Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Positionen und Perspektiven 3515098542, 9783515098540

Kultur hat Konjunktur. Als wissenschaftliche Disziplin erleben die Kulturwissenschaften einen regen Zulauf, und in den G

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German Pages 186 [188] Year 2011

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
ZUR EINFÜHRUNG
EXPANDIEREN UND VERNETZEN
DIFFERENZIERUNG UND SPEZIALISIERUNG IM FERNHANDEL DES 17. UND 18. JAHRHUNDERTS
NETZWERKHANDELN UND UNTERNEHMENSFÜHRUNG BEI PAUL REUSCH
„FAMILIE“ UND „STAND“ ALS LEITLINIEN ADELIGEN UNTERNEHMERTUMS IN EINER ZEIT DES UMBRUCHS
BILDERWELTEN, MARKENGESICHTER UND MARKTGESETZE – WERBUNG UND PRODUKTPOLITIK DER REEMTSMA CIGARETTENFABRIKEN ZWISCHEN 1920 UND 1960
PRODUKTKOMMUNIKATION ALS „BRÜCKENSCHLAG“ ZWISCHEN WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE
KARTOFFEL ODER SEIDE? KULTURELLE IMPLIKATIONEN AGRARISCHER INNOVATIONEN IN DER FRÜHNEUZEITLICHEN EIDGENOSSENSCHAFT
WIRTSCHAFT – KULTUR – GESCHICHTE: POSITIONEN UND PERSPEKTIVEN
VERZEICHNIS DER AUTOREN
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Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Positionen und Perspektiven
 3515098542, 9783515098540

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Susanne Hilger / Achim Landwehr (Hg.) Wirtschaft – Kultur – Geschichte

Susanne Hilger / Achim Landwehr (Hg.)

Wirtschaft – Kultur – Geschichte Positionen und Perspektiven

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09854-0

INHALTSVERZEICHNIS Susanne Hilger/Achim Landwehr Zur Einführung. Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Stationen einer Annäherung .............................................................................. 7 Margrit Schulte Beerbühl Expandieren und Vernetzen: Die Handelsstrategie deutscher Kaufmannsfamilien im ersten globalen Zeitalter (1660–1800) ...................... 27 Stefan Gorißen Differenzierung und Spezialisierung im Fernhandel des 17. und 18. Jahrhunderts. Zur Bedeutung des Kommissions- und Speditionshandels ............. 45 Christian Marx Netzwerkhandeln und Unternehmensführung bei Paul Reusch. Aspekte der Corporate Governance im Konzernaufbau der Gutehoffnungshütte (1918–1924) ................................................................... 65 Oliver Schulz „Familie“ und „Stand“ als Leitlinien adeligen Unternehmertums in einer Zeit des Umbruchs: das Beispiel der Familie von Elverfeldt aus der Grafschaft Mark .............................................................................................. 91 Sandra Schürmann Bilderwelten, Markengesichter und Marktgesetze – Werbung und Produktpolitik der Reemtsma Cigarettenfabriken zwischen 1920 und 1960 ............................................................................... 111 Elena Brenk Produktkommunikation als „Brückenschlag“ zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte – Das Beispiel der Kosmetikmarke Toscana zu Beginn der 1960er Jahre ............................................................................................ 133 André Holenstein Kartoffel oder Seide? Kulturelle Implikationen agrarischer Innovationen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft .................................................. 157

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Inhaltsverzeichnis

Achim Landwehr Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Positionen und Perspektiven .................. 175 Autorenverzeichnis ............................................................................................ 185

ZUR EINFÜHRUNG Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Stationen einer Annäherung Susanne Hilger/Achim Landwehr Kultur hat Konjunktur – nicht nur als Schlagwort in den öffentlichen Medien. Auch als wissenschaftliche Disziplin in Forschung und Lehre erleben die Kulturwissenschaften einen regen Zulauf. Selbst in den sich lange resistent gebenden Wirtschaftswissenschaften hat der cultural turn mittlerweile Einzug gehalten. In Ergänzung zu der stark idealisierten Sichtweise ökonomischer Modelle werden in jüngster Zeit vermehrt kulturell geprägte Faktoren wie Werte, Emotionen, Vertrauen oder Glück in die empirischen Betrachtungen einbezogen. Dies unterstreicht beispielsweise der aus dem angelsächsischen Raum kommende Trend, das traditionell als Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verwendete Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch nationale „Wohlergehensindizes“ zu ergänzen, wie beispielsweise den amerikanischen Measure of Economic Welfare (MEW), der das Bruttoinlandsprodukt (BIP) abzüglich der Kosten für Umwelt und Kriminalität bezeichnet.1 In der Wirtschaftsgeschichte hat die „kulturalistische Wende“ erst mit einem deutlichen timelag eingesetzt. Dem ökonomischen rational choice-Modell verpflichtet, stand und steht ein Teil der deutschen Wirtschaftshistorikerinnen und historiker der heuristischen Bedeutung von Kultur nach wie vor skeptisch gegenüber. Folgerichtig findet der Betrachtungsgegenstand in den aktuellen Einführungen in die Wirtschaftsgeschichte bislang kaum Berücksichtigung.2 Das gegenseitige Desinteresse lässt sich historisch herleiten und führte in letzter Konsequenz zu einer überwiegend klaren inhaltlichen und methodischen Trennung. Es geht zurück auf den so genannten Methodenstreit in der Nationalökonomie, einer Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre, die Ende des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum geführt wurde.3 Er trug dazu bei, dass sich die Ökonomie zunehmend zu einer abstrakt-theoretischen Wissenschaft entwickelte, die mit deduktiven Methoden und mit stark idealisierten Modellen

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Siehe zum VSWG-Themenband 2007 „Kultur in der Wirtschaftsgeschichte“ Grabas: Kultur, S. 173. Siehe dazu beispielhaft: Pierenkemper: Einführung, S. 5–13; Walter: Wirtschaftsgeschichte; ders.: Einführung. Vgl. Ziegler: Paradigmenwechsel, S. 86–94. Zur Bedeutung Gustav Schnmollers siehe u. a.: Küssner: Institutionenlehre.

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operiert. Allerdings erfordert der Einsatz von mathematischen Methoden „axiomatische Prämissen“, also „Versuchsanordnungen mit strikten Regelmäßigkeiten, die in der empirischen Realität nur selten anzutreffen sind.“4 Für die Perfektionierung dieser Methodik zahlte die Ökonomie einen hohen Preis, nämlich den Verlust der zeitlichen Dimension5 und eine „radikale Einschränkung der Fragestellungen“ (Knut Borchardt). In der Tat führte der abstrakte Reduktionismus der ökonomischen Methode zu einer Vernachlässigung der komplexen Interaktion ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Faktoren. Während Modelle sich den endogenen Faktoren, den „harten“ Fakten, widmen, werden nicht operationalisierbare Einflussgrößen als exogene, „weiche“ Faktoren, nicht berücksichtigt und bestenfalls als „wirkende Restgröße“ an den Rand der Betrachtungen gestellt.6 Diese methodologische Unterscheidung in einen endogenen (Ökonomie) und einen exogenen Bereich (Nicht-Ökonomie) trennt nicht nur disziplinäre Inhalte, sondern auch die Existenzweisen der Fächer in der Realität.7 Dahinter scheinen geradezu weltanschauliche Differenzen zu stehen. Macht die Ökonomie den Eindruck, lediglich Fragen der Gewinnmaximierung verpflichtet zu sein, so sehen sich Kulturwissenschaftler demgegenüber ethischen, ästhetischen oder epistemischen Prinzipien verpflichtet und auf zivilisatorische Entwicklungen fokussiert.8 Lässt sich auf der einen Seite von einer „Enthistorisierung“ der Ökonomie sprechen, so ist auf der anderen Seite zu beklagen, dass sich die Geschichtswissenschaft mit dem cultural turn ihrerseits vielfach von der Ökonomie abgewendet hat.9 Damit erscheinen wirtschaftliche Belange aus der Kulturgeschichte weitgehend ausgeblendet.10 In Abkehr von dem lange vorherrschenden sozialhistorischen Paradigma fragte die Kulturgeschichte nun nach Sinndimensionen, mit denen Gesellschaften der Vergangenheit ihre Wirklichkeit ausstatteten. Die aus dem angelsächsischen Raum stammende „new cultural history“, die in den 1990er Jahren zu einem Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft avancierte,11 hat sich dementsprechend zahlreiche neuartige Themenfelder erschlossen, deren Bandbreite von der Diskurs-, Mentalitäts-, Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte bis zur Geschichte des Körpers, der Geschlechtergeschichte und der historischen Anthropologie reicht.12 Die zuvor vielfach vernachlässigten subjektiven, symbolischen

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Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 9. Vgl. Dopfer: Ökonomie, S. 55. Vgl. Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 9. Vgl. Dopfer: Ökonomie, S. 56. Dazu Landwehr: Kulturgeschichte, S. 110. Vgl. Konrad: “How much Schatzi?” S. 44. Siehe dazu beispielhaft: Daniel: Kompendium. Siehe dazu u. a.: Hunt (Hg.): New Cultural History. Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 11; zur theoretischen Hinwendung der neuen Kulturgeschichte siehe, neben dem erwähnten Band von Landwehr: Bonnell/Hunt (Hg.): Beyond the cultural Turn; Daniel: Kompendium; Habermas/Minkmar (Hg.): Schwein; Schildt: Kulturgeschichte; Bachmann-Medick: Cultural turns.

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und alltäglichen Dimensionen des Historischen werden betont, während die wirtschaftlich-materiellen Grundlagen zunehmend ausgeblendet werden. An die Stelle des utilitaristischen Prinzips der Ökonomie treten in diesen Studien komplexe Formen der Bedeutungsgenerierung sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung, einer auf symbolischen oder sonstigen kulturellen Deutungssystemen beruhenden, gerade nicht rational messbaren Handlungslogik. Im Gegensatz zur Wirtschaftsgeschichte bedient sich die neue Kulturgeschichte somit verstärkt hermeneutischer und diskursanalytischer Verfahren der Untersuchung von Bildern, Texten und Praktiken, um die kulturell genormten kollektiven Handlungsmuster und Diskurse de- und rekonstruieren zu können. Anstatt auf theoretische Reduktion, wie es die Ökonomie einfordert, zielt die Kulturgeschichte mit ihren Maximen geradewegs auf das Gegenteil, nämlich auf eine Rekonstruktion von Komplexität ab.13 Diese Herangehensweise führt zuweilen jedoch dazu, dass sich die Kulturgeschichte aktuellen öffentlichen Diskussionen zu entziehen scheint. Während sich die historische Forschung traditionell von prägenden Gegenwartserfahrungen stimulieren lasse und aktuelle Fragen als Anregungen für die Befragung der Vergangenheit nutze, blende sie seit dem cultural turn wesentliche Menschheitsprobleme des 21. Jahrhunderts weitgehend aus. Der dynamische Prozess der Globalisierung bleibe ebenso außerhalb ihres Forschungsinteresses wie die fortschreitende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, so betonten Hartmut Berghoff und Jakob Vogel.14 Eine Betrachtung kultureller Komplexität kann indessen ohne Berücksichtigung wirtschaftlicher Zusammenhänge nicht auskommen, weil dadurch zentrale Grundlagen menschlichen Lebens ausgeblendet werden und ein wichtiger Produzent kultureller Sinnbildung unberücksichtigt bleibt. Darüber hinaus, so ein weiterer zentraler Vorwurf, habe sich die Kulturgeschichte aufgrund ihrer Fokussierung auf einzelne, scheinbar beliebig ausgewählte, historische Begebenheiten des Alltags oder diskursgeschichtliche Analysen ihrer Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen und vor allem des öffentlichen Interesses selbst beraubt.15 Gerade die Diskursanalyse, so hob abermals Hartmut Berghoff hervor, die ohne Positionsbestimmung der Sprechenden und ihrer Interessen auszukommen meine oder gar ohne jeden Bezug zu den handelnden Subjekten den Diskurs als losgelöstes Phänomen auffasse, erscheine für heutige Fragestellungen und Diskussionen belanglos.16 Um sich in der jeweiligen fachwissenschaftlichen Umwelt zu behaupten und die Nähe zu den beiden Mutterdisziplinen der Ökonomie auf der einen und der Geschichtswissenschaft auf der anderen Seite nicht zu verlieren, ist von der Wirtschaftsgeschichte methodische Anpassungsfähigkeit gefragt. Vernachlässigt sie, dass jedes Wirtschaftssystem und alles ökonomische Handeln auf Sinnkonstrukti-

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Vgl. Pierenkemper: Einführung, S. 8. Siehe Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 12. Vgl. dazu Berghoff: Kultur in der Wirtschaftsgeschichte, S. 181. Vgl. ebd.

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onen basiert, und folglich also kulturschaffend wirkt, bleibt sie defizitär.17 Wirtschaftsgeschichte muss die Orientierungs- und Einbettungsleistung der Kultur für ökonomisches Handeln anerkennen. Nur so kann sie ihrer integrativen Rolle gerecht werden und sowohl für Ökonomen als auch für Historiker gleichermaßen attraktiv sein. Nur indem sie sich neuen Forschungsfeldern öffnet und nicht apodiktisch an einem tradierten Wissenschaftscredo festhält, kann sie ihre Attraktivität an den philosophischen wie auch an wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten erhalten. Durch kulturwissenschaftliche Kompetenz wäre die Wirtschaftsgeschichte in der Lage, die „handlungstheoretische Wende“ der Wirtschaftswissenschaften auch historisch zu fundieren.18 Hartmut Berghoff und Jakob Vogel beklagten noch im Jahr 2004 die fehlende Konvergenz von Wirtschafts- und Kulturgeschichte, die sich wie keine der anderen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft sowohl in inhaltlichen als auch in methodischen Fragen auseinanderentwickelt hätten.19 Allerdings ist seither eine zunehmende Anzahl von „Brückenschlägen“ zwischen den beiden genannten Subdisziplinen erkennbar geworden. Federführend wirkten neben Hartmut Berghoff Wirtschaftshistoriker wie Jakob Tanner20 oder Clemens Wischermann,21 die einen Anschluss an den mainstream in der Geschichtswissenschaft suchten, nicht zuletzt, um dem an den philosophischen Fakultäten erkennbaren Schwund der Wirtschaftsgeschichte entgegen zu wirken. Im Gegenzug scheinen in jüngster Zeit zunehmend auch Kulturhistoriker und Kulturhistorikerinnen die Bedeutung wirtschaftlicher Fragen für ihren Betrachtungsgegenstand zu realisieren. Insbesondere die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung steht für eine überaus intensive und fruchtbare Forschungskonjunktur, die wirtschafts- und kulturhistorische Fragestellungen mit großem Erfolg vereint.22 Nicht ganz unschuldig an dieser Annäherung ist die gegenwärtige WerteDiskussion, die weit über einzelne Fachöffentlichkeiten hinausgeht und der sich auch die Ökonomen nicht entziehen können. Kaum eine ökonomische Prognose der Experten hat im Vorfeld die Gefahren der Immobilienspekulation und die Krise der Weltwirtschaft seit 2008 in ihrem erschreckenden Ausmaß noch in ihrer zerstörerischen Dynamik vorhersagen können. Der Börsen-Crash, die Schließung zahlreicher international bedeutender Banken und die damit verbundene Schieflage für Gläubiger und die gesamte Weltwirtschaft hat die moderne Ökonomie in eine Vertrauenskrise gestürzt. Sie erschütterte den grundsätzlichen Anspruch der Volkswirtschaftslehre, Aussagen über ökonomische Zusammenhänge zu treffen

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Siehe Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 13. Vgl. Grabas: Kultur, S. 177. Vgl. Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 3. Vgl. Tanner: Historische Anthropologie. Wischermann: Institutionelle Revolution; ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation; Ellerbrock/Wischermann (Hg.): Wirtschaftsgeschichte, darin insbesondere: Wischermann: Institutionenökonomik. 22 Vgl. Fenske: Marktkultur; Vries: Ökonomie des Tees.

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ebenso wie das lange dominierende rational choice-Dogma.23 Der daraus resultierende Legitimitätsdruck kam in Deutschland einem Wiederaufflammen des „Methodenstreits“ gleich.24 Seit den 1980er Jahren einer zunehmenden Verdrängung durch die ökonometrisch, mathematisch-formalistisch ausgerichteten Disziplinen ausgesetzt, unterzeichneten im Mai 2009 mehr als 80 deutsche Professoren der Volkswirtschaftslehre einen Aufruf zur „Rettung der Ordnungsökonomie“ in der F.A.Z.25 Ihre Kritik bezog sich vor allem darauf, dass sich die Mathematik innerhalb der Ökonomie verselbständigt habe und andere Faktoren des wirtschaftlichen Prozesses wie eben politische Rahmenbedingungen vernachlässigt würden – kurz, dass Institutionen in der herrschenden Lehre keine Rolle spielten. Diese Debatte führte zwar nicht zu einer vollständigen Wiederannäherung der Ökonomie an sozialwissenschaftliche Maximen. Immerhin aber hatte sie die beschriebene Sensibilisierung der Volkswirtschaftslehre gegenüber „exogenen“ Wirtschaftsfaktoren zur Folge. Ähnlich nahm die deutsche Wirtschaftsgeschichtsforschung die aktuellen Diskussionen in der Öffentlichkeit wie in den ökonomischen Fachwissenschaften zum Anlass, um die Position der Wirtschaftsgeschichte als Brückenfach zwischen der Ökonomie und einer kulturell orientierten Geschichtswissenschaft verstärkt auszuloten.26 In erster Linie muss dabei auf die Diskussion über Kapitalismus und Wertewandel verwiesen werden, die sich unmittelbar an der immer wieder aufflammenden „Heuschrecken-Debatte“ entzündete.27 Ein weiteres Untersuchungsfeld, das die Berührung von Wirtschaft und Kultur in der Titulatur trägt, ist die Beschäftigung mit Wirtschaftskulturen und -stilen, wie sie zuletzt von Hall und Soskice vorangetrieben wurde.28 Auf mikroökonomischer Ebene erlebt als Pendant dazu seit den 1980er Jahren die betriebswirtschaft-

23 Siehe Plickert: Ökonomik. 24 Zu der aktuellen Diskussion und der „Krise der Ökonomie“ siehe die Diskussionen in der FAZ im Jahr 2009: Mussler: Dogmenstreit; Kirchgässner: Ökonomenstreit.; Schmidt/aus dem Moore: Quo vadis, Ökonomik? 25 Vgl. Jungmann: Ökonomiestudium. 26 Siehe dazu etwa die Diskussionen in der VSWG 2007; sowie JfW, 1 (2009), Beiträge wie der von Werner Plumpe zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik oder von Kurt Dopfer zum Verhältnis von Evolutionstheorie und Geschichte unterstreichen den Mehrwert des kulturhistorischen Paradigmas für die Wirtschaftsgeschichte. 27 Zu dieser Debatte siehe u. a.: Hilger: „Kapital und Moral“, S. 9–34; Rügemer: „Heuschrekken“; Pfeiffer: Heuschrecken; ebenso die vom Institut für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld im Februar 2010 abgehaltene Tagung zum Thema „Wirtschaftskultur – Kulturen der Weltwirtschaft“, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ termine/id=13073 (Stand: 16.3.2010). 28 Hall/Soskice: „Varieties of Capitalism“; vgl. Albert: Kapitalismus; für die ökonomische Dogmengeschichte vgl. auch: Schefold (Hg.): Wirtschaftssysteme; Klump (Hg.): Wirtschaftskultur.

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liche Unternehmenskulturforschung einen Boom.29 Unternehmen werden dort nicht mehr als bloße organisatorische Systeme, sondern vielmehr als „soziokulturelle Einheiten“30 verstanden. Wie alle menschlichen Gemeinschaften verfügen sie demnach über historisch gewachsene Regelsysteme, spezifische Normen sowie gemeinsame Wahrnehmungsmuster. Deren Rekonstruktion und Darstellung wurde in jüngerer Zeit zu einer der zentralen Aufgaben der modernen Unternehmensforschung.31 Wie auch Fragen des interkulturellen Managements von Unternehmen unterstreichen, kommen Wirtschaftsbeziehungen nicht ohne einen Blick auf die mit ihnen verbundenen Wahrnehmungen, Symbole und Rituale aus, da ökonomische Systeme und Institutionen in vielfacher Weise auf Elemente der Sinnstiftung angewiesen sind.32 Gerade hier eröffnet die Kulturwissenschaft mit Blick auf adäquate Methoden neue Chancen. So kann dem iconic bzw. pictorial turn gemäß die Rolle von Bildern als Produzenten oder Träger von Unternehmenskultur fokussiert werden,33 wie dies z.B. Sonja Meldau-Stagge in ihrem Dissertationsprojekt über die Werksfotografien bei der Volkswagen AG intendiert.34 Einen dezidiert transnationalen Kontext nimmt die Wirtschaftskulturforschung im Zusammenhang mit dem Amerikanisierungsparadigma ein, das seit Beginn der 1990er Jahre nicht nur die Unternehmens-, sondern auch die Kulturgeschichte beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zur Weltmacht aufgestiegen, prägten die Vereinigten Staaten von Amerika die westliche Welt nicht nur in politischer, sondern ebenso in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Während die europäischen Volkswirtschaften durch den Krieg nachhaltig zurückgeworfen worden waren, entwickelten sich die USA auf der Grundlage eines expansiven Kapital-, Forschungs- und Technologiepotenzials und eines hochgradig effizient arbeitenden Managements zum Modell einer modernen Wirtschaftsnation.35 Indessen spiegeln derartige Diskurse nur die Spitze eines Eisberges wider. Denn auch ein näherer Blick zeigt, dass mittlerweile sowohl von Seiten der Wirtschafts- als auch der Kulturgeschichte ein Prozess der Annäherung Fortschritte macht. Diese Perspektive soll im Zentrum des vorliegenden Bandes stehen, der sich mit den Handlungsfeldern einer Wirtschaftsgeschichte „in der kulturwissenschaftlichen Erweiterung“36 wie auch einer „Kulturgeschichte des Ökonomischen“

29 Reitmayer (Hg.): Unternehmen; Raasch: „Wir sind Bayer“; Nieberding: Unternehmenskultur; Wischermann (Hg.): Unternehmenskommunikation. 30 Berghoff: Unternehmensgeschichte, S. 148. 31 Vgl. ebd., S. 147–172. 32 Vgl. Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 18. 33 Zum sogenannten iconic bzw. pictorial turn siehe die Überblicksdarstellung mit umfassendem bibliografischen Apparat in: Bachmann-Medick: Cultural turns, S. 329–380. 34 Die Dissertation entsteht zur Zeit an der Abteilung für Wirtschaftsgeschichte der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf. 35 Zur “Amerikanisierung” siehe: Cohen: Consumer's Republic; Koch (Hg.): Amerikanisierung; Schröter: Americanization; Hilger: “Amerikanisierung.” 36 Vgl. Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte, S. 13.

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befasst.37 Dies war Gegenstand einer Vortragsreihe, die im Wintersemester 2008/09 auf Initiative der beiden Düsseldorfer Historiker Susanne Hilger (Abteilung für Wirtschaftsgeschichte) und Achim Landwehr (Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit) initiiert wurde und deren Beiträge überwiegend Eingang in diesen Sammelband fanden.38 Dem Wunsch der beiden Fachvertreter entsprechend sollte es das Ziel sein, die grundsätzliche Bedeutung von kulturellen Fragestellungen in der Wirtschaftsgeschichte sowie die Relevanz des Ökonomischen für die Kulturgeschichte zu diskutieren. Gleichzeitig galt es den Status Quo der bisher geleisteten Forschungsarbeit herauszuarbeiten und auf dessen Ergebnissen aufbauend weitere Potenziale zur Kooperation von Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu identifizieren. Damit soll der von Hartmut Berghoff und Jakob Vogel einst angemahnte „Perspektivenwechsel“ in beiden Disziplinen weiter vorangetrieben werden, ein Vorhaben, das gerade vor dem Hintergrund der oben geschilderten aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskussionen von weitreichender Bedeutung erscheint. Gerade angesichts der genannten Kritik Hartmut Berghoffs an einer diskurstheoretisch angeleiteten Kulturgeschichte ist es mit Blick auf die Zusammenarbeit der beiden geschichtswissenschaftlichen Subdisziplinen von Bedeutung, auf die Relevanz und die Tragweite diskursiver Formationen hinzuweisen.39 Kaum ein anderer Betrachtungsgegenstand belegt dies besser als die Wirtschaft, denn wie nicht erst die Entwicklungen des beginnenden 21. Jahrhunderts deutlich machen, sind wir schon seit Längerem Zeitgenossen umfassender Diskurse der Ökonomisierung. Dem wirtschaftlichen Sektor ist es mit anderen Worten gelungen, seine Handlungsmaximen in einem nicht unerheblichen Maß zu allgemein verbindlichen zu machen. Die kulturprägende Kraft der Wirtschaft tritt damit – aber bei Weitem nicht nur damit – in aller Deutlichkeit hervor, so dass sich eigentlich kaum noch die Frage ergeben dürfte, ob eine Kulturgeschichte des Ökonomischen notwendig sei, sondern sich eher das Problem aufdrängt, wie sie sich im Einzelnen ausgestaltet und warum bisher zu diesem Forschungsfeld immer noch überraschend wenige Arbeiten existieren. Dass der Weg zu einer Kulturgeschichte des Ökonomischen bzw. zu einer Wirtschaftsgeschichte in kultureller Erweiterung lang und steinig werden könnte, machen einerseits die weiterhin bestehenden Unsicherheiten der genauen Bezeichnung dieser Forschungsrichtung, andererseits die Bemerkungen dieser Einleitung deutlich, die eher den Charakter von Fragen und Möglichkeiten als von etablierten Antworten haben. Im Kern müsste sich aber eine solche „Wirtschaftskulturgeschichte“ erstens dem Problem annehmen, wie wirtschaftliche Strukturen und wirtschaftliches Handeln nicht nur durch diskursive Sinnkonstruktionen bestimmt werden, sondern vor allem auch ihrerseits an deren Hervorbringung betei37 Landwehr: Kulturgeschichte, S. 111. 38 Für einen Überblick über die einzelnen Vorträge siehe die Ankündigung bei H-Soz-u-Kult: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=10091 (Stand: 16.3.2010). 39 Vgl. hierzu allgemein Landwehr: Diskursanalyse.

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ligt sind; zweitens würde sie die fundierende Kraft ökonomischer Zusammenhänge für den Bereich des Kulturellen nicht nur angemessen berücksichtigen, sondern zu einem unverzichtbaren Bestandteil kulturhistorischen Fragens machen. Wohlgemerkt: Eine (unseres Erachtens in dieser Form noch nicht bestehende) „Wirtschaftskulturgeschichte“ würde beide Bereiche in gleichberechtigter Weise zusammen betrachten müssen, anstatt sich auf den einen oder anderen zu kaprizieren. Der Mehrwert einer Verquickung von Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte soll im Folgenden am Beispiel von Betrachtungsgegenständen, Diskursen und Methoden Berücksichtigung finden, die teilweise weit über die reine wirtschafts- oder kulturhistorische Perspektive hinausreichen und Berührungspunkte zur historischen Anthropologie und Kulturanthropologie, der Wirtschaftsethik oder der Wirtschaftspsychologie aufweisen.40 Mit dem Wandel ökonomischer Systeme befasst sich zudem die mit Erklärungsmodellen aus der Biologie arbeitende Evolutionsökonomie. Dabei wird „Kultur“ auf komplexe kognitive Schemata bezogen, die historische Wurzeln besitzen und über Sozialisationsprozesse von Generation zu Generation übertragen werden.41 Ökonomische Zusammenhänge finden damit wieder eine stärkere Betrachtung als Sozialwissenschaft. Obwohl sich derartige Ansätze in besonderer Weise dazu eignen, die Bedeutung sinnstiftender Wertesysteme bei der Analyse von ökonomischen Umbrüchen herauszustellen, sind wirtschaftshistorische Studien, die mit diesem Ansatz operieren, noch selten.42 Wie eine Reihe von Beiträgen im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009 herausstellt, könnte dies eine angemessene Methode darstellen, eine Brücke zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu schlagen.43 Entwicklungstrends in der modernen ökonomischen Theorie liefern wichtige Impulse für wirtschafts- und kulturhistorische Fragestellungen. Dazu gehört die Neue Institutionenökonomie (NIÖ), die sich seit den 1970er Jahren zu einer wichtigen Disziplin der modernen Volkswirtschaft entwickelt hat. In Abgrenzung zu dem Modell der neoklassischen Ökonomie thematisiert sie explizit die historischen Rahmenbedingungen ökonomischer Prozesse. So fragt sie nach den regulierenden und normativen Institutionen von Märkten und operiert dabei mit einem sehr weiten Institutionenbegriff. Institutionen werden dabei grob nach „formgebundenen“ und „formlosen“ Institutionen unterschieden. Während zu ersteren politische Institutionen oder positives Recht zählen, stellen die formlosen Institutionen kulturelle Zuschreibungen wie Konventionen, ethische Normen, Werte und Bräuche dar. Die Neue Institutionenökonomie zählt zu den wichtigsten aktuellen Ansätzen, um wirtschaftliche Tätigkeit und kulturelle Lebensweise stärker miteinander in Beziehung setzen. Anders als die neoliberale Theorie geht sie davon aus,

40 Für einen Überblick siehe erneut Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte. 41 Zur Evolutionsökonomie siehe: Winter: Evolutionary Theory; ders.: Grundriss der Evolutionsökonomik. 42 Vgl. Dopfer: Ökonomie, S. 53. 43 Siehe ebd.

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dass nicht nur der Markt mit seinen „harten Faktoren“, sondern auch „Institutionen“ (im Sinne von Sitten, Werten und Gebräuchen, Informationen, Kontakten, Gesetzen und Rechtsordnungen) wirtschaftliches Handeln prägen und damit auf ökonomische Prozesse und Entwicklungen Einfluss nehmen. Die Rolle von „Institutionen“ können so auch von Wirtschaftshistorikern bei ihrer Arbeit berücksichtigt werden. Die Neue Institutionenökonomie erkennt folglich die Bedeutung kultureller Faktoren für das Wirtschaftsgeschehen grundsätzlich an. Waren historische Arbeiten zunächst meist auf die Darstellung formaler Institutionen beschränkt, so hat sich das mit der Öffnung der Neuen Institutionenökonomie gegenüber der psychologischen Kognitionstheorie geändert. In deren Folge rückten die so genannten mental models zur Ergänzung der Strukturleistungen formaler und informaler Institutionen in den Vordergrund. Unter ihnen versteht man allgemein interne Interpretationsmuster der Individuen in Bezug auf die Umwelt. Die Rolle von Religion oder auch sozialer Herkunft für den Wirtschaftsprozess avancierte dabei zu wichtigen Untersuchungsgegenständen.44 Mit der Netzwerkforschung, der Transaktionskostentheorie, dem property rights- und dem principal agent-Ansatz bietet die Neue Institutionenökonomie darüber hinaus ein vielfältiges Instrumentarium für eine um kulturelle Aspekte erweiterte Wirtschaftsgeschichte. Die Netzwerktheorie etwa geht davon aus, dass die Einbettung von Akteuren in netzwerkartige Strukturen Auswirkungen auf ihre Handlungsmöglichkeiten hat.45 Als ein soziales Netzwerk wird dabei eine Menge von sogenannten sozialen Einheiten mit den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen verstanden. Akteure sind oft zwar einzelne Personen, können aber auch Subgruppen oder Institutionen sein. Gleiches gilt für die beschriebenen Beziehungen. Sie können sowohl kommunikativer, verwandtschaftlicher, wirtschaftlicher als auch auch finanzieller Natur sein. Ebenfalls können sie eine starke oder schwache Bindung aufweisen, individuell oder kollektiv strukturiert sein. Damit entwickelten sich ökonomische und soziale Netzwerke zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand gerade für industrielle und postindustrielle Gesellschaften.46 Für eine Annäherung von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gingen in jüngster Zeit wichtige Impulse von anthropologischen Arbeiten aus, die sich dezidiert mit ökonomischen Themen befassen und dazu kulturwissenschaftliche Methoden verwenden. So können konkrete Praktiken des Wirtschaftens wie etwa der Austausch über Märkte als Erscheinungsformen tradierter Kultur interpretiert werden.47 Die historische Anthropologie untersucht dabei die kulturelle Prägung, Konkretisierung, Umsetzung und Generierung von Strukturen und Handlungszusammenhängen durch die Marktakteure wie etwa Händler und Beschicker, Kun-

44 Siehe beispielsweise Priddat: Unvollständige Akteure; Le Goff: Wucherzins. 45 Vgl. Schulte Beerbühl: Tagungsbericht; siehe auch Berghoff: Unternehmerische Netzwerke; außerdem Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute. 46 Barkhoff/Böhme/Riou (Hg.): Netzwerke; Rosenbaum: Private Netzwerke. 47 An dieser Stelle noch einmal Fenske: Marktkultur.

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den und kommunale Vertreter.48 Dabei wird die Bedeutung des Marktes nicht nur als Ort des Austauschs von Gütern, Waren und Dienstleistungen, sondern auch als Ort von gesellschaftlichen Normen und Werten, der Zeichen- und Beziehungssysteme thematisiert.49 Wirtschaftsanthropologische und -psychologische Sichtweisen gehen davon aus, dass Wirtschaft entgegen der Annahme des neoklassischen Modells nicht ausschließlich nach Marktgesetzen funktioniert. Märkte produzieren vielmehr auch Unsicherheiten oder Emotionen, die für ökonomische Akteure erhebliche Risiken oder eben Chancen darstellen können. Nach Ehalt gestalten sich im „wirtschaftlichen Handeln […] die Beziehungen der Menschen als soziale, als wertorientierte, als zweckorientierte, als kreative Wesen ständig neu.“50 Das als „psychologische Wende“ in der Ökonomie bekannte Phänomen hat in den letzten Jahrzehnten an die Stelle des rational handelnden Homo oeconomicus das Bild eines differenzierten, emotional und aus kulturellen Mustern heraus agierenden Wirtschaftsindividuums gesetzt. Diese neue Wahrnehmung hat zur Öffnung der Wirtschaftswissenschaften gegenüber zuvor vernachlässigten Größen wie beispielsweise Vertrauen oder Hoffnung geführt.51 Aus interdisziplinär ausgerichteten Tagungen sind in den letzten Jahren einige Sammelbände und Beiträge hervorgegangen, die sich mit Vertrauen, Hoffnung oder auch Glück auseinandersetzen.52 Ähnlich spielten Emotionen in den Handlungsmodellen der neoklassischen Ökonomie, die für die moderne Wirtschaftsgeschichte zweifellos einen sehr hohen Stellenwert besitzen, lange Zeit kaum eine Rolle. Denn obgleich menschliche Gefühle, etwa Angst oder Zuversicht, aus realen wirtschaftlichen Prozessen nicht wegzudenken sind (bestes Beispiel hierfür ist und bleibt die Börsenentwicklung), scheinen sie mit den bis heute dominanten rational choice-Modellen unvereinbar zu sein. Mit ihrem Buch „Animal Spirits“ haben die beiden amerikanischen Ökonomen George A. Akerlof und Robert J. Shiller dies allerdings jüngst massiv in Frage gestellt.53 Sie plädieren vehement dafür, der evident hohen Bedeutung psychologisch-anthropologischer Einflussfaktoren auf die Wirtschaftsentwicklung, wie sie etwa in dem Bedürfnis nach wechselseitigem Vertrauen, in dem Verlangen nach Fairness, im Hang zur Geldillusion, in der Versuchung zu korruptem, arglis-

48 Siehe dazu beispielhaft Steiner: Kleidung. 49 Siehe beispielhaft: Howe: What Hath God Wrought; zur sozialwissenschaftlichen Perspektive: Sighard Neckel: Selbstdarstellung; ders.: Marktgesellschaft. 50 Ehalt: Vorwort, S. XI. 51 Über die psychologische Wende und die Wirtschaftsanthropologie im Allgemeinen siehe: Gourgé: Ökonomie; Friedrich: Verhalten; zur historischen Wirtschaftsanthropologie: Reinhard/Stagl (Hg.): Menschen und Märkte. 52 Vgl. Muldrew: Obligation; Hillen (Hg.): “Mit Gott”; Anděl (Hg.): Hoffnung; siehe ganz aktuell die von Susanne Hilger und Frederike Sattler bei der European Business History Conference im August 2010 in Glasgow geleitete Sektion: Emotions. A new Approach to the Business History of 20th Century Mass Consumer Societies?, URL: http://www.gla.ac.uk/ media/media_167618_en.pdf (Stand: 31.8.2010). 53 Siehe Akerlof/Shiller: Animal spirits.

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tigem und unsozialen Verhalten oder in der Neigung zum Denken in Geschichten zum Ausdruck kommen, endlich auch in den theoretisch-methodischen Grundannahmen der Disziplin Rechnung zu tragen. Und mit diesem Plädoyer, das einer Rückbesinnung auf die bereits von Adam Smith ausführlich beschriebenen moral sentiments gleichkommt, stehen sie keineswegs allein da. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg beurteilen nicht nur Psychologen die Grundannahme der ökonomischen Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung zunehmend skeptisch. Schon die ökonomische Verhaltensforschung, die der österreichisch-ungarische Emigrant George Katona zu Beginn der 1950er Jahre in den USA begründete, konzentrierte sich auf das psychologische Gebaren der Wirtschaftsakteure und betonte etwa den Stellenwert des „Vertrauens der Massen“ für die volkswirtschaftliche Stabilität.54 In der Bundesrepublik wirkte zeitgleich der Finanzwissenschaftler Günter Schmölders als Pionier der Finanzpsychologie den mainstream economics entgegen.55 Mittlerweile haben behavioral oder emotional economics international erheblich an Zulauf gewonnen. Dies gilt nicht nur für die experimentelle Spieltheorie, innerhalb derer sich beispielsweise der Kölner Ökonom Axel Ockenfels seit einiger Zeit mit der Bedeutung von eingeschränkter Rationalität in der Wirtschaft am Beispiel des Online-Auktionators Ebay befasst.56 Der amerikanische Psychologe Daniel Kahneman erhielt 2002 für seine Forschungen über Entscheidungsfindung bei Unsicherheit den Nobelpreis für Ökonomie. Darin betont er die Bedeutung von Vertrauen und anderen heuristischen Determinanten für die konkrete Entscheidungsfindung von Individuen.57 Anders als in der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, wo sich u. a. Ute Frevert und Birgit Aschmann bereits recht intensiv mit der Geschichte der Gefühle und ihrem Einfluss auf Politik und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzen,58 ist das Interesse der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an diesem neuen Forschungsfeld trotz der gegebenen Impulse durch die Verhaltensökonomen bislang noch nicht sehr ausgeprägt. Dabei eröffnet die Frage nach dem Stellenwert von Emotionen für das ökonomische Entscheidungshandeln von Individuen und Kollektiven nicht nur neue Sichtweisen auf unternehmens- und wirtschaftshistorische Entwicklungen, sondern sie stärkt zugleich auch die Anschlussfähigkeit etwa an die historische Wirtschaftsanthropologie. Gerade die industriellen Massenkonsumgesellschaften des 20. Jahrhunderts mit ihren aufgrund von modernen Massenmedien und Kommunikationstechnologien verdichteten sozioökonomischen Strukturen verspricht vielfältige Anknüpfungspunkte für historisch-empirische Untersuchungen. So stellt etwa die Frage nach dem Stellenwert von Emotionen im Bereich des Konsums oder des Spar-

54 Vgl. Zahn: Prosperität, S. 80; Katona: Verhalten. 55 Siehe Schmölders: Finanzwirtschaft; ders.: Geld- und Finanzpsychologie. 56 Siehe Bolton/Ockenfels: ERC; siehe auch Ockenfels: Evidenz; siehe den Überblick bei Hillen: „Mit Gott“ in dem gleichnamigen Tagungsband. 57 Vgl. Kahneman u. a.: Judgment. 58 Siehe Frevert (Hg): Gefühle; Aschmann (Hg.): Bild.

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und Anlageverhaltens privater Haushalte einen interessanten Ansatz dar. Welche spezifischen Semantiken und Bilder werden benutzt, um Emotionen zu instrumentalisieren? Lassen sich – ganz generell betrachtet – spezifische emotionale Codes identifizieren, die geschlechterspezifisch, generationell oder ethnisch determiniert sind bzw. einem bestimmten soziokulturellen Kontext zugeordnet werden können? Ebenso bilden Ethnizität und Geschlechtlichkeit als anthropologische Sozialformationen Ansätze, um Wirtschafts- mit Kulturgeschichte miteinander zu verbinden. Dies zeigen z. B. die Arbeiten Stephanie Deckers59 oder Dimitri van den Bersselaars60. Die Rolle der Frau im Wirtschaftsprozess und die Entwicklung ihrer Berufstätigkeit sind ferner Gegenstände, die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gleichermaßen berührt.61 Ähnlich ist die Familie als Sozialform im wirtschaftlichen Kontext von Interesse. Familienunternehmen als Unternehmensform seien, so will es die lange dominierende wirtschaftshistorische Forschungsmeinung, spätestens mit der Hochindustrialisierung dem Untergang geweiht gewesen. „Familiale Orientierung“ sei verbunden gewesen mit einer spezifischen Wertekultur, die Bestandswahrung des Familieneigentums zum Schutz von Kontinuität und „automatisch“ eine geringere Risikoorientierung und damit die Tendenz zu „Selbstbeschränkung und Expansionsverzicht“ beinhalte. Das Familienprinzip erscheint damit im modernen unternehmerischen Kontext als dysfunktional, als „Modernisierungsbremse“ und somit als „Handicap“ im Wettbewerb.Dieser Befund ist in seiner ausgeprägten Linearität in den letzten Jahren stark angezweifelt worden. Vielmehr ist ihm jüngst der Status einer „Meistererzählung“ der Wirtschaftsgeschichte eingeräumt worden.62 Als ihr Urheber gilt Alfred D. Chandler, der grand old man der amerikanischen Unternehmensgeschichte. Er hatte in den 1960er Jahren in seinen Arbeiten zur Genese des amerikanischen Industriekapitalismus den „Übergangscharakter“ von Familienunternehmen auf dem Weg zu einer verbesserten Organisationsstruktur, dem managergeführten Unternehmen, betont: Familienunternehmen müssten, um eine „kritische Größe“ zu erlangen, auf externes Kapital ebenso zurückgreifen wie auf gelernte Fachkräfte und das Unternehmen somit sukzessive aus der Familienhand geben, ein Entwicklungsverlauf, der bei Chandler quasi den Status eines „Naturgesetzes“ erlangte.63 Während sich die angelsächsische Forschung stark auf die Organisationsgeschichte von Unternehmen konzentriert hat, lag der Betrachtungsschwerpunkt in der Bundesrepublik dagegen vielfach auf dem Konnex von Bürgerlichkeit und

59 Z.B. Decker: Advertising. 60 Z.B. van den Bersselaar: Modernity Rejected? 61 Siehe dazu übergreifend: Folbre: Lust & Gender; Krondorfer (Hg.): Frauen und Ökonomie. Zuletzt für das frühneuzeitliche Deutschland: Ogilvie: A Bitter Living; Maynes: Girlhood. 62 Siehe Hilger: „Under Reconstruction“, S. 13; zu dem Begriff siehe auch: Jarausch/Sabrow: „Meistererzählungen“. 63 Siehe Chandler: The Visible Hand; ders.: Scale and Scope.

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Unternehmertum. Jürgen Kocka war einer der ersten, der seine strukturhistorischen Forschungen zum Bürgertum mit der Kritik an Chandler verband. Er meinte bereits zu Beginn der 1980er Jahre, dass familiäre Strukturen, in denen der bürgerliche Wertekodex über Generationen weitergetragen wird, dem Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert zum Durchbruch verholfen und die Anpassungsprobleme, seien sie finanzieller oder auch sozialer Art, wie etwa Ausbildung oder die Organisationsfähigkeit, bewältigt hätten. Die bürgerliche Familienkultur wird seither als Erfolgsgarant des privaten Unternehmertums bezeichnet. Vor Kurzem hat Ulrich Pfister noch einmal unterstrichen, dass „Bürgerlichkeit“ als „Lebensform […] eine ganze Reihe von materiellen und immateriellen Institutionen zur Verfügung (stelle) [...], die unternehmerisches Handeln“ strukturiere.64 Wie kaum ein anderes Forschungsfeld in der Geschichtswissenschaft hat es die Konsumgeschichte in den letzten Jahren verstanden, wirtschafts- und kulturhistorische Fragestellungen fruchtbar miteinander zu vereinen.65 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Interdependenzen von Wirtschaft und Kultur im Bereich des Konsums nicht zu übersehen sind. Die moderne Konsumgesellschaft ist nicht nur auf effiziente Systeme der Massenproduktion und -distribution angewiesen, sondern auch auf konsumbejahende Mentalitäten und Deutungsmuster der Akteure und Produzenten, die sich in dem Wort vom „consumer citizenship“66 widerspiegelt. Auf die „emancipating and empowering effects of female consumerism“ richtet sich das Interesse der angelsächsischen Forschung.67 Victoria De Grazia zeichnet mit Blick auf das Konsum-Modell der USA auch für das Europa der 1950er Jahre das Bild der selbstbestimmten, emanzipierten Verbraucherin, die aufgrund ihrer Haushalts- und Konsumentscheidungen zum Familienvorstand avanciert sei.68 Dies gilt zudem für die Herausbildung neuer und vor allem geschlechtsspezifischer Konsummuster, beispielsweise im Hinblick auf Haushaltsprodukte, Mode oder Körperpflege.69 In einem engen Zusammenhang zur Konsumgeschichte steht die Geschichte des Marketing. Die Marketingforschung geht von der Interaktion zwischen Unternehmen und Konsumenten aus. Sie nimmt an, dass die Vermarktung von Produkten mithilfe von Instrumenten wie Verpackung, Distribution oder Werbung umgesetzt werden kann.70 Mit den Betrachtungsgegenständen der Produkt- und Werbegeschichte, der Erforschung von Absatz- und Vertriebsstrukturen durch Warenhäuser und Supermärkte sowie die Beziehung zwischen Geschmacksbildung,

64 Pfister: Unternehmerverhalten, S. 52. 65 Zur Geschichte des Konsums siehe aktuell: Haupt (Hg.): Konsumgesellschaft; König: Konsumkultur; Kleinschmidt: Konsumgesellschaft; König: Konsumgesellschaft. 66 Cohen, Consumer´s Republic, S. 8 u. 147. 67 Carter: How German is she?, S. 65. 68 Vgl. De Grazia: Irresistible Empire. 69 Vgl. Antoni-Komar: Kulturelle Strategien; Banet-Weiser: Beautiful Girl; Banner: American Beauty; Etcroft: Prettiest; Peiss: Hope; dies.: Making up. 70 Vgl. Kotler/Bliemel: Marketing-Management, S. 482.

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Wareninszenierung und technischer Rationalisierung71 wird Marketing längst nicht mehr bloß als wirtschaftliches Absatzinstrumentarium, sondern als angewandte Sozialtechnik verstanden. An ihm lassen sich daher in besonderer Weise wirtschaftliche – im Bereich der unternehmerischen Verkaufsstrategien – und kulturelle Aspekte – als Konturen des Wertewandels – miteinander in Beziehung bringen. Als Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen stand dabei zunächst die Geschichte der Wirtschaftswerbung und des Markenartikels im Fokus der Betrachtungen. Neben einigen wirtschafts- und wissenschaftshistorischen Untersuchungen, welche die Entstehung der Werbeindustrie in Deutschland thematisieren,72 wurden die Werbung und der Markenartikel als Quellen für motiv-, kulturoder mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen verwendet.73 Ein Schwerpunkt in der noch jungen deutschen historischen Marketingforschung liegt auf der Geschichte der Produktkommunikation. Produkte werden als Medien der Kommunikation zwischen Unternehmen und Konsumenten verstanden. Fallstudien wie die von Rainer Gries befassen sich mit den kulturellen Implikationen bestimmter Produkttypen, ihrer semantischen Aufladung, ihrer Ästhetik sowie Nutzungsstilen und Aneignungsformen der Konsumenten.74 Eine Vielzahl an Forschungsbeiträgen dokumentiert mittlerweile die Brückenschläge zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte.75 Vor dem Hintergrund, dass eine Wirtschaftsgeschichte, die ohne kulturelle Aspekte operiert, ebenso defizitär bleiben muss wie eine Kulturgeschichte, die ökonomische Hintergründe ausblendet, ist es ein begründetes Anliegen dieses Sammelbandes, den Annäherungsprozess weiter voranzutreiben und Chancen und Herausforderungen für eine „Wirtschaftskulturgeschichte“ auszuloten. Wirtschaftsgeschichte erhält so eine wichtige Brückenfunktionen zwischen den ökonomischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Eine Kulturgeschichte, die sich wirtschaftlichen Fragen öffnet, könnte dem schwindenden Interesse an historischem Wissen gerade in aktuellen Debatten aktiv entgegenarbeiten und somit die Rolle der Geschichtswissenschaft als ernstzunehmende Kategorie auch in Gegenwartsfragen stärken. Diese Intention verfolgen auch die hier versammelten Beiträge. Der erste thematische Teil des Bandes ist der Bedeutung von „Netzwerken“ für das wirtschaftliche und kulturelle Handeln gewidmet. Am Beispiel des unternehmerischen Engagements ausgewählter deutscher Kaufmannsfamilien auf dem englischen Markt fragt Margrit Schulte Beerbühl nach den vormodernen Verflechtungsprozessen von Handelsräumen auf internationaler, regionaler und lokaler Ebene. Stefan Go-

71 Berghoff (Hg.): Marketinggeschichte. 72 Siehe beispielsweise: Gries: Werbeunternehmer. 73 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem: Borscheid/Teuteberg (Hg.): Bilderwelt des Alltags; Reinhardt: Marketing; Lamberty: Reklame und Gries/Ilgen/Schindelbeck (Hg.): „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ 74 Federführend sind hier die Arbeiten von Rainer Gries. Siehe dazu beispielhaft: Gries: Produkte als Medien; ders.: Produktkommunikation. 75 Landwehr: Kulturgeschichte, S. 109.

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rißen befasst sich mit der Bedeutung von Netzwerkbeziehungen im Kommissionund Speditionshandel in der vorindustriellen Zeit. Ausgehend von dem ökonomisch-analytischen Konzept der corporate governance bettet Christian Marx am Beispiel der Gutehoffnungshütte AG zwischen den Jahren 1918 und 1924 unternehmerisches Handeln in das „soziale Netzwerk“ eines Unternehmens ein. Dabei fragt er sowohl nach dem Einfluss des Vorstandsvorsitzenden Paul Reusch auf die Ausrichtung der Gutehoffnungshütte als auch nach dessen Handlungsspielräumen innerhalb der Aktiengesellschaft. Familie als kulturhistorische Kategorie und unternehmerisches Modell nimmt dagegen Oliver Schulz in den Blick, wenn er das Beispiel der adeligen Unternehmerfamilie von Elverfeldt im 19. Jahrhundert untersucht. Der zweite Teilbereich des Bandes beschäftigt sich mit der Marketinggeschichte. Im Zentrum dieses Abschnitts steht die Bedeutung von Marketing als Schnittstelle zwischen herstellenden Unternehmen und Konsumenten. Es wird dementsprechend auf seine Rolle als angewandte Sozialtechnik untersucht. Sandra Schürmann prüft am Beispiel der Produkt- und Werbepolitik des deutschen Zigarettenherstellers Reemtsma zwischen 1920 und 1960 das Zusammenspiel von kulturellen Deutungen und unternehmerischem Handeln. Dabei geht sie der Frage nach, inwieweit marketingstrategische Instrumente von gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Trends determiniert werden. Mit der Anwendbarkeit des dreidimensionalen Modells der Produktkommunikation von Rainer Gries für eine kulturell orientierte Wirtschaftsgeschichte befasst sich der Beitrag von Elena Brenk. Er untersucht am Beispiel der zu Beginn der 1960er Jahre von 4711-Mühlens lancierten Kosmetikserie Toscana die Interaktion von einzelnen Kommunikatoren und Akteuren am Markt. Ein abschließender Komplex befasst sich mit der grundsätzlichen Bedeutung kultureller Implikationen auf das wirtschaftliche Handeln. Dabei wird betont, dass ökonomisches Handeln niemals nur als Versuch der Profitmaximierung oder der Preisregulation und Verteilung eines knappen Gutes verstanden werden kann, sondern in der Regel eine Mischung aus marktwirtschaftlichen und nicht marktwirtschaftlichen Verhaltensmustern darstellt. Wirtschaftspraxis als Kulturpraxis untersucht Andrè Holenstein, wenn er nach der Rolle von kulturellen Implikationen für die Durchsetzung agrarischer Innovationen in der Frühen Neuzeit fragt. Am Beispiel der Einführung von Kartoffeln und Seide in der Schweizerischen Eidgenossenschaft versucht Holenstein herauszustellen, inwieweit vorherrschende Reformdiskurse Auswirkungen auf Einführungszeitpunkt und den Anbau von neuen Pflanzen haben können. Dabei hält er Ausschau nach den Konzepten und Implementierungsstrategien der Akteure, die sich für die Einführung der Pflanzen einsetzen, und stellt diese in einen übergeordneten staats-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Kontext.

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EXPANDIEREN UND VERNETZEN Die Handelsstrategie deutscher Kaufmannsfamilien im ersten globalen Zeitalter (1660–1800) Margrit Schulte Beerbühl 1. EINLEITUNG Hermann Jakob Garrels aus Leer war 1789 nach London ausgewandert und hatte sich dort als Jungkaufmann niedergelassen, weil „so viele Brüder sich in einem kleinen Ort schaden, da sie sich hingegen in der Entfernung von Nutzen seyn können“.1 Wie Garrels dachten auch andere europäische Kaufleute. Zwei der fünf Söhne des niederländischen Kaufmanns und Bankiers gingen aus dem gleichen Grund nach London.2 Von den Garrel’schen Söhnen zog neben Hermann Jakob ein Bruder nach Amsterdam, ein weiterer folgte ihm 1800 nach London, so dass nur noch zwei Brüder in Leer blieben und die väterliche Nachfolge antraten. Die hier beschriebenen Auswanderungs- und Niederlassungsmotive waren Teil einer weitverbreiteten Expansionsstrategie frühneuzeitlicher Handelsfamilien. Die Auswanderung sollte zum einen eine innerfamiliäre Konkurrenz am Ort einschränken, und zum anderen zugleich dem wirtschaftlichen Vorteil des Familienunternehmens dienen, indem Kinder und andere nahe Verwandte sich an auswärtigen Handelsplätzen niederließen. Diese Strategie bildete die Grundlage des wirtschaftlichen Aufstiegs vieler großer Handelshäuser des 18. und 19. Jahrhunderts, zum Beispiel der Hamburger Bankiers- und Kaufmanns-Familie Schröder und der Rothschilds. Die Söhne von Amsel Mayer Rothschild aus Frankfurt ließen sich in London, Paris und Wien nieder und schufen so ein kommerzielles Netzwerk, das sich über Europa erstreckte und von gegenseitigem Nutzen war. Ausgehend von der hier beschriebenen frühneuzeitlichen Expansionsstrategie sollen am Beispiel deutscher Kaufleute folgende Aspekte beleuchtet werden:3 1. Es soll auf die Anfänge der frühneuzeitlichen Expansion nach London durch Migration von jüngeren Familienmitgliedern seit dem Ende des Protektorats 1660 eingegangen werden. 2. Es soll der Prozess der geographischen und zeitlichen Vernetzung von Handelsregionen dargestellt werden. Die Entwicklung der modernen globalisierten 1 2 3

Esselborn: Garrels, S. 130. Vgl. Muilman: „Autobiographical Notes“. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich u.a auf Quellen in: The National Archives, Kew (TNA), dem Herefordshire Record Office, Hereford (HRO).

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Welt und des neuzeitlichen Welthandels war aber nicht allein ein räumliches, sondern ein besonderes zeitlich-räumliches Phänomen. Netzwerke sind, wie Mark Casson hervorhob, einem kontinuierlichen Prozess des Wandels ausgesetzt. Sie sind „open systems“,4 die durch äußere Faktoren, sei es Veränderung von Märkten und Konsumentenfragen, Kriege etc., oder innere Faktoren, wie z.B. Tod, jederzeit beeinflusst werden können. Ökonomische und soziale Netzwerke zeichnen sich insgesamt durch eine hohe Volatilität aus. Obwohl jedes Netzwerk eine individuelle zeitliche und räumliche Lebensdauer aufweist, ist es oft Teil eines umfassenderen Entwicklungsprozesses. Im Folgenden soll auf die Herausbildung weitreichender internationaler Handelsnetze in der frühen Neuzeit eingegangen werden, deren Geschichte und Entwicklung sich über mehrere Generationen verfolgen lassen. Forschungen zur raumzeitlichen Dimension lassen die Bedeutung von Familie und Verwandtschaft in einer Epoche erkennen, in der rechtliche und institutionelle Einrichtungen noch nicht voll ausgebildet waren.5 3. Mit der kommerziellen Vernetzung von entfernten Regionen ging auch eine gesellschaftliche Vernetzung der deutschen Kaufleute mit Angehörigen anderer Nationen einher. Sie führte, wie im letzten Teil gezeigt werden wird, zur Entwicklung einer kosmopolitischen Wirtschaftselite. 2. URSACHEN UND BEGINN DER EXPANSION Internationale Handelshäuser hatte es schon im ausgehenden Mittelalter in Italien gegeben, doch, folgt man Stanley D. Chapman, bedeutete das 17. Jahrhundert in der Geschichte der internationalen Familienunternehmen eine Zäsur. Chapman zufolge nahmen sie sowohl zahlenmäßig als auch geographisch eine neue Dimension an. Ähnlich weitreichende und dauerhafte Handelsnetze hatten allerdings bereits im 16. Jahrhundert mitteldeutsche und portugiesische Handelshäuser aufgebaut, wie jüngere Forschungen gezeigt haben.6 Durch die kommerziellen Entwicklungen des 17. Jahrhunderts verlagerte sich der geographische Schwerpunkt des europäischen Handels nach Norden. Erst von diesem Zeitpunkt an erlebte der nord-westdeutsche Raum eine starke Ausweitung in außereuropäische Regionen. Mit der geographischen Expansion veränderte sich auch die Struktur der Handelsnetze. Die neue weltweite Expansion des Handels verlangte neue unternehmerische Strukturen und Strategien. Hatte der Fernhandel bis ins 17. Jahrhundert hinein weitgehend innerhalb korporativer, auf Privilegien beruhender Handelsformen stattgefunden, so entstanden nach der Jahrhundertmitte mit dem Niedergang der Korporationen in zunehmender Zahl informelle, auf Familien- und Verwandtschaftsbande sowie geschäftlichen Partnerschaften beruhende, flexible Handels4 5 6

Casson: Networks, (i.E.) Vgl. hierzu Mathias: Risk. Siehe Häberlein: Die Fugger, S. 80; Denzer: Konquista sowie Del Barrio (Hg.): Datini – Fugger – Ruiz.

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netze von transnationaler Ausdehnung, aus denen heraus sich die frühen merchant empires entwickelten. Chapman zufolge gründeten Niederländer und Hugenotten diese ersten frühneuzeitlichen merchant empires. Ihre Vertreibung und die daraus resultierende Verbreitung über Europa begünstigte die Entwicklung. Deutsche Kaufleute betrachtet Stanley D. Chapman als vergleichsweise Nachzügler.7 Seiner Auffassung nach gründeten sie die ersten Kaufmannsimperien erst nach 1800. Dieser Zeitpunkt ist jedoch für die deutschen Handelsunternehmen im nordwestdeutschen Raum zu spät angesetzt. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lassen sich unter deutschen Kaufleuten verstärkte Bestrebungen zur Gründung von internationalen Unternehmen ausmachen. Migration und Expansionsbestrebungen wurden vor allem durch zwei Gründe hervorgerufen: zum einen durch die wirtschaftlichen und demographischen Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges und zum anderen durch die einsetzende merkantilistische Wirtschaftspolitik der europäischen Staaten dieser Epoche, insbesondere Englands. Bedingt durch die Kriegsfolgen entstand ein deutliches wirtschaftliches Gefälle zwischen den deutschen Ländern einerseits und den Generalstaaten und England andererseits. Die zahlreichen Zollschranken sowie das Fehlen von Kolonien erschwerten den deutschen Kaufleuten den Zugang zu attraktiven Märkten. Ferner wurden, bedingt durch die englisch-holländischen Kriege, etablierte Handelsrouten, die aus dem nordwestdeutschen Raum über die niederländischen Hafenstädte liefen, unterbrochen und der Handel verlagerte sich zunehmend zu den norddeutschen Hafenstädten. Dies zwang die Handelsfamilien aus den nordwestdeutschen Regionen neue Handelsnetze zu den norddeutschen Hansestädten auszubauen bzw. aufzubauen, um so einen Zugang zum maritimen Handel zu sichern. In ihren Untersuchungen zur Hamburgischen bzw. Bremischen Kaufmannschaft haben Reissmann und Prange einen erheblichen Zuzug aus dem nahegelegenen Regionen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachgewiesen.8 Eine weitere wichtige Ursache für die Migration ins Ausland und vor allem nach England war die merkantilistische Wirtschaftspolitik der Kolonialmächte, durch die Ausländern ein direkter Zugang zu den profitablen Kolonialmärkten verwehrt wurde. Dieses Hindernis überwanden und umgingen ausländische Kaufleute durch Migration, Niederlassung und, wenn gefordert, durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit. Im Fall Großbritanniens war die Einbürgerung eine wichtige Voraussetzung für die Teilnahme am Kolonialhandel. London stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten Handels- und Finanzplatz der Welt auf. Die City stellte nicht allein das Geld für einen weltweiten Handel bereit, sondern sie beherbergte auch die ersten großen Versicherungsgesellschaften, die die Risiken, die ein mehr oder weniger globaler Handel mit sich brachte, abdeckten. Eine Niederlassung in London war somit von großer Anziehungskraft, nicht nur für deutsche Kaufleute, sondern für die gesamte europäi7 8

Vgl. Chapman: International Houses. Siehe dazu Reissmann: Kaufmannschaft; Prange: Kaufmannschaft.

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sche Handels- und Finanzelite. Für deutsche Kaufleute bot Großbritannien neben einem direkten Zugang zu den begehrten Kolonialwaren eine weitreichende Handelszone frei von den zahlreichen Zollschranken der Geburtsheimat.9 Die Migrationsforschung weist seit längerem auf die Bedeutung von Netzwerken bei den Aus- und Zuwanderungen des 18. und 19. Jahrhunderts hin. Zwischen Herkunfts- und Zielräumen entwickelten sich dichte, auf verwandtschaftliche und familiäre Bindungen beruhende Netzwerke, deren Bedeutung, wie Jochen Oltmer zuletzt hervorhob, als Instrumente der Informations- und Wissensübermittlung kaum überschätzt werden können.10 Aus ökonomischer Sicht weist Mark Casson Netzwerken eine zentrale Rolle bei der Koordinierung von Aktivitäten zu, zum Beispiel bei der Koordination des Informations- oder des Warenflusses, der Regelung von Konflikten oder auch von Dienstleistungen.11 Die kaufmännische Auswanderung erfolgte, entsprechend den Massenmigrationen der Unterschichten, ebenfalls in Netzwerken. Sie unterscheidet sich jedoch von diesen Migrationen zum einen durch ihre Zahl und zum anderen durch ihre Ziele. Es handelt sich bei den Kaufleuten um eine Elitenmigration, deren Gesamtzahl im Vergleich zu den Migrationen nach Übersee verschwindend gering war (ca. 500 für Großbritannien). Da die Niederlassung in der Fremde eine erhebliche Kapitalinvestition verlangte, fand die Auswanderung von jungen Familienmitgliedern im Allgemeinen nur in solche Länder statt, deren Märkte gewinnversprechend waren bzw. zu denen die elterlichen Stammhäuser bereits Verbindungen besaßen. Durch eine Niederlassung in der Fremde sollte der Zugang zu einem attraktiven auswärtigen Markt intensiviert oder gesichert werden. Bis zu Beginn der Koalitionskriege Ende des 18. Jahrhunderts kann die Migration und Niederlassung von Kaufleuten in London als eine geplante und mit hohem Kapitaleinsatz verbundene Angelegenheit betrachtet werden. Die wachsende Mobilität von Kaufleuten und die Niederlassung an den führenden Finanz- und Handelsstädten Europas führten zu einer starken Ausdehnung und Verflechtung von bis dahin nur wenig verbundenen oder unabhängigen Handelsregionen. Die restriktive merkantilistische Handelspolitik, die auf wirtschaftliche Abschließung von Handelsregionen zugunsten der eigenen Nation abzielte, vermochte die zunehmende Verflechtung nicht zu verhindern. Im Gegenteil, die auf eine positive Handelsbilanz ausgerichtete Wettbewerbspolitik der Staaten förderte die Unterwanderung geradezu. An zwei Netzwerktypen sollen im Folgenden die räumlich-zeitlichen Verflechtungsstrategien deutscher Kaufleute aufgezeigt werden: Zunächst wird ein Netzwerktyp vorgestellt, der sich aus dem Hinterland, d. h. den nordwestdeutschen Textilgebieten heraus nach London entwickelte. Danach wird ein zweites Netzwerk vorgestellt, das von den Hansestädten ausging und neben London weitere europäische Hafenstädte einschloss.

9 Dazu insb. Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute. 10 Siehe Oltmer: Migration, S. 4. 11 Vgl. ebd.; auch Casson: Networks.

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3. DIE VERNETZUNG DER NORDWESTDEUTSCHEN TEXTILGEBIETE MIT LONDON Eine große Mehrheit der deutschen Kaufleute, die sich in den Jahren zwischen 1660 und 1800 in London niederließen, kam zwar aus den Hansestädten Bremen und Hamburg, doch sollte die Zahl der Kaufleute aus den Textilgebieten Nordwestdeutschlands sowie aus Sachsen und Schlesien nicht unterschätzt werden. Aus den nordwestdeutschen Textilregionen kamen mindestens so viele wie aus Hamburg. Aus den Textilgebieten des Bergischen Landes und des Bielefelder Raumes, und zwar aus Elberfeld und Herford, lassen sich zwei langfristige Kettenwanderungen nach London nachweisen. Beide begannen um die Zeit der englischen Restauration, d. h. um 1660 und setzten sich über ein Jahrhundert fort. Mit dem Aufkommen der Baumwollindustrie wandten sich die Migranten aus dieser Region den neuen Industrie- und Hafenstädten Nordenglands zu. Die ersten Einwanderer aus Elberfeld, die in London ihre Spuren hinterlassen haben, waren die Brüder Kaus. Sie sind seit ca. 1660 in der englischen Hauptstadt nachweisbar. Ihnen folgten, eine Generation später, die drei Brüder Teschemacher. In den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhundert kamen sechs weitere Elberfelder an, der letzte von ihnen ging 1758 nach London. Die Zuwanderung aus Herford weist ein ähnliches Muster auf. Der erste Emigrant, Bernard Sirps aus Herford, ließ sich in den 1660er Jahren in London nieder. Der letzte, Frederic Molling (Mölling), erwarb 1775 die britische Staatsbürgerschaft.

1706 1708

Elberfeld Kaus, John Klaus, Jasper Kaus, Engel Teschemacher, John E. Teschemacher, John W. Teschemacher, Isaac Iserloo, Engelbert Bergmann, Casper

1722 1726 1739 1739 1749

1718 1719

Korten, Abraham Lucas, Peter

1753

Klausing, Henry (via London to Petersburg)

1731 1737 1761 1791

Korten, Peter Wichselshausen, Godfrey Siebel, John Roger Teschemacher, John Roger (to Nottingham)

1756 1775

Molling, Godfrey Molling, Frederick

1660 1667 1685 1691

1670 1708

Herford Sips, Bernard Burges, Heydman John Voguell, Henry Voguell, Frederick Smith, Conrade Pritzler, Theophilus Smith, George Frederick Pritzler, Christopher F. (via London to Zittau)

Tab. 1 Kettenwanderung aus Elberfeld und Herford nach London; Quelle: zusammengestellt aus: Shaw: Letters.

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Die genannten Regionen, aus denen diese Kaufleute stammten, waren Zentren des deutschen Leinengewerbes. Besonders Leinen und Garn aus Elberfeld besaßen aufgrund der besonderen Bleichverfahren auch über die Grenzen des Landes hinaus einen herausragenden Ruf. Durch das Lohn- und Preisgefälle war deutsches Leinen sehr preisgünstig und sehr beliebt in der Neuen Welt, und zwar nicht nur in den englischen, sondern auch in den spanischen und portugiesischen Kolonien. Etwa 90% der nach England exportierten deutschen Leinenstoffe wurden in die Kolonien reexportiert. Bezeichnungen wie Ozenbrigs oder true born Tecklenburghs wurden geradezu zu frühneuzeitlichen Markenbegriffen. Die Niederlassung der Elberfelder und Herforder in London war Teil eines umfassenderen Wanderungs- und Verflechtungsprozesses. Etwa gleichzeitig mit den England-Auswanderern verließen weitere Geschwister und andere nahe Verwandte die Heimat und ließen sich in den Hansestädten Bremen oder Hamburg nieder. Von den sechs Söhnen der Elberfelder Teschemachers verließen vier die Heimat. Während drei nach London zogen, blieb der Vierte in Bremen. In die Hansestadt an der Weser waren bereits weitere Söhne aus dem Kreis der Verwandtschaft gegangen. So entstand ein auf Familien- und Verwandtschaftsbande ruhendes Handelsnetz zwischen den Textilhandelsregionen Bremen und London. London wurde dabei zum Ausgangspunkt bzw. Warenumschlagplatz für einen weltweiten Handel.

Abb.1: Gruppe von Netzwerken in Deutschland Quelle: eigene Erhebung.

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Durch Migration wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts auch direkte Verbindungen zu den sächsischen und schlesischen Textilregionen aufgebaut. Aufgrund der räumlichen Entfernung zur Nordsee findet sich in der Forschung die weitverbreitete Ansicht, dass schlesische Kaufleute kaum über direkte Verbindungen nach London verfügten.12 Sie überließen vielmehr den Export nach Übersee Hamburger Kaufleuten. Es wird allenfalls auf englische Kaufleute hingewiesen, die sich in Sachsen und Schlesien niederließen. Aus der Londoner Perspektive muss dieses Bild jedoch modifiziert werden. Deutsche Kaufleute in London unterhielten intensive direkte Verbindungen zu schlesischen und sächsischen Textilregionen, die teilweise durch Auswanderung über London oder Ansiedlung naher Verwandter in einer der schlesischen oder sächsischen Textilstädte verstärkt wurden. Die Direktwanderung aus Sachsen und Schlesien sollte ebenfalls nicht unterschätzt werden. Eine kontinuierliche, den Elberfelder und Herforder Kaufleuten vergleichbare Kettenwanderung nach London konnte hier ebenfalls nachgewiesen werden. In Sachsen begann sie mit Christopher Rose aus Zwickau in den 1660er Jahren. Aus Dresden gingen allein neun und aus Leipzig sieben Kaufleute nach London neben weiteren aus den umliegenden Orten. Aus Schlesien setzte die Migration in die britische Hauptstadt erst nach der Jahrhundertwende ein.13 Beide Wanderungsbewegungen dauerten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an. Diese miteinander verflochtenen Handelsnetzwerke waren das Rückgrat der deutschen Textilhändler in London. Von der britischen Hauptstadt aus organisierten die deutschen Kaufleute einen weltweiten Handel. Die geographische Reichweite eines solchen Handelsnetzes war abhängig von zahlreichen Variablen, bedingt durch die Zeit, die Situation auf den Märkten, und den Fähigkeiten eines eingewanderten Kaufmanns. Die geographische Ausdehnung eines solchen Netzes wird am Beispiel des Abraham Korten aus Elberfeld aufgezeigt werden. Er ging Anfang des 18. Jahrhunderts nach London. Von ihm ist ein Rechnungsbuch überliefert, das einen anschaulichen Einblick in die Reichweite und Struktur seines Handels den letzten Lebensjahren bietet.

12 Vgl. Boldorf: Leinenregionen, S. 92. 13 Der erste war John Christian Zimmermann alias Carpenter aus Prieg. Er erwarb 1701 die englische Staatsangehörigkeit, siehe dazu Shaw: Letters, S. 5. Insgesamt ließen sich 13 Schlesier einbürgern.

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Abb. 2: Abraham Kortens Netzwerk Quelle: Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute.

Um 1740 war sein Handelshaus zu einer Drehscheibe zwischen Ost und West geworden. Seine Handelsverbindungen erstreckten sich im Westen bis in die Karibik und in die nordamerikanischen Kolonien. Dorthin exportierte er deutsche Leinentextilien und reexportierte von dort in umgekehrter Richtung Zucker und andere Kolonialwaren in die deutschen Länder und nach Russland. Nach Osten erstreckte sich sein Handelsgebiet über St. Petersburg hinaus bis Reschd in Persien.14 An den Handelsunternehmen in die Neue Welt sowie nach Russland besaßen Kortens Verwandte in Elberfeld Anteile. Ohne seine Niederlassung in London wäre ihnen eine solche direkte Beteiligung am britischen Kolonial- und Russlandhandel kaum möglich gewesen. Großbritannien hatte 1734 mit Russland einen Handelsvertrag abgeschlossen, der den britischen Kaufleuten erhebliche wirtschaftliche Vorteile einräumte. Über Korten kamen seine deutschen Verwandten auch in den Genuss der vertraglichen Vereinbarungen.15 3.1 Die Hamburger Handelsnetze Während für die Handelshäuser der deutschen Textilregionen die Verflechtung mit den norddeutschen Hafenstädten, d. h. in erster Linie Bremen, für die Expansion nach London und von dort in die außereuropäische Welt wichtig war, strebten insbesondere die Hamburger Handelshäuser eine Vernetzung mit London und den anderen europäischen Hafenstädten der Kolonialländer an. Die Zahl der 14 Korten MSS, J 56/VI/1–3 (HRO). 15 Vgl. hierzu ausführlich Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute, S. 338–342.

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Hamburger und Bremer Jungkaufleute, die sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts in London niederließen, war hoch. Zwischen 1660 und 1800 erwarben 174 Hamburger und 90 Bremer die britische Staatsangehörigkeit, neben einer unbekannten Zahl von Nicht-Eingebürgerten.16 Etwa gleichzeitig mit den England-Auswanderern ließen sich deren Brüder und nahe Verwandte in den europäischen Handelsstädten wie Lissabon, Porto, Cadiz, Livorno, St. Petersburg oder Bordeaux nieder. Diese Städte waren wichtige Warenumschlagplätze für den Kolonialhandel der jeweiligen Länder. Aufgrund der vorteilhaften Handelsverträge, die Großbritannien mit Portugal, Spanien und Russland abschloss, erfolgte die Auswanderung nach Portugal oder Russland zum Teil über London. Dort ließen sich die Kaufleute zunächst einbürgern, bevor sie als britische Staatsangehörige weiterzogen. So kamen sie in den Genuss der wirtschaftlichen Vorteile der Handelsverträge. Der Nachzug von jüngeren Familienmitgliedern der hanseatischen Kaufleute nach London geschah wie im Fall der Elberfelder und Herforder Kaufleute vorwiegend aus zwei Motiven: entweder, wenn eine Kapitalerweiterung des Geschäftes durch neue Partner wünschenswert erschien, oder wenn die Frage der Nachfolge anstand. Im Fall der Hamburger und Bremer brach die Kettenwanderung in die britische Hauptstadt mit dem Aufkommen der Baumwollindustrie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht ab, sondern setzte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein kontinuierlich fort. Die Händler stiegen nun vermehrt ins Bank- oder Versicherungsgeschäft ein. Am Beispiel der Hamburger Familien Amsinck und Rücker sollen zwei sehr weitreichende Handelsnetze und ihre Entwicklung aufgezeigt werden. Von den Amsincks erwarben zwischen 1710 und 1779 insgesamt vier Mitglieder der Familie die britische Staatsangehörigkeit, von der Hamburger Kaufmanns- und Senatorenfamilie Rücker zwischen 1745 und 1806 waren es sogar neun Mitglieder. Die Amsincks gehörten zu den frühen internationalen Hamburger Handelsfamilien mit Niederlassungen in mehr als drei Ländern. Sie stammten ursprünglich aus den Niederlanden. Ein Zweig hatte sich schon im 16. Jahrhundert in Hamburg niedergelassen und zu Beginn des 18. Jahrhunderts war sie eine der weit verzweigtesten Handelsfamilien.17 Schon im 17. Jahrhundert lebten Familienmitglieder in Rouen, Lissabon, Spanien und Indien. In den 1690er Jahren zog ein Mitglied des Amsterdamer Zweiges nach Surinam und erwarb dort Plantagen.18 Aus dem Hamburger Zweig gingen kurz nach der Wende zum 18. Jahrhundert mehrere Söhne nach London. William Amsinck (1694–1764) erwarb 1710 die englische Staatsangehörigkeit. Ihm folgte sein Cousin Paul, der sich 1722 einbürgern ließ. Auch Pauls jüngerer Bruder Wilhelm (1702–1753) arbeitete eine zeitlang in Lon16 Die Einbürgerungszahlen stellen nur die Spitze der kaufmännischen Einwanderung dar. Da es keine Einwanderungskontrolle gab, ist die Gesamtzahl nicht zu ermitteln. Vgl. hierzu ausführlich Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute, S. 37–64. 17 Zu den Amsincks siehe das Hamburger Geschlechterbuch, Bd. 9 sowie Amsinck: Familie Amsinck; Kellenbenz: Unternehmerkräfte, S. 182–186. 18 Notariats Archiv Amsterdam, 4606 B/136–7; 7956/459, S. 551.

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don, wanderte dann aber nach Portugal weiter. Er ließ sich in Porto nieder und wurde zum Begründer des portugiesischen Zweigs der Familie. Da der Londoner Paul Amsinck unverheiratet blieb, holte er seinen Neffen Paul, den Sohn seines nach Porto ausgewanderten Bruders, nach London. Paul Amsinck der Jüngere wurde zum Begründer des englischen Zweigs der Amsincks. Von England aus expandierte die Familie ein Jahrhundert später nach Australien. Mit Paul Amsinck dem Älteren war wahrscheinlich Luder Mello, ein Verwandter, mit nach London gegangen. Beide erwarben im gleichen Jahr die englische Staatsangehörigkeit und gründeten das Handelshaus Mello & Amsinck. Ein geographischer Schwerpunkt ihres Handels – sicherlich auf Grund der dort ansässigen Verwandtschaft – war die iberische Halbinsel. Bereits 1726 unterhielt das Haus eine Handelsverbindung über Cadiz nach Vera Cruz und eine andere nach Virginia.19 Da beide Partner unverheiratet geblieben waren, holte Luder Mello seinen Neffen Arnold Mello sowie William de Drusina nach London. Paul Amsinck nahm seinen Neffen Paul Amsinck aus Porto mit ins Geschäft. Die Hansestädte ernannten Paul Amsinck jun. in den 1770er Jahren zum Stalhofmeister. Er leitete ebenfalls die Vertretung der Royal Wine Company of Oporto in London.20 Neben dem Londoner Kaufmann und Bankier Andreas Grote, einem gebürtigen Bremer, gehörte das Handelshaus Amsinck & De Drusina zu den großen deutschen Importeuren von nordamerikanischem Tabak. William de Drusina hatte 1756 eine Tochter von James Russel, einem der erfolgreichsten amerikanischen Tabakhändler, in London geheiratet.21 Die jüngere Generation erweiterte die alten Handelsbeziehungen und baute neue Verbindungen zum einen in den Mittelmeerraum nach Livorno und Smyrna und zum anderen nach Russland auf.22 3.2 Das Handelsimperium der Rückers Die Einwanderung der Rückers stellt nicht allein wegen ihrer hohen Zahl ein einzigartiges Beispiel für eine gezielte familiäre Kettenwanderung dar. Zusammen mit den Rothschilds und den Schröders gehörten die englischen Rückers nach Roberts, dem Biographen der Londoner Schröder Bank, zur wirtschaftlichen Elite der Zeit.23 Sie sind jedoch in Vergessenheit geraten, da, anders als bei den zwei genannten Handelsfamilien, kein Nachlass mehr existiert. Als John Anthony Rü19 Neben Mello & Amsinck sowie Raymond de Smeth unterhielten in den 1720er Jahren einige andere gebürtige Hamburger Handelsverbindungen über Portugal und Spanien hinaus in die Kolonien. So fuhren Schiffe von Sir Peter Meyer nach Lissabon und Porto und von Lissabon nach Rio De Janeiro. 20 Kent’s Directories of London 1770er und 1780er Jahre. 21 Price: Empire, S. IX und 203f. 22 Hierzu und zum Folgenden: London Assurance, MSS 8753/1-2, Outstanding Adventures 1742-1748, 1753-64, z. B. Sept. und Dez. 1748; Nov. 1760; Nov. und Dez. 1763 (Guildhall Library, London); Levant Company, State Papers (SP) 105/170: impositions on inward cargoes 11. Okt 1781 (TNA). 23 Roberts: Schroders, S. 40.

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cker, der Begründer des englischen Zweigs der Familie, starb, hinterließ er ein ungeheures Vermögen. Seinen Neffen und Nichten in England und Hamburg vermachte er ein Kapital von wahrscheinlich mehr als 100 000 Pfund, den Grundund Plantagenbesitz nicht eingerechnet.24 John Anthony Rücker (1719–1804) wurde am 19. März 1745 britischer Staatsangehöriger. Anfang der 1750er erschien er erstmals in den Londoner Adressbüchern als Teilhaber im Handelshaus Amyand, Uhthoff & Rucker. 1753 beschrieb Walter Shairp, Kaufmann und britischer Konsul in Russland, das Handelshaus von Amyand, Uhthoff & Rucker als das größte westeuropäische Russlandhaus. George Amyand, der Nachfahre hugenottischer Einwanderer, hatte im Handelshaus des Herforder Kaufmanns Henry Voguell seine Lehre gemacht und war später sein Teilhaber geworden. In diesem Handelshaus hatte auch Henry Uhthoff aus Bremen seine Karriere in London begonnen. Über die Handelstätigkeit des Hauses Amyand, Uhthoff & Rucker ist aus der frühen Zeit wenig bekannt. Alle drei Teilhaber waren Mitglieder in der London-Russland-Kompanie, die den Handel mit dem Zarenreich monopolisierte. George Amyand gehörte nicht allein zu den Direktoren der East India Company, sondern war auch während des Siebenjährigen Krieges einer der großen Geldgeber der Regierung.25 Nach dem Tode seines Partners George Amyand 1766 holte John Anthony Rücker vier Neffen aus Hamburg in sein Geschäft nach London.

Abb. 3: Rücker-Imperium Quelle zusammengestellt aus: Schulte Beerbühl: Hamburger „Merchant Empires“, S. 28–33. 24 Probate Records 11/1410 (TNA). 25 Namier: Structure, S. 55f.

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Einer von ihnen ließ sich 1772 in der Neuen Welt nieder, ein anderer kehrte nach Hamburg zurück und ein weiterer starb. Ein anderes Familienmitglied, Peter Mathias Rücker, der Bruder des nach Amerika ausgewanderten John Peter, hatte sich in den 1780er Jahren in Bordeaux niedergelassen. Bis zu seinem Rückzug aus dem Geschäftsleben Anfang der 1790er Jahre führte John Anthony das Unternehmen mit seinem Neffen Daniel Henry. Da er selber unverheiratet und sein Neffe kinderlos blieb, holten sie Mitte der 1790er Jahre den 16jährigen Neffen John Anthony jun. zur Sicherung der Nachfolge nach London.26 Ähnlich wie John Abraham Kortens Geschäft war das Handelshaus von John Anthony Rücker Drehscheibe eines weitreichenden internationalen Handels zwischen der Neuen Welt und Russland. Spätestens nach dem Tode von George Amyand wandte sich das Handelshaus verstärkt dem Westindienhandel zu. In den 1780er Jahren erwarb das Haus Zuckerplantagen in der Karibik. Die Handelsbeziehungen lassen sich auch nach Frankreich und in den Mittelmeerraum nachweisen. Großbritannien war im 18. Jahrhundert im wachsenden Umfang auf Importe, vor allem Holz, Roheisen und alle für den Aufbau der Marine und die Industrialisierung notwendigen Stoffe, angewiesen. Der Bedarf an Hanf, Flachs, Pech oder Teer stammte teilweise bis zu 90% aus Importen, die vor allem aus dem Baltikum kamen.27 Zur Sicherstellung der Einfuhren in der Zeit der wechselseitigen Blockaden während der Koalitionskriege gegen Napoleon vergab die britische Regierung Lizenzen an einheimische und auswärtige Kaufleute. Es handelte sich bei den Lizenzen um Schutzbriefe, die den Handel mit dem Gegner gestatteten und die Handelsschiffe vor den eigenen Freibeutern schützten. Die dem Haus Rücker gewährten Lizenzen vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in die geographische Reichweite des Handels. Die Azoren und Kanaren, für die sie zahlreiche Lizenzen erhielten, dienten als Warenumschlagplatz für den Handel mit der Neuen Welt.

26 Die napoleonischen Kriege veranlassten weitere Mitglieder zum Verlassen der Hansestadt. Gleich drei gingen nach London und zwar Martin Diederich, der Bruder von John Anthony sowie die beiden Brüder Siegmund und John Diederich. Die beiden zuletzt genannten Brüder eröffneten ein eigenes Handelshaus auf der Broad Street unter dem Namen Rucker Brothers, merchants, Old South Sea House, Broad Street. Etwa gleichzeitig ging ein Bruder des oben genannten John Henry nach Riga, während ein weiterer nach Montevideo in Uruguay zog. Die britische Hauptstadt wurde dann in der nächsten Generation Ausgangspunkt für eine weitere Expansion des Familienunternehmens nach Sydney. 27 Vgl. Kahan: The Plow; Herbert: Commerce.

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Abb.4: Geheime Handelsrouten der Familie Rücker 1804–1812 Quelle: eigene Erhebung.

Während des Krieges diversifizierten die Rückers in das Bankgeschäft und das junge Versicherungswesen. Ein weiteres Mitglied der Familie, das nach der Jahrhundertwende vor den heranrückenden französischen Truppen nach London geflohen war, eröffnete eine Zuckersiederei. Welche Funktion hatten Familienmitglieder in diesen international operierenden Londoner Handelshäusern? Peter Mathias hat zuletzt noch einmal die Bedeutung von Familienmitgliedern und Verwandten für den frühneuzeitlichen Handel hervorgehoben.28 Angesichts der geographischen Reichweite sowie der Langsamkeit der Transport- und Kommunikationswege war es wichtig, auch in der Ferne verlässliche Partner zu haben. Ein geradezu globaler Handel wie die hier beschriebenen Netzwerke konnte jedoch nicht allein auf verwandtschaftlichen Beziehungen beruhen. Auffallend an den hier beschriebenen Netzwerken ist, dass Familienmitglieder an strategischen Orten platziert wurden, die im Zeitalter des Merkantilismus Ausfalltore für den außereuropäischen Handel bildeten. Die Niederlassungen an den wichtigen Handels- und Finanzplätzen der europäischen Kolonialmächte machten diese zu Kontroll- und Organisationszentren des regionalen und kolonialen Handels. Die regionalen Wechselgeschäfte wurden hier von den Familienmitgliedern abgewickelt. Die Niederlassungen, sei es in Hamburg, London oder Porto, operierten dabei als weitgehend selbständige Einheiten. Es existierte zwischen ihnen kein formel28 Vgl. Mathias: Risk, S. 15–35.

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les Vertragsverhältnis. Soweit sich Ansätze einer hierarchischen Firmenstruktur aufzeigen lassen, beschränkten sie sich allgemein auf die Aufbauphase eines Handelshauses in der Fremde. Deutsche Kaufleute wie etwa Christian Splitgerber aus Pommern oder Nathan Mayer Rothschild begannen in London bzw. in Manchester als Kommissionäre der elterlichen oder geschwisterlichen Handelshäuser. Die Abhängigkeit reduzierte sich im Laufe der Jahre und die organisatorische Eigenständigkeit der meisten Handelshäuser wuchs, ohne dass die Verbindungen zur Heimat völlig gelöst wurden. Wirtschaftlich überflügelten einige deutsche Häuser in London, z. B. die oben beschriebenen, die ihrer Geschwister und Eltern in der Heimat und entwickelten sich zu Zentren internationaler Familienunternehmen. 4. EIN WELTBÜRGERLICHES NETZWERK VON MACHT UND EINFLUSS In dem geradezu globalen Handel arbeiteten deutsche Kaufleute mit den verschiedensten Nationalitäten zusammen. Etwa drei Viertel der Londoner Kaufmannselite war kontinentaleuropäischer Herkunft oder Abstammung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit der internationale Handel das Entstehen einer europäischen bzw. kosmopolitischen Wirtschaftselite beschleunigte. In welchem Umfang bestanden die Handelshäuser aus Teilhabern verschiedener europäischer Herkunft? Entwickelten sich über die wirtschaftlichen Beziehungen hinaus freundschaftliche oder familiäre Verflechtungen? Die Londoner Handelshäuser der Deutschen setzten sich häufig aus mehreren Teilhabern zusammen. Die Mehrheit bevorzugte offensichtlich Mitglieder der eigenen Nation bzw. aus dem weiteren Familienkreis, doch lassen sich immer wieder Häuser mit Partnern schweizerischer, hugenottischer, niederländischer oder englischer Herkunft finden. Die Londoner Adressbücher, die seit etwa 1740 jährlich erschienen, bieten eine Hauptquelle für den Nachweis solcher Partnerschaften. Allerdings nennen sie oft nur den Inhaber bzw. die Hauptpartner. Die Namen der Juniorpartner werden meist nicht erwähnt, sodass der Anteil der Handelshäuser mit verschiedenen Nationalitäten möglicherweise höher war. Sozietäten mit Briten lassen sich bei den deutschen Häusern vor allem in den späteren Berufsjahren feststellen. Allerdings ist anhand der Adressbücher zu erkennen, dass der Anteil deutsch-britischer Häuser während der Koalitionskriege deutlich stieg. Verursacht wurde diese Entwicklung wahrscheinlich durch die Einführung der Immigrationskontrollen und des Ausweisungsrechts, die das Leben der Ausländer erheblich einschränkten.29 Auf geschäftlicher Ebene stellt eine Sozietät eine der engsten Wirtschaftsbeziehungen dar, d.h. eine Schicksalsgemeinschaft, in der Erfolg und Misserfolg bzw. Scheitern geteilt wurden. Kooperationen bei einzelnen Unternehmungen (adventures) mit Immigranten anderer Nationen waren viel häufiger. Bei seinen Karibikunternehmungen kooperierte Abraham Korten beispielsweise mit den Barclays und dem Niederländer Van Assendelft. Private Beziehungen unter den 29 Siehe hierzu ausführlich Schulte Beerbühl: Kaufleute, Kap. I.

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Kaufleuten lassen sich an den Tauf- und Heiratsregistern nachweisen. Private und geschäftliche Beziehungen waren häufig miteinander verflochten. Patenschaft und Heirat dienten daher häufig der Festigung wirtschaftlicher Beziehungen. Ein solch weltbürgerliches Netzwerk von Macht und Einfluss stellten die Handelshäuser von Abraham Korten und Henry Voguell dar. Beginnen möchte ich mit den Teilhabern und Lehrlingen im Hause des Herforder Kaufmanns Henry Voguell. Teilhaber

Lehrlinge

George Amyand Theophilus Pritzler

Henry Voguell, jun. Henry Uhthoff

Uhthoff & Battier Henry Uthoff John James Battier Uthoff & Chabanel

Amyand, Uthoff & Rücker Henry Uhthoff John Anthony Rücker

Tab. 2: Teilhaber und Lehrlinge von Voguell & Amyand Quelle: eigene Erhebung.

Der schon erwähnte Henry Uhthoff, der eine Teilhaberschaft mit Amyand und Rücker einging, war Patenkind von Henry Voguell. Henry Uhthoff30 schied Mitte der 1750er Jahre aus der Gesellschaft aus und ging eine neue Sozietät mit einem Schweizer ein, dessen Bruder oder Cousin als Buchhalter bei Henry Voguell gearbeitet hatte. Die Sozietät von Amyand und Rücker bestand bis zum Tode von George Amyand im Jahre 1766. Neben den wirtschaftlichen Beziehungen spielen bei diesem Netzwerk auch familiäre Verbindungen eine wichtige Rolle. George Amyand heiratete 1746 die Tochter des 1742 verstorbenen Abraham Korten. Korten hatte, als er 1742 starb, Gerard Van Neck als Testamentsvollstrecker und Vormund seiner Tochter bestimmt. Die Brüder Gerard und Joshua Van Neck kamen aus Den Haag und gehörten wie George Amyand zu den Geldgebern der Regierungsanleihen. Sie arbeiteten eng mit dem Pariser Handels- und Bankhaus Thellusson, Necker & Co zusammen und hatten ihr Vermögen im Weizen- und Tabakhandel mit der französischen Regierung sowie den finanziellen Transaktionen während der Kriege von 1744–48 und 1756–63 gemacht. Für seine Verdienste wurde Joshua Van Neck in den Adelsstand erhoben. Gerard Van Neck galt, als er 1750 starb, als einer der reichsten Männer Europas. Henry Uhthoff heiratete in diese Familie ein.

30 Henry Uhthoff stammte aus Bremen (geb. 2. Mai 1728 in Bremen, gest. 27. April 1784 in Bath) und hatte als Lehrling im Hause Amyand angefangen und dort anschließend als Juniorteilhaber gearbeitet ( Probate Records 11/751 (TNA)).

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Abb.5: Die Familien Vanneck und Uthoff: Sir Joshua Vanneck (links), Lady Vanneck, Hon. Thomas Walpole, Gertrude Vanneck, Hon. Elizabeth Walpole, née Vanneck, Anna Maria Cornelia, née Vanneck, Henry Uhthoff (rechts); im Vordergrund sitzend: Joshua Vanneck II, Margaret Vanneck Quelle: Portrait von Arthur Nevis. Frick Art Museum, Pittburgh (USA).

Durch solche Heirats- und Geschäftsverbindungen entwickelte sich eine kosmopolitische Handelselite, deren Verwandtschafts- und Geschäftsbeziehungen in die anderen europäischen Länder ausstrahlten. Ähnliche weltbürgerliche Netzwerke von Einfluss und Macht sind auch bei anderen deutschen Kaufleuten in London zu finden. Sie organisierten und finanzierten die weltweite Expansion des Handels. In den zahlreichen Finanz- und Konjunkturkrisen des 18. Jahrhunderts boten diese Familiennetze gescheiterten Kaufleuten einen wichtigen sozialen und wirtschaftlichen Rückhalt. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts riefen Industrialisierung und kommerzielle Expansion große Spekulationsblasen hervor, die riesige Konkurswellen nach sich zogen, in denen selbst etablierte und große Häuser zusammenbrachen. Von solchen Konkurswellen wurden auch deutsche Häuser in London erfasst. In einer dieser Krisen stellten Uhthoff & Battier ebenso wie Paul Amsinck jun. ihre Geschäftstätigkeit ein. Amsinck ging sogar drei Mal in Konkurs. Zu der damaligen Zeit hafteten die Schuldner noch mit ihrem vollen Vermögen, allerdings sah das englische Konkursrecht, anders als auf dem Kontinent, bereits seit 1706 eine Entlastung von den Konkursschulden vor. Vielen Konkursschuldnern blieb dennoch der Weg ins Schuldgefängnis nicht erspart. Die Reputation des Gescheiterten sowie seine Einbettung in ein einflussreiches verwandtschaftliches Netzwerk verhalfen ihm zu einem Neuanfang. Durch die finanzielle Unterstützung einflussreicher Landsleute in London sowie seiner Familie in Leer gelang auch dem eingangs zitierten Hermann Jakob Garrels ein erfolgreicher Neubeginn, nachdem er in der Krise von 1799 gescheitert war. In den nachfolgenden Jahren konnte er so hohe Gewinne generieren, dass er seinen Bruder in Leer finanziell unterstützte, als dieser nach der Besetzung Ostfrieslands durch französische Truppen fallierte.

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5. FAZIT Zusammenfassend ist festzuhalten, dass seit etwa 1660 durch Etappen- und Kettenwanderung deutscher Kaufleute ein großräumiger Verflechtungsprozess einsetzte, der die protoindustriellen Textilregionen des Alten Reiches mit den norddeutschen Hafenstädten und den führenden europäischen Atlantik- und Mittelmeerhäfen verband. Das aufsteigende britische Empire übte auf die kontinentaleuropäischen Migranten eine besondere Anziehungskraft aus, denn dort wurden das Kapital und die Infrastruktur für einen weltweiten Handel geschaffen. Die Migration nach London wies deshalb eine besonders hohe Kontinuität und Dichte auf. Der Entwicklungs- und Expansionsprozess der deutschen Handelsnetze im europäischen Raum und in Übersee wird erst durch Einbeziehung der raum-zeitlichen Dimension und Aufdeckung von Verwandtschafts- und Geschäftsbeziehungen deutlich, denn die Kontinuität der deutschen Häuser in London ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen, da die Nachfolge oft auf die Generation der Neffen, der Schwiegersöhne oder anderer Verwandter überging und damit ein Namenswechsel erfolgte. Durch Migration und Niederlassung in den damals führenden Handels- und Hafenstädten hielten die deutschen Kaufleute die Transaktionskosten niedrig, denn sie nutzten die von den europäischen Kolonialmächten für den Welthandel bereitgestellten Infrastrukturen. Als Folge des Expansionsstrebens der Kaufleute banden diese die Wirtschaft der Geburtsheimat nicht nur in die sich entwickelnde Weltwirtschaft ein, sondern trugen aktiv zu ihrer Entstehung bei. Der Fernhandel hatte zugleich Rückkopplungseffekte sowohl auf die wirtschaftliche Entwicklung der Geburtsheimat als auch auf die Kolonialmächte. Durch räumliche und soziale Verflechtung unterminierten die Kaufleute die merkantilistischen Handelsschranken und trugen zu ihrer Auflösung bei. Dieser Prozess, an dem mehr oder minder alle europäischen Fernhandelskaufleute beteiligt waren, lieferte die Grundlage für Adam Smiths Freihandelstheorie. Mobilität und soziale Verflechtungen durch Heirat zwischen verschiedenen nationalen Identitäten schufen eine europäische Handelselite sowohl auf lokaler Ebene, d.h. in den Haupt- und Hafenstädten, als auch auf gesamteuropäischer Ebene durch ihre transnationalen Verwandtschaftsnetze. Für zeitgenössische Philosophen wie Hume, Voltaire oder Kant waren die Angehörigen dieser europäischen Handelselite die Protagonisten der „cosmopolites“, der „citizens of the world“. 31

31 Z.B. David Hume betrachtete die Fernhandelskaufleute als “the most useful race of men in the whole society. [They] serve every one and [are] the true citizens of the world”, da “English, Dutch, Russian and Chinese merchants tie all the individuals of different nations together like threads of silk and bring the peace that is necessary to world commerce” . Zit. nach Schlereth: Cosmopolitan Ideal, S. 205; zu Kant vgl. Kleingeld: Cosmopolitanism.

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QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Amsinck, Caesar: Die niederländische und hamburgische Familie Amsinck. Ein Versuch einer Familiengeschichte, Bd.1 und 2, Bd. 3 hg. von Otto Hintze, Hamburg 1886–1932. Boldorf, Marcel: Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750–1850), Köln 2006. Casson, Mark: Networks in Economic and Social History: A Theoretical Approach?, in: Andreas Gestrich und Margrit Schulte Beerbühl (Hg.): Cosmopolitan Networks, London (i. E.). Chapman, Stanley D.: The International Houses: The Continental Contribution to British Commerce, 1800–1860, in: Journal of European Economic History, 6 (1977), S. 5–48. Del Barrio, A. Sánches (Hg.): Datini – Fugger – Ruiz. Los legados histórico artísticos y documentales de tres grandes hombres de negocios, Valladolid 2009. Denzer, Jörg: Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika (1528–1556), München 2005. Esselborn, Ernst: Das Geschlecht Garrels aus Leer, Berlin-Pankow 1938. Häberlein, Mark: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006. Kahan, Arcadius: The Plow, the Hammer and the Knout. An Economic History of EighteenthCentury Russia, Chicago, London 1985. Kaplan, Herbert: Russian Overseas Commerce with Great Britain during the Reign of Catherine II, Philadelphia 1995. Kellenbenz, Hermann: Unternehmerkräfte im Hamburger Portugal- und Spanienhandel 1590– 1625, Hamburg 1954. Kleingeld, Pauline: Six Varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany, in: Journal of the History of Ideas, 69 (1999), S. 505–524. Mathias, Peter: „Risk, credit and kinship in early-modern enterprise”, in: John J. McCusker and Kenneth Morgan (Hg.): The Early Modern Atlantic Economy, Cambridge 2000, S. 15–35. Muilman, Peter: „Autobiographical Notes of Peter Muilman”, handschriftlich am Ende des 1. Bandes der angeblich von ihm verfassten „A New and Complete History of Essex. ... by a Gentleman“, Chelmsford 1770, 6 Bde, handschriftliche Notiz auf der letzten Seite des 1. Bandes. Namier Lewis: The Structure of Politics at the Accession of George III, 2. Aufl., London 1957. Oltmer, Jochen: Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010. Prange, Ruth: Die bremische Kaufmannschaft des 16. und 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Betrachtung, (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, hrsg. von Karl H. Schwebel, Bd. 31), Bremen 1963. Price, Jacob M.: One Family’s Empire: the Russell-Lee-Clerk Connection in Maryland, Britain and India 1707–1857, in: Ders. (Hg.): Tobacco in Atlantic Trade. The Chesapeake, London and Glasgow 1675–1775, Aldershot 1995. Reissmann, Martin: Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts aus sozialgeschichtlicher Sicht, Hamburg 1975. Roberts, Richard: The Schroders. Merchants and Bankers, London 1992. Schlereth, Thomas J.: The Cosmopolitan Ideal in Enlightenment Thought. Its Forms and Function in the Ideals of Franklin, Hume and Voltaire 1694–1790, London 1977. Schulte Beerbühl, Margrit: Deutsche Kaufleute in London: Welthandel und Einbürgerung 1660– 1818, München 2007. Schulte Beerbühl, Margrit: Die frühen Hamburger „merchant Empires“ und deren internationale Handelsnetze (1660–1815), in: Hamburger Wirtschaft-Chronik, NF 5 (2005), S. 7–34. Shaw, William A. (Hg.): Letters of Denization and Acts of Naturalization for Aliens in England and Ireland 1701–1800 (= Publications of the Huguenot Society of London Bd. 27), Manchester 1923.

DIFFERENZIERUNG UND SPEZIALISIERUNG IM FERNHANDEL DES 17. UND 18. JAHRHUNDERTS Zur Bedeutung des Kommissions- und Speditionshandels Stefan Gorißen Für eine Reihe von Städten, die im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert zu den führenden Handelsplätzen Europas zählte, diagnostiziert die wirtschaftsgeschichtliche Forschung einen ökonomischen Niedergang im 17. und 18. Jahrhundert. So unbestreitbar der Handel in Städten wie Amsterdam, Antwerpen, Köln, Lübeck oder Nürnberg seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an Bedeutung hinter den in aufstrebenden Handelsplätzen wie London, Hamburg oder – in Grenzen – Frankfurt und Leipzig durchgeführten Geschäften zurückblieb,1 so unklar bleibt meist, worauf sich die Unterstellung einer rückläufigen Bedeutung bezieht, was als Vergleichsmaßstab dient und auf welche Grundlage sich das Urteil stützt. Ob etwa der Handel einer Stadt wie Köln im 16. Jahrhundert tatsächlich größeren Umfang besaß als zu Beginn des 18. Jahrhunderts,2 lässt sich angesichts fehlender Daten zum Handelsvolumen kaum noch auf einigermaßen zuverlässiger Grundlage feststellen. In allen Fällen wird die These von der rückläufigen Bedeutung eines Handelsplatzes nicht zuletzt auf eine Beobachtung gegründet, die weniger die Quantität als vielmehr die Qualität des Handels an den genannten Orten betrifft. Über Amsterdam und Antwerpen, Köln, Lübeck und Nürnberg wird behauptet, dass sich das Geschäft dort mehr und mehr auf den bloßen Kommissions- und Speditionshandel konzentriert und vom Handel im engeren Sinne, dem so genannten Eigenhandel, entfernt habe. Der Kommissionshandel sei aber gewissermaßen als eine degenerierte Form des Handels anzusehen, der den mit ihm befassten Kaufleuten zwar einfachen und sicheren Gewinn ermöglichte, sie aber zugleich von der Notwendigkeit befreite, Risiken einzugehen und innovativ auf sich verändernde Marktlagen zu reagieren. Während der Kommissionshandel also dem einzelnen Kaufmann durchaus ein bequemes Einkommen erlaubte, seien die Konsequenzen einer entsprechenden Ausrichtung des Handels der ökonomischen Prosperität des Handelsplatzes abträglich gewesen. 1 2

Vgl. etwa Faber: Economic decline; Pohl: Wirtschaftsgeschichte Kölns, S. 72; Kopitzsch: Das 18. Jahrhundert, S. 494; Bog: Wirtschaft und Gesellschaft. Zur These vom rückläufigen Umfang des Kölner Handels im 17. und 18. Jahrhundert vgl. etwa Feldenkirchen: Handel, S. 241ff.

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Der folgende Beitrag will weder die kommerzielle Leistungsfähigkeit verschiedener Städte im 17. und 18. Jahrhundert neu bewerten noch vergleichend ein neues Ranking von Handelsplätzen erstellen. Ziel der folgenden Überlegungen ist vielmehr, durch einen genaueren Blick auf die Entwicklung und die ökonomische Funktion des Kommissions- und Speditionshandels die These zu begründen, dass diese Handelsformen Kennzeichen einer sich differenzierenden und spezialisierenden merkantilen Kultur waren, die ihrerseits eine wesentliche Vorbedingung für die enormen Produktivitätssteigerungen im gewerblichen Sektor während des 19. Jahrhunderts darstellte. Die Erteilung eines Auftrags an einen befreundeten Kaufmann an einem entfernten Handelsplatz war als Vertragsform in seinen Grundsätzen bereits in der Antike bekannt und wurde im römischen Recht als mandatum begriffen. Erst mit der Verdichtung des europäischen Handelsverkehrs seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich dann jedoch der Kommissions- und Speditionshandel als spezialisierte Form einer Handelspraxis, für die eine passende Beschreibung und ein geeigneter rechtlicher Rahmen noch entwickelt werden musste.3 Die Ausdifferenzierung eines spezialisierten Kommissionshandels, die Spezialisierung einer besonderen Händlergruppe auf dieses „kaufmännische Vertretungsgewerbe“4 und die allmähliche rechtliche Fixierung eines besonderen Kommissionsvertrags mit klar umschriebenen Rechten und Pflichten von Kommittent und Kommissionär soll im Folgenden im Sinne der Neuen Institutionenökonomik als ein bedeutendes Beispiel für Institutionenbildung interpretiert werden. Der Prozess der Herausbildung spezifischer Institutionen lässt sich in diesem Kontext weder als rein wirtschaftshistorischer Vorgang noch als ausschließlich rechtsgeschichtliches Problem verstehen. Bildung und Wandel formaler Institutionen, zu denen etwa das für die frühneuzeitliche ökonomische Entwicklung zentrale Handelsrecht gehört, vollzogen sich vor dem Hintergrund von und im Austausch mit informellen Institutionen, nämlich tradierter und breit akzeptierter Praktiken und Gewohnheiten sowie spezifischer kultureller Traditionen.5 Damit berührt – wie gezeigt werden soll – das vermeintlich „staubtrockene“ Thema der Herausbildung einer spezifischen Organisationsform des Fernhandels die Nahtstelle zwischen Wirtschafts-, Rechts- und Kulturgeschichte. 2. Angesichts des Fehlens dichter und tragfähiger Daten zum Handelsvolumen zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Zeit der napoleonischen

3 4 5

Vgl. die älteren rechtsgeschichtlichen Überblicke bei Grünhut: Commissionshandel; SchmidtRimpler: Kommissionsgeschäft. So die Einordnung des Kommissionshandels bei Sombart: Kapitalismus, S. 553ff. Hierzu maßgebend North: Theorie, S. 43ff.; vgl. jüngst auch die Diskussion der North’schen Interpretation bei Pies/Leschke (Hg.): Norths Geschichtstheorie.

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Herrschaft6 ist die Handelsgeschichte darauf angewiesen, sich über weite Strecken auf beschreibende Quellen zur Handelstätigkeit an den verschiedenen Handelsplätzen zu stützen. Das Urteil der Handelsgeschichte, dass an vielen ehemals bedeutenden Umschlagsorten der Kommissions- und Speditionshandel zur wichtigsten Einnahmequelle aufgestiegen sei, findet sich in der handelsgeschichtlichen Literatur des 18. Jahrhunderts vielfach bestätigt.7 Auch die Bewertung des Kommissions- und Speditionshandels als eine minderwertige, lediglich abgeleitete Handelsform ist hier bereits vorgegeben: „Wenn der Commissions-Handel nicht eigentlich den Nahmen eines Handels verdient, … so kömmt derselbe der Spedition vollends auf keine Weise zu. Denn der Speditör ist auch nicht für eine kleine Weile Eigner oder Besizer derer Güter, die durch seine Hände gehen, welches doch der Commissionär, in vielen Fällen wenigstens, wird. … Er sezt also den Eigen-Handel 8 anderer Nationen voraus, ist selbst kein Handel.“

Dass sich daher in den Augen der handelspolitischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts auf der Grundlage des Kommissions- und Speditionshandels an einem Handelsplatz kein Reichtum entwickeln konnte, ist wenig überraschend, steht dieses Urteil doch in völliger Übereinstimmung mit den Grundsätzen der merkantilistischen Handelsbilanztheorie. Entsprechend unterscheidet – um einen Gewährsmann willkürlich herauszugreifen – Johann Heinrich von Justi in seinem großem Werk über „Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten“ aus dem Jahr 1760 „in Ansehung ihres inneren Werthes“ drei Formen von „Commercien“: „Die erste ist, wenn man auswärtige Waaren zum Verbrauch ins Land kommen lässt, und davor Geld außer Landes sendet. Die andere Art ist, wenn man ausländische Waaren abholet, um solche wieder an andere Völker zu verhandeln, welches der öconomische Handel genennet wird; und die dritte Art bestehet in dem Handel, der mit den Producten des eigenen Landes an auswärtige Völker getrieben wird. … die Güte des Handels beruhet blos auf dem Ver9 hältnis in welchem diese dreyerley Arten des Handels getrieben werden.“

Gemäß der merkantilistischen Doktrin, dass nur durch einen Handelsbilanzüberschuss ökonomische Prosperität und Wohlstandssteigerung, mit dem Begriff der Zeit: „Glückseligkeit“ zu erlangen sei, sah Justi alleine in der dritten Form des Handels, dem Export einheimischer Güter, die Quelle für „nicht allein blühende, sondern auch wohlgegründete und dauerhafte Commercien“10 und damit für den Wohlstand des Landes. Der Kommissionshandel wäre Justis Typologie zufolge der zweiten Form, dem sogenannten „öconomischen Handel“ zuzuordnen, widmete er sich doch der 6

Vgl. etwa bereits Zorn: Ausfuhrindustrie; Kutz: Entwicklung; Gömmel: Merkantilismus, S. 70f., S. 82f. 7 Vgl. etwa die einschlägigen Darstellungen der genannten Handelsorte bei Bohn: Gottfried Christian Bohn. 8 Büsch: Handlung, S. 227. 9 von Justi: Grundfeste, S. 513. 10 von Justi: Grundfeste, S. 515.

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Vermittlung von Gütern, die auswärts produziert und von Auswärtigen abgenommen werden. Der Nutzen für den Kaufmann ergab sich auch bei diesem Handel aus der Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis, allerdings „ist es weit gefehlet, daß daraus genugsam gegründete und dauerhafte Commercien entstehen könnten.“11 Folgt man den Doktrinen der merkantilistischen Handelstheorie, war nicht zu erwarten, dass auf Warenkommission und -spedition die Prosperität eines Handelsplatzes gegründet werden könne. Entsprechend war für die merkantilistisch inspirierten Autoren der Kommissionshandel gleichbedeutend mit Stagnation, ein Urteil, das in der Folge durch die wirtschaftshistorische Literatur häufig unbesehen, ohne auf die wirtschaftstheoretischen Prämissen zu reflektieren, übernommen wurde. Im Gegensatz zu solchen staats- und policeywissenschaftlich motivierten Urteilen beschrieb eine eher pragmatisch orientierte Handelsliteratur im 17. und 18. Jahrhundert die konkret praktizierten Formen des Kommissionshandels. Bereits der französische Kaufmann Jacques Savary, dessen 1676 publiziertes Werk „Le parfait négociant“ nicht nur die Disziplin einer an den konkreten Bedürfnissen der Kaufleute orientierten Handelswissenschaft begründete, sondern zugleich auf diesem Feld das bis ins späte 18. Jahrhundert hinein maßgebliche Kompendium darstellte, verdeutlicht die Bedeutung der Kommissionen für den Handel in vorindustrieller Zeit: „Es ist nichts welches den Handel besser erhält als Commissionarien oder Factorn und Correspondenten. Dann vermittelst deren können die Kauffleute und Banquierer durch die ganze Welt so wohl in Ein- und Verkauff der Wahren als in Tratten und Remessen von einem Ort zum andern handeln / und dörffen nicht einmahl aus ihren Gewölbern oder Schreibstuben gehen; und vorwahr die vornehmbsten Negocianten thun nichts anders als dass sie Wahren in dem Land / wo deren überflüssig / committiren / damit sie dieselben in andere / wo deren keine / und sie nothwendig / zuverkaufen schicken, und dieser Handel könnte nicht geschehen / 12 wann keine Correspondenten oder Commissionarien und Factorn wären … .“

Savary, dessen Buch noch im Erscheinungsjahr ins Deutsche übersetzt wurde, benennt die entscheidenden Funktionen des Kommissionshandels mit wünschenswerter Klarheit. Im Kern des Kommissionsgeschäfts stand der an einen Geschäftsfreund in einer anderen Stadt erteilte Auftrag eines Kaufmanns, bestimmte Geschäftsvorgänge in seinem Auftrag, das heißt in seinem Namen und auf seine Rechnung, zu besorgen, ohne dass die beiden Kaufleute durch ein Dienstverhältnis dauerhaft aneinander gebunden wären. Der Kommissionshandel war „kaufmännisches Vertretungsgewerbe“, der Kommissionär gehört zu den „kaufmännischen Mittelspersonen“.13 Savary zufolge konnte sich der Kommissionshandel auf fünf Felder erstrecken: auf den Wareneinkauf, auf den Warenverkauf, auf den Wechselhandel, auf

11 Ebd., S. 514. 12 Savary: Kauff- und Handelsmann, S. 162. 13 So der Titel der ersten Abteilung, 1. Hälfte des fünften Bandes von Ehrenberg (Hg.): Handbuch.

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die Verladetätigkeit und auf den Versand der Güter. Der Einkaufskommissionär wurde von seinem Auftraggeber, dem Kommittenten, aufgefordert, für ihn Wareneinkäufe zu bestimmten, im Kommissionsvertrag definierten Bedingungen, meist bestimmten Qualitätsstandards und festgelegten Höchstpreisen, zu tätigen. Der Kommittent machte sich die Waren- und die Ortskenntnis des Kommissionärs zunutze. Die Kaufmannschaft der deutschen Städte und Territorien bediente sich der Einkaufskommissionen vor allem für den Import von Rohstoffen und Kolonialwaren. Im französischen Atlantikhafen Bordeaux etwa, über den im 18. Jahrhundert die wichtigsten Produkte der französischen und spanischen Kolonien in der Karibik, wie Kaffee, Tee, Kakao, Zucker und der Farbstoff Indigo, in die Territorien des Reichs vermittelt wurden, hatte sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eine große und bedeutende Gruppe deutschstämmiger Händlern angesiedelt, die im Auftrag von Kaufleuten der großen deutschen Handelsplätze Einkaufskommissionen auf Kolonialwaren durchführten.14 Das Volumen der Gegenlieferungen von den deutschen Handelsplätzen nach Bordeaux blieb vergleichsweise gering und betraf neben Holz und Getreide vor allem Leinen und Eisenwaren. Entsprechend war an Plätzen wie Bordeaux die Handelsbilanz aus deutscher Perspektive deutlich negativ. Der Wertausgleich geschah durch Wechselurkunden überwiegend auf Amsterdam oder Hamburg. An den deutschen Handelsplätzen war im 18. Jahrhundert hingegen die Verkaufskommission die verbreitetste Form der Kommission.15 Hierbei beauftragte ein Kommittent den Kommissionär, in seinem Namen Waren zu bestimmten Konditionen zu verkaufen, was vor allem die Suche nach interessierten Käufern einschloss. Voraussetzung für die Abwicklung auch dieses Geschäfts waren gute Kenntnisse der Marktverhältnisse auf Seiten des Kommissionärs. Mit der Verkaufskommission war häufig der Auftrag verbunden, sich um den Versand der Waren zu kümmern. Der Spediteur, wie der mit dem Versand beauftragte Kommissionär seit der Mitte des 17. Jahrhunderts genannt wurde, musste dafür Sorge tragen, dass die Handelsgüter zu einem festgelegten Zeitpunkt wohlbehalten an einem genannten Ort anlangten. Dies implizierte zunächst, Räume und Verfahren zur Lagerung der übernommenen Güter, die sehr unterschiedliche Anforderungen an das Depot aufweisen konnten, bereitzuhalten. Zudem mussten die von verschiedenen Absendern gelieferten Waren diesen präzise zugeordnet werden können, was eine differenzierte Buchführung voraussetzte. Zu den Aufgaben des Spediteurs gehörte dann vor allem die zuweilen komplizierte Suche nach

14 Vgl. Weber: Deutsche Kaufleute, S. 154ff. Prominente Beispiele sind etwa die Firmen Schröder & Schyler sowie Bethmann & Imbert; vgl. hierzu Rupp: Kettenglied; Butel/Roudié: La maison Schröder; Henninger: Johann Jakob von Bethmann, S. 112ff. und S. 223ff. 15 Vgl. Sombart: Kapitalismus, S. 553; Wenn Sombart allerdings behauptet, die Einkaufskommission habe für den deutschen Fernhandel in vorindustrieller Zeit keine Bedeutung besessen, verkennt er die hohe Bedeutung, die Einkaufskommissionen insbesondere für den Kolonialwarenhandel und für die Beschaffung von Rohstoffen auf entfernten Märkten besaß.

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so genannten „Schiffsgelegenheiten“ ebenso wie der manchmal nötige Abschluss eines Versicherungsvertrages, etwa für den mit nicht unerheblichen Risiken behafteten Seetransport.16 Verkaufskommissionen besaßen im 17. und 18. Jahrhundert vor allem für die Vermarktung der in den protoindustriellen Gewerberegionen Mitteleuropas produzierten Güter eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Für den Absatz von Textilien und Metallprodukten, die in ländlichen Regionen, oftmals ohne etabliertes kommerzielles städtisches Zentrum produziert und von regionalen Kaufleuten vertrieben wurden, kamen zwei Möglichkeiten in Betracht: Entweder bemühte sich die regionale Kaufmannschaft, die Waren auf den großen Messen, vor allem in Leipzig und in Frankfurt/Main, selbst zu verkaufen,17 oder aber sie bediente sich der Dienste von Kommissionshäusern an den großen Handelsplätzen.18 Gegenüber dem Messehandel besaßen die Verkaufskommissionen den Vorteil, dass sie einen kontinuierlichen, von Messeterminen unabhängigen Absatz ermöglichten, Kaufleute und Produzenten gewissermaßen näher an die Endabnehmer ihrer Produkte heranführten und ihnen damit mehr Ansatzpunkte boten, Angebot und Produktion flexibler an sich wandelnde Nachfragestrukturen anzupassen. Zugleich differenzierte und verdichtete sich mit der Nutzung des Kommissionshandels das Netz der Märkte und überörtlichen Handelsplätze.19 Schließlich bedienten sich die Kaufleute im 18. Jahrhundert auch bei der Abwicklung des Zahlungsverkehrs regelmäßig eines Kommissionärs, dessen Aufgabe es war, für das Akzept von Wechselurkunden zu sorgen oder diese bei Fälligkeit den Schuldnern zu präsentieren.20 Die kaufmännische Praxis des 17. und 18. Jahrhunderts überschritt schon bald das Bemühen Savarys, verschiedene Felder des Kommissionshandels gegeneinander abzugrenzen. Der 1768 in zweiter Auflage publizierte „Grundriß eines vollständigen Kaufmanns-Systems“ von Carl Günther Ludovici bemühte sich entsprechend um eine weite, vielfältige Praktiken einschließende Definition des Kommissionshandels: 16 Zu den Pflichten und besonderen Kompetenzen eines Spediteurs vgl. Savary: Kauff- und Handelsmann, S. 203f. 17 Vgl. zum Messehandel den Überblick bei Brübach: Reichsmessen; zum Verkauf protoindustrieller Produkte auf den großen deutschen Messen durch Iserlohner Kaufleute vgl. Reininghaus: Iserlohn, S. 282ff. 18 Zum Absatz der schlesischen Leinwand über Messen und Kommissionshandel vgl. jetzt Boldorf: Leinenregionen, S. 90ff.; für den Absatz Krefelder Seidenstoffe, der ebenfalls über Messen und über Kommissionspartner lief, vgl. Kriedte: Taufgesinnte, S. 316f., S. 326ff.; Beispiele für den Kommissionshandel von Handelshäusern in den Ostseehäfen mit Metallwaren der Grafschaft Mark bei Gorißen: Handelshaus, S. 250ff.; ein Beispiel zur Vermarktung protoindustrieller Baumwollwaren: Gemmert: Spinnerei, S. 43ff. 19 Ein wichtiges Beispiel ist etwa der Aufstieg Duisburgs zu einem wichtigen Speditionsort im 18. Jahrhundert mit hoher Bedeutung insbesondere für die protoindustriellen Gewerbe Rheinlands und Westfalens: vgl. Lehmann: Duisburgs Großhandel; Jägers: Duisburg, S. 65ff. 20 Vgl. Savary: Kauff- und Handelsmann, S. 192ff.; Überblick über den vor- und frühindustrielle Verfahren des Zahlungsverkehrs jetzt bei Denzel: System.

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Die Kommission „erstreckt sich bey der handlung auf die Eincaßierung und auszahlung baarer Gelder, auf Banco- und Wechselnegotien, auf den Ein- und Verkauf gewisser Waaren, oder deren Empfang und Spedirung, auf die Befrachtung der Schiffe, auf Assecuranzen, und überhaupt auf alle von der Handlung herkommende Verrichtungen, die einem Kaufmann an 21 einem anderen Orte, als dem Orte seines Aufenthaltes, zu besorgen obliegen.“

Die ökonomischen Funktionen der Kommissionen für den Handelsverkehr des 17. und 18. Jahrhunderts liegen damit auf der Hand: Die Kommissionäre entlasteten vor allem Kaufleute aus entfernten Regionen von nur mit hohem Aufwand effizient zu bewerkstelligenden Aufgaben, für die genaue Orts- und Warenkenntnisse Voraussetzung waren.22 Die Suche nach einem Käufer in der Absatzregion setzte für einen Händler voraus, dass er sich längere Zeit am Absatzort aufhalten musste, um Kontakte zu Interessenten zu knüpfen. War ein Käufer gefunden, bedeutete die Suche nach einem Fuhrmann oder einer „Schiffsgelegenheit“ für einen aus entfernten Regionen stammenden Kaufmann, der mit den örtlichen Verkehrsverhältnissen, Usancen und Tarifen nicht vertraut war, erneut einen erheblichen Aufwand. Gerade die Etablierung einer funktionierenden Zusammenarbeit mit örtlichen Kaufleuten blieb für den auswärtigen Kaufmann ein nur schwer lösbares Problem, konnte er doch nicht auf Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzwerke zurückgreifen, die als „soziales Kapital“ die Grundlage für ökonomische Kooperation bildeten.23 Unter solchen Bedingungen konnte sich die zu zahlende Provision an den Kommissionär schnell amortisieren.Der Nutzen des Kommissionshandels zeigte sich damit zunächst auf einer betriebswirtschaftlichen Ebene für den einzelnen Kaufmann, dem es diese Form der rechtlich abgesicherten Kooperation ermöglichte, Geschäfte abzuwickeln, die ohne das Instrument des Kommissionshandels nicht realisierbar gewesen wären. Savarys Hinweis, dass erst die Nutzung dieser Organisationsform die Abwicklung von Geschäften über große Entfernungen ermögliche, ohne dass der Kaufmann seine Waren in Person begleitete, hat hier seine Berechtigung. Savary sieht darüber hinaus deutlich, dass die Institution des Kommissionshandels bereits im 17. Jahrhundert für das Handelssystem als Ganzes unverzichtbar geworden war. In der Sprache der neuen Institutionenökonomik erlaubte es der Kommissionsvertrag dem als Kommittent auftretenden Exportkaufmann, die mit dem Verkauf auf entfernten, anonymen Märkten verbundenen Transaktionskosten merklich zu reduzieren. Dies war wiederum Voraussetzung für eine Intensivierung des ökonomischen Austauschs insgesamt und damit für die Verdichtung des überregionalen und internationalen Handels durch Differenzierung und Spezialisierung – eine Perspektive, die deutlich über die Frage der merkantilistischen

21 Ludovici: Grundriß, S. 221. 22 Dieses Argument findet sich bereits bei Büsch: Handlung, S. 220, der zugleich darauf hinweist, dass häufig auch Makler vor Ort zuweilen gute Warenkenntnisse mitbringen und so den Kommissionären zuarbeiten konnten. 23 Zur noch im frühen 19. Jahrhundert hohen Bedeutung von regionalen und von Verwandtschaftsnetzwerken vgl. etwa jüngst die Studie von von Saldern: Netzwerkökonomie.

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Autoren, wie sich die Bilanz für die einzelne „Volkswirtschaft“ gestaltete, hinausweist.24 Der Hinweis, dass der Kommissionshandel seine Wurzeln vielfach in ökonomischen Zwangsrechten, insbesondere in der mit dem Stapelrecht verbundenen Niederlageverpflichtung besaß,25 tut der zugrunde liegenden ökonomischen Logik keinen Abbruch: Vielmehr ermöglichen die mit der Nutzung des Kommissionshandels verbundenen Produktivitätssteigerungen ihrerseits die Frage zu beantworten, warum sich hochmittelalterliche Stapelrechte unbeschadet der für den Einzelfall zu bewertenden machtpolitischen Konstellationen bis an die Wende zum 19. Jahrhundert zu halten vermochten.26 3. Auch wenn Savary den Kommissionshandel in seinen Formen und Funktionen im Kern bereits erfasste und beschrieb, war diese Form des Handels im Bereich des „Alten Reichs“ im 17. Jahrhundert noch alles andere als selbstverständlich. Savarys Buch, das in Deutschland breit rezipiert und zum Bezugspunkt der aufblühenden Gattung der Kaufmannsliteratur wurde,27 ging von der gerade auf dem Feld der Handelstechniken fortgeschrittenen französischen Praxis aus. Noch im 16. Jahrhundert spielte der Kommissionshandel im deutschsprachigen Raum keine nennenswerte Rolle. Die großen oberdeutschen Kaufleute und Handelsgesellschaften, die Fugger, Welser-Vöhlin und Höchstetter, arbeiteten ausschließlich mit Faktoreien, wobei die Vertretungen an den entfernten Handelsplätzen als vom Handelshaus abhängige Außenstellen anzusehen sind und die Beauftragten – im Gegensatz zu Kommissionären – in einem unmittelbaren und dauerhaften Dienstverhältnis zum Kaufmann bzw. zur Handelsgesellschaft standen.28 Diese Unterschiede zwischen Faktor und Kommissionär waren auch bei Savary noch nicht völlig geklärt, der beide Formen von Mandaten noch undifferenziert nebeneinander nannte, obwohl die damit jeweils verbundenen Formen von Arbeitsteilung große Unterschiede aufwiesen. Noch während des gesamten 18. Jahrhunderts blieb diese Differenz auch in der handelsrechtlichen Literatur häufig

24 Dass Wohlfahrtsmehrung sich dauerhaft vor allem auf die durch das Handelssystem vermittelte überregionale und internationale Arbeitsteilung gründe, ist dann das zentrale Argument, das Adam Smith gegen die Merkantilisten vorträgt: vgl. Smith: Wohlstand, S. 347–583. 25 Vgl. etwa Gönnenwein: Stapel- und Niederlagsrecht, S. 275, 297. 26 Vgl. hierzu am Beispiel des Kölner Rheinstapels Gorißen: Strukturbildung. 27 Vgl. hierzu nur die leider mit dem Ende des 17. Jahrhunderts aufhörende Bibliographie: Hoock/Jeannin (Bearb.): Ars Mercatoria; Überblick bei Hoock: Manual. 28 Zum Faktoreiwesen mit Bezug auf die Fugger vgl. Schiele: Fugger-Veröffentlichungen, S. 72ff.; zur Definition des Faktors vgl. Hildebrandt: Die „Georg Fuggerschen Erben“, S. 48; zur Genese und zur Bedeutung des Faktorenwesens auch ders.: Unternehmensstrukturen, S. 99ff.; ders.: Diener und Herren, S. 153f.; über den bereits bei Schiele und Hildebrandt erreichten Kenntnisstand nicht hinausreichend der Beitrag von Schneider: Bedeutung.

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unscharf. Unklarheiten hinsichtlich der konkreten Anforderungen an einen Kommissionsvertrag belegen, dass der Kommissionshandel sich im 17. und 18. Jahrhundert hinsichtlich seiner rechtlichen Grundlagen erst langsam festigte und noch keine selbstverständlich praktizierte Einrichtung im überregionalen Handelsverkehr war. Für den einzelnen Fernhandelskaufmann implizierte die Aussicht, die mit der Abwicklung des Handelsgeschäfts verbundenen Transaktionskosten durch die Nutzung von Kommissionsverträgen zu reduzieren, zunächst vor allem ein Kontrollproblem: Er musste sicherstellen, dass der Kommissionär sich eng an den gegebenen Auftrag hielt und tatsächlich in seinem Sinne handelte. Institutionenbildung bedeutete in diesem Zusammenhang zunächst einmal die Klärung und weitere Ausgestaltung eines diesbezüglichen rechtlichen Rahmens. Im 18. Jahrhundert waren vor allem drei Probleme ungeklärt, die an verschiedenen Handelsplätzen auf unterschiedliche Weise geregelt waren: (1) Zunächst war umstritten, welche Handlungsoptionen für den Kommissionär jenseits der in einem Kommissionsvertrag bzw. einem Beauftragungsschreiben genannten Anweisungen bestanden. Bereits die „Gerichts-Ordnung und Statuta“ der Stadt Hamburg aus dem Jahr 160529 forderte eine strenge Bindung des Mandatars an die Weisungen des Mandanten, hatte hierbei aber zunächst vor allem die Tätigkeit von Faktoren im Auge.30 Während Savary die strenge Befolgungspflicht auch für den Kommissionär bestätigte, existierten im 18. Jahrhundert nicht wenige Stimmen, die dem Kommissionär einen gewissen Spielraum nicht nur dann zubilligen wollten, wenn der Auftrag nicht hinreichend genau spezifiziert war, sondern diesen vor allem auch abhängig von den Handelsusancen an einem Ort sahen. Die hiermit verbundene Gratwanderung beschreibt Ludovici anhand eines Beispiels: „Also darf der Commissionär, z.E. wenn der Committent die Elle für 6 Thaler begehrte, solche nicht für 7 Thaler kaufen, ob sie schon sehr gut und hübsch für diesen Preis wäre; Nichts destoweniger aber, wenn der Unterschied des Preises nicht über einige Groschen drüber oder drunter, an einer Elle wäre; so thäte er deswegen nicht wider die Ordre, weil man wohl weiß, dass man die Sachen nicht just so haben kann, wie man sie begehret, … indem die Umstände der Zeit und des Ortes vielmals von der Beschaffenheit seyn können, dass ein Commißionär unverantwortlich handeln würde, wenn er seines Committentens Ordre genau erfüllete: wie denn auch ein Committent nicht leicht so präcise Ordre vorschreiben wird, dass er nicht auf die Billigkeit und dem gesunden Urtheile seines Commißionärs etwas anheim stellen soll31 te.“

Auch in der Praxis betrafen zahlreiche Streitfälle genau diese Frage, wie eng nämlich der Kommissionär an den Auftrag des Kommittenten gebunden, wie streng der Kommissionsvertrag auszulegen und ob der Kommissionär befugt oder sogar verpflichtet sei, von diesem zum Wohle des Kommittenten abzuweichen. Ein sol-

29 Vgl. Landwehr: Kommissionsgeschäft, S. 87. 30 Ebd., S. 89. 31 Ludovici: Grundriß, S. 223.

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cher Konflikt kam 1757 vor den Hamburger Senat: Ein Hamburger Kaufmann hatte von einem Lissaboner Kaufmann den Auftrag erhalten, eine Partie Tabak zu einem festgesetzten Preis zu verkaufen. Der Verkauf geschah einige Monate später unter Preis, was der Hamburger Kommissionär damit rechtfertigte, dass einerseits der Marktpreis in der Zwischenzeit gefallen sei, andererseits der Tabak aufgrund der Transportbedingungen bereits angegriffen und in seiner Substanz gefährdet gewesen sei, was ein Hinauszögern des Verkaufs nicht erlaubt habe. Der Hamburger Senat gab schließlich dem Lissaboner Kaufmann, der als Kläger eine Erstattung der Differenz zwischen dem erwarteten und dem realisierten Preis gefordert hatte, mit dem Hinweis Recht, dass ein Kommissionsauftrag stets genau zu befolgen sei.32 Auch die noch junge Firma Bethmann & Imbert, die sich seit 1741 in Bordeaux als Einkaufskommissionär betätigte, musste sich kritische Bemerkungen und Ermahnungen durch Jakob Adami, den Onkel des Teilhabers Imbert, gefallen lassen, als sie – eine günstige Preissituation nutzend – das Volumen einer Einkaufskommission stillschweigend verdoppelte. Der Verstoß gegen den Wortlaut des Kommissionsvertrags, der hier allerdings eine Vermehrung des Nutzens des Kommittenten bewirkte, wurde ohne weiteres juristisches Nachspiel hingenommen, als Vertragsbruch aber durchaus wahrgenommen.33 (2) Das zweite kontrovers diskutierte Problem betraf die Haftungsfrage für den Fall, dass einer der drei am Kommissionsgeschäft beteiligten Geschäftspartner, der Kommittent, der Kommissionär oder der Kaufmann, mit dem das zugrunde liegende Geschäft abgewickelt wurde, in Konkurs ging, bevor das Geschäft vollständig abgewickelt war. Ein entsprechender Fall wurde etwa 1679 vor dem Hamburger Rat verhandelt: Eine Leipziger Firma hatte einem Hamburger Kaufmann einen Kommissionsauftrag zum Verkauf schlesischer Leinwand erteilt. Der Hamburger Kommissionär hatte die Leinwand weiter veräußert, dem Käufer jedoch ein Zahlungsziel von einem Jahr eingeräumt. Da der Käufer kurz nach Übernahme des Leinens in Konkurs geriet, ging die Zahlung nie ein, die gelieferte Ware fiel in die Konkursmasse. Die Leipziger Kommittenten verklagten daraufhin den Hamburger Kommissionär auf Zahlung der ausstehenden Verkaufssumme. Wenn das Gericht der Klage schließlich statt gab, so geschah dies mit der Begründung, dass der Kommissionsvertrag die gewährte lange Zahlungsfrist nicht ausdrücklich vorgesehen habe. Der Urteilsspruch betonte aber gleichzeitig, dass grundsätzlich der Auftraggeber das Risiko fehlender Bonität des Käufers zu tragen habe.34 Der Fall zeigt deutlich, dass die juristische Beurteilung der Haftungsfrage alles andere als gesichert war. Gerade mit Blick auf den Hamburger Rat ist in Rechnung zu stellen, dass dieser offensichtlich bemüht war, zugunsten der Kommittenten eine rasche Abwicklung des Verfahrens möglichst zu deren Guns32 Vgl. den Bericht über diesen Fall bei Ebert-Weidenfeller: Hamburgisches Kaufmannsrecht, S. 157ff. 33 Vgl. hierzu Henninger: Johann Jakob von Bethmann, 117f. 34 Vgl. Ebert-Weidenfeller: Hamburgisches Kaufmannsrecht, S. 170ff.

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ten und zu Lasten des einzelnen Hamburger Kommissionärs sicherzustellen, um die Reputation des Handelsplatzes Hamburg zu stärken. Eine Haftung des Kommissionärs kam regelmäßig auch dann in Betracht, wenn dieser das Geschäft durch eine so genannte „delcredere“-Klausel gesichert hatte, mit der er eine Art Bürgschaft für den Schuldner übernahm.35 Dass sich Kommittenten mit diesem Rechtsinstrument die Zuverlässigkeit des Kommissionärs zu sichern suchten, war bereits im 18. Jahrhundert eine weit verbreitete Praxis, zu der in der kaufmännischen Literatur zuweilen explizit angeraten wurde.36 Allerdings bedeutete die Nutzung der „delcredere“-Klausel für den Kommittenten zugleich auch, dass an den Kommissionär eine höhere Provision gezahlt werden musste.37 Während des 18. Jahrhunderts wurde dann jedoch die Haftungsfrage in umgekehrter Richtung, die Haftung des Kommittenten gegenüber dem Kommissionär, von immer größerer Bedeutung. Ein solcher Haftungsfall ergab sich immer dann, wenn der Kommissionär im Vorgriff etwa auf Erlöse aus einer Verkaufskommission dem Kommittenten einen Kredit in Form eines Wechselakzepts gewährt hatte, der Kommittent dann aber vor Abwicklung des Verkaufsgeschäfts in Konkurs geraten war.38 Umstritten war in solchen Fällen, ob der Kommissionär ein so genanntes Retentionsrecht ausüben und auf die bei ihm lagernden Kommissions-

35 Durch eine „delcredere“-Klausel verpflichtete sich ein Kommissionär gegenüber seinem Kommittenten, für die Schuldfähigkeit des Schuldners einzustehen. Das „delcredere“ war somit ein Instrument, die Haftung explizit dem Kommissionär zuzuweisen. 36 „Indessen da … der Committent dem Commissionär Schikanen zu machen pflegt, so ist es freylich für den ersten sicherer, wenn er dem letztern gegen erhöhte Provision aufträgt, ihm für die Verkaufsumme del credere zu stehen. In dem Fall wird der Commissionär wohl zusehen, wem er verkauft,“ zit. nach: Jung: Lehrbuch, S. 268f.; Johann Georg Büsch erscheint diese Art der Kreditgewährung durch den Kommissionär zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits die Regel zu sein: „Es ist also die natürliche Folge davon, dass der Commissionär die Gewährleistung für diesen Credit übernimmt, oder, wie der Ausdruk ist, del Credere steht.“ Hiermit war allerdings auch ein höheres Risiko für den Kommissionär verbunden: „Er (der Kommissionär – SG) übernimmt also, wenn er del Credere steht, die ganze Gefahr, die ein Kaufmann in seinem eigenen Handel zu stehen hat…“, zit. nach Büsch: Handlung, S. 222, 224. 37 Vgl. Ludovici: Grundriß, S. 224, 228. Ludovici nennt hier Provisionssätze, die offenbar erheblich unter den in der Praxis üblichen Sätzen lagen: 1/3% bei gewöhnlicher Kommission, 1/2% bei Gewährung eines „delcredere“. Savary hingegen sieht die Höhe der zu zahlenden Provision in Abhängigkeit vom Wert der gehandelten Waren zwischen 1/2% für wertvolle Edelmetalle und 3–4% für Wolle und andere textile Rohstoffe: Savary: Kauff- und Handelsmann, S. 180f. Die deutschen Kaufleute in Bordeaux etwa erhielten Mitte des 18. Jahrhunderts Provisionszahlungen in Höhe von 2%, siehe dazu Henninger: Johann Jakob von Bethmann, S. 112, die gleiche Höhe war auch bei Kommissionären in Lübeck und Rostock in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich: Gorißen: Handelshaus, 252ff. Zu Beginn des 19. Jahrhundert war dann ein Provisionssatz von 2% üblich, wurde aber offenbar zuweilen bei scharfer Konkurrenz unter den Kommissionären unterschritten, vgl. Büsch: Handlung, S. 210. 38 Diese Konstellation wird bereits bei Savary: Kauff- und Handelsmann, S. 182ff. ausführlich erörtert.

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güter zum Ausgleich seiner Forderungen zugreifen durfte oder ob die Kommissionsware in die Konkursmasse einzubeziehen und der Kommissionär den anderen Gläubigern im Konkursverfahren gleich zu stellen wäre. Während die Wechselordnungen an verschiedenen Handelsplätzen häufig ein konkursfestes Retentionsrecht zumindest auswärtigen Kaufleuten gegenüber festschrieben – so etwa der Magistrat der Stadt Nürnberg bereits 166239 oder die Wechselordnung der Stadt Frankfurt aus dem Jahr 173940 –, findet sich in der handelskundlichen Literatur regelmäßig die Forderung, den Kommissionär im Konkursverfahren den anderen Gläubigern gleich zu stellen.41 (3) Unterschiedlich beurteilt wurde schließlich auch die Frage, ob ein Kommissionsvertrag die Möglichkeit zuließ, dass der Kommissionär selbst die in Kommission gegebenen Güter einkaufen bzw. selbst als Lieferant der im Kommissionsauftrag zu beschaffenden Waren auftreten konnte. Für verschiedene Autoren kaufmännischer Lehrbücher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts schien dies immer dann möglich zu sein, wenn es dem Kommissionär nicht gelungen war, am Markt die vom Kommittenten gewünschten Bedingungen zu realisieren.42 Mittelbar mit diesem Problem war die ebenfalls kontrovers diskutierte Frage verknüpft, ob sich ein Kommissionär in einer Einkaufskommission „gegen diejenigen, von welchen er die Waaren kauft, nicht zum Selbstschuldner machen, sondern diesen sagen, daß er sie für dieses oder jenes Mannes Rechnung kaufe, und daß der Verkäufer denselben, als Schuldner, notieren möchte.“43 In einem entsprechenden Rechtsstreit, 1721 in Hamburg vor dem städtischen Rat ausgetragen, wurde entschieden, dass die direkten Rechtsbeziehungen immer nur zwischen Kommittent und Kommissionär einerseits sowie zwischen Kommissionär und Käufer/Lieferant andererseits bestanden. Ein Zugriff des Kommittenten auf den Käufer bzw. Lieferanten wollte der Hamburger Rat selbst dann nicht zugestehen, wenn der Kommissionär nicht oder nur schwer erreichbar war. In dieser Sicht waren einerseits die Beteiligung von drei Akteuren, andererseits die nicht hintergehbare Mittelstellung des Kommissionärs die entscheidenden Voraussetzungen für das Vorliegen eines Kommissionsgeschäfts – eine Position, die nicht von allen Autoren und im konkreten Verfahren nicht von allen Gutachtern geteilt wurde.44

39 Zitiert bei Landwehr: Kommissionsgeschäft, S. 209f. 40 Johann Ludwig Span: Der freien Stadt Frankfurt am Main Wechsel-Recht aus dasigen Statutis, sonderlich der jüngsten Wechsel-Ordnung de 1739, mothodice verfasset und mit dem gemeinen Wechsel-Recht überall verglichen folglich zugleich als eine Einleitung zu dem letztern zugerichetet..., Frankfurt a. M. 1830, §§52, 53, 130, 34ff., 89f.; vgl. auch Landwehr: Kommissionsgeschäft, S. 221ff. 41 Vgl. etwa Jung: Lehrbuch, S. 268. 42 Vgl. zu diesem Problem den Überblick bei Hiersemenzel: Lehre, S. 23ff. 43 Ludovici: Grundriß, S. 224. 44 Vgl. Ebert-Weidenfeller: Hamburgisches Kaufmannsrecht, S. 172ff.

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4. Der Prozess der Institutionenbildung für den Kommissions- und Speditionshandel im 17. und 18. Jahrhundert geht jedoch nicht in einer ausschließlich rechtsgeschichtlichen Analyse auf. Institutionenbildung im Sinne der „Neuen Institutionenökonomik“ tritt hier zwar zunächst als ein Problem der Rechtschöpfung und der Verrechtlichung, der Spezifizierung von Verfügungsrechten45 zutage. Die Analyse der Konfliktfälle des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich an einer genauen Bestimmung der Aufgaben und Pflichten von Kommittent und Kommissionär entzündeten, offenbaren jedoch weit reichende Differenzen hinsichtlich der Interpretation von Formen und Funktionen des Kommissions- und Speditionshandels. Der im 18. Jahrhundert verbindliche rechtliche Rahmen, dem die Kommissionsverträge zu folgen hatten, war an den verschiedenen Handelsplätzen in den jeweiligen Gesetzbüchern der Territorien oder den Wechselordnungen der jeweiligen Städte unterschiedlich gefasst. Die Vereinheitlichung zu übergreifend gültigen Regelungen vollzog sich erst im 19. Jahrhundert als Antwort auf die Zusammenfassung größerer Wirtschaftsräume durch das preußische Zollgesetz von 1818 und vor allem durch die Etablierung des Deutschen Zollvereins 1834.46 Der Kommissionsvertrag als „ein Vertragstyp sui generis“47 erfuhr seine maßgebliche Ausgestaltung erst durch die „Allgemeine Deutsche Wechselordnung“ von 1848/49, die aus den Beratungen des Paulskirchenparlaments hervorgegangen und ihrerseits maßgeblich für die Entstehung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs von 1861 war.48 Für die Vielzahl regionaler Ordnungen des 18. Jahrhunderts bleibt zunächst in Rechnung zu stellen, dass diese unbeschadet aller Differenzen im Detail doch durch vielschichtige Rezeptions- und Adaptionsprozesse aufeinander bezogen waren. Dass in Einzelfragen dennoch die Bestimmungen sehr unterschiedlich ausfallen konnten, war dabei nicht etwa einem mangelndem Überblick der Autoren über die an anderen Handelsplätzen geltenden Normen geschuldet, sondern nicht selten das Ergebnis von Bemühungen um eine Anpassung vorgefundener Ordnungsentwürfe an die spezifischen Bedürfnisse und Usancen eines besonderen Handelsplatzes.49 Auch die Rechtsprechungspraxis, wie sie hier für Einzelfälle am Beispiel des Hamburger Senats diskutiert wurde, weist in die gleiche Richtung: Vor allem wirtschaftspolitische Erwägungen und damit die Vorstellung, die in der 45 46 47 48

Vgl. Demsetz: Property Rights. Vgl. hierzu jüngst Freund: Wechselverpflichtung, S. 24ff. Landwehr: Kommissionsgeschäft, S. 375. Zu den Diskussionen um die Schaffung eines einheitlichen Rechtsrahmens für das Kommissionsgeschäft im Vorfeld der „Allgemeinen Deutschen Wechselordnung“ vgl. Hiersemenzel; zu den Rechtstradition Freund: Wechselverpflichtung, S. 24ff., S. 150ff. 49 Eine vergleichende Untersuchung handelsrechtlicher Ordnungen im Hinblick auf Tradition und Anpassung in Abhängigkeit von den spezifischen Bedürfnissen der einzelnen Handelsplätze steht aus; vgl. für die Kölner Wechselordnungen des 17. Jahrhunderts Gorißen: Wechselrecht.

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Stadt über die Struktur ihres Handels existierte, besaßen für die Urteilsfindung eine hohe Bedeutung, im Zweifelsfall einen höheren Stellenwert als die im Verfahren angeforderten gelehrten juristischen Gutachten. Für Hamburg etwa ist das Bestreben dokumentiert, durch Rechtsetzung und Rechtsprechung in erster Linie das Ansehen des Handelsplatzes zu festigen und zu verbessern und mit der Urteilsbegründung auch die klare Botschaft zu verbinden, dass in Hamburg Kommissionen prompt und genau im Sinne der Kommittenten bedient werden. Hier zeigt sich die Bedeutung, die die Ratsherren dem Kommissionsgeschäft für den Hamburger Handel zuwiesen und zugleich ihre Sorge, dass eine großzügige Auslegung im Sinne der Hamburger Kommissionäre dem Handel der Stadt mittelbar Schaden zufügen könnte: „Was kann und wird hievon die Folge seyn, nothwendig diese: der auswärtige Credit muß wegfallen, oder wenn er ja bleibt, so werden die Ausländer sich auf andere Art zum nachtheil unschuldiger ehrlicher Kaufleuthe zu praevaliren nicht verabsäumen, der übrigen dem publico höchstnachtheiligen und oftt gefährlichen Suiten nicht zu gedencken, die leider! nicht selten 50 erfolget sind.“

Hier fließen unverkennbar politische Motive in die Rechtspraxis ein, die nur bedingt mit juristischen Begründungen in Einklang zu bringen sind und als wirtschaftspolitische Interessen auch nicht a priori den Gesetzen ökonomischer Rationalität entsprechen. Mit Douglas C. North lassen sich diese Formen politischer Einflussnahme dem Bereich der Ideologien zuordnen, ohne deren Berücksichtigung eine Analyse des institutionellen Wandels, der historischen Entwicklung von Wirtschaftsordnungen und der Entfaltung von Spezialisierung und Arbeitsteilung nicht möglich ist.51 Im Prozess der Normfindung kam dann den vorfindlichen „Handelsusancen“ eine entscheidende Bedeutung zu. Als allgemein bekannte, an den verschiedenen Handelsplätzen aber durchaus differente Rechtsgebräuche besaßen diese ein hohes Maß an Akzeptanz und bildeten einen breit genutzten Referenzrahmen zur Interpretation von Normen und zur Beurteilung von Einzelfällen.52 Aus der Praxis erwachsene Traditionen gingen der Ausbildung von Normen voraus und bedingten als informelle Institutionen bzw. „formlose Beschränkungen“ ökonomisches Handeln auf Feldern, auf denen formale Institutionen (noch) nicht verfügbar waren.53 Neben Ideologien sind daher auch solche kulturellen, aus der Praxis erwachsende Muster in die Analyse des wirtschaftshistorischen Wandels einzubeziehen. Die Bedeutung kultureller Faktoren in Gestalt informeller Institutionen zeigte sich in der Praxis des vorindustriellen Kommissions- und Speditionshandels

50 So die Urteilsbegründung (Rationes decidendi) des Hamburger Obergerichts im Rechtsstreit Schiebeler & Sohn gegen Cotmann vom 17.4.1742, zit. nach Ebert-Weidenfeller: Hamburgisches Kaufmannsrecht, S. 163. 51 Vgl. North: Theorie, 46ff. 52 Grundsätzlich zum sich hieraus ergebenden Problem des so genannten selbstgeschaffenen Rechts der Wirtschaft vgl. Lammel: Rechtsbildung. 53 In diesem Sinne North: Theorie, S. 43ff.

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schließlich auch bei der oben bereits angesprochenen Frage, wie Kontrolle über eine zuverlässige Erfüllung des Vertrags gewährleistet werden konnte. So musste der Kommittent, der – wiederum in die Begrifflichkeit der Neuen Institutionenökonomik übertragen – als Patron auftrat und den Kommissionär als seinen Agenten kontrollieren musste, für sich selbst vorab die Frage abschätzen, ob sein Geschäftspartner den Kommissionsauftrag tatsächlich in seinem Sinne ausfüllen oder vertragswidrig („opportunistisch“) ausschließlich seinen eigenen Nutzen suchen würde.54 Entscheidend war in diesem Kontext die konkrete individuelle Reputation des Kaufmanns, die zunächst als soziales Kapital erworben und akkumuliert werden musste, bevor sie in ökonomisches Kapital – und dies hieß für den Kommissionshandel: in Kreditwürdigkeit – transformiert werden konnte: „Die Handlungsvorsichtigkeit erfordert, daß man behutsam in Annehmung der Commissionen sey, besonders wo sie Vorschuß oder Kreditstehen, oder sonst etwas Gefährliches in sich enthalten; in solchen Fällen muß man den Committenten genau kennen und wissen, wie er steht. Eben so muß ein Kaufmann bedachtsam zu Werke gehen, ehe er jemand ein Geschäfte anvertrauet, vorzüglich, wenn er ihm Gelder oder Wechsel zu überschicken hat, oder derglei55 chen durch ihn einkassiren lassen will.“

In der Praxis griffen die Kommittenten bei der Erteilung von Kommissionsaufträgen gerne auf bereits anderweitig etablierte Beziehungen zurück, nach Möglichkeit auf Familienkontakte oder über Verwandtschaftsbeziehungen vermittelte Kontakte. Standen keine direkten oder mittelbaren verwandtschaftlichen Kontakte zur Verfügung, griff man stattdessen auf landsmannschaftliche Bindungen zurück.56 Wer als Kommissionär tätig werden wollte, musste über möglichst vielfältige und weit reichende Handelskontakte verfügen, und wer diese aufweisen konnte, wurde in der Regel zugleich mit der Abwicklung von Wechselgeschäften betraut. Da sich die solchermaßen qualifizierten Kommissionäre dann zugleich auch um den Versand der Handelswaren kümmerten, konvergierten die von Savary noch scharf geschiedenen unterschiedlichen Formen des Kommissions- und Speditionshandels zu einer viele Aspekte umfassenden spezialisierten Form des Handels. Kommissionsgeschäfte in diesem Sinne wurden häufig von den ökonomisch potentesten Häusern an den bedeutenden Handelsplätzen angeboten, die zugleich 54 Auf eine Verwendung des modischen, aber reichlich unscharfen Begriffs „Vertrauen“ wird hier verzichtet; zur problematischen Begriffsbildung vgl. aus ökonomischer Sicht Ripperger: Ökonomik des Vertrauens; zur Kritik am Begriff aus institutionenökonomischer Perspektive vor allem Williamson: Calculativeness. 55 Jung: Lehrbuch, S. 262. 56 Auch hierzu ist wieder das Beispiel der Firma Bethmann & Imbert in Bordeaux typisch, die ihre Aufträge vor allem auf Vermittlung des Onkels einer der beiden Teilhaber auf der Basis anderer Verwandtschaftsbeziehungen erhielt: vgl. Henninger: Johann Jakob von Bethmann, S. 117; Weber weist nach, dass auch die Handelsbeziehungen deutscher Kaufleute nach Cadiz und Bordeaux zunächst regelmäßig mit im Ausland sich aufhaltenden deutschen Kaufleuten geknüpft wurden und Kontakte zu spanischen und französischen Kaufleuten vielfach erst durch Landsleute vermittelt werden mussten.

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als Informationsmakler die Aufgabe erfüllten, die zahlreichen einzelnen kommerziellen Fäden, die aus unterschiedlichen Richtungen am Handelsplatz zusammentrafen, zu einem Gewebe zu verknüpfen, das erst eine Ausdehnung der kommerziellen Betätigungen ermöglichte. Der so profilierte Kommissions- und Speditionshandel gehörte damit zusammen mit der Ausbreitung und Weiterentwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs im Zuge des Wechselhandels, mit Verdichtungen der Kommunikationssysteme und des Nachrichtenverkehrs sowie mit organisatorischen Neuerungen im Bereich des Transportwesens zu einer Reihe eher unspektakulärer Innovationen, die in vorindustrieller Zeit eine Marktbildung über größere Entfernungen hinweg erst ermöglichte. Ohne diesen sich nur langsam und keineswegs flächendeckend durchsetzenden vorgängigen Prozess einer Kommerzialisierung Alteuropas wären aber Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die gemeinhin mit dem Begriff „Industrielle Revolution“ zusammengefasst werden, kaum denkbar gewesen. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Bog, Ingomar: Wirtschaft und Gesellschaft Nürnbergs im Zeitalter des Merkantilismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 57 (1970), S. 289–322. Bohn, Gottfried Christian: Gottfried Christian Bohn wohlerfahrener Kaufmann. Hg. v. C. D. Ebeling und P. H. C. Brodhagen (3 Bde), 5. Aufl., Hamburg 1789–1806. Boldorf, Marcel: Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750–1850) (= Industrielle Welt, Bd. 68), Köln 2006. Brübach, Nils: Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig, und Braunschweig (1400– 1800) (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 55), Stuttgart 1994. Büsch, Johann Georg: Theoretisch-praktische Darstellung der Handlung in ihren mannigfaltigen Geschäften (2 Bde.), Bd. 2, Hamburg 1808. Butel, Paul/Roudié, Philippe: La maison Schröder et Schyler. 250 ans de continuité commerciale, in: Bulletin du Centre d'histoire des espaces atlantiques, 5 (1990), S. 5–13. Demsetz, Harold: Toward a Theory of Property Rights, in: American Economic Review, 57 (1967), S. 347–359. Denzel, Markus A.: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914 ( = VSWG-Beihefte 201), Stuttgart 2008. Ebert-Weidenfeller, Andreas: Hamburgisches Kaufmannsrecht im 17. und 18. Jahrhundert. Die Rechtsprechung des Rates und des Reichskammergerichts (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 100), Frankfurt a. M. u.a. 1992. Ehrenberg, Victor (Hg.): Handbuch des gesamten Handelsrechts mit Einschluß des Wechsel-, Scheck-, See- und Binnenschiffahrtsrechts, des Versicherungsrechts sowie des Post- und Telegraphenrechts, Leipzig 1928. Faber, J. A.: The economic decline of the Dutch Republic in the second half of the eighteenth century and the international terms of trade, in: W. G. Heeres u.a. (Hg.): From Dunkirk to Danzig. Shipping and Trade in the North Sea and the Baltic 1350–1850, Hilversum 1988. Feldenkirchen, Wilfried: Der Handel der Stadt Köln im 18. Jahrhundert (1700–1814), Bonn 1975. Freund, Judith: Die Wechselverpflichtung im 19. Jahrhundert (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 3171), Frankfurt a. M. 2008. Gemmert, Franz Josef: Die Entwicklung der ältesten kontinentalen Spinnerei. Eine betriebswirtschaftlich-historische Untersuchung, Leipzig 1927.

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Differenzierung und Spezialisierung im Fernhandel des 17. und 18. Jahrhunderts

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NETZWERKHANDELN UND UNTERNEHMENSFÜHRUNG BEI PAUL REUSCH Aspekte der Corporate Governance im Konzernaufbau der Gutehoffnungshütte (1918–1924) Christian Marx Als Paul Reusch 1905 in den Vorstand der im Besitz der Familie Haniel befindlichen Gutehoffnungshütte (GHH) eintrat, befand sich das Unternehmen in einer Umbruchphase, welche durch den Rückzug der ersten Vorstandsgeneration gekennzeichnet war. Bis 1909 hatten sich Carl Lueg, Hugo Jacobi und Gottfried Ziegler, die den Vorstand der 1873 umgebildeten Aktiengesellschaft gestellt hatten, aus dem operativen Geschäft verabschiedet, und Paul Reusch (1868–1956) stieg zum neuen Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens auf. Nach wie vor war die Gutehoffnungshütte jedoch ein Familienunternehmen, dessen Aktien innerhalb der weit verzweigten Haniel-Familie verteilt waren und deren Mitglieder den Aufsichtsrat der Gesellschaft dominierten.1 Für den an der Spitze des Vorstands stehenden Reusch bot sich nun die Chance, das Unternehmen in seinem Sinn umzubauen bzw. zu erweitern, gleichzeitig musste er dabei jedoch die Wünsche und Bedürfnisse der Eigentümer im Auge behalten. Um die Frage nach dem Einfluss des Vorstandsvorsitzenden auf die unternehmerische Ausrichtung der Gutehoffnungshütte sowie den Handlungsspielraum desselben innerhalb der Aktiengesellschaft beantworten zu können, werden zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zu wirtschafts- und unternehmenshistorischen Ansätzen angestellt, welche die Defizite der „klassischen“ Wirtschaftsgeschichte ausräumen sollen. Anschließend wird der von Reusch betriebene Konzernaufbau der Gutehoffnungshütte nach dem Ersten Weltkrieg dargestellt, um die Neuausrichtung des Unternehmens nachvollziehen und die Stellung Reuschs in diesem Prozess beurteilen zu können. In einem dritten Teil werden schließlich die Leitlinien und Grundsätze im unternehmerischen Handeln von Reusch herausgestellt, welche während des Konzernaufbaus wirksam wurden und teilweise auch darüber hinaus ihre Geltung behielten.

1

Vgl. Banken: Gutehoffnungshütte, S. 15–129, auch den dazugehörigen Anhang auf S. 487– 520; Büchner: Geschichte der Gutehoffnungshütte, S. 5–68.

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1. EMBEDDEDNESS OF ENTREPRENEURSHIP. DIE ERWEITERUNG DER WIRTSCHAFTS- UND UNTERNEHMENSGESCHICHTE Sowohl der Zusammenbruch der Darmstädter und der Nationalbank im Juli 1931 sowie die damit einhergehende Bankenkrise als auch Beispiele jüngeren Datums verweisen immer wieder auf den mit wirtschaftlichen Krisen einhergehenden Vertrauensverlust der Marktakteure untereinander.2 Der abstrakte Reduktionismus ökonomischer Modelle kann derartige Aspekte in der Regel nicht erfassen und blendet den komplexen Zusammenhang wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Faktoren aus, ohne die Folgen solch axiomatischer Prämissen zu beachten. Eine Ausdifferenzierung der Wirtschaftsgeschichte in einen an den mathematisierten Verfahren der Wirtschaftswissenschaften orientierten und einen mit einem holistischen Kulturbegriff operierenden Zweig bietet sicherlich keinen Ausweg und verhindert vielmehr die Anschlussfähigkeit solcher Arbeiten an die unterschiedlichen Teilbereiche der Geschichtswissenschaft.3 Sicherlich ist auch die Kritik an der vorbehaltlosen Gleichsetzung von Unternehmen und Unternehmern in einigen älteren Studien berechtigt, gleichzeitig dürfen die Unternehmensund die Unternehmergeschichte jedoch nicht auseinanderdriften, sondern müssen eng miteinander verzahnt werden, um die Logik des unternehmerischen Handelns zu rekonstruieren.4 Verschiedene neuere Tendenzen in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte beziehen jedoch durchaus kulturhistorische und sozialwissenschaftliche Aspekte in ihre Fragestellung mit ein und versuchen auf diese Weise den oben angesprochenen Gegensatz zu überwinden. Die lange Konzentration einer auf Angebot und Produktion ausgerichteten Unternehmensgeschichte verhinderte insbesondere die Beachtung der Kommunikations- und Konsumgeschichte für den Unternehmensbereich. Gleichzeitig sind Unternehmen auch immer soziale Handlungsfelder mit komplexen Interaktionsgefügen, welche für die Entwicklung des Betriebs eine entscheidende Rolle spielen; die Machtstrukturen im Unternehmen sowie die wechselnden Akteurskonstellationen müssen deshalb ebenso bei der Untersuchung ökonomischer Sachverhalte berücksichtigt werden.5 Auch der vorliegende Beitrag wird deshalb auf eine Reihe verschiedener neuer Ansätze in der Unternehmensgeschichte zurückgreifen und mit deren Hilfe die Stellung des Vorstandsvorsitzenden innerhalb der Gutehoffnungshütte während des Konzernaufbaus analysieren. Die Neue Institutionenökonomik hat ein ganzes Spektrum von Ansätzen für den Bereich der ökonomischen Theorie etabliert, bietet damit auch zentrale Ansatzpunkte für die Unternehmensgeschichte und behandelt insbesondere Fragen nach individuellen und kollektiven Verfügungsrechten sowie die Genese kostensenkender Institutionen. Sie ist zwar teilweise eher statisch angelegt und stößt 2 3 4 5

Vgl. Hardach: Macht, S. 930. Vgl. Berghoff/Vogel: Wirtschaftsgeschichte, S. 9–11. Vgl. Reitmayer: Unternehmensgeschichte. Vgl. Reitmayer/Rosenberger (Hg.): Unternehmen; Wischermann: Unternehmensgeschichte.

Netzwerkhandeln und Unternehmensführung bei Paul Reusch

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deshalb bei der Erklärung evolutionärer Prozesse an ihre Grenzen, doch wird die neoklassische Wirtschaftstheorie des homo oeconomicus hier um die bedingte Rationalität des nicht vollständig informierten Akteurs sinnvoll erweitert.6 Die sich an die Neue Institutionenökonomik anschließende Transaktionskostentheorie verweist besonders auf die Senkung von Transaktionskosten, welche sowohl auf dem freien Markt als auch in der innerbetrieblichen Hierarchie (mangerial transaction costs) entstehen können, durch die Etablierung geeigneter Institutionen. Hierbei werden zudem die auf dem freien Markt möglichen Transaktionskosten den Organisationskosten im Unternehmen gegenübergestellt, um zu entscheiden, welche Form der Koordination gewählt werden sollte. Auch wenn die Höhe der Transaktionskosten nur schwer zu berechnen ist und kostensparende Innovationen nicht immer vorhersehbar sind, können mit Hilfe dieses Ansatzes zentrale Aspekte der Organisationsstruktur von Unternehmen untersucht werden. Dabei sollte eine Betrachtung der Transaktionskosten jedoch nicht zu einer Vernachlässigung der Produktionskosten führen, welche weiterhin für die Umstrukturierung eines Unternehmens verantwortlich sein können“.7 Ferner wird durch die Neue Institutionenökonomik die Tatsache angesprochen, dass nicht alle Unternehmer gleichzeitig Leiter und Eigentümer des Unternehmens sein müssen. Vielmehr kam es durch den Aufstieg der Aktiengesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer vielfachen Trennung von Eigentum und Kontrolle, welche sich in Form unterschiedlicher Verfügungsrechte (property rights) der betreffenden Personen niederschlug. Die Gründung bzw. die Umformung einer bestehenden Firma in eine Aktiengesellschaft musste nicht zwangsläufig zu einer solchen Aufteilung führen, vor allem in Familienunternehmen wurde oftmals auch weiterhin die Kontrolle durch die Eigentümer ausgeübt. Dennoch verweist das principal agent-Problem, welches sich mit den unterschiedlichen Interessen des Managements und der Eigentümer befasst und die Informationsasymmetrie zwischen den beiden Gruppen berücksichtigt, auf ein zentrales Gebiet der Unternehmensforschung. Hierbei wird zudem deutlich, dass sich die Unternehmensgeschichte nicht mit einer formalen Analyse der Entscheidungsstrukturen anhand von Organigrammen zufrieden geben darf, sondern das Unternehmen als Beziehungsnetzwerk zwischen konfligierenden Interessen von unterschiedlichen Akteuren auffassen muss. Eine betriebsökonomische Untersuchung bleibt für die Unternehmensforschung zwar unverzichtbar, gleichzeitig müssen die wirtschaftlichen Faktoren jedoch zu den sozialen und kulturellen Faktoren in Relation gesetzt werden.8 Denn die ökonomischen Institutionen existieren nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, vielmehr ist das ökonomische Handeln soziokulturell in seine Umgebung eingebettet und sollte

6 7 8

Vgl. Plumpe: Neue Institutionenökonomik. Vgl. Berghoff: Transaktionskosten; Coase: Firm; North: Transaction Costs; ders.: Theorie; Pierenkemper: Unternehmensgeschichte, S. 254–259; Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik; Williamson: Markets and Hierarchies; Wischermann: „Kultur“. Vgl. Borchardt: Property Rights-Ansatz; Reckendrees: Property-Rights-Ansatz.

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deshalb auch bei seiner Untersuchung berücksichtigt werden.9 Der Einbettungsansatz von Granovetter führt schließlich zu drei sich anschließenden und miteinander zusammenhängenden Themenfeldern, die für die Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte von besonderer Relevanz sind: Sozialkapital, Vertrauen und Netzwerke. Die Bildung von Vertrauen zwischen Akteuren ermöglicht nicht nur Kooperation und verringert die Reibungsverluste zwischen den betreffenden Personen, sondern reduziert aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik auch die Höhe der Transaktionskosten. Während Vertrauen grundlegend notwendig für gemeinsames Handeln und Kooperation ist, ermöglicht es im Unternehmen zudem den Abbau von funktionalen oder bürokratischen Kontrollformen und bindet die Akteure in die Handlungslogiken und Ordnungsstrukturen des Unternehmens ein.10 Ferner kann Vertrauen zwischen verschiedenen Firmen aufgebaut werden, um gemeinsam auf dem Markt zu agieren oder strategische Allianzen einzugehen. Dabei agieren die Unternehmer vielfach in Netzwerken, welche auf der Basis von reziproken Vertrauensbeziehungen beruhen und durch den gegenseitigen Austausch von Informationen gekennzeichnet sind. Im Unterschied zu Netzwerken von Unternehmern unterschiedlicher Firmen, die beispielsweise über die gemeinsame Mitgliedschaft in Aufsichtsräten, wirtschaftlichen Verbänden oder anderen Vereinen entstanden und aufgrund der spezifischen Wirtschaftskultur des kooperativen Kapitalismus in Deutschland eine zentrale Form im Aushandlungsprozess einnahmen, kann man die innerbetrieblichen Netzwerkbeziehungen mit den formellen Leitungsstrukturen eines einzelnen Unternehmens kontrastieren.11 Der vorliegende Aufsatz betrachtet in diesem Zusammenhang systematisch das Netzwerkhandeln von Paul Reusch innerhalb der GHH-Gruppe, die sowohl die Stammbetriebe in Oberhausen als auch die angegliederten Tochterunternehmen umfasst, über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Damit wird insbesondere dem Defizit vieler statischer Netzwerkuntersuchungen begegnet, welche sich auf einen singulären Zeitpunkt beschränken und somit keine Aussagen über die Evolution und Dynamik eines Netzwerks treffen können. Auch wenn bereits auf die Gefahr fehlender Anschlussfähigkeit mathematisierter Modelluntersuchungen hingewiesen worden ist, so sollten auch weiterhin statistische Auswertungen fortgeführt werden; entscheidend ist allerdings, dass diese anschließend auch in den politischen, sozialen und kulturellen Kontext eingebettet und nicht isoliert betrachtet werden. Gleiches gilt für die Analyse von Netzwerken. Die Instrumente der Netzwerkanalyse bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten und Maßzahlen, welche die Beziehungen zwischen den Akteuren klassifizieren können, doch müssen diese Ergebnisse vor dem Hintergrund der soziokulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie der bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhält9 Vgl. Granovetter: Economic Action. 10 Vgl. Berghoff: Vertrauen; Fiedler: Vertrauen; Luhmann: Vertrauen; Preisendörfer: Vertrauen als soziologische Kategorie; Wischermann: Kooperation. 11 Vgl. Gotto: Information, S. 227–228; Jansen: Netzwerkansätze; Klaus: Vertrauen in Unternehmensnetzwerken; Todeva/Knoke: Strategische Allianzen.

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nisse interpretiert werden. Die Betrachtung des Netzwerkshandelns ermöglicht dabei einerseits, die individuellen Handlungsmotive und den Handlungsspielraum von Paul Reusch, welcher durch seine Verfügungsrechte begrenzt war, zu beurteilen; andererseits wird dadurch die strukturelle Einbettung des Akteurs in das unternehmensinterne Netzwerk sichtbar. Die Erweiterung des lange Zeit auf den ökonomischen Aspekt reduzierten Kapitalbegriffs bietet hierbei schließlich eine Möglichkeit, um den Einfluss des Vorstandsvorsitzenden konkretisieren zu können. Das soziale Kapital als die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen einer Person, die mit der Mitgliedschaft in einem dauerhaften Netzwerk verbunden sind, greift somit über das rein ökonomische Vermögen hinaus und kann den Nicht-Eigentümer Reusch besser als neoklassische Wirtschaftstheorien erfassen, die ihn auf seine Funktion als angestellten Manager reduzieren würden. Die Höhe des sozialen Kapitals ist dabei zum einen von der Ausdehnung des Netzwerks abhängig, zum anderen ist sie an den Umfang des Kapitals gebunden, das diejenigen besitzen, mit denen man im Netz in Beziehung steht.12 Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte hat somit in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Gebieten deutliche Ergänzungen erfahren, welche genutzt werden sollten, um einerseits die Anschlussfähigkeit an andere Teile der Geschichtswissenschaft, aber auch an andere Fächer, wie die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften, zu gewährleisten; andererseits können viele Fragestellungen erst umfassend unter der Berücksichtigung dieser neuen Ansätze beantwortet werden. Für den Bereich der Unternehmensgeschichte bietet besonders das integrierende analytische Konzept der corporate governance einen sinnvollen Beitrag, um die unterschiedlichen Ansätze miteinander zu verbinden. Hierbei wird sowohl nach den Funktionsweisen der sozialen Organisation „Unternehmen“ als auch nach den Eigentumsverhältnissen sowie den Leitungs- und Kontrollstrukturen des Unternehmens gefragt. Gleichzeitig kann bei der Untersuchung der corporate governance, vor deren Hintergrund die weiteren Ausführungen folgen, die Analyse der internen Entscheidungsstrukturen mit den externen Beziehungen des Unternehmens verknüpft werden, so dass die Betrachtung des Unternehmens nicht an dessen Organisationsgrenzen endet.13 2. DER AUSBAU DER GUTEHOFFNUNGSHÜTTE ZUM KONZERN Auch wenn die Expansion des Unternehmens in weiten Teilen erst nach dem Ersten Weltkrieg realisiert wurde, so hatte Paul Reusch seit der Übernahme des Vorstandsvorsitzes im Jahre 1909 konsequent auf die Vergrößerung der Gutehoffnungshütte hingewirkt. Dabei verfolgte Reusch keinen ausgearbeiteten Plan, sondern ergriff vielmehr die Chancen, die sich ihm durch die Finanz- und Versorgungsprobleme der weiterverarbeitenden Industrie eröffneten. Durch den Erwerb 12 Vgl. Bourdieu: Kapital. 13 Vgl. Erker: A New Business History; ders.: Kontrollstrukturen; ders.: Corporate Governance; Lorentz/Erker: Chemie und Politik; Priemel: Flick, S. 18–26.

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von ausländischen Erzfeldern in der Normandie und in Lothringen sowie einer Zusammenarbeit mit der niederländischen Handelsfirma Wm. H. Müller & Comp., die mit chilenischen Erzen handelte, hatte der Vorstandsvorsitzende bis 1913 zunächst die Rohstoffgrundlage des Unternehmens gesichert.14 Die Umstrukturierung der Handelsorganisation und die damit verbundene Gründung der „Franz Haniel & Cie. GmbH“ sicherte der Gutehoffnungshütte ferner die direkte Beteiligung am Absatz und Transport der Kohle auf dem durch das RheinischWestfälische Kohlensyndikat geregelten Markt.15 Während Reusch durch diese beiden Maßnahmen vor allem die Förderung und den Absatz im Rohstoffbereich gesichert hatte, strebte er parallel ab 1910 eine deutliche Ausweitung des Weiterverarbeitungsbereichs an, um die entsprechenden economies of scale und econonomies of scope innerhalb der Gutehoffnungshütte verstärkt auszunutzen. Im Gegensatz zu dem stark reglementierten Kohlen- und Eisenmarkt sah der Vorstandsvorsitzende der GHH hier deutliche Wachstumspotenziale und höhere Profitraten.16 Mit der Übernahme des Gelsenkirchener Drahtwerks „Boecker & Comp.“ setzte der Expansionskurs in die Weiterverarbeitung und die vertikale Integration des Unternehmens noch vor dem Ersten Weltkrieg ein. Zwar war die Gutehoffnungshütte traditionell stärker als andere Ruhrunternehmen im Maschinenbau tätig, doch war das Haniel‘sche Unternehmen bis dahin nur über den inneren Ausbau seiner Produktionsstandorte in Oberhausen und der Umgebung gewachsen. Im Frühjahr 1910 wurden Verhandlungen zwischen den beiden Gesellschaften aufgenommen und Reusch ließ mehrere Denkschriften über den möglichen Erwerb und die Situation des Walzwerkbereichs im Allgemeinen verfassen.17 Vor dem Hintergrund der ihm vorgelegten Einschätzungen kam Paul Reusch zu dem Ergebnis, dass eine Angliederung sinnvoll sei und schloss im Oktober 1910 einen Gemeinschaftsvertrag ab, der die Firma Boecker zur Abnahme und die GHH zur Lieferung sämtlicher benötigter Waren verpflichtete. Darüber hinaus sicherte sich Reusch, der neben dem Leiter des Gelsenkirchener Unternehmens, Hermann Boecker, als Gesellschafter eingesetzt worden war, das Recht zu, innerhalb der bis 1919 währenden Vertragslaufzeit das gesamte Kapital der Kommanditgesellschaft für die GHH zu übernehmen. Reusch informierte seinen Aufsichtsratsvorsitzenden Franz Haniel ständig über den Stand der Verhandlungen; der zwischen 14 Vgl. Banken: Gutehoffnungshütte, S. 119; van de Kerkhof: Kriegswirtschaft, S. 140–144; Maschke: Konzern, S. 75–82; Erwerb der Erzgrube Algarrobo in Chile (1914–1926) [Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv in Köln (RWWA) 130-300193006/19]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil I, S. 10–18. Vgl. zur Unternehmensentwicklung der GHH seit dem Eintritt Reuschs auch die erscheinende Dissertation des Autors: Christian Marx: Paul Reusch (1868–1956). Netzwerkhandeln und Unternehmensführung im Industrieunternehmen (i. E.). 15 Vgl. Banken: Gutehoffnungshütte, S. 122–123; Franz Haniel & Cie. GmbH (Hg.): Haniel, S. 194–195; Maschke: Konzern, S. 100–104; Stromberg: Konzernbildung, S. 95–97; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil II, S. 12–21. 16 Vgl. Chandler: Strategy and Structure; ders.: Scale and Scope. 17 Vgl. Boecker & Co. Vorverhandlungen (1910–13) [RWWA 130-3001113/43]; Übernahme der Firma Boecker & Co., Gelsenkirchen (1910–11) [RWWA 130-3001113/44].

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Reusch und Boecker ausgehandelte Vertrag bedurfte insbesondere der Zustimmung der Gesellschafter von Boecker & Comp. sowie der Generalversammlung bei der GHH. Der Handlungsspielraum des Vorstandsvorsitzenden war somit noch klar durch die Verfügungsrechte der Eigentümer begrenzt. Die Kommanditgesellschaft wurde 1912 schließlich aufgelöst und die Firma als Werksabteilung unter dem Namen „Abteilung Gelsenkirchen vormals Boecker & Comp.“ in die Gutehoffnungshütte integriert. Dabei hielt Reusch an dem etablierten Führungspersonal des Unternehmens fest: Hermann Boecker wurde zum stellvertretenden Vorstandsmitglied bei der GHH berufen und stand der Gelsenkirchener Abteilung vor, und die bisherigen Leiter Otto Wiebusch, Jakob Walther, Josef Becker und Richard Ganzhardt verblieben in ihrer Stellung und bekamen die Zeichnungsberechtigung für die neue Abteilung der GHH.18 Zugleich verhandelte Reusch mit einem Eigentümer der „Altenhundemer Walz- und Hammerwerk GmbH“ über eine Beteiligung der Gutehoffnungshütte. Ähnlich wie bei Boecker & Comp. ging auch hier die Initiative für eine engere Zusammenarbeit zunächst nicht von Reusch, sondern von dem weiterverarbeitenden Unternehmen aus. Die Besitzer beabsichtigten eigentlich keinen Verkauf ihres Unternehmens, sondern wollten vornehmlich eine engere Interessengemeinschaft mit der GHH eingehen, doch im November 1911 räumten sie der GHH eine 50prozentige Beteiligung ein, die zur späteren Übernahme des Gesamtkapitals berechtigen sollte. Reusch wollte vor dem Hintergrund der Kartellisierung vor allem den Absatz der Gutehoffnungshütte sichern und den Gewinn durch Hinzufügung einer weiteren Produktionsstufe ausweiten, während die Eigentümer des Altenhundemer Werkes sich vor allem an die GHH gewendet hatten, um ihre Rohstofflieferungen abzusichern und die Kosten im Einkauf zu senken. Reusch ließ wiederum Denkschriften in der GHH anfertigen, um über den Zustand des Werkes und die Marktsituation im Bilde zu sein. Dennoch führten die Verhandlungen 1911 zu keinem endgültigen Ergebnis und erst am Ende des Ersten Weltkrieges waren die Eigentümer zu einem endgültigen Verkauf bereit, da sich die Versorgungslage mit Kohle und Halbzeug dramatisch verschärft hatte und die Existenz des Unternehmens bedroht war. Zudem standen die Eigentümer vor einem Nachfolgeproblem, da es keinen geeigneten Kandidaten aus dem Kreis der Familie gab. Gegenüber dem Aufsichtsrat der Gutehoffnungshütte wies Reusch darauf hin, dass man auch ein eigenes Feinblechwalzwerk in Oberhausen bauen könne, die Errichtung eines solchen aber nicht nur den Wettbewerb verschärfe, sondern zudem das Problem der Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte bestehe. Nachdem die GHH schließlich die Zusage über die Anerkennung des Selbstverbrauchs im Stahlwerksver-

18 Vgl. Banken: Gutehoffnungshütte, S. 120–121; Büchner: Geschichte der Gutehoffnungshütte, S. 35; Harold James: Familienunternehmen, S. 202; Maschke: Konzern, S. 82–88; Schreiben von Reusch an Franz Haniel (01.05.1912) [RWWA 130-300193000/0]; Mitteilung über Prokuristen und Vorstand (28.10.1912) [RWWA 130-3201012/4]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 12–19.

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band hatte, wurde das Werk im April 1918 übernommen und trotz seiner geographischen Entfernung als Abteilung in die GHH integriert.19 Neben der Übernahme bestehender Unternehmen bildete auch die Standortfrage ein neues Element in der von Reusch vorgegebenen Unternehmensstrategie. Während das Wachstum des Unternehmens bis dahin über den Ausbau der Oberhausener und Sterkrader Produktionsanlagen erfolgt war, hielt der Vorstandsvorsitzende nun nicht mehr an dieser Position fest. Zwar lagen die beiden obigen Unternehmen noch in der Nähe des Stammsitzes, doch bereits die Planung eines Hüttenwerks im lothringischen Monhofen bei Diedenhofen auf den GHH-eigenen Minettevorkommen vor dem Ersten Weltkrieg verdeutlichte, dass Reusch dazu bereit war, die Gutehoffnungshütte deutlich auszudehnen, so lange Transport- und Organisationskosten ein solches Vorgehen rentabel erscheinen ließen. Der Beginn des Krieges und der Verlust des französischen Besitzes verhinderten jedoch die Realisierung des Projekts.20 Erfolgreicher war Reusch hingegen bei der Übernahme eines weiteren Unternehmens, der „Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk AG“, die ebenfalls die Belieferung mit Rohstoffen und Vorprodukten von gleichbleibender Qualität sicherstellen wollte und sich deshalb an das Oberhausener Unternehmen wandte. Da Reusch nach wie vor an einer Steigerung des Absatzes interessiert war, verständigten sich beide Parteien 1914 auf einen Vertrag, der die GHH zur Belieferung von 18.000 t Rohwalzdraht und das Osnabrücker Werk zur Abnahme dieser Menge verpflichtete. Auch hier war ursprünglich keine Kapitalbeteiligung der Gutehoffnungshütte vorgesehen, doch nachdem sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die weiterverarbeitende Industrie am Ende des Ersten Weltkrieges verschlechtert hatten und das Osnabrücker Unternehmen unter erheblichem Kapitalmangel litt, richtete es eine Anfrage bezüglich einer Beteiligung an einer Aktienkapitalerhöhung an die Gutehoffnungshütte. Reusch ließ sich daraufhin wiederum Berichte über den technischen und kaufmännischen Zustand des Werkes von Hermann Boecker und Heinrich Klemme zukommen und stimmte auf dieser Grundlage einer Angliederung zu. Durch Zukäufe auf dem freien Markt erhöhte er anschließend den Anteil der Gutehoffnungshütte auf 55 Prozent und sicherte sich dadurch die Verfügungsrechte über das Unternehmen. Reusch informierte seinen Aufsichtsratsvorsitzenden ständig über seine Verhandlungsschritte und machte ihm gegenüber einen Vorschlag bezüglich der Besetzung des Osnabrücker Aufsichtsrats. Der Vorsitzende des GHH-Kontrollgremiums sowie dessen Stellvertreter, Franz Haniel und Eduard Carp, stimmten dem Vorstandsvorsitzenden zu, so dass wenig später Reusch selbst und Karl Haniel, die zukünftige Führungsfigur der Familie Haniel bei der GHH, in den Aufsichtsrat des Kupfer- und Drahtwerks eintraten.21 Die drei nun mit der Gutehoffnungshütte 19 Vgl. Maschke: Konzern, S. 90–96; Erwerb des Altenhundemer Walzwerkes (1911–1918) [RWWA 130-300193007/2]; Stromberg: Konzernbildung, S. 97–98; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 44–46. 20 Vgl. Maschke: Konzern, S. 76–77; Nievelstein: Minette, S.149–166, S. 218–219 und S. 268– 270. 21 Vgl. James: Familienunternehmen, S. 202; Maschke: Konzern, S. 96–97; Matschoss: Osnabrücker Kupfer- & Drahtwerk; Eduard Carp an August Haniel (05.11.1919, 15.11.1919)

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vertraglich verbundenen Unternehmen konnten ihre Kosten im Einkauf aufgrund langjähriger Lieferverträge senken und profitierten von der gleichbleibenden Qualität der gelieferten Produkte. Sie waren deshalb nicht mehr qualitativ unterschiedlichen Gütern der verschiedenen Zulieferer unterworfen und sparten sich vielmehr die Informations- und Suchkosten auf dem freien Markt. Gleichzeitig sicherte Reusch für die Gutehoffnungshütte einen beständig höheren Absatz und setzte diesen über die Integration des gesamten Werks bzw. die Übernahme der Aktienmehrheit als Selbstverbrauch gegenüber den Syndikaten und Kartellen durch. Dadurch wurden die Transaktionskosten auf dem Wettbewerbsmarkt reduziert, zugleich erhöhten sich die internen Organisationskosten jedoch durch die Angliederung einer weiteren Stufe des Wertschöpfungsprozesses im Rahmen der Gutehoffnungshütte. Die Expansion des Unternehmens ging somit mit einer deutlichen Steigerung der internen Abstimmungsprobleme und einem erhöhten Koordinationsaufwand einher, der durch den Vorstand erfasst und umgesetzt werden musste. Die noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs eingeleiteten Angliederungen bildeten zugleich die Blaupause für die Übernahmen nach 1918. Reusch konnte über mehrere Jahre Erfahrungen über die vollständige Integration der Firmen und die Beibehaltung des Führungspersonals sammeln. Dabei kam er bereits beim Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk zu dem Ergebnis, dass die Managementspitze weiterhin nicht ausgetauscht und die rechtliche Selbständigkeit des Unternehmens beibehalten werden sollte. Diese Organisationsform bildete die Grundlage für die weiteren Unternehmensakquisitionen der Gutehoffnungshütte und leitete 1918 den Wechsel zu einem beschleunigten Wachstumsprozess bei der GHH unter politisch und ökonomisch veränderten Rahmenbedingungen ein. Der Verlust des GHH-Besitzes in der Normandie und Lothringen sowie der fehlende Zugang zu internationalen Märkten verursachten auch bei der Gutehoffnungshütte, die zudem ihre Rüstungsproduktion auf Friedensgüter umstellen musste, erhebliche wirtschaftliche Probleme. Das geplante Hüttenwerk in Monhofen und damit der Aufbau eines zweiten Produktionsstandortes zur Herstellung von Eisen und Stahl musste aufgegeben werden, gleichzeitig verschlechterte sich durch den Verlust der Felder die Erzversorgung des Unternehmens. Da das Unternehmen jedoch aufgrund von Kriegsgewinnen und Entschädigungszahlungen über ein beträchtliches finanzielles Polster verfügte, entschloss sich Reusch, die GHH nun noch stärker und schneller im Weiterverarbeitungsbereich zu positionieren. Dabei verfolgte er zumindest bis 1914 keinen langfristig ausgearbeiteten Plan einer dezentralen und diversifizierten Konzernstruktur, lediglich die Erweiterung des Unternehmens um nachgelagerte Produktionsstufen stand beim Vorstandsvorsitzenden schon vor dem Ersten Weltkrieg fest, da er in der Produktverfeinerung höhere Gewinnspannen erwartete.22

[RWWA 130-300193000/5]; Reusch an Boecker (19.10.1919) [RWWA 130-300193003/3]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 19–26. 22 Vgl. Banken: Gutehoffnungshütte, S. 121–122, S. 129.

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Im Schiffsbau verständigten sich während des Krieges Albert Ballin, der Generaldirektor der HAPAG, und Walther Rathenau von der AEG auf die Gründung einer neuen Werft, um den verlorenen Schiffsraum wieder zu ersetzen. Sie errichteten 1916 die „Hamburger Werft AG“ mit einem Grundkapital von einer Million Mark und entschlossen sich schon bald zum Ausbau des Unternehmens innerhalb eines größeren Verbunds. Nachdem die Gespräche mit Hugo Stinnes bezüglich einer Beteiligung gescheitert waren, bot sich für Paul Reusch die Chance zum Einstieg. Der Vorstandsvorsitzende der GHH hatte sich zwar seit 1916 über die Möglichkeiten einer Werftangliederung informiert, doch ging sein Vorhaben noch nicht über den Status einer Planung hinaus. Die Maschinen- und Brückenbauabteilung der GHH in Sterkrade verfasste ein Gutachten, welches Reusch für eine Denkschrift an den Aufsichtsrat, in der er eine Beteiligung befürwortete, nutzte; das Kontrollgremium der Gutehoffnungshütte stimmte dem Plan daraufhin ebenfalls zu, so dass die konkreten Verhandlungen mit der HAPAG und der AEG aufgenommen werden konnten. Reusch erwies sich hierbei als harter Verhandlungspartner: Er setzte gegenüber den anderen Großaktionären eine Mehrheitsbeteiligung von 51 Prozent des Aktienkapitals durch und verhinderte gleichzeitig eine Mehrheit von AEG und HAPAG im Aufsichtsrat des neuen Unternehmens. Von der Gutehoffnungshütte kamen neben Reusch die beiden stellvertretenden Vorstandsmitglieder Arnold Woltmann und Otto Wedemeyer sowie Johann Welker von Franz Haniel & Cie. und die beiden Mitglieder der Eigentümerfamilie, Richard und Karl Haniel, in den Aufsichtsrat der neuen Werft. Damit waren nicht nur die funktionalen Bereiche von Seiten des Managements integriert, sondern auch die Eigentumsrechte der Familie Haniel berücksichtigt, die als Haupteigner der Gutehoffnungshütte nun ebenfalls bei der Kontrolle des bis dahin größten Tochterunternehmens eingebunden waren.23 Im Juni 1918 konnte nach Abschluss der Verhandlungen schließlich die „Deutsche Werft AG“ mit einem Aktienkapital von nominell zehn Millionen Mark gegründet werden, wobei die GHH 51 Prozent, die AEG 39 Prozent und die HAPAG zehn Prozent hielten. Die HAPAG reduzierte ihren Anteil jedoch bald auf fünf Prozent, gleichzeitig wurde das Stammkapital 1920 auf 30 Mio. Mark angehoben.24 Reusch hatte die Gutehoffnungshütte damit entscheidend erweitert. Auch wenn das Unternehmen schon im 19. Jahrhundert im Schiffbau tätig war und der Vorstandsvorsitzende somit in gewisser Weise auf eine traditionelle Entwicklungslinie der GHH zurückgriff, so wurde durch die Beteiligung an der Deutschen Werft doch eine neue Größendimension eröffnet. Ferner war das Hamburger Unternehmen durch seine deutliche geographische Distanz zu Oberhausen gekenn23 Vgl. Claviez: Deutsche Werft 1918–1960, S. 2–15; Claviez: Deutsche Werft 1918–1968, S. 9–18; Joest: Pionier, S. 142; Maschke: Konzern, S. 106–114; Reusch an Ballin (03.03.1918) [RWWA 130–300193012/0]; Reusch an Wedemeyer (04.03.1918) [RWWA 130-300193003/ 5]. 24 Vgl. Claviez: Deutsche Werft 1918–1960, S. 17–20, S. 45–48; Claviez, Deutsche Werft 1918–1968, S. 19–20, S. 41–42; Maschke: Konzern, S. 114–115; Konsortialvertrag betr. Deutsche Werft zwischen GHH, AEG und HAPAG (29.08.1918/13.09.1918) [RWWA 130300193012/2]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 29–36.

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zeichnet. Eine direkte Steuerung der Unternehmensorganisation innerhalb der Gutehoffnungshütte erschien kaum möglich, so dass die Form einer Aktiengesellschaft mit einer Mehrheitsbeteiligung die sinnvollste Lösung darstellte.25 Einen Schritt in die geographisch andere Richtung unternahm Reusch anschließend durch die Angliederung mehrerer süddeutscher Unternehmen. Der Einstieg in den süddeutschen Markt gelang dem Vorstandsvorsitzenden über eine Beteiligung an der „Eisenwerk Nürnberg AG vorm. J. Tafel & Co.“, welche nach dem Krieg deutliche Versorgungsprobleme im Kohlebereich zu verzeichnen hatte und sich deshalb mit einem Kohle fördernden Unternehmen zusammenschließen wollte. Reusch stellte bei den Verhandlungen zwei zentrale Forderungen: Zum einen sei eine Beteiligung von 81 Prozent notwendig, um die aktuellen Syndikatsbestimmungen zu erfüllen und die Lieferungen als Selbstverbrauch anerkannt zu bekommen, zum anderen forderte er die Mehrheit im Aufsichtsrat, um die qua Kapitalbesitz gegebenen Verfügungsrechte auch direkt im Unternehmen zu implementieren. Reusch informierte seinen neuen Aufsichtsratsvorsitzenden, August Haniel, ständig über den Stand der Verhandlungen und konnte ihm im Sommer 1919 mitteilen, dass seine Forderungen akzeptiert worden seien. Daraufhin traten von Seiten der GHH Reusch als Vorstandsvorsitzender, Arnold Woltmann als zentrale Figur der GHH-Verwaltung und Otto Holz als Direktor des Walzwerkes Oberhausen (GHH) sowie Karl und Franz Haniel in den Aufsichtsrat des Nürnberger Unternehmens ein, wobei Reusch zum stellvertretenden Vorsitzenden des Kontrollgremiums ernannt wurde. Auf diese Weise wurden, wie bereits bei der Deutschen Werft in Hamburg, sowohl die Vertretungsansprüche des GHH-Managements als auch die Rechte der Eigentümerfamilie Haniel berücksichtigt. Auch hinsichtlich des Führungspersonals hielt Reusch an seiner bewährten Strategie fest und beließ den alleinigen Vorstand Lambert Jessen in seinem Amt, der zu einer Vertrauensperson Reuschs wurde und ihn bei den weiteren Akquisitionen unterstützte.26 Neben der Beteiligung der Gutehoffnungshütte an den neu gegründeten Schwäbischen Hüttenwerken, welche der GHH insbesondere Rechte an württembergischen Erzen sicherte, sowie der Angliederung der durch Liquiditäts- und Versorgungsprobleme gekennzeichneten Maschinenfabrik Esslingen gelang Paul Reusch durch die Übernahme der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN)

25 Aufgrund des gestiegenen Nietenbedarfs durch die Deutsche Werft wurde ferner die „Nietenfabrik Ludwig Möhling“ übernommen und in die GHH integriert; zudem wurde die ebenfalls im Besitz der Familie Haniel befindliche Firma „Haniel & Lueg“ in die GHH eingefügt. Vgl. Büchner: Geschichte der Gutehoffnungshütte, S. 90–92; Haniel & Lueg (Hg.): Maschinenbau; Maschke: Konzern, S. 116–119, S. 125–129; Vorverhandlungen betr. offene Handelsgesellschaft Ludwig Möhling in Schwerte (1919–1920) [RWWA 130-3001113/39]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 46–58. 26 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N., S. 233–234; Büchner: Geschichte der Gutehoffnungshütte, S. 93; Eisenwerk Nürnberg (Hg.): Eisenwerk Nürnberg A.-G.; Maschke: Konzern, S. 134–137; Reusch an August Haniel (05.06.1919) [RWWA 130-300193000/5]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 64–68.

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der größte Coup in Süddeutschland.27 Der durch den Ersten Weltkrieg verursachte Wegfall der Zulieferer aus der Saarregion und Lothringen verursachte bei der MAN einen deutlichen Frachtkostennachteil, der die bereits bestehenden Finanznöte des Unternehmens zusätzlich verschärfte. Mehrere Kapitalerhöhungen und Teilschuldverschreibungen brachten nur eine kurze Entlastung, so dass die Schulden das Eigenkapital deutlich übertrafen. Der langjährige Vorstandsvorsitzende Anton von Rieppel bemühte sich deshalb um eine engere Kooperation mit einem finanzstarken Rohstoffunternehmen. Rieppel und der Aufsichtratsvorsitzende der MAN, Theodor von Cramer-Klett, waren gleichzeitig auch Mitglieder im Kontrollgremium des Eisenwerks Nürnberg, wo sie auf Reusch und die anderen GHHVertreter trafen. Durch die Übernahme des Nürnberger Unternehmens konnte Paul Reusch somit Kontakte zu prominenten und einflussreichen Mitgliedern der bayerischen Wirtschaftselite knüpfen, doch lehnte Rieppel einen Zusammenschluss mit der Gutehoffnungshütte ab, da er den Führungsstil des GHH-Vorstandsvorsitzenden nicht befürwortete und ferner auf die Konkurrenz zwischen der MAN und der GHH im Brückenbau hinwies.28 Im Juli 1920 wurde der Vorstand der MAN deshalb zunächst damit beauftragt, mit der von Hugo Stinnes geleiteten Rheinelbe-Union Verhandlungen bezüglich einer Zusammenarbeit aufzunehmen. Da man bei der Rheinelbe-Union zudem eine Kooperation mit Siemens plante, sah Rieppel hier den idealen Partner für die MAN. Die Mehrheit im MAN-Vorstand beurteilte das Angebot von Stinnes hingegen wesentlich zurückhaltender und hatte schon im Juni ihre Bedenken gegen das Projekt geäußert, da man trotz der Zusicherungen befürchtete unter den endgültigen Einfluss von Stinnes zu kommen und die Selbständigkeit als Unternehmen zu verlieren. Ab August entwickelte sich deshalb die Gutehoffnungshütte zu einem Alternativmodell, da Lambert Jessen den Kontakt zwischen den Stinnesskeptischen MAN-Vorständen und dem Oberhausener Vorstandsvorsitzenden hergestellt hatte.29 Die Bedenken der übrigen Vorstandsmitglieder veranlassten schließlich auch Cramer-Klett, seine Meinung gegenüber einer Zusammenarbeit mit Stinnes zu revidieren; Rieppel erlitt im September einen Schlaganfall und konnte deshalb kaum noch gegen den Stimmungswandel intervenieren. Im Oktober 1920 vereinbarten Cramer-Klett und Reusch daraufhin den Verkauf eines grö27 Vgl. zur Maschinenfabrik Esslingen: Volker Hentschel: Maschinenfabrik Esslingen; KöhleHezinger: Maschinenfabrik in Esslingen; Maschke: Konzern, S. 137–140; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 71–80. Vgl. zu den Schwäbischen Hüttenwerken: Fliegauf: Schwäbische Hüttenwerke. 28 Vgl. Bähr: Die M.A.N.; ders.: GHH und M.A.N., S. 240–241; Bosl: M.A.N.-Geschichte; Büchner: Geschichte der Gutehoffnungshütte, S. 95–96; ders.: Maschinenfabrik AugsburgNürnberg, S. 19–150; Feldman: Die M.A.N.; James: Familienunternehmen, S. 204–206; Maschke: Konzern, S. 141–144; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 81–85. 29 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N.,S. 241–242; Feldman: Iron and Steel, S. 213–231; ders.: Hugo Stinnes, S. 656–659; Historisches Archiv der M.A.N. AG in Augsburg (MAN-HA) 1.3.1.3 Vorstandsprotokolle (1913–1920): Niederschrift über die Vorstandssitzung (07./08.071920); Jessen an Reusch (14.09.1920) [RWWA 130-300193017/2]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 86–87.

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ßeren Aktienpaketes an die Gutehoffnungshütte, wodurch die GHH über ein Drittel des Stammkapitals verfügen würde. Bereits einen Monat später einigten sich beide Parteien auf dem Katharinenhof, dem württembergischen Landsitz von Reusch, auf die endgültigen Bestimmungen. Rieppel fühlte sich durch das Vorgehen seiner Vorstandskollegen und seines Aufsichtsratsvorsitzenden hintergangen und reichte noch Ende des Jahres seinen Rücktritt ein; sein Nachfolger wurde der Enkel des Firmengründers Richard Buz, zu dem Reusch in den kommenden Jahren ein intensives Verhältnis aufbaute.30 Reusch begnügte sich demzufolge im November 1920 mit einer Minderheitsbeteiligung an der MAN, doch widersprach eine solche Verflechtung seiner Grundmaxime und noch im Dezember desselben Jahres bemühte er sich um eine Erhöhung des Anteils. Zwar war es Reusch gelungen, die Generalversammlung Anfang Dezember durch eine Interessenkoalition mit anderen Aktionären zu dominieren, allerdings strebte er langfristig eine Mehrheitsbeteiligung an, um zukünftig von anderen Parteien unabhängig zu sein. Er übernahm Ende des Jahres ein weiteres Aktienpaket von einem Schweizer Industriellen und veranlasste 1921 den Kauf von MAN-Aktien auf dem freien Markt. Jessen fungierte hier als Aufkäufer der Aktien und informierte Reusch regelmäßig über den Aktienkurs und die Höhe der Ankäufe. Im Juli 1921 konnte Jessen ihm schließlich vermelden, dass die GHH über die Majorität der Aktien verfügen würde, woraufhin Reusch die Ankäufe einstellen ließ.31 Als Repräsentanten der Gutehoffnungshütte wurden Paul Reusch und Karl Haniel in den Aufsichtsrat der MAN gewählt. Zwar konnte Reusch aufgrund der Anwesenheit einiger einflussreicher Bankiers und der hohen Bankschulden des Unternehmens keine Mehrheit der GHH im Kontrollgremium erzielen, doch war sein „maßgeblicher“ Einfluss über den Aktienbesitz gesichert und zudem wurden die Interessen der Familie Haniel durch die Mitgliedschaft von Karl Haniel hinreichend berücksichtigt. Paul Reusch hatte den Aufsichtsratsvorsitzenden der GHH, August Haniel, durchaus über den Ankauf der MAN-Aktien informiert, allerdings führte er die Verhandlungen mit der MAN vollkommen eigenständig.32 Auch wenn Reusch erst 1921 mit der alleinigen Führung des Unternehmens betraut wurde, so handelte er doch ab Anfang 1920, als er zum „Generaldirektor“ der Gutehoffnungshütte ernannt worden war, zunehmend ohne ständige Rücksprache mit der Eigentümerfamilie und bestimmte die Entwicklung des Unternehmens trotz seiner fehlenden Verfügungsrechte in Form von Aktienanteilen an der GHH.33 30 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N., S. 243–244; Büchner: Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, S. 155–157; Vorstand an Cramer-Klett (02.11.1920) [MAN-HA N 116.3]; Maschke: Konzern, S. 146–151; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, S. 87–88. 31 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N., S. 244–245; James: Familienunternehmen, S. 206–207; Maschke: Konzern, S. 151–156; Direktor Lambert Jessen (1920) [RWWA 130-300193017/2]; Direktor Lambert Jessen (1921) [RWWA 130-300193017/3]; Szymanski: Gutehoffnungshütte, Teil III, 88–89. 32 Vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften (1919–1921); Reusch an August Haniel (22.12.1920) [RWWA 130-300193000/5]. 33 Vgl. Niederschriften über die Aufsichtsratssitzungen (30.01.1920, 27.05.1921) [RWWA 1303001090/22]; Mitteilung von August Haniel (03.06.1921) [RWWA 130-3001094/0].

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In den folgenden Jahren bis zur Inflation 1923 übernahm die GHH noch weitere Unternehmen in Süddeutschland. Reusch erwarb für die Gutehoffnungshütte Beteiligungen an der Fritz Neumeyer AG, der Zahnräderfabrik Augsburg sowie der Deggendorfer Werft und baute das Oberhausener Montanunternehmen damit zu einem bedeutenden Maschinenbauer und Weiterverarbeiter im süddeutschen Raum aus; im Vergleich zu anderen Ruhrunternehmen war die Gutehoffnungshütte hier wesentlich stärker präsent als beispielsweise Thyssen oder Krupp. Der Erwerb von Unternehmensteilen ging jedoch nicht mit dem Aufbau einer leistungsfähigen Organisationsstruktur einher. Erst infolge der Ruhrbesetzung erfolgten eine Änderung der Unternehmensstruktur und die Errichtung einer modernen Holding, der die rechtlich selbständigen Unternehmen unterstellt wurden. Die Etablierung von regelmäßigen Konzernsitzungen sowie der Aufbau einer Konzernstelle und einer konzernweiten Revisionsabteilung vollendeten die Maßnahmen und führten schließlich bis Mitte der 1920er Jahre zu einer modernen Unternehmensorganisation bei der Gutehoffnungshütte. 3. LEITLINIEN UND GRUNDSÄTZE DES UNTERNEHMERISCHEN HANDELNS BEI PAUL REUSCH Das unternehmerische Handeln des Oberhausener Generaldirektors während der Expansionsphase ist durch verschiedene Grundsätze und Leitlinien gekennzeichnet, die im Folgenden anhand von acht Punkten erläutert werden. Die Leitungsund Kontrollstrukturen im Unternehmen sowie die strategische Ausrichtung des Unternehmens wurden dabei nicht nur durch die bestehenden Kapital- und Eigentumsstrukturen und die Pfadabhängigkeiten des Unternehmens geprägt, sondern insbesondere durch zentrale Entscheidungen von Paul Reusch beeinflusst. 3.1 Die Bildung einer dezentralen Unternehmensstruktur Während man in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einen internen Ausbau der Gutehoffnungshütte betrieben und somit vor allem bestehende Produktionsbereiche erweitert hatte, ging man mit der Angliederung der Firma Boecker & Comp. dazu über, selbständige Unternehmen zu erwerben. Hierbei wurden die ersten Angliederungen, wie Boecker & Comp. und das Altenhundemer Walzwerk, noch in die Gutehoffnungshütte als Werksabteilungen integriert, wohingegen Reusch die Unternehmensstrategie ab dem Ersten Weltkrieg auf den Kauf von selbständigen Tochterunternehmen, welche ihre Selbständigkeit behalten durften, umstellte. Die Übernahme des Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerks machte dabei den Anfang und bekam eine gewisse Vorbildfunktion für weitere Unternehmensakquisitionen. Die neu angegliederten Unternehmen befanden sich außerdem nicht mehr in unmittelbarer Nähe zum Stammwerk der Gutehoffnungshütte in Oberhausen, so dass eine in organisatorischer und geographischer Hinsicht dezentrale Unternehmensstruktur entstand. Bereits die ersten Zukäufe sowie die Planung eines Hüt-

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tenwerks in Monhofen verdeutlichten, dass Paul Reusch das Unternehmen nicht mehr auf den bisherigen Produktionsstand beschränken wollte. Die Ausweitung des Produktionsprogramms mit der durch die Übernahmen verbundenen geographischen Distanz zwischen den verschiedenen Betriebsteilen erhöhte den Koordinationsaufwand enorm und stellte das Management der Gutehoffnungshütte vor neue Aufgaben. 3.2 Die Koordination innerhalb der GHH-Gruppe Auch wenn die angegliederten Unternehmen ihre rechtliche Selbständigkeit behielten, so wurde ihre strategische Ausrichtung dennoch mit den Zielen der Gutehoffnungshütte in Einklang gebracht. Zwar mischte sich Paul Reusch in der Regel nicht unmittelbar in das Alltagsgeschäft der anderen Unternehmen ein, insbesondere Personalentscheidungen auf der mittleren und unteren Ebene der Tochtergesellschaften lagen in den Händen der entsprechenden Direktoren und Vorstandsmitglieder, aber Oberhausen koordinierte die Produktion der unterschiedlichen Betriebsstätten und Reusch kontrollierte regelmäßig die finanzielle Leistungsfähigkeit der Betriebe; dies geschah nicht nur durch eine Prüfung der Jahresbilanz und der veröffentlichten Gewinn- und Verlustrechnung, sondern auch durch Wochen-, Monats- und Halbjahresberichte, die von den einzelnen Unternehmen an Paul Reusch geschickt wurden. Gleichzeitig mussten die Spannungen zwischen den Werken des Öfteren durch Paul Reusch ausgeglichen werden. Er bemühte sich zwar meistens darum, dass eine Verständigung zwischen den betroffenen Direktoren und Vorständen ohne sein Eingreifen zustande kam, gelang dies jedoch nicht, so wurde in der Regel eine Besprechung zwischen ihm und den jeweiligen Personen anberaumt. Als grundlegende Probleme stellten sich hierbei zum einen Lieferbedingungen und Preise zwischen den Werken, zum anderen Konflikte zwischen den Betrieben aufgrund gleicher Produktlinien heraus. Zwischen der MAN und der GHH-Abteilung in Sterkrade kam es beispielsweise über Jahre hinweg zu Unstimmigkeiten, da beide im Brückenbau tätig waren; ein Umstand, auf den bereits der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, Anton von Rieppel, noch vor dem Zusammenschluss hingewiesen hatte.34 Diese Koordination der Konzernteile machte auf der einen Seite ein umfangreiches Berichtswesen notwendig, zum anderen hatte sie ein deutlich erhöhtes Reiseprogramm von Reusch zur Folge. Vor diesem Hintergrund kann man deshalb die Korrespondenz von Paul Reusch mit den verschiedenen Abteilungen der GHH sowie den einzelnen Tochterunternehmen als Instrument zur Steuerung des Konzerns heranziehen.35 Während im Jahr 1916 vor allem die Direktoren der Gu34 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N., S. 240–241; Maschke: Konzern, S. 205–211. 35 Vgl. zur Datenerhebung der Korrespondenz und zur Analyse der unterschiedlichen Kategorien die methodischen Ausführungen sowie die Strukturdaten der einzelnen Netzwerke in der erscheinenden Dissertation des Autors: Marx: Paul Reusch.

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tehoffnungshütte, Friedrich Bohny, Otto Wedemeyer, Paul Schmerse und Hermann Boecker sowie der Aufsichtsratsvorsitzende Franz Haniel im Zentrum des geschäftsinternen Netzwerks standen, traten 1920 die Herren der Deutschen Werft in den Mittelpunkt der Verflechtung, wobei die Beziehung von Reusch zum Aufsichtsratsvorsitzenden weiterhin zentral blieb, obwohl dieser zwischenzeitlich gewechselt und August Haniel nun diese Funktion eingenommen hatte. Im Gegensatz dazu hatte Reusch zu den übrigen Mitgliedern des Aufsichtsrats kaum Kontakt.36 Waren 1916 noch die Bereiche „Finanzen“ und „Berichte“ entscheidend, so erlangten 1920 „Terminabsprachen“ und „Organisationsfragen“ neben den Berichten eine zentrale Bedeutung; dieser Trend setzte sich bis 1924 fort und spiegelte die Erweiterung des Unternehmens wider. In diesem Jahr zeigte sich der expansive Charakter der GHH auch deutlich im geschäftlichen Netzwerk von Paul Reusch, dessen Kontakte über Briefwechsel sich nahezu verdreifachten. In das Zentrum des Netzwerks von 1924 rückten nun Richard Buz und Ludwig Endres von der MAN, William Scholz und Rudolf Krull von der Deutschen Werft sowie der neue Aufsichtsratsvorsitzende Karl Haniel, erst danach folgten die GHHDirektoren Lübsen, Lippart und Woltmann sowie der Berliner Berichterstatter Martin Blank. Während also 1916 noch die Gutehoffnungshütte selbst im Mittelpunkt bei Reusch stand, machte es die Entwicklung zum Konzern erforderlich, dass nun vor allem die verschiedenen Produktionsstätten aufeinander abgestimmt wurden. Der Organisations- und Koordinationsaufwand nahm somit unvermeidlich zu und erhöhte den Regelungsbedarf für Paul Reusch, der stets über die Entwicklungen in den Unternehmensteilen informiert sein wollte und wesentliche Entscheidungsbefugnisse nicht aus der Hand gab. Erneut führte der personelle Wechsel an der Aufsichtsratsspitze zu keiner Beziehungsstörung zwischen dem Aufsichtsrats- und dem Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens. Ein solcher Bruch kam insbesondere nicht zustande, da die beiden neuen Aufsichtsratsvorsitzenden jeweils seit geraumer Zeit dem Kontrollgremium als einfache Mitglieder angehört hatten, August Haniel seit 1883 und Karl Haniel seit 1912, und die neuen Vorsitzenden somit keine Unbekannten waren.37 Die Stellung von Karl Haniel im Unternehmen war zudem durch seine Mitgliedschaft in verschiedenen Aufsichtsräten von GHH-Tochtergesellschaften schon vor der Übernahme des GHH-Aufsichtsratsvorsitzes im September 1921 gefestigt worden, so dass sich die Beziehung zu Paul Reusch intensiviert hatte. Aus der Perspektive des principal agent-Problems bestand zwar weiterhin eine Informationsasymmetrie zugunsten von Paul Reusch, dessen Macht sich im Unternehmen durch den Wechsel zu dem neun Jahre jüngeren Karl Haniel sicherlich nicht reduzierte, doch verfügte der neue Aufsichtsratsvorsitzende aufgrund seiner Funktion als Geschäftsführer der Firma „Haniel & Lueg“ über weitere Informationsquellen und war nicht alleine auf Reusch angewiesen. Die enge Beziehung 36 Im Jahr 1920 bildeten die Vorstände der Deutschen Werft, Ernst Warnholtz und William Scholz, sowie der neue Aufsichtsratsvorsitzende der GHH, August Haniel, die „top three“ des geschäftsinternen Netzwerks nach unterschiedlichen Kriterien. 37 Vgl. Büchner: Geschichte der Gutehoffnungshütte, S. 164–165.

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zwischen den beiden war ferner durch eine Vielzahl von Berichten gekennzeichnet, welche Reusch an Haniel sandte, um ihn über die Entwicklung des Unternehmens auf dem Laufenden zu halten, und so den reduzierten Informationsstand des Eigentümers in gewisser Weise ausglich. 3.3 Die Gründe der Angliederungen Die Expansion ergab sich nicht aus einem einseitigem Interesse Reuschs an der Vergrößerung und Diversifizierung des Unternehmens, vielmehr suchten die Firmen der Weiterverarbeitung einen finanzstarken Rohstoff- und Halbzeuglieferanten, mit dem sie gemeinsam am Markt bestehen konnten. Die Firmen der Fertigungsindustrie, die vertikal in die Gutehoffnungshütte integriert wurden, wollten auf diese Weise die Belieferung von Kohle, Eisen und Stahl sowie den daraus gefertigten Halbfabrikaten sicherstellen, da sie in der Zeit des Ersten Weltkriegs und den Nachkriegsjahren massiv von Lieferschwierigkeiten und Engpässen betroffen waren. Umgekehrt versuchte Paul Reusch mit diesem Ausbau vor allem, den Absatz der Gutehoffnungshütte zu sichern bzw. zu vergrößern. Das Ziel des Vorstandsvorsitzenden bestand somit in der Erhöhung des Ausstoßes bei der Gutehoffnungshütte und dieses konnte nur erreicht werden, wenn die Syndikate die Lieferungen des Mutterunternehmens an die Tochtergesellschaften als Selbstverbrauch anerkannten. Dadurch ergab sich aus der Sicht der GHH die Notwendigkeit, bei Angliederungen auf Mehrheitsbeteiligungen Wert zu legen. Die weiterverarbeitenden Unternehmen waren weniger an einem solchen Zusammenschluss interessiert und strebten oftmals nur Interessenverträge mit dem Oberhausener Montanunternehmen an, welche ihre Selbständigkeit gewahrt hätten, doch mussten sie sich aufgrund ihrer Zwangslage den Forderungen Reuschs fügen. Denn die Situation der Unternehmen im Maschinenbau und in der Weiterverarbeitung war nicht nur durch Lieferprobleme, sondern insbesondere durch Liquiditätsschwächen im finanziellen Bereich gekennzeichnet. Die Firmen der Fertigungsindustrie setzten somit auf die Finanzkraft des Ruhrunternehmens und versuchten auf diese Weise, ihre Unternehmen unter Aufgabe der Selbständigkeit zu erhalten.38 3.4 Die Erweiterung durch freundliche Übernahmen Paul Reusch strebte zwar danach, den Ausstoß bei der Gutehoffnungshütte zu erhöhen und die vorhandenen Kapazitäten besser auszulasten, indem er den Direktabsatz durch Lieferungen an die neu angegliederten Unternehmen erhöhte, doch benutzte er dabei weniger wirtschaftliche Macht, um Druck auf die betreffenden Unternehmen auszuüben und die Verfügungsgewalt über vermeintlich schwächere Firmen zu erlangen. Der Rohstoffmangel der Kriegs- und Nachkriegsjahre hätte ihn durchaus in die Lage versetzt, die Expansion zu forcieren und ag38 Vgl. Maschke: Konzern, S. 212–213.

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gressiv auf dem Markt Unternehmensakquisitionen zu tätigen, doch es waren vor allem die kleineren und mittleren Unternehmen, die sich an die Gutehoffnungshütte wandten, um durch Aufgabe ihrer Eigenständigkeit größere Sicherheit für sich und ihre Werke einzutauschen. Mit Ausnahme der MAN-Übernahme, die im Vergleich zu anderen Angliederungen insbesondere durch das Auftreten weiterer Kaufinteressenten gekennzeichnet war, können die Zusammenschlüsse der GHH mit Betrieben der Fertigungsindustrie deshalb durchaus als „freundliche Übernahmen“ gekennzeichnet werden.39 Die Aktionäre der Übernahmekandidaten konnten auf diese Weise ihr Kapital erhalten, welches bei fortschreitenden Liquiditätsproblemen gefährdet gewesen wäre, und entgingen gleichzeitig möglichen Nachfolgeproblemen. Reusch versicherte sich vor den Angliederungen jedes Mal über die Leistungsfähigkeit und den Zustand des Betriebs, da auch er kein Interesse an der Übernahme eines unrentablen Werks hatte. Die Liefer- und Finanzprobleme mussten somit durch einen Zusammenschluss aufgehoben werden können und dauerhaft eine Profitsituation des Werks erwarten lassen. 3.5 Die Höhe der Kapitalbeteiligungen Paul Reusch bestand im Allgemeinen auf eine Mehrheitsbeteiligung von mindestens 51 Prozent des Stammkapitals und sprach in diesem Zusammenhang immer von dem „maßgebenden Einfluss“ oder der „maßgebenden Beteiligung“. Falls die Gutehoffnungshütte die Vorteile einer Angliederung voll ausschöpfen und ihren Einfluss nicht mit anderen starken Aktionärsgruppen teilen wollte, musste sie auf eine derart hohe Beteiligung bestehen. Bereits 1916 lehnte Paul Reusch das Angebot einer Minderheitsbeteiligung an der Lübecker Werft ab, da, wie er sich ausdrückte, „wir Herr im Hause bleiben wollen“.40 Reuschs Prinzip zufolge sollte sich die Gutehoffnungshütte entweder mit einer Aktienmehrheit an einem Unternehmen beteiligen oder das Beteiligungsangebot zurückweisen. Auch bei den beiden großen Tochterunternehmen, der Deutschen Werft und der MAN, wurde dieser Grundsatz schließlich durchgesetzt. Einerseits sah Reusch bei einer Minderheitsbeteiligung seinen Einfluss nicht ausreichend gewahrt, d.h. im Sinne der pro39 Unter einer „freundlichen Übernahme“ wird dabei der Kauf der Kapitalmehrheit an einem Unternehmen verstanden, bei dem der Käufer das Zielunternehmen informiert und sich beide über die Übernahme verständigen. Vgl. dazu Gabler Wirtschaftslexikon, S. 1112. Bei der MAN wurde das Zielunternehmen zwar auch informiert, aber offensichtlich wurde nur teilweise eine Verständigung erreicht. Während sich Reusch mit dem Hauptaktionär Theodor von Cramer-Klett geeinigt hatte, wurden weite Teile des MAN-Vorstands und der übrigen Aktionäre in diese Entscheidung zunächst nicht eingebunden. 40 Maschke: Konzern, S. 65. In der folgenden Zeit lehnte Reusch noch eine Reihe weiterer solcher Angebote ab, beispielsweise bei der Bayerischen Eggenfabrik Feucht oder der Zahnräderfabrik in Friedrichshafen. Vgl. Buz an Reusch (02.03.1923); Reusch an Buz (11.03.1923) [RWWA 130-300193010/9]; Reusch an Jessen (08.02.1920, 20.02.1920, 28.04.1920) [RWWA 130-300193017/1]; Reusch an Jessen (22.09.1920, 10.12.1920, 13.12.1920) [RWWA 130-300193017/2].

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perty rights konnte er seine Verfügungsgewalt im Konfliktfall nicht ausspielen, andererseits war er auch erst ab einer Beteiligung von 51 Prozent dazu bereit, die finanzielle und organisatorische Verantwortung für ein Unternehmen zu übernehmen. Das Prinzip der Mehrheitsbeteiligung ist jedoch nur teilweise auf Paul Reusch selbst zurückzuführen, denn vor allem die Bestimmungen der Kartelle und Syndikate förderten diese Haltung und verstärkten die vertikale Integration der Eisenund Stahlindustrie deutlich. Reusch war bestrebt, auf diese Weise bei relativ stabilen Quoten in den Kartellen den Ausstoß der GHH zu erhöhen, die Kapazitäten des Unternehmens besser auszulasten und damit von den Vorteilen der economies of scale zu profitieren. Die Anerkennung der Lieferungen an Tochterunternehmen als Selbstverbrauch bildete somit eine wesentliche Grundlage für die Höhe der Kapitalbeteiligungen und den Konzentrationsprozess in der deutschen Wirtschaft.41 3.6 Die Finanzierung der Beteiligungen Im Gegensatz zu den angegliederten Unternehmen verfügte die GHH über eine relativ hohe Liquidität, wobei sie jedoch gleichzeitig der seit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Geldentwertung unterworfen war. Im Unterschied zu der von Hugo Stinnes zusammengefügten Unternehmensagglomeration baute Reusch die Gutehoffnungshütte jedoch weder zu Zeiten der beschleunigten Inflation noch auf der Grundlage von Krediten aus, so dass die Gutehoffnungshütte, ebenso wie beispielsweise Krupp, nicht zu den „Inflationsgewinnern“ gehörte.42 Paul Reusch konnte die Expansion des Unternehmens vielmehr aus dem hohen Geldbestand der GHH finanzieren, der im Wesentlichen auf drei unterschiedlichen Quellen beruhte. Erstens hatte Reusch es sich zu Nutzen gemacht, dass sich das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg hohen Forderungen der Schwerindustrie aufgrund von Rüstungsaufträgen gegenüber sah, denn während andere Industrielle auf eine vollständige Bezahlung bestanden, machte Reusch dem Reichswehrminister das Angebot auf die Material- und sonstigen Sachkosten zu verzichten und sich mit der Erstattung der gezahlten Arbeitslöhne zu begnügen. Auf diese Weise erhielt die GHH bereits 1919 mehr als 80 Millionen Mark, wohingegen andere Unternehmen erst in der Inflation mit entwertetem Geld entschädigt worden sind. Dabei zeigten sich einige Industrielle und Unternehmer wenig über den Alleingang von Reusch erfreut.43 Zweitens erhielt die GHH Anfang 1920 eine erste Abschlagszahlung von 27 Millionen Mark für den Verlust des Erzbesitzes in Lothringen. Die Gutehoffnungshütte machte gegenüber dem Reich für ihre in Lothringen gelegenen Grundstücke und Anlagen etwa 41 Mio. Mark sowie für die Erz41 Vgl. Maschke: Konzern, S. 65–69. 42 Vgl. Feldman: Hugo Stinnes, S. 808–840; Tenfelde: Krupp, S. 136. 43 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N., S. 233; Salin: Lynkeus, S. 54.

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felder in der Normandie Forderungen in Höhe von über 135 Mio. Mark geltend und bekam bis Mai 1922 aufgrund ihrer Ansprüche in der Normandie nochmals 100 Millionen Mark ausgezahlt.44 Darüber hinaus wurde drittens das Aktienkapital der GHH im Geschäftsjahr 1919/1920 von 40 auf 80 Millionen Mark erhöht. Während die Erhöhung des Aktienkapitals im März 1917 durch die Auflösung einer Rücklage finanziert wurde, trugen die Altaktionäre die Kapitalerhöhung von 1920 zur Hälfte. Eine Einführung der jungen Aktien an der Börse war nicht vorgesehen, ebensowenig wurden die bisherigen Aktien der GHH an der Börse gehandelt. Die restlichen Aktien wurden der zum GHH-Konzern gehörenden Oberhausener Kohlen- und Eisenhandelsgesellschaft übertragen. Ein Teil der Aktienkapitalerhöhung wurde somit erneut vom Unternehmen selbst getragen, gleichzeitig verhinderte der Vorstand dadurch, dass junge Aktien in unternehmensfremde Kreise gelangten. Dies führte dazu, dass Reusch auf der Hauptversammlung der Gutehoffnungshütte im November 1920 Aktien im Wert von über 16 Millionen Mark, welche auf die Oberhausener Kohlen- und Eisenhandelsgesellschaft angemeldet waren, vertrat und sich auf diese Weise die klaren Grenzen zwischen dem angestellten Unternehmer Paul Reusch und den eigentlichen Eigentümern des Unternehmens, der Familie Haniel, auflösten.45 Die Erstattung der Arbeitslöhne, die Entschädigung für den ehemaligen Besitz in Elsass-Lothringen und die Kapitalerhöhung führten der GHH somit einen nicht unerheblichen Kapitalbetrag zu, der die Liquidität des Unternehmens sicherte und die seit 1901 bestehenden Expansionsbestrebungen untermauerte. Paul Reusch hatte auf diese Weise die Möglichkeit, die Beteiligungen an den neuen Tochtergesellschaften aus Eigenmitteln zu finanzieren, den Charakter der Gutehoffnungshütte als Familienunternehmen beizubehalten und den Einfluss der Banken auf ihre Funktion als ausführende Organe zu beschränken. 3.7 Die Personalverflechtung innerhalb des Konzerns Paul Reusch lehnte nicht nur finanzielle Beteiligungen von Tochtergesellschaften an der Gutehoffnungshütte ab, ebenso ließ er keine Vertreter der angegliederten Unternehmen im Aufsichtsrat der GHH zu. In der Regel wurden Reusch selbst und oftmals der Aufsichtsratsvorsitzende der GHH, Karl Haniel, in das Kontrollgremium des entsprechenden Tochterunternehmens entsandt. Darüber hinaus gab es einige Fälle, in denen Reusch für die Gutehoffnungshütte weitere Posten reklamieren konnte. Hier wurden zum einen weitere Mitglieder der Familie Haniel berücksichtigt, zum anderen wurden diese Posten durch Vertreter des GHHManagements besetzt, wie z.B. Otto Holz und Arnold Woltmann beim Eisenwerk 44 Vgl. Aktennotiz (Blatt 168), Strässer und Hilbert an Rabes (05.04.1922), Rabes an GHH (18.04.1922, 18.05.1922) [RWWA 130-300070/15]. 45 Vgl. Reusch an August Haniel (27.02.1920) [RWWA 130-300193000/5]; ordentliche Generalversammlung (30.11.1920) [RWWA 130-3001091/55 48]; Wixforth: Banken und Schwerindustrie, S. 163–164.

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Nürnberg oder Otto Wedemeyer, Johann W. Welker und Arnold Woltmann bei der Deutschen Werft. Die Vertreter des Managements mussten dabei aber erklären, dass sie auf Wunsch der Gutehoffnungshütte jederzeit wieder ausschieden und fungierten somit vor allem als loyale Stimmberechtigte in den jeweiligen Aufsichtsräten.46 Paul Reusch übernahm hierbei in einer Vielzahl der Fälle persönlich den Vorsitz oder die Stellvertretung in den Aufsichtsräten der Tochterunternehmen und interagierte in dieser Funktion im direkten Zusammenspiel mit den jeweiligen Vorständen. Die Verfügungen des Oberhausener Generaldirektors wurden deshalb eher selten mit den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern der Tochterbetriebe abgesprochen, vielmehr erteilte er den Direktoren direkte Anweisungen; lediglich einige einflussreiche Aufsichtratsmitglieder, wie die Vertreter der AEG bei der Deutschen Werft oder bestimmte Bankiers, wurden von Reusch hier stärker eingebunden. 3.8 Der vertikale Konzernaufbau Mit Ausnahme der Angliederung von „Haniel & Lueg“ fanden keine horizontalen Zusammenschlüsse statt, d.h. Paul Reusch strebte keine Übernahmen von oder Fusionen mit anderen Unternehmen der Eisen- und Stahlbranche an. Seine Meinung bezüglich eines horizontalen Konzerns wurde insbesondere bei der Gründung der Vereinigten Stahlwerke 1926 nochmals deutlich. Reusch machte gegenüber den Mitgliedern des GHH-Aufsichtsrats zum einen darauf aufmerksam, dass die Vereinigten Stahlwerke gegenüber der Gutehoffnungshütte unter Heranziehung der Verbandsquoten stark überkapitalisiert seien, zum anderen verwies er auf die lange und erfolgreiche Tradition der Gutehoffnungshütte als vertikales Unternehmen.47 Er sei der Ansicht, dass jedes Unternehmen eine natürliche Grenze habe und es eine optimale Unternehmensgröße gäbe, bei der ein Betrieb seine höchste Produktivität erreiche. Für ihn habe die GHH diese Grenze erreicht, während die Vereinigten Stahlwerke diese maßlos überschritten hätten und auf konjunkturelle Wellen weniger flexibel reagieren könnten.48 Reusch widersetzte sich deshalb vehement den Versuchen, die Gutehoffnungshütte zum Beitritt zu den Vereinigten Stahlwerken zu bewegen, und setzte auf den Ausbau der nachgelagerten Produktionsstufen im Bereich des Maschinenbaus und der Verfeinerung. Selbst in wirtschaftlichen Krisenzeiten hielt Reusch an dieser Maxime fest und wehrte den Übernahmeversuch von Seiten der Vereinigten Stahlwerke 1930 erfolgreich ab.49

46 Vgl. Reusch an Wedemeyer (10.06.1918) [RWWA 130-300193003/5]; Reusch an Woltmann (10.06.1918) [RWWA 130-300193003/7]. 47 Vgl. Reusch an Franz Haniel (27.01.1926) [RWWA 130-4001012000/8]. 48 Vgl. Interview mit P. Reusch (20.01.1927) [RWWA 130-40010128/6]. 49 Vgl. Bähr: GHH und M.A.N., S. 255–256; James: Familienunternehmen, S. 219–221; Reckendrees: Vereinigte Stahlwerke AG, S. 351–353.

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4. FAZIT Der Zusammenschluss der Gutehoffnungshütte mit weiterverarbeitenden Unternehmen bedeutete zunächst eine Senkung der externen Transaktionskosten durch die Lenkung des Konzerns und die Koordination der Produktion aus Oberhausen sowie die Ersetzung derselben durch interne Organisationskosten. Doch erst der Aufbau einer leistungsfähigen Holdingstruktur, der während der Unternehmenszukäufe vernachlässigt worden war, gab den einzelnen Unternehmensteilen den notwendigen Rahmen, um mit dem gestiegenen Koordinationsaufwand angemessen umgehen und im Verbund handeln zu können. Auch wenn Paul Reusch nicht für alle Maßnahmen alleinverantwortlich war, so gestaltete er die Unternehmensstruktur doch maßgeblich. Zwar ist nicht davon auszugehen, dass er bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine genaue Vorstellung von der zukünftigen Unternehmensstruktur hatte, denn zum einen wirkten die Kriegsfolgen, wie der Verlust des Besitzes in Lothringen und der Normandie und der Aufbau einer neuen Handelsflotte, unmittelbar auf die Unternehmensentwicklung ein. Zum anderen verfolgte Reusch keine aggressive und deterministische Expansionspolitik, sondern ergriff vor allem die Chancen, die sich ihm durch die Angebote der weiterverarbeitenden Unternehmen ergaben. Dennoch zielte Reusch seit der Übernahme des Vorstandsvorsitzes auf eine Unternehmensvergrößerung im Weiterverarbeitungsbereich. Ein Plan zur Übernahme bestimmter Firmen oder zum Aufbau einer diversifizierten und dezentralen Konzernstruktur lag dabei jedoch nicht vor. Durch den Ausbau der GHH veränderte sich aber auch die Rolle Reuschs im Unternehmen: Er musste von nun an viel stärker auf die Koordination der Konzernteile bedacht sein, da der Organisationsaufwand erheblich angestiegen war. Bei der Etablierung der Unternehmensstruktur, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand hatte, setzte Reusch seine eigenen Vorstellungen weitestgehend durch, gleichzeitig spielten jedoch auch die Pfadabhängigkeit des Unternehmens und ökonomisch-rechtliche Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle. So entsprachen die Mehrheitsbeteiligungen an den Tochtergesellschaften auf der einen Seite den Vorstellungen Reuschs bezüglich der Beherrschung und Führung von Unternehmen, denn Reusch verstand sich nach wie vor als „Herr im Hause“, auf der anderen Seite war die Höhe der Beteiligungen auch durch die Festlegungen in den Kartellen zu erklären. Ebenso ist die Ausrichtung des Konzerns auf zwei unterschiedliche Aspekte zurückzuführen. Einerseits war Reusch davon überzeugt, dass ein vertikal integrierter Konzern die Probleme ökonomischer Krisen besser bewältigen könne, andererseits blieb er damit einer lange bestehenden Grundtradition in der Gutehoffnungshütte treu, denn bereits der erste Vorstand der Aktiengesellschaft hatte ab 1873 versucht, die GHH zu einem vertikal strukturierten Konzern mit aufeinander abgestimmten Produktionsstufen zu entwickeln. Während die Abstimmung zwischen den einzelnen Konzernteilen und die Personalverflechtung im Konzern im Wesentlichen Paul Reusch geschuldet sind, dürfte die Praxis der Finanzierung nicht nur über die Grundsätze des Generaldirektors zu erklären sein, sondern vor allem auch in Einklang mit der Finanzierungstradition

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der Familie Haniel gestanden haben. Die erfolgreiche Überwindung der Gründerkrise hatte die Aktionärsfamilie bereits darin bestärkt, die Gutehoffnungshütte als Familienunternehmen fortzuführen und statt auf Banken oder die Börse lieber auf den privaten Kapitalmarkt der Eigentümer zurückzugreifen.50 Insgesamt können somit verschiedene Entscheidungen bei der GHH stärker auf ökonomischrechtliche Rahmenbedingungen und politische Entwicklungen zurückgeführt werden, andere hingegen nur mit der Einstellung der Eigentümerfamilie Haniel begründet werden. Doch vor allem bestimmte Paul Reusch nach der Übernahme des Vorstandsvorsitzes die Ausrichtung des Unternehmens und spätestens seit seiner Ernennung zum Generaldirektor 1920 konnte er seine Unternehmenspolitik auch ohne ständige Rücksprache mit der Eigentümerfamilie durchsetzen, die auf den Erfolg seines Handelns vertraute und sich vom operativen Geschäft schon lange entfernt hatte. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Bähr, Johannes: Die M.A.N.: Vorgeschichte, Entstehung und Aufstieg (1840–1920), in: Johannes Bähr/Ralf Banken/Thomas Flemming (Hg.): Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, S. 132–227, S. 520–538. Bähr, Johannes: GHH und M.A.N. in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1920–1960), in: Johannes Bähr/Ralf Banken/Thomas Flemming (Hg.): Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, S. 231–371 und das entsprechende Abbildungsverzeichnis S. 538–569. Banken, Ralf: Die Gutehoffnungshütte: Vom Eisenwerk zum Konzern (1758–1920), in: Johannes Bähr/Ralf Banken/Thomas Flemming (Hg.): Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, S. 15–129 und das entsprechenden Abbildungsverzeichnis S. 487–520. Berghoff, Hartmut: Transaktionskosten. Generalschlüssel zum Verständnis langfristiger Unternehmensentwicklung? Zum Verhältnis von Neuer Institutionenökonomik und moderner Unternehmensgeschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2 (1999), S. 159–176. Berghoff, Hartmut: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable. Zur Theorie des Vertrauens und der Geschichte seiner privatwirtschaftlichen Produktion, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics (= Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte, Bd. 24), Dortmund 2004, S. 58–71. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Volker R. Berghahn/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 9–41. Borchardt, Knut: Der „Property Rights-Ansatz“ in der Wirtschaftsgeschichte? Zeichen für eine systematische Neuorientierung des Fachs?, in: Jürgen Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion, Göttingen 1977, S. 140–156. Bosl, Karl: Ein halbes Jahrhundert MAN-Geschichte unter Anton von Rieppel und Otto Meyer, in: MAN Nutzfahrzeuge AG, München (Hg.): Leistung und Weg. Zur Geschichte des MAN Nutzfahrzeugbaus, München/Berlin/Heidelberg 1991, S. 201–240.

50 Vgl. Banken: Gutehoffnungshütte, S. 115.

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„FAMILIE“ UND „STAND“ ALS LEITLINIEN ADELIGEN UNTERNEHMERTUMS IN EINER ZEIT DES UMBRUCHS Die Familie von Elverfeldt aus der preußischen Grafschaft Mark um 1800 Oliver Schulz 1. EINLEITUNG Nach einer langen Vernachlässigung ist die Geschichte des Adels im 19. und 20. Jahrhundert erst in den letzten Jahren in den Blick der historischen Forschung zurückgekehrt. Die Rolle des Adels in Politik, Verwaltung und Militär, seine Strategien des „Obenbleibens“ in einer Zeit des fundamentalen Umbruchs und Formen der Repräsentation von Adeligkeit im Kontext einer „entsicherten Ständegesellschaft“ wurden untersucht.1 Demgegenüber hat die Rolle adeliger Unternehmer sehr viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hier wirken bürgerliche Reflexe, die dem Adel jeglichen ökonomischen Instinkt absprechen, offenbar unvermindert nach und bewirken, dass dieses Forschungsthema nach wie vor ein gewichtiges Desiderat darstellt.2 Im Folgenden soll es daher darum gehen, am Beispiel einer südwestfälischen Adelsfamilie, die in der Frühindustrialisierung eine Pionierrolle für den Steinkohlenbergbau an der Ruhr gespielt hat, herauszuarbeiten, welche Forschungsperspektiven das adelige Unternehmertum im Übergang von der Frühindustrialisierung zum Industriezeitalter bereithält und welche theoretisch-methodischen Ansätze hier zum Einsatz kommen müssen. Insbesondere die Frage nach einer Verknüpfung wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen kann hierbei ein besonderes Interesse für zukünftige Untersuchungen beanspruchen, stellen doch „Familie“ als generationenübergreifendes Band und „Stand“ als Element zur Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen und damit zentrale Komponente von Adeligkeit wichtige Kategorien im adeligen

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Vgl. Frie: Ludwig von der Marwitz (1777–1837). Den Forschungsstand skizziert Rasch: Adel als Unternehmer. Fritz Redlich, der das wissenschaftliche Potential der Erforschung des adeligen Unternehmertums erkannt hatte, führte diese Vernachlässigung nicht zuletzt auf Ressentiments bürgerlicher Historiker des 19. Jahrhundert zurück, die dem Adel grundsätzlich jegliche ökonomische Neigung und Betätigung absprechen wollten. Vgl. dazu Redlich: Europäische Aristokratie, S. 283.

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Selbstverständnis dar.3 Nicht überraschend hatte Levin von Elverfeldt (1762– 1830) die Fixierung auf die Familie und den Stand betont, als er feststellte, dass, wer keine neuen Einnahmequellen wie die „Speculation auf Steinkohlen“ aufschließe, „herunter von Stufe“ müsse, und seine Nachkommen gemahnt, vor diesem Hintergrund den Bergbau nicht zu vernachlässigen: „Meinen Nachkommen, wird aber hier durch ernstlich die Warnung gegeben, diesen Gegenstand ihres Vermögens nicht zu vernachläsigen, auf den ich so viele Tausende verwendet habe, und welches ein Schatz ist, der von keinen estimirt werden kann, und wenn er beybehalten und in Obacht genommen wird, auf der Daur mehr einbringen kann, als ein kleines Fürsthentum.“4

„Stand“ und „Familie“ stellen indes nicht nur ein Kriterium für das adelige Selbstverständnis dar, sondern üben außerdem einen unmittelbaren Einfluss auf das unternehmerische Handeln Adeliger aus, das nicht nur von Markt und Gewinnstreben, sondern auch von Institutionen, die sich über einen längeren Zeitraum herausgebildet haben, bestimmt wird.5 Bei der Fallstudie, die in diesem Beitrag behandelt werden soll, handelt es sich um den bis ins 19. Jahrhundert in Schloss Steinhausen bei Witten-Bommern in der preußischen Grafschaft Mark ansässigen katholischen Zweig der Familie von Elverfeldt.6 Nach einer Einführung in die Geschichte des Adels der Grafschaft Mark um 1800, die die Einordnung der Familie von Elverfeldt erleichtern soll, wird vor allem am Beispiel des für den frühindustriellen Steinkohlenbergbau an der Ruhr sehr bedeutenden Levin von Elver-

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Zu den Regeln und Konventionen im adeligen Umgang untereinander und einem spezifisch adeligen Selbstverständnis vgl. Lieven: Macht, S. 183–185. Siehe außerdem Elias: Die höfische Gesellschaft. Vgl. Archiv Canstein, Akte B 1188, Akte B 359a. In seiner Zusammenfassung von Ansätzen aus der Neuen Institutionenökonomik spricht Clemens Wischermann von „formlosen Beschränkungen“, die als Normen und Werte, Verhaltensregeln sowie Sitten und Gebräuche das Handeln von Unternehmern leiten und beeinflussen. Vgl. Wischermann: Die neue Institutionenökonomik, S. 20. Mark Casson hat folgende Aspekte des Unternehmers betont, die auf kulturell vermittelte und kommunikative Komponenten hinweisen: „In diesem Kontext lassen sich Unternehmer als Spezialisten betrachten, die über die Fähigkeit verfügen, Informationen mit der Aussicht auf Gewinn zu synthetisieren, indem sie Daten, Konzepte und Ideen auswerten, deren Bedeutung anderen Menschen nicht immer bewusst ist. Sie schaffen Organisationen, die wir Unternehmen nennen, um diese Informationen entsprechend ihren Bedürfnissen zu verwerten, und knüpfen soziale Netzwerke, um Informationsströme aus anderen Bereichen der Wirtschaft in ihre Organisationen zu lenken.“ Casson: Unternehmer, S. 525. Die protestantische Linie war in Herbede an der Ruhr ansässig und ist im 20. Jahrhundert in der männlichen Linie ausgestorben. Auch sind weite Teile des Herbeder Archivs verschollen, so dass der Erforschung dieses Familienzweigs leider Grenzen gesetzt sind. Zu Herbede und den dort ansässigen Elverfeldts siehe Baronesse van Hövell tot Westerflier: Genealogie. Die katholische Linie der Elverfeldts existiert heute noch und ist in Canstein im ehemals kurkölnischen Sauerland ansässig. Siehe Freiherr von Elverfeldt-Ulm: von Elverfeldt. Zur Familie von Elverfeldt siehe außerdem den Artikel zu „Elverfeldt“, in: Genealogisches Handbuch der freiherrlichen Häuser.

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feldt herauszuarbeiten sein, von welchen Prämissen das adelige Unternehmertum ausging und welchen Imperativen es gehorchte.7 2. EIN DESIDERAT DER FORSCHUNG: DER ADEL DER GRAFSCHAFT MARK UM 18008

Abb. 1: Das nördliche Ruhrtal zwischen Hattingen und Hagen um 1791 Quelle: Reproduktion der Karte die Grafschaft Mark 1791, gezeichnet von Friedrich Christoph Müller; Stadtarchiv Dortmund 200/04-01/5.

Auch wenn die Geschichte des Adels der Grafschaft Mark um 1800 noch geschrieben werden muss, liegen bereits einige Abhandlungen vor, die wichtige Impulse geliefert haben.9 Durchbrochen wurde das lange Zeit vorherrschende weitgehende Desinteresse am märkischen Adel von Helmut Richtering, der Aufsätze 7 8

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Zu Levin von Elverfeldt siehe Conrad: von Elverfeldt. Zum Forschungsstand der Sozialgeschichte der Grafschaft Mark vgl. Reininghaus: Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Paradigmatisch für die Fokussierung der Geschichtsschreibung zur Grafschaft Mark auf die Wirtschaftsgeschichte ist die im Jahr 1909 zum 300. Jahrestag der Angliederung der Grafschaft Mark an Brandenburg von Aloys Meister herausgegebene Festschrift, die für zahlreiche wirtschaftshistorische Fragen bis heute ihren Wert behalten hat. Vgl. Meister (Hg.): Grafschaft Mark. Zu den Reidemeistern vgl. jetzt am Beispiel des Kirchspiels Lüdenscheid die Arbeit von Bracht: “Reidung treiben“. Zum Metallgewerbe vgl. außerdem Kaufhold: Metallgewerbe. Zu den Kaufleuten am Beispiel der Stadt Iserlohn vgl. die Studie von Reininghaus: Iserlohn. Den Desideratscharakter einer Geschichte des Adels in der Grafschaft Mark zeigt auch die Studie von Heinz Reif auf, die zwar „westfälisch“ im Titel führt, sich tatsächlich aber auf den Adel des Münsterlandes konzentriert. Siehe Reif: Westfälischer Adel. Siehe ebenso Keinemann: Krummstab. Zum Forschungsdesiderat einer Geschichte des Adels in den protestantischen Territorien Westfalens vgl. Reininghaus/Kloosterhuis (Hg.): „Taschenbuch Romberg“, S. 20, Anm. 76.

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zu Gisbert von Romberg (1773–1859) und Friedrich Alexander von Hövel (1766– 1826) vorgelegt hat, sowie von Wilfried Reininghaus und Horst Conrad, die mit ihren Beiträgen zur Geschichte der Familien Romberg und Elverfeldt wichtige Anstöße für die Erforschung des Adels in der Grafschaft Mark und insbesondere seiner Rolle als Unternehmer in Bergbau und Industrie in der Region gegeben haben.10 Da die Sozialgeschichte der Grafschaft Mark in vielerlei Hinsicht noch in den Anfängen steckt, ist der Adel keineswegs die einzige bedeutende gesellschaftliche Gruppe, die als dringendes Desiderat der Forschung anzusehen ist. Seine Vernachlässigung erscheint umso erstaunlicher, ruft man sich seinen Status als herrschenden Stand in Erinnerung.11 Ein Blick auf die historische Entwicklung der Grafschaft Mark über das Jahr 1800 hinaus gibt allerdings auch erste Hinweise darauf, warum die Geschichte dieses Territoriums im Allgemeinen innerhalb der westfälischen Landesgeschichtsschreibung einen schweren Stand hat. Im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und der Entstehung des Ruhrgebiets löste sich die alte territoriale und räumliche Einheit der Mark auf. Die Heterogenität des Territoriums hatte bereits in der Frühen Neuzeit die Ausbildung einer gemeinsamen märkischen Identität gehemmt; Landesherr und staatliche Institutionen hatten die Verschiedenartigkeit der einzelnen Teillandschaften lediglich überwölben können. Dies bewirkte, dass sich eine Identifikation mit der Grafschaft Mark später nicht im gesamten Gebiet erhalten konnte.12 Als weitgehend unerforscht darf die „Franzosenzeit“ in der Grafschaft Mark gelten, ein Befund, der sich in die weitgehende Vernachlässigung der Geschichte des Großherzogtums Berg insgesamt einfügt. Die napoleonische Herrschaft im märkischen Raum und ihre Auswirkungen nicht nur für die Unternehmer fanden bisher keine Behandlung in eigenen Studien, sondern tauchten bislang nur in Form von einzelnen Kapiteln in Überblicksdarstellungen bzw. als Thema kleinerer lokalgeschichtlicher Arbeiten auf, die häufig ein undifferenziertes Bild von französischer Unterdrückung und preußischem Heldenmut während der Befreiungskriege zeichneten.13 Französische Archive, die zu dieser Thematik reiches Quellenmaterial bereithalten, sind im Hinblick auf diese Fragestellungen noch nicht systematisch benutzt worden, über die Motive und Ziele der französischen Behörden, die sich einen Überblick über die als „Ruhrdepartement“ neu organi-

10 Vgl. Richtering: Giesbert von Romberg; ders.: Friedrich Alexander von Hövel. Vgl. außerdem jüngst Reininghaus: Familie von Romberg; Conrad: Bürgerliche Verhaltensweisen. 11 Wilfried Reininghaus hat zu Recht mehrfach darauf hingewiesen, dass die Sozialgeschichte der Grafschaft Mark noch geschrieben werden muss. Vgl. beispielsweise Reininghaus, Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, S. 13. 12 Vgl. Trox: Märkisches Sauerland. Hinzu kommt, dass die märkische Landesgeschichte über keine direkte universitäre Anbindung verfügt. Zur Vernachlässigung des südlichen Westfalens in der Forschung vgl. Reininghaus: Wirtschafts-, Sozial- und Regionalgeschichte, S. 32. 13 Vgl. Charon-Bordas: Archives du Grand-Duché de Berg.

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sierte Grafschaft Mark verschaffen mussten, besteht noch weitgehend Unklarheit.14 Im Mittelpunkt des Interesses wird das typische Erwerbsprofil der Adeligen in der Übergangszone zwischen Ruhrtal, niederbergisch-märkischem Grenzraum und dem sich hieran anschließenden märkischen Sauerland stehen.15 Es sind besondere, sich eben nicht in das landläufige Bild der adeligen Gutswirtschaft fügende Merkmale, allen voran ein frühzeitiges Engagement in Bergbau und Industrie, die den Fokus der Betrachtungen auf das adelige Unternehmertum in dieser Region in seiner Bedeutung für die Strategien des Adels zum „Obenbleiben“ in einer Zeit grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels lenken.16 Die in Schloss Steinhausen bei Witten an der Ruhr ansässige Familie von Elverfeldt fungiert dabei als besonders aussagekräftiges Beispiel mit einer zudem exzellenten Überlieferungslage.17 Angesichts der Heterogenität der Grafschaft

14 Zum Kenntnisstand in Paris über die Grafschaft Mark im Jahr 1807 vgl. „Mémoire statistique sur le Comté de la Mark par l’intendant Général de la Grande Armée“ [1807–1809], Archives du Ministère des Affaires Etrangères Paris, Correspondance politique Allemagne, Petites Principautés, tome 77, S. 46–93. Zur Geschichte des Großherzogtums Berg ist man immer noch auf die alte Studie von Charles Schmidt angewiesen, die seit einigen Jahren auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Vgl. Schmidt: Großherzogtum Berg. Vgl. außerdem Dreher (Hg.): Das Herzogtum Berg; Junk: Das Großherzogtum Berg. Zu Westfalen allgemein vgl. Lahrkamp: Französische Zeit. Zur napoleonischen Modellstaatspolitik in Berg, Westfalen und Frankfurt vgl. Severin: Modellstaatspolitik. 15 Diese Teilregion der Grafschaft Mark kann mit dem Städtedreieck Hagen – Hattingen – Schwelm gut eingegrenzt werden. 16 Unter „Obenbleiben“ sind hierbei die Strategien des Adels zu verstehen, mit denen dieser seine ständisch begründete, herausgehobene Stellung sowohl gegen tiefgehende Umbrüche als auch gegen zunehmende Ansprüche des Staates zu verteidigen suchte. Letztlich ging es dem Adel auch darum, seinen spezifischen, die Adeligkeit konstituierenden Lebensstil zu bewahren, was von der Forschung als Strategie zur „Beibehaltung ständisch-adliger, rückwärtsgerichteter Identität“ charakterisiert worden ist. Vgl. Beusch: Adlige Standespolitik, S. 7. Adelige haben sich sehr früh im Berg- und Hüttenwesen unternehmerisch betätigt, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sie zum Teil als Beamte in der Verwaltung der königliche Regale tätig waren. Vgl. dazu Redlich, Europäische Aristokratie, S. 290–291. Zugleich kann man davon ausgehen, dass die auf dem eigenen Grund und Boden liegenden Ressourcen – im vorliegenden Fall die Steinkohle – dazu einluden, diese unternehmerisch auszubeuten. Mark Casson hat in seiner Definition des Unternehmertums allerdings auch deutlich gemacht, dass Ressourcenreichtum alleine noch keinen erfolgreichen Unternehmer zur Folge habe, und hierfür auf das Beispiel des Adels verwiesen. Neben dem Aspekt, vermehrt gescheiterte Unternehmen in den Blick zu nehmen, ist hier auch ein weiterer Hinweis auf spezifisch adeliges Wirtschaften zu sehen, das der weiteren Erforschung bedarf. Vgl. Casson: Unternehmer, S. 531. 17 Die Geschichte dieser bedeutenden westfälischen Adelsfamilie muss in weiten Teilen noch geschrieben werden, da die im 19. Jahrhundert im Auftrag der Familie verfasste Studie von Aander-Heyden lange vor der hier interessierenden Epoche abbricht. Siehe Aander-Heyden: von Elverfeldt. Auch zur Geschichte von Schloss Steinhausen liegt noch keine umfassende Gesamtdarstellung vor.

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Mark und ihrer „arbeitsteilige[n] Wirtschaft mit in sich wiederum kleinräumig organisierten Strukturen“ besteht eine zentrale Frage für zukünftige Forschungen zum märkischen Adel darin, die „gemischte Struktur“ des Territoriums in ihren Auswirkungen auf die Binnendifferenzierung dieser sozialen Gruppe herauszuarbeiten.18 Kleinräumigkeit und interne Disparitäten bedingen für die Grafschaft Mark eine außerordentliche Komplexität, die ein weiterer Hinweis darauf sein mag, warum eine übergreifende Studie zum regionalen Adel bisher unterblieben ist. Neben einer disparaten Erwerbsstruktur zwischen agrarisch ausgerichtetem Adel am Hellweg in der nördlichen Mark einerseits und den Adeligen im Ruhrtal sowie im märkischen Sauerland andererseits, die sich als Unternehmer in Bergbau und Industrie betätigten, ist auch die konfessionelle Differenzierung im Blick zu behalten. Auch wenn der Adel dieses altpreußischen Territoriums einerseits stark protestantisch geprägt war, so gab es dennoch einen zahlenmäßig nicht zu vernachlässigenden katholischen Anteil, der zum Teil sogar ursprünglich aus der Mark stammte bzw. länger hier ansässig war: Zu diesen Familien zählten neben den Familien von Wenge in Haus Wenge oder von Hövel mit verschiedenen Linien in Sölde, Herbeck und Haus Ruhr auch die Elverfeldts in Steinhausen. Ein erhebliches methodisches Problem stellt außerdem die quantitativ-statistische Erfassung der Familien und ihrer Besitzungen und damit die Ermittlung einer empirischen Grundlage für die Untersuchung dar. Trotz aller Ungenauigkeiten bei der statistischen Erhebung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, zu ersten Aussagen über den märkischen Adel, seine räumliche Verteilung innerhalb des Territoriums und seine konfessionelle Struktur zu gelangen.19 Hierfür stehen Quellen zur Verfügung, die eine grobe Tendenz für die Zeit um 1800 angeben können. Verschiedene Quellen und Untersuchungen zeigen, dass bereits bis zum 19. Jahrhundert ein ganz erheblicher Schwund beim märkischen Adel festzustellen war.20 Eine Auflistung im „Taschenbuch Romberg“ aus dem Jahr 1804 gibt Auskünfte über die Besitzstruktur der einzelnen Familien und zur Größe ihrer Güter.21 Im Wetterschen Kreis, wo die Besitzgröße im Schnitt bereits niedriger als in der Hellwegzone war, gehörten die

18 Vgl. Reininghaus: Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, S. 12, Sp. 1. Zur binnenräumlichen Differenzierung der Grafschaft Mark vgl. Blotevogel: Raumbeziehungen, S. 222–226. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Westfalens in der Frühen Neuzeit vgl. Hömberg: Wirtschaftsgeschichte Westfalens, S. 113–138. 19 Marcus Weidner hat am Beispiel einer Adelsmatrikel des frühen 18. Jahrhunderts für das Bistum Münster auf die Schwierigkeiten dieser Aufgabe hingewiesen, zugleich aber hervorgehoben, dass die Erstellung einer Übersicht über die adeligen Güter in Westfalen allgemein – gleichsam als Analogie zum „Westfälischen Klosterbuch“ – ein vordringliches Desiderat bleibt. Vgl. Weidner: Matrikel, S. 136. 20 Freiherr von Diepenbrock-Grüter: Grafschaft Mark, S. 362, Sp. 2. Friedrich Keinemann spricht für das Ende des Ancien Régime auf der Grundlage der Dokumente im Nachlass Gisberts von Romberg von 83 Rittergütern. Vgl. Keinemann: Krummstab, S. 48, Anm. 87. 21 Vgl. den Abschnitt „Verzeichnis der adligen Güter in der Grafschaft Mark“, in: Reininghaus/Kloosterhuis: „Taschenbuch Romberg“, S. 87–95.

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Güter der Familie von Elverfeldt (Schloss Steinhausen, Dahlhausen und Horst) zu den größeren Besitzungen adeliger Familien. Die konfessionelle Differenzierung des märkischen Adels zeigte sich sogar innerhalb der Familie von Elverfeldt, die in eine katholische Linie (in Steinhausen) und eine protestantische Linie (in Herbede) zerfiel, und in den hieraus folgenden Heiratsstrategien. Infolge der konfessionellen Trennung im 17. Jahrhundert wurden die männlichen Nachkommen der Herbeder Linie mit Töchtern aus protestantischen Familien der Mark verheiratet, etwa aus verschiedenen Linien der Familie von Syberg.22 Bei den katholischen Elverfeldts in Steinhausen findet man analog die Namen großer Familien aus der katholischen rheinisch-westfälischen Adelslandschaft wie von Wolff-Metternich oder von Galen.23 Stammten die Ehefrauen in diesen Beispielen nicht aus der Grafschaft Mark, so lassen sich weitere Fälle anführen, die zeigen, dass die katholischen Familien auch innerhalb des Territoriums unter sich blieben. Durch diese Heiratspolitik entstanden große Familienverbände, die für die Karriere- und Versorgungsstrategien der einzelnen Familien eine wichtige Rolle spielten und in ihre wirtschaftliche Gesamtstrategie eingingen.24 Die Erwerbsstruktur der adeligen Familien ist von Bedeutung, wenn nach der Haltung adeliger Grundherren einerseits und adeliger Unternehmer in Bergbau und Metallgewerbe andererseits zur preußischen und napoleonischen Herrschaft gefragt wird. Wie wirkte sich die Politik der französischen Behörden mit ihren Maßnahmen zur Ablösung der Bauern von den Bindungen an und den Pflichten gegenüber dem Grundherren sowie die Verhängung der Kontinentalsperre und die Einführung von exportfeindlichen Zöllen aus? Kann man von Formen des „Widerstands“ märkischer Adeliger sprechen, oder suchten diese vielmehr die Kooperation mit den neuen Herren, die den eigenen wirtschaftlichen Interessen dienlich sein sollte? In diesem Zusammenhang muss auch das Verhältnis zwischen dem Adel und dem aufstrebenden Bürgertum gesehen werden.25 Die Konkurrenzsituation, die in der Grafschaft Mark bereits zuvor in aller Deutlichkeit bestanden hatte und sich zwischen Bürgern und Adeligen zuweilen heftig entladen hatte, kann unter anderem aus zeitgenössischen Diskussionsbeiträgen in Zeitungen und hier in erster Linie aus dem in Dortmund herausgegebenen „Westfälischen Anzeiger“ erschlossen werden.26

22 Siehe van Hövell tot Westerflier: Genealogie, S. 110–114. 23 Vgl. Freiherr von Elverfeldt-Ulm: von Elverfeldt, S. 117–128, S. 120–123. Vgl. außerdem den Artikel „Elverfeldt“, S. 79–80. 24 Vgl. Richtering: Friedrich Alexander von Hövel, S. 8–10. 25 Zum märkischen Bürgertum und seinen Besonderheiten vgl. Reininghaus: Die Harkorts. Reinhart Koselleck hat die Annäherung zwischen Adel und Bürgertum und die sie trennende Linie im wirtschaftlichen Sinne als „osmotisch“ gedeutet. Vgl. Koselleck: Preußen, S. 83. 26 Zum Verhältnis von Adel und Bürgertum in Deutschland vgl. einführend Fehrenbach (Hg.): Adel und Bürgertum. Zur deutschen Debatte über eine Adelsreform und ihrer Orientierung an England als möglichem Modell vgl. von Friedeburg: Das Modell England. Zur Lage des Adels in den ostelbischen Gebieten Preußens im späten 18. Jahrhundert vgl. Martiny: Adelsfrage. Zur publizistischen Debatte Sandgathe: Der „Westfälische Anzeiger“. Zum Herausge-

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Ein repräsentatives Beispiel für diese Form von Adelskritik in der Mark ist die Flugschrift „Die Westfälische Mark“, die Johann Friedrich Möller im Auftrag Hagener Kaufleute verfasste und in der er den Gewerbefleiß der Region mit dem vermeintlich verschwenderischen Lebensstil des Adels kontrastierte.27 3. DIE FAMILIE VON ELVERFELDT IN SCHLOSS STEINHAUSEN: PROTOTYPISCHE VERTRETER ADELIGEN UNTERNEHMERTUMS IM SÜDLICHEN WESTFALEN Das in gewisser Weise als spezifische Form eines Familienunternehmens organisierte adelige Wirtschaften, das die Familie von Elverfeldt praktizierte und um das es im Folgenden gehen soll, verdeutlicht den erheblichen Erkenntnisgewinn, den Untersuchungen zum adeligen Unternehmertum versprechen. Die Familie und ihre Memorialfunktion als zentrale Merkmale adeligen Selbstverständnisses verweisen in ihrer Bedeutung für die Entscheidungsspielräume adeliger Unternehmer auf die möglichen Verbindungen zwischen wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Forschung. Neben der grundsätzlichen Frage, welche generationellen Unterschiede es in Familienunternehmen im Hinblick auf Entscheidungs- und Risikofreudigkeit geben kann, sind für den Unternehmer der frühindustriellen Zeit die „vorindustriellen Organisationseinheiten“, deren Zusammenarbeit anderen sozialen, meist gruppenbezogenen Regeln folgten, und die „formlosen, kulturell ausgeprägten Beschränkungen, d.h. die Handlungsspielräume einer Gesellschaft ebenso wie Bildung von Sozialkapital“, im Blick zu behalten. Im Falle des Adels ist neben dem „splendor familiae“ an die hiermit unmittelbar zusammenhängende Erhaltung des Standes zu denken.28 In der Familie von Elverfeldt zeigte sich dies in drastischer Form, als Levin von Elverfeldt die Bauernmagd Anna Maria Sils heiraten und damit eine nicht standesgemäße Verbindung eingehen wollte. Nicht nur war er in der Familie isoliert, er erhielt in der Folge auch keinen Zugriff auf die Nachlässe der Brüder seines Vaters, die als Domherren über ein erhebliches Vermögen verfügten. Werner August von Elverfeldt, der seinen Neffen Levin von den Heiratsplänen abbringen wollte, schrieb ihm: „aber daßjenige womit sie mir und die ganze famille bedrohen und beschimpfen wollen komt von ihren freyen willen und sinnlichkeit her“. Er rief Levin dazu auf, mit Anna Sils zu brechen, um seiner ber des „Westfälischen Anzeigers“, Arnold Mallinckrodt, vgl. Luntowski: Arnold Mallinckrodt. Wilfried Reininghaus hat am Beispiel der Familie Romberg und der Konflikte mit den Einwohnern der Stadt Hörde herausgearbeitet, dass der märkische Adel bereits im 17. Jahrhundert seine führende Position verteidigen und durchsetzen musste. Vgl. Reininghaus: Caspar von Romberg. 27 Zu Möllers Flugschrift vgl. Reininghaus: Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, S. 11. Zum ausschweifenden Lebensstil als Merkmal adeligen Selbstverständnisses und am Beispiel Levins von Elverfeldt vgl. Conrad: Bürgerliche Verhaltensweisen, S. 88. 28 Vgl. North: Institutionelle Faktoren, S. 90; Wischermann: Die neue Institutionenökonomik, S. 24.

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„in lezten Zügen liegenden Famille“ keine Schande zu machen.29 Aus Enttäuschung über die Hartnäckigkeit seines Neffen überführte er sein Vermögen in eine Stiftung.30 Das Erwerbsprofil der Familie von Elverfeldt war in vielerlei Hinsicht typisch für den Adel der Grafschaft Mark. Es basierte auf Landwirtschaft und Grundbesitz, war aber nicht hierauf beschränkt. In dieser katholischen Familie bestand traditionell ein starkes Interesse daran, die eigenen Nachkommen mit Präbenden und Stellen in der Kirche und im Militär zu versorgen. Vor diesem Hintergrund ist in der Forschung von einem nicht von Gewinnstreben geleitetem Interesse der Familie gesprochen worden, die vielmehr daran interessiert gewesen sei, ihre Nachkommen mit möglichst einträglichen Posten auszustatten. Präbenden in der Kirche, für deren Erwerb zum Teil erhebliche Mittel aufgewandt werden mussten, stellten ein weiteres Merkmal von Adeligkeit dar, zumal es in Westfalen mit dem sogenannten stiftsfähigen Adel eine Kategorie gab, die innerhalb des Adels besonders exklusiv war.31

Abb. 2: Bergbaukarte Quelle: Kartensammlung A, Staatsarchiv Münster.

29 Vgl. Conrad: Ancien Régime, S. 126–135. Vgl. Schreiben von August von Elverfeldt an Levin von Elverfeldt vom 19.04.[1790] [Archiv Canstein, Akte B 137]. 30 Die Akten hierzu befinden sich im Archiv der mit der Familie Elverfeldt eng verwandten Familie von Hövel. Vgl. dazu Archiv Herbeck E 1 „Elverfeldt- von Hövelsche Familienstiftung“. 31 Vgl. Conrad: Bürgerliche Verhaltensweisen, S. 80.

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Markante Beispiele hierfür waren Christian Friedrich von Elverfeldt (1699–1781), der als Offizier im Münsterschen Militär diente und es bis zum Rang des Generalleutnants brachte, sowie Werner August (1740–1818) und Maximilian Friedrich von Elverfeldt (1753–1805) als Kapitulare in nordwestdeutschen Bistümern.32 Die wirtschaftliche Grundlage der Familie aus Grundbesitz und Landwirtschaft stellten für die unternehmerische Betätigung einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil dar. Neben Schloss Steinhausen, das 1732 in den Besitz der Familie überging, besaß die Familie Güter in Dahlhausen und Horst sowie in der Grafschaft Bentheim Haus Langen, das zeitweise von Levin von Elverfeldt als Wohnsitz genutzt wurde.33 Christian Friedrich von Elverfeldt (1699–1781) betätigte sich bereits neben der Landwirtschaft auch im Steinkohlenbergbau. Unter seinem Sohn Clemens August von Elverfeldt (1732–1783) kam es zu einer Diversifizierung der Einnahmequellen und zu einer Steigerung der Bergbauaktivitäten der Familie.34 Er pflegte enge Freundschaften zu einigen Großbauern der Umgebung wie etwa zu Johann Henrich Oberste Frielinghaus (1728–1801). Dieser trat als bäuerlicher Gewerke in Erscheinung, und zumindest in geschäftlicher Hinsicht spielten Standesunterschiede offensichtlich keine Rolle. Im Zuge der aufkommenden Ruhrschifffahrt und des damit einhergehenden Baus von Schleusen wurden zahlreiche neue Stollen – möglichst in Ruhrnähe – angelegt, von denen aus die Steinkohle problemlos auf dem Wasserweg abtransportiert werden konnte. Ebenso wurde 1800 die Kohlenstraße gebaut, die von Dortmund über Witten und Bommerholz ins Bergische Land führte. Es bestand eine Wechselbeziehung zwischen der Verbesserung der Verkehrswege und dem Bedarf an Steinkohle. Schließlich wurden Erbstollen angelegt, so etwa ab 1790 im Raum Herbede, deren wichtigster der St.-JohannesErbstollen bei der Ruine Hardenstein war. Clemens August von Elverfeldt, der als Mühlenbesitzer zunächst um die Einnahmen der Steinhausener Mühle infolge der Schiffbarmachung der Ruhr gefürchtet hatte, engagierte sich schließlich im Schleusenbau. Diese Initiative, die als gewinnträchtige Maßnahme zum Ausbau seiner Einnahmequellen gedacht war, erwies sich als finanzielles Fiasko und verschärfte die chronischen finanziellen Probleme der Familie, mit denen Levin von

32 Zur Geschichte der katholischen Linie in Steinhausen siehe Freiherr von Elverfeldt-Ulm: von Elverfeldt, S. 117–128. 33 Dies ergab eine erste Durchsicht der Findbücher des Archivs „Canstein“ im Westfälischen Archivamt in Münster. Ich hoffe, die Erwerbsstrategie der Familie, die Landwirtschaft, Bergbau, Militärkarrieren und kirchliche Pfründen umfasste, in einem weiteren Beitrag für das 18. Jahrhundert ausführlich behandeln zu können. Das Gut Dahlhausen befand sich in dem gleichnamigen Bochumer Stadtteil, existiert aber nicht mehr, lediglich ein Straßenname erinnert noch hieran. Horst befand sich in der Nähe von Crange und Bickern im heutigen nördlichen Ruhrgebiet. 34 Im Bergbau hatte er im Zeitraum 1742–1779 zusammen mit seinem Vater Friedrich Christian von Elverfeldt (1699–1781) 24 Zechen erschlossen und betrieben. 1743 erwarb er die Zeche Nachtigall in unmittelbarer Nähe Steinhausens, die 1714 von bäuerlichen Gewerken gemutet worden war. Siehe Ditt: Aufstieg.

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Elverfeldt bei Antritt seines Erbes konfrontiert wurde. Als möglichen Ausweg sah er eine weitere Intensivierung der Bergbauaktivitäten.35 Es waren vor allem die „Verlustängste seines Standes“, die ein wichtiges Motiv für die Ausweitung der unternehmerischen Aktivitäten Levin von Elverfeldts darstellten.36 Er wird in der Forschung als zwar begabter und initiativreicher, aber auch leichtsinniger Charakter dargestellt.37 Er konnte wegen der finanziellen Probleme seiner Familie nicht die im Adel übliche Kavalierstour antreten, die seinem Vater noch möglich gewesen war. Seinen ersten Unterricht erhielt er durch einen Hausgeistlichen, bevor er 1778 mit seinem Bruder Maximilian zur weiteren Ausbildung nach Münster geschickt wurde. Dort erhielt er Fecht- und Tanzunterricht und sollte als Militärkadett montiert werden. Aufgrund des Todes des Vaters und der Schulden seiner Familie konnte er auch das Studium nicht fortführen, und so nahm er aus der Not heraus eine Beamtenstelle in der bentheimischen Verwaltung an. 1783/84 wurde er zum Hofgerichtsassessor in Bentheim und zum kurkölnischen Kammerherrn ernannt; 1786 übertrug man ihm schließlich die Stelle des Landdrosten in Bentheim. Zudem übte er in der Grafschaft Bentheim noch das Amt des Markenrichters und des ständischen Landschaftsdirektors aus, der für die Landeskasse zuständig war.38 Nach seiner nicht standesgemäßen Heirat mit der Bauernmagd Maria Anna Sils lebte er zunächst allein und dann mit seiner Familie in Haus Langen. Dort betrieb er zusätzlich zur Landwirtschaft ein Ziegelwerk. Mit zwei weiteren Geschäftspartnern nahm er bei den bentheimischen Ständen einen Kredit auf, um eine Baumwollbleicherei und -färberei zu gründen. Ihr Betrieb umfasste auch Handelsgeschäfte zwischen dem westfälischen Raum und den Niederlanden mit Baumwolle, Garn, Holz und Eisen. Die Hoffnungen, die Levin mit diesen Unternehmungen verband, erfüllten sich indes nicht. Er zog nach Steinhausen, arbeitete sich in die Grundlagen des Steinkohlenbergbaus ein und wurde zu einem der angesehensten Bergwerksunternehmer. Da Steinkohle die knapper werdende Holzkohle zu ersetzen begann und zudem gute Exportmöglichkeiten in die Niederlande bestanden, lag es nahe, dass Levin sein Glück in der Erweiterung der Bergbauaktivitäten der Familie suchte. Er widmete sich darüber hinaus auch dem Transportwesen, indem er eine Pferdebahn im Muttental neben Steinhausen anlegen ließ, die die Zechen mit der Ruhr verband. In Ruhrort, wo die märkische Steinkohle für 35 Vgl. Conrad: Bürgerliche Verhaltensweisen, S. 81–83. Zu dem Betrieb der Zechen vgl. Archiv Canstein, Akte B 1188. Diese Quelle richtet sich unter anderem an die Nachkommen Levins und fordert diese auf, den Bergbau als Einnahmequelle nicht zu vernachlässigen, was den generationsübergreifenden sowie auf Familien- und Standeskategorien beruhenden, adelstypischen Ansatz Levins von Elverfeldt zeigt. Zur Schifffahrt auf der Ruhr vgl. Olaf Schmidt-Rutsch: Kohlenschifffahrt, S. 116–117; sowie ders.: Salzschifffahrt. Vgl. außerdem Weddige/Franzen: Bergbau, S. 105. 36 Vgl. Conrad: Bürgerliche Verhaltensweisen, S. 86. 37 Zur Kritik der Zeitgenossen an Levins unüberlegten Spekulationen vgl. Conrad: von Elverfeldt, S. 122. 38 Vgl. Conrad: von Elverfeldt, S. 110.

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den Export in die Niederlande auf Rheinschiffe verladen wurde, gründete er das Kohlenhandelsgeschäft Elverfeldt & Bölling und unterhielt daneben Geschäftsbeziehungen zur Firma Haniel.39 Der ökonomische Druck, der im späten 18. Jahrhundert auf der Familie von Elverfeldt lastete, zeigt sich auch in dem Vorhaben Levins, Teile seines Gutes Horst an Nichtadelige zu veräußern.40 Unter diesen schwierigen Bedingungen musste die napoleonische Herrschaft als zusätzlicher Einschnitt wirken, denn die Aufhebung der Feudallasten berührte nicht nur die wirtschaftlichen Interessen der Grundbesitzer in erheblichem Maße, auch die mit den jeweiligen Adelshäusern verbundenen Rechte und Privilegien wurden aufgehoben.41 Gewerbefreiheit und Kontinentalsperre bedeuteten auch für Industrie und Bergbau in der Grafschaft Mark eine tiefgehende Zäsur, ferner wurde die Bergbauverwaltung dem französischen Ingenieur Antoine-Marie Héron de Villefosse direkt unterstellt.42 Insbesondere die Absatzschwierigkeiten nicht nur für märkische Steinkohle infolge der Kontinentalsperre und der Zollgrenze am Rhein sorgten dafür, dass sich die Unternehmer an die französischen Behörden wandten, um die Rahmenbedingungen für das eigene wirtschaftliche Handeln möglichst günstig zu gestalten. Dies ging sogar so weit, den Anschluss des Großherzogtums Berg an Frankreich zu fordern, um von den Absatzmöglichkeiten des französischen Binnenmarktes profitieren zu können. Mit einem solchen Anliegen bzw. dem Wunsch nach keinen weiteren Exportbeschränkungen wandten sich im Frühjahr 1811 die Mairien Volmarstein, Blankenstein, Hattingen und Sprockhövel an den französischen Kaiser. Für die Mairie Volmarstein unterzeichnete neben dem Deputierten Berger auch der Maire Levin von Elverfeldt. Diese Petition ist einerseits Ausdruck einer wirtschaftspolitisch opportunistischen Haltung der adeligen Unternehmer, die

39 Vgl. Elverfeldt-Ulm: von Elverfeldt, S. 123–124; Conrad: von Elverfeldt, S. 119–121. 40 Zu den allgemein schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen für den Adel in der Grafschaft Mark vgl. Keinemann: Krummstab, S. 56. Zu jenem Vorhaben Levins von Elverfeldt vgl. Schreiben von Levin von Elverfeldt an Friedrich Wilhelm III., 16.07.1805, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (nachstehend: GSTA PK) Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 34, Nr. 567. 41 In diesen Kontext gehören zahlreiche weitere Fragenkomplexe, die sich auf die Agrarverfassung und das Wirken der Adeligen als Agrarunternehmer beziehen. Zu diesen Aspekten halten die märkischen Adelsarchive viel Material bereit, das nicht nur die Geschichte der jeweiligen Familien erhellt, sondern auch die Grundlage einer Sozial- und Kulturgeschichte des ländlichen Raumes in der Grafschaft Mark bilden könnte. Zugleich kreisten um Grundherrschaft und Agrarverfassung wichtige Probleme jener Periode, die unter anderem im “Westfälischen Anzeiger“ diskutiert oder in Eingaben an den König und die Regierung in Berlin angesprochen wurden. Vgl. Keinemann: Krummstab, S. 55, Anm. 126. 42 Villefosse übte diese Funktion auch im Königreich Westphalen aus. Er bereiste die Bergwerksbezirke im Großherzogtum und erstellte eine Dokumentation für die großherzoglichbergischen Behörden. Vgl. Archives Nationales (nachstehend: AN) Paris AF IV 1860. Außerdem publizierte er später bergbaukundliche Literatur. Vgl. dazu Héron de Villefosse: De la richesse minérale; ders.: Atlas.

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auch vor der Angliederung des Territoriums an Frankreich nicht zurückschreckten, um eigene wirtschaftliche Interessen zu bedienen. Andererseits verweist dieses Dokument gerade für den märkischen Bergbau, der zuvor häufig unter der Bevormundung durch das preußische Direktionsprinzip hatte leiden müssen, auf die vielfältigen neuen Geschäftsperspektiven, die sich unter der französischen Herrschaft und der von ihr begründeten Gewerbefreiheit boten. Der Wunsch nach Angliederung an Frankreich wurde übrigens zeitweise auch von Friedrich Alexander von Hövel vertreten, der damit der Wirtschaft im märkischen Sauerland mit verbesserten Absatzmöglichkeiten helfen wollte.43

Abb. 3: Levin von Elverfeldt in seinem Kontor Quelle: Privatbesitz.

43 Vgl. Petition der Mairien Volmarstein, Blankenstein, Hattingen, Sprockhövel und Steele, 17.04.1811, AN Paris, AF IV 1839A. Der Altenaer Kaufmann und Unternehmer Johann Caspar Rumpe, der sich in Paris aufhielt, wirkte an einer weiteren Petition mit, in der erneut der Anschluss des Großherzogtums an Frankreich und damit der Wegfall der Zollgrenze gefordert wurden. Vgl. Petition an Außenminister Duc de Bassano, 15.06.1811, Archives du Ministère des Affaires Etrangères Paris, Correspondance Politique Allemagne, Petites Principautés, Bd. 13. Vgl. dazu auch Richtering: Friedrich Alexander von Hövel, S. 31.

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Zum Teil versuchten jene Adeligen auch, durch persönliches Vorsprechen bei den französischen Behörden etwas zu erreichen, wie Levin von Elverfeldt, der 1809 nach Paris reiste.44 Er hatte bereits zuvor die anstehenden Deputationen anlässlich der Eingliederung der Grafschaft Mark in das Großherzogtum Berg nutzen wollen, um seine Partikularinteressen bei dem neuen Landesherrn voranzubringen. In einem Schreiben kritisierte er in einer für die märkischen Bergbauunternehmer typischen Weise die bisherige preußische Bergverwaltung als „Despotie“ und wünschte, dass bis zur Ernennung einer neuen Bergbauverwaltung durch die französischen Behörden die ausstehenden Beschwerden und Petitionen Berücksichtigung finden würden. Er versuchte außerdem darauf hinzuwirken, dass den Bergwerksbesitzern mehr Handlungsspielräume gegenüber der staatlichen Bergverwaltung eingeräumt würden.45 Überdies verfolgte man 1811 den Plan, in Düsseldorf eine Industrieausstellung während des Besuchs Napoleon Bonapartes zu organisieren, um dem französischen Kaiser die Produkte aus dem Großherzogtum Berg zu präsentieren und ihn auf diesem Wege zu einer wirtschaftsfördernden Politik anzuregen.46 Adelige wie Gisbert von Romberg, der seine unternehmerischen Interessen gut mit seinem öffentlichen Amt verknüpfen konnte, versuchte, als Schnittstelle zwischen Unternehmern und Behörden zu dienen. So setzte er sich als Präfekt des Ruhrdepartements maßgeblich dafür ein, dass märkische Steinkohle wenigstens in das Königreich Holland exportiert werden konnte und somit nicht alle Absatzmärkte für die Bergbauunternehmer wegbrachen.47 Auch nach Ende der napoleonischen Herrschaft versuchten märkische Adelige zugunsten der eigenen Geschäftsinteressen zu intervenieren bzw. sich wenigstens Gehör zu verschaffen. So beklagte sich Levin von Elverfeldt über die Grenzziehung im nachnapoleonischen Europa und insbesondere über die Schaffung des Königreiches der Niederlande, das er als Hindernis für die Absatzmöglichkeiten märkischer Steinkohle ansah.48

44 Vgl. Archiv Canstein, Akte C 215. Vgl. außerdem Bockhorst: Westfälische Adelige, S. 108– 109. 45 Vgl. Note Elverfeldts [an den Großherzog, O.S.] (1808), Archiv Canstein, Akte B 219. 46 Zur geplanten Industrieausstellung im Zusammenhang mit dem Besuch Napoleons in Düsseldorf 1811 vgl. StA Münster, Gisbert von Romberg, Bestand A, Akte Nr. 4. 47 Bereits 1811 hatten Bergwerksbesitzer die Bedeutung Hollands für den Absatz der Steinkohle betont. Der bergische Innenminister Nesselrode hob darüber hinaus sinkende Steuereinnahmen und erhöhte Arbeitslosigkeit als mögliche Gefahren bei andauernder Konjunkturschwäche und Handelsbeschränkung hervor. Vgl. Nesselrode an Roederer, 28.02.1811, AN Paris, AF IV 1839A, Dossier Nr. 3. Zum Einsatz Rombergs für den märkischen Steinkohlenbergbau, der ihn unmittelbar betraf und der auf die Bedeutung informeller Zirkel nicht nur innerhalb des Adels hinweist, vgl. Romberg an Nesselrode, 27.11.1812, AN Paris, AF IV 1837. 48 Vgl. Archiv Canstein, Akte B 1257. Vgl. außerdem Levin von Elverfeldt an Friedrich Wilhelm III., 05.03. 1815, GSTA PK Berlin-Dahlem, III. HA Ministerium des Äußeren II, Nr. 1017.

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4. SCHLUSSBETRACHTUNG Künftige Forschungen, die die Rolle Adeliger als Unternehmer in der Umbruchzeit um 1800 und ihr unternehmerisches Handeln als Komponente des „Obenbleibens“ in den Blick nehmen, sollten vergleichend vorgehen. Neben Untersuchungen des frühindustriell geprägten rechtsrheinischen Raums mit dem Herzogtum Berg, der Grafschaft Mark oder dem Herzogtum Westfalen bieten sich andere Montanregionen in der Frühindustrialisierung an wie die Reviere im Aachener Land und an der Saar, wobei im letzten Fall sogar der interessante Vergleich des Adels an der Ruhr mit einem im Steinkohlenbergbau tätigen Landesherrn möglich ist. Dort hatte Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken (1718–1768) die Kohlengruben aufgekauft und für ein Ende des privaten Abbaus und Verkaufs von Steinkohle in seinem Territorium gesorgt.49 Im europäischen Vergleich würde sich eine vergleichende Untersuchung der Steinkohlenreviere im entstehenden östlichen Ruhrgebiet und im nordfranzösisch-belgischen Raum ValenciennesMons-Charleroi anbieten.50 Hierbei können in methodischer Hinsicht die klassischen wirtschaftsgeschichtlichen Zugänge erweitert werden, indem die Kulturgeschichte mit neueren Theorieangeboten aus den Wirtschaftswissenschaften verknüpft wird, um nicht mehr ausschließlich vom Markt und seinen Mechanismen als Triebfeder für unternehmerisches Handeln auszugehen, sondern etwa nach „Bürgerlichkeit“ als Kategorie des Unternehmertums zu fragen und diese in einen Zusammenhang mit Erfolg bzw. Misserfolg beim Übergang der adeligen Unternehmer in die Industrialisierungsphase des 19. Jahrhunderts zu stellen.51 Denkbar wäre auch eine vergleichende Untersuchung der wirtschaftlichen Führungsschichten adeliger und nichtadeliger Herkunft, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im unternehmerischen Profil herauszuarbeiten. Der These von einer möglichen „Verbürgerlichung“ des Adels muss die Gegenthese entgegengehalten und überprüft werden, ob und in welcher Weise sich das Bürgertum in dieser Zeit dem Adel annäherte.52

49 Siehe Thomes: Zusammenhänge. 50 So spielten in der Geschichte der Bergwerksgesellschaft in Anzin in der Nähe von Valenciennes mit den Familien Désandrouin oder du Croÿ ebenfalls Adelige eine wichtige Rolle als Pioniere. Im Fall der Familie du Croÿ ergibt sich erneut die Möglichkeit zum Vergleich niederadeliger und hochadeliger Familien, die im Steinkohlenbergbau als Unternehmer tätig waren. Vgl. Geiger: The Anzin Coal Company, S. 14–19. 51 Kulturwissenschaftlich erweiterte institutionenökonomische Elemente würden auch die häufig eingeforderte Anbindung der Wirtschaftsgeschichte an die „allgemeine“ Geschichtswissenschaft erleichtern. Vgl. Wischermann: Die neue Institutionenökonomik, S. 29–30. Ebenso können die Begriffe Erfahrung, Wahrnehmung, Vertrauen, Kommunikation und Identifikation eine Brückenfunktion zwischen Ökonomie und Geschichte herstellen. Vgl. dazu Kleinschmidt: Neue Institutionenökonomik, S. 271. 52 In diesem Zusammenhang kann der Frage nachgegangen werden, ob man die adeligen Unternehmer überhaupt zur sozialen Kategorie der „Unternehmer“ zählen kann oder ob sie ange-

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Eine vergleichende Untersuchung von Adeligen, Kaufleuten, Beamten und Bauern als Bergbautreibenden wäre auch denkbar als Studie zu einem konkreten Gebiet wie im vorliegenden Fall dem Bergwerksdistrikt Wetter.53 In diesen Zusammenhang gehört auch die Rolle von Freimaurerlogen als Kommunikationsrahmen, in dem unter anderem die Geschäftsinteressen der Bergbautreibenden besprochen werden konnten.54 Levin von Elverfeldt gehörte der Loge „Zu den drei Rosenknospen“ in Bochum an. Unter den Mitgliedern befanden sich auch der Kaufmann Peter Engelbert Berger aus Witten und die Bergbeamten Ludwig Johann Philipp Jacobi und Friedrich Niemeyer.55 Schließlich lädt ein Beispiel wie Maria Theresia von Elverfeldt, die nach dem Tod ihres Mannes Clemens August von Elverfeldt nicht nur den Steinkohlenbergbau, sondern auch die Landwirtschaft auf den Gütern organisieren musste, dazu ein, die Rolle adeliger Frauen als Unternehmerinnen eingehender zu untersuchen.56 Behält man Aussagen wie die Levins von Elverfeldt im Blick, er betreibe den Steinkohlenbergbau, „um da durch allen meinen Kindern ein standesmässiges Auskommen zu sichern,“ wird deutlich, dass die unternehmerische Aktivität seiner Familie nicht kapitalistischem Erwerbsstreben, sondern primär dem Erhalt von Familie und Stand dienen sollte. Auch die Kritik an Levin, er habe seine unternehmerischen Aktivitäten und Erfolge überschätzt, da viel mehr Zechen gemutet als betrieben wurden, mit seinem adeligen Lebensstil über seine Verhältnisse gelebt und den Schuldenstand der Familie nicht verringert, zeigt, dass adelige Vorstellungen und Entwürfe vom Wirtschaften als handlungsmächtige Größen ebenso wie das „immaterielle Kapital“ in Form von Bildung und Sozialisation als Wett-

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sichts zahlreicher Spezifika eine eigene Gruppe darstellen. Zum Unternehmerbegriff und zum neueren Forschungsstand siehe Casson: Unternehmer, S. 524–544. Die Zeche „Johannes Erbstollen“ in der Nähe der Burgruine Hardenstein an der Ruhr zeigt dieses Zusammenspiel von Gewerken verschiedener sozialer Herkunft. Neben Elverfeldt waren dies unter anderem der Bauer Oberste Frielinghaus und die Bergbeamten Wünnenberg und Heintzmann. Vgl. Canstein B 1188. Neben dem Aspekt des Informationsvorsprungs aufgrund der Mitgliedschaft in informellen Zirkeln, der für unternehmerischen Erfolg entscheidend ist, können hier auch „kooperative Anstrengungen“ ausgemacht werden, die über Netzwerke vermittelt werden und für den Unternehmer genauso wichtig wie Individualismus und Wettbewerb sind. Vgl. Casson: Unternehmer, S. 544. Jörg Engelbrecht hat am Beispiel rheinischer Unternehmer im Zeitalter der Französischen Revolution gezeigt, dass diese nicht nur keine Berührungsängste gegenüber den französischen Behörden hatten und vielmehr die Kooperation suchten, sondern auch über gute Informationskanäle und Zusammenschlüsse in einigen Orten verfügten, die als informelle Institutionen charakterisiert werden können. Vgl. Engelbrecht: Unternehmer, S. 125–126 und 135. Die Geschichte der Freimaurerlogen in der Grafschaft Mark harrt ebenfalls noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zur Bochumer Loge vgl. Gerlach: Freimaurer, S. 690–706. Auch hier bietet sich der Vergleich mit nichtadeligen Frauen an. Das bekannteste Beispiel für eine erfolgreiche Unternehmerin in der Grafschaft Mark ist sicherlich Louisa Catharina Harkort („Märckerin“) (1718–1795), die etwa 30 Jahre lang das Handelshaus Harkort erfolgreich führte. Vgl. Gorißen: Handelshaus, S. 135–137.

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bewerbsvorteile adeliger Unternehmer in der Frühindustrialisierung eingehend untersucht werden sollten.57 Neben der noch genau auszuleuchtenden Rolle des Bergrechts und des Direktionsprinzips für die unternehmerischen Handlungsspielräume im Bergbau an der Ruhr kann hier auch eine weitere Ursache dafür vermutet werden, warum den märkischen Adeligen trotz ihrer Pionierrolle im Steinkohlenbergbau später der Sprung in das Industriezeitalter mit Tiefbauzechen und Aktiengesellschaften nicht gelang und es vielmehr sogar zur Aufgabe des Zechenbesitzes und zu einer „Reagrarisierung“ dieser adeligen Familien kam.58 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Aander-Heyden, Eduard: Geschichte des Geschlechtes der Freiherren von Elverfeldt, 2 Bde., Elberfeld [circa 1886]. Baronesse van Hövell tot Westerflier, Bernadette: Die Genealogie der Freiherren von Elverfeldt auf Haus Herbede, in: Bruno J. Sobotka (Hg.): Haus Herbede in Witten. Herrschaftsmittelpunkt, Adelssitz, Begegnungsstätte, Witten 1985, S. 95–116. Beusch, Carl Heiner: Adlige Standespolitik im Vormärz. Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff (1784–1849), Münster 2001. Blotevogel, Hans H.: Zentrale Orte und Raumbeziehungen in Westfalen vor der Industrialisierung, Paderborn 1975, S. 222–226. Bockhorst, Wolfgang: Westfälische Adelige in Paris zwischen 1789 und 1815, in: Werner Frese (Hg.): Zwischen Revolution und Reform. Der westfälische Adel um 1800, Münster 2005, S. 85–111. Bracht, Johannes: „Reidung treiben“. Wirtschaftliches Handeln und sozialer Ort der märkischen Metallverleger im 18. Jahrhundert, Münster 2006. Casson, Mark: Der Unternehmer: Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), S. 524–544. Charon-Bordas, Jeannine: Archives du Grand-Duché de Berg (1806–1813), Paris 1987. Conrad, Horst: Am Ende des Ancien Régime. Familienkonflikte im westfälischen Adel, in: Werner Frese (Hg.): Zwischen Revolution und Reform. Der westfälische Adel um 1800, Münster 2005, S. 113–158. Conrad, Horst: Bürgerliche Verhaltensweisen? Die Freiherren von Elverfeldt und ihre Beteiligung an der Frühindustrialisierung im märkischen Sauerland, in: Manfred Rasch/Toni Pierenkemper/Norbert Reimann (Hg.): Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, Münster 2006, S. 79–99. Conrad, Horst: Levin (1762–1830) und Ludwig von Elverfeldt (1793–1873), in: Ralf Stremmel/ Jürgen Weise (Hg.): Bergisch-märkische Unternehmer der Frühindustrialisierung, Münster 2004, S. 108–154. Ditt, Karl: Aufstieg und Niedergang des Ruhrtalbergbaus. Die Zeche Nachtigall in Bommern bei Witten 1714–1892, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte, 103 (2003), S. 99–151.

57 Vgl. Conrad: Bürgerliche Verhaltensweisen, S. 85–89; Kroker: Gewerken und Kapital, S. 116. Zum Zitat Levins von Elverfeldt vgl. Archiv Canstein, Akte B 1188. 58 Die Familie von Elverfeldt trennte sich in den 1850er Jahren von ihrem Besitz in der Grafschaft Mark und kaufte Schloss Canstein im kurkölnischen Sauerland, wo sie auch heute noch ansässig ist.

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BILDERWELTEN, MARKENGESICHTER UND MARKTGESETZE – WERBUNG UND PRODUKTPOLITIK DER REEMTSMA CIGARETTENFABRIKEN ZWISCHEN 1920 UND 1960 Sandra Schürmann Werbung und Markenartikel gehören untrennbar zur Alltagskultur des „Jahrhunderts der Bilder.“1 Sie sind jedoch nicht allein visuelle Quellen für die Verfasstheit einer Gesellschaft, sondern spiegeln ebenso die Arbeit von Herstellern, die – mehr oder weniger erfolgreich – mit ihren Konsumenten kommunizierten und auf ökonomische Rahmenbedingungen reagierten. Eine Untersuchung zur historischen Entwicklung von Werbung und Produktpolitik steht damit an der Schnittstelle zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte; dieser Beitrag untersucht am Beispiel des Zigarettenherstellers Reemtsma2 das Zusammenspiel kultureller Deutungen und unternehmerischen Handelns. 1. DAS FALLBEISPIEL REEMTSMA Nach ihrem Umzug aus Erfurt nach Altona-Bahrenfeld bei Hamburg im Jahr 1923 übernahmen die Reemtsma Cigarettenfabriken unter der Leitung der beiden Brüder Philipp F. und Herrmann F. schrittweise beinahe die gesamte Konkurrenz und wuchsen zu einem Konzern, der im Juni 1929 etwa 30 bis 40 Prozent der deutschen Zigarettenindustrie beherrschte. Über eine Interessengemeinschaft mit dem Neuerburg-Konzern waren sogar 50 bis 60 Prozent unter der Führung Reemtsmas vereinigt.3 Die Übernahme Neuerburgs 1935 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Besatzungsmächten rückgängig gemacht, doch nach wie vor gehörte Reemtsma zu den wichtigsten Akteuren der Branche.

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Paul: Jahrhundert der Bilder. Seit 2004 befindet sich das Werbemittelarchiv des Reemtsma-Konzerns im Museum der Arbeit in Hamburg und ist dort nach einer systematischen Digitalisierung zugänglich; es enthält nahezu vollständig die zwischen 1920 und 2004 hergestellten Werbemittel sowie Packungen, interne Dokumente und Materialien der Werbeabteilung incl. einer Sammlung von Werbemitteln und Packungen der Konkurrenzunternehmen. Hausberg: Zigaretten-Industrie, S. 67.

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Von 19194 bis zu seinem Tod 1959 leitete Philipp F. Reemtsma die Werbeaktivitäten und die Markenentwicklung und hatte damit Anteil an der in dieser Zeit stattfindenden Professionalisierung der deutschen Werbewirtschaft, deren Akteure oft leitende Angestellte oder Inhaber mit entsprechend gelagerten Interessen waren, flankiert von freiberuflichen Werbeberatern. Auf den Ausbau der Werbeabteilung wurde viel Wert gelegt, wie die umfangreiche und kostspielige Werbung in allen zur Verfügung stehenden Medien bezeugt.5 Reemtsma berichtete in der internen Firmengeschichte, für die Entwicklung der frühesten Marken habe er noch keine Gebrauchsgrafiker oder Werbeberater einsetzen können, doch 1919 engagierte er den Herausgeber der Fachzeitschrift Seidel als Berater und holte bei einer Reihe von Grafikern Vorschläge für Warenzeichen ein. Aus den Einsendungen wurde der von Wilhelm Deffke gestaltete stilisierte Wikingersteven als Warenzeichen des Hauses ausgewählt6 und spektakulär eingeführt: Wochenlang erschien das auffällige Symbol auf Schildern ohne weitere Erläuterungen entlang von Bahnstrecken, bevor die Zigaretten mit Zeichen und Firmennamen in den Geschäften platziert wurden.7 Deffke erhielt ebenso den Auftrag zur Gestaltung von Drucksachen und Zigarettenpackungen – ein erster Schritt zur Entwicklung eines einheitlichen Erscheinungsbildes, laut Firmengeschichte „eindrucksvoll in seiner Geschlossenheit und in seiner graphischen Vollendung.“8 Hartmut Berghoff hat das noch junge Arbeitsfeld Werbung dieser Zeit als „Anziehungs- und Profilierungsfeld“ unterschiedlichster Figuren „aus dem Künstlermilieu, angrenzenden Wissenschaften oder Grauzonen zwischen Wissenschaft, Praxis und freiberuflichem Consulting“ beschrieben. In vielen Unternehmen gewannen frühe Marketingexperten an Einfluss, die behaupteten, mit künstlerischer Genialität oder Intuition zum Erfolg der Produkte beitragen zu können – gemeinsam war ihnen „dass sie zu allererst Meister der Selbstvermarktung waren und ihre Kunden durch ein oftmals exzentrisches Auftreten beeindruckten“, wenngleich sich manche ihrer Ideen durchaus in der Praxis bewährten.9 Mit Hans Domizlaff beschäftigte Reemtsma zwischen 1921 und 1957 geradezu den Prototyp

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Beide Brüder stiegen 1916 in die vom Vater geleitete Zigarettenfabrik „Dixi“ ein; ab 1919 firmierte das Unternehmen unter dem Namen „B. Reemtsma und Söhne“. Im Jahr 1921 schied der Vater aus der aktiven Geschäftsführung aus und das Unternehmen wurde in die „Reemtsma AG“ umgewandelt. Hausberg: Zigaretten-Industrie, S. 74. Der 1887 geborene Gebrauchsgrafiker und Architekt Deffke galt in den 1920er Jahren als einer der bedeutendsten Entwickler von Markenzeichen. Das von ihm entworfene Logo wurde bis 2009 in minimal veränderter Form verwendet. Vgl. das Vorwort zu Domizlaff: Markentechnik: „Kein Mensch wusste anfangs, was das schwarze Zeichen auf weißem Grund mit dem roten Punkt bedeuten sollte. Die meisten Leute rieten auf eine Art Schraubenschlüssel oder Büchsenöffner [...] und erst allmählich wurde ein Zusammenhang mit den ungewöhnlich sperrigen Zigarettenpackungen entdeckt, die in einzelnen Läden das gleiche Zeichen den Blicken der Passanten aufdrängten.“ Reemtsma: Aufbau, S. 211. Berghoff: Marketing, S. 45.

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eines solchen Werbefachmanns.10 Philipp F. Reemtsma schilderte später, bei ihrer ersten Begegnung auf der Leipziger Messe im Herbst 1920 habe Domizlaff ihn aufgesucht und seine Zigaretten gelobt, aber auch von „markentechnischen Fehlern, die wir beim Start der ersten Marken begangen hätten“ gesprochen11 und „sehr freimütig über die Diskrepanz zwischen der damaligen bereits guten Qualität unserer Cigaretten und der ungenügenden Vertrauensbildung, die von unseren Packungen und unserer Reklame ausging.“12 Der forsche Auftritt hatte Erfolg: Es kam zu einer bis in die 1950er Jahre dauernden Zusammenarbeit. Der neue Werbeberater hatte für die Kampagne mit dem Deffke-Logo keine besonders freundlichen Worte: In der „ziemlich reklamearmen“ Zeit sei sie stark aufgefallen und gelte „in den Augen der Laien“ immer noch als „propagandistische Meisterleistung“ – dabei trage sie jedoch „alle Kennzeichen des verhängnisvollen Jahrmarktstils“,13 sei also marktschreierisch, grob und langfristig nicht erfolgreich. Die von ihm entworfene „Markentechnik“ hingegen, deren Prinzipien er im 1939 erschienenen „Handbuch der Markentechnik“ formulierte, mache „den massenpsychologischen Hang zur Fetischbildung systematisch nutzbar“ und widme sich mit subtilen Mitteln der „Schaffung und Handhabung von massenpsychologischen Hilfsmitteln für den Geltungskampf ehrlicher Leistungen oder produktiver Ideen“, um so das öffentliche Vertrauen dauerhaft zu gewinnen.14 Philipp F. Reemtsma folgte Domizlaffs amateurpsychologischen und mitunter esoterischen Ansätzen in vielerlei Hinsicht,15 doch die Zusammenarbeit zweier so unterschiedlicher Charaktere war durchaus von Spannungen geprägt, die sich Ende der 1930er Jahre verschärften und anlässlich des zweiten Bands von Domizlaffs „Lehrbuch der Markentechnik“ eskalierten: Eine Vorausgabe von 3.000 Stück war bereits gedruckt und zum Teil verschickt, als Philipp F. Reemtsma nach Lektüre des Manuskripts sein Veto einlegte, schließlich die bereits gedruckten Exemplare aufkaufte und die Verlagskosten beglich und so die Veröffentlichung verhinderte16 – er war mit den detaillierten Schilderungen aus der Arbeit für das Unternehmen nicht einverstanden. In der internen Firmengeschichte aus dem Jahr 1953 rechnete Reemtsma schließlich mit seinem Werbeberater ab; seine akribischen Entgegnungen gipfelten in der Feststellung, vielleicht werde dessen Werk einmal 10 Der 1892 geborene Hans Domizlaff hatte Malerei, Philosophie und Mathematik studiert und als Bühnenbildner und Messebauer gearbeitet, bevor er ab 1920 erste Aufträge als Werbeberater erhielt und 1921 Philipp F. Reemtsma traf. Ab 1933 arbeitete er außerdem für Siemens und gründete 1954 das „Institut für Markentechnik, industrielle Formgebung und markentechnische Versuchsanlagen in Hamburg“. Er starb 1971. 11 Reemtsma: Firmenentwicklung, S. 8. 12 Reemtsma: Aufbau, S. 212. 13 Domizlaff: Lehrbeispiele, Vorwort. 14 Domizlaff: Markentechnik, Vorwort. 15 Vgl. Jacobs: Rauch und Macht, S. 60. 16 Briefwechsel zwischen Philipp F. Reemtsma und Hans Domizlaff in Nachlass Philipp F. Reemtsma, Hamburger Institut für Sozialforschung, vgl. Tino Jacobs: Intuition, S. 157. Heute existieren nur noch einzelne Exemplare des besagten zweiten Bandes, und unter den diversen Neuausgaben des „Lehrbuchs der Markentechnik“ enthält nur das Reprint aus dem Jahr 1976 die beanstandeten Kapitel.

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„so umgeschrieben, daß es, befreit von Einseitigkeiten, Fehlassoziationen und falscher Beurteilung der Gegebenheiten aller Unternehmen, das klassische Werk der Markentechnik wird.“17 Auch ohne solche Überarbeitungen gelten Domizlaffs Veröffentlichungen bis heute in Teilen der Branche als Pionierleistung und ihr Autor als „Urfaust of German Marketing“.18 Vieles spricht dafür, dass er diesen Ruf vor allem einer geschickten Selbstinszenierung verdankt: Tino Jacobs kommt zu dem Schluss, dass sich Domizlaff zwar seiner Einbindung in einen größeren Arbeitszusammenhang bewusst gewesen sei, alle vier operativen MarketingDimensionen formuliert habe und insofern seiner Zeit voraus gewesen sei, dass aber insbesondere seine ignorante Haltung gegenüber Marktforschungsmethoden und seine scharfe Polemik gegen den Verbrauchsapparat einem ganzheitlichen Marketing-Ansatz widersprochen hätten.19 Für den Erfolg der Reemtsma-Marken waren, wie sich im Weiteren zeigen wird, andere Faktoren neben der „Markentechnik“ mindestens ebenso entscheidend. In vielen deutschen Unternehmen folgten auf die „aus heutiger Sicht fast skurril anmutenden Werbe-Philosophen“ wie Hans Domizlaff eine Generation „sehr viel wendigerer und überaus geschäftstüchtiger Pragmatiker“ wie Hanns W. Brose20, der bei Reemtsma die Marke „Astor“ betreute. In der Firmengeschichte wird im Stil eines Arbeitszeugnisses beschieden, sein Erfolg sei „ursächlich in seinem richtigen Ansatz begründet“; er sei in der Lage „die Werbeidee aus der Packung heraus zu entwickeln und zu variieren“, dabei „[n]icht leicht zu führen, weil immer geneigt, im Einsatz der Mittel mit einem Zuviel an Optimismus aus dem Vollen zu schöpfen.“21 Hier unterstrich der Sprachduktus die Autorität des Konzernchefs und seiner leitenden Angestellten gegenüber einem der profiliertesten Akteure der deutschen Werbebranche – offensichtlich war Philipp F. Reemtsma weit davon entfernt, sich in Werbefragen auf die Kompetenz externer Fachleute zu verlassen. Schließlich hatte er selbst einen Ruf als genialer Markenentwickler: Der Tabakunternehmer Wolfgang Ritter schrieb in seinen Lebenserinnerungen, Reemtsma sei „wohl der größte Markentechniker aller Zeiten“ gewesen und habe mehr von Markenartikeln verstanden „als alle Konkurrenten zusammengenommen.“22 In den Jahrzehnten nach dem Tod Philipp F. Reemtsmas 1959 veränderte sich das Arbeitsfeld Werbung vor allem durch die zunehmende Einbeziehung von Full-Service-Werbeagenturen: 1970 teilte das Unternehmen auf eine Anfrage mit, im eigenen Haus werde „aufgrund von Marktforschungsergebnissen und Marktbeobachtungen eine Marketingkonzeption erarbeitet“ und deren Durchführung 17 Siehe Reemtsma: Aufbau, S. 217f. 18 “If there ever was an 'Urfaust' in management, advertising and marketing thought, it is Hans Domizlaff” lautet das viel zitierte Lob Ernest Dales in der Festschrift zu Domizlaffs 75. Geburtstag: Meyer (Hg.): Hans Domizlaff, S. 124. 19 Vgl. Jacobs: Intuition, S. 175. 20 Siehe Schindelbeck: „Asbach Uralt“, S. 239. 21 Jäger: Marke, S. 250. Jäger leitete zu diesem Zeitpunkt die Werbeabteilung. 22 Ritter: Idee, S. 34. Ritter war Inhaber der Tabakfabrik Martin Brinkmann in Bremen (Marken: Lux, „Peer Export“).

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„unternehmensfremden Institutionen und Personen“, d.h. Agenturen, übertragen; diese Verhältnisse träfen „auch im Wesentlichen für die Zigarettenmarken der Konkurrenz“ zu. Wie ein ehemaliger Mitarbeiter der Marketingabteilung berichtete, nahm allerdings auch der spätere Inhaber Günter Herz 23 direkt Einfluss auf die Werbeaktivitäten,24 und weiterhin wurden ‚Kreative‘ beschäftigt, deren Arbeit für außen Stehende nicht immer nachvollziehbar war: Der ehemalige Leiter des Werbearchivs erwähnte eine Gruppe von Angestellten im Hauptquartier „die eigentlich nichts tun mussten“, „das Gras wachsen hörten“ und „den Zeitgeist erfühlten“25 – ein Hinweis darauf, dass die Werbeabteilung innerhalb des Unternehmens durchaus als schillernd galt. 2. WERBEBILDER Dass Werbebilder mit gesellschaftlichen Gegebenheiten korrespondieren, ist in der (kultur-)historischen Fachliteratur wie im Alltagsverständnis unbestritten; schwieriger ist es, die wechselseitigen Einflüsse konkret zu benennen. Daher ist es hilfreich, die Entstehungs- und Rahmenbedingungen von Werbekampagnen zu betrachten: Jede Werbung zielt darauf, die Absatzchancen eines Produkts zu verbessern, indem sie es durch den Einsatz von Bildern und Texten mit Attraktivität und Prestige, mit symbolischem Kapital auflädt.26 Ob das gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie erfolgreich an bestehende Vorlieben der Konsumenten appelliert oder neue geschaffen werden können. Für Hersteller und Werbende sind zwar Umsatzzahlen nachvollziehbar, kaum aber die dahinter liegenden Entscheidungsund Aneignungsprozesse. Sie bleiben auf Theorien angewiesen, das galt noch offensichtlicher zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Werbewirkungsforschung in Deutschland noch am Anfang stand und Berater wie Hans Domizlaff sich auf ihre ‚Intuition‘ beriefen. Letztlich wird jede Werbung für einen imaginierten Konsumenten bzw. eine Konsumentin entworfen, und wie nah sie der gesellschaftlichen Realität kommt, muss immer wieder neu hinterfragt werden. Über die Zigarettenwerbung der hier untersuchten Zeit lässt sich allgemein sagen, dass bestimmte heutige Strategien wie Ironie oder Selbstreferentialität nicht vorkamen; auch offensive Inszenierungen von Gegenkulturen oder ästhetische Experimente fehlen fast völlig – der Siegeszug des ‚Coolen‘ als Werbe-Ansprache27 stand noch aus. Die überwältigende Mehrheit der Bilder ist normal, vertraut und gefällig – eben dies begründet ihren kulturhistorischen Quellenwert. Philipp Sarasin hat für die Analyse solcher Bilder, „die zuallererst von einer be23 Der von Günter Herz geleitete Tchibo-Konzern erwarb 1980 die Mehrheit an Reemtsma und verkaufte diese 2002 an Imperial Tobacco. 24 Mitarbeiter der Werbeabteilung von 1971 bis 2004, im Gespräch am 06.11.2008. 25 Im Gespräch am 03.09.2008. 26 Zum hier verwendeten Begriff des symbolischen Kapitals und zur Unterscheidung der Kapitalsorten vgl. Bourdieu: Raum, S. 11f. 27 Vgl. Frank: Conquest; Frank beschreibt die Integration und Instrumentalisierung von Motiven der Gegenkultur der 1960er Jahre in die Werbung in den USA.

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stimmten Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit geprägt sind, [...], die nicht von jemandem ‚geschaffen’, ‚erfunden’ wurden, sondern Abbildungskonventionen folgen, die eben schon ‚ganz gewöhnlich’ sind“28, ein an der Focault‘schen Diskursanalyse angelehntes Vorgehen angeregt, bei dem die regulierenden Bedingungen (der Bilddiskurs), implizite Aussagen oder Ausschlüsse sowie Bezüge auf andere Bilddiskurse berücksichtigt werden. So lassen sich Werbebilder auf ihre Aussagen über Geschlechterbeziehungen, soziale Schichten und ethnische Unterschiede analysieren Charakteristisch für die Bilderwelt der Zigarettenwerbung zwischen den 1920er und 1960er Jahren ist vor allem ihre Pluralität, in die sich gleichwohl einige grobe Schneisen schlagen lassen: Die ‚orientalischen‘ Wurzeln der deutschen Zigarettenindustrie29 spiegelten sich seit der Jahrhundertwende in stereotypen Bildern eines zwischen Ägypten und der arabischen Halbinsel (d.h. nicht in den Tabakanbauländern Bulgarien, Griechenland und Türkei) lokalisierten, geheimnisvollen, reichen und schwülstig-sinnlichen ‚Orient‘. Wo ohne solche exotistischen Bezüge geworben wurde, ersetzten flirtende Frauengestalten die tanzende Haremsdame – das Spiel mit dem erotischen Potential der Zigarette gehört zu den wichtigsten Topoi der Werbung im 20. Jahrhundert. Mit dem Durchbruch als Massenkonsumartikel in der Zeit des Ersten Weltkriegs erweiterte sich das Spektrum, bis nahezu jede potenzielle Interessenlage der Konsumenten bebildert wurde: Der Dresdner Hersteller Yenidze warb mit Eiskunstlauf-, Tennis- und Pferderennen-Motiven, das Berliner Unternehmen Manoli beschwor den Habitus weltgewandter Großstädter, die regionale Dominanz einzelner Marken spiegelte sich im rauchenden Berliner Bären, dem ebenfalls rauchenden Münchner Kindl oder heraldischen Zeichen und Ritterhelmen.30 Andere betonten die entspannende Wirkung der Zigarette am Feierabend und die Weltläufigkeit ihrer Konsumenten. Ein sozialer Schwerpunkt lag allgemein beim imaginierten Leben der höheren Gesellschaftsschichten – ein Verweis auf den frühen Nimbus der Zigarette als luxuriöses Genussmittel, der ebenfalls im gesamten 20. Jahrhunderts als werbewirksam galt. Daneben traten nach dem Zweiten Weltkrieg Bilder aus den USA und touristische Szenen. Insgesamt war der angesprochene Konsument europäisch und überwiegend männlich, doch rauchende Frauen wurden ebenfalls zur Ansprache von Konsumentinnen eingesetzt; nicht-europäische Frauen oder Männer fungierten als exotische Staffage oder Anbietende. Vereinzelt finden sich zwischen solchen gängigen Klischees auch durchaus abweichende Lebensentwürfe.31 Auch das Echo gesellschaftlicher oder politischer Umwälzungen in der Werbung erweist sich im 28 Sarasin: Bilder, S. 78. 29 Den Grundstein der deutschen Zigarettenindustrie legten Migranten aus Russland, Griechenland und der Türkei, die Rohstoffe, Produktionstechniken und fertige ‚Orientzigaretten‘ einführten. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Jacobs/Schürmann: Rauchsignale. 30 Vgl. die Bestände der Plakatsammlung und Werbeaufsteller vor 1945 im Werbemittelarchiv Reemtsma (MdA ReeA) sowie Weisser: Cigaretten-Reklame, S. 58 und S. 65. 31 In der Werbung für die Reemtsma-Marken „Burnu“ und „Ernte 23/Ova“ finden sich etwa in den 1920er und frühen 1930er Jahren innerhalb von Kampagnen mit konventionellen Motiven auch Frauen in Männerkleidung, am Steuerrad eine Schiffes und ein lesbisches Paar.

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Detail als wenig eindeutig: In Werbebildern aus der NS-Zeit finden sich beispielsweise Elemente, die sich einer regimenahen Ästhetik zurechnen lassen,32 andererseits aber zahlreiche Gegenbeispiele: Eine Beschränkung auf einen bestimmten Frauen- oder Männertyp oder ‚nationale‘ Symbolik ist nicht festzustellen, rauchende Frauen dienten weiterhin als Identifikationsfiguren, arabische Männer als Sympathieträger oder außereuropäische Kunstschätze als Insignien einer edlen Zigarette33 – die Mehrzahl der Bilder aus dieser Zeit führte die seit den Anfängen des Zigarettenkonsums etablierten Themen fort. Offenbar blieben die Hersteller bei ihrer Strategie einer möglichst breiten Ansprache aller potenziellen Kunden. Unter dem Einfluss der Domizlaff‘schen „Markentechnik“ verfolgte Reemtsma von den 1920er bis in die 1950er Jahre für die Unternehmens-Marken eine Strategie, die sich von den Gepflogenheiten der Branche unterschied: Im Mittelpunkt standen die Eigenschaften des Produkts, seine Rohstoffe und seine Herstellung. Idealtypisch zeigte eine ab 1930 veröffentlichte Reihe rund um die „Ova/Ernte 23-Mädchen“ junge Arbeiterinnen bei der Fertigung und verband ein idealisiertes Bild der Arbeit in einer Zigarettenfabrik mit Qualitätsversprechen und persönlicher Ansprache. Auch die 1932 eingeführte „R6“ warb mit technischen Darstellungen der Zigarettenfertigung. Hans Domizlaff schrieb in seinem „Lehrbuch der Markentechnik“, um 1920 sei in der Öffentlichkeit kaum etwas über die Herstellungsbedingungen des Produkts bekannt gewesen. Stattdessen habe die Industrie in der Werbung in „unsachlichen Spielereien“ gewetteifert und „mit häufig geradezu grotesken Blüten einer geistig armen Phantasie auf spießbürgerliche Triebe der Verbraucher zu spekulieren“ versucht.34 Er hingegen forderte eine Werbung ohne Assoziationen, die vom Produkt ablenken könnten – eine Gefahr, die er besonders bei erotischen, jahreszeitlichen oder humoristischen Motiven sah. So wurde stattdessen ein – offensichtlich männlicher35 – Raucher konstruiert, der „technische Ratschläge für Qualitätsraucher“ zu schätzen wusste und aus detaillierter Kenntnis über den Rohstoff und die Technik der Zigarettenherstellung zu dem Schluss kam, dass nur Reemtsma-Produkte seinen Ansprüchen genügten. In der unternehmenseigenen Überlieferung werden seitdem die „entschiedene Abkehr von der überalterten Form der Empfehlung“ und die Absicht „den Verbraucher durch fachliche Information zu fachlich objektiver Kritik zu 32 Unter den Marken des Reemtsma-Konzerns gilt das vor allem für die Werbung der YenidzeMarke „Salem“ und der Marke „Eckstein“ (die zudem mit dem Slogan „die deutsche Volkszigarette“ versehen wurde). 33 Genussvoll rauchende Frauen fanden sich etwa durchgängig in der Werbung für die Marke „Atikah“ zwischen 1930 und 1939 sowie in einer Kampagne für die Marke „R6“ 1936, die Marke „Salem“ wurde – auch in NS-Zeitungen – mit einer intern als „Salem-Ahmed“ bezeichneten Figur bebildert, und zu „Atikah“ erschien 1942 eine Reihe mit Fotografien europäischen und außereuropäischen Kunsthandwerks unter dem Titel „Die Kunst der Völker“. 34 Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 20. 35 Sicher waren die beschriebenen Verhaltensmuster im 20. Jahrhundert überwiegend männlich konnotiert, und sofern in den Anzeigen Personen als „Experten“ oder „informierte Raucher“ auftreten, sind sie männlich.

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‚erziehen’“ in der Werbung dieser Zeit betont.36 Gleichwohl bedeutete diese Strategie keine tatsächliche Abkehr von emotionaler Ansprache: Domizlaff schrieb, er habe sich zur Vorbereitung für die Marke „R6“ über die Herkunft und die Verarbeitung der Tabake erkundigt, und die „seltsamen Tabaknamen“ hätten in ihm „ein gläubiges Vertrauen auf die Richtigkeit der Qualitätsbehauptungen“ erweckt, „obwohl ich sie dauernd durcheinanderbrachte und keinerlei Vorstellungen bilden konnte.“ An die Stelle seines vorherigen „Kritikbedürfnisses“ seien nun „unkontrollierte Sympathien“ getreten, und diesen Effekt wollte er auf die Konsumenten übertragen. Dazu genügten seiner Ansicht nach „einige fremdartige Namen […] Drama – Kabakoulak / Smyrna – Samsoun“, die zu einer Art „Kolorit oder Atmosphäre des Tabak“ würden und Vertrauen in den Hersteller schafften.37 Aufklärung, so Domizlaff weiter, sei „eines der fundamentalen Werbemittel der Markentechnik“ und wirke „nicht so sehr durch den Inhalt als durch die löbliche Absicht und den Sprachstil.“38 Gerade die betonte Sachlichkeit sollte demnach eine emotionale Beziehung des Konsumenten zum Produkt und seinem Hersteller begründen; Reemtsma war sehr wohl bewusst, dass Zigaretten über symbolisches Kapital verkauft wurden, und nicht mit Informationen. In den 1930er Jahren sprach die ‚Informationswerbung‘ offenbar einen relevanten Teil der Konsumenten an und leistete einen Beitrag zum Erfolg der Marke „R6“. Als nach der kriegsbedingten Pause ab 1949 wieder Markenzigaretten eingeführt wurden, nahm Reemtsma daher die bewährte Strategie in der Werbung für „Ova“ wieder auf: Bis Anfang der 1960er Jahre unterstrich der „Tabakexperte“ im weißen Laborkittel (zum Teil buchstäblich) mit erhobenem Zeigefinger die Vorzüge der Zigarette. Doch die Marke erzielte keine dauerhaften hohen Umsätze, und die erst 1968 wieder eingeführte „R6“ wurde weitgehend ohne ‚tabakfachliche‘ Erläuterung beworben.39 Auch bei Reemtsma ging die Werbung nun – wie allgemein in dieser Zeit – endgültig von einer Produktzentrierung zum Appell an Sehnsüchte und Inszenierungen von Wunschwelten über. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war es selbst bei den klassischen Reemtsma-Marken zu Abweichungen von Qualitätsrhetorik und Markentechnik gekommen: „Ova“ und „Ernte 23“ wurden Ende 1930/31 und 1932 mit expressiven Zeichnungen beworben, in denen Raucher Ausnahmesituationen wie Schiffbruch oder Verkehrsunfall mit Hilfe einer Zigarette gelassen überstanden („Du hast ja Nerven! - Ja, und Ernte 23“). Bei „R6“ fiel 1936 eine Reihe von SchwarzweißFotografien aus dem Rahmen, die Raucherinnen [sic!] und Raucher im Kino oder am Kamin zeigen. Die Gründe für diese stilistischen Ausnahmen sind nicht überliefert; Stressbewältigung und Entspannung waren in jedem Fall seit Langem eingeführte Topoi der Zigarettenwerbung. Bei „Ova“ und „Ernte 23“ erschienen die abweichenden Motive, als die Umsätze aufgrund der Preispolitik einbrachen und 36 37 38 39

Dorén: Cigarettenanzeige. Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 30ff. Ebd., S. 165. Vgl. Werbemittelarchiv Reemtsma, Bestand Werbeabteilung, Dokumente Markengeschichte 1990–1998.

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„R6“ die neue starke Marke des Konzerns wurde - die neue Werbeästhetik war also möglicherweise ein Versuch, die Marken doch noch zu stabilisieren. In jedem Fall wird deutlich, dass einmal eingeführte Motive oder Themen nicht zwingend als Teil einer ‚Markenidentität‘ galten. Unterstrichen wird dies noch durch die Tatsache, dass die ansonsten klar unterschiedenen Marken „Ova“ und „Ernte 23“ zwischen 1925 und 1932 mit größtenteils identischen Motiven beworben wurden.40 3. PRODUKTPOLITIK Auch in ihrer Produktpolitik stehen Unternehmen vor der Herausforderung, die Vorlieben der Konsumenten möglichst treffend anzusprechen oder neu entstehen zu lassen und sich auf dem Markt und in einem sozialen Feld zu platzieren; sie ist damit eine weitere wichtige Säule der Unternehmenskommunikation.41 Die Zigarette verbreitete sich in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, hergestellt zunächst ausschließlich in Handarbeit von Klein- und Kleinstbetrieben, zu denen auch die 1910 von Bernhard Reemtsma gekaufte und später an seine Söhne übergegebene Zigarettenfabrik „Dixi“ gehörte. Mit der zunehmenden Automatisierung der Fertigung nach dem Ersten Weltkrieg begann die Etablierung der Markenzigarette im engeren Sinne, d. h. eines Produkts mit wiedererkennbaren Eigenschaften, Namen und Verpackungen. Allerdings schwankte das Angebot in den ersten Jahrzehnten noch erheblich – Philipp F. Reemtsma schrieb in der internen Firmengeschichte, alle Markenartikel-Märkte erlebten eine Entwicklungsphase wie die „Kampfzeit“ des Zigarettenmarktes vor 1929, in der sich die „echten“ Marken durchsetzen müssten.42 Der theoretische Überbau der Domizlaff‘schen „Markentechnik“ mit seiner Ablehnung „marktschreierischer Mittel“ wurde immer wieder von betriebsexternen Faktoren wie etwa der Tabaksteuergesetzgebung untergraben, die Reemtsma dazu zwangen, schnell und pragmatisch zu reagieren.43 In der internen Firmengeschichte verteidigte der Konzernchef dieses Vorgehen: „Jeder Unternehmer, der überhaupt ein Gefühl für Marken hat, weiß durchaus, dass eine Marke ein Organismus ist wie eine Pflanze oder ein Tier.“ Auch er wisse, dass Marken „eigene Wachstumsgesetze“ hätten, doch ein so breit aufgestelltes Unternehmen wie seines müsse verschiedenste Marken nebeneinander führen und mit unterschiedlichen Werbemitteln auf den Markt bringen. Erst wenn den unmittelbaren Absatzerfordernissen Rechnung getragen werde, könne er sich darum bemühen, „in geduldiger organischer Entwicklung Dauermarken von beständigem Charakter schrittweise in den Vordergrund zu spielen.“44 Eine solche ruhige Lage 40 Im Werbemittelarchiv Reemtsma, Bestand Anzeigen nach 1945, sind zahlreiche identische Motive vorhanden, zudem Anzeigenentwürfe, bei denen die Namensschriftzüge auf transparentem Papier aufgebracht und austauschbar sind. 41 Vgl. hierzu Wischermann: Unternehmenskultur, S. 36. 42 Siehe Reemtsma: Aufbau, S. 218. 43 Vgl. Jacobs: Intuition, S. 149. 44 Reemtsma: Aufbau, S. 217f.

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war offenbar selten: Gerade die Marke „R6“, das viel zitierte Erfolgsbeispiel für Domizlaffs Markentechnik-Ansatz, lässt angesichts drei unterschiedlicher Versionen von 1921–1925, 1932–1942 und 1968–1973 sowie diversen Überarbeitungen kaum eine kontinuierliche Markenentwicklung erkennen; auch andere ‚klassische‘ Reemtsma-Marken durchliefen diverse Neu- und Wiedereinführungen. Immer wieder starteten ‚Versuchsballons‘ zur Erkundung einer neuen Marktsituation, und besonders die in den 1920er Jahren aufgekauften Konzernmarken bildeten einen Pool, auf den angesichts unklarer oder turbulenter Marktentwicklungen zurückgegriffen wurde. Noch zwischen 1958 und 1969 kamen auf jede Neueinführung zehn Abgänge.45 Auch konstante Eigenschaften und Qualität – zwei der wichtigsten Versprechen eines Markenprodukts – waren bei Markenzigaretten keine Selbstverständlichkeit, woraus Max Zentz 1927 schloss, offenbar sei die gleich bleibende Qualität „nicht immer von ausschlaggebender Bedeutung.“46 Allerdings konnten Schwankungen für die Hersteller durchaus gefährlich werden: Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich durch Lieferschwierigkeiten das Image der gängigen Marken dermaßen verschlechtert, dass sich der Vertrauensverlust nur schwer wieder gut machen ließ; das entstandene Vakuum nutzten u.a. die jungen ReemtsmaEigentümer für die Positionierung ihrer eigenen Produkte. Bei Beginn neuer Lieferschwierigkeiten ab 1942 wurden dementsprechend nur noch Einheitspackungen herausgebracht und erst ab 1949 wieder Markenzigaretten angeboten. Noch einschneidender war der anschließende Wandel der Rohstoffbasis: Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg wurden zu 95 Prozent so genannte Orienttabake, d.h. Mischungen aus der Türkei, Bulgarien und Griechenland geraucht. Danach setzten sich innerhalb weniger Jahre – vorbereitet durch die von Besatzungssoldaten in Umlauf gebrachten „Chesterfields“ und „Lucky Strikes“, vor allem aber aufgrund der Förderung amerikanischer Tabakimporte mit Marshallplan-Geldern, – American Blend-Zigaretten aus Virginia-Tabaken durch. Dies war nicht zuletzt ein Marketingproblem – besonders für jene Vorkriegsmarken, deren Werbung sich auf den ‚Orient‘ bezogen hatte und für die Reemtsma-Marken mit ihren ausführlichen ‚tabakfachlichen‘ Erläuterungen. In dieser Situation brachte der Konzern zunächst einige als Übergangsmarken gedachte American Blend-Zigaretten heraus („Collie“, „Fox“) und versuchte parallel, das Orientgeschäft doch wieder zu beleben („Salem“). Als sich das Ende der Orient-Zigaretten schließlich Mitte der 1950er Jahre endgültig abzeichnete, kamen erfolgreiche Vorkriegsmarken als American Blend wieder auf den Markt („Ova“, „Juno“ und eine überarbeitete „Salem“), während die so genannte „German Blend“-Marke „Ernte 23“ – eine Virginia-Mischung mit höherem Orient-Anteil, beworben mit Orient-Motiven – versuchte, an die alten Konsumtraditionen anzuknüpfen.47 Be45 Vgl. Eckelmann: Werbung, S. 69. 46 Zentz: Zigarettenindustrie, S. 32f. 47 Zur Umstellung von Orient- auf American Blend-Zigaretten und ihren Auswirkungen auf die Werbung vgl. auch Rahner/Schürmann: Turban und Friedenspfeife; sowie Jacobs/Schürmann: Rauchsignale.

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kannte Markennamen und nur wenig veränderte Erscheinungsbilder sollten also Kontinuität suggerieren, während die Nachkriegszigaretten ansonsten wenig mit ihren Vorgängerinnen gemeinsam hatten – dennoch gelang es, einige der Vorkriegsmarken erfolgreich wieder einzuführen. Name, Verpackung und Werbung ersetzten offenbar die konstanten Produkteigenschaften. Die weiteren Merkmale der Zigarette wurden mit der Expansion des Reemtsma-Konzerns in einem Ausmaß standardisiert, das Branchenkenner lange für unmöglich gehalten hatten. Noch Anfang der 1920er Jahre hatten manche Hersteller bis zu zwanzig unterschiedliche Varianten produziert – rund oder oval, dick oder dünn, lang oder kurz, mit Goldmundstück oder ohne. Zeitgenössische Analysten waren der Ansicht, die Konsumenten seien nicht bereit, auf diese Vielfalt zu verzichten.48 Philipp F. Reemtsma hingegen schrieb im Rückblick, es habe sich abgezeichnet, dass die „Aufsplitterung des Marktes auf viele Sorten“ zu Ende gehen würde.49 Tatsächlich gelang es ihm, das Konzern- wie das Unternehmenssortiment nach 1925 von insgesamt 400 (im Jahr 1925) auf 25 Marken zu reduzieren, ohne dass die Umsätze einbrachen. Für den einen mächtigen Konzern war dies weit weniger riskant als für ein Einzelunternehmen, doch auch Reemtsma ging nicht so weit, die aufgekauften Marken ganz vom Markt zu nehmen und stattdessen eigene oder ‚Einheitszigaretten‘ durchzusetzen. Die umsatzstärksten ehemaligen Konkurrenzprodukte erschienen weiter, oft ohne wesentliche Veränderungen, so dass die Pluralität des Angebots ein wichtiges Charakteristikum des deutschen Zigarettenmarktes blieb. Auch Hans Domizlaff beschrieb das Bedürfnis der Raucher, etwas Individuelles zu konsumieren – und zog daraus den Schluss, trotz aller Standardisierung in der Herstellung und Mischung müssten Verpackung und Werbung eine Spezialität suggerieren.50 Was das konkret bedeutete, demonstrierte die Bezeichnung „Araber-Format“, unter der die Marke „Ova“ 1927 auf den Markt kam: Laut Domizlaff handelte es sich dabei um „eines jener geisterhaften Worte, [...] deren Tenor ausreichend wirkt und Überzeugungen von Zweckmäßigkeit, Qualität und Zuverlässigkeit schafft, ohne daß irgendeine Substanz vorhanden ist.“ 51

Manche Konsumenten hätten „tiefsinnige Betrachtungen“ darüber angestellt, „ohne dabei auch nur auf den Gedanken zu kommen, tatsächlich einmal das Format der Ova mit den Formaten der anderen Zigaretten zu vergleichen“ – sie habe ausgesehen wie alle anderen.52 Die Strategie, eine banale Eigenschaft der Zigarette zur Spezialität zu erheben, wurde auch später bisweilen verfolgt: Bei der Marke „Atikah“ etwa wurde in den 1930er Jahren stets das nicht vorhandene Mundstück betont und jenes der Konkurrenzmarken als maniriertes und altmodisches Bei48 Hausberg: Zigaretten-Industrie, S. 30. Der Autor verweist an dieser Stelle auch auf Zentz: Zigarettenindustrie. 49 Reemtsma: Aufbau, S. 214; vgl. auch Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 219f . 50 Ebd., S. 210. 51 Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 228f. 52 Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 228f.

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werk verdammt, während bei „Astor“ in den 1950er Jahren die Vorzüge des Korkmundstücks hervorgehoben wurde. Den äußeren Rahmen für die Sortimentsentwicklung bildeten Preisklassen, die mit der 1906 eingeführten Banderolensteuer entstanden waren. In den 1920er Jahren lagen Reemtsmas Zigaretten in den mittleren und höheren Preisklassen ab 10 Pf. pro Stück, Haus Neuerburg war der Hauptlieferant der „mittleren“ 6- bis 10-Pf.-Zigaretten, und die zur Jasmatzi-Gruppe gehörenden Firmen Adler, Delta und Josetti sowie Yenidze stellten vor allem billigere Marken zu 3 Pf. her, die sogenannte Konsumpreisklasse. Diese Aufteilung war nicht unproblematisch, da Steuererhöhungen wiederholt das Marktgefüge in Bewegung und zahlreiche Unternehmen in Schwierigkeiten brachten. Reemtsmas Versuch, das eigene Angebot ab 1921 mit der ersten Version der „R6“ zu 4 Pf. zu verbreitern, misslang, die Übernahmen von Jasmatzi und Yenidze schufen nur kurzzeitig Abhilfe, da wenig später die billigen Marken durch Steuererhöhungen unrentabel wurden, während die Raucher zu den 5- und 6-Pf.-Marken abwanderten. Dort hatte der Konkurrent Haus Neuerburg mit der Marke „Overstolz“ Erfolge, während die Marktanteile der insgesamt 14 Reemtsma-Marken zu diesem Zeitpunkt nicht einmal in der Summe an deren Umsätze heranreichten. Die Notwendigkeit einer starken Marke als Antwort auf Haus Neuerburg bildete den Hintergrund für die (nach drei erfolglosen Anläufen) vierte Variante der „Ova“ zu 5 Pf., die ab 1927 tatsächlich das Geschäft stabilisierte.53 Auch das vorläufige Aus dieser Marke – nur zwei Jahre später – hing von externen Faktoren ab: Dieses Mal verteuerten sich die Zigaretten durch eine neue Steuererhöhung auch für die Verbraucher, wodurch der Konsum einbrach und der Schmuggel aus den Niederlanden um sich griff. Als per Notverordnung die neuen Preisklassen 2½ und 3⅓ Pf. eingeführt wurden, verbilligten die beiden Branchenriesen Reemtsma und Haus Neuerburg auf Bitten des Finanzministeriums ihre 5- und 6-Pf.-Zigaretten („Ova“, „Overstolz“ und „Ravenklau“) nicht, und wie erwartet verloren diese zugunsten der neuen, billigen Marken an Bedeutung.54 Laut Philipp F. Reemtsma nahmen beide Hersteller „das Handicap auf sich, um die Tabaksteuerreform nicht scheitern zu lassen, und auch in der Erwartung, deren Richtigkeit sich später bestätigte, daß sie in der Lage sein würden, mit anderen Marken den schwindenden Umsatz aufzufangen“.55 Tatsächlich trat bei Reemtsma „R6“ an die Stelle von „Ova“. Wurden die UnternehmensMarken an anderer Stelle auch als „Organismus wie eine Pflanze oder ein Tier“56 mit einem „Gesicht wie ein Mensch“ beschrieben57 – in ökonomischen Krisensituationen war das Handeln frei von Sentimentalität.

53 Vgl. hierzu Jacobs: Rauch, S. 51f. sowie Reemtsma: Aufbau, S. 214 und Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 215ff. 54 Ab 1931 brachen die Umsätze der Marke „Ova“ ein, ab 1932 wurde sie nicht mehr beworben, Mitte der 1930er Jahre hatte sie laut einer Aufstellung im Werbemittelarchiv, Bestand Werbeabteilung, einen Marktanteil von 0,5 Prozent. 55 Reemtsma: Aufbau, S. 215. 56 Reemtsma: Aufbau, S. 217f. 57 Vgl. Domizlaff: Markentechnik, S. 9.

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Abgesehen von brancheninternen Verwerfungen war der deutsche Zigarettenmarkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch durch seine ausgeprägte regionale Differenzierung ein schwieriges Betätigungsfeld: Die Verkaufsgebiete der gängigen Marken waren (zum Teil äußerst eng) begrenzt. Für die Hersteller war es mühsam bis aussichtslos, mit eigenen Produkten in die Domänen der Konkurrenz eindringen zu wollen; als Expansionsstrategie blieb die Übernahme der dort ansässigen Hersteller. Nicht zuletzt deswegen warnte Hans Domizlaff vor der Herausbildung eines „Reemtsma-Stils“ und postulierte: „Eine Marke ist ein Unternehmen. Zwei Marken sind zwei Unternehmen.“58 Ein bestimmter Stil sei „nur zu einem bestimmten Prozentsatz oder für bestimmte Gegenden zum Gleichklang befähigt“, und so könnten weder mehrere Marken in einer wichtigen Preisklasse platziert noch getrennte Gebiete bedient werden. Schnell hänge damit das Schicksal des Unternehmens an einer einzigen Marke, und bei Marktschwankungen bestünden keine Reserven, „um Abtrünnige aufzufangen oder dem Verbraucher eine neue Alternative anzubieten“.59 Wo eine Marke erfolgreich sein würde, ließ sich auch bei flächendeckenden Verkaufsanstrengungen kaum vorhersagen, wie sich bei der Einführung der Reemtsma-Marken „Ova“ und „Ernte 23“ zeigte: Trotz deutschlandweiter Werbung bildeten sich nach der Einführung von „Ernte 23“ ab 1925 laut Firmengeschichte „eine Domänenstellung in Südbayern, eine gute Position in Nordbayern und ein nach dem Kopfverbrauch nicht sehr starkes, aber konstantes Geschäft in Thüringen, in Plauen, dem südlichen Sachsen und in Schlesien mit Ausnahme der Stadt Breslau“ – in den übrigen Gebieten verkaufte sich die Marke nicht. Ebenso wenig gelang es, 1927 die neue „Ova“ auch in den „Ernte“-Regionen durchzusetzen. Stattdessen entstanden voneinander abgegrenzte Verkaufsgebiete, so dass Reemtsma sich „dem Gesetz [beugte], das der Markt uns aufzwang“ und beide Marken parallel, aber mit identischer Werbung führte.60 Die Etablierung von „R6“ als erste deutschlandweit verkaufte Zigarette schließlich beruhte neben dem Einsatz der äußerst populären Sammelbilder und anderer Werbemittel nicht zuletzt auf der Arbeit der 1935 gegründeten „Interessengemeinschaft der Deutschen Cigarettenindustrie“ unter dem Vorsitz Philipp F. Reemtsmas: Er berichtete, durch das „Instrument der damals zulässigen Kartellpolitik“ habe er „ernsthafte Einbrüche in die R6-Domänen verhindern“ können und etwa dem Konkurrenten Haus Neuerburg für die gleiche Preisklasse nur die Einführung der Marke „Güldenring“ mit Goldmundstück gestattet, „so daß auch von dieser Seite aus das R6Geschäft nicht tangiert werden konnte.“61 Die Verpackung als Erkennungszeichen einer Zigarettenmarke gewann im Verlauf der 1920er Jahre erheblich an Bedeutung: Durch die 1926 eingeführte 10Stück-Packung ging der Verkauf loser Zigaretten zurück, und die Käufer geschlossener Packungen gewöhnten sich an, regelmäßig die gleiche Marke zu kau58 59 60 61

Ebd. Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 216f. Reemtsma: Nachdenkliches, S. 272. Reemtsma: Aufbau, S. 217.

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fen.62 Sie nahmen sie also mit nach Hause, bewahrten sie im privaten Raum (vielleicht sogar an einem bestimmten Platz) auf, legten sie im Café auf den Tisch – die Packung unterstützte die Funktion der Zigarette als Medium der Selbstinszenierung und transportierte das symbolische Kapital der Marke. Entsprechend ausführlich wurde bei Reemtsma über Farben und Gestaltungselemente reflektiert – mit Ergebnissen, die bisweilen eher kurios erscheinen, aber Aufschluss darüber geben, wie im Unternehmen versucht wurde, die kaum vorhersehbaren Entwicklungen des Marktes wenigstens im Nachhinein sinnvoll zu deuten. Die Packung der ersten „R6“ aus dem Jahr 1921 orientierte sich farblich (rot und grün) noch an den populären zeitgenössischen Talmiimporten (d.h. Zigaretten, die eine ausländische Herkunft suggerierten) und enthielt stilisierte Orientmotive wie eine Palme, eine Moschee, Halbmonde und Hieroglyphen, den Überdruck „Reemtsma-Sorte R6“, das Deffke‘sche Warenzeichen sowie ‚tabakfachliche‘ Erläuterungen, die in einem so genannten „Kontrollzettel“ aufgegriffen wurden. Die letzten drei Elemente wurden später charakteristisch für den Stil des Hauses und Domizlaffs Markenentwicklungen; ansonsten bezeichnete der Werbechef diese frühe Marke als Kompromisslösung, die nur zaghaft in Richtung seines Ideals ging, „soweit der Raucher sich aus dem Plüschsofa-Bereich seiner Gewohnheiten herausziehen ließ, ohne die Luft zu kühl zu finden.“63 Er habe sie so ausschmücken müssen, „daß sie der Vorstellung des einfachen Mannes von einer höheren Klasse“ entsprach.64 Die später offensiv vertretene Distinktionsstrategie war also zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs ausgereift. Auch von seiner Entwicklung „Ernte 23“ war Domizlaff nicht überzeugt, er war wegen der Packungsfarbe, „eine Art Ledergelb“, zunächst skeptisch, weil die Preisklasse seiner Meinung nach eine rote erforderte. Den Erfolg der Marke in Süddeutschland begründete er dann damit, dass die Farbe sich als „gutes Komplement zu den blauweißen bayerischen Landesfarben“ erwiesen habe65 – eine Deutung, die sich auch noch in aktuelleren firmeneigenen Darstellungen findet.66 An anderer Stelle wurde auf monarchistische Traditionen verwiesen, zu denen der Stil der Packung passe: In Bayern sei die Österreichische Tabakregie stark gewesen, während in Berlin „ein Teil der Bevölkerung durch den hohen Anteil von Angehörigen der ehemaligen Habsburger Monarchie in einem gewissen Umfang für Cigaretten der Austria inklinierte.“67 Domizlaffs Bericht über die wenig später folgende „Ova“ – eine Marke der „Kampfzeit“, an der er wenig Gefallen fand – ist eine bissige Abrechnung mit seinem Auftraggeber: Sie sei „das Ergebnis einer der nüchternsten und lieblosesten Wirkungsberechnungen, die ich jemals gemacht habe“,68 die Packungsgestaltung geprägt von vorgetäuschter Fachlichkeit und Effekthascherei: Rote Farbe und Stempel sollten die Zigarette „wichtig machen“, der Schriftunterdruck (mit 62 63 64 65 66 67 68

Ebd., S. 215. Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 67. Ebd., S. 71. Ebd., S. 221. So etwa in Dorén: Cigarettenanzeige, o.S. Reemtsma: Nachdenkliches, S. 272. Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 225.

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dem Bezug auf die in Abschnitt 5 dieses Beitrages beschriebene Raucherumfrage) neugierig machen und „auch dann, wenn er nicht gelesen wurde, immerhin ein Gefühl des Geheimnisvollen und Inhaltsreichen [hervorrufen]“. Dass die Marke einige Jahre lang die erfolgreichste im Reemtsma-Sortiment war, bezeichnete er als „verwunderlich.“69 Bemerkenswert ist, dass hier allein die Packungsgestaltung für Erfolg oder Misserfolg der Marke verantwortlich gemacht wurde, nicht aber die Werbung – sie war, wie beschrieben, für beide Marken identisch und denkbar weit davon entfernt, mit blau-weißen Landesfarben zu harmonieren oder an monarchistische Sehnsüchte zu appellieren. Bei der zweiten „R6 o/M“ (d. h. ohne Mundstück) von 1932 folgte Hans Domizlaff deutlich konsequenter seinem Konzept der Markentechnik: Die orientalischen Elemente auf der Packung entfielen und wurden durch Texte über Fabrikationsmethoden und Qualitätsmerkmale ersetzt. Auch die 1950 wieder eingeführte „Ova“ führte den „Informationsstil“ auf der Packung fort, u. a. mit einem Text auf der 24-Stück-Packung: „Die beiden voneinander unabhängigen Stanniolhüllen sichern durch ihre elastische Anpassungsfähigkeit bis zuletzt eine pflegliche Lagerung der Cigaretten und durch die Stufenfolge der Entnahme eine erhöhte Frischhaltung.“ Bereits bei „R6“ hatte sich zudem eine integrierte Strategie für Packungsgestaltung und Werbung durchgesetzt, die beide auf dem Topos ‚fachliche Information‘ beruhten. Das war nicht bei allen Konzernmarken selbstverständlich: Die Yenidze-Marke „Salem Aleikum“ etwa wurde in einer mit Arabesken geschmückten Packung verkauft, aber vor der Übernahme mit Sportmotiven und formell gekleideten Angestellten beworben. Der in den 1930er Jahren verwendete, intern „Salem-Ahmed“ genannte, orientalisch aussehende Mann und das „Tabakmoschee“ genannte Yenidze-Gebäude schufen hier mehr Stringenz (die Kombination mit nationalistischen Parolen und häufige Inserate in NSZeitungen scheinen nicht widersprüchlich gewirkt zu haben), doch nach der Neuauflage als American Blend 1950 wiederum setzte die Werbung auf AbenteuerComics, Würfel und strenge grafische Anordnungen, während Packungsdesign und Name unverändert blieben. Auch wenn Werbung, Produktgestaltung und Markenname nicht immer inhaltlich übereinstimmten, setzen die deutschen Zigarettenhersteller bei der Benennung im Großen und Ganzen auf die in der Werbung verwendeten Motive: Sehr verbreitet waren ausländisch klingende Namen mit arabischen („Aladin“, „Kalif von Bagdad“, „Moslem“), griechischen („Diogenes“, „Xanthia“) oder ägyptischen Anklängen („Aida“, „Luxor“, „Ramses“), dazu englische („Cambridge”, „Eton-Club”, „House of Lords”) oder französische („Chic“, „Fleur“, „Gil d‘Or“) sowie nach dem Zweiten Weltkrieg amerikanische (“Texas“, „Gold Dollar“). Vor allem um den Ersten Weltkrieg hatten deutschtümelnde oder militaristische Markennamen („Appell“, „Attacke“, „Disziplin“, „Oberst“, „Reichsadler“) eine gewisse Rolle gespielt, und Marken wie „Gibson Girl“ waren zu „Wimpel“, „House of Lords“ zu „Herrenhaus“ eingedeutscht worden; regimenahe Hersteller boten in der NS-Zeit „Braunhemden“ oder „Arbeitsdienst“ an. Die regionale Dif69 Ebd., S. 224–225.

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ferenzierung des Marktes spiegelte sich in Bezeichnungen wie „Bayern-Hiebe“, „Preussen-Gold“, „Sachsenkrone“ oder „Siebeneichen“, dazu der Themenkreis um Adel, Oberschicht und Luxus („Astor“, „August der Starke“, „Fürsten“). Wie in der Werbung setzte sich Reemtsma auch hier mit modern-sachlichen Anklängen ab: „R6“ lehnte sich an die Kürzel zur Kennzeichnung von Rohtabaken und Tabakmischungen an – dass auch der Anfangsbuchstabe des Firmennamens enthalten war, dürfte willkommen gewesen sein, auch wenn Hans Domizlaff die „phonetische Wirksamkeit“ betonte und den Gleichklang als Zufall darstellte.70 Einige der von Wilhelm Deffke entworfenen Marken hatten noch Abwandlungen des Inhabernamens wie „Reemtsmagold“ getragen, bevor Domizlaff die Abkehr vom ‚Firmenstil‘ durchsetzte. 4. SAMMELBILDER ALS BEIGABEN Zu den allein aufgrund ihrer riesigen Auflagen am besten überlieferten Werbemitteln des Reemtsma-Konzerns aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gehören die Sammelbilder und dazu gehörigen Alben. Solche Bilder als Zugaben zu Markenartikeln waren in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert aufgekommen, zunächst als hochwertige Beigaben zu Luxusartikeln. Um die Mitte der 1920er Jahre wurde die Zigarettenindustrie in diesem Feld aktiv, womit sich Erscheinungsform und Sammelkultur stark veränderten: Statt hochwertiger Bilder, die in thematisch nicht festgelegten Alben gesammelt wurden, lagen nun einfache Drucke bei, die als Illustrationen in Bücher eingeklebt wurden, welche sich ihrerseits mehr und mehr zu Monographien über unterschiedlichste Themen entwickelten.71 Die Zigarettenpackung war, so der Leiter des Reemtsma-Bilderdienstes, in der Firmengeschichte „als Träger dieser Werbung besonders geeignet“, da sie täglich gekauft werde und der Sammler so täglich neue Bilder bekomme; darin unterscheide sich die Zigarette von anderen Markenartikeln, da keiner „in dem gleichen regelmäßigen Fluß in den Konsum strömt.“ So erkläre sich auch die schnelle Dominanz der Zigarettenindustrie bei der Verbreitung dieser Bilder. Schon bald waren Sammelbilder eine selbstverständliche Zugabe bei Zigaretten der günstigen Konsumpreisklasse.72 Reemtsma vertrieb zunächst nur über aufgekaufte Firmen wie Bulgaria und Massary solche Bilder und trat erst mit der „R6“ von 1932 selbst als Herausgeber in Erscheinung. Die Unternehmensleitung und vor allem Hans Domizlaff lehnten die Zugabe für unternehmenseigene Marken lange ab – sie galten als „nicht vereinbar mit den Grundsätzen des von ihr betriebenen Qualitäts- und Markengeschäfts“ – doch schließlich ließ sich Philipp F. Reemtsma überzeugen und verpflichtete einen Berater für die Gestaltung der ersten eigenen Bilderserien. 70 Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 26ff. 71 Zur Geschichte der Sammelbilder vgl. die Einführung in: Jussen (Hg.): Reklame-Sammelbilder. 72 Lose: Bilderdienst, S. 293.

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Gleichzeitig wurde ein neues Sammelsystem eingeführt: In den Packungen der „R6“ lagen nicht mehr die einzelnen Bilder, sondern nummerierte Gutscheine bei, von denen zwei Reihen von 1 bis 50 eine komplette Serie bildeten. Für die Hersteller hatte dies den Vorteil, dass die Bilder im Format größer sein konnten als die Packung, die Sammler konnten komplette Sätze bestellen und aus mehreren parallel laufenden Serien wählen. Die interne Firmengeschichte berichtet, durch seine „wertpapierartig[e]“ Ausführung habe der Scheck, der nun auch allen höheren Preisklassen beigelegt wurde, ein „Wertgefühl aus[gelöst], welches sich auf die Cigarette übertrug.“ Mindestens ebenso entscheidend für den Erfolg dürfte gewesen sein, dass Philipp F. Reemtsma das System in der gesamten Zigarettenindustrie durchsetzte: Mit Gründung der Interessengemeinschaft 1935 wurde die Verbreitung des Bilderschecks allen beteiligten Firmen unter der Bedingung gestattet, dass diese sich verpflichteten, auch in den billigen Preisklassen keine Einzelbilder mehr beizulegen.73 Um den Versand der Bilder zu organisieren, entstand der Cigaretten-Bilderdienst Altona-Bahrenfeld mit 150 Beschäftigten, der sich zu einem der größten Verlagshäuser des Deutschen Reiches entwickelte. Von Januar 1932 bis Mai 1943 wurden 13,75 Milliarden Bilderschecks den Packungen beigelegt, 4,13 Milliarden Bilder geliefert und 18,75 Millionen Alben im Fachhandel verkauft. Etwa 50 Prozent der ausgegebenen Bilderschecks wurden eingelöst, 80 Prozent der Sammler kauften die zugehörigen Alben.74 Unter den 16 firmeneigenen Titeln erreichte das Album „Adolf Hitler“, das von 1936 bis 1943 erschien, die höchste Auflage; sehr erfolgreich waren weiterhin die „Deutschen Märchen“ von 1939 sowie die Olympia- und die naturkundlichen Alben.75 Die Darstellung in der Firmengeschichte, zusammen hätten die Alben „Sammelwerke einer einheitlich ausgestalteten Bibliothek“ ergeben und für jedes seien „sachverständige Schriftsteller und Künstler“ verpflichtet worden, ging darüber hinweg, dass in „Adolf Hitler“ Texte von Joseph Goebbels, Albert Speer und Fritz Todt sowie Fotos von Heinrich Hoffmann veröffentlicht wurden. Zu weiteren NS-Propaganda-Alben („Deutschland erwacht“, „Raubstaat England)“ heißt es, diese seien „gegen unser Wünschen und Wollen vom Propagandaministerium aufgezwungen“ worden, allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass die Unternehmensleitung auch nur ansatzweise versucht hatte, sich zu widersetzen.76 Zudem hatte die von Reemtsma dominierte deutsche Zigarettenindustrie schon 1933 als Gemeinschaftsausgabe in Zusammenarbeit mit dem Propagandaministerium zwei Alben namens „Deutschland erwacht“ und „Kampf um’s Dritte Reich“ herausgebracht, 1934 den Band „Der Staat der Arbeit und des Friedens. Ein Jahr Regierung Adolf Hitler“ sowie die Konzernfirma Zuban im gleichen Jahr das Album „Die Völker Europas. Ein Beitrag zur Rassenkunde“. Tino Jacobs fasst zusammen, im „NS-typischen arbeitsteiligen Prozess der Delegierung von Belangen der Regimeführung an privatwirt73 74 75 76

Lose: Bilderdienst, S. 294f. Ebd. Tabelle in Lose: Bilderdienst, S. 295. Lose: Bilderdienst, S. 294; vgl. hierzu auch Jacobs: Rauch, S. 136.

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schaftliche Akteure“ habe sich der Reemtsma-Bilderdienst „vollends zu einer Propagandazentrale entwickelt, die – gewinnbringend – mit den staatlichen Stellen zusammenarbeitete“.77 In der Firmengeschichte von 1953 werden der Bilderdienst und die Sammelbilder nicht im Band über Markenpolitik und Werbeaktivitäten aufgeführt, sondern als eigener Abschnitt im Band zur Zentrale – diese „neuartige Form der Werbung“ sei im Unternehmen „von jeher als eine Spezialaufgabe“ angesehen worden und habe sich nicht in der Gestaltung von Bilderserien und Alben erschöpft, sondern habe vor allem die Abwicklung des Kontakts mit den zahlreichen Sammlern erfordert.78 Insgesamt werden die Sammelbilder in der Selbstdarstellung, in der die sonstigen Werbeaktivitäten ausführlich erörtert werden, selten erwähnt. Diese Form der Werbung, die ab 1932 einen sehr wichtigen Erfolgsfaktor darstellte, passte abgesehen von ihrer mittlerweile anrüchigen Funktion als Unterstützung der NS-Politik wohl weder zur stets mit Stolz betrachteten Ausrichtung der Werbung an der Domizlaff‘schen „Markentechnik“ noch zum Selbstverständnis als Vorreiter der Markenentwicklung und Schöpfer innovativer Kampagnen. 5. DIREKTE KOMMUNIKATION MIT DEM KONSUMENTEN Die an verschiedenen Stellen beschriebene Entwicklung von Produkten für eine spezifische Marktsituation deutet bereits darauf hin, dass der Zigarettenmarkt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht mehr als Verkäufer-, sondern als Käufermarkt funktionierte und die Hersteller zumindest teilweise Strategien verfolgten, die heute als Marketing bezeichnet werden. In diesen Kontext lässt sich auch die „Raucherumfrage“ einordnen, mit der die vierte Variante der Marke „Ova“ 1926 vorbereitet wurde. Im September und Oktober 1926 schaltete Reemtsma in der Berliner „Illustrierten Zeitung“ eine Reihe von sieben Anzeigen, illustriert mit Zeichnungen von Tabakanbau, -ernte und -verkauf in der Türkei, in denen die Leser aufgefordert wurden, ihre Erfahrungen mit den sechs Hauptmarken des Unternehmens („Ernte 23“, „Sascha“, „Gelbe Sorte“, „Burnu“, „Senoussi“ und „Erste Sorte“) per Brief zu schildern. Als Prämien und „Entgelt für die Mitarbeit“ würden insgesamt 105.000 Mark ausgegeben. Der Text der ersten Anzeige verwies auf den nahenden Termin für den Einkauf von Orient-Tabaken – bevor man eine Entscheidung treffe, „möchten wir durch eine weitgehende Umfrage unter den Freunden unserer Cigaretten die Wünsche und Geschmacksbedürfnisse der Raucher genau feststellen, um danach unsere Einkaufs-Anweisungen nochmals überprüfen zu können“, und zudem herausfinden, ob die Raucher weiterhin zahlreiche Sorten oder eine neue „Einheitscigarette“ wünschten. Hier wandte sich also, so die Rhetorik, der Hersteller direkt an die Konsumenten, erläuterte seine strategischen Überlegungen für die kommende Saison und legte dar, dass die Antworten einen direkten Ein77 Jacobs: Rauch, S. 136. 78 Lose: Bilderdienst, S. 295.

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fluss auf das zukünftige Angebot haben würden. Eine weitere Anzeige spezifizierte die Fragestellung: Die Raucher sollten mitteilen, „welche persönlichen Beobachtungen Sie beim Genuß einer oder mehrerer unserer folgenden Hauptsorten machen konnten“ und neben persönlichen Daten, der Tageszeit des häufigsten Rauchens und den verschiedenen konsumierten Marken oder „Specialcigaretten“ detaillierteste Schilderungen des Genussempfindens abgeben: „Versuchen Sie bitte, sich darüber klar zu werden, warum Sie diese oder jene Sorte als Ihre Spezialcigarette gewählt haben, zu welcher Tageszeit oder bei welcher Gelegenheit Sie die eine oder andere Cigarette bevorzugen, wie diese oder jene Cigarette bei Ermüdung oder bei starken Erregungen oder auch bei vollkommener Ruhe Ihre Stimmung und Ihr Empfinden beeinflußt. Sie werden bei solchen Versuchen erstaunt sein, welche interessanten Feststellungen Sie machen werden. Diese Feststellungen bitten wir, uns mitzuteilen.“

In der folgenden Anzeige wurden „zwei kürzlich eingesandte Zuschriften als Beispiele“ zitiert und analysiert: Demnach hatte ein Raucher berichtet, er habe jahrelang „Gelbe Sorte“ geraucht, bis sie ihm eines Tages nicht mehr geschmeckt habe; nach längerem Probieren habe er dann „Burnu“ gefunden, „die mir zu dieser Zeit mehr zusagt“, doch vor zwei Monaten habe ihm ein Bekannter wieder „Gelbe Sorte“ angeboten, „und ich war erstaunt über ihre Güte und das Aroma […].“ Die ‚Auswertung‘ lautete, da die Mischung der „Gelben Sorte“ sich nicht verändert habe, könne das Umschwenken des Rauchers „nur auf eine Geschmacksermüdung zurückzuführen sein, die durch veränderte Stimmung oder Lebensunregelmäßigkeiten entstehen kann“; es sei nun „wesentlich, festzustellen, ob tatsächlich das körperliche oder seelische Leben des Einsenders zu der fraglichen Zeit einer besonderen Belastung unterworfen war. [...].“ Die Wahl einer „Kontrastmarke“ und die Rückkehr zur eigentlichen Lieblingsmarke bestätigten im Übrigen den bisherigen Aufbau des Reemtsma-Sortiments. Ein zweiter Raucher wurde mit dem Bericht zitiert, am Monatsanfang, wenn er Geld habe, rauche er „Senoussi“, später dann „billige Zigaretten, die mir nach der Senoussi nicht schmecken“; erst seit der neuen Marke „Sascha“ machten ihm auch billigere Zigaretten Vergnügen. Laut ‚Auswertung‘ bestätigte dies die Qualität beider Marken; „Sascha“ sei für eine so billige Zigarette besonders „abgerundet.“ Der Anzeigentext resümiert, beides seien „verwertbare Zuschriften“ und appelliert an weitere Raucher, die im eigenen Interesse „die kurze Zeit ernstlichen Nachdenkens und das Briefporto“ opfern sollten, „denn für jeden Raucher muß es von außerordentlicher Bedeutung sein, seine persönlichen Erfahrungen zur Geltung bringen zu können.“ Ob es sich bei den zitierten Berichten um authentische Einsendungen handelte, ist unklar und scheint zweifelhaft. Philipp F. Reemtsma berichtete jedoch in der internen Firmengeschichte von 60.000 Briefen, an deren Urheber ein von Hans Domizlaff (unter dem Pseudonym Stephan Dirk) verfasstes Buch mit dem Titel „Die Cigarette: ein Vademecum für Raucher“79 sowie Probepackungen der neuen Marke verschickt worden seien80 und auch Domizlaff erwähnt eine „riesige Zahl“ von

79 Der Titel lautete: Stephan Dirk: Die Cigarette. Ein Vademecum für Raucher, Leipzig 1924. 80 Reemtsma: Aufbau, S. 214.

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Antworten.81 In jedem Fall wird aus den Anzeigentexten deutlich, dass das Ziel der „Raucherumfrage“ wohl weniger eine tatsächliche Erkundung des Marktes und der Konsumgewohnheiten war, als eine pseudo-demokratische Bestätigung der eigenen Sortimentsstrategie. Philipp F. Reemtsma formulierte das Ziel, „die damalige Psychose [sic!] der Konsumenten [...] abzufangen und den späteren Einsatz einer starken Marke, nachdem die Aufmerksamkeit des Marktes auf uns gelenkt war, psychologisch vorzubereiten“.82 Mit dem Versprechen an die Raucher, ihre persönlichen Erfahrungen und Befindlichkeiten würden sorgfältig analysiert und berücksichtigt, sollte eine Bindung an das Unternehmen und seine Produkte aufgebaut werden; der therapeutische Sprachduktus suggerierte eine große persönliche Nähe und spekulierte offensichtlich auf die Bereitschaft der Konsumenten zu Selbstanalyse und schriftlicher Mitteilung derselben. Hans Domizlaff hielt im Übrigen nichts von dieser „Umfrage“: Sie sei ein „Werbemittel in der Art der damals üblichen Preisausschreiben“ gewesen und habe trotz der großen Zahl der Einsendungen und ausgelobten Preise keinen spürbaren Effekt gehabt. Letztlich habe sie lediglich den Text für den Überdruck auf der „Ova“-Packung geliefert83 – dieser war wegen seiner geringen Größe und kleinen Schrift unter normalen Umständen kaum zu lesen und lautete: „Die Raucherumfrage der Reemtsma-A.G. im Jahre 1926 ließ ein Bedürfnis erkennen, das bisherige Sortiment mit einer Mischung aus klaren, frischen macedonischen Bergtabaken zu ergänzen. Trotz der hohen Preise dieser echten Ova-Tabake wurde die Ergänzung mit der vorliegenden Ova-Cigarette durchgeführt und damit das Reemtsma-Sortiment lückenlos vervollständigt.“

Auch in der Werbung für „Ova“ wurde nicht auf die Umfrage verwiesen, und Philipp F. Reemtsma räumte ein, es sei sehr schwer festzustellen, welchen Anteil sie am Erfolg der Marke hatte, zumal Zugaben für den Handel ebenfalls den Verkauf ankurbelten.84 Bemerkenswert bleibt, dass der Tonfall der Anzeigen einen Ansatz qualitativer Markt- und Konsumforschung vorwegzunehmen schien, der Reemtsma zu dieser Zeit ansonsten noch vollkommen fern lag. Wenn tatsächlich Zehntausende von Rauchern auf die Anzeigen antworteten und ihre Rauchgewohnheiten schilderten, waren sie zudem ein sehr erfolgreicher Versuch, neben den üblichen Werbemaßnahmen einen direkten Kontakt zwischen Unternehmen und Konsumenten aufzubauen. 6. FAZIT In der Werbung und Produktpolitik der Reemtsma Cigarettenfabriken zeigt sich deutlich das für dieses Arbeitsfeld charakteristische Wechselspiel kultureller Deutungen und theoretischer Konzepte auf der einen Seite, externer Marktentwick81 82 83 84

Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 225. Reemtsma: Aufbau, S. 214. Domizlaff: Lehrbeispiele, S. 225. Reemtsma: Aufbau, S. 214.

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lungen und ökonomischer Strategien auf der anderen Seite. Ein ehrgeiziger Unternehmer wie Philipp F. Reemtsma stand vor der Herausforderung, Werbung und Produkte so zu gestalten, dass sie dem – schwer einschätzbaren – „Zeitgeist“ entsprachen; andererseits hatte er angemessen auf oft turbulente Marktentwicklungen zu reagieren, die Expansion seines Unternehmens zu betreiben bzw. die einmal gewonnene Machtstellung zu erhalten. Dies erforderte ein stetiges Abwägen zwischen unternehmerischem Pragmatismus und ‚schöngeistiger‘ Markenpflege oder ‚Einfühlung‘ in die Bedürfnisse der Konsumenten. Die Rekonstruktion von verschiedenen Werbe- und Markenstrategien zwischen 1920 und 1960 zeigt, dass weder wirtschaftliche Entwicklungen und unternehmerisches Geschick noch kunstvolle Werbung allein zum Erfolg führten; sie demonstriert die Notwendigkeit einer integrierten wirtschafts- und kulturhistorischen Analyse. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Berghoff, Hartmut: Marketing im 20. Jahrhundert. Absatzinstrument – Managementphilosophie – universelle Sozialtechnik, in: Ders. (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 11–60. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985. Dale, Ernest: Begegnungen, in: Paul W Meyer (Hg.): Begegnungen mit Hans Domizlaff, Essen 1967. Dirk, Stephan: Die Cigarette. Ein Vademecum für Raucher, Leipzig 1924. Domizlaff, Hans: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Lehrbuch der Markentechnik, Bd 1, Hamburg 1939 (Reprint 1976). Domizlaff, Hans: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Lehrbuch der Markentechnik, Bd. 2: Lehrbeispiele aus der Markenartikel-Industrie, Hamburg 1939/41 (Reprint 1976). Dorén, Gustaf Nils: Die Cigarettenanzeige im Laufe der Reemtsma-Firmengeschichte. Sonderdruck aus dem Geschäftsbericht 1976 der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH Hamburg, Hamburg [1977]. Eckelmann, Peter: Werbung und Werbewettbewerb auf dem deutschen Zigarettenmarkt, Diss. Aachen 1970. Frank, Thomas: The Conquest of Cool, Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism, Chicago/London 1998. Hausberg, Carl: Die deutsche Zigaretten-Industrie und die Entwicklung zum Reemtsma-Konzern unter besonderer Berücksichtigung der Reemtsma-Werke, Würzburg 1935. Jacobs, Tino: Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Diss. Hamburg 2008. Jacobs, Tino: Zwischen Intuition und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, in: Hartmut Berghoff (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 148–176. Jacobs, Tino/Schürmann, Sandra: Rauchsignale: Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte, 45 (2007), S. 33–52. Jäger, Franz: Die Gestaltung von Marke und Werbung, in: Phillip F. Reemtsma: Von Marken- und Marktpolitik. Als Sonderdruck aus den Beiträgen zu einer Firmengeschichte für den Hausgebrauch hergestellt, unveröff. Druck Hamburg 1953, S. 241–263.

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PRODUKTKOMMUNIKATION ALS „BRÜCKENSCHLAG“ ZWISCHEN WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE Das Beispiel der Kosmetikmarke Toscana zu Beginn der 1960er Jahre∗ Elena Brenk 1. EINLEITUNG Markenprodukte sind ein zentraler Bestandteil von „modernen Konsumgesellschaften“1. Wie aktuelle Produktbeispiele zeigen, stellen sie dabei weit mehr als bloße Gebrauchsgegenstände dar. Der von der Marketingwissenschaft beschriebene-Gebrauchsnutzen“ eines Produktes tritt in heutigen Konsumgesellschaften meist hinter dessen „Erlebnisnutzen“, also den mit einem Produkt verbundenen Attribuierungen und Assoziationen, zurück.2 Die Getränkemarke Coca-Cola steht heute beispielsweise für Erfrischung, Lebensfreude aber auch den USamerikanischen Imperialismus und die Marke 4711 ist nicht nur bloßes Duftwasser, sondern gilt auch im Ausland als Symbol für die Stadt Köln. Diese konnotative Aufladung von Produkten und ihr Heraustreten aus der Sphäre des reinen Konsums begannen mit der „Kommunikationsrevolution im 19. Jahrhundert.“3 Seit der Herausbildung von modernen Massenmedien, die von den Produktherstellern extensiv als Kommunikationsplattform genutzt werden, durchlaufen Produkte einen Prozess der „Medialisierung“4. Dieser erfuhr in



Für die kritische Lektüre und hilfreiche Verbesserungsvorschläge danke ich Prof. Dr. Susanne Hilger und Dr. Ulrich Nocken.

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Als Kennzeichen von modernen Konsumgesellschaften werden im Allgemeinen die individuelle Variierung der Bedarfsdeckung bei gleichzeitiger Standardisierung von Massengebrauchsgütern und Ausbildung von Diskursen und Institutionen zur Stiftung von Sinnhorizonten für die erwähnten Wahlakte verstanden; zum Begriff siehe: König: Einleitung, S. 10; Kleinschmidt: Konsumgesellschaft, S. 13. Während der Grundnutzen den reinen Gebrauchswert des Produktes meint, beschreibt der Zusatz- oder Erlebnisnutzen eben eine Art von „symbolischen Obertönen“, die beim Verkauf für den einzelnen Konsumenten entscheidend sind und dadurch zum Hauptnutzen werden; siehe dazu bereits: Vershofen: Wirtschaftsforschung, S. 81 ff; weiterhin: Koppelmann: Produktmarketing; und allgemein Kuß: Marketing-Theorie. Siehe dazu Walter: Kommunikationsrevolution; Hahn: Industrielle Revolution, S. 114. Erstmals benannt von Rainer Gries in: Gries: Medialisierung.

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Deutschland seit den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einen kräftigen Entwicklungsschub und fand mit der Herausbildung der Massenkonsumgesellschaft in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren seinen strukturellen Abschluss.5 Mit der Entstehung von Massenmärkten und der endgültigen Durchsetzung des Prinzips der Selbstbedienung sowie der sich ausweitenden Palette an Massenmedien änderte sich das Verhältnis von Produkt und Produktbotschaft fundamental.6 Produkte wurden zugleich zum Kanal als auch zum technischen Mittler von Informationen. Seit den späten 1950er Jahren, so stellte Rainer Gries heraus, kann man folglich von „Produkten als Medien“ sprechen. Diese moderne Funktion von Produkten als Gegenstände des wirtschaftlichen Austauschprozesses auf der einen und als Teil der Alltagskultur auf der anderen Seite wurde von der historischen Forschung lange Zeit außer Acht gelassen. Gerade die Kulturgeschichte tat sich schwer damit, den „Menschen des Geistes, der Kultur und Moral mit solch profanen Dingen wie Produkten in einem Atemzug zu nennen.“7 Wie aus der „Kritik der Warenästhetik“ (Haug) deutlich wurde, lag dies darin begründet, dass Produkte und ihre Werbung meist nur als bloße Manipulation des Konsumenten wahrgenommen wurden. Die komplexe wechselseitige Verbindung zwischen Verbraucher, Warenobjekt und Hersteller auf modernen Konsumgütermärkten wurde dabei jedoch verkannt.8 Erst in jüngster Zeit hat es einige historische Studien gegeben, die sich mit der vielförmigen Bedeutung von Produkten auseinandergesetzt haben.9 Einen Grundstein für die „moderne Produktgeschichte“ legte Rainer Gries, als er mit seinem dreidimensionalen Modell der Produktkommunikation eine Möglichkeit schuf, die Rolle von Produkten in modernen Konsumgesellschaften historisch angemessen rekonstruieren zu können. Ausgehend von den produktsemantischen Theorien, die sich in den 1990er Jahren herausgebildet haben und das Produkt als Meinungsgegenstand – als konnotativ aufgeladenes „Medium des Sozialen“10 – definieren, hat Gries sein Modell der Produktkommunikation entwickelt. Entgegen den traditionellen Theorien ist darin nicht nur der physische Hersteller eines Produkts der alleinige Kommunikator, sondern ebenso Marktforscher, Zulieferer oder gar Händler. Als aktiver Kommunikationspartner nimmt zudem der Konsument eine zentrale Rolle ein. In der nachstehenden Analyse soll das Gries´sche Modell zur Anwendung gebracht und nach dem Zusammenspiel aller „Kommunikatoren“ für den Erfolg von Produkten auf modernen, sprich dynamisch wachsenden, Konsumgütermärkten, wie sie sich in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert haben,

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Vgl. dazu: ebd., S. 114 ff.; ders./Morawetz: Medialisierungsprozess, S. 216. Siehe dazu: Gries: Medialisierung, S. 59. Vgl. Gries: Produktkommunikation, S. 11. Siehe Schug: Rezension. Vgl. die Einleitung von Hilger/Landwehr in diesem Sammelband. Karmasin: Produkte, S. 167.

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gefragt werden. Im Fokus steht dabei die Rolle des Konsumenten. Inwieweit sind dessen Bedürfnisse und Implikationen für den Erfolg von Produkten verantwortlich? Als Fallbeispiel wird die Kosmetikserie Toscana der „Eau de Cologne- und Parfümerie-Fabrik Glockengasse Nr. 4711 gegenüber der Pferdepost“ von Ferd. Mülhens (im Folgenden bezeichnet als Mülhens), Hersteller der Marke 4711, gewählt.11 Diese Serie wurde bis zum Jahr 1998 auf dem deutschen Markt vertrieben. Als Kosmetikprodukt, bei dem allgemein der „Grundnutzen“ hinter den „Erlebnisnutzen“ tritt, steht Toscana geradezu beispielhaft für das oben beschriebene Heraustreten der Produkte aus der Sphäre des reinen Konsums. Mit der Lancierung der Toscana-Kosmetik versuchte sich Mülhens seit dem Jahr 1961 auf dem Kosmetikmarkt, der in dieser Zeit zu einem dynamischen Massenmarkt anwuchs, zu etablieren. An die dort herrschenden Gegebenheiten, wie starker Wettbewerbsdruck und eine dementsprechend veränderte Rolle der Konsumenten, musste sich das Unternehmen anpassen. Trotz intensiver produktkommunikativer Maßnahmen gelang es Mülhens bis zum Jahre 1964 nicht, Toscana erfolgreich auf dem Markt einzuführen. Das Zusammenspiel von ökonomischen und kulturellen Faktoren für den Erfolg oder eben Misserfolg von Produkten auf modernen Märkten lässt sich daher gerade anhand dieses Beispiels gut veranschaulichen. Dazu wird im Folgenden zunächst das dreidimensionale Modell der Produktkommunikation als heuristisches Hilfsmittel für die nachstehende Analyse vorgestellt. Da das Engagement des Unternehmens auf dem Kosmetikmarkt wesentlich von der veränderten Markt- und Unternehmenssituation geprägt war, erfolgt anschließend ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Unternehmens ab Mitte der 1950er Jahre. In dieser Zeit hatte Mülhens die Phase seines „Wiederaufbaus“ beendet und sah sich einem zunehmend an Dynamik gewinnenden Körperpflegemarkt gegenüber. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen werden anschließend in Anwendung des Gries´schen Modells die verschiedenen kommunikativen Akte mit und über die Toscana-Kosmetik zwischen den Jahren 1961 und 1964 vorgestellt und im Hinblick auf die problematische Marktetablierung der Serie bewertet. Dabei werden die Phasen von 1961–1962 und 1962–1964 einander gegenübergestellt, um die wachsende Bedeutung des Konsumenten im Kommunikationsprozess angemessen darzustellen.

11 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen vornehmlich auf Akten aus dem Unternehmensbestand der Muelhens KG (seit 1990 so benannt), der im Rheinisch-WestfälischenWirtschaftsarchiv in Köln befindet [Bestand Muelhens RWWA 162].

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2. DAS DREIDIMENSIONALE MODELL DER PRODUKTKOMMUNIKATION Die Ausgangsüberlegung von Rainer Gries besteht darin, dass ein Produkt in seiner Funktion als Medium drei kommunikative Komponenten auf sich vereinigt: „Das Produktganze beinhaltet das Produkt an sich, seine Zeichenaura, und das Produkt avanciert zugleich zum Medium, zum Träger all seiner Botschaften.“12 Um dieses komplexe Kommunikationsgeflecht zu versinnbildlichen, hat Gries ein dreidimensionales Modell der Produktkommunikation vorgeschlagen. In der Mitte des von ihm so bezeichneten „produktkommunikativen Kosmos“13 steht das Produkt selbst, versinnbildlicht durch eine mehrschichtige Kugel, deren Kern die physischen Wahrnehmungsdimension bildet. Um diesen herum legen sich in Anlehnung an produktsemantische Theorien14 sogenannte zeichenhafte Produktanteile – zunächst der dünne Ring der „beständigen denotativen Anteile“, die das Wesen des Produktes beschreiben, und dann die „konnotative Aura“, also jene Bedeutungen, die mit dem Produkt assoziiert werden und einem steten Wandel unterworfen sind. Um diese „Produktkugel“ herum gruppieren sich alle denkbaren Kommunikationspartner, die über das Produkt miteinander in Kontakt treten können. Als solche nennt Gries eine Vielzahl an Akteuren, die über verschiedene Achsen oder Kanäle produktbedingt miteinander kommunizieren und das Produkt demensprechend mit Bedeutungen aufladen.15 Durch zahlreiche Rückflusskanäle bildet die Produktkommunikation einen Kreislauf. In ihrem Zusammenspiel prägen somit alle kommunikativen Akte das Image eines Produktes und haben somit Einfluss auf dessen Markterfolg 16 In einem kulturhistorischen Sinne stellt darüber hinaus, so die Gries´sche Vorstellung, das konnotative Engramm17 eines Produktes das sogenannte Archiv18 der Kommunikationen dar, die über das und mit dem Produkt stattfinden. Die Geschichte der semantischen Produktnetze kann daher als Quelle für eine kulturgeschichtlich orientierte Geschichtswissenschaft dienen, weil die kommunizierenden Subjekte diese generieren und modifizieren. Gelingt es, die Attribuierungsgeschichte eines Produktes weitgehend zu rekonstruieren, wird es möglich, auf bestimmte gesellschaftliche Trends oder „Diskurse“ Rückschlüsse zu ziehen.

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Gries: Produkte, S. 89. Ebd., S. 87. Siehe dazu neben der erwähnten Studie von Karmasin auch Reinmöller: Produktsprache. Vgl. dazu Gries: Produkte, S. 113–119. Vgl. ebd., S. 87, und auch Gries: Werbung, S. 88. Ein Engramm ist eine allgemeine Bezeichnung für eine physiologische Spur, die eine Reizeinwirkung als dauernde strukturelle Änderung im Gehirn hinterlässt. Die Gesamtheit aller Engramme ergibt das Gedächtnis, siehe dazu beispielhaft: Lashley: Engram. 18 Nach dem Verständnis der historischen Diskursanalyse bezeichnet das Archiv die gesellschaftliche Bedingung für das Auftauchen von Aussagen, also der historische Möglichkeitsgrund für Aussagensysteme, siehe dazu beispielhaft: Foucault: Archäologie; ders.: Ordnung; Sarasin: Diskursanalyse.

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Für eine angemessene Rekonstruktion der Produktgeschichte hat Gries drei zentrale Kommunikationsachsen herausgestellt, über die die verschiedenen Akteure miteinander in Kontakt treten.19 Dazu gehört erstens die sogenannte „innerbetriebliche Produktkommunikation“. Diese Sphäre umfasst die Überlegungen über die Konzeption des Produktes und dessen Auftritt am Markt, die zwischen der Unternehmensführung und verschiedenen betrieblichen Abteilungen ausgetauscht werden. Daneben bildet die absatzorientierte Kommunikationsachse vom Hersteller zum potenziellen Kunden einen Schwerpunkt des Gries´schen Modells. Sie umfasst die Sphäre der kommerziellen Produktkommunikation und ist Domäne der Wirtschaftswerbung und der Public Relations (PR). Auf dieser so bezeichneten „öffentlichen Achse“ kommuniziert der werbetreibende Produzent über sein Produkt mit dem möglichen Kunden und späteren Verwender. Dazu beauftragt er Werbeagenturen und Institute für Marktforschung.20 Die initiierten Produktbotschaften erreichen die potenziellen Verwender direkt über Printanzeigen und Werbespots, über Prospekte, aber auch durch Verkaufsförderungsmaßnahmen am Point of Sale, wie etwa der Schaufensterdekoration. Eine besondere Aufgabe als Übermittler der Werbebotschaften spricht Gries in diesem Zusammenhang den Händlern und den Verkäufern sowie deren Produkterwartungen zu. Erst wenn diese Akteure sich in der Wahrnehmung des potenziellen Käufers als ein „Ensemble des Verkaufes“21 präsentieren, gelinge es, das Produkt mit Erfolg am Markt abzusetzen.22 Wie Gries weiterhin betont, entstehen weitere Bedeutungen, mit denen ein Produkt aufgeladen wird, häufig auch außerhalb dieser Kommunikationsachsen. Als eine weitere Kategorie in diesem Zusammenhang nennt Gries die „indirekten Produktpräsentationen“. Damit sind vor allem journalistische Äußerungen über das Produkt gemeint, die ebenfalls entscheidenden Einfluss auf dessen Wahrnehmung und mit ihm verbundene Assoziationen haben können.23 Als zentralen Akteur dieser drei Kommunikationsachsen hebt Gries schließlich den potenziellen Käufer und Verwender hervor. Zum einen stellen Kaufentscheidung und Kaufakt die entscheidende und grundlegendste Handlung im produktkommunikativen Prozess dar. Nach Gries sei sie gleichermaßen Teil der Kommunikation des Kunden mit dem Produktanbieter als auch mit dem Handel. Darüber hinaus kann der Kaufakt aber auch als Nachricht an den Hersteller gewertet werden, dass sein Produkt mit seinen gesamten Botschaften „wahrgenommen, akzeptiert, gewählt und gekauft wurde“24.

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Vgl. Gries: Produkte, S. 112. Vgl. Gries/Morawetz: Medialisierungsprozess, S. 215. Gries: Produkte, S. 113. Vgl. ebd., S. 113f. Siehe Gries/Morawetz: Medialisierungsprozess, S. 215. Gries: Produkte, S. 216.

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Zum andern erlangt der Käufer eines Produktes weiterhin besondere Relevanz in diesem Kommunikationsprozess, weil er mit seinem sozialen Umfeld oder mit weiteren potenziellen Käufern oder Verwendern korrespondiert und so entweder Werbung für das Produkt macht oder aber seine Unzufriedenheit über das Produkt ausdrückt. Der Rücklauf dieser Informationen vom Verwender zum Hersteller findet, wie oben dargelegt, über Akteure wie Markt- und Meinungsforschungsinstitute statt, die das Konsumverhalten dokumentieren und sowohl den Bedarf als auch die Kaufmotive der Konsumenten bewerten. Bevor der produktkommunikative Kreislauf im Weiteren in Anwendung gebracht wird, werden zunächst die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen skizziert, um die unternehmerischen Beweggründe für den Start der Toscana-Kosmetik herauszustellen. 3. DIE ENTWICKLUNG VON MÜLHENS VOR DEM HINTERGRUND DES SICH DYNAMISCH ENTWICKELNDEN KÖRPERPFLEGEMARKTES (1955–1966) Mitte der 1950er Jahre gehörte das Unternehmen Mülhens zu den größten deutschen Herstellern von Körperpflegeprodukten. Die Anfänge des Hauses 4711, wie das Unternehmen – in Anlehnung an sein berühmtestes Produkt 4711 Echt Kölnisch Wasser – genannt wird,25 reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Einem Mythos zufolge wird das Jahr 1792 als Gründungsjahr angenommen.26 Der Gründer des bis zum Jahr 1990 familiär geführten Unternehmens war Wilhelm Mülhens (1762–1841). Als Fabrikant von Kölnisch Wasser wird dieser erstmalig im Jahr 1800 erwähnt. Bis dahin oblag die Herstellung von Kölnisch Wasser nur der Firma Johann Maria Farina in Köln. Anfänglich betrieb Wilhelm Mülhens dessen Herstellung daher auch nur neben seinen anderen Geschäften, ohne Angestellte und mit einer niedrigen Produktionsmenge.27 Erst allmählich wurde die Erzeugung von Kölnisch Wasser, im 18. Jahrhundert vornehmlich als Heilmittel verkauft, zur Hauptaufgabe des kleinen Betriebs. Obwohl die Produktpalette des Unternehmens bereits seit den 1920er Jahren auch einige Kosmetika und Seifen um-

25 Siehe dazu: Kaltwasser/Armer: Muelhens, S. 20. 26 In den zahlreichen Firmenfestschriften, die im Unternehmen Mülhens im Laufe der Jahre entstanden sind, wurde stets das Jahr 1792 als Beginn des Unternehmens angegeben. In diesem Jahr soll der Unternehmensgründer Wilhelm Mülhens zu seiner Hochzeit von dem Kartäusermönch Franz Carl Gereon Maria Farina das Geheimrezept des Aqua mirabilis, des späteren Echt Kölnisch Wasser, geschenkt bekommen haben, vgl. dazu: ebd. 27 Mülhens war zunächst in zahlreichen Geschäftsfeldern tätig. So handelte er, wie damals in der Handelsmetropole Köln üblich, mit Getreide und Seefischen, betätigte sich in „Speculations-Geschäften“ und als Finanzier, siehe dazu: Soénius: Mülhens, S. 300.

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fasste,28 bestand das Kerngeschäft des Unternehmens über die Jahre hinweg immer in der Fabrikation von Duftwässern wie der Marke 4711.29 So gelang es Mülhens auch gerade durch diese Traditionsmarke, die international einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte, kriegsbedingte wirtschaftliche Einbußen nach dem Zweiten Weltkrieg schnell zu überwinden.30 Als das Unternehmen im Jahr 1955 die Phase des Wiederaufbaus abgeschlossen hatte, belieferte es wieder 167 Länder mit seinen Erzeugnissen und erwirtschaftete nach Schätzungen einen Jahresumsatz von ca. 50 Mio. DM.31 Bis zum Jahr 1961 stieg der geschätzte jährliche Umsatz exorbitant auf nun 300 Mio. DM an.32 Diese Zunahme war zu einem Großteil dem hohen Internationalisierungsgrad des Unternehmens geschuldet. Bis zum Beginn der 1960er Jahre wurde die Hälfte des Umsatzes vom Exportgeschäft getragen. Daneben profitierte Mülhens von der Expansion des Körperpflegemarktes in der Bundesrepublik, der seit Mitte der 1950er Jahre zu einem der wichtigsten Wachstumsmärkte heranreifte. Zwischen 1954 und 1962 hatte sich die Produktion von Körperpflegemitteln in der Bundesrepublik von rund 300 Mio. auf 900 Mio. DM verdreifacht. Wichtige Wachstumsimpulse gingen dabei von ausländischen, vornehmlich US-amerikanischen Unternehmen aus, die in dieser Zeit verstärkt Kosmetika und Hygieneartikel auf den deutschen Markt einführten und neue Marken implementierten.33 Der Markteintritt der amerikanischen Firmen in der so genannten „zweiten Welle der Amerikanisierung“34 zwang die deutschen Konkurrenten dazu, deren überlegene PR- und Marketingmethoden zu adaptieren, wollten sie nicht drastische Umsatzeinbußen hinnehmen. Um auf diesem an Dynamik gewinnenden Kosmetik- und Körperpflegemarkt konkurrenzfähig zu bleiben, war Mülhens dementsprechend zu einer intensiven „Marktsegmentierung“35, in diesem Fall der Bearbeitung der vom Kerngeschäft

28 Vgl. O. A.: „4711“ – von der Hausnummer zur Weltmarke. Ein führendes Unternehmen in der Körperpflegemittelindustrie, in: Der Volkswirt, 17 (1963), Nr. 6, 239f. [RWWA 162-9-3]; vgl. Soénius: Mülhens, S. 302. 29 Zum Aufstieg der Marke 4711 siehe insbesondere die Studie von Oepen-Domschky: Duftwasser; weiterhin die bereits erwähnte Unternehmensfestschrift von Kaltwasser/Armer. 30 Der Kölnisch Wasser-Verkauf durfte zunächst nur an Angehörige der Besatzungsmächte erfolgen. Als der Absatz seit 1948 auch wieder für die Zivilbevölkerung gestattet wurde, setzte der Wiederaufbau des Unternehmens ein. Siehe dazu die Ausführungen in: Kaltwasser/Armer: Muelhens, S. 149f. 31 Siehe o.A.: „Bei 4711 wird die Hälfte exportiert“, in: Deutsches Wirtschaftsblatt vom 7. 5.1955 [RWWA 162-39-1]. 32 Weil das Unternehmen seine Zahlen nie offen darlegte, spekulierte die FAZ, dass der Umsatz von Mülhens 1961 die Grenze von 300 Mio. DM (zu Vertriebspreisen) erreicht habe; siehe dazu o.A. „4711 weitet Produktion aus“, in: FAZ vom 29.12.1961, o. S. [RWWA 162-39-1]. 33 Siehe dazu: Hilger: „Amerikanisierung", S. 159; dies.: Cooperative Capitalism; de Grazia: Imperium, S. 216. 34 Der Einfluss der USA auf Deutschland ist von der Forschung in „drei große Wellen” unterteilt worden. Die hier benannte zweite Welle umfasst die 1950er und 1960er Jahre. Siehe dazu neben de Grazia: Imperium jüngst Schildt: Amerikanische Einflüsse, S. 435. 35 Tedlow: Mass Marketing, S. 8.

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abweichenden Teilsegmente, gezwungen. Zunächst erwarb das Unternehmen daher Beteiligungen und Firmenanteile an anderen Körperpflegemittelherstellern und ging außerdem Abkommen mit US-amerikanischen Unternehmen, wie beispielsweise Cutex, über den Vertrieb von dekorativen Kosmetika auf dem deutschen Markt ein.36 Durch diese Maßnahmen erweiterte sich das Produktportfolio von Mülhens um weitere Seifen, Haut- und Haarpflegemittel sowie zusätzliche Körpererfrischungsmittel. Der Großteil des Umsatzes entfiel jedoch nach wie vor auf das Eau de Cologne-Segment. Dies änderte sich zu Beginn der 1960er Jahre, als sich der bundesdeutsche Körperpflegemarkt vollends zu einem Massenmarkt ausgebildet hatte. Vor allem die Nachfrage nach Kosmetika stieg seit dieser Zeit enorm an. Spürbar verschärft hatte sich außerdem der Wettbewerbsdruck.37 Gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nur ca. 50 Hersteller von Körperpflegemitteln auf dem bundesdeutschen Markt, hatte sich die Zahl bis zum Jahr 1967 auf 130 erhöht, also mehr als verdoppelt.38 In dieser Situation sorgten „Einbußen bei den [...] Artikeln des traditionellen Sortiments“39 zwischen den Jahren 1961 und 1966 bei Mülhens für eine Stagnation der Umsätze.40 Da zu dieser Zeit außerdem der Export als wichtiges Geschäftsfeld zunehmend an Bedeutung verlor,41 sah sich Mülhens gezwungen, seine Anstrengungen auf dem bundesdeutschen Markt zu erhöhen. Um den dortigen Umsatzeinbußen entgegenzuwirken, erschien ein weiteres Vordringen auf den bis dato von ausländischen Mitbewerbern und Marken dominierten Kosmetikmarkt besonders lohnend. Beobachter rechneten in diesem Teilmarkt mit weiteren enormen Wachstumsquoten, da die Bundesrepublik im internationalen Vergleich noch immer das „größte unbenutzte Marktpotenzial für Schönheitsmittel [Kosmetik]“42 aufwies. Die gestiegene Kaufkraft der weiblichen Bevölkerung, die seit den späten 1950er Jahren, insbesondere durch Teilzeitbeschäftigung, über ein eigenes Einkommen verfügte, sprach ebenfalls dafür, dass sich der Absatz von Kosmetika als typisch weibliche Konsumprodukte steigern lasse.43 Mülhens vertrieb deshalb unter der um 1960 gegründeten Tochtergesellschaft Star-Cosmetics weitere Kosmetika ausländischer Hersteller wie dem ame-

36 Das Unternehmen stockte zunächst seine Anteile an der bereits im Jahr 1923 erworbenen Jünger & Gebhardt AG, die neben Duftwässern und Parfüms vor allem Kosmetika herstellte, von ehemals 50 Prozent auf 80 Prozent im Jahr 1961 auf, siehe dazu: o.A.: „4711 mit 300 Mio. DM Umsatz“, in: Rheinischer Merkur vom 9.2.1962 [RWWA 162-39-1]; Hülle: Wer gehört wem?, S. 3. 37 Siehe 4711-Geschenkepackungen gut verkauft, o.O., o.J. [RWWA 162-39-1]. 38 Vgl. dazu o.A.: „Märkte. Kosmetik“, in: Der Spiegel, 10 (1968) [RWWA 162-39-1]. 39 o.A.: 4711-Geschenkpackungen gut verkauft, 1966 [RWWA 162-39-1]. 40 Lag der Umsatz 1961 bei 300 Mio. DM, überschritt er diese Grenze erst im Jahr 1966, wie aus demselben Zeitungsbericht hervorgeht, vgl. ebd. 41 Der Anteil des Exportgeschäftes am Gesamtumsatz fiel von 50 Prozent im Jahr 1961 auf nur noch 17,5 Prozent im Jahr 1969, vgl. dazu: DIVO-INMAR: Pflegende Kosmetik, S. 1, und „4711 weitet Produktion aus“ [RWWA 162-39-1]. 42 Thue: Schönheit, S. 813. 43 Vgl. o.A.: Körperpflege.

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rikanischen Unternehmen Peggy Sage und der französischen Firma Dr. Payot, auf dem bundesdeutschen Markt.44 Strategien wie diese allein reichten jedoch nicht aus, um sich gegenüber der zunehmenden Konkurrenz45 auch langfristig auf dem Kosmetikmarkt behaupten zu können. Um ein Image als Kosmetikproduzent aufzubauen, entschied sich die Geschäftsleitung um den kommissarischen Geschäftsführer Theodor Jorberg (1959–1962) dafür, Kosmetika nun auch selbst und unter eigenem Namen herzustellen. Als besonders angemessen erschien der Marketingabteilung dabei die Fabrikation von so genannten Systemkosmetika, die komplette Serien zur Schönheitspflege umfassen. Seit Mitte der 1950er Jahre waren sie von ausländischen Unternehmen wie beispielsweise Ellen Betrix erfolgreich auf den bundesdeutschen Markt gebracht worden.46 Bereits 1961, also ein Jahr nach dem Beginn der problematischen Umsatzeinbrüche, brachte Mülhens ein eigenes Systemkosmetikprogramm für Damen auf den Markt.47 Die unter dem Namen Toscana-Kosmetik herausgegebene Kosmetikserie war speziell für den nationalen Markt konzipiert worden und umfasste, in Anlehnung an die Konkurrenzprodukte, sowohl pflegende als auch dekorative Artikel für verschiedene Hauttypen. Die sich verändernde Marktstruktur, so lässt sich resümieren, von einem Verkäufer- hin zu einem Käufermarkt, der zunehmende Konkurrenzdruck und die gleichzeitigen Umsatzeinbußen zu Beginn der 1960er Jahre sowie die Notwendigkeit, sich ein Image als Kosmetikhersteller aufzubauen, stellen die wichtigsten Motive für die Einführung der Kosmetikserie Toscana im Hause 4711 dar. 4. PRODUKTKOMMUNIKATION DER TOSCANA-KOSMETIK (1961–1964): ZWISCHEN TRADITION UND MODERNITÄT 4.1 1961–1962 Die Einführung von Toscana im Jahr 1961 auf dem bundesdeutschen Markt erfolgte schrittweise. Im April führte Mülhens zunächst das pflegende Serienprogramm der Marke ein.48 Dieses umfasste fünf Produkte zur Gesichtspflege, zu denen neben einer Hautmilch und einem Gesichtswasser drei verschiedene Ge-

44 Siehe „4711-Geschenkpackungen gut verkauft” [RWWA 162-39-1], und Hülle: Wer gehört wem?, S. 4. 45 Die Absatzwirtschaft prognostizierte eine Zunahme ausländischer Kosmetikprodukte auf dem deutschen Markt bereits im Jahr 1959, siehe dazu: Berger: Kosmetik-Absatz, S. 260. 46 Vgl. Gossee: Absatzförderung, S. 12. 47 Siehe Schreiben von Prof. Dr. med. G. Hopf an Herrn Theodor Jorberg über die Neueinführung der Toscana Kosmetikserie, 1965 [RWWA 162-40-4]. 48 Siehe dazu verschiedene Akten [RWWA 162-14-1].

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sichtscremes zählten.49 Im dekorativen Bereich folgte im gleichen Jahr die Einführung einer Tönungscreme, eines Zartpuders und diverser Lippenstifte. Den Ausführungen von Gries folgend soll zunächst die „innerbetriebliche Kommunikationsachse“ betrachtet und nach der Bedeutung der Produktkonzeption und dem Marktauftritt gefragt werden. Obwohl das Haus 4711 zu Beginn der 1960er Jahre noch kein Image als Kosmetikhersteller besaß, schätzte die Unternehmensleitung den Zeitpunkt der Markteinführung als günstig ein. Nicht nur, weil Mülhens die Toscana-Serie preislich für einen großen Verbraucherkreis konzipiert hatte, sondern auch, weil die Wettbewerbsprodukte nach eigener Einschätzung „sowohl in der Herstellung wie in der Werbung zum großen Teil einer Kritik nicht standhielten“50, versprach sich das Unternehmen von der Toscana-Kosmetik hohe Absatzquoten. So galten die amerikanischen Kosmetikprodukte auf dem deutschen Markt aufgrund ihrer anzüglichen und offensiven Werbung bei einem Großteil der Bevölkerung als unseriös und unsittlich,51 während die Produkte deutscher Hersteller zum Teil noch einige Qualitätsmängel aufwiesen. Die daraus resultierende Skepsis und Unsicherheit der deutschen Verbraucher gegenüber kosmetischen Präparaten versuchte Mülhens für die Etablierung der eigenen Schönheitsserie zu nutzen. Die Vorstellung im Unternehmen von der Existenz einer konservativen Verbraucherschaft resultierte nicht etwa aus Markt- oder Verbraucherstudien. Vielmehr beruhte sie auf der allgemeinen Debatte über Kosmetika, die in Tagezeitungen oder auch Fachblättern, wie beispielsweise der ‚Absatzwirtschaft‘, diskutiert wurde.52 Ohne sich vorab also gezielt über den Markt und das Bedürfnis der potenziellen Verwenderinnen von Toscana zu informieren, entschied sich die Marketingabteilung dafür, die Marke zum einen mit der konservativen Tradition und Seriosität des Hauses 4711 und zum anderen mit den Attributen Modernität und Aktualität zu bewerben. Dadurch sollte es gelingen, die eigene Kompetenz in der Herstellung von Kosmetik zu unterstreichen.53 Als Zielgruppe von Toscana wurde die „moderne“ berufstätige Frau mittleren Alters definiert. Man erhoffte sich gerade von dieser Konsumentenschicht eine größere Offenheit gegenüber der neuen Kosmetikserie. Schönheit und dementsprechend der Gebrauch von Kosmetika

49 Zu dem Programm der pflegenden Serie gehörten die Nährcreme für die ältere Dame, die Lind-Creme für die trockene, beanspruchte Haut und die Halb-Fett-Creme für die normale und fette Haut, siehe dazu Prof. Dr. Hopf, „Kosmetik-Heute“. Vortrag anlässlich der „4711“Vertretertagung am 4. Januar 1961, S. 16–19 [RWWA 162-280-1]; weiterhin: Schreiben der Blaugold über die Vorschau der Verkaufsabteilung vom 20. Juli 1964 [RWWA 162-608-7]. 50 Hopf an Jorberg [RWWA 162-40-4]. 51 Thue: Schönheit, S. 813. 52 Siehe dazu beispielhaft: ebd; Gossee: Absatzförderung, S. 13, spricht davon, dass der Kosmetik infolge übertriebener Versprechungen und unglaubhafter Behauptungen das Odium der Quacksalberei anhafte; auch Nuding: Revlon, S. 23 und Berger: Kosmetikabsatz, S. 259, sprechen von Vorbehalten der deutschen Konsumentenschaft gegenüber bestimmten Kosmetikprodukten. 53 Vgl. Hopf: Kosmetik, S. 9 [RWWA 162-280-1].

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gelte diesen Frauen, so glaubte man, als eine Möglichkeit, gegenüber der weiblichen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen.54 Um den gewünschten Spagat zwischen Modernität und Tradition zu bewerkstelligen, entschieden sich die Verantwortlichen für eine strikte Trennung der pflegenden und dekorativen Artikel sowohl im Vertrieb als auch in ihren Produktbotschaften. Diese Zielsetzung schien vor dem Hintergrund, dass eine solche Trennung auch von der Konkurrenz und vom Markt bevorzugt wurde, gerechtfertigt.55 Während bei den pflegenden Artikeln vornehmlich die Qualität der Produkte und die Tradition des Unternehmens 4711 herausgestellt werden sollten, transportierten die dekorativen Kosmetika, vornehmlich die Lippenstifte, die Botschaft von Modernität und Aktualität. Neben der „innerbetrieblichen Kommunikationsachse“ ist die von Gries bezeichnete „öffentliche Achse“ der Kommunikation für den Erfolg eines Produktes relevant. Auf dieser tritt der Produzent zunächst über das Produkt selber mit dem potenziellen Käufer in Kontakt. Die Produktaufmachung der pflegenden Serie wurde entsprechend ihrer definierten Botschaft schlicht und traditionell gestaltet. Um das Vertrauen der noch skeptischen Verbraucherin für eine Schönheitsserie wie Toscana zu wecken, wählten die Produktgestalter rosafarbene Verpackungen und Tuben. Mit dieser Farbe, mit der im Allgemeinen die Attribute wie Empfindsamkeit, Zartheit und Sensibilität assoziiert werden, glaubte man die Botschaft der Seriosität am besten transportieren zu können. Um dabei ebenfalls die Herkunftsbeziehung zum Hause 4711 zu betonen und somit auf dessen Tradition zu verweisen, wurden auf den Verpackungen neben dem Zahlenzeichen selbst Elemente in den blau-goldenen Traditionsfarben des Hauses arrangiert. Sowohl der klassisch anmutende geschwungene Schriftzug als auch einige Bildelemente erhielten nun diese Farbgebung. Auf der „öffentlichen Achse“ tritt der Produzent weiterhin indirekt über hauseigene Vertreter und den Einzelhandel mit der potenziellen Käuferin in Kontakt. Bevor die pflegende Toscana-Serie im April 1961 an ausgewählte Fachhändler geliefert wurde, unterzog die Geschäftsführung die Vertreter im eigenen Hause einer gezielten Sensibilisierung für das neue Erzeugnis, um eine optimale Vermarktung zu gewährleisten. Dabei galt es, den Außendienst zugleich von einem Engagement des Hauses 4711 im Kosmetiksegment zu überzeugen. Dazu wurde mit Professor Hopf ein renommierter Dermatologe56 als Werbeträger für die Toscana-Serie eingesetzt. In seiner Rede auf einer Tagung des Außendienstes am 4. Januar 1961 betonte er, dass es für ihn „als an der Wissenschaft interessierte[n]

54 Vgl. Nuding: Revlon, S. 23. 55 Vgl. Schreiben der Marktforschung: Toscana Empfehlung vom 20. Juli 1964 [RWWA 162608-7]. 56 Prof. Dr. Hopf war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Fettwissenschaft und als Dermatologe an der Universitätsklinik in Münster tätig, entnommen aus: o.A. Tagesgeschichte, in: Journal of Molecular Medicine, 48 (1970), Nr. 12, 766.

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Dermatologen und Kosmetologen“57 besonders erfreulich sei, dass sich endlich eine „seriöse Firma“ wie das Haus 4711, „die einen Weltruf habe und über wissenschaftliche Kapazitäten verfüge“, mit der Kosmetik beschäftige. Weil die Kosmetik mancher kleiner Firmen „furchtbar schlecht“ sei, werfe er sich „für die Toscana-Kosmetik [...] in die Bresche“58. Ebenfalls unterrichtete die Vertriebsleitung den Fachhandel vor der Auslieferung der Serie in einigen Rundschreiben über die Einführung der ToscanaKosmetik. Er sollte sich durch „ein hübsch aufgemachtes Probensortiment“59 von der Qualität der neuen Produkte überzeugen.60 Aufgrund seines traditionellen Vertriebssystems, durch welches Mülhens unter Ausschaltung des Großhandels seine Produkte direkt an ausgewählte Endverkäufer und „Geschäftsfreunde“61 lieferte, war man im Besonderen auf die Gunst des Handels angewiesen. Werbematerialien und Anregungen für ihre zweckmäßige Verwendung sollten dabei für einen entsprechenden Einsatz auf Seiten des Fachhandels sorgen.62 Nicht nur die Sensibilisierung der Händler und der Außendienstmitarbeiter sollte zu einem erfolgreichen Start der Serie beitragen. Ebenso bediente sich die Vertriebsabteilung Blaugold, die bis zum Beginn der 1960er Jahre als Tochterunternehmen von Mülhens agiert hatte,63 einer „umfassenden direkte[n] Verbraucherwerbung.“64 Neben die für das Unternehmen wichtigen Schaufensterdekorationen und „Aufstellern“ am ‚Point of Sale‘ wurde Toscana weiterhin in wöchentlichen Durchsagen über alle bundesdeutschen Fernsehsender und über Kinospots beworben. Das wichtigste Werbemedium stellte für Mülhens aber die Zeitschrifteninsertion dar. Zwischen April und Juni 1961 wurde Toscana in 13 Frauenzeitschriften und Gesellschaftsblättern mit einer Gesamtauflage von 26 Mio. Exemplaren65 eine Einführungskampagne von Toscana inseriert. Im Zentrum dieser ersten illustrierten Anzeige stand das Artikelsortiment der pflegenden Serie, das unter dem Slogan „Ein Welthaus stellt vor. Die hautharmonische Schönheitspflege. Toscana Kosmetik aus dem Welthaus 4711“ präsentiert wurde (Abb. 1).

57 58 59 60 61 62 63 64 65

Hopf: Kosmetik, S. 9 [RWWA 162-280-1]. Ebd. Rundschreiben der Blaugold an alle Niederlassungen im April 1961 [RWWA 162-14-1]. Rundschreiben von der Blaugold an den Geschäftsfreund über die neue Toscana-Serie und deren Vermarktung im März 1961 [RWWA 162-14-1]. o.A.: Gute Zeit für die Industrie der Schönen Düfte. Schätze aus aller Welt im Tresor von 4711, in: Der Sonnabend vom 8. Januar 1955 [RWWA 162-39-1]. Rundschreiben von der Blaugold an den Geschäftsfreund über die neue Toscana-Serie und deren Vermarktung im März 1961 [RWWA 162-14-1]. Siehe dazu „4711 weitet Produktion aus“ [RWWA 162-39-1]. Siehe ebd. Vgl. ebd.

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Abb. 1: Einführungsinserat der Toscana Pflegeserie 1961 Quelle: Insertion 4711-Kosmetik (Deocologne, Tosca und Toscana) [RWWA 162-244-2].

Als Hintergrund der bildlichen Darstellung benutzte man die Skizze eines weiblichen Gesichts. Aufgrund ihrer schwarz-blauen Farbgebung stand diese in einem krassen Kontrast zu den farblich abgedruckten rosafarbenen Produkten im Vordergrund. Das skizzierte Gesicht zeigt die potenzielle Käuferin, eine Frau mittleren Alters, die frisch und gepflegt wirken sollte. Der das Bild begleitende Text, der im Sinne einer traditionellen Insertion viel Raum einnahm, begann mit einer direkten Ansprache an die potenzielle Käuferin und leitete zu den oben genannten Elementen der Produktnarratio, der Verbindung zum Hause 4711 und damit zu dessen Tradition und Seriosität über: „Was braucht die Haut, um ein Leben lang jünger und schöner zu bleiben? Und was verlangt müde gewordene Haut, um wieder aufleben zu können? Diese kosmetischen Probleme zu lösen, gelang dem Welthaus 4711 in jahrelanger Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Kapazitäten und maßgeblichen Dermatologen. Die 4711 Toscana Kosmetik ist hautharmonisch: Sie führt der Haut hauptsächlich Stoffe zu, die unentbehrlich und lebensnotwendig sind. Stoffe, die sofort restlos aufgenommen werden. Der Vorzug dieser neuen Kosmetik: umfassende

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Elena Brenk Hautpflege durch wenige Präparate von hohem biologischen Wert, harmonisch aufeinander 66 abgestimmt, leicht und einfach anwendbar – und jedes einzeln für sich ein Erfolgspräparat.“

Mit dieser „Produktbotschaft“ sollten die potenziellen Verbraucherinnen mit einer gezielt wissenschaftlichen Argumentation sachlich informiert werden. Die medizinisch überwachte Herstellung der pflegenden Serie wurde als deren Alleinstellungsmerkmal hervorgehoben, um so das Vertrauen der kritischen oder noch unschlüssigen Verwenderin zu gewinnen. Um diese gleichermaßen für die Verwendung von Gesichtspflegeserien im Allgemeinen zu sensibilisieren und von deren Notwendigkeit zu überzeugen, klärte ein Beipackzettel über die fachgerechten Anwendung auf. Darüber hinaus rekurrierte das im Fachhandel erhältliche „Toscana-Kosmetik-Einmaleins“ „vorsichtig, aber offensichtlich nachhaltig und eindrucksvoll, [...] auf gewisse weibliche Versagenssituationen und [über] die Tatsache, dass man mithilfe angewandter Toscana Kos67 metik mehr vom Leben hat“.

Wie dieses Zitat veranschaulicht, sollte es so gelingen, den als Grundbedürfnis zu implementierenden Wunsch der Verwenderin nach sozialer Anerkennung zu wecken und den Gebrauch von Toscana als bestes Mittel zur Befriedigung eben dieses Bedürfnisses zu propagieren. Neben Schriftwerbung wie dem „KosmetikEinmaleins“ trat der neu eingerichtete Toscana-Beratungsdienst. Sowohl auf diesen Zusatzdienst als auch auf das „Toscana-Kosmetik-Einmaleins“ wurde in allen später eingesetzten illustrierten Anzeigen verwiesen, um die Seriosität des Unternehmens einmal mehr zu unterstreichen: „Die Firma 4711, Köln a. Rhein, Toscana Beratungsdienst, sendet ihnen kostenlos das Toscana-Kosmetik-Einmaleins mit seinen wertvollen Ratschlägen.“68 In diesen Werbeinseraten wurden die Produkte sowohl des pflegenden Bereichs als auch die nun eingeführten dekorativen Artikel nicht mehr als Serie, sondern immer einzeln beworben. Während Mülhens die pflegenden Artikel dabei unter dem gemeinsamen und prägnanten Slogan „Hautharmonische Kosmetik aus dem Welthaus 4711“69 präsentierte, entschied man sich bei den Produkten der dekorativen Serie dafür, sie immer nur einzeln zu vermarkten. Dies schien nicht nur vor dem Hintergrund der oben skizzierten Zielsetzung sinnvoll zu sein, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass dekorative Artikel eher modischen Trends unterliegen und daher schwer als Einheit dargestellt werden können. Über das Produkt Lippenstift sollten nun die erwähnten Elemente der Produktnarratio, also Modernität und auch Exklusivität, zum Verwender transportiert

66 Einführungsinserat Toscana Pflegeserie 1961 [RWWA 162-244-2]. 67 Dazu verschiedene Jahrgänge des Kosmetik-Einmaleins [RWWA 162-14-1] und ein Zitat der freien Mitarbeiterin Christa Lüders-Lohde, entnommen aus einem Brief von Jorberg über die Werbung für die Toscana-Kosmetik an die Firma Universal Anzeigen- und Werbedienst GmbH vom 6.8.1963 [RWWA 162-608-7]. 68 Verschiedene Inserate zwischen 1961 und 1963 [RWWA 162-559]. 69 Siehe Inserat von 1961 [RWWA 162-552].

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werden. Da Lippenstifte bereits bei einem Großteil der weiblichen Bevölkerung Anklang fanden, war eine starke Sensibilisierung der Verbraucherschaft, wie sie für die pflegenden Artikel notwendig wurde, auf der „öffentlichen Achse“ nicht erforderlich. Deshalb, und weil Lippenstifte als ein Gebiet galten, „auf dem immer mal Reklamationen kommen“, weil „Überempfindlichkeiten gegen Farbstoffe immer möglich“70 seien, distanzierte man sich in diesem Segment von der Botschaft der wissenschaftlich fundierten Herstellung.71 Stattdessen sollte die vorgesehene Bedeutung über eine spezielle Namensgebung transportiert werden. Der Einführung der Produkte gingen auf der „innerbetrieblichen Achse“ daher zunächst lange Diskussionen über deren Namensgebung voraus. Nachdem Überlegungen angestellt worden waren, die Farbbezeichnung eventuell indirekt über Tiernamen, Edelsteine, Früchte, Blüten oder über moderne Musikstile darzustellen, entschied sich die Marketingabteilung schließlich dafür, die aktuellen Trendund Modefarben als Namen zu verwenden und diese für jedes Produkt einzeln hervorzuheben.72 Die Farben sollten dabei saisonal verändert werden, um auf aktuelle Modetrends reagieren zu können. Dies verdeutlichen die nachfolgenden Auszüge: „Amarant – die Lieblingsfarbe der Mode. ... Eine faszinierende Nuance aus der ToscanaPalette, abgestimmt auf die Modeschöpfungen der Saison.“ „Rubin – die faszinierende Modefarbe. ... Eine Farbnuance von königlichem Glanz, abgestimmt auf die Modeschöpfungen der Saison, wie alle Variationen der Toscana-Palette.“73

Neben diesen dargestellten „direkten Produktpräsentationen“ wurde die Einführung von Toscana weiterhin auch durch „indirekte Produktpräsentationen“ begleitet. Anhand von journalistischen Äußerungen lassen sich, nach Rainer Gries, diejenigen Assoziationen zu einem Produkt erkennen, die über die vom Hersteller initiierten Produktbotschaften hinausgehen und ebenfalls für den Erfolg des Produktes von Bedeutung sind. Obwohl die meisten Zeitungsartikel auf Grund der gut funktionierenden PR-Maschinerie des Unternehmens die Einführung von Toscana positiv beurteilten, lassen sich auch einige negative Präsentationen herausstellen. Zahlreiche Tageszeitungen äußerten sich kritisch gegenüber einer Kosmetikserie aus dem „Welthaus“ 4711, da das Unternehmen dafür kein Image besaß und ihm die Herstellung der Produkte nicht zugetraut wurde.74 Als wichtigster Akteur der Produktkommunikation gilt, dem dreidimensionalen Modell von Gries zufolge, der Verwender oder Käufer des Produkts. Das „Ja“ oder auch „Nein“ zu einem Produkt und somit auch die Leistung der Produkt70 Hopf: Kosmetik, S. 20 [RWWA 162-280-1]. 71 Vgl. Toscana Begriffsbestimmungen und Produktpalette [RWWA 162-14-1] 72 Vgl. Schreiben der Werbeabteilung über die Lippenstift-Farbbezeichnung vom 19.1.1960 [RWWA 162-14-1]. 73 Inserat von 1962 [RWWA 162-552]. 74 Siehe dazu beispielhaft „Schönheitspflege durch Toscana-Kosmetik“. Erfolgspräparate aus dem Welthaus 4711, in: Ehrenfelder Wochenspiegel 1961 [RWWA 162-14-1].

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kommunikation äußern sich zuerst in den Verkaufs- bzw. Umsatzzahlen. Trotz der skizzierten Vorbehalte gegenüber einem Engagement von Mülhens im Kosmetikbereich verlief die Einführung von Toscana auf dem westdeutschen Kosmetikmarkt zunächst zufriedenstellend. Wie einem Schreiben der Marktforschungsabteilung zu entnehmen ist, erwirtschaftete das Unternehmen mit der Serie in ihrem Einführungsjahr einen Umsatz von 5,9 Mio. DM. Dies entsprach 2 Prozent des Gesamtumsatzes, wovon alleine eine Summe von 3,62 Mio. DM aus dem Geschäft mit pflegenden Artikeln generiert werden konnte.75 Schien die Serie somit vor allem wegen ihrer pflegenden Präparate erfolgreich gestartet zu sein, so zeichnen die Umsatzzahlen des Jahres 1962 ein anderes Bild. Die Umsätze im pflegenden Bereich brachen nun enorm ein, während sich der Absatz der dekorativen Artikel erhöhte. (Tab. 1) Wie einem Schreiben von Prof. Dr. Hopf an Theodor Jorberg zu entnehmen ist, trat dieser enorme Rückschlag bei den pflegenden Produkten ein, „weil die Entwicklung zu stürmisch“ gewesen sei und „die Präparate sich […] als nicht genügend haltbar erwiesen“76 hätten. In der Folge kam es daher zu zahlreichen Retouren, was die starken Umsatzeinbußen der pflegenden Artikel im Jahr 1962 erklärt. Jahr

Pflegende Artikel

Dekorative Artikel

1961

3.622.000

2.320.000

1962

800.000

3.665.000

1963

861.000

3.132.000

Tab. 1: Umsatz der Toscana-Kosmetik in Mio. DM, unterteilt nach dekorativen und pflegenden Produkten (1961–1963) Quelle: Marktforschung, Toscana Empfehlung vom 20. Juli 1964 [RWWA 162-608-7].

4.2 1962–1964 Um den produktionsbedingten Einbußen im Segment der Gesichtspflege entgegenzuwirken, widmete sich das Unternehmen in der Folge zunächst vermehrt der Herstellung und Qualitätsprüfung dieser Artikel. Dabei versuchte es, „mit bakteriologischen Untersuchungen die Haltbarkeit der Präparate sicherzustellen.“77 Die

75 Zahlen entnommen aus: Marktforschung Toscana Empfehlung vom 20. Juli 1964 [RWWA 162-608-7]. 76 Hopf an Jorberg [RWWA 162-40-1]. 77 Hopf an Jorberg [RWWA 162-40-1].

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Produktkommunikation der Serie veränderte sich indes zunächst nicht, da die Verantwortlichen, so hat es den Anschein, auf das Image des Unternehmens als Traditionshaus vertrauten und die ganze Angelegenheit anfangs „bagatellisierten.“78 Erst im Jahr 1963, als die Umstellung der Rezeptur bereits erfolgt war, sich jedoch keine grundlegende Verbesserung des Absatzes (Tab. 1) der pflegenden Artikel abzeichnete, wurde der „Relaunch“79 auch auf den Bereich der Produktkommunikation ausgeweitet. Auf der „innerbetrieblichen Kommunikationsachse“ änderte sich dabei jedoch nur wenig. Toscana sollte weiterhin als umfassendes und qualitativ hochwertiges Schönheitsprogramm für jeden Hauttyp nach außen kommuniziert werden. Um dabei gleichwohl den zurückliegenden Mängeln Rechnung zu tragen, sollte nun die Qualität der Produkte mehr als vorher in den Fokus der Werbung gerückt werden. Eine entsprechende Sensibilisierung der eigenen Außendienstmitarbeiter oder der Händler erschien dem Unternehmen dabei hingegen unbedeutend. Auf der „öffentlichen Kommunikationsachse“ konzentrierte sich Mülhens vielmehr auf die „direkte Verbraucherwerbung“. Neben einer Verstärkung der Insertionstätigkeit80 hatte das Unternehmen ein „umfassendes Schönheitsprogramm“ entwickelt, mit dem die Verwenderin von der Qualität der Produkte überzeugt werden sollte. Zu diesem Zweck gab der Fachhandel Gutscheine für Probepackungen an potenzielle Verbraucherinnen aus. Nachdem diese Maßnahmen jedoch keinen Erfolg hervorbrachten, stellte die Geschäftsleitung erneut Überlegungen über den Auftritt von Toscana am Markt an. Dies betraf wiederum ausschließlich die „direkte Verbraucherwerbung“ für die Toscana-Pflegekosmetik. Sie sollte aus dem alltäglichen Rahmen herausgenommen und unter einem festen Thema präsentiert werden.81 In konsequenter Weiterführung des „Toscana-Einmaleins“ sollte deshalb eine Serie von Anzeigen entstehen, die „die Durchschnittsfrau in von ihr selbst [...] als ideal empfundenen Situationen zeigt und sie verlockt“82. Durch diese Darstellungsweise sei es möglich, die Meinung der abgebildeten Personen zur Schönheitspflege wörtlich zu zitieren, um eindringliche Formulierungen, wie sie sich in der Werbung amerikanischer Kosmetikhersteller finden ließen, wählen zu können. Mit der bisherigen Strategie, in

78 Schreiben von Jorberg an Frau Lüders-Lohde vom 10.2.1966 [RWWA 162-40-4]. 79 Ein Relaunch bezeichnet einen durch begrenzte oder auch grundlegende Veränderungen (z. B. Modernisierung eines Produktes, Entwicklung einer neuen Werbekonzeption) unternommenen Versuch, stagnierendem oder bereits rückläufigem Absatz entgegenzuwirken und der „Vitalität“ des Produkts im Rahmen des Produktlebenszyklus neue Impulse zu verleihen, zitiert nach: Schröter: Marketing, S. 621, FN. 21. 80 Siehe dazu einige Akten aus [RWWA 162-536-21]. 81 Brief von Jorberg über die Werbung für die Toscana-Kosmetik an die FA Universal Anzeigen- und Werbedienst GmbH vom 6.8.1963 [RWWA 162-608-7]. 82 Zitat von Frau Lüders-Lohde, entnommen aus: Schreiben von Jorberg über die Werbung für die Toscana-Kosmetik an die FA Universal Anzeigen- und Werbedienst GmbH vom 6.8.1963 [RWWA 162-608-7].

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der man mit dem Image des Unternehmens als traditionelles und seriöses Unternehmen warb, sei eine solche „Modernisierung“ nicht zu bewerkstelligen.83 Diese umfassenden Überlegungen bezüglich der Werbemaßnahmen wurden zunächst jedoch nicht umgesetzt. Da sich die Umsatzzahlen der dekorativen Produkte ab 1963 ebenfalls rückläufig zeigten, kam das nun errichtete ToscanaKomitee zu Beginn des Jahres 1964 zu der Einsicht, dass eine Umstellung der „direkten Verbraucherwerbung“ allein nicht ausreichen würde, um den Absatz der Toscana-Artikel zu steigern. Vielmehr galt es nun endgültig die Gründe für die problematische Umsatzentwicklung und die ablehnende Haltung der Käufer gegenüber Toscana auszuloten. Als Leiter des Toscana-Komitees beauftragte Theodor Jorberg deshalb die in Hamburg ansässige Gesellschaft für Marktforschung mbH (GfM) mit der Anfertigung einer qualitativen Verbraucherstudie. Diese sollte anhand von zwei Gruppendiskussionen84 und späteren Interviews mit ausgewählten Testpersonen die akuten Verbraucherbedürfnisse ergründen und latente Verbraucherwünsche aufdecken.85 Während man die Gruppendiskussionen mit Frauen der ursprünglich definierten Zielgruppe von Toscana durchführte, wurden bei den späteren Interviews nur Frauen der gehobenen Mittelschicht, davon etwa die Hälfte 20 bis 29 Jahre, die andere Hälfte 30 bis 39 Jahre alt, befragt.86 Mit dieser für Mülhens neuen Marketingstrategie war es nicht nur möglich die bisherigen Schwierigkeiten der Markteinführung von Toscana zu eruieren. Gleichzeitig konnten dadurch der Aktualitätsgrad und die Bewusstseinsgegenwärtigkeit der Serie in einer größeren Verbraucherschaft ermittelt und deren Marktchancen so ausgelotet werden. Die Ergebnisse der Studie spiegeln dementsprechend nicht nur, nach Gries´scher Definition, die Assoziationen und Konnotationen der potenziellen Verwenderinnen mit Toscana wider, sondern gewähren darüber hinaus auch Einblicke in die gesellschaftlichen „Diskurse“ Westdeutschlands über Kosmetika zu dieser Zeit. Obwohl der Kosmetikmarkt im Jahr 1964 zu einem der größten und umsatzstärksten Konsumgütermärkte in der Bundesrepublik gehörte und der Gebrauch von Kosmetika den befragten Testpersonen zufolge „zur Steigerung des Lebensgefühls“87 beitrug, waren Unsicherheiten und Skepsis gegenüber diesem Produktsegment noch immer spürbar. Dies galt im Besonderen für die Hautpflege. Wie die Studie der GfM offenbarte, stellte Hautpflege für die befragten Frauen „Grundlage der Schönheitspflege und zugleich Voraussetzung der Kosmetik“88

83 Bericht über eine Besprechung im Hause 4711 über Toscana-Anzeigenvorschläge am 19. August 1963 zwischen 4711 und McCann [RWWA 162-608-7]. 84 Die erste Gruppendiskussion wurde am 1.6.1964 in Heilbronn, die zweite am 3.6.1964 in Hamburg durchgeführt. 85 Siehe dazu: Marktforschung: Toscana-Empfehlung vom 17.7.1964, S. 2 [RWWA 162-608-7]. 86 Siehe Toscana – Band I [Marktforschungstest der Gesellschaft für Marktforschung GFM im Auftrag der Firma Muelhens] im Juli 1964, S. II [RWWA 162-923-8]. 87 Toscana – Band I, S. 11 [RWWA 162-923-8]. 88 Ebd., S. 9.

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dar. Angesichts dieser Stellung als Mittler zwischen selbstverständlicher Körperpflege und intensiver Kosmetik wurde Hautpflege dementsprechend „mehr [...] vom Gesichtspunkt der Gesundheit her gesehen“89 als die dekorative Kosmetik. Auf die Frage, was beim Kauf bzw. der Anwendung eines Gesichtspflegemittels falsch gemacht werden könne, antworteten daher die meisten Testpersonen, „daß man vor allem beim Einkauf ein unverträgliches Mittel wählt, und daß man ein falsches Mittel, das nicht zum eigenen Hauttyp passt, anwendet“90. Die anfänglichen Qualitätsmängel der Serie, die aus der mangelnden Haltbarkeit der Produkte resultierten, können vor diesem Hintergrund als wichtiger Grund für den mäßigen Erfolg von Toscana herausgehoben werden. Weiterhin wurde in dieser Studie deutlich, dass Kosmetikserien im Allgemeinen lediglich auf ein geringes Verbraucherinteresse stießen. Keine der befragten Testpersonen benutzte ein komplettes Pflegeprogramm nur eines Herstellers, da das Ineinandergreifen verschiedener Wirkstoffe bezweifelt wurde. Ebenso zeigte keine der befragten Testpersonen eine Markentreue in Bezug auf Kosmetikprodukte. Die Wahl eines Produktes erfolgte eher zufällig – meist nach einem Beratungsgespräch im Fachhandel.91 Diese Präferenzen und Implikationen von Seiten der befragten Testpersonen wirkten sich offenkundig ebenfalls negativ auf den Absatz und das Image der pflegenden Toscana-Artikel aus. Als weitere Negativfaktoren wurden an dieser Stelle nun auch die eingangs erwähnten Unzulänglichkeiten in der Produktkommunikation von Toscana offenbar. Die Assoziationen, mit denen Toscana vom Unternehmen belegt worden war, waren von den befragten Testpersonen keineswegs positiv aufgenommen worden, sondern hatten – im Gegenteil – zu einer negativen Kodierung von Toscana geführt. Anstatt als seriös und vertrauenswürdig zu gelten, wurde Toscana sowohl von der ursprünglich anvisierten Zielgruppe als auch von den in den Interviews befragten Frauen als „altmodisch, althergebracht und zu stark parfümiert“92 charakterisiert und gegenüber den Hauptwettbewerbsprodukten Inka, Juvena und Marbert als zu „gewöhnlich“ beurteilt. Diese Assoziationen waren, wie der Bericht dargelegt, durch die Nähe des Namens Toscana zur hauseigenen Parfümmarke Tosca sowie durch die angesprochene gezielte Vermarktung mit dem Zahlzeichen 4711 entstanden. Beide Düfte wurden als herkömmlich und altmodisch bezeichnet, als solche, die man „früher gemocht hat.“ Auch die Produktgestaltung der Serie, die vom Unternehmen ebenfalls mit den positiven Assoziationen Vertrauen und Seriosität belegt worden war, wurde von den Testpersonen als negativ und althergebracht beurteilt. Sie bezeichneten sie als „fade“ und „farblich schlecht

89 Ebd. 90 Marktforschung: Toscana-Empfehlung, S. 4 [RWWA 162-608-7]. 91 TOSCANA-Material- und Tabellenband zum Bericht über die Ergebnisse einer grundsätzlichen qualitativen Untersuchung über Kosmetik [erstellt der FA 4711 Ferdinand Mülhens Köln von der GFM im Juli 1964], S. 10–13 [RWWA 162-923-9]. 92 TOSCANA-Material- und Tabellenband, S. 28.

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abgestimmt.“93 Darüber hinaus wurde sie sogar für so „unauffällig“ erachtet, dass man sie „im Schaufenster übersehe“94. Die hier skizzierten Versäumnisse und Missstände waren so eklatant, dass sie den Erfolg der Serie und damit auch das mit ihr verbundene Ziel des Unternehmens, sich ein Image als Kosmetikproduzent aufzubauen, sogar langfristig hemmten. Im Jahr 1977, nachdem man durch weitere Relaunches erfolglos versucht hatte, Toscana zu einer starken Marke auszubauen, gliederte Mülhens die Serie und damit die Kosmetiksparte aus dem Unternehmen aus.95 5. RESUMÉE UND AUSBLICK Mit seinem dreidimensionalen Modell der Produktkommunikation hat Rainer Gries eine Möglichkeit geschaffen, die heutige Bedeutung von Produkten als Gegenstände des ökonomischen Austauschprozesses auf der einen und Objekte der Alltagskultur auf der anderen Seite herauszuheben. Für den Erfolg eines Produktes auf modernen Konsumgütermärkten räumt er dabei, neben der Intention des Herstellers und den Marktbedingungen, dem Konsumenten und dessen Bedürfnissen und Assoziationen eine zentrale Rolle ein. Diese konnte am Beispiel der Toscana-Kosmetik aus dem Hause 4711 illustriert werden. Noch an die explosionsartig steigenden Absatzentwicklungen auf den Märkten des Wiederaufbaus gewöhnt, orientierte sich Mülhens bei der Einführung von Toscana zunächst kaum an den Bedürfnissen des Marktes und der ausgewählten Käufergruppe. Obwohl man im Unternehmen, wie gezeigt wurde, zum Einführungszeitpunkt im Jahr 1961 wusste, dass Mülhens aufgrund seines Hauptproduktes 4711 noch immer nur als Dufthersteller galt, wurde in der werblichen Kommunikation von Toscana die Herkunftsbeziehung zum Hause 4711 in den Fokus gerückt. Das einst so positive Image des Traditionshauses, so die Annahme, werde sich durch informierende Kampagnen positiv auf das Image der neuen Marke auswirken und zu deren Erfolg beitragen. Als im Jahr 1962 qualitative Mängel der pflegenden Artikel den zunächst erfolgreichen Start der Serie jedoch hemmten und ihr ein negatives Image einbrachten, wurde dieses in der Folge durch die gewählte Werbestrategie noch verstärkt. Die anfänglich noch latent vorhandenen Vorbehalte der Händler und auch der Verbraucher gegenüber einem Engagement des Hauses 4711 im Kosmetikbereich waren dadurch intensiviert worden und hatten sich zu einer zentralen Hürde für die Marktetablierung von Toscana entwickelt.

93 Ebd., S. 5. 94 Ebd., S. 28. 95 Im Jahr 1977 gründete das Unternehmen die Tochtergesellschaft Toscana-Kosmetik, die die Serie und weitere Kosmetikartikel bis zum Jahr 1998 vertrieb, vgl. dazu: Handelsregistereintrag 8210, in: Handelsregister B des Amtsgerichts Köln, Auszug vom 24.3.2009.

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Dieser Beitrag unterstreicht folglich die Relevanz kulturhistorischer Fragestellungen für eine moderne Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Die eingangs als Forschungsdesiderat bezeichnete Genese der „modernen Konsumgesellschaft“ könnte, wie dargelegt wurde, ohne ein Bündnis beider historischer Ansätze nur rudimentär abgebildet werden. Um diesen Spagat zu bewerkstelligen und die noch wenig erforschten Entwicklungsprozesse des „deutschen Wirtschaftswunders“ wie u.a. die Frage nach Anpassungsstrategien deutscher Unternehmen auf den wachsenden Massenmärkten zu untersuchen, liefert die in Deutschland noch junge Marketinggeschichte96 das nötige Rüstzeug. Als „angewandte Sozialtechnik“97 und somit als Mittler zwischen Wirtschaft und Kultur erscheinen marketingtheoretische Ansätze dabei geradezu prädestiniert die vorhandenen Lücken in der deutschen konsumhistorischen Forschung künftig zu schließen. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Berger, Rolf: Läßt sich der Kosmetik-Absatz noch steigern? in: Die Absatzwirtschaft, 6 (1959), S. 259–260. Berghoff, Hartmut: Marketing im 20. Jahrhundert. Absatzinstrument – Managementphilosophie – universelle Sozialtechnik, in: Ders. (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt 2007, S. 11–58. de Grazia, Victoria: Das unwiderstehliche Imperium. Amerikas Siegeszug im Europa des 20. Jahrhunderts, 2. überarb. und übers. Aufl., Stuttgart 2010. DIVO-INMAR GmbH: Auftragsarbeit. Pflegende Kosmetik, für Gruner + Jahr GmbH & Co, Frankfurt 1969/1970. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 2002. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, 6. Aufl., Frankfurt am Main 2001. Gossee: Absatzförderung für Systemkosmetik, in: Erhard Haubold: Körperpflege verkaufen im Markt von morgen (= Serviceheft der Absatzwirtschaft, Nr. 1), Düsseldorf 1964, S. 12–13. Gries, Rainer/Morawetz, Andrea: „Kauft österreichische Waren!“ Die Zwischenkriegszeit im Medialisierungsprozess der Produktkommunikation, in: Susanne Breuss/Franz Xaver Eder (Hg.): Geschichte des Konsumierens in Österreich im späten 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2006, S. 212–232. Gries, Rainer: Die Medialisierung der Produktkommunikation. Grundzüge eines kulturhistorischen Entwurfs, in: Habbo Knoch/Daniel Morat (Hg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003, S. 113–130. Gries, Rainer: Konsumenten und die Werbung. Kulturgeschichtliche Aspekte einer interaktiven Kommunikation, in: Kai-Uwe Hellmann/Dominik Schrage (Hg.), Konsum der Werbung. Zur Produktion und Rezeption von Sinn in der kommerziellen Kultur, Wiesbaden 2004, S. 83– 108. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003. Hahn, Hans-Werner: Die Industrielle Revolution in Deutschland (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 49), München 1998.

96 Siehe dazu Berghoff: Marketing; Hansen/Bode: Marketing & Konsum; auch eine Vielzahl an Fallstudien wie bspw. Rossfeld: Schweizer Schokolade. 97 Schröter: Marketing, S. 615.

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Elena Brenk

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KARTOFFEL ODER SEIDE? KULTURELLE IMPLIKATIONEN AGRARISCHER INNOVATIONEN IN DER FRÜHNEUZEITLICHEN EIDGENOSSENSCHAFT André Holenstein 1. EINLEITUNG Utilitaristisch gestimmte Aufklärer machten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Landwirtschaft zum Gegenstand effizienzorientierter Reformdiskurse.1 Die Ökonomischen Sozietäten kritisierten mit der Allmende, den kollektiv genutzten Arealen und dem Flurzwang tragende Elemente der Agrarverfassung, schlugen vielfach aber auch technische Innovationen vor – so etwa die Einführung neuer Kultur- und Nutzpflanzen oder Anbaumethoden.2 In diesem Zusammenhang rückten in der Schweiz im späten Ancien Régime die Kartoffel und die Seide in den Mittelpunkt unterschiedlich ausgerichteter agrarischer Innovationsprojekte. Kartoffel und Seide waren keine originär europäischen Erzeugnisse. Zwar war die Seide in Europa schon im Mittelalter bekannt gewesen, doch breiteten sich die Seidenverarbeitung in Mittel- und Westeuropa hauptsächlich in der Neuzeit aus. Die Kartoffel gelangte erst nach der sogenannten Entdeckung Amerikas nach Europa. Seide und Kartoffel war weiter gemein, dass sie in der frühen Neuzeit zu Leitprodukten unterschiedlicher Programme agrarischer Reform erklärt und zu Aushängeschildern agrarischer Innovation gemacht wurden. Im 18. Jahrhundert haben Ökonomische Gesellschaften, Reformbürokraten und Bauern die Seide und die Kartoffel auf sehr unterschiedliche Weise in ihre Strategien zu Verbesserungen in der Landwirtschaft eingebaut. Sie sollten zur Bewältigung struktureller Probleme der vormodernen Landwirtschaft beitragen und die prekäre Ernährungslage der breiten Bevölkerung verbessern. Langfristig waren die Bemühungen, die Herstellung von Rohseide und den Anbau der Kartoffel in der Schweiz heimisch zu machen, von ungleichem Erfolg gekrönt. Die Ansiedlung des Seidenbaus nördlich der Alpen schlug fehl, obwohl Agrarreformer aus gelehrten Gesellschaften und Staatsverwaltungen große Anstrengungen darauf verwendet haben, das Interesse der Bauern an der Seidenraupenzucht zu wecken. Gemessen an der Zahl der konkreten Projekte und der einschlägigen Druckschriften haben diese Kreise zeitweilig ein höheres Interesse an 1 2

Siehe dazu: Brakensiek/Mahlerwein: Agrarreformen; Holenstein/Stuber/Gerber-Visser (Hg.): Nützliche Wissenschaft. Vgl. Stuber/Lienhard: Nützliche Pflanzen; Stuber: Kulturpflanzentransfer.

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der Einführung des Seidenbaus als an der Förderung des Kartoffelanbaus an den Tag gelegt. Die Einführung der Kartoffel hingegen wurde langfristig ein Erfolg, obwohl ihr im 18. Jahrhundert lange Zeit nicht annähernd dieselbe Aufmerksamkeit vonseiten der Agrarreformer zuteil geworden ist wie dem Seidenbau. Die Knollenfrucht hat sich keineswegs mit jener Selbstverständlichkeit durchgesetzt, die in der historischen Rückschau unterstellt werden möchte. Im Zuge des Bevölkerungswachstums und der wirtschaftlichen Modernisierung hat die Kartoffel im späten 18. und 19. Jahrhundert die Ernährung der frühindustriellen Massengesellschaft auf eine neue Grundlage gestellt und einen Ausweg aus den zyklisch wiederkehrenden Hungerkrisen der Vormoderne eröffnet. Ein Vergleich dieser beiden Innovationsprozesse lässt sich für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Wirtschaftsgeschichte nutzbar machen. Der Vergleich soll darauf achten, welche Akteure sich bei der Förderung von Seidenbau und Kartoffelbau in der Schweiz in der frühen Neuzeit besonders engagiert, welche Konzepte und Implementierungsstrategien sie entwickelt und welche übergeordneten staats-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Ziele sie verfolgt haben. Dieser heuristische Zugang legt kulturelle und mentale Prädispositionen der Akteure offen, welche bei den Innovationsprozessen im Spiel gewesen sind. 2. DIE EINFÜHRUNG DES KARTOFFELBAUS IN DER SCHWEIZ – LANGFRISTIG EINE ERFOLGSGESCHICHTE Die Kartoffel gelangte im 16. Jahrhundert über Spanien und Großbritannien aus der Neuen Welt nach Europa.3 Sie wurde zuerst lange als wertvolle exotische Seltenheit behandelt und zum Gegenstand botanischer Gelehrsamkeit gemacht. In fürstlichen Ziergärten gezüchtet wurde sie von Königen als kostbares Geschenk dargereicht.4 Auch der Papst soll von Philipp II. von Spanien einige Knollen geschenkt bekommen haben.5 Der Basler Arzt Caspar Bauhin (1560–1624) ordnete sie als erster in seinem Pflanzenverzeichnis „Phytopinax seu enumeratio plantarum (...)“ (1596) den Nachtschattengewächsen zu und gab ihr die lateinische Bezeichnung „solanum tuberosum esculentum“.6 Sowohl in der Verwendung als auserlesenes Geschenk in der symbolischen Kommunikation zwischen Fürsten wie auch als Studienobjekt von Botanikern blieb die Kartoffel zunächst in kulturelle Zusammenhänge eingefügt, welche ihre spätere Verwendung als Grundnahrungsmittel der breiten Bevölkerung nicht erahnen ließen. In Irland wurde sie aber bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts feldmäßig angebaut.7 Von dort 3 4 5 6 7

Zum Folgenden: Berger: Kartoffel; Peter: Heiland der Armen; Steinke: Einführung; Buckow: Kartoffeln. Entnommen von: Buckow: Kartoffeln, S. 17. Vgl. Peter: Heiland der Armen, S. 21. Teuteberg/Wiegelmann: Kartoffel in Deutschland, S. 96. Buckow: Kartoffeln, S. 17 erwähnt eine Beschreibung durch Bauhin aus dem Jahre 1585. Zu Caspar Bauhin siehe Koelbing: Caspar Bauhin. Siehe Peter: Heiland der Armen, S. 21.

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soll sie ein Söldner aus Glarus nach den Berichten eines Glarner Pfarrers 1697 in seine Heimat gebracht haben.8 Auch wandernde Handwerker kommen als frühe Importeure der Kartoffel in Frage, die nun Eingang in neue soziale Milieus fand, und zwar als Nahrungsmittel. Die Kartoffel gelangte somit nicht im Rahmen einer gezielten, koordinierten Maßnahme zur flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung in die Schweiz. Vielmehr brachten sie Migranten in ihrem Gepäck mit nach Hause. Im luzernischen Entlebuch ist der Anbau von Kartoffeln im Krisenjahr 1709 belegt, und schon 1716 stritten sich dort Zehntherren und Bauern wegen der Verzehntung der neuen Ackerfrucht. Im Zürcher Tösstal sollen bernische Geschirrträger in den 1720er Jahren die Kartoffel bekannt gemacht haben. Und 1730 baute man in Brienz im Berner Oberland bereits so viele Kartoffeln an, dass sie ins benachbarte Unterwalden exportieren werden konnten. Diese Beobachtungen verweisen auf zwei außerökonomische Faktoren, die der Kartoffel den Weg in die Schweiz geebnet bzw. zeitweilig verstellt haben. Die erwähnten Gebiete liegen in den hügeligen Voralpen, wo sich im 17. und 18. Jahrhundert vielfach eine gemischte, agrarisch-protoindustrielle Wirtschaftsstruktur etablierte. Die kleinbäuerlichen Haushalte erwarben mit Spinnen und Weben in Heimarbeit einen Zusatzverdienst und waren für die Versorgung mit Getreide vom Markt bzw. Grossbauern abhängig. Sie waren für eine Kulturpflanze besonders empfänglich, die auch in kurzen Sommern gedieh, nicht vom Hagel zerstört werden konnte, höhere Erträge abwarf als das Korn und im Unterschied zum Getreide vor der Nahrungszubereitung nicht noch verarbeitet werden musste. Die frühen Anbaugebiete der Kartoffel lagen außerhalb des Kornlandes im eigentlichen Sinne und kannten deswegen keinen Flurzwang. Auffallenderweise gehörten die (groß)bäuerlichen Kornanbaugebiete des schweizerischen Mittellandes nicht zu den Pionierlandschaften bei der Einführung des Kartoffelbaus. Neben dem Ökotyp gehört auch die Agrarverfassung zu den Faktoren, welche die Ausbreitung der Kartoffel beeinflusst haben. Rasch kam es wegen der Verzehntung der Kartoffeln zu Auseinandersetzungen zwischen Kartoffelbauern und den Bezügern des Getreidezehnten. Da Kartoffeln auf Äckern angebaut wurden, die früher Kornland gewesen waren, wollten die Zehntherren auch die Kartoffel der Zehntpflicht unterwerfen. Dem hielten die Kartoffelbauern entgegen, die Kartoffel sei eine neue Kulturpflanze, deren Verzehntung in den Urbarien und Abgabeverzeichnissen nicht erwähnt sei. Vielfach mündeten diese Konflikte in obrigkeitlich vermittelte Kompromisse: Zwar wurde auch die Kartoffel grundsätzlich der Zehntpflicht unterstellt, doch blieb der Anbau zum Eigengebrauch in den Kraut- und Gemüsegärten der Bauern und in einer kleinen Parzelle in der Flur zehntfrei. Damit trugen die Obrigkeiten zwar den Interessen beider Seiten Rechnung, hemmten aber eine stärkere Ausbreitung des Anbaus.9

8 9

Die Schilderung der Ausbreitung in der Schweiz nach ebd., S. 21–23. Der Beleg für das Entlebuch bei Bucher: Entlebuch, S. 167. Vgl. Peter: Heiland der Armen, S. 25–98.

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Die Not und die Volksaufklärung haben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese strukturellen Hindernisse überwunden und der Kartoffel zum Durchbruch als Grundnahrungsmittel breiter Bevölkerungskreise verholfen. Die große Hungerkrise von 1770/71 weichte die Barrieren auf, die der Ausbreitung des Kartoffelbaus bisher sowohl von seiten der Agrarverfassung wie auch der mentalen und kulturellen Gewohnheiten der Bevölkerung im Wege gestanden hatten.10 Die Missernten der Jahre 1768 bis 1772 und die folgende Teuerungs- und Hungerkrise veranlassten nun auch viele Kornbauern, die der Kartoffel bisher ablehnend gegenübergestanden hatten, wenigstens temporär auf die Kartoffel als Notspeise auszuweichen. Im Frühling 1771 kam es zu einem Ansturm auf Saatkartoffeln. Die Obrigkeit war gezwungen, zur Linderung der Not die Zehntabgaben auf Kartoffeln zu senken oder ganz aufzuheben. Viele Gemeinden gaben ihren Ortsarmen Allmendland ab, wo diese Kartoffeln anpflanzen konnten. Die Jahre 1770/71 markieren den „Beginn des ‚Kartoffelzeitalters’“.11 Neben der Not hat auch die praktische Volksaufklärung zur Überwindung mentaler und kultureller Aversionen gegen die Kartoffel beigetragen. Kartoffeln anzubauen und zu essen erforderte in der breiten Bevölkerung einen Wandel der Einstellungen und des Verhaltens. Agrarschriftsteller, Reformbürokraten und Angehörige von Ökonomischen Gesellschaften haben mit praktischen Versuchen und pädagogischen Anleitungen die Menschen mit dem ungewohnten Nahrungsmittel vertraut gemacht. Ebenso wichtig für die Einführung neuer Speisen und Ernährungsgewohnheiten dürften auch praktische Erfahrungen der Landbewohner im Umgang mit der Kartoffel gewesen sein. Während der Krise der Jahre 1770/71 stieg die Zahl der Abhandlungen sprunghaft an, welche die Vorurteile der Landbevölkerung gegenüber der Kartoffel bekämpften und sie von deren Nutzen überzeugen wollten.12 Pfarrer David Trachsler (1723–1782) aus dem zürcherischen Trüllikon veröffentlichte 1770 eine „Anleitung wie der Landmann bey der Erdapfelpflanze so wohlfeil leben könne, dass eine Haushaltung von 6 Personen auf einem halben Vierling Erdapfel Feld, ohne ein einzig anderer Schilling zur Nothdurft; auf einem ganzen Vierling aber zum Überfluss über den ganzen Winter hindurch ernehret u. erhalten werden könne.“

Für die Zubereitung und den Konsum machte er Vorschläge, die den Möglichkeiten und Gewohnheiten von klein-, mittel- und großbäuerlichen Haushalten angepasst waren: „(...) kannst du armer Landmann die Erdapfel geniessen eintweder 1. nur geschwellt mit etwas Salz, oder 2. gekocht u. abgedünneret für Suppen oder 3. an einer zwey u. mehrfach abgeändert Brühe; u. also aussert Suppen u. zu Gemüsen zugleich; oder du bemittelter Landmann kannst die Erdapfel geniessen 4. für Brod, an Dünn [Kuchen] u. Wähen 5. für Fleisch, an Knöpflen, 6. für Salat, an Öhl u. Essig, ja 7. kannst du reicher Landmann die Erdapfel an kostlichen Mahlzeiten zu Pasteten, Durben, Krapfen etc. gebrauchen.“13 10 11 12 13

Zur Hungerkrise ebd., S. 52–55. Ebd., S. 52. Zum Folgenden siehe: ebd., S. 99–251. Zit. nach Peter: Heiland der Armen, S. 107f.

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Trachsels Rezeptvorschläge sollten die Konsumenten mit dem Gedanken vertraut machen, dass Kartoffeln weit mehr als einen (zeitweiligen) Ersatz für fehlendes oder zu teures Korn darstellten. Die Vorstellung, die Kartoffel diene primär der Substitution von Getreide, vertraten damals allerdings auch noch zahlreiche Autoren volksaufklärerischer Schriften, welche die Verarbeitung der Kartoffel zu Mehl empfahlen, um daraus (Kartoffel)Brot backen zu können. Sie entwarfen Raffeln, Stampfen und Mühlen, die die Herstellung von Kartoffelmus oder -mehl erleichtern sollten. Aus heutiger Sicht erscheinen diese sogenannten Kartoffelmaschinen als Umweg oder gar Irrweg, besitzt doch die Kartoffel gegenüber dem Korn den Vorteil, dass sie ohne besondere Verarbeitung zubereitet und gegessen werden kann.14 Als Indiz für die Wirksamkeit kultureller Tradition bei der Adaptation neuer Nahrungsmittel und Ernährungsgewohnheiten sind die Vorschläge zum Bau solcher Kartoffelmaschinen allemal aufschlussreich. Das volksaufklärerische Schrifttum erörterte auch die Auswirkungen der neuen Speise auf die Gesundheit der Menschen und auf die Bonität der Böden. Verbreitet war die Überzeugung, der Verzehr von Kartoffeln mache krank, erzeuge Fieber und Aussatz oder mache gar dumm. Andere meinten, der Anbau der Knollenfrucht vergifte die Böden und lauge sie aus. Die ernährungsphysiologischen und medizinischen Folgen des Kartoffelkonsums waren auch im Kreis der ökonomischen Sozietäten umstritten. Hans Jakob Weidmann, Gerichtsvogt und Landchirurg aus dem zürcherischen Niederweningen, erachtete 1780 das Essen von Kartoffeln besonders für jene Personen als schädlich, die zu wenig Bewegung und eine schlechte Verdauung hatten: Es geschehe „vielmahl, dass Leüthe, die eine sizende Lebens Art haben, mit einer ganz gesunden Dauungs Kraft versehen, gleichwohlen, wann solche an den genuss der Erd Äpfel gerathen, und damit eine zeitlang fortsezen, müssen sie nach einiger Zeit die Folgen ihrer zähen und schweren verdaulichen Beschaffenheit, sie seyen hernach vom höchsten, mittleren oder geringsten Stand, und zwar bälder, als wenn sie eine arbeitsame Lebens Art hätten, empfinden. Ist aber die Verdauungs Kraft nicht gar gut, sie seye hernach entweder schon vor Erwehlung der sizenden Lebens Art dagewesen oder erst durch dieselbe entsprungen, so muss der Genuss der Erd Äpfel bey einer sizenden Lebens Art, Soodbrennen, Magendrücken, Blähungen, Verstopfungen, hypokondriche und caketische Zufälle verursachen“15.

Weidmanns Warnung bezog sich insbesondere auf die Heimarbeiter in der textilen Protoindustrie auf der Zürcher Landschaft, die ihre Tage und Nächte sitzend am Webstuhl verbrachten. Gleichzeitig bezeugt sie den kritischen Blick traditioneller ländlicher Eliten auf die mit der Protoindustrie schnell wachsende soziale Unterschicht und deren besondere Lebensweise.16 Die Kartoffel stellte nicht nur traditionelle Ernährungsgewohnheiten, sondern auch alte soziale Abhängigkeiten in den Dörfern in Frage. Der Anbau der Kartoffel verbesserte den Selbstversorgungsgrad von Kleinbauern und Heimarbeitern. Er eröffnete ihnen neue Handlungsspielräume und Auswege aus ihrer prekären Sub14 Abbildungen von sogenannten „Kartoffelmaschinen“ bei ebd., S. 269ff. Siehe auch Stuber: Kartoffelbrot. 15 Zit. nach Peter: Heiland der Armen, S. 130–133. 16 Vgl. Braun: Industrialisierung.

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sistenz. Die Kartoffel wurde damit zu einer Waffe in den sozialen Auseinandersetzungen innerhalb der dörflichen Gesellschaft. In Zuschriften an die ökonomischen Gesellschaften berichteten Kleinbauern davon, wie sie als Kartoffelesser ausgelacht und stigmatisiert wurden. Rudolf Bereuter, ein Kleinbauer aus Illnau (Kanton Zürich), schilderte in einer Eingabe 1780 die Auswirkungen des Kartoffelanbaus auf das Machtgefüge innerhalb seines Dorfs. Als landarmer Kleinbauer sei er ehedem nicht in der Lage gewesen, die sieben Angehörigen seines Haushalts zu ernähren. Gegen teures Geld habe er bei den Dorfbauern Lebensmittel dazukaufen müssen und sei von diesen jeweils herablassend behandelt worden. „Ich habe manchmal gedänkt was ich müsse anfangen das wir doch nicht müssen so gar Hunger leiden und auch so vil Gelt für Speiss bezahlen, ich denke wan ich nur könnte ein Stüklein Land kauffen was niemand bearbeiten thete, guthes vermag ich nicht zu kauffen, entlich kam mir eine nahe Ergeten [unbebautes, ödliegendes Land; AH] an die Hand ohngefahr ein Halb Juchart aber ingeschlagen, und ich mus darfür bezahlen 14 fl., Erstens mache ich den Anfang 1764, und gehe an die Arbeit, da kan ich kein Geschirr in das Land bringen von der Menge der Steinen, da habe ich den wasen und das gewürtz genommen und z Stük gelegt, und die Steine heraus gethon und das Land gründlich gemacht, und während der Arbeit aber kam bald ein Burg bald ein Armer und sprach Einer den Ander ob ich wolle einen Schatz graben, ich sage Nei ich möchte Erdäpfel pflanzen, der Bur sprach es gibt do zu keiner Zeit Nichts und hat sich zum Narren gelachte, der Arme sprach ich möchte doch nicht so arbeiten und Einer nicht weiss ob es etwas gibt oder nicht, ich habe aber manchmol bi mir selber Einwürf bekommen und gedenkt, der Bur müsse es doch besser wüssen weder ich, ich hate aber wieder 17 frischen Muth und fahre mit der Arbeit fort bis zum end.“

Bereuter pflanzte Kartoffeln an, düngte den Boden mit gebrannter Erde und erntete eine hübsche Menge Kartoffeln. „Will [als] ich si aber eingesamlet habe, do haben sich die Leüte, die wo bi der arbeit zugeschaunt haben sich verwunderet, dass es ihnen unbegrifflich ist, es hat unzehlich vil [Kartoffeln] gegäben, do haben si Mich nicht Mer ausgelachet.“18

Rudolf Bereuter schilderte die geglückte Emanzipation von der Macht der Dorfbauern, die Befreiung aus der Abhängigkeit jener, die im Dorf immer genug zu essen hatten und gerade in Notzeiten mit ihren Überschüssen wuchern konnten. Er erzählte aber auch von den Repressalien und Schikanen der Bauern, deren Machtposition auf dem lokalen Markt für Nahrungsmittel durch die Ausbreitung des Kartoffelanbaus in Frage gestellt wurde: „(...) ich muss aber sagen, das ich so in einen Verhass gekommen bin von den Buren, das si mir immer Leid gethan, was si nur haten können, ich kan es nur nicht genug beschreiben, si sagen es seie in unser Gemeind Niemand die Schuld weder ich, dass so viele Erdöpfel gepflanzet werden und das si müssen mit der Frucht auf den Markt fahren si haben si können vordem in dem Haus verkauffen.“ 19

17 Zur Einsendung Bereuters und weiterer Illnauer Einwohner an die Ökonomische Kommission von Zürich 1780 siehe Peter: Heiland der Armen, S. 138–144; das Zitat von S. 140f. 18 Ebd. 19 Zit. nach Peter: Heiland der Armen, S. 144.

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3. GROßE VISIONEN AN DÜNNEN FÄDEN: DAS SCHEITERN DES SEIDENBAUS IN DER SCHWEIZ Wie ist man in der Schweiz in der frühen Neuzeit auf den Gedanken verfallen, Rohseide selber herstellen zu wollen?20 Händler brachten schon im Spätmittelalter Rohseide aus Italien auf die Messen von Genf und Lyon, wo Schweizer Kaufleute sie zur Verarbeitung in der Eidgenossenschaft und im Reich aufkauften. Ihren großen Aufschwung erlebten Seidenproduktion und Seidenhandel in der Schweiz aber im 16. und 17. Jahrhundert. Italienische und französische Glaubensflüchtlinge verhalfen dem Seidengewerbe in Basel, Zürich und Genf zur Blüte. Der Aufstieg des Seidengewerbes im Besonderen und der Textilindustrie im Allgemeinen zu einem Leitsektor der frühneuzeitlichen schweizerischen Wirtschaft verdankt Entscheidendes dem außerökonomischen Faktor Religionspolitik.21 Die Zürcher Seidenindustrie wurde von reformierten Refugianten aufgebaut, die 1555 unter dem Druck der gegenreformatorischen Politik der katholischen Kantone die gemeineidgenössische Herrschaft Locarno (Tessin) hatten verlassen müssen und sich in Zürich niedergelassen hatten. Da sie in der Zunftstadt Zürich aus Rücksicht auf die etablierten Handwerke ihr Gewerbe nicht ausüben durften, verlegten sie sich auf den Handel mit Waren aus Italien. Giovanni Antonio Pestalozzi – der Stammvater der Zürcher Pestalozzi – nahm den Seidenhandel mit Mailand und Como auf. Lodovico Ronco liess ab 1574 Florettseide herstellen und beschaffte die entsprechenden Geräte aus Genf und Venedig. Seidenabfälle bezog er aus Bergamo und Spanien. Sein Schwager Evangelista Zanino baute 1569 eine grosse Samtweberei mit ausgebildeten Meistern und Gesellen auf, richtete in Stadtnähe eine Mühle zur Seidenzwirnerei und eine Färberei ein und pflanzte Maulbeerbäume an. Die Locarneser Refugianten brachten auch das Verlagssystem nach Zürich. In den Haushalten der Zürcher Landschaft fasste die gewerbliche Herstellung von Textilien für den Export und Massenkonsum Fuss, welche von Handels- und Verlagsherren aus der Stadt Zürich organisiert und kontrolliert wurde.22 Einheimische Kaufleute nahmen den Anstoss der Locarneser Kaufleute rasch auf. Die Gebrüder David und Heinrich Werdmüller stiegen in die Seidenindustrie ein und gründeten 1587 mit Francesco Turrettini – einem weiteren, in Genf niedergelassenen Refugianten – eine Firma. Italienische Facharbeiter wurden beigezogen. Nach nur vier Jahren verarbeiteten bereits mehr als tausend einheimische Spinnerinnen und Spinner auf der Zürcher Landschaft Rohseide, welche aus Oberitalien und Spanien importiert wurde. Die Ware wurde über Lyon nach Frankreich und über die Zurzacher, Strassburger und Frankfurter Messe ins Reich exportiert. In Venedig, Mailand, Lyon und Frankfurt war die Firma mit festen Faktoren vertreten.23 20 Zum Folgenden siehe Fink: Basler Bandindustrie; Mattmüller: Landwirtschaft; Mottu-Weber: Production; Piuz: La soie; Röthlin: Handel; ders.: Innovationen; Mottu-Weber: Seide. 21 Vgl. Bodmer: Refugiantenwanderung; ders.: Textilwirtschaft. 22 Vgl. Pfister: Zürcher Fabriques, S. 37–58. 23 Siehe Pfister: Zürcher Fabriques, S. 48–54; Röthlin: Handel, S. 545f.

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Im 17. und 18. Jahrhundert setzte die Zürcher Seidenindustrie ihren Aufstieg fort. Alteingesessene Familien und Nachkommen von Refugianten betrieben als „marchands-fabriquants“ das Gewerbe und den Handel mit Seide mit grossem Erfolg, wobei sich vor allem die Muralt und Orelli – auch sie ehemalige Locarneser Refugiantenfamilien – hervortaten. 1678 gab es in Zürich 33 Firmen, die Florett- und Seidenstoffe herstellten. Die 16 Kaufleute, die Flor arbeiten liessen, beschäftigten zusammen ca. 1500 Webstühle. 1785/86 waren in Zürich 28 Firmen in der Herstellung von Seidenstoffen engagiert und hatten insgesamt etwa 2500 Webstühle in Betrieb.24 Die Verarbeitung von Rohseide und der Handel mit Seidenwaren waren seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in mehreren Kantonen der Schweiz etabliert. Im Rahmen der sich in der frühen Neuzeit allgemein stark entwickelnden Textilindustrie stellte das Seidengewerbe einen international besonders stark verflochtenen Sektor dar. Refugianten brachten ihr europäisches Beziehungsnetz, ihr Finanzkapital, ihr Wissen und Know-how mit und investierten diese Ressourcen in die lokale und regionale Wirtschaft der Schweiz. Diese Investitionen waren nachhaltig rentabel, denn die Nachfrage nach Luxusgütern entwickelte sich in der Neuzeit vorteilhaft. Nicht nur ließ das Primärbedürfnis nach Bekleidung einen der ersten internationalen Märkte für den Absatz industrieller Waren entstehen, seit dem späteren 16. Jahrhundert förderte die kulturelle Entwicklung den Absatz von Seidenwaren. „Plus on avance dans le siècle, plus la mode, le goût de la richesse et de l’apparat, l’étalage des élégances vont pousser aux dépenses somptuaires (...). Les dépenses d’ornementation et d’habillement ouvrent un vaste marché aux tissus de luxe et de grand luxe. La mode est irrésistible, malgré les ordonnances qui veulent réglementer ou prohiber l’usage des soieries.“25

Angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs der Seidenindustrie in Zürich, Basel und Genf und in Anbetracht der Bemühungen der Krone Frankreichs um 1600, mit dem Ausbau der Seidenindustrie die eigene Handelsbilanz zu verbessern, verwundert es nicht, dass auch in der Republik Bern im 17. und 18. Jahrhundert Projekte zur Förderung des Seidengewerbes gesponnen worden sind. 1617 ersuchte Gabriel de Blonay, ein Waadtländer Adeliger, den Berner Rat um die Bewilligung, Maulbeerbäume anpflanzen und Seidenwürmer züchten zu dürfen, „(...) vff daß man in künfftigem andere nationen imitiern und hierdurch den Syden manufactur zu nutzen deß Landts und deßelben Ynwohnern ouch anstellen und in Gang bringen köndte.“26

De Blonay stellte dem Rat vor, dass solche Manufakturen die jungen Leute beschäftigen könnten, die sich ansonsten nur dem Müßiggang ergäben. Der Rat erteilte ihm ein Monopol auf die Anpflanzung von Maulbeerbäumen an öffentlichen Strassen und auf öffentlichen Weiden und erteilte fremden Fachkräften, die das 24 Dazu Pfister: Zürcher Fabriques, S. 58–100; Röthlin: Handel, S. 546f. 25 Piuz: La soi, S. 817. 26 Staatsarchiv Bern A V 1468, fol. 65–70 (o.D., von anderer Hand 1617).

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technische Wissen zum Aufbau der Seidenmanufakturen ins Land bringen sollten, die Niederlassungsbewilligung. Auf Dauer wollte de Blonay den Betrieb seiner Manufakturen mit einheimischen Arbeitskräften sicherstellen. Er dachte insbesondere an die Armen und die Insassen der staatlichen Klöster und Spitäler, die auf Kosten des Staates im Seidenspinnen unterrichtet und damit zu brauchbaren Arbeitskräften für die Manufaktur ausgebildet werden sollten. Diese Menschen sollte ihm der Rat in den ersten zwei Jahren umsonst überlassen. Zwar trat der Rat nicht auf die letzte Forderung ein, weil er keine Möglichkeit sah, die gegenwärtigen Pfründner in den Klöstern und Spitälern zu dieser Arbeit zu zwingen. Für die Zukunft aber, so der Berner Rat, könne er sich durchaus vorstellen, die Erteilung einer Spitalpfründe an die Bedingung zu knüpfen, Manufakturarbeiten verrichten zu wollen. Er erklärte sich auch damit einverstanden, dass die Landvögte all jene, die täglich Almosen erhielten, zu solchen Arbeiten anhielten. Schließlich überließ der Berner Rat dem Adeligen unbewohnte obrigkeitliche Burgen und Schlösser zur Unterbringung der Arbeitskräfte für die Manufakturen. Diese Häuser sollten „glychsam als zu Schulen und Zuchthüseren“ dienen, wo „die Jugent neben allerley handarbeiten ouch im Catechismo und Christenlicher religion gründlich“ unterrichtet werden konnte.27 Über das Schicksal der Pläne des Herrn de Blonay ist nichts bekannt. Sehr wahrscheinlich ist seine Manufaktur, wenn sie überhaupt jemals die Arbeit aufgenommen hat, wie so manches andere staatlich unterstützte Manufakturprojekt im 17. und 18. Jahrhundert nach kurzer Zeit wieder geschlossen worden. Wichtiger als die Frage nach Erfolg oder Misserfolg dieses Projekts erscheint im vorliegenden Zusammenhang allerdings die Beobachtung, wie sehr die Eingabe de Blonays und das Privileg des Berner Rates an zeitgenössischen sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepten ausgerichtet waren. Zwei politisch-ökonomische Leitgedanken des 17. Jahrhunderts standen bei de Blonays Projekt Pate: Zum einen die merkantilistische Überzeugung, mit der Einrichtung von Seidenmanufakturen im Inland den Import teurer Textilien unterbinden und damit die Handelsbilanz positiv beeinflussen zu können. Zum andern reihte sich de Blonays Manufakturprojekt in geläufige sozialpolitische Konzepte: Mit der Beschäftigung von Jungen und Armen in den Manufakturen sollten Müßiggang und Armut bekämpft und diese Menschen zur Disziplin erzogen werden. Aus dieser besonderen Verbindung von Wirtschafts- und Armutspolitik entstanden im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert im protestantischen Europa erste Zucht- und Arbeitshäuser, wo die Arbeit als Mittel der Disziplinierung von Müßiggängern, als Instrument zur produktiven Beschäftigung von Armen sowie als präventive Maßnahme gegen das Laster und die Kriminalität eingesetzt wurde.28 Mit Bedacht hatte denn auch de Blonay sein Gesuch um Erteilung besonderer Privilegien beim Berner Rat mit dem Hinweis eingeleitet, die jüngsten

27 Staatsarchiv Bern A V 1468, fol. 75–82 (30. April 1617). 28 Siehe Sokoll: Arbeitshaus.

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Hinrichtungen von Delinquenten in den Landvogteien Lausanne und Moudon zeigten deutlich, zu welchen Lastern der Müßiggang die Menschen verführe.29 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben sich Mitglieder der 1759 gegründeten Oekonomischen Gesellschaft von Bern für die Ansiedlung der Seidenzucht in der bernischen Waadt stark gemacht. Vor dem Hintergrund der verbreiteten, aber unzutreffenden Annahme, die Bevölkerung der Waadt sei im Rückgang begriffen,30 erblickte Vinzenz Bernhard Tscharner – einer der führenden Köpfe der Gesellschaft31 – in der Seidenraupenzucht eine geeignete Maßnahme gegen die Auswanderung aus der Waadt.32 Auch Tscharners Vorstellungen darüber, wie der Seidenbau die wirtschaftliche Situation in der Waadt verbessern sollte, lassen sich in einen umfassenderen, kulturell geprägten Deutungshorizont einbetten. Populationistische und arbeitsmarktpolitische Überlegungen verknüpften sich bei Tscharner zu einer spezifischen Sicht der politischen Ökonomie der Republik. Tscharner wollte die Seidenfabriken nicht mit Landesuntertanen betreiben; zu diesem Zweck sollten vielmehr ausländische Arbeitskräfte im Land angesiedelt werden. Seidenfabrikanten und die Manufakturarbeiter wollte er mit Verweis auf Standortvorteile in die Waadt locken: so seien dort die Preise für Häuser sowie die Kosten für Arbeit und Nahrungsmittel günstiger als im benachbarten Genf. Tscharner wollte vermeiden, dass einheimische Bauern von der Scholle in die Manufakturen abwanderten. Vielmehr sollten die Manufakturen die lokale Landwirtschaft stärken. Die bäuerlichen Haushalte sollten Maulbeerbäume anpflanzen, Seidenraupen züchten und mit der Lieferung der Rohseide an die Manufakturen ihre Produktivität steigern. Maulbeerbäume – so die Überzeugung des Reformpatrioten Tscharner – konnten überall an Strassen- und Wegrändern und auf kleinen, ungenutzten Parzellen angepflanzt und somit auch bislang brachliegende Areale produktiv genutzt werden. Bezüglich der Seidenraupenzucht hatte Tscharner in Erfahrung gebracht, dass im Piemont fast alle Bauern den Seidenbau betrieben. Dort werde „eine kleine stelle in den wohnzimmern oder in den küchen den würmern eingeräumt, und ihre verpflegung oft einem kinde aufgetragen. Vor nicht gar langen jahren war diese kultur daselbst fast so sehr als izt bey uns vernachläßiget; heut zu tage soll aus diesem kleinen lande für sehr grosse summen an roher Seide jährlich abgeführt werden.“33

Tscharners Visionen zum Seidenbau in der Waadt sind in doppelter Hinsicht aufschlussreich für die kulturelle Prägung des Ökonomischen. Tscharners Vorstellung von der politischen Ökonomie der Republik räumte der Landwirtschaft absolute Priorität ein. Der Betrieb von Seidenmanufakturen rechtfertigte sich im Hinblick auf das höhere Ziel, den Landbau zu stärken und produktiver zu machen: 29 30 31 32

Vgl. Staatsarchiv Bern A V 1468, fol. 71–73. Vgl. Behar: Jean-Louis Muret. Siehe Stoye: Vincent Bernard de Tscharner; Holenstein: Oekonomische Gesellschaft. „Es ist also zu vermuthen, daß dem ausreißen der einwohner in der Waat gesteuert werden könnte, wenn man ihnen mehrere mittel darböte ihre sehnsucht nach dem reichthume zu stillen, die ungeduldige müßigkeit des geistes an einen gegenstand zu heften, und das herz mit einheimischen hofnungen zu speisen.“ [Tscharner]: Seidenbau, S. 6. 33 Ebd., S. 14.

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„Man kan es nicht zu oft erinnern: Der anbau des rohen stoffes ist jederzeit das wichtigere stük. Die manufaktur ist bedingter, abhänglicher, auf wenigere leut eingeschränkt, grössern und schnellern abwechslungen unterworfen. Die pflanzung oder kultur des ersten produktes ist ein freyeres nahrungsmittel, der mißwachs desselben ist von keinen so weit aussehenden folgen, wie die zufälle, die die verarbeitung unterbrechen können. Der pflänzer kan sich alsobald nach den umständen einen andern gegenstand wählen, aber nicht so der arbeiter einen andern beruf. Die fabrikanten hängen also noch mehr von den pflänzern, als diese von jenen ab.“34

Tscharner beurteilte die Landesökonomie unter staatspolitischen Gesichtspunkten. Ihm erschien die Agrarproduktion als „freyeres nahrungsmittel“, die Manufaktur war für ihn hingegen „bedingter, abhänglicher“, d.h. stärker von den Unwägbarkeiten des Marktes und von volatilen Konjunkturen abhängig. Tscharners politische Ökonomie setzte die Sicherheit und Unabhängigkeit der Bürger und Untertanen und damit letztlich auch des Staates als prioritäres politisches Ziel, dem sich die Wirtschaft des Landes unterzuordnen hatte. Diese klassisch-republikanische Wirtschaftskonzeption richtete die Ökonomie auf das oberste Ziel aus, die staatliche Souveränität zu festigen.35 Die agrarisch fundierte Republik bewahrte Tscharner zufolge ihre volle staatliche Handlungsfähigkeit und Freiheit wesentlich sicherer als die auf Industrie und Kommerz basierende Handelsrepublik. Diese war aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Marktverflechtung sowohl für den Absatz ihrer Waren als auch für die Versorgung mit Nahrungsmitteln von fremden Staaten abhängig und blieb damit grundsätzlich erpressbar. Konsequenterweise interessierten die Seidenmanufakturen Tscharner allein hinsichtlich ihres Nutzens für die einheimische Landwirtschaft, während er deren Betrieb Arbeitern übertragen wollte, die bei Konjunktureinbrüchen als Landesfremde rasch wieder außer Landes geschafft werden konnten, bevor sie zu Fürsorgefällen wurden und den Gemeinden zur Last fielen. Die politische Ökonomie des alteidgenössischen Republikanismus offenbarte hier ihre Widersprüche. Im Zeitalter der sich globalisierenden Weltökonomie des 18. Jahrhunderts setzte Tscharner – nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner Rousseau-Lektüre36 – auf die Landwirtschaft und die krisensichere, nachhaltige Versorgung und Unabhängigkeit des Staates. Inkonsistent blieb dieses Konzept insofern, als es mit seiner einseitigen Ausrichtung auf die Nutzbarmachung des Seidenbaus für die Landwirtschaft gleichwohl die bäuerlichen Haushalte an die Welt der Fabriken und Manufakturen, an die Sphäre des globalen Marktes und an die unbeständigste Traumwelt band, die sich nur denken ließ, an die Traumwelt der Mode und des raffinierteren Geschmacks. Tscharners Pläne spiegelten noch in weiteren Hinsichten den Deutungshorizont des aufgeklärten patrizischen Republikaners wider. Prämienzahlungen sollten die Bauern in der Waadt dazu motivieren, auf ihrem Grund und Boden Maulbeerbäume anzupflanzen. Das hierfür nötige Geld sollte eine Lotterie aufbringen.

34 Ebd., S. 13f. 35 Siehe Kapossy: 'Der Bedrohlich Frieden'; ders.: Neo-Roman Republicanism. 36 Vgl. Kapossy: Iselin contra Rousseau, S. 180–192.

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André Holenstein „Da so viel geldes in ausländische lotterien geworfen wird, so sehe ich keine üble folge von der bewilligung einer einheimischen lotterie zu einem so landesnüzlichen vorhaben.“37

Der gemeine Nutzen rechtfertigte in den Augen des Reformaufklärers eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot des Glücks- und Geldspiels, das die bernischen Aufwandsordnungen damals noch kannten.38 Schließlich sollten in den bäuerlichen Haushalten der Waadt Tscharner zufolge bezeichnenderweise die Kinder nebenher die Fütterung der Seidenraupen besorgen. Tscharner unterschätzte nicht nur den hohen Zeitaufwand, den die Pflege der Maulbeerbäume, die häufige Ernte frischer Blätter, die Fütterung der gefräßigen Seidenraupen und die Reinigung der Holzlager sowie die aufwändige Gewinnung der Rohseide aus den Seidenkokons erforderten.39 Er unterstellte zugleich, dass in der ländlichen Gesellschaft freie Zeit im Überfluss vorhanden war und es folglich nur darum gehen musste, diese brachliegende Ressource durch die Verfleissigung der Menschen effizienter zu nutzen.40 Zwar sind Tscharners Visionen einer Seidenzucht in der Waadt langfristig nicht wirksam geworden. Gleichwohl sind sie nicht ganz folgenlos geblieben. Die von ihm angeregte Lotterie, mit deren Ertrag Prämien an innovationswillige Waadtländer ausgerichtet werden sollten, wurde 1766 tatsächlich durchgeführt und erbrachte die stattliche Summe von 2295 Pfund, welche zur Förderung des Seidenbaus verwendet worden sind. In den folgenden Jahren sind Familien und Einzelpersonen aus den Ämtern Vevey und Nyon für die Anlage von Maulbeerbaumplantagen und die Gewinnung von Rohseide prämiert worden.41 Ein gewisser Benjamin Gaulis tat sich besonders hervor, indem er Ende der 1760er Jahre um das Städtchen Cossonay fast 8000 Maulbeerbäume anpflanzte und 1771 47 Pfund Rohseide vorlegen konnte.42 Gaulis war im Unterschied zu Tscharner ein Praktiker, kein Theoretiker. Er setzte in den 1770er Jahren seine Projekte fort und fasste seine Erfahrungen in einer längeren Abhandlung zusammen, welche die bernische Oekonomische Gesellschaft 1780 auf ihre Kosten drucken liess und 1785 noch in deutscher Übersetzung herausbrachte.43 Gaulis wollte seinen Lesern beweisen, dass das Klima in der Waadt – entgegen aller Vorurteile – kein Hindernis für die Zucht von Seidenwürmern darstellte. In allen Einzelheiten schilderte er, was ein Waadtländer Seidenbauer – von der Anpflanzung der Maulbeerbäume über die Aufzucht und Fütterung der Seidenraupen bis zur Verarbeitung der Seidencocons – bei der Gewin37 Tscharner: Seidenbau, S. 16. 38 Vgl. Homburg: Fortuna und Methode. 39 Angaben zum Zeitaufwand und Futterbedarf der Seidenraupenzucht unter dem Artikel „Seidenspinner“. 40 Vgl. Holenstein: Industrielle Revolution. 41 Entsprechende Angaben in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt, 10 (1769), Nr 2, S. 7f.; Abhandlungen und Beobachtungen durch die ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt, 12 (1771), S. XVIII. 42 Siehe Holenstein: Fäden. 43 Siehe Gaulis: Récolte. Die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Versuch über den Seidenbau im Pays de Vaud“.

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nung der kostbaren Rohseide zu beachten hatte. Ganz im Geist des ökonomischen Patriotismus stellte Gaulis nicht den persönlichen Nutzen seiner Projekte heraus, sondern betonte deren glückliche Folgen für die Allgemeinheit: „Wenn man ohne Vorurtheil und als Patriot den grossen Nuzen erwieget, welchen die Seidenernde einem Land verschaffen würde, welches weder Handlung noch Fabriken hat, so kann man sich nicht enthalten zu seufzen, daß dieselbe noch immer der Gegenstand einer so allgemeinen als ungegründeten Widersezlichkeit ist, während daß sie vor unsern Augen unsre mittäglichen [südlichen; AH] Nachbarn bereichert.“44

Die Projekte der Oekonomischen Gesellschaft Bern zur Förderung der Seidenindustrie in der Waadt fügen sich in eine grössere Bewegung ein, welche auch in Territorien des Reichs im 18. und 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Ganz in der Tradition der spätaufklärerischen Agrarreformer hat der bayerische Staatsrat Joseph von Hazzi (1768–1845) in einem „Lehrbuch des Seidenbaus für Deutschland und besonders für Baiern, oder vollständiger Unterricht über die Pflanzung und Pflege der Maulbeerbäume, dann Behandlung der Seidenwürmer, sohin über die Seidenzucht“ die Ansiedlung der Seidenraupenzucht in Bayern propagiert und sich die vielfältigsten Segnungen für sein Land versprochen: „Nicht allein unbestreitbare wirtschaftliche Vorteile im Wettbewerb mit anderen Nationen brächte ein solcher, auf eine populäre Grundlage gestellter Seidenbau (...) mit sich, sondern auch die bürgerliche Verbesserung des Weibergeschlechts und aller anderen an ein regelmäßiges Arbeiten ungewohnten Teile der Bevölkerung. Zudem sei die Beobachtung des unscheinbaren Insekts, wie es unter menschlicher Pflege sich stufenweise entwickelt und zuletzt die zartesten und nützlichsten Stoffe hervorbringt, ein höchst schickliches Mittel zur Bildung der Jugend. Die für jedes Gemeinwesen unabdingbaren Tugenden der Ordnung und der Sauberkeit könnten (...) günstiger nicht in die niedrigeren Schichten getragen werden als durch die Ausbreitung des Seidenbaus, ja er gewärtige sich, schreibt von Hazzi, durch die Aufzucht der Seidenraupe im Schoße der Mehrzahl der deutschen Familien geradezu eine moralische 45 Umwandlung der Nation.“

Wie Tscharner so war auch Hazzi der Meinung, der Seidenbau könne von Frauen und Kindern, von Armen und Alten in gewöhnlichen Zimmern als Nebenbeschäftigung betrieben werden.46

44 Ebd., S. 57. 45 Hazzi: Lehrbuch des Seidenbaus; zit. nach Sebald: Saturn, S. 359f. 46 Vgl. Hazzi, zit. nach Sebald: Saturn, S. 45: „Keine Regie, keine Administration, keine Beamten, keine Kosten; sondern der Seidenbau soll nur populär, – eine Nebensache, – ein Nebenverdienst für Gesinde, Kinder, Arme, alte Leute werden. Zugleich wird derselbe (...) den schönen Händen der Damen empfohlen, die sich gleichsam spielend innerhalb sechs Wochen eine ihrer schönsten Zierden für Kleider und Meubles – die Seide – ohne geringste Kosten selbst ziehen können.“ – Ebd., S. 63: „(...) daß hier nur von der populären Seidenzucht die Rede seyn soll, welche die Hände der Frauen, Mädchen, Kinder, der alten und armen Leute als Nebensache betreiben, und die durch diese Tausende von Händen doch zu einem großen Resultat, zu einer ungeheuern Menge von Seidenwürmern und ihrer Produktion führt.“

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4. SCHLUSSFOLGERUNGEN IM HINBLICK AUF EINE KULTURGESCHICHTE DES ÖKONOMISCHEN Die Kartoffel und die Seide standen in der frühen Neuzeit im Mittelpunkt zweier verschiedenartiger Projekte agrarischer Innovation. Der Weg der Kartoffel von den fürstlichen Ziergärten und den Handbüchern der gelehrten Botaniker auf die Teller des Volkes war lang und hindernisreich. Strukturell-institutionelle Hindernisse wie das Zehntrecht und die Sorgen der Zehntherren um Einbußen bei den Feudalabgaben mussten beseitigt werden. Ernährungsgewohnheiten mussten umgestellt, die Stigmatisierung der Kartoffel als Nahrung der armen Leute musste überwunden werden. Die Bereitschaft zur Aufnahme der Kartoffel schwankte in der ländlichen Gesellschaft je nach sozialer und kultureller Lebenslage der einzelnen Gruppen. Italienische und französische Refugianten brachten das Seidengewerbe und den Seidenhandel im 16. Jahrhundert nach Genf, Basel und Zürich. Ihr wirtschaftlicher Erfolg motivierte bei Politikern und Agrarreformern Vorhaben, die Seidenraupenzucht in der Schweiz anzusiedeln und die wertvolle Rohseide im eigenen Land herstellen zu lassen. Betrachteten die einen solche Projekte als taugliche Maßnahme zur Bekämpfung von Armut und Müßiggang und somit als Teil einer umfassenden Sozialpolitik, erhofften sich andere davon die Stabilisierung des wirtschaftlichen Fundaments des souveränen Freistaates und der politischen Ökonomie der Republik. In beiden Fällen determinierten ausserökonomische, i.w.S. kulturelle Codes die Konzepte. Der Beitrag sollte das Potential des kulturalistischen Ansatzes für die Wirtschaftsgeschichte unterstreichen.47 Kulturgeschichte meint die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Sie nimmt „den gesamten Bereich des Verhaltens der Menschen, ihres Innestehens in konkreten sozialen Strukturen und ihres individuellen und sozialen Handelns“ in den Blick.48 Sie untersucht Praktiken und Wissensformen in einem integrierenden Ansatz und fragt systematisch nach den Wechselbeziehungen zwischen dem Handeln und den diesem zugrundeliegenden Kategorien des Wissens und der Erfahrung.49 Sie akzentuiert bei der Analyse des Ökonomischen die komplexe Interaktion ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Faktoren und die Einbettung wirtschaftlichen Handelns in eine soziokulturelle Umwelt. Eine Betrachtungsweise, welche dem Einfluss der „weichen“, kulturellen Kräfte auf die Ökonomie nachspürt, findet ihre Anwälte schon unter den frühneuzeitlichen Beobachtern des wirtschaftlichen Wandels, die selber die entscheidenden Auslöser für den Wandel nicht so sehr im unmittelbaren Zwang harter ökonomischer Fakten erblickten, sondern auf die steigenden subjektiven Bedürfnisse und die wachsende Nachfrage nach raffiniertem Konsum zurückführten. 1690 wies der englische Autor Nicholas Barbon in seinem „Discourse of Trade“ darauf 47 Siehe Berghoff/Vogel: Wirtschaftsgeschichte. 48 Vgl. Vierhaus: Lebenswelten, S. 9. 49 Vgl. Landwehr (Hg.): Wirklichkeit.

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hin, der Mensch besitze neben seinen leiblichen Bedürfnissen auch „wants of the mind“ – Bedürfnisse der Vorstellung und Einbildung. Diese Bedürfnisse rührten vom „Appetite of the Soul“ her, denn wie der Körper, so habe auch die Seele ihre natürlichen Bedürfnisse: “The Wants of the Mind are infinite, Man naturally Aspires and as his Mind is elevated, his Senses grow more refined, and more capable of Delight; his Desires are inlarged, and his Wants increase with his Wishes, which is for every thing that is rare, can gratifie his Senses, adorn his Body and promote the Ease, Pleasure and Pomp of Life.”50

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Barbon, Nicholas: Discourse of Trade, London 1690. Behar, Cem L.: Le pasteur Jean-Louis Muret (1715–1796): de la controverse sur la dépopulation à l’analyse démographique, in: Population, 51 (1996), Nr. 3, S. 609–644. Berger, Hans Peter: Die Einführung und Ausbreitung der Kartoffel im Freistaat der Drei Bünde während des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: Bündner Monatsblatt, 5/6 (1982), S. 117–147. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Dies. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004, S. 9–41. Bodmer, Walter: Der Einfluss der Refugiantenwanderung von 1550–1700 auf die schweizerische Wirtschaft. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühkapitalismus und der Textilindustrie, Zürich 1946. Bodmer, Walter: Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, Zürich 1960. Brakensiek, Stefan/Mahlerwein, Gunter: Artikel „Agrarreformen“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005. Braun, Rudolf: Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderungen der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800 (Zürcher Oberland), 2. Aufl., Göttingen 1979. Bucher, Silvio: Bevölkerung und Wirtschaft des Amtes Entlebuch im 18. Jahrhundert, Luzern 1974. Buckow, Wiebke: Kartoffeln. Anleitungen zum Umgang mit einer Delikatesse, Hamburg 2001. Fink, Paul: Geschichte der Basler Bandindustrie 1550–1800, Basel/Frankfurt 1983. Gaulis, Benjamin: Essai sur la récolte de la soie dans le Pays de Vaud, Bern 1780. Die deutsche Übersetzung unter dem Titel :Versuch über den Seidenbau im Pays de Vaud, in: Neue Sammlung physisch-ökonomischer Schriften, hg. von der Oekonomischen Gesellschaft in Bern, 3 (1785), S. 54–214. Holenstein, André/Stuber, M./Gerber-Visser, G. (Hg.): Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen, Heidelberg 2007. Holenstein, André: Gerissene Fäden oder wie die Oekonomische Gesellschaft Benjamin Gaulis enttäuschte, in: Martin Stuber u.a. (Hg.): Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Oekonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759–2009), Bern u.a. 2009, S. 135–138. Holenstein, André: Industrielle Revolution avant la lettre. Arbeit und Fleiss im Diskurs der Oekonomischen Gesellschaft Bern (2. Hälfte 18. Jahrhundert), in: André Holenstein/M. Stuber/ G. Gerber-Visser, (Hg.): Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen, S. 17–40. 50 Barbon: Discourse of Trade.

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WIRTSCHAFT – KULTUR – GESCHICHTE: POSITIONEN UND PERSPEKTIVEN Achim Landwehr Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte muten derzeit wie zwei entfernte Verwandte an, die mehr oder minder eifrig darum bemüht sind, einen unterbrochenen Kontakt mühsam wieder aufzunehmen. Wie bereits in der Einleitung zu diesem Sammelband ausreichend zum Ausdruck gebracht wurde (und wie auch andere Veröffentlichungen zu dieser Diskussion hinreichend deutlich machen1), ist das Verhältnis dieser beiden Perspektivierungen alles andere als einfach. Man muss immer noch den Eindruck haben, dass sich hier zwei Entfremdete unterhalten, die sich eigentlich wenig zu sagen haben, weil ihre Grundvoraussetzungen zu verschieden sind. Dass man aber diesen metaphorisch formulierten Befund in dieser Form nicht gänzlich unwidersprochen stehen lassen kann, wird einerseits durch die Diskussion belegt, die seit einiger Zeit – wenn auch noch etwas gemächlich – zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte in Gang gekommen ist, andererseits aber auch durch die Beiträge des vorliegenden Bandes, die erkennen lassen, dass es nicht ausschließlich konzeptionelle Überlegungen, sondern zunehmend empirische Studien sind, die hier eine Rolle spielen. Lässt man die hier versammelten Aufsätze mit Blick auf die Fragestellung Revue passieren, welche Gestalt das zarte Pflänzchen der Zusammenarbeit zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte annimmt und welche weiteren Entwicklungsmöglichkeiten es hat, dann lassen sich – wenn auch etwas vergröbert – drei Kategorien bilden: Erstens fallen die Bemühungen der Wirtschaftsgeschichte auf, kulturhistorische Fragen stärker in den eigenen Kanon zu integrieren; zweitens wenden sich – wenn auch immer noch vereinzelt – Kulturhistorikerinnen und Kulturhistoriker wirtschaftlichen Gegenständen zu; und drittens muss man sich angesichts der ersten beiden Punkte die Frage stellen, ob sich auf Grundlage dieses Status quo tatsächlich neue Perspektiven gewinnen lassen und welche vielversprechenden neuen Wege eingeschlagen werden könnten.

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Siehe dazu Berghoff/Vogel: Kulturgeschichte; vgl. auch die Diskussion über „Kultur in der Wirtschaftsgeschichte“ in: VSWG, 94 (2007), S. 173–188.

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1. WIE KOMMT DIE KULTUR IN DIE WIRTSCHAFT? Auf welche Art und Weise kommen also kulturelle Fragestellungen in die Wirtschaftsgeschichte? Mit Blick auf die hier versammelten Beiträge scheint es insbesondere der Zusammenhang von Ökonomie, Institutionen und kulturellen Faktoren zu sein, der größere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dadurch können einerseits etablierte Forschungsthemen beibehalten, diese andererseits aber durch unverzichtbar erachtete Facetten erweitert werden. Die Forschungsperspektiven, die sich dadurch eröffnen, zeigen einige der Beiträge deutlich auf: Margrit Schulte Beerbühl konzentriert sich anhand der Auswanderung deutscher Kaufmannsfamilien nach London seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auf die Bedeutung der Institutionen Verwandtschaft und Familie für die Ausbildung von letztlich global agierenden Handelsnetzen – eine Fragestellung, mit der nicht zuletzt auch die Konstitution von Zeiten und Räumen in den Blick gerät. Auch Oliver Schulz geht es anhand der Familie von Elverfeldt aus der Grafschaft Mark um die (adlige) Familie im Schnittpunkt von Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Er stellt Familie und Memorialfunktion als zentrale Merkmale adligen Selbstverständnisses dar, die große Bedeutung für die Entscheidungsspielräume adliger Unternehmer haben. Dass sich kulturelle Interessen innerhalb der Wirtschaftsgeschichte offenbar mit Vorliebe familialen oder personalen Forschungsgegenständen zuwenden, unterstreicht darüber hinaus auch der Beitrag von Christian Marx, der sich auf Paul Reusch als Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte und dessen Möglichkeiten der Führung eines Familienunternehmens konzentriert. Schließlich lässt sich auch Stefan Gorißen auf das Problem der Herausbildung des Kommissionsund Speditionshandels als einer spezifischen ökonomischen Institution ein, die sich im Zusammenspiel von wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Faktoren herausgebildet hat. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich all diese Beiträge explizit auf die Neue Institutionenökonomik beziehen. Hier scheint – wie die genannten Beiträge ja auch konkret belegen können – aus Sicht der Wirtschaftsgeschichte ein Angebot vorzuliegen, das neue Perspektiven eröffnet. Doch gerade mit Blick auf diese Neue Institutionenökonomik kann von kulturhistorischer Warte nicht auf die Bemerkung verzichtet werden, dass auffallender Weise das kulturwissenschaftliche Know-how nicht immer bei den Kulturwissenschaften abgeholt, sondern teils in Abgrenzung von eben diesen Theorieentwicklungen entworfen wird. Darin mag fraglos ein gewisser Reiz liegen, erleichtert aber die Diskussion zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte nicht unbedingt. Dieser Zustand birgt zudem die Gefahr in sich, auf wirtschaftshistorischer Seite Debatten wiederholen zu müssen, die auf kulturhistorischer Seite möglicherweise längst ausdiskutiert sind. Daher wäre sowohl an die Wirtschafts- wie auch an die Kulturgeschichte der dringende Appell zu richten, das Rad der jeweils Anderen nicht neu erfinden zu wollen, sondern die jeweiligen Forschungsansätze – selbstredend in kritischer Absicht – nicht nur zur Kenntnis, sondern auch ernst zu nehmen. So wie die Wirtschaftsgeschichte den Kulturbegriff nicht neu entwerfen muss, so wäre es auch von der Kulturge-

Wirtschaft–Kultur-Geschichte: Positionen und Perspektiven

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schichte vermessen, ein Verständnis von Ökonomie zu formulieren, das ohne die Wirtschaftswissenschaften auskäme. Besieht man sich die Situation der gegenseitigen Wahrnehmung von Kulturund Wirtschaftsgeschichte etwas näher, werden weitere Probleme offenbar. Dies betrifft beispielsweise den zuweilen als ominös behandelten Kulturbegriff. Man muss nämlich unweigerlich den Eindruck gewinnen, dass die Entwicklung von Kulturbegriffen in beiden Bereichen parallel zueinander und zu einem gewissen Grad auch unabhängig voneinander stattfindet. Nicht dass die kulturwissenschaftliche Diskussion in der Wirtschaftsgeschichte nicht wahrgenommen würde, aber sie wird wohl entweder als wenig relevant erachtet oder hat mit dem einen oder anderen Ressentiment zu kämpfen. Das Verständnis kultureller Fragen, wie es sich derzeit in der Wirtschaftsgeschichte präsentiert, ist also nicht zuletzt eines, das innerhalb der Wirtschaftsgeschichte selbst entwickelt wurde und nur partielle Verbindungen mit der Kulturgeschichte aufweist. Besonders deutlich wird dies anhand der Wertschätzung, die der genannten Neuen Institutionenökonomik in diesem Zusammenhang entgegengebracht wird. Zwar hat gerade Clemens Wischermann in einem viel beachteten Beitrag für eine kulturwissenschaftliche Erweiterung der Neuen Institutionenökonomik plädiert und damit zahlreiche Anregungen gegeben,2 aber ein wichtiger Umstand ist dabei nicht zu übersehen: Mit einem solchen Ansatz verbleibt die Wirtschaftsgeschichte auf der Ebene der Institutionen, ohne die weit reichenden Möglichkeiten kulturhistorischer Fragestellungen gänzlich auszunutzen, die sich auch abseits solcher institutioneller Verfestigungen bewegen. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass Institutionen auch und gerade unter kulturhistorischer Perspektive ein eminent wichtiger Gegenstand sind. Aber die Etablierung kultureller Formationen schlägt nicht immer den Weg der Institutionalisierung ein, sondern kennt zahlreiche andere Formen. Zudem lässt sich der Eindruck nicht ganz aus dem Weg räumen, dass die Neue Institutionenökonomik ihren Gegenstand – also die ökonomischen Institutionen – immer schon als gegeben voraussetzt, anstatt ihn unter kulturwissenschaftlicher Perspektive an sich erst zum Problem zu machen (obwohl es gerade das ist, wofür Wischermann plädiert). Was von wirtschaftshistorischer Seite daher erst in Ansätzen zur Sprache kommt, ist die originäre kulturhistorische Frage nach den Sinndimensionen und Bedeutungsformen in historischen Konstellationen. Kulturelle Aspekte können vor diesem Hintergrund keinesfalls reduziert werden auf die so genannten ‚weichen Faktoren‘ (z.B. Vertrauen, informelle soziale Beziehungen, etc.), sondern müssen ernsthafter und weitgehender danach fragen, auf welche Weise das Ökonomische kulturell produktiv wirkt und soziokulturell wirksame Bedeutungsformen hervorbringt, indem z.B. ökonomische Prinzipien zu positiv besetzten Werten aufsteigen, die auch außerhalb des ökonomischen Bereichs Geltung erlangen, oder indem nur kulturell zu erklärende Symbolisierungen (Stichwort: Geld) das gesellschaftliche Miteinander bestimmen, oder indem das Ökonomische völlig veränderte Verständnisse von Zeit und Raum zu produzieren in der Lage ist. 2

Wischermann: Institutionenökonomik.

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Auch im Rahmen der in diesem Band versammelten Beiträge ist nicht zu übersehen, dass ‚Kultur‘ nicht selten als eine ‚zweite Natur‘ verstanden wird, als ein Überbauphänomen, das ‚dem Eigentlichen‘, mithin dem wirtschaftlichen Handeln sowie den ökonomischen Strukturen und Prozessen, übergestülpt wird. Kulturelle Aspekte sind als tatsächlich integrale Bestandteile wirtschaftlicher Vorgänge auch in der Wirtschaftsgeschichte noch nicht angekommen. So ist – um ein Beispiel in keineswegs denunzierender Absicht herauszugreifen – von Christian Marx in seinem Beitrag über Paul Reusch zwar hervorgehoben worden, dass auch die Wirtschaftsgeschichte sich stärker mit Institutionen auseinanderzusetzen habe, die nicht zuletzt auf kulturelle Prozesse zurückgingen, womit er im Sinne der Neuen Institutionenökonomie vor allem Vertrauen, soziales Kapital und Netzwerke im Blick hat; zugleich wird aber sowohl in der konzeptionellen Anlage wie auch im empirischen Vorgehen der Studie deutlich, dass solche kulturellen Faktoren noch vornehmlich als vorsichtige Erweiterungen klassischer wirtschaftsgeschichtlicher Themenstellungen verstanden werden. Die Figur der Wirtschaftslenkers Paul Reusch steht in ihrem weitgehend autonomen Handeln weiterhin im Mittelpunkt, erweitert durch einige kontextualisierende Einordnungen, die einen Schritt auf dem Weg zu einer echten Kooperation von Wirtschafts- und Kulturgeschichte darstellen, bis zu deren tatsächlicher Umsetzung jedoch noch eine gewisse Strecke zurückzulegen haben. 2. WIE KOMMT DIE WIRTSCHAFT IN DIE KULTUR? Haben wir es auf der einen Seite mit dem Problem zu tun, dass im Kontext wirtschaftshistorischer Arbeiten kulturelle Aspekte noch nicht im Sinne der Kulturgeschichte integriert worden sind, so ist mein Eindruck, dass sich das Problem in umgekehrter Richtung nochmals in verschärfter Art und Weise stellt – denn die Kulturgeschichte hat sich bisher so gut wie gar nicht darum bemüht, wirtschaftliche Fragestellungen in Angriff zu nehmen. Ohne Frage lassen sich auch für diese pauschalisierende Aussage Gegenbeispiele anführen, die in ihrer (überschaubaren) Gesamtheit die Tendenz jedoch eher bestätigen, dass nämlich die Ökonomie immer noch nicht im Kern der Kulturgeschichte und der Kulturwissenschaften insgesamt angekommen ist.3 Dass dies aus vielerlei Gründen bedauerlich ist, muss kaum ausgeführt werden, denn dazu ist die Relevanz, die der Wirtschaftssektor für unser aller Leben hat, viel zu gravierend. Diesem Phänomen auch von kulturwissenschaftlicher Warte nachzugehen, ist nicht zuletzt eine Intention dieses Bandes.Wenn aber die Wirtschaft zum Gegenstand kulturhistorischen Fragens wird, dann stellt sich nicht selten unter umgekehrten Vorzeichen dasselbe Problem, das sich auch auf wirtschaftsgeschichtlicher Seite beobachten lässt, dass also wirtschaftswissenschaftliches Know-how nicht vorhanden ist oder nicht in Anspruch genommen wird. Vielfach liegt dies an mangelnden Kenntnissen, die zu erwerben 3

Ein eindrückliches Gegenbeispiel, das institutionell allerdings der Soziologie zuzuordnen ist, ist Stäheli: Spekulation.

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für beide Seiten aufgrund des nicht geringen Anspruchs alles andere als einfach ist. Auf kulturhistorischer Seite sind es die allgemeinen theoretischen Diskussionen, die auf Nicht-Eingeweihte durchaus abschreckend wirken können, auf wirtschaftshistorischer Seite sind es die ökonomischen (und auch ökonometrischen) Theorien und Modelle, welche die Lektüre zuweilen mühsam werden lassen. Die Herausforderung kulturhistorischer Forschungsansätze, sich ökonomischer Themen anzunehmen, stellt sich daher mindestens zweifach: Neben die generelle Bereitschaft, die Bedeutung wirtschaftlicher Fragen für den Bereich der Kulturgeschichte nicht nur zu akzeptieren, sondern zu einem zentralen Anliegen zu machen, muss der Wille treten, sich aus kulturhistorischer Warte mit ökonomischer Theoriebildung auseinanderzusetzen – und zwar nicht nur, weil dies eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis basaler Vorgänge ist, sondern weil auf diese Weise erst tatsächlich Vorgänge im Bereich des Wirtschaftlichen kulturwissenschaftlich gespiegelt werden können. Andernfalls besteht weiterhin die Gefahr, dass der wechselseitig geäußerte Vorwurf der Oberflächlichkeit nicht wirklich ausgeräumt werden kann. So wie man seitens der Kulturgeschichte wirtschaftshistorischen Ansätzen entgegenhalten kann, sie befassten sich nicht selten mit Kultur als einem Rand- oder Oberflächenphänomen, so müssen sich kulturhistorische Arbeiten das Argument gefallen lassen, dass wenn sie sich schon auf die Wirtschaft einlassen, sie sich doch eher mit deren Randbereichen beschäftigen. Dass man Werbung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Geschichte des 20. Jahrhunderts kaum als Randphänomen betrachten kann, verdeutlichen die Beiträge von Sandra Schürmann und Elena Brenk. Während Schürmann Werbung (auch) als ein Medium der Kommunikation von Herstellern und Unternehmen mit ihren Konsumentinnen und Konsumenten deutet und sich in diesem Zusammenhang für die Wechselwirkung von kulturellen Deutungen und unternehmerischem Handeln am Beispiel der Zigarettenfabrik Reemtsma interessiert, geht es Brenk um die Frage der ‚Produktkommunikation‘ am Beispiel der Werbung. In welcher Art und Weise, so wird am Beispiel der Kosmetikmarke ‚Toscana‘ untersucht, können Produkte auf wachsenden Konsumgütermärkten erfolgreich (oder eben auch erfolglos) sein, die aus der Sphäre des reinen Konsums und der Befriedigung von Grundbedürfnissen herausgetreten sind? Und auch wenn der Gegenstand der Werbung nicht ernsthaft als marginal bezeichnet werden kann, so ist er doch auch nicht in der Lage, den Vorwurf zu entkräften, kulturhistorische Arbeiten konzentrierten sich auf ‚das Weiche‘ und ‚das Randständige‘, da er nicht in das wirtschaftliche Kerngeschäft zielt. 3. AUF DEM WEG ZU EINER WIRTSCHAFTSKULTURGESCHICHTE Angesichts solcher Probleme müsste das Ziel die Formulierung eines historischen Ansatzes sein, der nicht künstlich zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte trennt, sondern tatsächlich an den Problemen und Gegenständen orientiert ist und anerkennt, dass keine historische Behandlung ohne kulturelle und wirtschaftliche (und gesellschaftliche und politische und rechtliche und technische …) Betrach-

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tungsweisen auskommt. Die eigentliche Frage scheint mir daher nicht mehr in der Entscheidung zu bestehen, ob nun Kultur- oder Wirtschafts- oder Sozial- oder Politik- oder welche Bindestrich-Geschichte auch immer für sich genommen ‚wichtig‘ ist oder welchem Ansatz nun der Vorzug zu geben ist.4 Das sind Sandkastenspiele mehr oder minder großer Buben und Mädchen um die schönsten Förmchen und die größte Sandburg. Ein Ergebnis der Diskussionen, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten anhand der Kulturgeschichte entzündet haben (aber im Kern natürlich nicht nur die Kulturgeschichte betreffen), ist die Einsicht in die grundlegende Nutzlosigkeit solcher kompetitiver EigentlichkeitsDiskussionen, welcher Ansatz nämlich der ‚eigentlich‘ bessere und relevantere sei.5 Ohne Zweifel muss sich jede historische Perspektivierung der Herausforderung stellen, ihre Qualitäten und Erkenntnismöglichkeiten zu belegen. Wenn dies aber nach einer gewissen Prüfungsphase tatsächlich gelungen ist, sollten Grundsatzdiskussionen über die Lufthoheit über den akademischen Schreibtischen ad acta gelegt werden. Der geschichtswissenschaftliche Alltag, der sich abseits von Grundlagendebatten abspielt, belegt ja auch nachdrücklich, dass es bei der Pluralität der unterschiedlichen Ansätze überhaupt kein Problem gibt. Aber gerade der Gegenstand einer Diskussion beziehungsweise Kooperation zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte macht deutlich, dass es keineswegs genügen kann, auf der bunten Blumenwiese der Geschichtswissenschaft einfach nur friedlich nebeneinander zu existieren. Denn der Pluralität der Ansätze das Wort zu reden, ist noch nicht einmal der erste Schritt in die richtige Richtung, sondern ist erst die Basis für eine produktive Fortführung theoretischer, methodischer und konzeptueller Überlegungen im Rahmen der Geschichtswissenschaft. Sich gegenseitig anzuerkennen und zu respektieren, reicht also nicht hin, vielmehr besteht die tatsächliche Herausforderung darin, in der ernsthaften Auseinandersetzung mit jeweils anderen Ansätzen zu einer produktiven Weiterentwicklung bereits erreichter Positionen zu gelangen, also nicht nur – um beim Gegenstand dieses Sammelbandes zu bleiben, der sich aber ohne weiteres auf andere Zusammenhänge übertragen lässt – ein wenig Kultur in die Wirtschaftsgeschichte oder eine wenig Wirtschaft in die Kulturgeschichte zu transferieren und auch nicht eine gleichberechtigte Kombination beider Ansätze zu unternehmen. Nein, die wirkliche Herausforderung, vor der nicht nur Wirtschafts- und Kulturgeschichte stehen, sondern der sich alle geschichtswissenschaftlichen Perspektivierungen stellen müssen, ist das Erreichen einer ‚dritten Ebene‘, einer dialektischen Auflösung verknöcherter Positionen. Wie diese ‚dritte Ebene‘ aussehen (oder bezeichnet werden) könnte, kann ich im Moment tatsächlich nicht sagen – dafür sind meine prophetischen Möglichkeiten denn doch zu schwach ausgebildet. Ich denke jedoch, dass es einen konkret zu beschreitenden Weg gibt, um dieses Ziel zu erreichen, und das ist die geschichtswissenschaftliche Praxis.

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Hardtwig/Wehler (Hg.): Kulturgeschichte Heute; Wehler: Herausforderungen. Wehler: Duell; kritisch hierzu Daston: Praxis.

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Der Beitrag von André Holenstein kann verdeutlichen, in welche Richtung sich eine solche Erweiterung anhand der Kooperation zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte bewegen könnte. Die in seinem Titel aufgeworfene Frage nach Kartoffel oder Seide ist mehr als nur diejenige nach einer agrarischen Wegmarke im Kontext der Schweizer Geschichte des 18. Jahrhunderts. In konzeptioneller Hinsicht ist damit auch und vor allem die Frage verbunden, welche Bedeutung kulturelle Faktoren für die Entwicklung wirtschaftlicher Produktivität haben und wie wirtschaftliche Transformationen kulturelle Konstellationen beeinflussen. Denn anders als in diesem wechselhaft aufeinander bezogenen Zusammenhang ist es nicht zu erklären, dass sich die Seidenproduktion mittels des Anbaus von Maulbeerbäumen in der Schweiz während des 18. Jahrhunderts trotz entsprechender politischer und sozialer Unterstützung nicht durchsetzen konnte, während der Kartoffel genau dieser Erfolg trotz mancher Bedenken beschieden war. Was kann uns dieses Beispiel über die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit von Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte lehren? Zunächst einmal sollten im besten Fall nicht die Fehler wiederholt werden, die andernorts bereits gemacht worden sind. Denn es lassen sich recht deutliche Parallelen zwischen der auch in diesem Sammelband verhandelten Diskussion mit derjenigen um das Verhältnis zwischen Kultur- und Politikgeschichte feststellen.6 So wichtig die zuletzt genannte Diskussion auch war, um das Profil der Kulturgeschichte zu schärfen und insbesondere ihren perspektivischen Zuschnitt zu verdeutlichen, so wenig kann diese Debatte in ihrer Gesamtheit doch befriedigen. Sie hat zwar den Anspruch einer kulturhistorischen Betrachtung des Politischen verdeutlicht, insgesamt wäre es jedoch überzeugender, den Nutzen eines solchen Ansatzes in der historischen Praxis zu erweisen.7 Denn wie eine alte Fußballweisheit lehrt: Entscheidend ist auf’m Platz! Ob eine Neubetrachtung der politischen Geschichte unter kulturhistorischen Vorzeichen Sinn macht oder eine engere Kooperation zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte Früchte tragen kann, lässt sich nur partiell auf dem Weg methodischtheoretischer Debatten ausfindig machen. Wesentlich überzeugender hinsichtlich der Frage nach dem Sinn (oder Unsinn) solcher Überlegungen sind empirische Studien, die zeigen können, dass es sich einerseits tatsächlich um konzeptionell neue Ansätze handelt, die andererseits neue und überraschende Erkenntnisse zutage fördern. Selbstredend sind in einem solchen Zusammenhang auch die forschungspolitischen Rahmenbedingungen zu bedenken. Ich muss nicht gesondert die Notwendigkeit von Forschungsansätzen hervorheben, sich auf dem Jahrmarkt konkurrierender Angebote zu behaupten und sich im Kampf um Drittmittel eine möglichst gute Ausgangsposition zu erarbeiten. Diese Umstände führen dazu, dass nicht immer das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern nicht selten die Notwen6 7

Stollberg-Rilinger (Hg.): Kulturgeschichte; Rödder: Klio; Kraus/Nicklas (Hg.): Geschichte; Mergel: Kulturgeschichte der Politik; Landwehr: Diskurs; Nicklas: Macht. Gänzlich unbescheiden möchte ich auf meinen eigenen Versuch in dieser Richtung hinweisen: Landwehr: Venedig.

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digkeit forschungspolitscher Profilierung im Vordergrund steht, die sich eher über Abgrenzungen bewerkstelligen lässt und daher einer Kooperation zuweilen entgegensteht (es sei denn, sie erweist sich als neuer, erfolgreicher Forschungsweg, der seinerseits zur Generierung von Drittmitteln eingesetzt werden kann). Lässt man einmal solche nicht unerheblichen Schwierigkeiten großzügig beiseite und wagt man einen möglicherweise etwas idealisierenden (wie nicht zuletzt auch vagen) Blick in die Zukunft, dann stellt sich die Frage, wie die weitere Kooperation von Wirtschafts- und Kulturgeschichte tatsächlich produktiv vonstattengehen könnte. Der Strategiewechsel im Rahmen einer „Wirtschaftskulturgeschichte“ oder einer „Kulturgeschichte des Ökonomischen“ (oder auf welchen Namen dieser Forschungsnachwuchs auch immer getauft werden sollte), für den ich hier plädieren möchte, ist dabei denkbar einfach formuliert, sieht sich aber in der Forschungspraxis mit nicht unerheblichen Hürden konfrontiert: Es geht um eine Verschiebung der Aufmerksamkeiten, die sich weg bewegt von den etablierten Theorie- und Methodentraditionen, um stattdessen den Gegenstand in den Mittelpunkt zu rücken, an den möglichst vielfältige und möglichst diverse Perspektiven herangetragen werden sollen. Auf etwas naive Weise zum Ausdruck gebracht: Wie wäre es, die bisher geführten methodisch-theoretischen Debatten zunächst einmal beiseite zu legen, um Fragestellungen zu entwerfen, die für eine „Wirtschaftskulturgeschichte“ fruchtbar sein könnten, und zwar sowohl für deren wirtschaftshistorische wie auch für ihre kulturhistorische Sparte? Hierzu gibt es eine übergroße Vielzahl möglicher Problemstellungen, deren Formulierung allein schon einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Realisierung einer entsprechenden Forschungsrichtung darstellen würde. Wie auch bereits in Beiträgen dieses Sammelbandes angedeutet, ließe sich beispielsweise die Frage nach Zeitmodellen in der Ökonomie stellen, da es sich hierbei um einen ‚Gegenstand‘ handelt, der sowohl kulturell als auch wirtschaftlich (und politisch, technisch, rechtlich etc.) geformt wird und von keiner Seite allein beschrieben werden kann. Eine weitere Möglichkeit wäre es, Orte des Wirtschaftens wie die Börse als Bedeutungsmaschinerie zu betrachten. Dass wirtschaftliches Gebaren – nicht nur auf dem Börsenparkett – viel mit ‚Psychologie‘ oder zutreffender formuliert: mit kulturellen Gegebenheiten zu tun hat, kommt einer Binsenweisheit gleich, ist meines Erachtens aber noch nicht ausreichend problematisiert worden. Als ein nur kultur- und diskurshistorisch zu verstehendes soziales Konstrukt wäre auch ein anderes Gebilde einmal näher unter die Lupe zu nehmen, nämlich ‚der Markt‘.8 Unter welchen historischen Bedingungen ist die Rede von diesem ‚Ort‘ (den es nicht gibt) entstanden und welche weit reichenden Auswirkungen hatte und hat seine ‚Existenz‘ für Gesellschaften, die sich ja schon selbst als ‚marktwirtschaftlich‘ organisiert bezeichnen? Dass ‚der Markt‘ nichts weiter ist als eine Metapher, dürfte auf der Hand liegen – aber eine Metapher von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Reichweite. Die kulturelle Ausstrahlungskraft der Wirtschaft müsste auch darüber hinaus thematisiert werden, indem generelle Diskurse der Ökonomisierung einer Betrachtung zu unterziehen wären. 8

Bourdieu: Feld; vgl. auch die Hinweise von Wischermann: Institutionenökonomik, S. 21–23.

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In diese Richtung könnte beispielsweise eine Untersuchung dessen zielen, was in einer bestimmten historischen Situation als spezifischer ökonomischer Bedarf kulturell verhandelt wird. Was und wie viel ist nötig, um eine lebenswertes Leben zu führen?9 Die Formulierung solcher Problemstellungen ließe sich ohne weiteres fortführen. Die Nennung der genannten Themen soll keine wie auch immer geartete Bevorzugung indizieren, sondern den Umriss möglicher Fragestellungen andeuten. Wenn ich daher die Aufzählung möglicher Themen hier bereits vorzeitig abbreche, so um abschließend auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen, der mir in diesem Zusammenhang von Bedeutung zu sein scheint. Denn eine Zusammenarbeit von Wirtschafts- und Kulturgeschichte, die ihr Anliegen tatsächlich ernst nimmt, muss sich ebenfalls der Herausforderung neuer Darstellungsmöglichkeiten stellen. Es genügt dann eben nicht mehr eine wirtschaftshistorische Arbeit zu schreiben, die auch kulturelle Aspekte mit in den Blick nimmt, oder eine kulturhistorische Arbeit zu verfassen, die sich nun auch einem ökonomischen Thema annimmt, sondern es gilt – wie bereits angedeutet – Gegenstände ausfindig zu machen, die sich in ihrer Tiefenschärfe erst dann ausloten lassen, wenn sie durch die gleichberechtigte Betrachtung beider Ansätze fokussiert werden. Insofern gilt es in der Darstellung, diesen Gegenständen auch stärker gerecht zu werden, sie nicht von vornherein auf eine bestimmte Betrachtungsweise zu trimmen, sondern in ihrer Vielfältigkeit hervortreten zu lassen. Dies erfordert in gewisser Weise sicherlich Mut, da man sich von etablierten Darstellungsweisen der Geschichtswissenschaft verabschieden muss, um zu einer solchen multiperspektivischen Darstellungsweise zu gelangen. Für diese Darstellungsform existiert keine Blaupause, da sie sich konsequenterweise nach dem Forschungsgegenstand zu richten hat. Aber es wäre sicherlich von Vorteil, wenn sich Historikerinnen und Historiker in diesem Zusammenhang am Vorbild derjenigen orientieren würden, die in Techniken des Geschichtenerzählens wesentlich bewanderter sind als Vertreter der Geschichtswissenschaft, nämlich bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Nota bene: Damit soll nun keineswegs der Fiktionalisierung das Wort geredet werden, es geht auch nicht so sehr um die Frage nach Narrativität und/oder Analyse in historischen Arbeiten, sondern tatsächlich um Techniken der Darstellung, denen wir uns alle zu stellen haben. Und wenn man auf diesem Weg einer Formulierung von Fragestellungen vorangeschritten ist, die unterschiedliche Perspektivierungen auf sich vereinen und die auch neue Darstellungsformen erfordern, dann werden wir möglicherweise eines Tages feststellen, dass es gar nicht mehr um die Frage nach einer Zusammenarbeit von Wirtschafts- und Kulturgeschichte oder um die Verbindung von anderen historischen Ansätzen geht, sondern dass wir eine neue Art gefunden haben, Geschichte zu schreiben, und zwar nicht indem wir mehr oder minder ausführlich, allgemein und abstrakt darüber geredet haben, sondern indem wir etablierte Bahnen verlassen und verhärtete Positionen überwunden haben, um diese neue Form der Geschichtsschreibung schlicht und ergreifend zu praktizieren. 9

Thompson: „Sittliche Ökonomie“; Blickle: Nahrung.

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LITERATURVERZEICHNIS Berghoff, Harmut/Vogel, Jakob: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004. Blickle, Renate: Nahrung und Eigentum als Kategorien in der ständischen Gesellschaft, in: Winfried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 73–93. Bourdieu, Pierre: Das ökonomische Feld, in: ders. u.a. (Hg.): Der Einzige und sein Eigenheim. Schriften zu Politik und Kultur, 3. Aufl., Hamburg 1992, S. 185–222. Daston, Lorraine: Die unerschütterliche Praxis, in: Rainer Maria Kiesow/Dieter Simon (Hg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M./New York 2000, S. 13–25. Hardtwig, Wolfgang/Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996. Kraus, Hans-Christof/Nicklas, Thomas (Hg.): Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007. Landwehr, Achim: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570–1750, Paderborn u.a. 2007. Landwehr, Achim: Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte, 85 (2003), S. 71–117. Mergel, Thomas: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), S. 574–606. Nicklas, Thomas: Macht – Politik – Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte, 86 (2004), S. 1–25. Rödder, Andreas: Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine neue Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift, 283 (2006), S. 657–688. Stäheli, Urs: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M. 2007. Stollberg-Rilinger, Barbara (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005. Thompson, Edward P.: Die „sittliche Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Detlev Puls (Hg.): Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979, S. 13–80. Wehler, Hans-Ulrich: Das Duell zwischen Sozialgeschichte und Kulturgeschichte. Die deutsche Kontroverse im Kontext der westlichen Historiographie, in: Francia, 28 (2001), S. 103–110. Wehler, Hans-Ulrich: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998. Wischermann, Clemens: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004 .

VERZEICHNIS DER AUTOREN Elena Brenk, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Wirtschaftsgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und freie Historikerin. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte des Konsums, Marketinggeschichte. Aktuelles Projekt: Promotion über „Marketingstrategien im westdeutschen Körperpflegemittelmarkt bis zum Ende der 1970er Jahre“. Stefan Gorißen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld; Studiendekan der Abteilung Geschichtswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Rheinische und westfälische Regionalgeschichte, Protoindustrialisierung, Geschichte des internationalen Geld- und Warenverkehrs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Susanne Hilger, außerordentliche Professorin an der Universität Düsseldorf und Leiterin der Abteilung Wirtschaftsgeschichte, Arbeitsschwerpunkte: Industrieund Unternehmensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. André Holenstein, ordentlicher Professor für ältere Schweizer Geschichte und vergleichende Regionalgeschichte an der Universität Bern. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. die Kulturgeschichte des ökonomischen Wissens im Ancien Régime und Rituale und Zeremoniell in der ständischen Gesellschaft. Achim Landwehr, ordentlicher Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts; Zeitkonzepte in der Frühen Neuzeit; Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Christian Marx, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier und Mitglied im Exzellenzcluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ der beiden Universitäten Trier und Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts sowie Wirtschafts- und Industriesoziologie. Sandra Schürmann, freiberufliche Historikerin, Museumspädagogin und Lehrbeauftragte an den Universitäten Hamburg und Lüneburg. Ihr aktuelles Forschungsprojekt befasst sich mit „Werbung, Produktpolitik und Unternehmenskommunikation der Reemtsma Cigarettenfabriken zwischen 1920 und 1960“.

186 Margrit Schulte Beerbühl, Privatdozentin an der Universität Düsseldorf und Lehrbeauftragte für Neuere Geschichte. Forschungsschwerpunkte u.a.: internationale Handelsgeschichte im Zeitalter des First Global Age, Migrationsgeschichte, deutsch-britische Beziehungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Konsumgeschichte. Oliver Schulz, Historiker und Lehrbeauftragter an den Universitäten Düsseldorf und Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: europäische Geschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Adelsforschung und vergleichende Landesgeschichte.