objekt der Ablehnung durch die Intellektuellen stets als Kapitalismus, was natürlich für die Zeit vor 1800 nicht einmal im englischen Sprachgebrauch zutrifft. Weiters ist es richtig, dass
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Kaufleute und Handwerker im antiken Griechenland nicht als Vollbürger anerkannt wurden, dennoch erreichte die griechische Wirtschaft in dieser Periode ein beträchtliches Entwicklungsniveau (siehe Eich, 2006). Aber darüber hinaus waren es gerade die griechischen Philosophen, welche ein komplettes ökonomisches System entwickelten, welches durch die Produktionsfaktoren Grund und Boden, Arbeit und Kapital, durch die Kenntnis des Marktes, der Preise sowie des Wettbewerbs und der Funktion des Geldes charakterisiert wurde. Auch Gedanken über den Nutzen wurden angestellt (Wieland, 2012). Allerdings zieht sich das Prinzip des »Maßhaltens« durch alle Erörterungen. Reichtum, Wirtschaft und Handel wurden im Mittelalter von vielen Richtungen in der Kirche abgelehnt, doch nicht von allen. Wie in Kapitel 2.2 geschildert, war es gerade Thomas von Aquin, der großes Interesse an ökonomischen und sozialen Fragen an den Tag legte. Die Position der Intellektuellen, auch des Klerus, in den wachsenden Städten und Stadtrepubliken Italiens mit expandierenden Universitäten und zunehmenden wissenschaftlichen Aktivitäten dürften kaum wirtschaftsfeindlich gewesen sein. Umgekehrt konnte es freilich zu massiven Ausbrüchen gegen Reichtum und Unternehmerschaft kommen, wie unter Savonarola in Florenz. Auch über den Antikapitalismus der Ideologien kann man streiten. Wohl tendierte der Nationalsozialismus zu korporativen Ideen und in seinem unbedarften Wirtschaftsprogramm war von der »Brechung der Zinsknechtschaft« die Rede (Butschek, 1978, S. 36), aber seine konkrete Wirtschaftspolitik ruhte fest auf kapitalistischer Basis. Selbst die immer striktere Wirtschaftsplanung im Krieg bediente sich unverändert des privaten Unternehmers und seines Eigentums an Produktionsmitteln. Völlig abwegig erscheint es aber, die Politik des »New Deal« in diesen Zusammenhang einzuordnen, wie diese Position denn eine der Hauptschwächen des Buches zu sein scheint. Kahan trennt nicht wirtschafts- und sozialpolitische Eingriffe sowie Reformansätze von der grundlegenden und emotionalen Ablehnung des auf der Industrialisierung beruhenden marktwirtschaftlichen Systems. Es wird aus der Studie nicht klar, ob das auf der Verhaftung des Autors in der Neoklassik
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beruht, in welcher jede Korrektur der Marktkräfte bereits als Angriff auf das System gewertet wird. Trotz all dieser Reserven vermittelt die Studie Kahans doch eine wichtige Einsicht. Das industriewirtschaftliche System wird eigentlich seit Mitte des 19. Jahrhunderts von beständiger Kritik begleitet. Seine Beispiele lassen sich noch ergänzen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste im Mutterland der Industriellen Revolution eine antikapitalistische Strömung sogar breite Kreise der Oberschicht, die tatsächlich deren Weltbild veränderte. Wiener (1985) weist darauf hin, dass es um diese Zeit schien, als habe sich das Bürgertum endgültig gegenüber der Aristokratie durchgesetzt. Aber gerade in diesem Augenblick vollzog es insofern eine Wende, als es den Wertekanon Letzterer vollständig übernahm. Die Nachkommen der auf Einkommensmaximierung durch innovatorische Initiative gerichteten Generation der bürgerlichen Unternehmer gingen daran, den aristokratischen Lebensstil zu imitieren. Gesellschaftliches Idol wurde der »gentleman«, der die Zeit auf seinen ländlichen Besitzungen verbrachte und mit Geldverdienen möglichst wenig zu tun haben wollte. Die Rückwendung zur Vergangenheit, das »gothic revival«, wurde für die kommenden Jahrzehnte charakteristisch, was auch in der Literatur seinen Niederschlag fand, weil fast alle Autoren das ländliche »Old England« glorifizierten. Bis in die 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts sahen sie die Industrialisierung als furchtbare Fehlentwicklung, welche die englische Bevölkerung aus einem harmonischen und glücklichen Landleben herausgerissen und der Unrast, der Gier und dem Materialismus der Industrie geopfert habe (Wiener, 1985, S. 84). Nun änderte auch dieser doch recht weitgehende Umschwung der öffentlichen Meinung nichts an der kapitalistischen Weiterentwicklung, doch scheint dieser Gesinnungswandel der Oberschicht immerhin eine der Ursachen dafür zu sein, dass England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich seine ökonomische Spitzenposition einbüßte und von anderen Industriestaaten eingeholt wurde (Butschek, 2006, S. 126). Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass hier nicht jene Kritik gemeint ist, die sich auf die soziale Problematik des Kapitalis-
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mus bezog, welche breite Kreise der Bevölkerung betraf und schließlich dazu führte, dass dieses System tiefgreifenden Änderungen unterworfen wurde, sondern hier geht es um ein permanentes Räsonnement, das vor allem moralisch motiviert ist. Exemplarisch dafür scheint gerade die »68er-Revolution« zu sein, deren Theorien und Zielsetzungen sowie gewaltsame Aktionen heute zwar durchaus kritisch gesehen werden, damals aber höchste Begeisterung in Kreisen der Intellektuellen hervorriefen. Bereits die hier präsentierten Überlegungen deuten darauf hin, dass die Ablehnung der Wirtschaft im Allgemeinen und des Kapitalismus im Besonderen ein Phänomen darstellt, das sich historisch an einer Bevölkerungsschicht festmachen lässt. Die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz der Industriewirtschaft, vor allem in Form des »Rheinischen Kapitalismus« zwischen 1945 und 1970, stellt daher eher die Ausnahme dar und nicht die Regel. Wichtig scheint aber auch die Erkenntnis, dass diese Kritik von einer Oberschicht mit oftmals geringer Beziehung zum Arbeitsleben der Bevölkerungsmehrheit getragen wird. Und von hier aus lässt sich auch die Brücke zur Gegenwart schlagen.
5. Die Überwindung des Wachstums
5.1 Die historischen Ansätze Um die sich gegenwärtig intensivierende Wachstumskritik einschätzen zu können, scheint es sinnvoll, über die generelle Darstellung Kahans hinaus zu prüfen, ob nicht bereits in der Vergangenheit konkrete Kritik am kapitalistischen System geübt und Vorstellungen entwickelt wurden, es zu überwinden. Tatsächlich stellten mehrere Autoren solche Überlegungen an und zwar keineswegs nur romantische Intellektuelle, sondern auch renommierte Nationalökonomen. Man müsste daher im Sinne der in Kapitel 4.1 präsentierten Definitionen hier von »Expertenintellektuellen« sprechen. Als einer der Ersten ventilierte ein Klassiker der ökonomischen Theorie, John Stuart Mill, derartige Gedanken. Sein berühmtes Werk »Principles of Political Economy« enthält ein Kapitel »Of the Stationary State«. Darin vertritt er die Auffassung, dass sich jede dynamische Wirtschaft auf ein Ziel hin bewegen müsse und die Frage zu stellen sei, welches Bild der Endpunkt dieses Prozesses bieten werde. Das Wachstum des Wohlstandes erfolge nicht unlimitiert, und an seinem Ende stehe der stationäre Staat. Und dieser sei auch anzustreben, weil die individuellen Antriebe der Expansion verwerflich seien : »… that the trampling, crushing, elbowing, and treading on each other’s heels, which form the existing type of social life, are the most desirable lot of human kind …« (Mill, 1888, S. 453). Dieser Übelstand wäre nur deshalb akzeptabel, weil er den allgemeinen Wohlstand steigere. Es sei aber nicht einzusehen, warum Reiche ihr Vermögen noch verdoppeln sollten ; lediglich dessen gleichmäßigere Verteilung sei anzustreben, um breiten Bevölkerungskreisen nicht nur ausreichendes Einkommen zu vermitteln, sondern auch Muße, um die Freuden des Lebens zu genießen. Und diese Bedingungen seien im stationären Staat gegeben : »I sincerely hope, for the sake of posterity, that
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they will be content to be stationary, long before necessity compels them to it« (Mill, 1888, S. 454). Freilich, so ganz stationär erweist sich diese Wirtschaft doch nicht, denn in Mills Staat bleibt offenbar Raum für Produktivitätssteigerung : »Even the industrial arts might be as earnestly and as successfully cultivated, with this sole difference, that instead of serving no purpose but the increase of wealth, industrial improvements would produce their legitimate effect, that of abridging labour« (Mill, 1888, S. 455). Auf dieses Dilemma der Produktivitätssteigerung in einer stationären Wirtschaft wird später einzugehen sein. Die moralische Verurteilung des Kapitalismus durch Karl Marx als System der Ausbeutung und Verelendung für die Arbeiterklasse liegt klar zu Tage, wenngleich sich diese Entwicklung nicht in erster Linie aus der Verwerflichkeit der Unternehmer, sondern aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus ergibt. Konsequenterweise schreibt auch er dem System die historische Funktion der dramatischen Produktionssteigerung zu, wenngleich die Erträge nur der Kapitalistenklasse zufließen – freilich im sinkenden Ausmaß infolge des tendenziellen Falls der Profitrate. Das System findet sein Ende durch die »Expropriation der Expropriateure« und mündet im Sozialismus, dem freilich auch nur Übergangscharakter zukommt. Denn am Ende der Entwicklung steht der Kommunismus, in welchem nicht nur der Kapitalismus überwunden ist, sondern überhaupt die Arbeitsteilung und damit die Selbstentfremdung des Individuums und sich somit die Frage des wirtschaftlichen Wachstums gar nicht mehr stellt : »Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann ; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zu leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das
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Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe« (Marx, 1953, S. 361). Nähere Angaben darüber, wie ein solches System funktioniert, was, wie viel, von wem und für wen produziert wird, hat Karl Marx nicht geliefert. Es handelt sich hier offensichtlich um einen nicht weiter hinterfragbaren paradiesischen Endzustand. Weit konkreter äußert sich Werner Sombart in seiner Kritik des Wirtschaftswachstums. Seine Ausführungen fallen schon deshalb ins Gewicht, weil er seinen Ruf als Sozialwissenschaftler vor allem durch die Analyse der Entwicklung des Kapitalismus erwarb, wie sie sich in seinem Hauptwerk »Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart« niederschlug. Dieses Buch erschien erstmalig 1902, erlebte aber zahlreiche Neuauflagen und Erweiterungen. Er untersuchte diese Problematik auch unter dem Einfluss von Karl Marx, woraus erhellt, dass er den jeweiligen institutionellen Gegebenheiten sowie den Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte hohe Aufmerksamkeit schenkte. Diesem Ansatz folgend widmete er dem Träger der Industriellen Revolution, dem Bürger, eine eigene Abhandlung (Der Bourgeois, 1913), die gleichfalls mehrere Auflagen erlebte. Diese umfassende Analyse ließ freilich die Überzeugung des Autors durchscheinen, die Wandlung der Gesellschaft zur kapitalistischen Dynamik hätte bewirkt, dass die Menschen aus einem organisch gewachsenen Beziehungsgeflecht herausgerissen und in das Chaos einer durch Eigensucht und Gier geprägten Existenz geworfen worden seien (Peukert, 2000, S. 48). Solche Gedanken finden schließlich in seiner Broschüre »Händler und Helden. Patriotische Besinnung« ihren expliziten Niederschlag. Diese Schrift widmete er »Euch jungen Helden draußen im Felde« und bemühte sich um den Nachweis, dass dieser Krieg zwischen zwei Weltanschauungen ausgetragen werde. Auf der einen Seite stehe die Krämermentalität der Engländer, das sei jene, »… die an das Leben mit der Frage herantritt : was kannst du Leben mir geben ; die also das ganze Dasein des einzelnen auf Erden als eine Summe von Handelsgeschäften
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ansieht, die jeder möglichst vorteilhaft für sich mit dem Schicksal oder dem lieben Gott (die Religionen werden vom Händlergeist ebenfalls in seinem Sinne geprägt) oder seinen Mitmenschen im einzelnen oder im ganzen (das heißt mit dem Staat) abschließt. Der Gewinn, der für das Leben jedes einzelnen dabei herauskommen soll, ist möglichst viel Behagen, zu dem ein entsprechender Vorrat von Sachgütern gehört, geeignet, das Dasein zu verschönern. Im Bereich dieser Lebensbetrachtung wird also den materiellen Werten ein breiter Raum eingeräumt werden …« (Sombart, 1915, S. 14). Demgegenüber treten materielle Werte für den deutschen Geist in den Hintergrund. Das Leben dieser Nation konzentriert sich auf Pflichten : »Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, indem wir leben, eine Aufgabe, die sich in tausend Aufgaben des Tages auflöst. Aufgabe ist das Leben, sofern es uns aufgegeben ist von einer höheren Macht. Indem wir aber den Inhalt unseres Lebens ausschöpfen, geben wir uns in allen unseren Werten auf ; und diese Aufgabe unseres eigenen Ichs gibt uns die einzige tiefe Befriedigung, die das irdische Leben bieten kann …« (Sombart, 1915, S. 63). Diese Streitschrift wurde deshalb zitiert, weil sich hier schon jene Überlegungen dokumentieren, welche in seiner späteren Arbeit voll zum Ausdruck kommen, die Frage des Wachstums aufwerfen und sich dabei auch wörtlich auf das dargestellte Buch beziehen (siehe etwa Sombart, 1934, S. 77). Darin rekapituliert er eingangs die gesamte Entwicklung seit der Industriellen Revolution unter dem Titel »Das Teufelswerk der verflossenen Kulturperiode«. Wohl habe sich in dieser Epoche die Lebenserwartung erhöht und die Menge der produzierten Güter vervielfacht sowie der Komfort erhöht, aber um welchen Preis ! Das »ökonomische Zeitalter« habe alle Lebensbereiche mit seinen Wertvorstellungen durchdrungen, die vom Geld geprägt gewesen wären. Es habe sämtliche traditionelle Gemeinschaften aufgelöst, sei es jene des Dorfes, sei es jene der – handwerklichen – Arbeit bis hin zur Hausgemeinschaft. Der Mensch möge über mehr Güter verfügen, aber sein individuelles Streben bleibe durch zahllose Vorschriften oder bevormundende Einrichtungen beschränkt. Selbst das geistige Leben würde durch diesen ökonomi-
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schen Charakter, durch seine Gleichförmigkeit zerstört (Sombart, 1934, S. 13ff ). Mit einem Wort : Die Industrialisierung habe die Menschheit aus einem Zustand des glücklichen Zusammenlebens herausgerissen und den Unbilden des Kommerzialismus ausgesetzt. Diese Auffassung entspricht also weitgehend jener, welche im England der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem »gothic revival« die Oberschicht und vor allem die Literaten erfasst hatte. Diese Wandlung hat Sombart freilich nicht gesehen und entwickelt seine Position gerade als Gegenpol zum britischen Händlergeist. Der »deutsche Sozialismus« soll den deutschen Menschen aus dem »ökonomischen Zeitalter« herausführen in einen romantisch-nationalistischen, autoritären Ständestaat, dem deshalb besonderes Interesse zukommt, weil er in dessen Rahmen eine ökonomische Konzeption entwickelt, welche die Voraussetzungen zur Überwindung des Wirtschaftswachstums aufgreift. Die wirtschaftliche Aufgabe dieses Staates besteht zunächst darin, den »Güterbedarf« zu »gestalten«. Mengenmäßig ist davon auszugehen, dass die Gesellschaft »zu reich« ist, die Menge der Güter erdrückt sie. Die Güter sind großteils Schund, kitschig, zu billig, zu kompliziert, ausländischen Ursprungs – alles eine Folge der Verstädterung. Diese erzwingt auch öffentliche Verkehrsmittel, hohen Verwaltungsaufwand, verfehlte Ernährung und Kleidung (Sombart, 1934, S. 270ff ). Der private Konsum bedarf daher einer grundlegenden Umgestaltung. Inhaltlich würde das von einer Elite festgelegt, die »… entschlossen ist, zu neuen Zielen aufzubrechen« (Sombart, 1934, S. 275). Das geschieht zunächst durch Beispiel, Beratung und Erziehung : »Aber Beispiel und Beratung werden wohl niemals genügen, um die niederen Instinkte der Masse zu bändigen : diese wird letzten Endes doch zum Guten gezwungen werden müssen« (Sombart, 1934, S. 275). Der Staat kann dies durch »incentives« oder Steuern tun, letztlich aber durch Gebote und Verbote ! Ein wesentliches Mittel zur Umgestaltung der Nachfrage liegt jedoch auch in der Regulierung des Angebots, also der Produktion. Denn all die geschilderten Unbilden resultieren aus dem Kapitalismus. Diesen gelte es daher zu überwinden und zwar dadurch, dass man zum zweiten
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ökonomischen Koordinationssystem übergeht : zur Planwirtschaft. Die »deutsche« Planwirtschaft wird durch ihren umfassenden Charakter, ihre Einheitlichkeit – eine Planbehörde – sowie durch Mannigfaltigkeit gekennzeichnet (Sombart, 1934, S. 278ff ). Letzteres Argument wird nicht restlos klar. Das liest sich dann später derart : »Jede vollkommene Planwirtschaft, wenn anders sie ihre Aufgabe, die Wirtschaft sinnvoll zu gestalten, erfüllen will, sahen wir, wird das Nebeneinanderbestehen und Ineinandergreifen einer bunten Fülle von Wirtschaftsformen und Wirtschaftssystemen vorsehen müssen. Private Eigenwirtschaft und Marktwirtschaft und kollektive Bedarfsdeckungswirtschaft … werden da sein ; Bauern- und Guts- und Handwerkswirtschaft werden da sein ; Genossenschafts- und Staats- oder Gemeinwirtschaft werden da sein. Und auch die kapitalistische Unternehmung wird nicht fehlen, denn es wird immer noch und immer wieder zahlreiche Aufgaben des Wirtschaftslebens geben, die am besten in kapitalistischer Form gelöst werden können« (Sombart, 1934, S. 295). Jedenfalls sollen Großkredite, Rohstoffe und Energie sowie das Verkehrswesen von der öffentlichen Hand verwaltet werden. Darüber hinaus würden Großbetriebe erforderlichenfalls verstaatlicht (Sombart, 1934, S. 300). Die grundlegenden Aufgaben des neuen Wirtschaftssystems erläutert Sombart folgendermaßen : »Das unmittelbare Ziel jeder vernünftigen Wirtschaftspolitik muss sein : der Produktion Nachhaltigkeit und Stetigkeit zu verleihen. Auf ›Fortschritte‹, wie sie das ökonomische Zeitalter kennzeichnen und dem Wesen des Kapitalismus entsprechen, der von einer ständigen Revolutionierung des Produktions- und Absatzprozesses sein Dasein fristet, verzichten wir … Alles in allem : wir sind nun auch reif für eine stationäre Wirtschaft und schicken die ›dynamische‹ Wirtschaft des Kapitalismus dahin, woher sie gekommen ist : zum Teufel« (Sombart, 1934, S. 318). Versucht man, aus diesen, nicht unbedingt konsistenten Ausführungen ein Bild über das von Sombart angestrebte Wirtschaftssystem zu gewinnen, dann zeigt sich, dass es sich hierbei eigentlich nicht um eine Planwirtschaft im engeren Sinn handelt, sondern offenbar doch grundsätzlich um eine Marktwirtschaft, auch mit Privateigentum an
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Produktionsmitteln, welche aber massiven Staatseingriffen, sowohl was die Produktion als auch das Produktionsmitteleigentum anbetrifft, ausgesetzt ist (siehe auch Chaloupek, 1996, S. 396). Sie wäre jedoch weit hinter der Funktionsweise des deutschen Wirtschaftssystems im Zweiten Weltkrieg zurückgeblieben, welche sehr präzise vorgab, was, für wen, durch wen und auch teilweise womit produziert werden sollte. Eines geht allerdings ganz klar aus den Darlegungen Sombarts hervor. Der »deutsche Sozialismus« sollte eine stationäre Wirtschaft repräsentieren, ja es lässt sich daraus sogar eine Schrumpfung des Volkseinkommens herauslesen. Es galt, damit jene Verhaltensweisen zu überwinden, welche Einkommenssteigerung anstrebten, und zwar zugunsten einer neuen deutschen Moral, welche sich von der angelsächsischen Krämermentalität deutlich abhob, wie sie Sombart in seiner Broschüre »Händler und Helden« beschrieben hatte. Bemerkenswerterweise reihte sich auch Keynes in die Gruppe der Wachstumskritiker ein und zwar gleichfalls mit moralischen Argumenten. Er tat das 1930 im Rahmen einer kleinen Schrift unter dem Titel »Economic Possibilities for our Grandchildren«. Hierin prognostizierte er die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft nach 100 Jahren. Wiewohl zu einem Zeitpunkt verfasst, da sich die Weltwirtschaftskrise schon deutlich abzeichnete, schätzte er die langfristige Dynamik des Kapitalismus grundsätzlich richtig ein. Er vermutete, dass sich der Lebensstandard im angesprochenen Zeitraum auf das Vier- bis Achtfache, oder auch mehr, erhöht haben werde. Womit er die Entwicklung größenordnungsmäßig, trotz des Zweiten Weltkriegs, getroffen hatte. Dann, meinte er, werde der Einkommenseffekt die Menschen veranlassen, die Arbeitszeit durch Freizeit zu substituieren, sodass sie im Durchschnitt wöchentlich nur 15 Stunden beschäftigt wären. Die Voraussage wurde offenbar teilweise durch die historischen Erfahrungen bestimmt, da die Arbeitszeit seit Ende des 19. Jahrhunderts beträchtlich reduziert worden war. Seine theoretischen Überlegungen gingen jedoch dahin, dass das Einkommen der Bevölkerung ein Niveau erreicht hätte, womit die »absoluten Bedürfnisse« befriedigt wären, was darüber hinaus ginge, sei lediglich relativ, diene also nur
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dazu, sich über seine Mitbürger zu erheben. Insgesamt ließe sich jedoch sagen, dass es dann der Menschheit gelungen sei, ihr wirtschaftliches Problem zu lösen »… that mankind is solving its economic problem« (Keynes, 2008, S. 21). Dann aber eröffnet er die Sicht auf eine neue, erfreuliche Gesellschaft, welche die verwerfliche Moral des Kapitalismus überwindet : »I see us free, therefore to return to some of the most sure and certain principles of religion and traditional virtue – that avarice is a vice, that the exaction of usury is a misdemeanor, and the love of money is detestable, that those walk most truly in the path of virtue and sane wisdom who take least thought for the morrow. We shall once more value ends above means and prefer the good to the useful. We shall honour those who can teach us how to pluck the hour and the day virtuously and well, the delightful people who are capable of taking direct enjoyment in things, the lilies of the field who toil not, neither do they spin« (Keynes, 2008, S. 25). Gewiss werde die Umstellung Zeit erfordern und sich nicht ohne Schwierigkeiten vollziehen, weil die kapitalistische Moral den Menschen 200 Jahre lang eingeimpft worden sei und nur deshalb akzeptabel erschien, weil das System kräftige Einkommenssteigerungen zuwege brachte. Aber letztlich werde man den Pfad zu einer neuen Gesellschaft beschreiten können, einer solchen der Muße, welche ermöglicht »… to live wisely and agreeably and well« (Keynes, 2008, S. 22). Auch bei Keynes liegt also das Schwergewicht seiner Ablehnung des kapitalistischen Systems auf dessen moralischen und existentiellen Aspekten. Auf die Frage eines weiteren wirtschaftlichen Wachstums geht er nicht näher ein, weil er unterstellt, dass die Menschheit ihr wirtschaftliches Problem eben gelöst haben wird. Er nimmt offensichtlich an, dass durch die Verhaltensänderung der Wirtschaftssubjekte, nämlich keinen weiteren Versuch zu unternehmen, das Einkommen zu steigern, auch keine weitere Kapitalakkumulation zustande kommen und damit die Wirtschaft automatisch stationären Charakter annehmen werde.
Die Messung der Wohlfahrt
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5.2 Die Messung der Wohlfahrt Im Zuge der Diskussion um den Sinn einer weiteren ökonomischen Expansion taucht auch immer wieder die Frage auf, ob die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg in der Wirtschaftsforschung etabliert hat, vor allem das Bruttoinlandsprodukt, der geeignete Maßstab sei, um die Wohlfahrt der Bevölkerung zu messen. Die grundlegende Kritik geht davon aus, dass diese Rechnung nur den Marktwert der produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft erfasst. Es liegt jedoch auf der Hand, dass für das individuelle Wohlbefinden auch Leistungen relevant sind, die nicht auf dem Markt angeboten, sondern beispielsweise im Haushalt erbracht werden oder generell durch unbezahlte Arbeit. Ein weiterer Einwand zielt darauf ab, dass Reparatur- oder Vermeidungskosten positiv in das Bruttoinlandsprodukt eingehen, wiewohl sie eigentlich keine Wohlfahrtssteigerung bewirken. Dafür lassen sich immerhin Kosten feststellen, nicht jedoch Verschlechterungen, welche nicht aktiv erfasst werden (können). Solche Wohlfahrtsreduktionen schlagen sich somit nicht im Bruttoinlandsprodukt nieder. Grundsätzlich befasste sich in der schulmäßigen Nationalökonomie erstmals Pigou mit der Frage, wie weit die Wirtschaftsrechnung die Umweltschäden erfasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg griff Kapp diese Problematik neuerlich sowie umfassend auf. Er wies auf die volkswirtschaftlichen Kosten hin, welche durch Luftverunreinigung, Gewässerverschmutzung, Bodenerosion sowie Abholzung entstünden ebenso wie durch die vorzeitige Erschöpfung der Energiequellen (Kapp, 1958). Freilich intensivierte sich die Umweltdiskussion im Allgemeinen und jene über die Zweckmäßigkeit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Besonderen erst in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie schlug sich schließlich in Versuchen nieder, alternative Wohlfahrtsindikatoren zu entwickeln (Chaloupek – Feigl, 2012, S. 778). Der bekannteste Maßstab wurde von Nordhaus und Tobin entwickelt, nämlich »Measure of Economic Welfare« (MEW), eine Einkommensberechnung, die von der Überlegung ausgeht, dass das Ziel des Wirtschaf-
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tens der Konsum und nicht die Produktion sei. Dementsprechend müsse man die Volkseinkommensrechnung verändern. Private und öffentliche Nachfrage seien dahin zu untersuchen, ob sie nicht intermediären Charakter trügen. Daher eigne sich zunächst das Nettonationalprodukt als Maßstab. Ebenso aber seien auch dauerhafte Konsumgüter wie Kapital güter zu behandeln. Ähnliches gelte auch für Gesundheits- und Erziehungsausgaben. Ebenso wenig werden Nettoinvestitionen berücksichtigt, wie die Kosten des Arbeitswegs und der Sicherheit. Arbeiten sowie Leistungen, die außerhalb des Marktes erbracht werden, gehen hingegen in das MEW ein. Andererseits müssen Leistungen, wie sie in der Stadt auftreten (Lärm, Verkehr, Luftverschmutzung), negativ berücksichtigt werden, Arbeitszeitreduktionen positiv (Nordhaus – Tobin, 1972). Andere Ansätze verblieben zwar bei der traditionellen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wollten sie jedoch um eine Reihe zusätzlicher Indikatoren ergänzen, so etwa durch die wirtschaftspolitischen »Mehrecke«, wie Beschäftigung, gleichmäßige Einkommensverteilung, monetäres sowie außenwirtschaftliches Gleichgewicht, ausgeglichenes Budget, intakte Umwelt usw. Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde sehr früh, also Mitte der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts, versucht, eine Reihe von Indikatoren festzulegen, mit welchen Niveau und Anstieg des Lebensstandards international vergleichbar gemessen werden könnten. Diese betrafen freilich eher Grundbedürfnisse, wie beispielsweise Alphabetisierung, Wasserversorgung, sanitäre Verhältnisse oder Nahrungsmittelversorgung. Die Implementierung dieser Daten erfolgte sehr zögerlich, wogegen sich das »System of National Accounts« erfolgreich durchsetzte. 1970 legte Richard Stone, welcher die Volkseinkommensrechnung aus der Taufe gehoben hatte, neue statistische Systeme umfassenden Charakters vor : »demographic accounts«, »economic accounts on social services and production« sowie »distribution accounts on income, consumption, wealth and social benefits«, welche freilich ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Sozialindikatoren. Auch die OECD ergriff die Initiative zum Aufbau einer Wohlfahrtsund Sozialstatistik. Sie versuchte jedoch einen anderen Zugang als jenen
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der Vereinten Nationen. Es sollten nicht die relevanten Bereiche statistisch erfasst werden, sondern normative Ziele, deren Ergebnisse dann zu messen waren. Die Vertreter der Mitgliedstaaten einigten sich in diesem Rahmen auf acht Teilbereiche : Bildung, Erwerbstätigkeit und deren Qualität, Zeitverwendung, Verfügungsmöglichkeiten über Güter und Dienstleistungen, Umwelt, persönliche Sicherheit, Rechtsprechung und gesellschaftliche Teilhabe. Diese Bereiche konnten weiter unterteilt werden. Dafür waren entsprechende Indikatoren zu entwickeln, eine Aufgabe, welche den nationalen Regierungen und Statistikinstituten oblag. Darüber hinaus setzten noch andere Einrichtungen, wie ILO, WHO, FAO, UNESCO oder Europarat, Initiativen, für sie wichtige Bereiche statistisch zu erfassen und entsprechende Indikatoren zu entwickeln. Ähnliches gilt für einzelne Wissenschaftler für ihren jeweiligen Forschungsbereich (Chaloupek – Feigl, 2012, S. 782). Problemen begegneten auch Versuche, einen Wohlstandsindikator dadurch zu berechnen, indem man mehrere Daten zusammengewichtete. Hier lag die Schwierigkeit darin, dass den ausgewählten Statistiken notwendigerweise ein Element der Willkür anhaftete. Als Beispiel sei der »Happy Planet Index« angeführt. Dieser kombiniert die Lebenserwartung, die durchschnittliche Lebenszufriedenheit – gemessen auf einer Skala von 0 bis 10 – und den »ökologischen Fußabdruck«, also die Inanspruchnahme von Ressourcen. Deutschland liegt beispielsweise in dieser Rangordnung auf Platz 54, weit hinter Marokko oder Ägypten (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 5). In jüngerer Zeit haben Indikatoren zur Messung des Wohlstands, der Lebensqualität, der Wettbewerbsfähigkeit und Ähnlichem große Popularität erlangt. Viele Institute und sonstige Einrichtungen, wie etwa das Weltwirtschaftsforum in Davos, fühlen sich veranlasst, solche zu erstellen. Im Allgemeinen vermitteln diese recht beschränkte Informationen, weil sie häufig dazu dienen, die jeweiligen Werturteile zu unterstreichen. Lediglich die OECD überließ die Gewichtung der einzelnen Elemente dem Konsumenten. All die genannten Initiativen, das Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsindikator zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen, zeitigten nur sehr beschränkte Erfolge : »Es ist evident, dass sich die damaligen
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Vorschläge für eine bessere Messung der Wohlfahrt nicht durchsetzen konnten. Das Bruttoinlandsprodukt konnte seine dominante Stellung als der Wirtschaftsindikator schlechthin sogar noch ausbauen. Selbst kleinen Prognoseänderungen wird heute große Aufmerksamkeit geschenkt, und sein Wachstum gilt in der breiten Öffentlichkeit weiterhin als Gradmesser gesellschaftlichen bzw. politischen Erfolgs« (Chaloupek – Feigl, 2012, S. 787). Was schließlich die Diskussion über das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab des Wohlbefindens anbelangt, wäre schließlich auch zu bedenken, dass dieses nicht nur das individuelle Einkommen steigen lässt, sondern auch jenes der öffentlichen Hand, welches dieser die Möglichkeit eröffnet, jene vielfältigen Einrichtungen zu schaffen, die gleichfalls das Wohlbefinden der Bürger erhöhen (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 131). Letztlich wollte auch der frühere französische Präsident Sarkozy es ganz genau wissen, ob steigendes Einkommen das Wohlbefinden seiner Bürger erhöhe, engagierte vier Nobelpreisträger – Joseph Stieglitz, Amartya Sen, Daniel Kahneman und Kenneth Arrows –, um bessere Maßstäbe dafür zu gewinnen, als sie das Bruttoinlandsprodukt vermittelt. Die Erfolge dieser Bemühungen hielten sich in engen Grenzen : Sie beschränkten sich im Wesentlichen auf Vorschläge, das Bruttoinlands produkt durch weitere, qualitative, Indikatoren zu ergänzen und den Beitrag des öffentlichen Dienstes genauer zu erfassen. Als schließlich andere Autoren diese zusätzlichen Indikatoren mit dem Bruttoinlands produkt korrelierten, zeigte sich ein enger Zusammenhang, sodass sich der ganze Aufwand als unergiebig erwies (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 77). Wenn sich das Bruttoinlandsprodukt als Gradmesser der ökonomischen Leistungsfähigkeit eines Landes halten konnte, dann deshalb, weil es trotz aller Einwände doch ein annähernd korrektes Bild über das Einkommensniveau der Bevölkerung vermittelt. Weiters erwies es sich als praktikabel. Die Statistiken lassen sich mit mäßigem Aufwand zusammenstellen, die internationale Vergleichbarkeit ist in hohem Maß gegeben. Die verwendeten Daten ergeben sich aus Marktprozessen, wo-
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durch hohe Objektivität gesichert ist. Und all das gilt nicht nur für die Gegenwart, sondern man konnte mit einigem Erfolg darangehen, historische Berechnungen anzustellen, sodass vielfach bereits lange historische Reihen für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung zur Verfügung stehen. Die Diskussion über das Wirtschaftswachstum wird durch die Verwendung dieses Maßstabes kaum berührt. Denn alle notorischen Einwände gegen das Bruttoinlandsprodukt mögen für einen bestimmten Zeitpunkt von einiger Relevanz sein, für längerfristige Vergleiche verlieren sie an Bedeutung. Mit der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts als Maßstab des Volkseinkommens ist nicht gesagt, dass die zitierten gesellschaftlichen Probleme unwichtig seien – auch für die Beurteilung der sozialen Wohlfahrt. Aber diese müssen eben gesondert analysiert und beurteilt werden.
5.3 Wohlfahrt ohne Wachstum ? Die Gegenwart erlebt abermals eine breite Welle der Kritik am Wirtschaftswachstum und am Kapitalismus sowie eine Auslotung der Möglichkeiten, beide zu überwinden. Hierbei greifen die Autoren vielfach – bewusst oder unbewusst – auf die historischen Argumente zurück. Vor deren Präsentation wäre jedoch zu untersuchen, ob alle Kritiker das Wirtschaftswachstum als kontinuierlichen Prozess sehen. Der Klassik war diese Vorstellung eher fremd. Das gilt auch für Adam Smith, der erwartete, dass Arbeitsteilung und Marktausweitung wohl eine deutliche Steigerung der Arbeitsproduktivität mit sich bringen, aber nach Implementierung dieser Innovationen die Wirtschaft ein neues statisches Gleichgewicht finden werde. Auch John Stuart Mill nahm an, die Wirtschaft werde einige Zeit expandieren, jedoch allmählich einen Sättigungspunkt erreichen und dann stationären Charakter annehmen. Marx’ Vorstellungen blieben zwiespältig. Zwar erkannte er klar den uneingeschränkt dynamischen Charakter des Kapitalismus, erwartete jedoch einen endogen verursachten Zusammenbruch des Systems in-
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folge der fallenden Profitrate. Nach dem Zwischenspiel des Sozialismus folgen im Kommunismus paradiesische Zustände, die sich systematisch schwer einordnen lassen. Sombart ließ gleichfalls in seinen späteren Schriften durchscheinen, dass er das Wachstumspotential des kapitalistischen Systems als weitgehend erschöpft betrachte (Chaloupek, 1996, S. 393), was freilich die Wirtschaftspolitik nicht von ihrem Weg zum »Deutschen Sozialismus« abbringen sollte. Und ein ähnliches Bild vermittelt Keynes. Auch hier werde die Wirtschaft nach 100 Jahren ein Sättigungsniveau erreichen und in einen stationären Zustand übergehen. So scheint es, dass nach den angeführten Autoren – mit Ausnahme Sombarts – der Wirtschaftspolitik in diesen Prozessen keine zentrale Funktion zukommt. Offenbar geht es nur darum, einen tendenziellen Wandlungsprozess voranzutreiben sowie zu unterstützen – allenfalls durch erzieherische Maßnahmen. Anders die zeitgenössischen Wachstumskritiker. Nur wenige Autoren weisen auf die Tatsache hin, dass sich das Wirtschaftswachstum aller westlichen Industriestaaten seit den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts stetig abgeschwächt und nunmehr ein Ausmaß erreicht hat, von dem man sagen könnte, die Postwachstumsgesellschaft sei ohnehin schon erreicht (Reuter, 2012). Um ein einigermaßen realistisches Bild der gesamten Problematik zu vermitteln, wurden aus der Fülle einschlägiger Literatur vor allem die Arbeiten zweier renommierter Sozialwissenschaftler, also zweier »Expertenintellektueller«, herausgegriffen. Da ist zunächst Tim Jackson sowie weiters Robert und Edward Skidelsky. Diese Autoren betrachten das Wachstumspotential des Kapitalismus im Wesentlichen als ungebrochen. Anders wäre ihr Anliegen, die Menschen aus dem »stahlharten Gehäuse des Konsumismus« (Jackson, 2013, S. 100) zu befreien, ja nicht verständlich. Ziel ihrer Bemühungen bleibt es, die moralische Verworfenheit oder existentielle Unzulänglichkeit dieses Wirtschaftssystems zu überwinden. Hier wird der historische Ansatz nahezu unverändert weitergeführt. Der Kapitalismus habe die übelsten Seiten der menschlichen Psyche, nämlich Habgier, Unersättlichkeit, Rücksichtslosigkeit im permanenten Wettbewerb gegenüber den Mitmenschen und Rastlosigkeit
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im Streben nach mehr, wenn schon nicht geschaffen, so zumindest verschärft und perpetuiert. Der Mensch bleibe in diesem verhängnisvollen System gefangen. Diese verachtenswerten Eigenschaften habe Adam Smith in zu rühmende verwandelt, sie sozusagen getauft, indem das »Eigeninteresse« anstelle der Habgier trat und überdies eine zentrale Bedeutung dadurch erlangte, dass es über den Mechanismus der »unsichtbaren Hand« zur Optimierung der wirtschaftlichen Entwicklung führen sollte (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 73). Aber solche Verhaltensweisen beschränkten sich nicht nur auf den unmittelbar ökonomischen Bereich, sondern gingen weit darüber hinaus. Sie widerspiegeln jenen Charakter, den Goethe im »Faust« verdeutlicht hat : den unbändigen Drang nach stets Neuem sowie das permanente Bestreben, über sich selbst hinauszuwachsen (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 79). Allerdings müsse man die moralische Unzulänglichkeit des Kapitalismus solange akzeptieren, als er durch kräftiges Wirtschaftswachstum den Wohlstand der Bevölkerung steigere. Erst wenn die absoluten Bedürfnisse der Menschen, die »basic needs«, befriedigt seien, erst dann könne die Ablöse des kapitalistischen Systems beginnen. Jackson stellt daher die Frage, ob zusätzliches Wirtschaftswachstum in den entwickelten Industriestaaten überhaupt noch etwas zum Wohlbefinden der Bevölkerung beitrage. Und dies scheint nach seiner Überzeugung längst nicht mehr der Fall zu sein. Korreliere man nämlich in einem Querschnittstest die Lebenszufriedenheit in verschiedenen Staaten mit der Höhe des realen Pro-Kopf-Einkommens seiner Bürger, dann zeige sich eine nichtlineare Beziehung. Sie erweise sich im mittleren Einkommensbereich als relativ eng, gehe aber bei hohen Einkommen nahezu vollständig verloren. Darin manifestiere sich der fallende Grenznutzen des zusätzlichen Einkommens. Ähnliche Resultate erhalte man, wenn man Faktoren heranzieht, von welchen man annehmen kann, dass sie indirekt auf die Wohlfahrt der Bürger hinweisen, wie etwa die Lebenserwartung, die Kindersterblichkeit oder die Ausbildungsquote. Eine Korrelation mit dem durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt zeitige ein ähnliches Bild : Nach ei-
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nem gewissen Zusammenhang im mittleren Einkommensbereich gehe dieser im höheren verloren. Diese Ergebnisse entsprechen dem sogenannten Easterlin-Paradoxon. Dieser Autor gelangte auf Basis von Befragungen gleichfalls zu dem Ergebnis, dass wachsendes Einkommen zwar höheres individuelles Wohlbefinden hervorrufe, dass sich aber über die Zeit, trotz stetigen Wirtschaftswachstums, kein solcher Effekt mehr zeige – die Lebenszufriedenheit bleibe konstant. Aufgrund all dieser Überlegungen streben Vater und Sohn Skidelsky neue Lebensformen an, um der kapitalistischen Tretmühle zu entkommen. Aber sie betonen, dass dies nicht so sehr ins Auge gefasst werde, weil das Wirtschaftswachstum an eine ökologische Schranke stoße, sondern weil sie vorwiegend moralische Überlegungen leiteten (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 171ff ). Sie möchten daher Verhältnisse schaffen, welche für die Menschen »good life« sicherstellten. Dieses lässt sich dadurch definieren, dass jedenfalls »basic goods« zur Verfügung stehen. Diese umfassen Gesundheit, Sicherheit, gegenseitigen Respekt, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Harmonie mit der Natur, Freundschaft – persönliche Beziehungen – und schließlich Muße (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 204ff ). Letztere kann als Schlüsselbegriff der Autoren betrachtet werden. Diese sollte jedoch keinesfalls wieder als Vorbereitung zur Arbeit betrachtet werden, sondern als Aktivität um ihrer selbst willen. Nach Meinung der Autoren kommt diese Art der Beschäftigung jener nahe, die Karl Marx als »nicht entfremdete Arbeit« bezeichnete (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 223). Offensichtlich entspricht dieser Begriff auch den Vorstellungen von Keynes, welche man hierzulande als »großbürgerlichen Lebensstil« bezeichnen würde – obwohl die Autoren keineswegs nur die Oberschicht im Auge haben. Für die Realisierung solcher Ziele stellten sich dem Staat zwei zentrale Aufgaben : Er muss einerseits die Rahmenbedingungen für die persönliche Entfaltung der Bürger sicherstellen, deren Inhalt allerdings von den Individuen selbst bestimmt wird ; andererseits hat die öffentliche Hand dafür Sorge zu tragen, dass »«good life« realisiert wird, insbesondere die beschriebene Form der Selbstverwirklichung und zwar vor allem
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durch Überwindung der kapitalistischen Tretmühle. Es sei nämlich ein ideologisches Vorurteil, dass der Staat den Lebensinhalten seiner Bürger neutral gegenüberstehe, er greife ständig in diese ein und zwar nicht nur indirekt durch Wirtschaftspolitik, sondern auch direkt durch Ge- und Verbote. Es gelte, nur auf diesem Weg fortzufahren. So wären weitere Arbeitszeitreduktionen ins Auge zu fassen ebenso wie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wodurch der Zwang, eine Arbeit aufzunehmen, sehr direkt verringert werde. Ferner müsse der Konsumzwang überwunden werden, etwa durch eine allgemeine, progressive Konsumsteuer, und schließlich wäre die Werbung dadurch zurückzudrängen, als sie nicht mehr als Betriebskosten von der Steuer abgesetzt werden könne (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 266ff ). Da sich die Autoren bei all dem nicht recht wohl fühlen, meinen sie zu diesen Maßnahmen : »Sie sind paternalistisch, aber frei von Zwang. Sie sind dazu gedacht, Gesellschaften in Richtung eines guten Lebens zu führen, nicht, es ihnen in den Hals zu stopfen« (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 286). Somit schließen die Autoren mit der Weiterführung des Keynes’schen Ansatzes in die Gegenwart. Ihr spezifischer Beitrag besteht einerseits darin, »good life« näher zu spezifizieren, andererseits vom Staat zu fordern, dass er Maßnahmen zu dessen Realisierung ergreife. Durch das Entstehen dieser neuen Gesellschaft mit ihren veränderten Verhaltensweisen sollte die Wirtschaft automatisch aufhören zu wachsen und in einen stationären Zustand übergehen. Freilich bleibt in solchen Überlegungen doch eine heikle Frage offen, welche auch die historischen Kritiker – mit Ausnahme Sombarts – nie angesprochen haben : Sichert die fortgesetzte Expansion nicht die ökonomische und soziale Stabilität der Gesellschaft ? Jackson, der den moralischen Ansatz gleicherweise vertritt, sieht aber auch dieses Problem und erläutert es mit eindrucksvoller Klarheit : »Kapitalistische Volkswirtschaften legen großen Wert auf die Effizienz, mit der die Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Ressourcen) eingesetzt werden. Fortlaufende technologische Verbesserungen führen dazu, dass mit einem gegebenen Input (Einsatz) mehr Output (Leistung) produziert werden
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kann. Effizienzverbesserung senkt die Kosten, regt dadurch die Nachfrage an und trägt auf diese Weise zur weiteren Expansion bei. Das führt allerdings auch dazu, dass man Jahr für Jahr weniger Menschen braucht, um die gleiche Menge von Gütern zu produzieren. Solange die Wirtschaft schnell genug wächst, um diesen Zuwachs an ›Arbeitsproduktivität‹ auszugleichen, ist das kein Problem. Ist dies aber nicht der Fall, bedeutet eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, dass irgendwo jemand seinen Job verliert. Wenn sich das Wirtschaftswachstum aus irgendeinem Grund verlangsamt – weil das Vertrauen der Verbraucher schwindet, weil es bei den Rohstoffen einen Preisschock gibt oder weil man gezielt versucht, den Konsum zu drosseln –, dann bewirkt der systemische Trend zu verbesserter Arbeitsproduktivität, dass es zu Arbeitslosigkeit kommt. Diese wiederum führt zu weniger Kaufkraft, einem Vertrauensverlust bei den Verbrauchern und vermindert zudem weiter die Nachfrage nach Verbrauchsgütern … die Wirtschaft gerät in eine Rezessionsspirale« (Jackson, 2013, S. 78). »Dieses System ist wenig belastbar. Sobald die Wirtschaft einmal zu stocken beginnt, kehren die Rückkopplungsmechanismen, die vorher zur Expansion beigetragen haben, ins Gegenteil um und treiben die Wirtschaft noch weiter in die Rezession. Die ganze Sache ist freilich nicht ohne Ironie. Die Antwort auf die Frage, ob Wachstum Voraussetzung für Stabilität sei, wird letztendlich lauten : In einer wachstumsbasierten Volkswirtschaft ist Wachstum Voraussetzung für Stabilität. Das kapitalistische System verfügt über keinen einfachen Weg in ein Steady-state-System, also in ein Wirtschaftssystem im Gleichgewicht. Die dem kapitalistischen System innewohnende Dynamik treibt es immer nur in ein Extrem – in die Expansion oder den Zusammenbruch« (Jackson, 2013, S. 79). Dennoch hält Jackson an seinem Ziel der aktiven Beendigung des Wirtschaftswachstums fest, nicht nur aus den notorischen moralischen Erwägungen, sondern auch – und hier tritt ein neues entscheidendes Element hinzu –, weil die globale Erwärmung das unausweichlich mache. Daher entwickelt er ein neues umfassendes Wirtschaftssystem, welches stationären Charakter aufweist und damit die moralischen und existentiellen Defizite des Kapitalismus überwindet, die ökologische
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Situation entspannt und letztlich auch das Problem des dynamischen Gleichgewichts löst. Er nennt es die »Neue Makroökonomie«. Freilich würde sich dieses System erst allmählich entwickeln. Erste Ansätze in dieser Richtung bestünden im Wachstum unproduktiver persönlicher Dienstleistungen, wie etwa Yoga-Unterricht, des Weiteren in Arbeitszeitverkürzung und schließlich in ökologischen Investitionen, welche kaum klassische Wachstumseffekte nach sich ziehen würden. Der private Konsum als wichtigster Treiber des Wachstums wäre zugunsten der Investitionen zu reduzieren, deren Ziele sich aber zu wandeln hätten. Jackson unterscheidet drei Typen (Jackson, 2013, S. 146) : • »Investitionen, die die Effizienz der Ressourcennutzung erhöhen, zu Einsparung bei den Kosten für Ressourcen führen (zum Beispiel Energieeffizienz, Abfallvermeidung, Recycling) ; • Investitionen, die konventionelle Technologien durch saubere oder kohlenstoffarme Technologien ersetzen (zum Beispiel erneuerbare Energien) ; • Investitionen in Verbesserung des Ökosystems (Klimaanpassung, Aufforstung, Wiederherstellung von Feuchtgebieten etc.)«. Diese Investitionen würden sehr unterschiedliche Wachstumseffekte und Erträge zeitigen. Daher wird es offensichtlich nicht leicht sein, vom privaten Bereich solche zu erwarten : »Das könnte bedeuten, beim Eigentum an Vermögen und der Aufteilung von daraus gewonnenen Überschüssen umzudenken. Wahrscheinlich werden insbesondere öffentliche Investitionen und öffentliches Vermögen eine wesentlich größere Rolle spielen. Der Staat ist oft am besten in der Lage, auf Dauer angelegtes gesellschaftliches Vermögen zu identifizieren und zu schützen. Staatliche Renditen sind normalerweise niedriger als kommerzielle, ermöglichen aber längere Investitionshorizonte und stellen weniger strenge Anforderungen in Bezug auf Produktivität« (Jackson, 2013, S. 147). Da jedoch Jackson die »Neue Makroökonomie« offenbar nicht für ausreichend hält, bewegt er sich schließlich doch wieder zum Kern des kapitalistischen Systems, zu den entsprechenden menschlichen Verhal-
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tensweisen. Ein neues stationäres Wirtschaftssystem ließe sich eigentlich nur dann vollständig erreichen, wenn sich diese änderten, wenn die kapitalistische Gier nach mehr, die permanente Hektik überwunden werden kann. Die Menschen sollten in einem neuen System durch Überwindung des materialistischen Individualismus, durch freiwillige Einfachheit zur Entfaltung gelangen (flourish), einen alternativen Hedonismus entwickeln (Jackson, 2013, S. 154). Und wie könnte dieses Projekt realisiert werden ? Der Autor schildert eine Reihe hoffnungsvoller Vereinigungen, welche ein solches Ziel anstreben, misstraut aber ihrer Massenwirksamkeit. Daher vertritt auch Jackson die Auffassung, dass der Staat diese Aufgabe zu übernehmen habe. Zwar wirke eine solche Absicht zunächst befremdlich, doch müsse man sich vor Augen halten, dass er die Verhaltensweisen vielfach ohnehin beeinflusse, etwa im Rahmen der Lehrpläne für die Schulen. Versucht man, die Überlegungen der genannten Autoren zusammenzufassen und den historischen Ansätzen gegenüberzustellen, dann zeigt sich eine bemerkenswerte Konstanz. Alle Autoren kritisieren die kapitalistischen Verhaltensweisen, also Habgier, Unersättlichkeit, Rücksichtslosigkeit im ständigen Wettbewerb und Rastlosigkeit im Streben nach mehr und nach dauernder Veränderung, das »Faustische« im europäischen Menschen. Dem wird ein Lebensstil gegenübergestellt, welcher diese Eigenschaften nicht mehr kennt. Das Ende des Wirtschaftswachstums kreiert einen ruhigen, in sich ruhenden Menschentyp, für den Arbeit an Bedeutung verloren hat, der sich den angenehmen Seiten des Lebens zuwendet, sich vor allem kulturellen Interessen widmet. Dieser Ansatz scheint historisch für die angelsächsischen Autoren kennzeichnend gewesen zu sein. Der Deutsche Werner Sombart wandte sich dagegen der nationalen Berufung und Ehre zu – und kreierte damit eine Bestätigung für seine Hypothese von »Händlern und Helden«. Eine entscheidende Erweiterung der Begründung für die Beendigung des Wirtschaftswachstums gegenüber den historischen Ansätzen entstand – wie schon angedeutet – durch die Problematik der globalen Erwärmung. Zwar spiegelt sich darin nicht die überwiegende Auffassung
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der Ökologen wider, welche vielfältige politische Maßnahmen ins Auge fassen, die von der Reduktion des Schadstoffausstoßes, der Energieeffizienz bis auch zur Änderung des Lebensstils reichen und nicht notwendigerweise auf eine vollständige Beendigung des Wirtschaftswachstums oder eine Änderung des Wirtschaftssystems zielen. Jackson hält jedoch eine entscheidende Bekämpfung des Temperaturanstiegs ohne diese Veränderungen für praktisch ausgeschlossen. Während Mill und Keynes annehmen, dass die Wirtschaftssubjekte infolge der Warenfülle das Interesse an weiterer ökonomischer Expansion verlören, fordern sowohl Sombart als auch die Autoren der Gegenwart eine aktive Politik, um einen Wandel der Verhaltensweisen herbeizuführen. Träger dieser Maßnahmen hätte der Staat zu sein : Im Fall Sombarts ein autoritärer, der nötigenfalls gewaltsam vorginge. Die Zeitgenossen sehen natürlich einen demokratischen Staat als Akteur, wenngleich auch einen entschieden vorgehenden. Wobei ihr Hauptargument darin liegt, dass auch unter den gegebenen Umständen der Staat eben durch die Lehrpläne der Schulen das Weltbild seiner Bürger präge. Darüber hinaus aber urgiert Jackson entschiedene Eingriffe in den Wirtschaftsablauf, um die Produktion in die gewünschte Richtung zu lenken. Daher wäre, so meint er, auch die Frage des Eigentums an Produktionsmitteln neu zu stellen. Offensichtlich zielen die genannten Autoren auf eine völlig neue Position des Staates im wirtschaftlichen und politischen Leben, die jedenfalls weit über die gegenwärtige hinausginge.
6. Eine Frage des Überlebens ?
6.1 Die ökologische Schranke Wiewohl die Kritiker des Wirtschaftswachstums in jüngerer Zeit immer stärkeren Widerhall in der – intellektuellen – Öffentlichkeit finden, dominiert diese bei weitem die Frage der globalen Erwärmung. Sie beherrscht nicht nur die Massenmedien, sondern bestimmt in entscheidendem Ausmaß die nationale sowie die internationale Politik. Zwar ergibt sich der Zusammenhang der Umweltpolitik mit den Maßnahmen zur Bekämpfung des Wirtschaftwachstums nicht zwangsläufig, weil viele Autoren sowie auch Politiker meinen, es lasse sich die globale Erwärmung im Rahmen des gegebenen kapitalistischen Systems bekämpfen, doch ergeben sich häufig Überschneidungen, vielfach auch gefühlsmäßiger Art. Doch – wie dem vorstehenden Kapitel entnommen werden kann – gibt es Autoren, welche das Ende des Wirtschaftswachstums als unumgehbare Voraussetzung dafür ansehen, der globalen Erwärmung Herr zu werden. Angesichts dieser Vorstellungen scheint es sinnvoll, sich mit diesem Prozess eingehend auseinanderzusetzen und zwar nicht so sehr, um dessen Ursachen zu diskutieren, sondern vor allem dessen ökonomische und soziale Konsequenzen. Worum handelt es sich bei der globalen Erwärmung ? CO2 und andere Treibhausgase umgeben die Erde. Sie lassen das Sonnenlicht und die darin enthaltene Energie passieren, verhindern aber, dass die gesamte Strahlenmenge durch Reflexion in das Weltall zurückfließt, sodass sich die Atmosphäre erwärmen kann. Die Stärke dieses Treibhauseffektes, der unser warmes Klima herbeiführt, hängt daher von der Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre ab. Natürlich war auch in den letzten beiden Jahrtausenden das Klima erheblichen Schwankungen unterworfen. Die Wärmeperiode des Mittelalters wurde im Rückblick als besonders positiv empfunden. Sie wird nicht nur durch den notorischen Weinanbau in England charakterisiert,
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sondern auch durch kräftiges Bevölkerungswachstum und die Blüte der europäischen Städte. Die »Kleine Eiszeit« vom 15. bis ins 19. Jahrhundert verschlechterte die Lebensbedingungen erheblich, sie war durch Missernten und Seuchen gekennzeichnet. Um 1850 erreichten die Alpengletscher ihre größte Ausdehnung. Ab 1900 setzte wieder eine Erwärmung ein, die sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts intensivierte und damit die Werte der mittelalterlichen Wärmeperiode übertraf.Die langfristigen Temperaturschwankungen werden auf die unterschiedliche CO2-Konzentration in der Atmosphäre zurückgeführt. In der Vergangenheit gingen deren Veränderungen auf natürliche Ursachen zurück. Für die letzten 150 Jahre – wird angenommen – seien menschliche Aktivitäten dafür maßgebend gewesen, und zwar dadurch, dass seit der Industrialisierung fossile Brennstoffe in beträchtlichem Ausmaß eingesetzt werden, sei es in der Industrie, sei es durch die Raumheizung, sei es durch den Autoverkehr, welche alle den Ausstoß an Treibhausgasen steigern. Und deren zunehmende Konzentration in der Atmosphäre verursache den Temperaturanstieg. Diesen Zusammenhängen wird durch eine gewaltige Zahl von Wissenschaftlern nachgegangen – die UNO hat dazu eine eigene Organisation geschaffen, nämlich das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) –, deren Forschungen darin übereinstimmen, dass alle Hebel in Bewegung zu setzen seien, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, damit die Temperatur nicht weiter ansteige oder zumindest ihre Zunahme begrenzt werde. Tue man das nicht, dann stehe – wie von vielen Ökologen immer wieder versichert wird – das Überleben der Menschheit auf dem Spiel. Und daraus erwächst eben das entscheidende Argument für die Überwindung des Wirtschaftswachstums, genauer des kapitalistischen Systems. Denn viele Wachstumskritiker, wie etwa Jackson, gehen davon aus, dass der Kapitalismus ohne Wachstum nicht existenzfähig sei, doch seine weitere Expansion unausweichlich zu stärkerem CO2-Ausstoß und damit zu einem höheren Treibhauseffekt führe. Denn es wäre nach dieser Auffassung illusionär zu glauben, man könne das Wirtschaftswachstum sozusagen aus den ökologischen Begrenzungen »ausklinken«. Zwar
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mag es gelingen – wie schon in der Vergangenheit –, den Ressourceneinsatz je produzierter Einheit zu senken. Doch angesichts des fortgesetzten Wachstums könne das in absoluten Größen nicht erreicht werden, und der CO2-Ausstoß würde weiter wachsen. Das katastrophale Ende werde auf diese Weise nur hinausgeschoben. Wolle man dieses vermeiden, dann sei die Überwindung des Kapitalismus unausweichlich. Um sich aber Klarheit über diesen Problemkomplex zu verschaffen, scheint es notwendig, sich darüber zu informieren, durch welche konkreten Auswirkungen der globalen Erwärmung das Überleben der Menschheit bedroht werde. (Die folgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf einer Arbeit der österreichischen Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik : »Unser Klima, was, wann, warum« ; Wien, 2014.) Das IPCC geht davon aus, dass die Durchschnittstemperatur bis 2100, abhängig von der Intensität der Treibhausgasemissionen, zwischen 1,2 und 6,4 Grad Celsius steigen werde. Das würde zunächst zu einer Zunahme der Niederschläge führen, weil eine wärmere Atmosphäre mehr Wasserdampf aufnehmen kann. Überdies sollten in Europa verstärkt Stürme auftreten. Längerfristig sei jedoch mit veränderten Jahreszeiten, mit einem vorzeitigen Frühling zu rechnen, mit entsprechenden Konsequenzen für Fauna und Flora, desgleichen mit einem späteren Herbst. Ab einem Temperaturanstieg von mehr als 2 Grad Celsius ist bereits mit substantiellen Risken zu rechnen, wie dem Aussterben mancher Tier- und Pflanzenarten, wenn es diesen nicht gelingt, den sich verschiebenden Klimazonen zu folgen. Andererseits könnten Tierarten aus dem Süden als »invasive alien species« in nördlichen Regionen auftreten. Je Grad Celsius ist mit einer Verschiebung der Klimazonen um 100 bis 200 km nach Norden zu rechnen. Der Weinbau dürfte von dieser Entwicklung profitieren. Schon in den vergangenen Jahrzehnten reduzierte sich das Volumen der alpinen Gletscher. Dieser Prozess sollte sich fortsetzen und dazu führen, dass bis Ende des 21. Jahrhunderts, insbesondere in Österreich, nur mehr Reste davon vorhanden wären. Allerdings sind angesichts des
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beschränkten Volumens dieser Gletscher keine Folgen für den Wasserhaushalt Österreichs zu gewärtigen (Haslinger, 2014, S. 158). Ganz anderes lässt sich über das Abschmelzen der Polkappen sagen. Dieser Prozess ist gleichfalls in vollem Gang und führt zum Anstieg des Meeresspiegels, die Reduktion der Eisflächen, welche ja das Sonnenlicht reflektieren, trägt ihrerseits zum Temperaturanstieg bei. Und dieser erhöht über die Erwärmung und damit Ausdehnung des Wassers gleichfalls den Meeresspiegel. Freilich wird sich dieser Anstieg nicht überall in gleicher Weise vollziehen. All diese Prognosen sind mit vielen Unsicherheiten behaftet, weil auch noch nicht alle Zusammenhänge mit der wünschenswerten Klarheit erarbeitet werden konnten : »Im Bewusstsein dieser Probleme wurde im letzten IPCC-Bericht (2007) ein mittlerer Meeresspiegelanstieg von 18 bis 59 cm bis zum Ende des 21. Jahrhunderts angegeben« (Unger, 2014, S. 186). Der in den Massenmedien ständig genannte Anstieg von bis zu 7 Metern könnte nur dann eintreten, wenn das Grönlandeis vollständig abschmelzen würde, ein Prozess, der zumindest 1.000 Jahre in Anspruch nähme. Aber auch durch den wahrscheinlichen Anstieg wären nach Schätzung des IPCC 70 % der Küsten zumindest von 20 % des mittleren Anstiegs weltweit betroffen. Für die 160 Millionen Menschen, die in Regionen leben, welche weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen, hätte schon ein solcher von wenigen Zentimetern massive Folgen (Unger, 2014, S. 187). Allerdings ergeben sich noch weitere Konsequenzen für die Meere. Die steigende Aufnahme von Kohlendioxid erhöht deren Säuregehalt, mit der Folge, dass bestimmte Korallenarten sowie Kleinstlebewesen bedroht sind. Überdies führt diese Veränderung zu einer Nordwanderung der Fische. Der Korallenbestand würde sich zwar verändern, könnte sich aber den neuen Bedingungen anpassen. Der Temperaturanstieg würde auch zum Auftauen des Permafrostbodens führen, also jener Regionen, welche auch im Sommer Temperaturen von weniger als 0 Grad Celsius aufweisen. Solche finden sich im Norden. Das Auftauen des Permafrostbodens zeitigte Folgen für die Bodenfestigkeit insbesondere in den Alpen, in Sibirien führte dies dazu, dass die bisher als Gashydrat unterhalb des Permafrosts im Boden ge-
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bundenen Methanmengen freigesetzt werden und in die Atmosphäre entweichen. Damit würde die globale Erwärmung verstärkt. Auch auf dem Meeresboden lagern große Methanmengen in Form von Methanhydraten. Deren Freisetzung ist allerdings erst durch eine deutliche Erwärmung des Meeresbodens denkbar, sodass mit einem solchen Prozess in diesem Jahrhundert nicht zu rechnen ist. Die globale Erwärmung sollte die Menge sowie die Verteilung des Regens verändern. So wäre mit einer Zunahme der Niederschläge in Nordeuropa im Ausmaß von 10 bis 30 % zu rechnen, wogegen in Südeuropa mit einer Abnahme in der gleichen Größenordnung zu rechnen ist (Haslinger, 2014, S. 131). Der Einfluss auf Wetterextreme wird sehr unterschiedlich beurteilt. Manche Studien rechnen mit einer Zunahme des Hochwassers, andere stellen das in Frage. Eine Untersuchung des International Workshop on Tropical Cyclones der World Meteorological Organization (WMO) aus 2006 stellt fest, dass bislang keine Anhaltspunkte für anthropogene Ursachen der tropischen Wirbelstürme existieren, ebenso wenig, wie diese mit der globalen Erwärmung in Verbindung gebracht werden können. Eine Auffassung, welche nicht von allen Forschern geteilt wird, da die Intensität tropischer Wirbelstürme von der Oberflächentemperatur des Meeres beeinflusst wird und diese eben als Folge der globalen Erwärmung steige. Ebenso wird dadurch eine Zunahme der Waldbrände erwartet, außer in Gebieten mit stärkerem Niederschlag. Recht unterschiedliche Auffassungen ergeben sich in der Frage, ob der höhere CO2-Gehalt der Atmosphäre durch den Düngungseffekt ein stärkeres Pflanzenwachstum herbeiführe. Auch der paläoklimatisch gestützte positive Zusammenhang zwischen Temperatur und Pflanzenwachstum spricht dafür. Andere Studien weisen darauf hin, dass heißere Sommer und Wassermangel einen positiven Effekt verhindern werden. Ebenso könnte die mögliche Mehraufnahme von organischem Material durch die Bäume durch gleichfalls gesteigerte Bodenatmung wieder zunichtegemacht werden. Die beschriebenen klimatischen Entwicklungen sowie deren natürliche Folgen würden auch Konsequenzen für Politik, Wirtschaft und
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Gesellschaft zeitigen. Da wäre zunächst zu erwarten, dass aus Regionen, in welchen sich die Umweltbedingungen infolge des Klimawandels verschlechtern, ein starker Migrationsstrom einsetzt. Das gilt vor allem für Länder der Dritten Welt, welche entweder durch den steigenden Meeresspiegel oder durch zunehmende Wasserknappheit bedroht sind. Das IPCC meint, dass die negativen Folgen der Erwärmung für die Gesundheit die positiven übersteigen werden. Andere Studien weisen darauf hin, dass stets mehr Menschen durch Kälte als durch Hitze sterben, sodass hier eher mit einem positiven Effekt zu rechnen wäre. Die globale Erwärmung könnte eine Ausweitung der Verbreitungsgebiete von Krankheitsüberträgern in den Norden, also die Gefahr von Malariainfektionen, bewirken. Freilich ist für die entwickelten Industrieländer zu erwarten, dass entsprechende, wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen werden würden. Die Temperaturveränderung dürfte auch das Glücksgefühl der Menschen beeinflussen. In den nördlichen Regionen werde dieses infolge wärmerer Winter ansteigen, in den südlichen wegen heißerer Sommer fallen. Über die volkswirtschaftlichen Schäden gehen die Meinungen der Autoren weit auseinander. Die Landwirtschaft wird sowohl durch die Temperaturerhöhung als auch durch die Veränderung der Niederschläge betroffen sein. Natürlich hinge die Produktionsentwicklung davon ab, in welcher Weise sich die Landwirtschaft den neuen Gegebenheiten anpasst. Etwa durch Verwendung veränderter Pflanzensorten oder anderer Anbaupraktiken. Allgemein wird davon ausgegangen, dass sich die Situation in den nördlichen Regionen günstiger gestalten wird als in den südlichen ; insgesamt sei jedoch mit einem Rückgang der agrarischen Produktion zu rechnen. Auch im Fremdenverkehr werde es zu einer Verschiebung der Touristenströme kommen und zwar in Richtung der kühleren Gebiete zulasten der tropischen und subtropischen Länder. Russland und Kanada könnten bis 2025 mit einem Besucherzuwachs von einem Drittel rechnen. Hingegen müssten die Skigebiete in niedrigen und mittleren Lagen infolge Schneemangels Rückschläge in Kauf nehmen.
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6.2 Nachhaltigkeit – der Kompromiss ? Hält man sich an jene Autoren, welche die globale Erwärmung als existenzielle Bedrohung der Menschheit betrachten und das Ende des Wirtschaftswachstums als unumgänglich sehen, um deren weiteren Anstieg zu verhindern, dann sind Alternativen undenkbar. Dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht doch einen Ausweg aus diesem Dilemma gäbe, weil gegenwärtig das Schlagwort »Nachhaltigkeit« in der öffentlichen Diskussion einen ungeheuren Widerhall findet. Könnte damit ein Kompromiss zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltproblematik gefunden werden ? Der Autor, welcher diesen Begriff mit seinem heutigen Inhalt eigentlich kreiert hat, Ulrich Grober, verfolgt seine Entstehung bis zur mittelalterlichen christlichen Theologie zurück, welche vorausschauendes, providentielles Handeln von drei Prinzipien leiten lässt : der Erhaltung, der Sorge oder Fürsorge sowie der Übereinstimmung aller Aktivitäten. Übersetzt in die Gegenwart bedeutete das die Integration von Ökologie, Ökonomie und sozialen Wirkkräften (Grober, 2012, S. 154). Konkret gehe es um die Bewahrung der Umwelt, die Überwindung des »Wachstumszwanges«, den »Mut zum Weniger«, darum, den »Zugang zur Fülle des Lebens für alle zu sichern« (Grober, 2012, S. 162). Dieser allgemeine, eher philosophisch orientierte Ansatz entspricht mehr oder weniger jenem der Wachstumskritiker und findet sich auch in der Diskussion um die »Grenzen des Wachstums« wieder, in welchem Meadows sein Menschenbild jenem gegenüberstellt, das den homo sapiens in jüdisch-christlicher Tradition zum rücksichtslosen Beherrscher seiner Umwelt macht : »Das entgegengesetzte Menschenbild ist auch sehr alt, aber eher den östlichen als den westlichen Religionen verbunden. Es nimmt an, dass der Mensch eine Art darstellt, die mit allen anderen Arten in ein kompliziertes Netz natürlicher Prozesse eingebettet ist, das alle Formen des Lebens ermöglicht und begrenzt. Es weiß, dass der Mensch im Hinblick auf seine Wettbewerbsfähigkeit eine erfolgreichere Art darstellt, dass ihn aber sein Erfolg dahin bringt, das natürliche stützende Netz, von dem er sehr wenig versteht, zu zerstören und zu simplifizieren …« (Meadows, 1973, S. 151, Übersetzung des Autors).
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Aus diesen allgemeinen Überlegungen ließe sich die ungeheure Popularität dieses Begriffes nicht erklären. Er erfuhr jedoch allmählich eine Konkretisierung. Zunächst 1992 durch die Arbeit der von den Vereinten Nationen etablierten Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission), welche Wege zu einer langfristigen Entwicklungspolitik aufzeigen sollte. Die Studie betonte in ihren Ergebnissen, dass ökonomische, soziale und ökologische Ziele gleichrangig anzustreben seien. Man sprach hier vom Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit. In der Folge bemühten sich verschiedene Autoren, diesen Ansatz zu präzisieren. Gemeinsam ist den meisten, ein System oder bestimmte Charakteristika eines Systems zu erhalten, vor allem für künftige Generationen. Es geht hier also um das Problem der intergenerativen Verteilungsgerechtigkeit. Will man die Frage danach beantworten, welche Systeme erhalten werden sollen, dann zeigt sich, dass es sich um die weltweiten Wirtschafts- und Gesellschafts- sowie die damit im Austausch stehenden Ökosysteme handelt. Freilich konnte diese Aussage nicht die gesamten Systeme betreffen, sondern nur bestimmte Teile, die zu definieren gewesen wären. Um subjektive Bewertungen zu vermeiden, wurde versucht, die Nachhaltigkeit natürlicher Ökosysteme herauszuarbeiten. Doch hier begegnete man dem Problem, dass sich Systeme permanent ändern und anpassen. Das heißt aber, dass eine Forderung nach deren vollständiger Erhaltung nicht möglich ist. Eine weitere Komplikation resultierte schließlich daraus, dass man eigentlich erst ex post feststellen kann, dass eine Entwicklung nachhaltig erfolgt ist. Man wird daher Bedingungen und Regeln aufstellen müssen, welche voraussichtlich zu einer nachhaltigen Entwicklung führen (Klauer, 1999, S. 87ff ). Gewiss lassen sich historische Erfahrungen für eine solche Vorgehensweise finden. So etwa in der Forstwirtschaft. Schon in der frühen Neuzeit wurde Holz knapp, weil es sowohl zur Eisenproduktion – als Holzkohle – als auch für die Salzgewinnung herangezogen wurde. Mit dem Wachstum der Städte spielte es auch als Heizmaterial eine immer größere Rolle. Es kann daher nicht erstaunen, dass die Territorialherrscher darangingen, die Holzentnahme zu regulieren und für die Aufforstung zu sorgen. Freilich stellten sich auch die angeführten Anpas-
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sungsprozesse ein : Der Einsatz von Kohle machte das Holz zunächst für die Eisenerzeugung überflüssig, schließlich auch für die Raumheizung ; und in neuerer Zeit wurden auch die Baugerüste aus Holz durch solche aus Metall abgelöst. Es scheint daher offensichtlich zu sein, dass sich die Strukturen eines Systems im Zeitablauf grundlegend ändern können. Der Begriff müsste daher nach Zeit und Ziel sehr unterschiedliche Inhalte annehmen. Gegenwärtig verbindet die – ökologische – Forschung Nachhaltigkeit mit den notorischen Vorschlägen zur Reduktion des Einsatzes an fossiler Energie einerseits zur Verringerung des Schadstoffausstoßes, aber auch einfach mit dem Ziel, die Nachfrage nach Energie zu reduzieren. Dazu werde nach Meinung vieler Autoren die Wirtschaftspolitik allein nichtgenügen, sondern es geht auch darum, die Verhaltensweisen der Bevölkerung und der Wirtschaft zu ändern (OECD, 2001, S. 360). Das zu erreichen, scheine es auch zweckmäßig, entsprechende linguistische Voraussetzungen zu schaffen, also positiv besetzte Begriffe zu formulieren oder zu übernehmen (Wullenweber, 2000). Eine Ambition, welcher schon bisher einiger Erfolg beschieden zu sein scheint. Nachhaltige Wirtschaftspolitik sollte mehr oder minder alle ökonomischen Sektoren betreffen. In der Transportwirtschaft geht es primär darum, den Schadstoffausstoß der Verkehrsmittel zu reduzieren. Hier wären die schon bisher ergriffenen Maßnahmen zu verschärfen, nämlich Steuern und Abgaben zu erhöhen und mit anderen Maßnahmen zu koordinieren. Der Landwirtschaft wird vorgeworfen, dass sie die gewaltige Produktivitätssteigerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch erhöhten Einsatz von Wasser, Chemikalien und Maschinen zuwege gebracht habe, wodurch auch die Landschaft sowie das Wild beeinträchtigt worden sei (OECD, 2001, S. 419). Zwar zähle die Landwirtschaft nicht zu den großen Umweltverschmutzern und Nachhaltigkeit bedeute in diesem Sektor auch Produktionssteigerung, doch trägt sie, etwa durch Methan, auch einiges zum Schadstoffausstoß bei. Ganz anders der industrielle Bereich. Dieser belaste die Umwelt massiv, einerseits durch den Ressourcenverbrauch, vor allem Wasser und
Nachhaltigkeit – der Kompromiss ?
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Energie, andererseits durch Schadstoffausstoß und Freisetzung von Giftstoffen und schließlich durch Herstellung von Produkten, welche die Umwelt schädigen. Freilich wäre anzuerkennen, dass all diese Schäden in jüngerer Zeit verringert werden konnten – zumindest je erzeugte Einheit. Diese positiven Trends gelte es fortzusetzen und zu verstärken, vor allem durch Maßnahmen, die auch im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmen liegen : Ökoeffizienz soll auch zu hohen Erträgen führen. Da aber die Unternehmen diese Vorteile offenbar nicht immer zu erkennen vermögen, werden sie durch das »Eco Management and Auditing Scheme« (EMAS) der EU dorthin geführt (OECD, 2001, S. 446). Aus diesen Darstellungen erhält man zunächst den Eindruck, dass sich der Nachhaltigkeitsbegriff tatsächlich auf seinen ursprünglichen Inhalt, nämlich die Erhaltung von Ressourcen sowie auf die damit verbundene Politik, reduzieren lässt. Daraus erklärt sich insofern seine Popularität, als er Verhaltensweisen oder Maßnahmen beschreibt, welche Umweltschäden vermeiden. Doch ist seine Verwendung in sehr viel weitere Bereiche diffundiert. So lässt sich auch unsere Ernährungsweise unter diesem Kriterium beurteilen, weshalb bereits die Forderung nach einem »Eintopfsonntag«, wie zur NS-Zeit, laut geworden ist. Ja man erhält den Eindruck, dass kaum mehr ein Bereich existiert, der sich nicht »nachhaltig« gestalten ließe. So soll beispielsweise die Beurteilung der Solidität von Staatsanleihen nicht vom traditionellen Rating ausgehen, sondern auch die jeweilige Umwelt, die soziale Situation sowie die Regierungsqualität berücksichtigen, also ein »Nachhaltigkeitsrating« (FAZ, 10. September 2013, S. 20). Diese Gegebenheiten veranlasste daher auch eine Autorin, von der »Wundertüte« Nachhaltigkeit zu sprechen (Wullenweber, 2000, S. 23). Wie immer dem sei, jedenfalls vermitteln dieser Begriff und die daraus erfließenden Maßnahmen keine Alternative zum Kapitalismus. Nachhaltigkeit versteht sich letztlich als ein Synonym für intensive Umweltpolitik. Diese verbleibt aber prinzipiell im kapitalistischen System und versucht, dessen Triebkräfte in Richtung ökologischer Effizienz einzusetzen. Es geht darum, »… den industriellen Stoffwechsel so in Naturprozesse (zu) integrieren, dass er auch bei steigenden Stoffumsät-
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Eine Frage des Überlebens ?
zen naturverträglich bleibt. Nicht Naturbeherrschung an sich sei problematisch, sondern die ›falsche Philosophie‹ des Umgangs mit Natur und Umwelt« (Adler – Schachtschneider, 2012, S. 222). Man könnte also von einem »Ökokapitalismus« sprechen. Diese grundsätzlich positive Einstellung zum existierenden Wirtschaftssystem lässt sich auch daran erkennen, dass viele Autoren, welche eine nachhaltige Politik anregen, immer wieder betonen, für die Betriebe ergäbe sich durch eine solche Politik eine Win-win-Situation. Nachhaltige Maßnahmen kämen nicht nur der Umwelt zugute, sondern auch den Unternehmen, weil auf diese Weise ihr Ertrag maximiert würde – daher die vielen Hinweise auf »green growth« oder »green employment«. Die Unternehmen scheinen allerdings diese günstige Möglichkeit nicht immer zu erkennen. Daher werden nicht nur ökonomische Anreize zur Senkung des Ressourcenverbrauchs gefordert, sondern auch strikte quantitative Regulierungen. Darüber hinaus sollten Experten – eben das oben zitierte EMAS – die Unternehmer aufklären, was und wie sie produzieren könnten. Man erhält daher den Eindruck, dass nachhaltige Politik zwar prinzipiell am existierenden Wirtschaftssystem festhält, aber nicht ökonomische Anreize, sondern weitreichende Regulierungen sowie Eingriffe in den Markt ins Auge fasst. Einen Hinweis auf nachhaltige Politik und deren Konsequenzen erhält man durch die gegenwärtige Diskussion in Deutschland über Einspeistarife für alternative Energien. Zusammenfassend kann man also sagen, dass sich der Begriff »Nachhaltigkeit« weite Interpretationsspielräume offen lässt, sich aber in seiner Gesamtkonzeption mehr oder minder im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems bewegt und daher für entschiedene, moralisch inspirierte Gegner des Wirtschaftswachstums sowie auch Vertreter einer ökologischen Wende nicht akzeptabel erscheinen kann.
7. Die Revokation der Industriellen Revolution ?
7.1 Die ökologische Katastrophe – eine Chimäre ? Kein anderes Gedankengebäude hat in den letzten Jahrzehnten annähernd jene Verbreitung gefunden wie jenes der globalen Erwärmung, ihrer bedrohlichen Folgen und der Einsicht, dass rasche und entschiedene Maßnahmen ergriffen werden müssten, um den Temperaturanstieg aufzuhalten und auf sein früheres Niveau zurückzuführen. All diese Erkenntnisse riefen ebenso begeisterte Zustimmung in weiten Kreisen der Intellektuellen hervor wie seinerzeit die Publikationen des Club of Rome. Hierbei blieb es aber nicht nur bei der Akzeptanz der ökologischen Argumentation, sondern die Intellektuellen verbreiteten ein neues Lebensgefühl : »Umweltschützer, die Wachstum ablehnen, sagen gern, ihre Bewegung sei die rationale Antwort auf die Fakten. Doch insgeheim durchweht die Bewegung der Geist der Romantik« (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 171). Es kann daher auch nicht überraschen, dass sich die letzte Enzyklika Papst Franziskus’ intensiv diesen Problemen zuwendet. Das weltweite Echo auf diese Erkenntnisse veranlasste die Vereinten Nationen, die Initiative nicht nur zur Veranstaltung internationaler Konferenzen für die Bekämpfung der globalen Erwärmung zu organisieren, sondern eben auch ein eigenes Institut, das Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC), zu deren Erforschung zu etablieren. All diese Aktivitäten mündeten schließlich im Abschluss des Kyoto-Abkommens, durch welches sich die westlichen Staaten verpflichteten, ihren Schadstoffausstoß zu reduzieren. Trotz einiger Versuche fand dieses zunächst keine Fortsetzung oder Ausweitung, weil die Schwellen- und Entwicklungsländer nicht bereit waren, sich im Zuge ihres Catching-up-Prozesses solchen Einschränkungen zu unterwerfen. Diese Schwierigkeiten konnten jedoch überwunden werden und für Dezember 2015 wurde eine neue Konferenz in Paris vorgesehen. Freilich hatte
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
die EU bereits die Initiative ergriffen, indem sie ein System der Emissionszertifikate einführte (siehe das folgende Kapitel). Darüber hinaus wurden Maßnahmen zur Ausweitung erneuerbarer Energien gesetzt, welche in Deutschland besondere Impulse im Zuge der »Energiewende« erfuhren. All das belastete zwar auch die Haushalte, welche höhere Strompreise zu entrichten hatten, vor allem aber die Industrie, was von der Politik zunächst durchaus positiv gesehen wurde, weil jene ja als ein Hauptverursacher des Schadstoffausstoßes eingeschätzt wurde. Allerdings hat sich die Betrachtung der Dinge in jüngerer Zeit etwas geändert. Lange war auch in Ökonomenkreisen die Auffassung vertreten worden, eine hohe Wertschöpfungsquote der Industrie wäre das Chrakteristikum einer zurückgebliebenen Volkswirtschaft. Eine moderne sei durch einen relativ hohen Anteil der Dienstleistungen gekennzeichnet. Diese Anschauung war freilich in jüngster Zeit einem dramatischen Wandel unterworfen, als sich erwies, dass Länder mit hoher Industriequote, wie Deutschland und Österreich, die Finanzmarktkrise besser meisterten als viele andere. Und allmählich setzte sich die Einsicht durch, dass die Industrie nach wie vor den Kern einer entwickelten Volkswirtschaft darstelle, nicht nur durch ihre Produktion, sondern auch durch ihre vielfältige Verflechtung mit anderen Wirtschaftszweigen, vor allem aber auch durch ihre Bedeutung für die Wissenschaft sowie für Forschung und Entwicklung. Das führte dazu, dass auch die EU-Kommission allmählich erkannte, dass die Antiindustriepolitik möglicherweise eine Fehlentwicklung darstelle. Sie ging daher nunmehr vorsichtig vor, als sie die Ziele der Verringerung des Schadstoffausstoßes festlegte. Dies dokumentierte sie mit dem schlagwortartigen Begriff 20-20-20, womit gesagt wurde, dass bis 2020 die Emission an Treibhausgasen gegenüber 1990 um 20 % zu reduzieren sei, der Anteil an erneuerbarer Energie um 20 % zu steigern und der Energieverbrauch um 20 % zu senken wäre. Für 2030 wurde indessen eine weitere Reduktion um 40 % vorgesehen. Allerdings ging die EU insofern noch über das Kyoto-Protokoll hinaus, als sie auch bestimmte Quoten für erneuerbare Energien festlegte, welche vom Staat zu fördern waren.
Die ökologische Katastrophe – eine Chimäre ?
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Wenn hier in der Diskussion über die Wachstumskritik zunächst auf die ökologische Problematik eingegangen wird, dann nicht nur wegen des enormen Widerhalls in der Öffentlichkeit und ihrer Bedeutung für die Wirtschaftspolitik, sondern deshalb, weil die meisten Wachstumskritiker darin die unabdingbare Notwendigkeit für die Beendigung des Wirtschaftswachstums sehen. Darin liegt eben auch der wesentliche Unterschied gegenüber den historischen Ansätzen. Wiewohl hier nicht in eine Erörterung darüber eingetreten werden soll, ob die Ergebnisse der ökologischen Analysen, wie sie insbesondere durch das IPCC veröffentlicht werden, zutreffen – dazu fühlt sich der Autor nicht legitimiert –, seien hier doch einige Bemerkungen zur Präsentation der Forschungsergebnisse gestattet. Diese ist gewiss teilweise der Organisation geschuldet. Das IPCC erweckt den Eindruck einer amtlichen Einrichtung, welche die Resultate ihrer Untersuchungen gleichsam auch mit diesem Siegel, also mit Anspruch auf absolute Korrektheit, veröffentlicht. Andererseits treten dessen leitende Persönlichkeiten oft prophetengleich in der Öffentlichkeit auf. Sie verkünden die Ankunft eines Weltgerichts und fordern die Menschen zur Umkehr und zum Beschreiten des rechten Weges auf. Wenn Mitarbeiter die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens ihrer Prognosen mit 90 bis 100 %, also »very likely« (Unger, 2014, S.186), angeben, stellt solches eine Kühnheit dar. Da findet man nichts von der in Kreisen der Wissenschaft üblichen Zurückhaltung, schon gar nicht in der Beurteilung mathematischer Modelle. Es ist noch gar nicht lange her, als ökonometrische Modelle für die Zeit der Finanzmarktkrise eine optimale Wirtschaftsentwicklung prognostizierten. Im Gegensatz zu den Ökologen weisen die Meteorologen stets auf das hohe Maß der Unsicherheit hin, das solchen Prognosen anhaftet. Insbesondere gilt das für langfristige Modelle, welche mehrere Jahrzehnte oder gar ein Jahrhundert abbilden. Nicht allein, dass offen bleibt, ob sämtliche Antriebe für Klimaänderungen erfasst werden, das gilt vor allem für die natürlichen, ist ja keineswegs klar, ob sich die Zusammenhänge der Vergangenheit in gleicher Weise in der Zukunft fortsetzen (siehe etwa Haslinger, 2014, S. 143 ; Unger, 2014, S. 180).
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
Als charakteristisches Beispiel für die Korrektheit der Analysen und Prognosen des IPCC mag die Aussage über die Verlangsamung der globalen Erwärmung dienen. Eine solche wurde für die letzten 20 Jahre festgestellt. Plötzlich entdeckte eine Arbeitsgruppe, dass man bisher das Klima falsch gemessen habe. Die Blüte der ökologischen Wissenschaft hat daher schlicht falsch gemessen – einfach so. War halt ein Irrtum. Auf dieser Basis werden also säkulare Voraussagen erstellt. Nicht zu reden davon, dass niemand weiß, was sich alles im Laufe eines Jahrhunderts ändern wird.Man denke, um bei einem aktuellen Beispiel zu bleiben, dass zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch Kavallerieattacken geritten wurden, die deutsche Armee mit blitzenden Pickelhauben ins Feld zog und die wenigen Flugapparate Fliegerpfeile auf die Soldaten abwarfen. Man vergleiche das mit den Panzerarmeen und Bombergeschwadern der Gegenwart und mit Drohnen, die hunderte, ja tausende Kilometer elektronisch gelenkt werden, um zu erkennen, dass sich in einem solchen Zeitraum eine Welt ändert. Damit soll gesagt sein, dass sich im Laufe eines Jahrhunderts in der kapitalistischen Wirtschaft ungeheure technische Umwälzungen vollziehen werden, welche ganz andere Gestaltungsmöglichkeiten der Umwelt erlauben als in der Gegenwart. Gewiss ist es sinnvoll, ökologische Zusammenhänge zu studieren, auch Prognosen zu erarbeiten, aber es scheint verantwortungslos, den Eindruck zu erwecken, hier handle es sich um absolut zutreffende Aussagen und eben um Überlebensfragen der Menschheit, die eine Politik unvermeidlich machen, welche geeignet ist, die Bevölkerung schwer zu belasten. Doch sei dem, wie immer : Hier soll geprüft werden, welche der prognostizierten ökologischen Veränderungen denn nun tatsächlich geeignet sind, das notorische »Überleben der Menschheit« zu gefährden. Da steht am Anfang die von vielen Ökologen vertretene Auffassung, die gegenwärtig auftretenden Wetterkatastrophen seien auf die steigenden Temperaturen zurückzuführen. Das wird freilich nicht nur von Meteorologen in Frage gestellt (Haslinger, 2014, S. 140), sondern widerlegt auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn dort findet man noch ganz andere Witterungsunbilden als heute, welche oft gravierende politische
Die ökologische Katastrophe – eine Chimäre ?
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Konsequenzen nach sich zogen. So verursachte die »Kleine Eiszeit« in Europa einen Temperatursturz von 10 Grad Celsius. 1314 und 1315 erfolgten derartige Regengüsse, dass als Folge massive Hungersnöte auftraten (Pfister, 2000A, S. 24). 1473 setzte nach einem heißen Frühjahr eine neunwöchige Trockenheit ein mit entsprechenden Konsequenzen für Mensch und Tier (Pfister, 2000B, S. 24). Im 18. Jahrhundert erlebte Europa derartige Kälteeinbrüche, dass in Norwegen und Finnland die Menschen infolge Kälte und Unterernährung starben. Extreme Kälte im Winter sowie Hitzeschocks im Sommer trieben 1789 die Brotpreise in Frankreich auf den höchsten Stand innerhalb eines Jahrhunderts, sodass oft ein Zusammenhang mit den politischen Ereignissen dieses Jahres hergestellt wird (Pfister, 2000C, S. 22). Aber auch eine Chronologie des europäischen Wetters zwischen 1600 und 1829 demonstriert, dass sich die Witterung der letzten Jahrzehnte gegenüber dieser historischen Periode eher beruhigt hat (Witterungsgeschichte, 1835, S. 130). Diese Behauptungen treffen also einfach nicht zu. Anderen Voraussagen wird man wohl eine gewisse Wahrscheinlichkeit zubilligen können, doch wird nicht klar, wie sie das Überleben der Menschheit gefährden könnten. Zu den oft genannten erwartbaren Folgen zählt etwa die Einschränkung der Artenvielfalt. Das stellt für Intellektuelle zweifellos ein Problem dar, für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wird sich, sofern diese überhaupt in die Lage kommt, solche Veränderungen wahrzunehmen, die Betroffenheit in engen Grenzen halten. Ähnliches gilt für den Rückgang der Skigebiete. Denn abgesehen davon, dass die Wintersportorte den Mangel an Schnee großteils durch dessen Erzeugung kompensiert haben, ist schließlich zu bedenken, dass sich im Laufe der letzten Jahrzehnte für viele Produktionsstandorte die Notwendigkeit einer Umstellung ergab. Das schafft gewiss Probleme, wird aber im Allgemeinen bewältigt. Man denke an das Ruhrgebiet oder das obersteirische Industrierevier. Das Gleiche gilt für die Abwanderung aus der Landwirtschaft, welche in Österreich den Anteil der dort arbeitenden Erwerbstätigen von 32,6 % 1951 auf 3,9 % 2001 reduzierte. Diesem Komplex wäre auch das Problem zuzuordnen, das sich aus der Verschiebung der Klimazonen im Laufe der Zeit für Flora und Fauna
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
ergeben könnte. Hier würden Veränderungen für die Bevölkerung erst nach Jahrzehnten spürbar werden. Am ehesten für die Landwirtschaft, welche sich freilich durch Züchtung und Düngung oder durch Anbau neuer Produkte in den meisten Regionen an die veränderten Gegebenheiten anpassen könnte. Nicht zu reden davon, dass der internationale Handel mit Agrarprodukten sicherstellte, dass der Konsumentennachfrage stets entsprochen wurde. Überdies wäre hier anzumerken, dass zahlreiche Studien zeigen, dass die globale Erwärmung für die Landwirtschaft auch bedeutende positive Effekte nach sich zöge, indem bisher unfruchtbare Regionen in den Anbau einbezogen werden könnten. Das gilt insbesondere für die arktischen Regionen. In Grönland vollzieht sich die Erwärmung rascher als in anderen Gebieten, sodass sich dort für die Landwirtschaft neue Möglichkeiten ergeben – die auch genutzt werden. Doch bewirkt der Temperaturanstieg im Norden noch viel weitergehende Möglichkeiten. Das Abschmelzen der Polkappen öffnet allmählich die Nordost-Passage, durch welche der Weg um das Kap der Guten Hoffnung substituiert werden kann, womit die Transportkosten erheblich reduziert werden können. Darüber hinaus scheint es, dass diese Gebiete reich an Rohstoffreserven sind, besonders auch an seltenen Metallen, an welchen besondere Knappheit herrscht. Hier zeichnet sich bereits eine internationale Konkurrenz ab, um diese Möglichkeiten auszuschöpfen. Schließlich scheint der Hinweis angebracht, dass die Vertreter einer radikalen Umweltpolitik offensichtlich in ihren Bezugsgrößen einem extrem statischen Modell verpflichtet sind. Jede Änderung der gegenwärtigen Umweltstruktur wird grundsätzlich als schädlich betrachtet und muss daher unter allen Umständen verhindert werden. Diese Auffassung steht natürlich im krassen Gegensatz zur Realität, nicht nur der Industriewirtschaft, sondern der Welt überhaupt, die ja durch permanente Änderungen gekennzeichnet ist. Auch dürften manche dieser Veränderungen die Bevölkerung nicht unmittelbar betreffen. So wäre der Verlust einiger Korallenarten gewiss bedauerlich, würde aber die überwiegende Mehrheit der Menschen
Die ökologische Katastrophe – eine Chimäre ?
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kaum berühren, ebenso wenig wie die Nordwanderung der Fische. Auch eine ebensolche Bewegung von Krankheitskeimen dürfte für das Gesundheitssystem der Industriestaaten kein allzu großes Problem darstellen. Das Abschmelzen der alpinen Gletscher ist geeignet, den felsigen Untergrund zu verändern, beeinflusst aber – wie schon gesagt – wegen deren relativ geringen Volumens nicht den Wasserhaushalt. Das gilt allerdings nicht für den gleichen Prozess der Polkappen. Und hier begegnet man den beiden tatsächlich gravierenden Folgen der globalen Erwärmung. Die Verringerung des Volumens der antarktischen Gletscher trägt nicht nur ihrerseits zum Temperaturanstieg bei, sondern verursacht vor allem den Anstieg des Meeresspiegels. Die prognostizierte Steigerung zwischen 18 und 59 cm bis zum Jahrhundertende könnte die Wohngebiete mehrerer Millionen Menschen gefährden. Allerdings wäre hier zu bedenken, dass sich dieser Prozess offensichtlich über einen längeren Zeitraum hin vollziehen wird, also viele Möglichkeiten für politische Maßnahmen eröffnet. Weiters ist auch zu berücksichtigen, dass die Bedrohung von Landgebieten durch das Meer ja zu den klassischen Problemen zählt, mit welchen die Menschen seit vielen Jahrhunderten konfrontiert sind. Das klassische Beispiel bietet Holland, das sich nicht nur gegen die Gefahr der Überflutung zu schützen wusste, sondern daranging, dem Meer fruchtbares Land abzuringen. Und dieser Staat entwickelte sich im 17. Jahrhundert zum reichsten der Welt ! Derartige Erfolge vermochten andere Regionen nicht zu erzielen, aber es bereitete offensichtlich auch Norddeutschland keine Schwierigkeiten, sich gegen die Bedrohung durch das Meer abzusichern. Dennoch entstehen hier spezifische Probleme. Während es für entwickelte Industriestaaten wohl ohne Weiteres möglich wäre, sich gegen den Anstieg des Meeresspiegels im Laufe eines Jahrhunderts abzusichern, gerieten ärmere Regionen in Schwierigkeiten finanzieller sowie organisatorischer Art. Darüber hinaus besteht sicherlich die Gefahr, dass kleinere Inselstaaten zur Gänze überflutet werden und damit die Bevölkerung ihre Heimat verliert. Diese Prozesse bringen zweifellos Herausforderungen für die internationale Wirtschaftspolitik mit sich, die
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
von der Finanzierung der Dammbauten bis zu umfangreichen Programmen für eine Neuansiedlung der Bevölkerung reichen. Das zweite, noch schwierigere Problem entstünde direkt durch die globale Erwärmung und die Verschiebung der Klimazonen dann, wenn es zur Austrocknung bisher fruchtbarer Gebiete käme. Freilich zeichnen sich auch für diesen Fall zumindest Möglichkeiten ab, wie man dieser Bedrohung Herr werden könnte. Sicherlich nur zum geringen Teil durch klassische Bewässerungsmaßnahmen, weil in vielen Regionen solche Bemühungen nicht ausreichten. Hier wäre die Umweltpolitik gleichfalls ernsthaft gefordert. Rein technisch gäbe es durch Meerwasserentsalzung schon heute Lösungsmöglichkeiten. Schließlich verzeichnet Dubai einen doppelt so hohen Pro-Kopf-Verbrauch an Trinkwasser wie Deutschland, und Spanien will ganze Landesteile auf diese Weise versorgen. In Israel versorgt ein Entsalzungswerk ein Fünftel der Haushalte mit Trinkwasser. Weltweit sind 9.000 Anlagen in Betrieb (FAZ, 22. August 2015, S. 21) Aber die Kosten und der Energieeinsatz wären nach dem heutigen Entwicklungsstand hoch. Die betroffenen Regionen liegen im tropischen Bereich ; es muss daher angestrebt werden, die Meerwasserentsalzung in weit höherem Maß als heute durch Sonnenenergie zu bewerkstelligen. Bisher konzentriert sich die industrielle Forschung mit einigem Erfolg eher auf der Gewinnung von elektrischem Strom, welchen man freilich auch zur Meerwasserentsalzung verwenden kann. Doch schiene es sinnvoll, Verfahren zu entwickeln, welche einen direkten Weg zu diesem Ziel abstecken. Auch in diesem Fall entstünden anfänglich beträchtliche Kosten, welche die betroffenen Regionen oft nicht aufbrächten – und auch nicht die technische Infrastruktur bereitstellen könnten, weil das gewonnene Trinkwasser ja mitunter über größere Strecken zugeleitet werden müsste. Auch hier hätte die internationale Staatengemeinschaft die Kosten zu übernehmen. Versucht man also, ein annähernd realistisches Bild über die Folgen der globalen Erwärmung zu gewinnen, dann ergibt sich zunächst, dass von einer Gefahr für das »Überleben der Menschheit« keine Rede sein kann. Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft würden sich durch-
Die ökologische Katastrophe – eine Chimäre ?
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aus in Grenzen halten. Zu einem solchen Ergebnis gelangt auch ein maßgebliches Mitglied des IPCC, der Niederländer Richard Tol von der Universität Sussex und Professor für Klimawandelökonomie an der Freien Universität Amsterdam, wenn er feststellt, dass sich die wirtschaftlichen Schäden des Klimawandels in engen Grenzen halten werden. Bei geringem Temperaturanstieg würden sogar positive Effekte überwiegen, erst bei einem solchen von 2 Grad Celsius würden die negativen überwiegen. Der Schaden bewegte sich in der Größenordnung eines Jahreswachstums der Weltwirtschaft. Da sich der Autor nicht der Panikmache schuldig machen wollte, zog er sich aus dem Gremium zurück (FAZ, 28. März 2014, S. 21). Es verbleiben also zwei gravierende ökologische Probleme : der Anstieg des Meeresspiegels und die Trockenheit in manchen Gebieten. Die große Mehrheit der Weltbevölkerung würde von der globalen Erwärmung kaum betroffen sein. Aber selbstverständlich bedeuten die dargestellten Gefahren eine Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft, welcher sich diese auf adäquate Weise stellen muss. Das deshalb, weil bei realistischer Betrachtung der Dinge nicht im Entferntesten damit zu rechnen ist, dass der Schadstoffausstoß in absehbarer Zeit reduziert werden kann. Selbst wenn sich Europa noch so sehr darum bemühte, wäre angesichts seines Anteils am Gesamtvolumen von etwa 10 % das Resultat praktisch Null. Denn die anderen Weltregionen sahen sich bisher nicht in der Lage, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die hier angestellten Überlegungen führten in jüngerer Zeit bei manchen Ökonomen gleichfalls zu einer Position, welche sich nicht auf die Bekämpfung der Ursachen für die Klimaerwärmung beschränken will, sondern Anpassungsstrategien ins Auge fasst : »Die Klimaerwärmung ist kein vorübergehendes oder kurzlebiges Phänomen. Diese Feststellung ist deshalb von Belang, weil oft – bewusst oder nicht – der Eindruck geweckt wird, man könne das Klima in kurzer Frist ändern. Gleichzeitig ist Unsicherheit … eines der fundamentalen Kennzeichen jeder Analyse vorausschauender Klimaproblematik. Es ist nicht der grundlegende Mechanismus der Erwärmung, der ungewiss ist, sondern deren natürliche
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
Abbildung 5 : Welt-CO2-Ausstoß seit 1960
35 30
20 Übrige Länder
15 10
EU28
5
2010
2000
1980
1970
1960
0
USA China 1990
Mrd. Tonnen
25
Quelle : Global Carbon Atlas (http://www.globalcarbonatlas.org/?q=en/content/welcome- carbon-atlas).
und gesellschaftliche Folgen. Wir leben in einer zerbrechlichen Welt, … in der Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Konsequenzen der Klimaänderungen (bisher) nicht vorhanden sind. Die Beendigung der globalen Erwärmung im Sinne der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen erfordert eine Reduktion der anthropogenen Treibhausgasemissionen auf fast Null, was nur unter ungeheuren weltweiten Anstrengungen möglich ist. Bis darüber hinaus eine erhöhte CO2-Konzentration zum vorindustriellen Gleichgewicht zurückkehrt, dauert es einige Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Selbst wenn es gelänge, die Emissionen in einem Jahr um 80 % zu reduzieren, würde das Klima erst in Jahrzehnten ein neues Gleichgewicht erreichen. Mit anderen Worten : Die in Gang befindliche Klimaänderung lässt sich nicht von heute auf morgen stoppen, auch nicht durch noch so große Anstrengungen der Mitigationspolitik. Eine Klimapolitik, die sich überwiegend der Mitigationsproblematik unter Missachtung des Anpassungsdrucks verschreibt, ist daher verantwortungslos. Das Ziel einer solchen Politik, das Klima vor der Gesellschaft –
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Von der passiven zur aktiven Umweltpolitik Abbildung 6 : Hauptverursacher des CO2-Ausstoßes 2013
60
Indien 6,7
Anteile in %
EU28 9,6 40
Russische Föderation 5,0
USA 14,5
20 China 27,6 0
Quelle : Global Carbon Atlas (http://www.globalcarbonatlas.org/?q=en/content/welcome- carbon-atlas).
und damit die Gesellschaft vor sich selbst – zu schützen, ist erst in ferner Zukunft erreichbar« (Stehr – von Storch, 2008, S. 271). Aus all dem ergibt sich aber, dass wohl Umweltpolitik betrieben werden muss – freilich eine andere als bisher.
7.2 Von der passiven zur aktiven Umweltpolitik Bevor die Alternativen zur gegenwärtigen Umweltpolitik analysiert werden, wäre grundsätzlich auf die Möglichkeiten und Kapazitäten einzugehen, welche das industriewirtschaftliche – kapitalistische – System bietet, um der genannten Herausforderungen Herr zu werden. Auszugehen ist zunächst davon, dass dieses, welches heute fast schon die ganze Welt umfasst, durch permanenten Wandel gekennzeichnet ist. Die Wirtschaftssubjekte sehen sich vor die Aufgabe gestellt, stets auf neue Herausforderungen zu reagieren ; auf solche durch Veränderungen der Nachfrage oder
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
als Folge des technischen Fortschritts. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass dieses System auch den ökologischen Bedingungen entsprechen wird – was sich ja bereits vielfach beobachten lässt. Statisches Denken und ebensolche Modelle entsprechen diesen Gegebenheiten in keiner Weise. Welche Problemlösungskapazitäten der Kapitalismus in sich trägt, lässt sich an den Erfahrungen ablesen, die man mit der vermutlich wirklich schwersten Belastung gewonnen hat, welcher das System ausgesetzt war. Der Zweite Weltkrieg verursachte insbesondere in Europa Zerstörungen, wie sie in der Geschichte in diesem Ausmaß unbekannt waren. Millionen Menschen wurden getötet, zahllose Wohnungen und Häuser vernichtet, ebenso wie Betriebsanalgen und die Verkehrsinfrastruktur. Nach groben Schätzungen war 1945 das Bruttoinlandsprodukt der meisten europäischen Staaten auf weniger als die Hälfte des Vorkriegsstandes gefallen. Und trotz dieser entsetzlichen Verwüstungen war in fast allen westlichen Industriestaaten nach fünf Jahren das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Angesichts dieser Leistungen erscheinen die Herausforderungen der Umwelt eher bescheiden. Im nächsten Schritt wäre zu prüfen, wie weit die gegenwärtig betriebene oder konzipierte Umweltpolitik den zu lösenden Problemen entspricht und welche Auswirkungen sie auf die europäische Wirtschaft zeitigt. Die Europäische Union deklariert sich als Speerspitze der umweltpolitischen Maßnahmen und fördert auch stets derartige internationale Bestrebungen. Diese fanden – wie schon erwähnt – ihren Niederschlag im Kyoto-Abkommen (Kyoto-Protokoll zur Ausgestaltung der Klimarahmen-Konvention der Vereinten Nationen aus 1997, welches 2005 in Kraft trat). Damit wurden verbindliche Grenzen für den Ausstoß von Treibhausgasen in den Industriestaaten festgelegt. Danach verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten, ihren Ausstoß gegenüber 1990 innerhalb einer Verpflichtungsperiode (2008 bis 2012) zu reduzieren, wobei deren Ausmaß die Länder selbst fixierten. Für Schwellen- und Entwicklungsländer legte man keine Reduktionsziele fest. Deren Nichteinhaltung in den Industriestaaten sollte durch Strafzahlungen sanktioniert werden. Europa zeichnet gegenwärtig – wie gesagt – für etwas mehr als 10 % des Gesamtausstoßes verantwortlich.
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Von der passiven zur aktiven Umweltpolitik
Um das jeweilige Ziel zu erreichen, teilten die Regierungen den Industriebetrieben in jährlich sinkendem Ausmaß Emissionsrechte zu. Werden diese überschritten, sind zusätzliche am Markt zu kaufen. Damit sollten die Betriebe unter Druck gesetzt werden, ihren Ausstoß zu reduzieren, auch deshalb, weil überschüssige Zertifikate gleichfalls auf dem Markt verkauft werden können. Übersicht 2 : Änderungen des Schadstoffausstoßes zwischen 1990 und 2010
Emissionen 1990
Verpflichtete Emissions änderung bis Ende 2008
Emissionen 2010
Reale Emissions änderung bis 2010
Mio. t CO2-Äquivalent
In %
Mio. t CO2-Äquivalent
In %
Staat
USA
6.161
Keine1)
6.802
+10,4
Russland
3.350
0
2.208
–34,1
Japan
1.267
–6
1.258
–0,7
Deutschland
1.246
–21
937
–24,8
Ukraine
930
0
383
–58,8
Vereinigtes Königreich
767
–12,5
594
–22,6
Kanada
589
–6
692
+17,4
Polen
564
–6
401
–28,9
Frankreich
562
0
528
–6,0
Italien
519
–6,5
501
–3,5
Australien
418
+8
543
+30,0
Rumänien
290
–8
123
–57,6
Spanien
283
+15
356
+25,8
Niederlande
212
–6
210
–0,9
Tschechische Republik
196
–8
140
–28,9
Belgien
143
–7,5
132
–7,6
78
–13
85
+8,2
53
–8
54
+2,2
17.629
–
15.946
–9,5
Österreich Schweiz Insgesamt
Quelle : UNFCCC.–1) Ursprünglich –7 %.
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Die Revokation der Industriellen Revolution ?
Die tatsächliche Emissionsreduktion erfolgte sehr unterschiedlich. Begünstigt wurde sie einerseits durch die wirtschaftliche Entwicklung seit 1990, also durch die Wachstumsverlangsamung, andererseits durch den Einbruch der Industrie in den osteuropäischen Staaten nach der Wende. Vielfach nahm jedoch trotz dieser Gegebenheiten der Ausstoß zu. Der Rückgang in Deutschland ging bis 2010 zur Hälfte auf den Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie zurück. Österreich hatte sich in der angegebenen Periode zu einer Reduktion von 13 % verpflichtet, erhöhte jedoch seinen Ausstoß um 8,2 %, wofür es eine horrende Strafzahlung von einer halben Milliarde Euro zu entrichten hatte. Trotz intensiver Bemühungen der EU war es lange Zeit nicht möglich, ein Folgeabkommen für das Kyoto-Protokoll zu realisieren. Japan, Kanada, Neuseeland und Russland erklärten den Austritt aus dieser Vereinbarung. Australien schien es gleichfalls nicht zu akzeptieren. Die USA hatten bis vor kurzem keine entsprechende Verpflichtung übernommen. Für die Mitgliedstaaten der EU fixierten die Staats- und Regierungschefs Ende Oktober 2014 eine verbindliche Reduktion des Ausstoßes an Treibhausgasen um 40 % bis 2030. Der Anteil an erneuerbarer Energie sollte bis dahin 27 % betragen und die Energieeffizienz – unverbindlich – um 27 % steigen. Die Maßnahmen begegneten freilich vom Ziel her Schwierigkeiten, als im Zuge der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise sowie der folgenden europäischen Stagnation die Nachfrage nach solchen Emissionszertifikaten zurückging und damit deren Preis auf ein Niveau fiel, das ihre Funktion in Frage stellte – was in der Kommission zu der Überlegung führte, in den Markt einzugreifen und den Preis der Zertifikate hinaufzusetzen. Im Herbst 2014 unternahmen die UN einen neuerlichen Versuch, ein internationales Klimaabkommen zuwege zu bringen. Allerdings kam auf der Konferenz in Lima nur ein Minimalentwurf zustande, welcher erst 2015 auf einer Konferenz in Paris konkretisiert werden sollte. Die Staaten wurden lediglich aufgefordert, bis März 2015 selbst Reduktionsziele für den Schadstoffausstoß festzulegen. Die Bruchlinien in den Verhandlungen verliefen abermals zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern. Letztere waren fak-
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tisch nur bereit, selbst Wachstumseinschränkungen auf sich zu nehmen, wenn die Industriestaaten massive Reduktionen des Schadstoffausstoßes in die Wege leiteten – sozusagen als Buße für die historischen Sünden, die sie begangen hätten. Das lehnten Erstere denn doch ab. Allerdings fasste der amerikanische Präsident erstmals Ausstoßreduktionen für die USA ins Auge und China wollte dies ab 2030 gleichfalls tun. Ein Blick freilich auf die Abbildung 5 zeigt, dass es, trotz allen ins Auge gefassten Maßnahmen, eine schiere Illusion wäre, auf absehbare Zeit im Weltmaßstab mit einer langfristigen Verringerung des CO2-Ausstoßes zu rechnen. So wenig umweltpolitische Maßnahmen an dieser Entwicklung etwas verändern können, werden sie die europäische Industrie belasten. Solches unterstrich auch kürzlich Wolfgang Eder, der Vorstandsvorsitzende des österreichischen industriellen Paradeunternehmens Voest alpine. Diese hatten ihn schon veranlasst, zwei Betriebe nicht mehr in Österreich, sondern in den USA zu errichten. Und da eine Kokerei sowie zwei Hochöfen Mitte des nächsten Jahrzehnts das Ende ihrer Lebensdauer erreichen werden, erhebe sich auch hier die Frage, ob die Ersatzanlagen noch in Österreich gebaut werden können. Dafür seien nicht nur die Belastungen durch die Emissionszertifikate maßgebend, sondern auch die Energiekosten. Diese wurden in den USA durch die Gewinnung von Erdgas vermittels »fracking« drastisch gesenkt, wogegen man in Europa dieser Möglichkeit mit größtem – umweltbedingten – Misstrauen begegnet (FAZ, 29. April 2014, S. 26). Fazit : »Bevor wir in die Pleite getrieben werden, gehen wir weg aus Europa« (Standard, 16. September 2014, S. 17). Ähnliche Überlegungen stellte auch Marijn Dekkers, Vorstandsvorsitzender von Bayer und Präsident des Verbandes der Chemische Industrie, an (FAZ, 9. Dezember 2014, S. 16). Ein weiteres Problem für die Wirkung dieser umweltpolitischen Instrumente entsteht jedoch dadurch, dass sich ihre ökologischen Effekte unter Umständen gegenseitig aufheben. Wenn die Subventionen für erneuerbare Energien Erfolge zeitigen – und gegenwärtig scheint das, wenn man das Ausmaß der Investitionen berücksichtigt, der Fall zu sein –, dann ändert sich nichts am Schadstoffausstoß. In Deutschland
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verdrängt die subventionierte erneuerbare Energie die Gas- und Kohlekraftwerke vom Markt, die Emissionszertifikate werden daher auch deshalb billiger oder gar nicht nachgefragt. Die erhofften Investitionen in klimaschonende Technologien unterbleiben. Das erkennend, haben schließlich die Energieminister der 28 EU-Staaten Mitte Juni 2014 beschlossen, dass bis 2020 der Anteil dieser erneuerbaren Energie nicht über 7 % des Gesamtverbrauchs hinausgehen dürfe. Auch entstehen durch solche umweltpolitischen Maßnahmen, abgesehen von der suboptimalen Allokation der Ressourcen, mitunter weitere Kollateralschäden. So bewirkt die Förderung des Biosprits und des Anbaus erneuerbarer Rohstoffe eine Verschiebung von Weizen und Sojabohnen zu Mais und Ölsaaten ; und zwar nicht nur in Europa und den Vereinigten Staaten, sondern weltweit, was zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln führte (Paqué, 2010, S. 69). Das scheint auch insofern verfehlt, als vielfach bezweifelt wird, dass der Schadstoffausstoß von Bioenergie geringer ist als jener der fossilen Treibstoffe. Letztlich lässt es die Kommission nicht bei den bisher getroffenen Maßnahmen bewenden. Sie misstraut den Effekten des Marktes, welche die Unternehmer veranlassen sollten, die Energiekosten zu minimieren und daher »Energieeffizienz« zu realisieren, und hat daher den Mitgliedstaaten vorgeschrieben, diese durch Ge- und Verbote von Staats wegen herbeizuführen. Vor allem sollten die Energielieferanten nicht versuchen, ihren Umsatz zu maximieren, sondern im Gegenteil ihre Kunden dahin zu beraten, deren Verbrauch zu minimieren. Sie müssen also vom marktwirtschaftlichen Prinzip abgehen, die eigene Produktion zu optimieren, sich also praktisch selbst schaden. Die entsprechenden Gesetze verursachen überdies wieder – nicht zuletzt durch den bürokratischen Aufwand – zusätzliche Kosten für die Betriebe und in der Folge wahrscheinlich auch für die Konsumenten. Aber vorerst wäre eine Reihe von grundsätzlichen Fragen zu klären, nämlich, ob die staatliche Umweltpolitik Kosten verursacht, wie weit die ergriffenen Maßnahmen geeignet sind, das vorgegebene Ziel zu erreichen oder ob dieses mit niedrigeren Kosten realisiert werden könnte, ob sie sich widersprechen und schließlich, ob sie das Wirtschaftswachs-
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tum behindern oder vielleicht sogar beschleunigen. Das zu diskutieren, scheint deshalb notwendig, weil solche Argumente in der ökologischen Folklore immer wieder mit positiven Akzenten auftauchen : »Die Geschichte handelt davon, dass Umweltschutzmaßnahmen nicht nur ökologisch sinnvoll sind, sondern auch noch Arbeitsplätze schaffen und dafür sorgen, dass es uns wirtschaftlich besser geht. Das ist Unsinn. Da hilft auch nicht der Verweis auf die zigtausend Arbeitsplätze, die inzwischen in der Wind- und Sonnenbranche entstanden sind. Diese Arbeitsplätze gibt es tatsächlich, wer wollte das bezweifeln. Die entscheidende Frage aber ist, wie viele Arbeitsplätze wir hätten, wenn wir die Windund Sonnenenergie nicht subventionieren würden. Vermutlich wären es mehr, denn ohne die hohen Kosten der regenerativen Energie wären die Energiekosten in Deutschland deutlich niedriger, damit die Produktionskosten geringer und die Standortqualität höher. Alles das schafft Arbeitsplätze und die Millionen Euro, die für den Einkauf alternativer Energien ausgegeben werden, würden ja auch nicht verschwinden, wenn man die Subventionen stoppte. Sie würden für andere Zwecke ausgegeben und die dadurch geschaffene Nachfrage würde an anderen Stellen Arbeitsplätze schaffen« (Weimann, 2010, S. 34). Offensichtlich verursacht die Umweltpolitik also zusätzliche Kosten. Die dafür aufgewendeten Ressourcen stehen für alternative Zwecke nicht mehr zur Verfügung. Das gilt aber auch für Ge- oder Verbote, weil die Unternehmen dadurch verhalten werden, Entscheidungen zu fällen, die sich nicht aus ihrer Markteinschätzung ergeben. Damit soll nichts über die allfällige Zweckmäßigkeit solcher Vorschriften gesagt sein, jedoch abermals darauf hingewiesen werden, dass ceteris paribus dadurch Kosten infolge suboptimaler Entscheidungen für den Betrieb und damit auch für die Volkswirtschaft entstehen. Aber da ist noch eine weitere Argumentationslinie, welche dahin geht, dass Umweltproduktionen zukunftweisend seien, weil sie nicht nur auf entsprechende Nachfrage stießen und damit hohe Erträge erwarten ließen, sondern auch technisch hochwertige Erzeugnisse lieferten, welche nur durch qualifizierte Arbeitskräfte hergestellt werden könnten. Nun würde man meinen, das seien eben politische Deklarationen, welchen
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allenfalls Informationscharakter zukomme, denn letztlich hätten die Unternehmen die Marktlage und Kostenstruktur einzuschätzen und danach zu beurteilen, welche Produktion aufzunehmen wäre. Dem ist aber nicht so. Die Flut einschlägiger Behauptungen scheint doch nicht ohne Wirkung auf die unternehmerischen Entscheidungen geblieben zu sein. Anders lässt sich wohl die Insolvenzwelle in der deutschen Solarindustrie nicht erklären. Großkonzerne, wie Siemens und Bosch, haben sich unter enormen Verlusten aus dieser Branche vollständig zurückgezogen und zahlreiche andere Unternehmen mussten Insolvenz anmelden. Von 2011 bis 2014 verlor die Solarbranche 60 % ihrer Arbeitsplätze (FAZ, 23. Januar 2015, S. 19). Aber nicht nur weisen die Vertreter der Umweltideologie stets auf die reichen Möglichkeiten der einschlägigen Produktion hin, sondern ebenso auf die Vorteile für die Beschäftigung. Hier bestehe nicht nur eine Chance, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sondern vor allem solche mit hoher Qualifikation. Für Ersteres gilt natürlich dasselbe Argument wie für die Produktion. Zu Letzterem hat die österreichische Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte kürzlich eine umfassende Studie initiiert (AK Österreich, 2012). Danach wurde zunächst festgestellt, dass 2009 rund 5 % aller Beschäftigten den Green Jobs zugerechnet werden können. Hiervon entfielen 40 % auf Umweltdienstleistungen, wie etwa Luftreinhaltung, Abwasserbehandlung oder Abfallbeseitigung, und 39 % auf Management von Ressourcen, also von Wasser, Wald oder Energie. Demgegenüber tritt Umwelttechnologie in den Hintergrund. Untersucht man diese Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen, dann zeigt sich, dass 20 % aller Green Jobs auf die Landwirtschaft entfallen, rund 17 % auf die Bauwirtschaft, rund 12 % auf die Abwasser- und Abfallentsorgung, 11 % auf den Handel, 6 % auf die Energieversorgung und ebenso viel auf die Architektur. Auf den Produktionssektor entfallen rund 21 % aller Green Jobs. Wie weit es sich um zusätzliche Arbeitsplätze handelt, bleibt unklar, weil hier »… wohl überwiegend als Folge von Umschichtungen innerhalb der Branchen, d.h. traditionelle Beschäftigungsverhältnisse … in Green Jobs umgewandelt« werden (AK Österreich, 2012, S. 82). Angesichts dieser Verteilung kann es
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nicht überraschen, dass es sich in den überwiegenden Fällen um schwere körperliche Arbeit, gesundheitliche Belastung, mäßige Bezahlung und vielfach prekäre Beschäftigungsverhältnisse handelt. Man wird also den Green Jobs nur eine marginale Rolle in der Schaffung von Arbeitsplätzen zubilligen können. Doch kommt dazu noch ein Weiteres. Nämlich die Subventionspolitik der öffentlichen Hand. Viele Regierungen sind in ihrem Bestreben, den CO2-Ausstoß zu senken, dazu übergegangen, sogenannte regenerative Energien zu fördern. Als solche werden Windkraft, Solartechnik sowie Bioenergie betrachtet. Nach dem oben Gesagten ergibt sich natürlich, dass eine Subvention dieser Energieformen abermals zusätzliche Kosten durch einen suboptimalen Ressourceneinsatz bedeutet, weil diese Energiekosten unter Marktbedingungen nicht konkurrenzfähig wären. Die Kostenbelastung wird überdies in diesem Fall in Deutschland und Österreich für die Konsumenten deutlich spürbar, weil die Mittel für die Subventionen durch Zuschläge auf die Energiepreise aufgebracht werden. Ein spezifischer Kostenaspekt der Umweltpolitik ergibt sich daraus, dass angesichts der von den Ökologen vorgetragenen und vorausgesagten Bedrohungen durch die globale Erwärmung – eben eine »Überlebensfrage« der Menschheit – es auf der Hand liegt, dass die Maßnahmen zu deren Abwehr sofort und umfassend zu erfolgen hätten. Auffassungen, wie sie etwa im vierten Bericht des IPCC aus dem Jahr 2007 oder im sogenannten Stern-Report der britischen Regierung zum Ausdruck kommen. Überlegungen über deren Kosten haben in solchen Konzepten natürlich keinen Platz. Eine österreichische Ökologin verlangte konsequenterweise eine rasche Reduktion des Schadstoffausstoßes um 80 %. Daraufhin erwählte sie die Mehrheit der österreichischen Journalisten zur Wissenschaftlerin des Jahres : »Andere, darunter prominente Umweltökonomen, sind erheblich zurückhaltender. Die meisten von ihnen plädieren für einen sogenannten Rampenansatz. Gemeint ist damit eine Klimapolitik, die zunächst nur relativ geringe Senkungen von Emissionen vorsieht, aber zu einem späteren Zeitpunkt massiv verschärft werden kann. Ihre Sichtweise stützt sich auf mehrere Argumente, die alle
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dafür sprechen, Zeit zu gewinnen. So halten sie die derzeitigen Kenntnisse des Klimawandels für noch nicht ausreichend gesichert, um sehr weitreichende Eingriffe zu rechtfertigen. Insbesondere bezweifeln sie die Validität der ökonomischen Schadensberechnungen der Stern-Review, die nach einhelliger Meinung auf Annahmen beruhten, die praktisch alle Ergebnisse in Richtung des klimatischen ›Worst-Case-Szenarios‹ verzerren« (Paqué, 2010, S. 100). Darüber hinaus meinen diese Ökonomen, dass die Folgen des Klimawandels viel zu vage erscheinen, um damit umgehen zu können. Es brauche Zeit für weitere ökonomische Forschung sowie Entwicklung der Technik. Sie fordern daher eine Kosten-Nutzen-Analyse : »Tatsächlich sind wir hier an einer Stelle, an der sich die Wege eines pragmatischen und eines dogmatischen Umgangs mit dem Klimawandel trennen. Die pragmatische Position erlaubt ausdrücklich eine Optimierung über die Zeit. Für sie stellt sich die Frage, ob es wirklich vernünftig ist, die gesamte Last der Anpassung auf die Gegenwart und die unmittelbar bevorstehende Zukunft zu legen, wo sich doch gerade durch das enorm schnelle Wachstum in Entwicklungsländern deren Situation in den kommenden Jahren grundsätzlich ändern wird. Die dogmatische Auffassung neigt dazu, jeden Kompromiss zwischen heute und morgen abzulehnen, in gewisser Weise ohne Rücksicht auf die Kosten. Für sie ist allein schon die extreme Persistenz des Gehalts an Treibhausgasen in der Atmosphäre ein schlagendes Argument dafür, so früh wie physisch möglich mit der Senkung des Ausstoßes zu beginnen. Für sie ist der sofortige Start des massiven Kampfs gegen den Klimawandel fast ein kategorischer Imperativ globaler Ethik« (Paqué, 2010, S. 104). Es gelte daher eher, das Wirtschaftswachstum zu forcieren, um die darin liegenden Möglichkeiten des ökonomischen und technischen Fortschritts auszuschöpfen. Der Mangel an einer ökonomisch-rationalen Analyse der umweltpolitischen Maßnahmen zeitigt jedoch noch weitere problematische Folgen. Als Beispiel seien die summarischen Forderungen genannt, vor allem dort zu sparen, wo viele Schadstoffe emittiert werden, oder schlechthin überall sowie uneingeschränkt in erneuerbare Energien zu investieren, woraus folgt, dass die Frage der
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Kosten, also die Kosteneffizienz, vollkommen aus den Augen verloren wird (Weimann, 2010, S. 63ff ). Und schließlich dürfte sich die Verschiebung der Investitionsstruktur zu den Umweltgütern bereits in einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums niederschlagen : »Most environmental improvements are costly and not to the direct and short run advantage of the consumer … Small investments required to generate growth are turning into costly investments for growth purposes or even large investments just to keep the social product from declining« (Streissler, 2012, S. 1059). Die hier angestellten Überlegungen dokumentieren also, dass Umweltpolitik zusätzliche Kosten verursacht, vielfach durch suboptimale Allokation der Ressourcen, aber auch durch direkte Belastungen, was in jüngerer Zeit mit der deutschen »Energiewende« einen besonderen Akzent erfahren hat. Wachstumsimpulse durch »green growth« und »green employment« scheinen illusionär. Am stärksten ist von den umweltpolitischen Maßnahmen die Industrie betroffen, sodass man davon sprechen kann, dass die EU damit einen Beitrag zur Entindustrialisierung Europas geleistet hat und noch leistet – Europa wird auf diese Weise zum »kranken Mann der Weltwirtschaft«. Wenn man die bisherige Umweltpolitik zusammenfassend charakterisieren will, dann springt vor allem ihre Passivität ins Auge. Sie klammert sich an den angenommenen Zusammenhang des Schadstoffausstoßes mit der globalen Erwärmung und konzentriert ihre Bemühungen darauf, diesen zu reduzieren. Wie sich aus den vorangegangenen Darstellungen ergibt, ist dieses Bemühen auf absehbare Zeit zum Scheitern verurteilt. Aber selbst, wenn es wider alle Erwartungen gelingen sollte, den Ausstoß zu senken, stellt sich die Frage, wie lange es dauern würde, bis Auswirkungen auf das Klima zustande kämen. Solches wäre sicherlich erst in vielen Jahrzehnten der Fall. Diese Passivität könnte dazu führen, dass man den tatsächlichen Problemen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die nüchterne Analyse zeigt, dass selbst wenn man die Prognosen der Ökologen akzeptiert, im Wesentlichen zwei ernsthafte Probleme auftauchen. Das eine besteht in der Gefahr, die von einem steigenden Meeresspiegel ausgeht, und das zweite in der Trockenheit, welche grö-
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ßere Regionen treffen könnte, also im Wassermangel. Beides erfordert eine realistische Umweltpolitik, die nicht auf vage Hoffnungen setzt, sondern sich aktiv den konkreten Problemen zuwendet. Ein solches Vorhaben wird dadurch erleichtert, dass in beiden Fällen die technischen Möglichkeiten bereits existieren, diesen Bedrohungen zu begegnen. Der Erstere ließe sich nach sehr alten Erfahrungen der Menschheit lösen, nämlich durch den Bau von Dämmen. Das mag sich in sehr kleinen Gebieten, also etwa Inseln, manchmal als nicht möglich oder zweckmäßig erweisen, sodass man Möglichkeiten für die Abwanderung der Bevölkerung schaffen müsste. In jedem Fall geht es aber primär nicht um eine Frage der Technik, sondern der Kosten, da vor allem ärmere Regionen vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen sein dürften. Freilich könnte auch in diesem Fall auf das Argument der adaptionistischen Ökonomen hingewiesen werden, dass auch in diesen Regionen im Zeitablauf mit entsprechendem Wirtschaftswachstum zu rechnen wäre, welches die Kostenfrage erleichtern würde. Komplizierter scheint schon die Lösung des zweiten Problems, denn hier gilt es nicht allein, die Kostenfrage zu lösen, sondern auch die der Technik. Wasser gibt es ja auf dieser Welt genug, es geht nur darum, es zu entsalzen und in die trockenen Gebiete zu leiten. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass der Pro-Kopf-Wasserverbrauch Dubais doppelt so hoch ist wie in Deutschland. Nur erweist sich der Energieverbrauch der Entsalzungsanlagen als enorm, und angesichts der zu erwartenden Mengen für Trockengebiete dürften die Kosten selbst für internationale Hilfsaktionen nach dem heutigen Stand der Technik beträchtlich ins Gewicht fallen. Nun liegen die betroffenen Gebiete zumeist in heißen Regionen. Es müsste daher versucht werden, die Sonneneinstrahlung viel stärker als bisher für die Entsalzung des Meerwassers nutzbar zu machen. Das praktische Resultat dieser Überlegungen besteht darin, dass die Vereinten Nationen einen internationalen Umweltfonds zu errichten hätten, welcher durch jährliche Einzahlungen aller Mitgliedsländer – ab einer gewissen Untergrenze – nach Maßgabe des Pro-Kopf-Einkommens zu finanzieren wäre. Die Kostenbelastung sollte sich für die
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Staaten in Grenzen halten, wenn diese die Ausgaben für die bisherige, weitgehend sinnlose Umweltpolitik einsparen könnten. Das gilt auch für das riesenhafte IPCC mit seinen ständigen Katastrophenmodellen. Diese Ausgaben ließen sich auf die Entwicklung von Entsalzungsanlagen konzentrieren – ein sinnvoller Einsatz von Solarenergie ! Tatsächlich existiert ein solcher Fonds schon, der »Green Climate Fund«. Dieser wurde 2008 von Mexiko vorgeschlagen und sollte bis 2020 von den Industriestaaten finanziert sein. Seine Mittel wären zur Hälfte für die Bekämpfung des Klimawandels einzusetzen, zur Hälfte der Anpassung daran. Tatsächlich sind ihm auch schon Beträge u. a. von den USA und Deutschland zugeflossen (FAZ, 22. September 2014, S. 17), wenngleich der Zufluss allgemein bescheiden erfolgt – immerhin wurde der Betrag von 10 Mrd. USD bereits überschritten. Dieser Fonds erscheint gewiss ein nützlicher Ansatz zu sein. Er müsste natürlich erheblich ausgebaut und seine Finanzierung im oben genannten Sinn sichergestellt werden, hätte sich freilich ausschließlich auf die Bekämpfung von Klimafolgen zu konzentrieren. Wenn hier umrisshaft ein System skizziert worden ist, das zur Lösung der ökologischen Problematik beitragen könnte, soll nicht übersehen werden, dass der Transfer von Menschen in andere Wohngebiete, selbst im Fall des Gelingens, eine schwere Last für die Betroffenen darstellt.
7.3 Von Faust zum Rentner ? Es erweist sich sohin, dass die dramatischen Vorstellungen von Umweltentwicklung und Wirtschaftswachstum überzogen sind. Die ökologische Schranke für das Wirtschaftswachstum existiert nicht.Es bleibt jedoch die klassische moralische Frage. Ist die herrschende kapitalistische Gesellschaft durch verwerfliche individuelle Verhaltensweisen charakterisiert und haben diese die Industrielle Revolution geschaffen ? Dies gilt insbesondere für die Habgier, den permanenten Wunsch nach mehr, den ständigen Drang nach Neuem, die Erforschung des Unbekannten, die permanente Hetze.
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Die historische Analyse – wie in Kapitel 2 ausgeführt – demonstriert, dass seit der Antike jede einigermaßen dynamische wirtschaftliche Tätigkeit von den Intellektuellen abgelehnt, zumindest aber kritisch gesehen wurde. Wohl erfasste die griechische Philosophie die Ökonomie schon als zusammenhängendes System, doch durchzieht ihre Schriften stets die Forderung, Maß zu halten und Einkommensexzesse zu vermeiden (Wieland, 2012). Dementsprechend hatte die Antike für Arbeit, die Güter und Leistungen hervorbrachte, nur Verachtung übrig. Zwar verhielt sich die christliche Theologie gegenüber der Wirtschaft durchaus ambivalent, die Mehrheitsmeinung lehnte jedoch ökonomische Aktivitäten ab, Armut blieb – offiziell – das christliche Ideal. Das kanonische Zinsverbot erwies sich zwar als unwirksam, blieb jedoch lange Jahrhunderte bestehen. In der Aufklärung, also im Merkantilismus, finden sich solche Auffassungen selten, sie treten mit der Industriellen Revolution seit dem 19. Jahrhundert jedoch wieder akzentuiert hervor und finden in der Gegenwart – wie die Enzyklika »Laudato si’« dokumentiert – ihre Fortsetzung. Es lässt sich also sagen, dass die Intellektuellen fast immer ökonomische, dynamische Einstellungen perhorresziert haben, und dass seit der Industriellen Revolution diese Kritik umfassend geworden ist und sich auf das kapitalistische System konzentriert, insbesondere an den von ihm geschaffenen Verhaltensweisen, welche nicht nur das Wirtschaftssystem in Gang halten, sondern einen bestimmten Lebensstil begründen. Bevor man versucht, diese Überlegungen zu analysieren, scheint es sinnvoll, zu klären, welche Fakten eigentlich die Lebenszufriedenheit in den westlichen Industriestaaten heute bestimmen, umso mehr, als viele Wachstumskritiker annehmen, dass Einkommenssteigerungen dazu nichts mehr beitrügen. Zu diesem Thema existiert umfangreiche ökonomische Literatur. Die Glücksforschung etablierte sich in den letzten Jahren zu einer eigenen ökonomischen Kategorie (siehe die zusammenfassenden Darstellungen von Tichy, 2006 und 2011 ; Weimann – Knabe – Schöb, 2012). Von den individuellen Faktoren sind es genetische und solche der äußeren Einflüsse sowie das Alter und die Gesundheit, welche die indivi-
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duelle Befindlichkeit beeinflussen. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Vorstellung zeigt sich die Lebenszufriedenheit nach Altersjahren U-förmig verteilt, wobei der rechte Ast noch höher reicht als der linke. Diese Gegebenheit wurde von vielen Österreichern offenbar intuitiv erfasst, weshalb sie – von der Politik lange Zeit wohlwollend unterstützt – mit allen Mitteln einen möglichst frühen Pensionsantritt anstreben. In Deutschland scheint die Große Koalition durch Einführung der Rente mit 63 jetzt ähnliche Verhaltensweisen zu fördern. Zu den Lebensereignissen, welche Zufriedenheit herbeiführen, zählt in erster Linie die Ehe oder Partnerschaft. Eine glückliche langfristige Bindung wirkt sich in vieler Hinsicht außerordentlich positiv auf das Befinden aus. Daher verursachen Scheidung oder Tod des Partners oft eine dramatische Verschlechterung. Angenehme Umweltbedingungen bewirken ebenso wie persönliche und politische Freiheit gleichfalls positive Effekte, auch die Möglichkeit, sein Leben wenigstens zu einem gewissen Teil selbst zu gestalten. Von den ökonomischen Determinanten des Wohlbefindens fällt die Beschäftigung am stärksten ins Gewicht. Die Arbeit vermittelt – gewiss unterschiedlich nach Qualifikation – durch ihren Inhalt Erfüllung und hohe Selbstzufriedenheit sowie soziale Anerkennung und das Gefühl, gebraucht zu werden ; nicht übersehen werden darf aber auch die dadurch herbeigeführte soziale Interaktion. Eine Tatsache, die von vielen Autoren, auch solchen, die sich nicht mit Glücksforschung befassen, immer wieder hervorgehoben wird. Umgekehrt verursacht Arbeitslosigkeit einen dramatischen Einbruch der Lebenszufriedenheit, nicht nur durch den Einkommensverlust, sondern eben durch den Wegfall all jener positiven Einflussfaktoren. Einen negativen Effekt bewirkt allerdings nicht nur die eigene Arbeitslosigkeit, sondern häufig auch die der gesamten Bevölkerung – weil man gewärtigen muss, davon gleichfalls betroffen zu werden. Während man der Inflation keinen relevanten Einfluss zuordnen kann, gilt das wohl für die Einkommensverteilung. Die Einwohner von Staaten mit gleichmäßigem Einkommensniveau legen eine vergleichsweise hohe Lebenszufriedenheit an den Tag (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 33ff ).
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Dieser indessen schon sehr umfangreiche Zweig der Wissenschaft beruht vorwiegend auf dem Prinzip einer direkten Befragung der Bevölkerung über ihre Lebenszufriedenheit, welche auf einer Skala von 0 bis 10 anzugeben ist. Freilich darf man nicht undifferenziert an deren Ergebnisse herangehen, sondern muss die verschiedenartigen Ausprägungen des Glücksgefühls berücksichtigen. Man hat zwischen kurz- und längerfristigen Effekten zu unterscheiden sowie in Rechnung zu stellen, dass nach dem Gesetz der Psychologen Fechner und Weber Veränderungen der Empfindungen nicht linear, sondern logarithmisch wahrgenommen werden (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 104). Dies bedeutet aber, dass sich auch die Lebenszufriedenheitskurven, wenn sie sich dem Wert 10 nähern, abflachen. Ferner sollte man zwischen emotionalem und kognitivem Wohlbefinden unterscheiden und sich letztlich in philosophische Gefilde begeben, indem man dem hedonistischen Glück das eudämonistische gegenüberstellt. Letzteres orientiert sich an objektiven Maßstäben eines tugendhaften Lebens im aristotelischen Sinn (siehe etwa Skidelsky – Skidelsky, 2012). Im Lichte all dieser Überlegungen war zunächst das Easterlin-Paradoxon zu überprüfen, wobei sich eine Reihe interessanter Befunde ergab (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 119). Zunächst erwies sich dessen statistische Basis, das »World Value Service«, als unzulänglich, weil verzerrt. Mit den Daten des »Gallup World Poll« ergibt sich für 2011 ein recht deutlicher positiver Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenszufriedenheit, wenngleich ab 15.000 US-Dollar Jahreseinkommen schwächer ausgeprägt. Das kann in Anbetracht des Fechner-Weber-Gesetzes nicht überraschen. Aber darüber hinaus muss noch die fundamentale Frage geklärt werden, ob die Skala der Befragten über Zeit und Ort vergleichbar ist. Die Menschen gewöhnen sich nämlich an die jeweiligen Gegebenheiten und gehen in ihrem Urteil davon aus. Aus diesem Grund kann man eine langfristige Steigerung des Wertes auf der Skala nicht erwarten. Daraus ergibt sich, dass zwar mehrere Determinanten die Lebenszufriedenheit der Menschen bestimmen, aber die Einkommenssteigerung darin nach wie vor einen wichtigen Platz einnimmt.
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Zu diesem Ergebnis gelangt auch eine Studie, die mit einem umfassenden Datensatz die Lebenszufriedenheit den Einkommensveränderungen gegenüberstellt, und zwar innerstaatlich, international, im Querschnitt und über die Zeit. Und in all diesen Bereichen lässt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Einkommenswachstum nachweisen – und zwar auch für absolute Veränderungen (Stevenson – Wolfers, 2008). Keynes’ Vorstellung, die Bedürfnisse der Menschen würden bei Erreichen eines bestimmten Einkommensniveaus sozusagen endgültig gedeckt sein, erwies sich daher als verfehlt. Zu dem grundsätzlich unveränderten Interesse an steigendem Einkommen gesellen sich noch weitere Elemente. Auf der Nachfrageseite deshalb, weil sich der Begriff »absoluter Notwendigkeiten« ständig verschiebe (Fitoussi, 2008, S. 153). Auf der Angebotsseite unterschätzte Keynes offensichtlich die gleichfalls permanente Wandlung des Angebots, welches das Interesse der Konsumenten weckt. Diese Fehleinschätzungen deuten eben darauf hin, dass Keynes – ebenso wie die anderen älteren Kritiker des Kapitalismus – die permanente Dynamik dieses Wirtschaftssystems nicht deutlich gesehen hat. Das gilt nicht in gleichem Ausmaß für die Autoren der Gegenwart, welche den Kapitalismus ja gerade deshalb kritisieren, weil er die Menschen ständig dazu anstachle, zu arbeiten, um mehr konsumieren zu können, womit das System in Gang gehalten werde. Es gelte eben, die Wirtschaftssubjekte aus dem »stahlharten Gehäuse des Konsumismus« zu befreien. Hier steht eben an erster Stelle die permanente Gier nach mehr, sei es an Einkommen, sei es an Status oder Macht, die ständige Sucht nach Neuem, Anderem. Ist das jedoch tatsächlich eine im Kapitalismus entstandene Verhaltensweise ? »Der prae-kapitalistische Mensch ist tatsächlich nicht weniger ›raffend‹ als der kapitalistische Mensch. Leibeigene Bauern zum Beispiel oder Kriegsherren setzten ihr Selbstinteresse mit einer brutalen Energie ganz eigener Art durch« (Schumpeter, 1972, S. 202). Selbstverständlich existierte also das Interesse an Einkommenssteigerung in kommerziellen Bereichen schon in der Antike sowie auch im
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Mittelalter, allerdings vorwiegend in bestimmten Klassen und Produktionssparten. In der Antike galt das vor allem für die Oberschicht, also die aristokratischen Latifundienbesitzer, sowie für die interregionalen Händler. Letztere Gruppe stieg im europäischen Mittelalter zur führenden Schicht der Städte und Stadtrepubliken auf und legte schon durchaus kapitalistische Verhaltensweisen in jeder Hinsicht an den Tag. Solches lässt sich sicherlich nicht für die Handwerker der Antike sagen, die ja einer eher verachteten und teilweise unfreien Bevölkerungsschicht mit geringen ökonomischen sowie sozialen Bewegungsmöglichkeiten angehörten. Das gilt zwar nicht mehr für das mittelalterliche Handwerk, doch blieb dieses stark organisiert und auf regulierte Märkte des unmittelbaren Umkreises konzentriert sowie an der »gesunden Nahrung« orientiert. Auch die bäuerliche Landwirtschaft verfügte – teilweise unfrei – sowohl in der Antike als auch im Mittelalter über geringe Expansionsspielräume und orientierte sich meist an der Tradition, doch wurden in letzterem Zeitraum die gegebenen Entfaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft, wie der technisch-organisatorische Fortschritt im europäischen Agrarbereich demonstriert (Butschek, 2006, S. 39). Wesentlich scheint jedoch, dass sich das Eigeninteresse ganz massiv außerhalb der ökonomischen Sphäre manifestierte. Macht und damit Vermögen wurden während des gesamten Mittelalters vielfach durch Gewalt, mit militärischen Maßnahmen errungen. Und einer der größten Verdienste des Kapitalismus scheint eben darin zu bestehen, dass er diese stets vorhandenen Elemente der menschlichen Persönlichkeit von der Gewalt abgezogen und auf die ökonomische Konkurrenz umgeleitet hat. Das ständige Bestreben nach mehr manifestiere sich – so die Kritiker – durch die rücksichtslose Konkurrenz in diesem System. Sie beherrsche nicht nur den Unternehmenssektor, sondern erfasse alle Bereiche des Lebens und finde ihren Niederschlag im Versuch, die eigene Position gegenüber anderen zu verbessern. Das jedoch scheint zu eng gesehen zu werden. Die Orientierung nach einem Bezugspunkt könnte nämlich sogar genetisch bedingt sein : »Menschen streben nicht nach höheren Positionen, weil sie sich über
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andere Menschen erheben wollen und weil sie nur aus relativer Stärke Bestätigung und Glück ziehen können, sondern weil die Orientierung an ›den Anderen‹ eine rationale Strategie ist, mit der man die besten Entscheidungen für sich selbst treffen kann. Die Referenzpunkte dienen lediglich der Orientierung, um den besten Weg zum eigenen Glück zu finden« (Weimann – Knabe – Schöb, 2012, S. 149). Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass manche Menschen tatsächlich versuchen, andere zu übertreffen, aber man muss feststellen, dass die Mehrheit ihr Glück relativ zu ihrem Potential misst, also durch einen Vergleich mit dem Referenzpunkt. Dieser kann sich im Zeitablauf verschieben und damit auch die Skala ändern – was sich schon in der Diskussion des Easterlin-Paradoxons ergab. Darüber hinaus aber wäre der Wettbewerb durchaus als nützlich einzuschätzen. Er wird von unserer Gesellschaft im Sport vehement begrüßt, sollte aber im Sozialen schaden ? Er tut das schon deshalb nicht, weil dadurch ein gewisses soziales Auswahlverfahren sichergestellt wird ; nicht zu reden davon, dass er Energien freisetzt, die Kreativität fördert und nicht zuletzt die Macht begrenzt. Das heißt aber, dass die Konkurrenz nicht nur relative Positionen verändert, sondern dass als externer Effekt auch das jeweilige Gesamtniveau gesteigert wird. Im Übrigen enthält der demokratische Prozess gleichfalls ein starkes Konkurrenzelement, welches durchaus als konstitutiv für Wahlen betrachtet werden kann. Letztlich erweist sich die Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten als einer der fundamentalen Antriebe für menschliche Aktivität : »Der Mensch handelt überhaupt nur, weil er nicht voll befriedigt ist. Stünde er stets im Vollgenusse höchsten Glücks, dann wäre er wunschlos, willenlos, tatenlos. Im Schlaraffenland wird nicht gehandelt« (Mises, 1922, S. 97). Scheint somit die Kritik an den Verhaltensweisen, welche die Wachstumsgegner dem Kapitalismus zuschreiben, als problematisch, muss auch das Gegenbild geprüft werden. Denn sämtliche dieser Autoren zeichnen die Struktur einer Gesellschaft, die von diesen humanen Deformationen befreit ist ; sie entwerfen einen neuen Lebensstil. Dessen
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Inhalt mag variieren ; Sombart etwa erwartet die Verwirklichung des »Deutschen Geistes«, aber alle übrigen Kapitalismuskritiker streben einen solchen an, den man – unscharf – mit dem Begriff »kultiviert« charakterisieren könnte. Dessen wichtiges Kennzeichen sowie auch Voraussetzung für sein Entstehen ist die Muße. Diese sei deshalb anzustreben, weil sie den Menschen von der Hast, der ständigen Hetze befreie und die Möglichkeit eröffne, sich den relevanten Lebensinhalten zuzuwenden. Es liegt auf der Hand, dass Keynes in seinen Vorstellungen dafür vom Lebensstil der englischen Aristokratie seiner Tage inspiriert wurde. Diese verfügte über ein gesichertes, arbeitsloses Einkommen, welches es ihr erlaubte, sich den schönen Seiten des Lebens zuzuwenden, die vom Kunstgenuss bis zu den Fuchsjagden reichten (Zilibotti, 2008, S. 35). Dieser Ansatz schätzt die Muße aber nicht nur wegen ihrer positiven Eigenschaften so hoch ein, sondern auch, weil die Arbeit grundsätzlich als Belastung gesehen wird. Nun ist diese Beurteilung, wie die Ergebnisse der Glücksforschung demonstrieren, verfehlt, weil der Arbeit eine zentrale positive Funktion für die Menschen zukommt. Manche Autoren führen diese negative Sicht der Arbeit auf eine »anthropologische Täuschung« zurück. Keynes sei hierbei noch von der Marx’schen Sicht beeinflusst gewesen, welche in der Arbeit den Ausdruck der Selbstentfremdung gesehen hatte. Damit habe er auch den Einkommenseffekt weit überschätzt, nämlich bei höheren Löhnen die Arbeitszeit zu reduzieren (Becchetti, 2008). Jedenfalls stehen die Wachstumskritiker mit ihren gesellschaftspolitischen Vorstellungen – teilweise bewusst – in der philosophischen Tradition der Antike. Das aber ist der Punkt, an dem man sich in dieser Diskussion über die fundamentale Bedeutung der Industriellen Revolution für die menschliche Entwicklung klar werden muss. Diese führte – wie der ausführlichen Darstellung in Kapitel 2 entnommen werden kann – über einen langen historischen Prozess, der bis in die Antike zurückreicht, zu einem sozialen und ökonomischen Umbruch, der nur mit jenem des Neolithikums verglichen werden kann, also mit der Wandlung von Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern.
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Diese Kultur herrschte über Jahrtausende hindurch. Darin waren zumeist mehr als 95 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, um die Subsistenz zu sichern. Die geringen Überschüsse dienten dazu, einige Städte zu ernähren sowie einer Oberschicht ein Luxusleben zu ermöglichen. Zwar erbrachten auch die Hochkulturen dieser Zeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen eindrucksvolle Leistungen, die Masse der Bevölkerung lebte jedoch am Rande des physischen Existenzminimums und hatte an den kulturellen Großtaten dieser Gesellschaften wenig Anteil. Zwar existierten Ansätze der nichtlandwirtschaftlichen Produktion, wie Handel und Handwerk sowie Bauwirtschaft. Und auch technischer Fortschritt blieb diesen Gesellschaften nicht fremd, aber ökonomische Verbesserungen vollzogen sich im Verlauf von Jahrhunderten, ja von Jahrtausenden und gingen oft wieder verloren. Grundsätzlich orientierten sich die Produktion sowie das Leben überhaupt an der Tradition, an den Erfahrungen der vergangenen Generationen. Der Horizont dieser Menschen reduzierte sich zumeist auf die Begrenzungen ihres Dorfes oder die Distanz einer Fußreise. Die Masse der Bevölkerung blieb analphabetisch. Demgegenüber stellt die Industriegesellschaft der Gegenwart einen totalen Bruch dar. In Westeuropa und den USA ist der Anteil der Arbeitskräfte, welche in der Landwirtschaft tätig sind, auf wenige Prozent geschrumpft. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dieser Länder wohnt in Städten oder in deren Umgebung. Sie arbeitet in der Güterproduktion oder im Dienstleistungsbereich. Autarkes Wirtschaften ist diesem System völlig fremd, die gesamte Ökonomie basiert auf Arbeitsteilung, was einen entsprechenden Binnen- und Außenhandel nach sich zieht. Ein hoch organisiertes Schulsystem sichert nicht nur ihre Alphabetisierung, sondern sorgt für einen steten Zustrom hoch- und höchstqualifizierter Arbeitskräfte. Die Produktion sowie die Erbringung von Leistungen erfolgen im industriell-gewerblichen Sektor unter Einsatz von Maschinen, welche durch unbelebte Energie angetrieben werden. Ihr entscheidendes Kriterium liegt darin, dass die Produktion durch permanente wissenschaft-
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liche Forschung in die Lage versetzt wird, einen stets höheren Ausstoß zu erbringen. Der Kern des Wachstumsprozesses liegt im technischen Fortschritt. Und eine umfassende wissenschaftliche Gemeinschaft sorgt dafür, dass nichts, was einmal erforscht wurde, in Vergessenheit gerät, sondern stetig verbessert wird. Das Resultat dieser Entwicklung dokumentiert sich darin, dass in den Industriestaaten das Pro-Kopf-Einkommen etwa beim Vierzigfachen jenes der früheren Hochkulturen liegt. Damit haben sich aber auch die Lebensbedingungen der Menschen vollkommen verändert. Die Deckung der grundlegenden Lebensbedürfnisse wurde für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in den Industriestaaten eine Selbstverständlichkeit ; der Luxuskonsum trat in den Vordergrund – vom Auto bis zu den Urlaubsreisen in ferne Länder. Auch gelang es in den meisten dieser Länder, durch Einführung eines umfassenden Systems der sozialen Sicherheit die Bevölkerung gegen die Risken des Arbeitslebens abzusichern, ein Gesundheitssystem steigerte die Lebenserwartung der Menschen gegenüber der Vergangenheit fast auf das Dreifache. Die parlamentarische Demokratie bietet den politischen Rahmen für ein Wirtschaftssystem, welches für sein Funktionieren individualistische, verantwortungsbereite, initiative, gebildete und selbstbewusste Menschen benötigt, welche rechtlich gesichert und in der Lage sind, frei zu denken und zu forschen. Und ein weiterer Umstand charakterisiert die Bedeutung dieses fundamentalen Umbruchs für die menschliche Gesellschaft, nämlich dass eigentlich alle außereuropäischen Staaten angetreten sind, um das kapitalistische System zu übernehmen sowie dieses in einer Weise auszugestalten, die dem gegenwärtigen westlichen Standard entspricht. Daraus folgt, dass in fernerer Zukunft wieder jene Situation gegeben sein wird, welche der Agrargesellschaft der Antike entspricht, also dass mehr oder weniger alle Staaten eine ähnliche ökonomische Struktur aufweisen werden – nur eben auf einem viel höheren Niveau. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die moralischen Einwände der Wachstums- und Kapitalismuskritiker ins Leere gehen. Zum einen deshalb, weil sie dieses Wirtschaftssystem für Verhaltensweisen
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verantwortlich machen, welche genetisch bestimmt sind und sich in der Geschichte der Menschheit stets wiederfinden, wie die Gewinnung von Macht und Reichtum. Andererseits steht außer Zweifel, dass manche Verhaltensweisen im Laufe der Entwicklung in Europa besonders akzentuiert aufgetreten sind, welche als Voraussetzung für das Ingangkommen der Industriellen Revolution betrachtet werden müssen. Diese charakteristische europäische Dynamik erhellt schon daraus, dass ein Großteil jener Erfindungen, welche für diese konstitutiv wurden, etwa in China schon lange bekannt waren, ohne dass ein ähnlicher Prozess in Gang gekommen wäre. Die Kenntnis des Buchdrucks blieb dort eine Spielerei, in Europa löste sie eine Informationsrevolution aus. Das »Faustische«, wie es die Skidelskys zitieren, also der Drang nach Neuem, nach der permanenten Erweiterung des Wissens, die Kühnheit, in neue Regionen jeder Art vorzustoßen, die nimmermüde Aktivität, charakterisiert tatsächlich den Menschen der Industriellen Revolution. Die Muße ohne Arbeit und ohne Leistung liegt weit ab von den Bedingungen einer Industriegesellschaft. Nichts spricht für dieses Ideal der antiken Philosophen, außer den Präferenzen der Wachstumskritiker. Schließlich erklärten schon die Scholastiker den »Müßiggang« zur Sünde. Im Übrigen erweist sich dieses Anliegen schon deshalb als Scheinproblem, weil die angestrebte – kultivierte – Muße ja in keinem Gegensatz zu steigendem Einkommen stehen muss ; im Gegenteil, Letzteres begünstigt Ersteres (Solow, 2008, S. 92). Hier sei dem Verfasser eine persönliche Bemerkung gestattet. Wenn man in einer Stadt mit einem Einzugsgebiet von etwa zwei Millionen Menschen lebt, in welcher drei Opernhäuser, zwei Musicalbühnen, drei große und zahlreiche kleine Theater geführt werden, vier Symphonieorchester und mehrere Kammermusikensembles spielen, in welcher fünf große Museen existieren, die zu den berühmtesten der Welt zählen, wo all diese Einrichtungen im Sommer durch weltberühmte Festspiele ergänzt werden, wo man – last but not least – auch in den kleinsten Wirtshäusern hervorragend isst, dann frägt man sich schon, warum die kapitalistischen Verhaltensweisen geändert werden müssen, um ein »good life« mit »leisure« und »flourishing« zu führen.
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Und damit gelangt man zum zentralen Punkt dieser Diskussion : Die perhorreszierten sowie präferierten menschlichen Verhaltensweisen geben vorwiegend die Empfindungen der Autoren wider und sind empirisch nur schwach untermauert. Natürlich steht es jedermann frei, solche Vorstellungen einer alternativen Gesellschaft zu formulieren, zu propagieren oder vielleicht auch vorzuleben. Ob sie dem wissenschaftlichen Diskurs genügen, steht dahin. Letztlich muss immer wieder betont werden, dass sich die Industriegesellschaft grundlegend von der agrarischen unterscheidet, welche die vergangenen Jahrtausende kennzeichnete, und ein spezifisches neues Gesellschaftssystem repräsentiert. Es wäre daher völlig verfehlt, in ihr nur eine mehr oder minder temporäre oder zufällige Abweichung vom menschheitlichen Entwicklungspfad zu sehen. Sie ist in keiner Weise reversibel, weil sich hier eine neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Mechanik herausgebildet hat, deren Charakteristikum in der permanenten Dynamik liegt. Und ebenso evident ist, dass alle Regionen der Welt dabei sind, dieses neue Wirtschafts- und Gesellschaftssystem im eigenen Bereich aufzubauen. Es wäre daher schiere Illusion, zu glauben, man könne diesen weltweiten epochalen Prozess aufhalten oder umkehren, indem man da und dort an einem Zipfel des Systems zerrt. Natürlich sollte mit diesen Ausführungen nicht das Bild einer paradiesischen Gesellschaft gezeichnet werden, in der keine Probleme existieren. Selbstverständlich gibt es sie zuhauf und oftmals auch in den von den Wachstumskritikern angesprochenen Bereichen. Über Workoholismus und Burnout muss man nicht viele Worte verlieren, aber das sind Probleme, wie sie in jedem irdischen Gesellschaftssystem auftauchen können und werden. Sie zu lösen, bleibt eine ständige Herausforderung für die Politik. Aber deshalb das Wirtschaftssystem zu sprengen, wäre von den Begründungen der Wachstumskritiker her sinnlos, vor allem aber auch gar nicht möglich. Schließlich begann man schon im Gefolge des Club of Rome Anfang der 1970er-Jahre »umzudenken«, ohne dass sich am Wirtschaftssystem etwas geändert hätte. Denn letztlich bleibt das Faktum bestehen, dass es eigentlich niemand ändern will, ebenso wenig wie die entsprechenden Verhaltensweisen. Die Gruppen, welche
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eine »Wachstumswende« anstreben, beschränken sich auf relativ kleine Intellektuellenzirkel, welche im Übrigen die Annehmlichkeiten des Kapitalismus durchaus genießen. Ein weiterer, eher technischer Aspekt aller Bemühungen, das Wirtschaftswachstum zu beenden, liegt jedoch in der Frage, wie man das Gleichgewicht für eine stationäre, kapitalistische Wirtschaft sicherstellen könnte. Jackson hat die Bedeutung dieses Problems erkannt und in seinem Buch auch luzid dargelegt. Er vermeint jedoch, dafür eine Lösung präsentiert zu haben. Wohl scheint er auch zu sehen, dass löblichen Entwicklungen, wie dem Entstehen unproduktiver persönlicher Dienstleistungen oder Arbeitsverkürzung, nur marginale Bedeutung zukommt, daher entwickelte er die »Neue Makroökonomie«. Diese konzentriert sich auf die Investitionen, welche auf Kosten des privaten Konsums ausgeweitet werden müssen. Angesichts des Umstandes, dass sich in den westlichen Industriestaaten die Staatsquote der 50 %-Grenze nähert und ständig neue Ansprüche an die staatlichen Budgets herangetragen werden, scheint das kein ganz einfaches Unterfangen darzustellen. Aber natürlich ist ihm auch klar, dass selbst ökologische Investitionen einen konventionellenWachstumseffekt erzielen können. Um diesen zu verhindern, scheint es nicht ausreichend, die öffentlichen Investitionen auszuweiten. Er stellt daher die Frage nach dem »ownership of assets«, denn kapitalistische Unternehmer werden nur dann investieren, wenn sie dadurch Erträge erzielen können : »Der Profit nimmt in diesem System eine Schlüsselrolle ein« (Jackson, 2013, S. 104). Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen : Da sich nicht sicherstellen lässt, dass ausreichend ökologisch und unproduktiv investiert wird und damit die Wirtschaft stationär bleibt, stellt sich die Frage, ob sich eine stationäre Ökonomie überhaupt in einer kapitalistischen Marktwirtschaft erreichen lässt. Das scheint auch Jackson so zu sehen und nähert sich damit den Vorstellungen Sombarts. Diesem war klar, dass sich sein Ziel, dem »Deutschen Geist« zum Durchbruch zu verhelfen, nicht durch eine unregulierte Marktwirtschaft erreichen lasse. Er strebte daher eine Mischung zwischen Plan- und Marktwirtschaft an. Deren Charakter
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blieb vage. Zwar existierte während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegsperiode auch in den westlichen Industriestaaten eine Mischung von Plan und Markt mit massiven staatlichen Eingriffen, aber stets unter Aufrechterhaltung des privaten Unternehmertums und blieb insbesondere nach 1945 in hohem Maß auf Wirtschafts- und Einkommenswachstum fixiert. Sie repräsentierte letztlich eine Übergangsphase. Daher hat Jackson folgerichtig die Frage nach Privateigentum an Produktionsmitteln gestellt, freilich ohne näher darauf einzugehen, wie eine Wirtschaftsstruktur aussieht, welche viele – öffentliche – unproduktive, ökologische Investitionen tätigt, in welcher aber ein Privatsektor verbleibt, der mit unveränderten Verhaltensweisen kapitalistisch agiert. Und er weist ausdrücklich darauf hin, dass es in seinem neuen System weiterhin einen beträchtlichen kapitalistischen Sektor geben wird. Aber ist solches überhaupt vorstellbar ? Nun das sieht offenbar auch Jackson und stellt daher die Frage : »Kann man das immer noch Kapitalismus nennen ?« (Jackson, 2013, S. 201). Die von ihm präsentierte Antwort bleibt abermals recht vage. Sie lautet : Es gäbe eben viele Arten des Kapitalismus. Nun spielt die Kategorisierung des angestrebten Wirtschaftssystems gewiss keine Rolle, entscheidend sind dessen Realisierungsmöglichkeiten. Da ist zunächst die Verschiebung der Einkommensverwendung zum Staat. Auf die Problematik dieser Ambition wurde bereits hingewiesen. Weiters würde es auch einigen administrativen Aufwands bedürfen, sicherzustellen, dass die öffentlichen Investitionen nicht doch einen Wachstumseffekt erzielen. Entscheidend bleibt jedoch das Verhalten des privaten Sektors. In den Nachkriegsökonomien, die am ehesten dem Modell Jacksons entsprechen, erzielte dieser ein exzessives Wachstum, das natürlich die Bemühungen des staatlichen Sektors zunichtemachen würde. Aber dazu werden die ohnehin nicht sehr präzisen Aussagen Jacksons noch vager, weil er eben andeutet, dass sich auch der Charakter der privaten Investitionen ändern würde. Wie denn ? Wie soll dann der kapitalistische Sektor funktionieren ? Gelingt es aber nicht, diesem Zügel anzulegen, dann geht das Wachstum weiter. Verhindert man dieses
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mit – nicht näher erläuterten – administrativen Maßnahmen, dann setzt der von Jackson ausführlich geschilderte krisenhafte Prozess der Wirtschaft ein, welcher die Gesellschaft destabilisiert. Das ganze Modell passt also von vorn und hinten nicht zusammen. Aber möglicherweise sieht das auch Jackson, wagt jedoch darüber keine klare Aussage. Sein angestrebtes Ziel einer langfristig stationären Wirtschaft lässt sich nur auf eine Weise erreichen : durch weitgehenden Wechsel des Wirtschaftssystems – durch Einführung einer Planwirtschaft. Hier kann der Produktionsumfang strikt geregelt werden ; auch der Ressourceneinsatz sowie der Schadstoffausstoß. Die Einkommen werden administrativ geregelt und damit jener Effekt erreicht, den schon Sombart angestrebt hatte, als er meinte, man müsse die niederen Instinkte der Masse bändigen.
8. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen – auf dem Weg zur Erziehungsdiktatur ?
Es wurde im Vorhergehenden versucht, darzulegen, dass sich von der Sache her kein Argument finden lässt, Wirtschaftswachstum zu »überwinden« sowie unser heutiges Wirtschaftssystem abzuschaffen ; man bezeichne es »Kapitalismus« oder in Europa besser »Rheinischen Kapitalismus«, also eine Marktwirtschaft auf Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln mit einem voll ausgebauten Apparat der sozialen Sicherheit. Dazu besteht kein Anlass aus Gründen der Umwelt, weil deren Probleme von den Ökologen krass überzeichnet werden – von Überlebensfragen scheint keine Rede zu sein –, vielmehr trägt weiteres Wirtschaftswachstum zu deren Lösung mit fortgesetztem technischen Fortschritt bei sowie auch dadurch, dass viele Länder mit indessen höherem Einkommen manchen Bedrohungen, wie etwa durch einen steigenden Meeresspiegel, besser begegnen können als heute. Freilich wurde in diesem Zusammenhang auf die gegenwärtig vollkommen verfehlte Umweltpolitik – insbesondere Europas – hingewiesen. Diese steht unter dem Menetekel der Fehlallokation der Ressourcen. Zunächst entziehen Investitionen in diesen Sektor anderen Verwendungen Mittel, welche höhere Erträge abwerfen könnten. Vielfach werden gleiche Leistungen, wie etwa Energieversorgung, nur zu höheren Kosten erbracht. Subventionen für nicht konkurrenzfähige Produkte, wie etwa Alternativenergien, werden vom Staat auf den Bürger überwälzt. Bedeutet dies eine allgemeine Belastung der Bevölkerung, nimmt die Umweltpolitik einen spezifischen Charakter für die Industrie an, welche durch die Emissionszertifikate getroffen wird. Diese Belastung führte bereits dazu, dass Investitionen europäischer Unternehmen in stärkerem Maß außerhalb der EU erfolgen, und mehrere Industrievertreter erklärten, dass sich diese Vorgangsweise künftig intensivieren werde. Europa wird auf diese Weise allmählich zum »kranken Mann der Weltwirtschaft«.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
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Die Sinnlosigkeit einer solchen faktischen Entindustrialisierungspolitik durch die EU-Kommission erhellt daraus, dass auf Europa nur etwa 10 % des gesamten Schadstoffausstoßes entfallen. Von den außereuropäischen Staaten hat erst in jüngster Zeit China Überlegungen angestellt, absolute Grenzen für den Schadstoffausstoß festzulegen, und US-Präsident Obama versuchte, im Verordnungsweg für Kraftwerke eine signifikante Reduktion bis 2030 zu fixieren. Angesichts der Größenverhältnisse zeitigt die Kommissionspolitik kaum Effekte auf den Schadstoffausstoß – es bleibt jedenfalls nur der Konkurrenznachteil für die europäische Industrie. Überdies demonstrierten Untersuchungen, dass die vielberufenen Vorteile der Produktion von Umweltgütern, wie höhere technische Standards und Einsatz von hochqualifizierten Arbeitskräften, nicht in nennenswerter Weise zutreffen. Letztlich sei darauf verwiesen, dass die anfängliche Ökologiebegeisterung viele Unternehmen zu eklatanten Fehlinvestitionen verleitete, welche zu Insolvenzen oder zumindest schweren Verlusten führten. Sinnvoll schiene daher eine Umweltpolitik, welche sich an den konkreten Gefahren, wie steigendem Meeresspiegel und zunehmender Trockenheit, orientiert. Um diese zu bekämpfen, stehen entweder schon historisch bewährte Maßnahmen zur Verfügung oder solche könnten durch entsprechende Forschungsaktivitäten entwickelt werden. Hier sollten die Vereinten Nationen die Initiativen ergreifen. Aber der ökologischen Frage liegen, trotz aller Übertreibungen, zumindest einige tatsächliche oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Probleme zugrunde, wogegen für die Abschaffung des Kapitalismus aus moralischen Gründen, bei nüchterner Erwägung, überhaupt nichts spricht. Hier begegnet man den persönlichen Präferenzen der Wachstumskritiker, die sich zwar auf historische Vorbilder berufen können, aber darum nicht plausibler werden, vor allem auch deshalb, weil die Verfasser den fundamentalen Wandel, welchem die europäische Gesellschaft durch den Prozess der Industrialisierung unterworfen war, nicht ausreichend berücksichtigen. Eine gewisse Ahnung von dessen Bedeutung erwuchs vielen Autoren dadurch, dass sie sich offenbar der ungeheuren Schwierigkeiten bewusst
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wurden, welche ihrem Bestreben entgegenstehen, die Menschen zum »wahren Bewusstsein« hinzuführen. Die Probleme würden überdies noch dadurch verschärft, als es selbst mit geänderten Verhaltensweisen gar nicht so einfach wäre, ein funktionierendes statisches Wirtschaftssystem zu schaffen. Da die Wachstumskritiker ihrer eigenen Überzeugungskraft offenbar misstrauen, also gar nicht erwarten, dass sich die Menschen durch Zureden bekehren lassen, auch nicht durch das eigene Beispiel – welches sich ja auch kaum erkennen lässt–, gewinnt der Staat in dem angestrebten Veränderungsprozess eine dominante Rolle. Das gilt zunächst für die Bildung des »wahren Bewusstseins«. Sie verweisen darauf, dass die öffentliche Hand ja auch heute die gesellschaftlichen Regeln und gewünschten Verhaltensweisen durch den Schulunterreicht vermittle und dass es nur gelte, eben die neuen zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Nun, abgesehen davon, dass die Jugendlichen ohnehin ständig in der Schule mit der Umweltideologie bombardiert werden, darf man solchen Versuchen mit einer gewissen Skepsis begegnen, man denke nur an die Bestrebungen, auf diesem Weg das Rauchen oder den Drogenkonsum zu begrenzen. Schon gar nicht dürften solche Maßnahmen ausreichen, um die menschliche Psyche fundamental zu verändern. Das hatte schon Sombart klar gesehen und – wie schon gesagt – gemeint, dass man den Pöbel mit Zwang davon abhalten müsse, ständig mehr konsumieren zu wollen. Aber sieht man einmal davon ab, wie dieser psychologische Motor des kapitalistischen Systems auszuschalten wäre, ergeben sich ein Fülle von sozusagen technischen Problemen. Nämlich wie man eine stationäre Wirtschaft zustande bringt und sie in Gang halten kann. Jackson hat diese Problematik klar dargestellt. Jedoch alle von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, wie die Umschichtung der Nachfrage vom privaten Konsum zu den Investitionen sowie die Reduktion von deren produktivitätssteigernden Effekten, scheint ihm nur durch eine dominierende Position des Staates realisierbar und zwar so weit, dass er meint, man müsse wieder die Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln aufwerfen. Und wiewohl er sich sehr vorsichtig diesem Komplex nähert – andere Autoren kennen da keine Hemmun-
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gen –, ergibt sich letztlich das Bild einer weitgehend regulierten Planwirtschaft – bis hinein in den privaten Konsum. Damit erreichen aber diese Überlegungen bereits eine ganz andere Dimension. Nicht nur, dass diese Autoren die Erfahrungen mit der sow jetischen Planwirtschaft ignorieren, ergeben sich aus solchen Gedanken Aktivitäten, welche auch die Menschenrechte bedrohen. Das gilt einmal dafür, dass die humanen Entfaltungsmöglichkeiten durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln beträchtlich eingeschränkt werden, weiters aber durch die Bedrohung der Konsumentensouveränität. Gewiss würden die Autoren in letzterem Fall darauf hinweisen, dass auch heute der Konsum einer Reihe von Gütern verboten sei, wie etwa jener von schweren Drogen. Doch gingen die Vorstellungen der Wachstumskritiker und Ökologen viel weiter. Schließlich führten all diese Gedanken zu einer auf Basis einer Planwirtschaft ruhenden Erziehungsdiktatur. Nun könnte man natürlich einwenden, alles das seien phantastische Träumereien, die meilenweit von jeglicher Realität und auch Realisierung entfernt seien. Doch trägt letztlich die anschwellende Diskussion natürlich dazu bei, die ohnehin existierende historische Aversion der Intellektuellen gegen wirtschaftliche Tätigkeit im Allgemeinen und die Marktwirtschaft im Besonderen zu verstärken und damit ihren institutionellen Rückhalt zu schwächen – ohne dass sich irgendeine sinnvolle Alternative abzeichnete. Aber selbst wenn man meint, alles das nicht fürchten zu müssen, bleiben die harten Fakten, dass durch die gängige Ökologenideologie eine vollkommen verfehlte Umweltpolitik betrieben wird, welche geeignet ist, die Entindustrialisierung der EU voranzutreiben und das Wirtschaftswachstum dieser Region behindert, wozu auch dessen »Überwindung« durch die Intellektuellen beiträgt. Und gleichermaßen bleibt die paternalistische Tendenz, den Bürger zu erziehen. All das wird überdeutlich, wenn man die Diskussion abseits der Ökonomie verfolgt, wie sie insbesondere in Deutschland geführt und etwa in der Sammelpublikation »Wirtschaft ohne Wachstum ? ! Notwendigkeit und Ansätze einer Wachstumswende« dokumentiert wird.
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Hier findet man nicht nur die notorischen Analysen wieder, welche die Notwendigkeit erläutern, das Wachstum zu überwinden, sondern bereits ausführlich beschriebene Modelle für Wirtschaftssysteme jenseits des Wachstums. Und wenn sich Jackson der staatlichen Dominanz im neuen Wirtschaftssystem mit Vorsicht nähert, finden die Autoren dort überhaupt keinen Grund zur Zurückhaltung. Sie führen deutlich aus, dass der Staat selbstverständlich nicht nur die Investitionen, sondern auch die Produktion und teilweise auch den Konsum regulieren werde und zwar in einer veritablen Planwirtschaft. Deren Fehlschlag in der Sowjetunion gehe nämlich nur auf ihren undemokratischen Charakter zurück. Sie würde sich außerordentlich erfolgreich erweisen, wenn alle am Wirtschaftssystem Beteiligten in die Entscheidungsprozesse einbezogen würden : Arbeitnehmer, Produktionsmittelbesitzer, Konsumenten und Anwohner – es entstünde eben ein »Ökosozialismus«. Auch werde es erforderlich sein, die Einkommen in den Industrieländern erheblich zu reduzieren, weil schließlich Schwellen- und Entwicklungsländer einen höheren Lebensstandard erreichen müssten, ohne dass sich die Umweltbelastung weiterhin erhöht. So versichert Paech in einem fröhlichen Interview – es wird explizit angeführt, wann er lacht –, dass der Zusammenbruch unseres Wirtschaftssystems unvermeidlich sei und dass wir diesen mit Humor zu tragen hätten, auch wenn wir uns bald auf einem drastisch niedrigeren Versorgungsniveau wiederfinden würden (Paech, 2012, S. 316). Das kapitalistische System von Produktion und Konsum ließe sich aber auch durch einfachere Schritte verändern. Etwa durch »Regionalisierung«. Die Menschen müssen sich daran gewöhnen, ihren Unterhalt in ihrer unmittelbaren Umgebung herzustellen. Das gilt vor allem für die Lebensmittelproduktion, die durch »urban gardening« erfolgen könnte. Damit würden die endlosen Massentransporte über weite Distanzen mit ihrem gewaltigen Schadstoffausstoß vermieden. Aber noch mehr, teilweise könnte es sich als sinnvoll erweisen, die Geldwirtschaft abzuschaffen und wieder zum Naturaltausch zurückzukehren, weil damit auch die Warenbeziehung der Menschen durch eine wahrhaft humane ersetzt würde usw. usw.
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Es mag erstaunlich wirken, dennoch scheint es sinnvoll, zum Abschluss all dieser Erörterungen überhaupt den Begriff »Wachstum« zu klären, nämlich sein Entstehen, seine Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung, für die ökonomische Theorie, für die Wirtschaftspolitik sowie deren Mechanik. Wirtschaftswachstum hat es in irgendeiner Form seit dem Neo lithikum gegeben. Aber erst seit der Industriellen Revolution gewann es seinen spezifischen Charakter, wie diesen Kuznets mit dem Begriff »Modern Economic Growth« herausgearbeitet hat (Kuznets, 1966). Er bezeichnete damit eine stetige ökonomische Expansion, welche auch durch kurzfristige Rückschläge nicht behindert werden kann. Denn Letztere erwiesen sich als Charakteristikum der vorindustriellen Wirtschaftsentwicklung. Phasen vergleichsweise geringen Wachstums wurden durch endogen oder exogen verursachte Einbrüche wieder zunichtegemacht. Seit 200 Jahren kann man von einem so bezeichneten Prozess in den Industriestaaten sprechen. Wiewohl die wirtschaftliche Expansion sich an verschiedenen statistischen Reihen ablesen ließ – und auch abgelesen wurde – sowie ökonomische Potenz in den politischen Rivalitäten dieser Zeit eine große Rolle spielte, wurde dieser Prozess in seiner Gesamtheit und Stetigkeit nicht wahrgenommen. In der ökonomischen Theorie lag das Schwergewicht der Forschung in den Konjunkturschwankungen. Dies kann nicht überraschen, weil Krisen die Entwicklung immer wieder unterbrachen und die beiden Weltkriege die Volkswirtschaften weit zurückwarfen. Auch die unmittelbare Nachkriegsepoche wurde dadurch charakterisiert, dass sich die Wirtschaftspolitik zunächst auf den »Wiederaufbau« konzentrierte, mit dem Ziel, das »Friedensniveau« wieder zu erreichen. Dieser vollzog sich in Westeuropa dank der amerikanischen Wirtschaftshilfe, vor allem des »Marshallplans«, in bemerkenswertem Tempo. Um 1950 scheint fast überall in Westeuropa dieses Ziel erreicht worden zu sein. Angesichts der noch immer sehr hohen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts – inzwischen war auch die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung etabliert worden – wandte sich auch die
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nationalökonomische Theorie intensiver dem Wachstumsphänomen zu. Diese neue Entwicklung war mit den Namen Harrod und Domar sowie Solow verbunden. Letzterer führte den technischen Fortschritt in diese Diskussion ein. Damit war der Bann gebrochen und 20 Jahre lang überschwemmten Wachstumsmodelle die Journale. Ähnliches galt für die Wirtschaftspolitik. Auch sie war sich nunmehr dieses Prozesses bewusst geworden und tat alles, um ihn zu intensivieren. Internationale Vergleiche wurden angestellt, man verfolgte die »growth race«. Wenn jemals, dann kann man während des »Goldenen Zeitalters« von einem »Wachstumswahn« sprechen, denn für alle Zeitgenossen lagen die Vorteile dieser Entwicklung klar auf der Hand. Die öffentliche Meinung trug dieser Einstellung Rechnung. Anfang der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts ging diese Phase zu Ende, und auch wirtschaftspolitische Eingriffe vermochten daran nichts zu ändern. Als Symbol dafür erwies sich die Wiederkehr der Arbeitslosigkeit. Die umfangreiche Diskussion über die Ursachen dieses Entwicklungsbruches identifizierte exogene Schocks, wie die Erdölpreissteigerung, aber auch Veränderungen des institutionellen Umfelds, wie sie sich im Gefolge der Publikationen des Club of Rome ergaben. Die Intellektuellen nahmen wieder die klassische wirtschaftsfeindliche Position ein, die nunmehr primär durch die Verabsolutierung der Umweltprobleme und der Begrenztheit von Ressourcen, später durch die grundlegende Ablehnung der Marktwirtschaft, genauer des kapitalistischen Wirtschaftssystems, ihren Ausdruck fand. Diese institutionelle Veränderung trug gewiss zur Verlangsamung des Wachstums bei, insbesondere durch die dargelegten umweltpolitischen Maßnahmen, doch auch durch das Entstehen einer wirtschaftsund technikfeindlichen Atmosphäre. Das hieß jedoch nicht, dass die Regierungen nicht einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts anstrebten, vor allem um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren ; umso mehr als sich Versuche, dieses Ziel durch Arbeitszeitreduktionen zu erreichen, in Frankreich nicht bewährt hatten. Wirtschaftswachstum wurde also instrumental betrachtet – was ja auch den realen Gegebenheiten entspricht. Von einem »Wachstumswahn« oder einer »Wachstumsreligion«, wie das
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von der wachstumskritischen Folklore wiedergegeben wird, kann also seit vielen Jahrzehnten keine Rede mehr sein. Daraus ergibt sich abermals, dass die Konzepte jener Autoren, die meinen, man müsse nur die Regierungen überzeugen, dem Wachstumswahn zu entsagen, dann eröffne sich die Welt der stationären Wirtschaft – allenfalls müsse man noch die Bevölkerung zu einem neuen, bescheidenen Leben bekehren –, vollkommen verfehlt sind. Insofern repräsentiert der Ansatz Jacksons eine weit realistischere Sicht der Dinge, die den Schwierigkeiten eines derartigen Projekts eher gerecht wird. Wenn auch dieses hier dennoch in Frage gestellt wurde, dann deshalb, weil die angebotene Lösung des Problems – aus den zuvor geschilderten Gründen – unzulänglich erscheint. Natürlich könnte man sich immer wieder damit beruhigen, dass die Vorstellungen der Wachstumskritiker so weit von jeglicher Realität entfernt sind, dass man sich keine allzu großen Sorgen machen müsste. Das trifft gewiss teilweise zu. Keine Regierung wird in der Organisation ihrer Wirtschaft ernsthaft die Vorstellungen der Wachstumskritiker realisieren wollen und noch weniger wird es gelingen, die Verhaltensweisen der Menschen zu verändern. Darin lässt sich nirgendwo auch nur der Hauch eines Wandels feststellen, nicht einmal unter Intellektuellen. Im Gegenteil, die Finanzmärkte erlebten ja in jüngerer Zeit Exzesse des Strebens nach Einkommensmaximierung, und von einer Gewerkschaft, die keine Reallohnsteigerungen fordert, hat man noch nie etwas gehört. Überdies sind im Weltmaßstab die meisten Kontinente aufgebrochen, um den kapitalistischen Lebensstil zu übernehmen. Nordkorea ist die letzte existierende Planwirtschaft ! Wenn hier auch die Wachstumskritik als irrelevant und unrealistisch betrachtet wird, ist damit nicht gesagt, sie sei wirkungslos. Tatsächlich zeitigt sie all jene negativen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung Europas, die im Vorstehenden dargelegt wurden. Aber es geht nicht nur um die konkreten umweltpolitischen Maßnahmen und deren Auswirkungen, sondern auch um die Atmosphäre, die in Europa entstanden ist : »Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Problem der modernen europäischen Gesellschaften. Man ist wohlstandsmüde, fortschritts- und
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technologieskeptisch geworden, und das in dem Maße, dass man sich in ›Heilslehren und Endzeiterwartungen‹ flüchtet … Dennoch stehen natürlich auch moderne Gesellschaften auf einer wirtschaftlichen Basis, die von technischer Entwicklung, steigender Produktivität und – ja selbstverständlich – auch von hohem Energiekonsum bestimmt ist. Die Politik ist offensichtlich nicht im Stande, diesen Widerspruch sichtbar zu machen. Noch weniger ist sie im Stande, ihn aufzulösen« (Nowotny, 2014, S. 50). Die vorliegende Studie sollte einen Beitrag dazu leisten, diese Problematik sichtbar zu machen. Freilich gibt sich der Autor nicht der Illusion hin, die Einstellung der Intellektuellen ändern zu können. Das erweist die historische Entwicklung und wird auch von Vater und Sohn Skidelsky so gesehen : »Die Forderung der Umweltschützer nach einer Verringerung des Wachstums lässt sich nicht als pragmatische Reaktion auf bekannte Fakten erklären. Darin kommt eine Leidenschaft zum Ausdruck, eine Inbrunst, die sich nicht um Fakten schert. Als Marx’ ökonomische Vorhersagen durch den Gang der Ereignisse widerlegt wurden, kümmerte das seine Anhänger nicht. Ebenso wenig werden die radikalen Klimaschützer ihren Widerstand gegen Langstreckenflüge und Geländewagen aufgeben, sondern immer neue Argumente finden, um ihre Verzichtsforderungen zu rechtfertigen. Die Umweltschutzbewegung ist eine Glaubenslehre, keine Wissenschaft« (Skidelsky – Skidelsky, 2013, S. 181). Ein mögliches Missverständnis sollte hier ausgeschlossen werden. Diese Studie darf nicht als neoklassisches Plädoyer für ein Wirtschaftssystem verstanden werden, dessen sämtliche Probleme durch das ungestörte Wirken der Marktkräfte gelöst werden könnten. Zahllosen Schwierigkeiten muss begegnet werden und zwar mit unterschiedlichen Instrumenten, seien sie jetzt marktkonform oder nicht. Bleibt letztlich noch die häufig gestellte Frage : Wird die heutige ökonomische Entwicklung ewig so weitergehen ? Da der Verfasser nicht dem IPCC angehört, fühlt er sich nicht legitimiert, Prognosen für ein Jahrhundert und mehr zu erstellen. Er kann nur darauf hinweisen, dass aufgrund der historischen Entwicklung, welche in dieser Arbeit einge-
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hend dargestellt worden ist, sich bisher nichts abzeichnet, das auf eine Änderung des in Europa entstandenen Wirtschafts- und Sozialsystems hinweist. Aber gewiss, andere Autoren empfinden das nicht so. So sieht etwa Rifkin eine lichte Zukunft durch eine fundamentale Wandlung von Wirtschaft und Gesellschaft schon in absehbarer Zeit (Rifkin, 2014). Die Charakteristika dieses Systems liegen zunächst in einer kompletten Vernetzung von Personen und Sachen. Diese wird nicht nur durch einen breiten Fluss von Informationen ermöglicht, sondern auch durch den Einsatz von Sensoren, welche automatisch Aktivitäten zugunsten der Konsumenten auslösen. Der Prozess wird durch eine extreme Produktivitätssteigerung erleichtert, welche die Grenzkosten der Produktion in die Nähe von Null drückt und daher die Erzeugnisse beträchtlich verbilligt (daher auch der Buchtitel : Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft). Das mag zwar zu einer Beschränkung der Privatsphäre führen, doch sei diese ohnehin nur eine Erfindung des Kapitalismus. Zuvor habe man viel verbundener gelebt. Aber diese außerordentliche Produktivitätssteigerung kommt abermals durch das Internet zustande, indem die Güter durch 3-D-Druck hergestellt werden. Eine solche Produktionsmöglichkeit ergibt sich keineswegs nur für simple Erzeugnisse, sondern reicht von Häusern bis zu Autos. Das aber bewirkt einen grundlegenden Wandel der Produktionsstruktur, weil es nunmehr keine hochkonzentrierte, hierarchische Massenerzeugung gibt, sondern eine »Produktion durch die Massen«, durch »Prosumenten«. Die hierfür erforderliche Energie wird auf dem gleichen Weg dezentral durch regenerative solche bereitgestellt, was praktisch auch die Lösung des Umweltproblems bedeutet, da es dann keinen Schadstoffausstoß mehr gibt. Damit geht aber auch die Nachfrage nach Arbeitskräften zurück und zwar nicht nur für die Gütererzeugung, sondern auch für den Bereich der Dienstleistungen. Letztlich wandelt sich allmählich die traditionelle Wirtschaft der Knappheit in eine solche des Überflusses. Diese Gegebenheiten führen jedoch auch zu fundamental neuen Verhaltensweisen. Man konkurriert nicht mehr, sondern man arbeitet zusammen. Es entsteht eine Gesellschaft der »Kollaboratisten«. Diese
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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
benötigt auch nicht mehr Privateigentum, sondern nur den Zugang zu Gütern und Leistungen. Man mietet, tauscht oder teilt mit anderen alles, vom Auto bis zur Krawatte. Die hierarchische Spezialisierung findet ein Ende, auch in der Medizin. Es entsteht ein »patientengeführtes Gesundheitswesen«. Durch all das entwickelt sich eine neue »Sozialwirtschaft«, »kollaborative Commons«. Und all das ist kein vages Zukunftsgemälde, denn : »Die Kollaboratisten rüsten zur Schlacht« (Rifkin, 2014, S. 254). An anderer Stelle freilich meint Rifkin, es werde noch vierzig Jahre dauern und einen gewaltigen Aufwand an Kapital und Arbeit erfordern, um zu diesem neuen System zu gelangen (Rifkin, 2014, S. 390). Nun birgt zwar das Internet der Dinge gewiss große Entwicklungschancen, ansonsten jedoch scheint es, als ob die Entscheidungsschlacht, welche zum Ende des Kapitalismus führen wird, noch auf sich warten ließe. Und solange diese Welt eines überdimensionierten Kibbuz oder eines ebensolchen Klosters nicht existiert, und solange die Menschen trachten, ihre Einkommenssituation zu verbessern und – null Grenzkosten hin oder her – Unternehmer Profit erzielen können, wird es eines wirtschaftlichen Koordinationssystems bedürfen, das die Allokation der Ressourcen sicherstellt, also bestimmt, was, wie viel, wie und von wem und für wen zu produzieren sei. Angesichts des Umstandes, dass für eine Industriegesellschaft prinzipiell nur zwei ökonomische Koordinationssysteme denkbar sind, nämlich Markt und Plan, schiene es, wollte man von der Marktwirtschaft abgehen, unumgänglich, eine Form der Planwirtschaft einzuführen – wobei sich die Frage stellt, wie weit eine solche ökonomische und gesellschaftliche Ordnung mit unserem freien und individualistischen, politischen System vereinbar wäre.
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Sachregister
68er-Revolution 19, 57, 60 Afrika 26, 45, 46 Alpengletscher 83 Alternativenergien 130 Anstieg des Meeresspiegels 85, 99, 101, 114 Antike 25, 30, 35, 43, 56, 116, 119, 120, 122, 124 Arbeit 9, 12, 28, 30 – 32, 35, 42, 56, 58, 62, 64, 69, 76, 77, 80, 84, 89, 111, 116, 117, 122, 125, 138, 140 Arbeiterschaft 13 Aufklärung 38, 44, 57, 116 Basic goods 76 Brundtland-Kommission 89 Bruttoinlandsprodukt 15, 16, 26, 45, 69, 71 – 73, 75, 104, 135, 136 Budgetdefizit 15 China 18, 26, 45, 46, 107, 125, 131 Club of Rome 10, 11, 20, 23, 93, 126, 136 Deutscher Sozialismus 65, 67, 74 Easterlin-Paradoxon 76, 118, 121 Einkommensmaximierung 35, 50, 51, 59, 137 Emissionsrechte 105 Emissionszertifikate 94, 107, 108, 130 Emissionszertifikaten 106 Energiewende 94, 113 Entindustrialisierungspolitik 131 Erdölkrise 14, 16, 41 Erneuerbare Energien 79, 94, 107, 108, 112 Erziehungsdiktatur 130, 133 Europäische Union (EU) 13, 17, 18, 91, 94, 104, 106, 108, 113, 130, 131, 133 Experten 55, 56, 92 Expertenintellektuelle 55
Feudalismus 32, 33 Frankfurter Schule 19, 57 Gesellschaftsstruktur 25 Gewerkschaft 13, 18, 24, 137 Globale Erwärmung 11, 78, 80, 82, 84, 86 – 88, 93, 96, 98 – 102, 111, 113 Goldenes Zeitalter 13, 52 Gothic revival 59, 65 Green employment 92, 113 Green growth 92, 113 Green Jobs 110, 111 Hippie-Kultur 57 Humanismus 35, 38 Indien 26, 45, 46 Industrialisierung 32, 34, 43, 45, 58, 59, 65, 83, 131 Industriestaaten 13 – 15, 19, 59, 74, 75, 99, 104, 106, 115, 116, 124, 127, 128, 135 Institutionenstruktur 38, 44 – 46 Intellektuelle 19, 20, 24, 54 – 58, 60, 61, 93, 97, 116, 133, 136 – 138 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 83 – 85, 87, 93, 95, 96, 101, 111, 115, 138 Islam 43, 44 Japan 18, 26, 45, 105, 106 Kanonisches Zinsverbot 116 Kapitalismus 10, 24, 25, 32, 41, 46 – 48, 52, 54, 57, 59, 60, 62, 63, 65 – 68, 73 – 75, 78, 83, 84, 91, 104, 119 – 121, 127, 128, 130, 131, 139, 140 Kapitalistisches System 10, 20, 78, 116, 124, 134 Kapitalistische Wirtschaft 9, 11, 19, 22, 25, 29, 39, 48, 92, 96, 127, 136
148 Kirche 32, 34, 35, 57, 58 Kommunismus 62, 74 Konsumismus 9, 74, 119 Konsumterror 19, 57 Kyoto-Protokoll 94, 104, 106 Lebenszufriedenheit 71, 75, 76, 116 – 119 Marktwirtschaft 11, 22, 25, 39, 47, 49, 50, 66, 127, 130, 133, 136, 140 Marshallplan 135 Marxismus 57 Merkantilismus 36, 40, 116 Mittelalter 32, 34, 37, 38, 43, 44, 47, 56 – 58, 120 Modern economic growth 135 Nachhaltigkeit 66, 88 – 92 Neoklassik 58 Neoklassische Theorie 16 Neue Institutionenökonomie 24 Neue Makroökonomie 79, 127 New deal 57, 58 Ökologische Schranke 11, 76, 82, 115 Planwirtschaft 49, 50, 53, 66, 129, 133, 134, 137, 140 Polkappen 85, 98, 99 Privateigentum an Produktionsmitteln 52, 66, 128 Rationierungssystem 51 Rechtssicherheit 28, 33, 36 Renaissance 38, 44 Rheinischer Kapitalismus 60, 130 Rom 28, 56, 57 Römisches Reich 28 – 30 Soziale Sicherheit 13, 124, 130 Sozialismus 44, 62, 65, 67, 74 Sozialpartnerschaft 14 Stadt 33, 43, 70, 125 Stagflation 13, 15 Technischer Fortschritt 22, 29, 39, 42, 44, 104, 112
Sachregister Temperaturanstieg 83 – 85, 93, 98, 99, 101 Temperaturschwankungen 83 Transaktionskosten 28, 34, 42 Trockenheit 97, 101, 113, 131 Umwelt 10, 11, 24, 70, 71, 88 – 92, 96, 104, 130 Umweltbewegung 19, 20, 23, 57 Umweltfonds 114 Umweltpolitik 11, 82, 91, 98, 100, 103, 104, 108, 109, 111, 113 – 115, 130, 131, 133 Umweltverschmutzung 21, 22 Unternehmer 14, 24, 29, 37, 42, 48, 51, 53, 58, 59, 62, 92, 108, 127, 140 Verhaltensweisen 9 – 11, 24, 37, 48 – 50, 54, 63, 67, 75, 77, 79 – 81, 90, 91, 115 – 117, 120, 121, 124 – 126, 128, 132, 137, 139 Voestalpine 107 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 69, 135 Wachstumskritik 10, 20, 61, 67, 74, 83, 88, 95, 116, 122, 125, 126, 131 – 133, 137 Wachstumswahn 136, 137 Wachstumswende 127, 133 Wahres Bewusstsein 132 Wettbewerb 39, 42, 48, 49, 74, 80, 121 Wirtschaftspolitik 16, 18, 37, 58, 66, 74, 77, 90, 95, 99, 135, 136 Wirtschaftswachstum 9, 10, 13, 15, 17, 18, 29, 41, 52, 53, 73 – 76, 78, 83, 88, 108, 112, 114, 115, 127, 130, 133, 135, 136 Wohlbefinden 69, 72, 75, 76, 117, 118 Wohlfahrtsindikatoren 69 Wohlfahrtskapitalismus 13 Zweiter Weltkrieg 13, 51, 52, 54, 66, 67, 69, 104, 128
Personenregister
Adorno, Theodor W. 19, 57 Al-Ghazali, Abū Hāmid Muhammad 43 Aquin, Thomas von 31, 58 Arrows, Kenneth 72 Augustinus 31 Bacon, Francis 38 Brahe, Tycho de 38 Calvin, Johannes 32 Domar, Evsey D. 136 Forrester, William 20 – 22, 25 Friedrich II 38 Franziskus 93 Galilei, Galileo 38 Harrod. Roy F. 136 Hayek, Friedrich August von 39 Horkheimer, Max 57 Jackson, Tim 9, 22, 48, 74, 75, 77 – 81, 83, 127 – 129, 132, 134 Jelinek, Elfriede 54 Joseph II 38 Kahneman, Daniel 72 Kapp, Karl William 69 Kepler, Johannes 38 Keynes, John Maynard 67, 68, 74, 76, 77, 81, 119, 122 Kopernikus, Nikolaus 39 Krugman, Paul 55 Kuznets, Simon Smith 28, 29, 135
Marcuse, Herbert 19, 57 Marx, Karl 9, 46, 62, 63, 73, 76, 122, 138 Meadows, Dennis L. 10, 20, 22, 23, 25, 88 Mill, John Stuart 10, 61, 62, 73, 81 Newton, Isaac 39 Nietzsche, Friedrich 57 Nordhaus, William D. 69, 70 Pigou, Arthur Cecil 69 Rogoff, Kenneth S. 56 Sartre, Jean-Paul 54 Savonarola, Girolamo 58 Schumpeter, Joseph 55, 119 Sen, Amartya 72 Skidelsky, Edward und Robert 22, 74 – 77, 93, 118, 138 Smith, Adam 28, 73, 75 Solow, Robert M. 125, 136 Sombart, Werner 31, 63 – 67, 74, 80, 81, 122, 129, 132 Stephenson, George 40 Stieglitz, Joseph 56, 72 Stone, Richard 70 Tobin, James 69, 70 Trevithick, Richard 40 Watt, James 39
FELIX BUTSCHEK
ÖSTERREICHISCHE WIRTSCHAFTSGESCHICHTE VON DER ANTIKE BIS ZUR GEGENWART
Die Wirtschaftsentwicklung im Gebiet der heutigen Republik Österreich wurde durch die politischen Gegebenheiten bestimmt. Obwohl im Mittelalter kräftige Impulse vom Bergbau ausgingen, war es letztlich die Hauptstadtfunktion Wiens, welche die Entwicklung vorantrieb. Es war auch diese Region, die den Auf bruch des Merkantilismus initiierte ebenso wie den Beginn der Industrialisierung, welche letztlich ins „Silberne Zeitalter“ vor dem 1. Weltkrieg führte. Die zusammenbrechende Habsburger Monarchie hinterließ einen Kleinstaat, der zu einem der ärmsten unter den westlichen Industriestaaten wurde. Die Zeit nach 1945 erlebte dagegen eine dramatische Expansion der österreichischen Wirtschaft, welche die Republik Österreich zu einem der reichsten Staaten der EU und damit der Welt überhaupt machte. 2., DURCHGES. AUFL. 2012. 616 S. 150 TAB. UND GRAF. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78880-5
„Ein Standardwerk.“ Salzburger Nachrichten
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JENS IVO ENGELS, ANDREAS FAHRMEIR, FRÉDÉRIC MONIER, OLIVIER DARD (HG.)
KRUMME TOUREN IN DER WIRTSCHAFT ZUR GESCHICHTE ETHISCHEN FEHLVERHALTENS UND SEINER BEKÄMPFUNG
»Krumme Touren« in der Wirtschaft werden in der aktuellen Debatte oft bemängelt. Doch wer zieht die Grenzlinie zwischen legitimem und illegitimem Verhalten von Unternehmern und Firmen? Diese Fragestellung verfolgen die Autoren des Bandes anhand von europäischen Beispielen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Dabei zeigt sich, dass unternehmerische Handlungsnormen weder konstant noch unumstritten waren. Die Beiträge richten den Blick auf öffentliche Kritik und Skandale, Gerichtsprozesse, unternehmerische Selbstregulierung und staatliche Maßnahmen. Dabei tritt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Gewinnmaximierung einerseits und Werten wie Gemeinwohl, Transparenz oder politischen Idealen andererseits zutage. 2015. 215 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22508-7
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